Sondernummer September 2005

Am Vorabend des Nationalsozialismus Der 23. Deutsche Archivtag vom 11. bis 13. September 1932 in Stuttgart

Archive, was sie sind und was sie zel, dem Leiter des erst wenige Jahre beiten betonte. Eine Diskussion ergab leisten – so war ein Artikel überschrieben, zuvor (1928) eingerichteten Archivs der sich dazu nicht, sodass sich nach kurzer der am 10. September 1932 im Deut- Stadt Stuttgart – hielt der Generaldirektor Pause ein Referat über Das deutsche Ar- schen Volksblatt erschien und den der Preußischen Staatsarchive Professor chivwesen in der Tschechoslowakei und Dr. Max Miller, seinerzeit Archivrat am Dr. Brackmann den als solchen ausge- seine Aufgaben anschließen konnte, das Stuttgarter Staatsarchiv und nachmals wiesenen Hauptvortrag über Das Dahle- der Stadtarchivar Dr. Kurt Oberdorfer aus Leiter der Archivdirektion Stuttgart, aus mer Institut für Archivwissenschaft und Brüx in Böhmen hielt. Auch wenn der Ar- Anlass des 23. Deutschen Archivtags in geschichtswissenschaftliche Fortbildung chivtag damit ein Thema mit hochpoliti- Stuttgart verfasst hatte. Entgegen land- in den Jahren 1930 – 32 und das Problem schen Konnotationen aufgegriffen hatte, läufigen Bildern von früheren Archivars- des archivarischen Nachwuchses, dem konnte jedoch auch dieser Vortrag keine generationen haben die Archivare des sich eine eingehende Diskussion an- Diskussion auslösen. Der letzte Beitrag Staatsarchivs Stuttgart 1932 den Archiv- schloss, die sogar am Nachmittag noch im Fachprogramm betraf die Konservie- tag sehr geschickt dazu genutzt, breitere einmal aufgegriffen wurde. War schon mit rung: Der Apotheker W. Th. Sauter aus Kreise für ihre Arbeit zu interessieren, der archivarischen Aus- und Fortbildung Alpirsbach sprach über die Rückfärbung wie man das vielleicht heute formulieren ein Thema angesprochen, das die Profes- und Erhaltung von Archivalien. würde. Jedenfalls ist die Resonanz, die sionalisierung des Berufsstands betraf, Tagungsort war die Technische sie damit erzielten, eher überraschend; so galt dies erst recht für die sich an- Hochschule Stuttgart, in deren Aula man die Presse hat breit über den 23. Deut- schließenden Verhandlungen über die ar- den Archivtag am 12. September um schen Archivtag in Stuttgart berichtet, chivarische Berufssprache. Damit wurde 8.30 Uhr offiziell eröffnet hatte – mit einer wie die zahlreichen Ausschnitte aus ins- eine Diskussion fortgeführt, die schon die Ansprache von Dr. Müsebeck, der be- gesamt neun Zeitungen – darunter selbst vorangegangenen Archivtage in Marburg, sonders die Vertreter der Reichsregierung der NS-Kurier – in den Akten belegen, Linz und Wien beschäftigt hatte. Und hier und der deutschen Landesregierungen, die im Hauptstaatsarchiv erhalten sind begegnet man auch moderner Gremien- insbesondere den Vertreter des Württem- (Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 61 Bü. arbeit: Diskutiert wurden fünf Thesen, die bergischen Staatsministeriums, Wirklichen 592 – 594; J 40/7 Bü. 25 – 26 und 170). ein Marburger Ausschuss, dem auch der Staatsrat Dr. Hagelmaier, sowie den Ver- Der Deutsche Archivtag hatte in den Stuttgarter Archivar Karl Otto Müller an- treter der Stadt Stuttgart begrüßt hatte. 30er Jahren des 20. Jahrhunderts freilich gehörte, am Tag zuvor auf der Grundlage Zu einer zwanglosen Zusammenkunft einen ganz anderen Stellenwert als heute. eines Referats von Dr. Heinrich Otto hatte man sich schon am Vorabend im Hat er sich in den letzten Jahrzehnten zur Meisner aus Berlin formuliert hatte. Meis- Hotel Viktoria getroffen. Dort gab es am zweifellos größten archivfachlichen Ta- ner trug die Thesen im Plenum vor, die 12., 13. und 14. September auch ein ge- gung in Europa entwickelt, die zugleich nach lebhafter, angeregter Debatte, die meinsames Mittagessen zum Preis von mit der ebenfalls europaweit herausra- sich auch noch auf zwei Nachmittags- 1,50 Reichsmark. Das Rahmenprogramm genden Archivmesse ARCHIVISTICA ver- stunden am Dienstag (13. September) er- bot aber auch einen Empfangsabend der bunden ist, so stand der Deutsche Ar- streckte, … angenommen wurden. Stadt Stuttgart in der Villa Berg am chivtag 1932 eher im Schatten der schon Am Nachmittag des 12. September 13. September. Serviert wurden eine im Programm als weitaus bedeutender tagten die beiden Vereinigungen der Ochsenschweifsuppe, ein gebackenes ausgewiesenen Hauptversammlung des deutschen staatlichen und kommunalen Rotzungenfilet mit Sauce remoulade und Gesamtvereins der deutschen Ge- Archivarsverbände in Anwesenheit der Kartoffelsalat, ein Jungschweinerücken schichts- und Altertumsvereine. Mitglieder des österreichischen Archivars- mit Rotkraut und Kartoffelpüree, eine Die Themen indes, die man 1932 in verbands. Auch hier ging es um ein zu- Fruchtcreme sowie Kaffee und Kuchen; das Fachprogramm – es begann am Vor- kunftsweisendes Thema: Der Direktor des dazu gab es Weine aus dem städtischen mittag des 12. September – aufgenom- Reichsarchivs Potsdam, Dr. Ernst Müse- Ratskeller: einen 1929er Cannstatter men hatte, muten auch aus heutiger Sicht beck, sprach über Grundsätzliches zur Zuckerle als Roten und einen 1929er Eil- noch hochinteressant an. Denn nach den Aufbewahrung und Kassation von Akten finger Berg Riesling. Musikalisch bot man obligatorischen Vorträgen zu den Archi- wirtschaftlicher und verkehrstechnischer am Klavier und mit der Violine Nardini, ven am Tagungsort – gehalten von Registraturen im Reichsarchiv und in den Mozart, Händel und Dvorˇák. Am 14. Sep- Dr. Wintterlin, dem Chef des Württember- Landesarchiven, wobei er den Wert ent- tember konnte man einen Theaterabend gischen Staatsarchivs in Stuttgart, der sprechender Überlieferungen für die Ge- erleben. Gegeben wurden im Kleinen auch auf das Staatsfilialarchiv in Ludwigs- schichtsschreibung und insbesondere für Haus Rose Berndt, im Großen Haus 1 burg einging, und sodann von Dr. Sten- wirtschafts- und sozialgeschichtliche Ar- Toska; der Eintrittspreis betrug die Hälfte

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Programm des 23. Deutschen Archivtags 1932 in Stuttgart. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg HStAS E 61 Bü. 592

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Archivnachrichten Sondernummer 2005 vom normalen Preis. Die Exkursion führte durch Zuruf Meisner die Führung der Be- übernehmen und es im Interesse der Be- die Teilnehmer am 15. September mit rufsvereinigung angetragen. Meisner er- rufsgenossen zu führen „ Robert einer Autofahrt – gemeint war ein Omni- klärt seine Bereitwilligkeit, das Amt zu Kretzschmar bus – zum Fahrpreis von drei Reichsmark nach Ludwigsburg–Maulbronn und zu- rück. Bei der Besichtigung des Ludwigs- burger Schlosses wurde auch das dort untergebrachte Staatsfilialarchiv besich- tigt. In Stuttgart boten das Staats- und das Stadtarchiv, die Reichsarchivzweig- stelle und das Schlossmuseum im Alten und im Neuen Schloss Führungen an. Wer wollte, konnte auf Einladung des Vereins für Kunst und Altertum Ulm am 14. September auch die Stadt Ulm be- sichtigen; dafür war ebenfalls ein Omni- bus organisiert. Wie viele Personen am 23. Deut- schen Archivtag und seinen einzelnen Sit- zungen teilgenommen haben, lässt sich nicht exakt beziffern. Es gibt nur eine ge- meinsame Teilnehmer-Liste der Hauptver- sammlung des Gesamtvereins der deut- schen Geschichts- und Altertumsvereine in Verbindung mit dem 23. deutschen Ar- chivtag und Konferenz landesgeschicht- licher Publikationsinstitute in Stuttgart, die insgesamt 303 Personen ausweist. Die Archivare stellen dabei die zahlenmäßig Einladung zur Sitzung der Vereinigung der deutschen staatlichen Archivare 1933, in der größte Berufsgruppe, sodass in der Tat die Neubesetzung des Vorstands nach dem Führerprinzip erfolgte. von einer dreistelligen Teilnehmerzahl am Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg HStAS E 61 Bü. 592 Archivtag auszugehen ist. Die einzelnen Veranstaltungen werden freilich – wie dies auch heute auf dem Archivtag der Fall ist – unterschiedliche Resonanz gefunden haben. Unter dem Gesichtspunkt der be- Geschichtsvereine und Landesgeschichte in der rufsständischen Organisation ist interes- NS-Zeit sant, das im Protokoll der IX. Tagung der Vereinigung der deutschen staatlichen Ar- Mit diesem Thema beschäftigt sich Leistungen der Deutschen gewürdigt und chivare, die am 13. September 1932 der 32. Tag der Landesgeschichte, der im damit die territorialen Ansprüche des tagte, nur 24 Personen als anwesend ver- Anschluss an den 75. Deutschen Archiv- Reichs an den ein- und angegliederten merkt sind. Um so bemerkenswerter ist, tag am 30. September und 1. Oktober Gebieten gerechtfertigt werden. Mit dem dass das Plenum des 23. Deutschen Ar- 2005 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart Westprogramm sollten Inventare über chivtags folgenden Antrag des geschäfts- stattfindet. Der Gesamtverein der deut- Quellen zur Geschichte des Reichs in führenden Ausschusses angenommen schen Geschichts- und Altertumsvereine westeuropäischen Archiven erarbeitet hat: Der Deutsche Archivtag bittet die veranstaltet regelmäßig den Tag der Lan- werden, um sie der Öffentlichkeit nach Reichsregierung, die Landesregierungen, desgeschichte in Verbindung mit dem Kriegsende als Frucht des Kriegseinsatzes die Städte und andere Selbstverwaltungs- Deutschen Archivtag. deutscher Archivare vorzulegen; damit körper künftig bei allen Berufungen auf Bei der inhaltlichen Ausrichtung hat verbunden waren historische Untersu- hauptamtliche Stellen des höheren Ar- man sich dabei dieses Mal ganz am Rah- chungen und Quellenpublikationen. Frei- chivdienstes eine fachwissenschaftliche menthema des Archivtags orientiert, der lich hat man dazu in vielen Fällen Projekte Vorbildung als Vorbedingung zu stellen. sich mit dem deutschen Archivwesen im benannt, die schon länger geplant oder Der Stuttgarter Archivtag war aller- Nationalsozialismus befasst. Dass die Be- in Arbeit waren. Das Thema Nr. 11 des dings der letzte Archivkongress, auf dem trachtung des Archivwesens, der Landes- Westprogramms, das vom Württembergi- deutsche Archivare in demokratischen geschichte und der historischen Vereine schen Hauptstaatsarchiv in Stuttgart bear- Formen Entscheidungen trafen und Reso- während des Nationalsozialismus in dieser beitet wurde, lautete: Inventar und Ge- lutionen verabschiedeten. Im Protokoll Weise zusammengeführt wird, ist fast von schichte des württembergischen Mömpel- der Sitzung der Vereinigung der deut- selbst gegeben. Es ergibt sich aus der gard. Die enge Verschränkung des Archiv- schen staatlichen Archivare, die am engen Verschränkung dieser Bereiche, wesens mit der Landesgeschichte und 4. September 1933 auf dem 24. Deut- die keineswegs auf die Zeit des Dritten den historischen Vereinen zeigt sich aber schen Archivtag in Königsberg stattfand, Reichs beschränkt war, gerade in ihr aber auch in den Funktionen der leitenden Ar- ist zu lesen: Kaiser erinnert an die Tatsa- stark zum Tragen kam. Besonders deut- chivare: Hermann Haering, der Leiter der che, dass der Vorstand der Vereinigung lich wird dies in den Publikationsplänen Württembergischen Archivdirektion und mit Rücksicht auf die Zeitverhältnisse sei- der Ost- und Westprogramme, die von Direktor des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, nen Rücktritt erklärt habe. Die Amtszeit den deutschen Archivverwaltungen seit war zugleich auch Vorsitzender der Würt- sei auch ohnehin abgelaufen. Eine Neu- dem Ende der 1930er Jahre entwickelt tembergischen Kommission für Landesge- wahl käme nach Aeusserungen von mass- wurden; in ihnen waren archivische Aufga- schichte und des Württembergischen Ge- geblicher Seite nicht in Frage, vielmehr ben mit landesgeschichtlichen Projekten schichts- und Altertumsvereins (vergleiche müsse nach dem Führerprinzip verfahren verbunden. Im Ostprogramm sollten die hierzu auch den Beitrag von Regina Keyler 3 werden. Auf Vorschlag von Kaiser wird im Osten vollbrachten kulturpolitischen in dieser Nummer).

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Die Tagung im Hauptstaatsarchiv be- gen (1918 –1945); Martina Steger M. A. ginnt am Freitag, den 30. September (Augsburg): Heimat- und Geschichtsver- 2005 um 19 Uhr, mit dem öffentlichen eine im Gau Schwaben; Dr. Stephan Laux Abendvortrag von Professor Dr. Winfried (Düsseldorf): Die rheinischen Geschichts- Speitkamp (Gießen) über Landesge- vereine in der NS-Zeit; Dr. Rembert schichte und Geschichtsvereine in der Unterstell (Bonn): Die Gesellschaft für NS-Zeit. Am nächsten Tag stehen ab Pommersche Geschichte und Altertums- neun Uhr folgende Beiträge auf dem Pro- kunde im Dritten Reich; Dr. Birgit Noodt gramm: Dr. Klaus Neitmann (Potsdam): (Chicago): Fritz Rörig und die Stadtge- Der Gesamtverein der deutschen Ge- schichte in der NS-Zeit. – Weitere Infor- schichts- und Altertumsvereine mationen zu der Tagung gibt gerne das 1918 –1945; Dr. Willi Oberkrome (Freiburg Hauptstaatsarchiv Stuttgart (E-Mail: im Breisgau): Historische Vereine und lan- [email protected]) „ Robert desgeschichtliche Institutionen in Thürin- Kretzschmar

Im Dienst der Kriegspolitik Die Reichsarchivzweigstelle Stuttgart und das Heeresarchiv Stuttgart in der Zeit des Nationalsozialismus

Die Reichsarchivzweigstelle (seit stände des ehemaligen XIII. Armeekorps 1937 Heeresarchiv) Stuttgart erlebte wie traten von Beginn an umfangreiche Aus- Oberarchivrat Oberstleutnant a. D. viele Archive im deutschen Südwesten kunftstätigkeiten in Renten-, Pensions-, Maximilian von Haldenwang (1870 –1939), während der Zeit der nationalsozialisti- Versicherungs- und Versorgungsangele- Leiter der Reichsarchivzweigstelle schen Diktatur eine wechselvolle Ge- genheiten (rund 25 000 Anfragen / Besu- Stuttgart 1921–1935. schichte. Drei Phasen der Entwicklung che pro Jahr). Seit 1921 war die Reichs- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- des Archivs können zwischen 1933 und archivzweigstelle zusätzlich für die Be- berg HStAS M 707 Nr. 554 1945 unterschieden werden: In den Jah- treuung der Unterlagen des württember- ren 1933 –1935 wies die Dienststelle gischen Kriegsarchivs, seit dem 1. Januar unter dem seit 1921 amtierenden Archiv- 1924 auch für die zuvor in Heilbronn gela- leiter Oberstleutnant a. D. und Oberar- gerten Bestände des XIV. (badischen) Ar- geboren 1887 in Cannstatt, war seit 1920 chivrat Maximilian von Haldenwang eine meekorps zuständig. Von den Beständen beim Reichsarchiv in Potsdam tätig ge- hohe Kontinuität zur Zeit der Weimarer des Kriegsarchivs wurden die vor 1870/71 wesen. Als zweiter Archivar des höheren Republik auf. Neben den tagesaktuellen datierenden Unterlagen im Jahr 1930 an Diensts fungierte im Stuttgarter Archiv Aufgaben standen die Verwaltung und die Archivdirektion Stuttgart abgegeben. seit 1937 der ehemalige Hauptmann und Nutzbarmachung der Bestände im Mittel- Ebenfalls Anfang 1924 wurden in die Journalist Franz Knoch. Pantlen war vor punkt des Dienstbetriebs. Die Berufung Reichsarchivzweigstelle sowohl die der Übernahme der Leitung der Stuttgar- von Dr. Hermann Pantlen zum Archivleiter Kriegsgefangenen-Archivstelle Württem- ter Zweigstelle in der SA aktiv gewesen, 1935 und die Schaffung einer Heeres- berg-Baden als auch die Zweigstelle Knoch war seit 1932 Mitglied der NSDAP. archivverwaltung am 1. Oktober 1936 Stuttgart des Zentralnachweisamts für In dieser Zeit der personellen Ver- stellten personelle und organisatorische Kriegerverluste und Kriegergräber einge- änderungen an der Spitze der Reichsar- Einschnitte dar, die zu einer verstärkten gliedert. chivzweigstelle Stuttgart wurde auch die Einbeziehung des Heeresarchivs und Unter der Leitung von Maximilian organisatorische Einbindung des Archivs seiner Mitarbeiter in die nationalsozialisti- von Haldenwang erzielte die Reichsar- neu geregelt. Am 1. Oktober 1936 wurde sche Kriegsvorbereitung und Propaganda chivzweigstelle Stuttgart in den Jahren die bisher dem Reichsarchiv Potsdam führten. In den Jahren 1940 –1945 war 1921–1935 trotz der starken Beanspru- unterstehende Institution in die damals die Arbeit des Heeresarchivs schließlich chung der Archivare durch Auskunftstä- neu geschaffene Heeresarchivverwaltung zunehmend durch die Kriegsereignisse tigkeiten sehr gute Ergebnisse bei der integriert. Die offizielle Bezeichnung des beeinträchtigt. Verwaltung und Nutzbarmachung der ver- Archivs lautete seit dem 1. April 1937 Das Stuttgarter Archiv war am wahrten Unterlagen. Von Haldenwang Heeresarchiv Stuttgart. Die Einrichtung 1. Oktober 1920 als Abteilung des Heeres- und seinen anfangs etwa 25, später nur unterstand dem Chef der Heeresarchive abwicklungsamts Württemberg zur mehr 15 – 20 Mitarbeitern gebührt das in Potsdam, dem späteren Widerstands- Verwaltung der vor 1918 entstandenen Verdienst, das nach dem Ersten Weltkrieg kämpfer Generalleutnant Dr. phil. h. c. Bestände des XIII. (königlich-württember- neu entstandene Archiv unter schwierigen Friedrich von Rabenau. gischen) Armeekorps gegründet worden. Verhältnissen aufgebaut zu haben. Um- Die personellen und organisatori- Die Dienststelle war im ehemaligen fangreiche Aktenbestände wurden bewer- schen Veränderungen der Jahre 1935/36 Nebenartilleriedepot Stuttgart in der Gu- tet und das nicht archivwürdige Schriftgut brachten einen Wandel des Profils des tenbergstraße 109 untergebracht. Seit ausgesondert. Besonders in den Jahren Stuttgarter Archivs mit sich. Für den 1921 war das Archiv als Reichsarchiv- um 1930 wurden daneben in großem Um- neuen Leiter der Zweigstelle, Pantlen, zweigstelle dem Geschäftsbereich des fang Erschließungsarbeiten geleistet. Die stand die Arbeit an den vorhandenen Be- Reichsministeriums des Inneren zugewie- aus dieser Arbeit erwachsenen Findmittel ständen, das heißt vor allem die Bewer- sen. Im Jahr 1923 wurde die Einrichtung sind zum Teil auch heute noch im Haupt- tung und die Erschließung des Archiv- unmittelbar dem Reichsarchiv Potsdam staatsarchiv Stuttgart in Gebrauch. guts, weit weniger im Vordergrund als für unterstellt. Nach der Pensionierung Maximilians seinen Vorgänger. Pantlen zielte vielmehr Die Reichsarchivzweigstelle Stuttgart von Haldenwang im November 1935 darauf ab, die ihm unterstellte Dienststel- hatte seit ihrer Gründung vielfältige Auf- wurde Major a. D. Dr. rer. pol. Hermann le mittelfristig zum Zentrum einer an mili- gaben wahrzunehmen. Neben die Zu- Pantlen zum Leiter der Reichsarchiv- tärischen und militärhistorischen Fragen ständigkeit für die Verwaltung der Be- zweigstelle Stuttgart berufen. Pantlen, interessierten Öffentlichkeit zu machen. 4

Archivnachrichten Sondernummer 2005 doch auch eine Kehrseite. Die vom ehe- Bereich der Maginotlinie zu erfassen. maligen SA- forcierte Betonung der Der Stuttgarter Regierungsoberinspektor Öffentlichkeitswirkung der Archivarbeit Johannes Wöhrle unterstützte ihn bei bedingte unter den Vorzeichen der NS- dieser Aufgabe. Herrschaft zwangsläufig eine extreme Po- Ab 1942 erforderte die zunehmende litisierung des Dienstbetriebs. Die Arbeit Bedrohung der württembergischen Lan- Pantlens und seiner Mitarbeiter im Heeres- deshauptstadt durch Luftangriffe der archiv fügte sich als Teil der wehrpoli- Alliierten die Verlagerung von Archivalien tischen Propaganda passgenau in die in Depots außerhalb Stuttgarts. Das Hee- nationalsozialistische Kulturpolitik. Sie resarchiv brachte große Teile seiner Be- diente somit der Kriegsvorbereitung des stände in den hohenlohischen Schlössern NS-Regimes. Neuenstein und Langenburg unter. Die Die dynamische Entwicklung des Auslagerung von Archivgut bedingte aller- Heeresarchivs Stuttgart in den ausgehen- dings nicht nur einen einmaligen Mehr- den 1930er Jahren unter Archivleiter aufwand beim Transport der Akten. Nach Dr. Hermann Pantlen wurde durch den der Verbringung der Unterlagen mussten Kriegsausbruch 1939 unterbrochen. In jeweils Dienstreisen unternommen wer- den Kriegsjahren war die archivische den, wenn einzelne Aktenfaszikel in Stutt- Arbeit durch viele Faktoren häufig sehr gart benötigt wurden. Die Auslagerungs- stark beeinträchtigt. Einen Einschnitt maßnahmen haben insgesamt ihren stellte zum einen der Verlust von Personal Zweck erfüllt: Die Bestände des Heeres- durch Einberufungen zum Wehrdienst archivs Stuttgart überstanden den Zwei- dar. Unmittelbar nach dem siegreichen ten Weltkrieg ohne größere Verluste. Heeresarchivdirektor Major a. D. Feldzug der deutschen Wehrmacht in Nach der deutschen Kapitulation Dr. Hermann Pantlen (1887 –1968), Frankreich musste das Archiv zudem sei- und dem Ende des Großdeutschen Leiter der Reichsarchivzweigstelle / des nen Leiter ersetzen. Pantlen war in der Reichs 1945 wurden die Bestände des Heeresarchivs Stuttgart 1935 –1945. Zeit vom 1. Juli 1940 bis zum 30. Novem- Heeresarchivs Stuttgart zunächst herren- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- ber 1941 als Beauftragter des Chefs der los. Die Unterlagen sind am 1. Dezember berg HStAS M 707 Nr. 554 Heeresarchive in Metz tätig. Er hatte dort 1945 vom Hauptstaatsarchiv Stuttgart die Aufgabe, die 1918 in Elsass-Lothrin- übernommen worden, in dessen Obhut gen verbliebenen deutschen Heeresakten sie sich heute noch befinden „ zurückzuführen und Beuteakten aus dem Wolfgang Mährle Dazu richtete er unmittelbar nach seinem Amtsantritt die Arbeit des Stuttgarter Ar- chivs neu aus. Er förderte die Anfertigung wehrwissenschaftlicher Studien und ver- suchte daneben, das Heeresarchiv durch Politische Säuberung im Archiv öffentlichkeitswirksame Maßnahmen, etwa durch eigene Vorträge vor Offiziers- Die Konstanzer Stadtarchivare im Nationalsozialismus gesellschaften, durch Publikationen in Presse und Rundfunk sowie durch Füh- Schon am Tag nach den Reichstags- werbung auch vom damaligen Stadtpfar- rungen und Ausstellungen, bekannt zu wahlen vom 5. März 1933 erschien eine rer und späteren Freiburger Erzbischof machen. Um die Attraktivität des Archiv- Abordnung der NSDAP unter Conrad Gröber nachdrücklichst unter- gebäudes zu erhöhen, ließ er in den aus- Eugen Speer auf dem Konstanzer Rat- stützt worden war: Clauß hatte nach gehenden 1930er Jahren Umbauten haus, um das Ausbringen der Haken- einem theologischen und historischen durchführen. Die sukzessive Ausgestal- kreuzfahne zu fordern. Trotz gegenteiligen Studium in Straßburg 1893 die Priester- tung einer Ehrenhalle für die ehemalige Beschlusses des Gemeinderats wagte weihe empfangen. Seit 1905 war er als württembergische Armee im Eingangsbe- der liberale Oberbürgermeister Otto Moe- Stadtarchivar und Bibliothekar im elsässi- reich des Gebäudes in der Gutenberg- ricke keinen Widerspruch. Beim nachfol- schen Schlettstadt tätig, bis er 1919 aus- straße verlieh dem Heeresarchiv den genden Beflaggen des Rathauses stimm- gewiesen wurde. Als Pfarrkurator wirkte Charakter einer militärischen Gedenkstät- te eine größere Menschenmenge in der der gebürtige Straßburger dann bis zu te. Schließlich leitete Dr. Pantlen auch Kanzleistraße das Horst-Wessel-Lied an. seiner Berufung ins Konstanzer Stadtar- eine Änderung bei der Überlieferungsbil- Auch der Wechsel an der Verwaltungs- chiv in Denzlingen bei Freiburg im Breis- dung ein: Unter seiner Führung versuchte spitze ließ nicht lange auf sich warten. Im gau. Seit 1921 besorgte er die Schriftlei- das Heeresarchiv Stuttgart systematisch Mai wurden die NSDAP-Parteimitglieder tung des Freiburger Diözesanarchivs. und mit Erfolg, die vorhandenen Archiv- Albert Herrmann und Leopold Mager von Sein schroffes Wesen hat ihn in der bestände durch die aktive Einwerbung Reichsstatthalter Robert Wagner als Stadt und bei den Archivnutzern nicht un- von militärischem Sammlungsgut (vor Oberbürgermeister und Bürgermeister bedingt beliebt gemacht. Den Konstanzer allem Nachlässen ehemaliger Offiziere, eingesetzt. Die so genannte Gleichschal- Nationalsozialisten, allen voran Bürger- Bildmaterialien) zu ergänzen. tung hatte an der Spitze der Stadtverwal- meister Mager, war der katholische Pries- Die stark auf Öffentlichkeitswirkung tung begonnen; sie sollte selbst vor dem ter Clauß ein Dorn im Auge. Bereits An- ausgerichtete Tätigkeit Pantlens im Hee- Stadtarchiv nicht Halt machen. fang März 1933 hatte der Stadtarchivar resarchiv Stuttgart fand bei seinen Vor- Im Haus zur Katz hatte Dr. Josef gemutmaßt, Hitler selbst habe befohlen, gesetzten offensichtlich großen Anklang. Clauß (1868 –1949) seit 1925 die Ge- den Reichstag in Brand zu setzen. Über- Dies zeigte sich etwa daran, dass der schäfte des Stadtarchivars wahrgenom- haupt sprach er in den folgenden Wo- Stuttgarter Archivleiter sehr rasch vom men. An das Amt war die Leitung der chen über die neue Regierung durchweg Archivrat beziehungsweise Heeresarchiv- Wessenberg-Bibliothek gebunden. Für abfällig. Es verwundert kaum, dass er rat zum Oberheeresarchivrat (1937) und die maßgeblich katholisch geprägte ehe- wegen seiner Missfallensäußerungen später zum Heeresarchivdirektor (1939) malige Bischofsstadt war Clauß zweifellos schon bald denunziert wurde. Ein Mann, 5 befördert wurde. Die Erfolge hatten je- der ideale Stadtarchivar, zumal seine Be- der derartige Ansichten äussert, gehört

Archivnachrichten Sondernummer 2005 eigentlich vor den Strafrichter, vermerkte Quellen und Literatur: deutschland 1945 –1947 (Studien zur Bürgermeister Mager in den Akten. An- Zeitgeschichte 55). München 1998. Be- fang Juni wurde der 65-jährige Clauß auf- Stadtarchiv Konstanz Bestände S II sonders S. 171–197. grund seiner politischen Äußerungen und und S XVIII. Helmut Maurer: Clauß, Josef. In: Ba- eines devisenrechtlichen Vergehens im Lothar Burchardt, Dieter Schott und dische Biographien. Neue Folge Band 1. Rahmen eines dienstpolizeilichen Verfah- Werner Trapp: Konstanz im 20. Jahrhun- Herausgegeben von Bernd Ottnad. Stutt- rens frist- und pensionslos aus städti- dert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschich- gart 1982. S. 89 f. schen Diensten entlassen. Die regionale te der Stadt Konstanz 5). Konstanz 1990. Helmut Maurer: Max Binder. In: Der NS-Tageszeitung Bodensee-Rundschau Jürgen Klöckler: Abendland – Alpen- Archivar 31 (1978) Spalte 139 f. „ bemerkte dazu am 9. Juni: Im Interesse land – Alemannien. Frankreich und die Jürgen Klöckler der Reinigung der hiesigen Archiv- und Neugliederungsdiskussion in Südwest- Bibliotheksverhältnisse ist diese Maßnah- me nur zu begrüßen. Zum neuen Stadtarchivar wurde im Januar 1934 Dr. Max Binder (1895 –1977) berufen, der sich mit Clauß Ende der 1920er Jahre eine heftige Pressefehde – aufgehängt an einem familiengeschicht- lichen Thema – geliefert hatte. Politisch stand Binder aufseiten der neuen Macht- haber, war er doch seit Juni 1932 Mit- glied der SS und seit August 1932 der NSDAP. Der gebürtige Stuttgarter war während des gesamten Ersten Weltkriegs als Frontoffizier im Einsatz gewesen. Von 1919 bis 1925 folgte ein geisteswissen- schaftliches Studium, danach mehrere Anstellungen als Hauslehrer und eine Be- schäftigung im Internat Schloss Salem. Nach seinem Amtsantritt in Konstanz fand er in der Kreisleitung der NSDAP Verwendung: Seit Januar 1936 war er im Kreisstab für die Abteilung Buchwesen und Schrifttum. Die Teilnah- me an den Reichsparteitagen war für ihn obligatorisch. Im Oktober 1940 wurde Binder als Leutnant der Reserve erneut eingezogen. Eine u.k.-Stellung betrieb die Stadtverwaltung wegen des mittlerweile zerrütteten Verhältnisses nicht. Noch Überprüfung der wertvollen Glasfenster des Straßburger Münsters im Salzbergwerk während Binder in der Wehrmacht diente, Heilbronn auf ihren Zustand, 1945. schloss die Stadtverwaltung 1943 mit Vorlage: National Archives Washington DC 239 – RC – 21-2 dem Juristen und Historiker Dr. Dr. Otto Feger (1905 –1968) einen Arbeitsvertrag für die Zeit nach Kriegsende ab. Kaum Archivgut im Salzbergwerk aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft Zur Einlagerung von Kulturgütern im Zweiten Weltkrieg in Norditalien entlassen, trat Feger An- fang August 1945 seinen Dienst im Kon- Die sichere Aufbewahrung der Be- werk Kochendorf (Bad Friedrichshall) stanzer Stadtarchiv an. Max Binder hin- stände ist schon immer eine zentrale bringen. Die absolute Bombensicherheit gegen wurde am Tag seiner Rückkehr an Sorge der Archivare gewesen. Dies gilt 200 Meter unter der Erde, die konstante den Bodensee aus städtischen Diensten besonders für Kriegszeiten. Der militäri- Temperatur und Luftfeuchtigkeit sowie entlassen; die französische Militärregie- sche Verlauf des Zweiten Weltkriegs ließ nicht zuletzt das enorme Fassungsvermö- rung hatte zwischenzeitlich die Entfer- ab Anfang 1942 die Frage der Verlage- gen sprachen für diese Idee. Bis 1944 nung aller vor dem 1. April 1933 der rung von Archivgut insbesondere aus luft- folgten zahlreiche staatliche, kommunale NSDAP beigetretenen Personen aus der kriegsgefährdeten Gebieten akut werden. und kirchliche Archive (zum Beispiel Hes- Verwaltung verfügt. Binder wurde schließ- Die Angst vor Kriegsverlusten begann sisches Staatsarchiv Darmstadt, Staats- lich 1949 als Mitläufer entnazifiziert. Be- den verständlichen Horror vor Aktenverla- archiv Düsseldorf, Stadtarchiv Frankfurt, ruflich sollte er nicht wieder Fuß fassen. gerungen zu überwiegen. Stadtarchiv Köln, Stadtarchiv Mannheim, In politischer Hinsicht war damit die Für den Bereich der Württembergi- Stadtarchiv Schleswig) diesem Vorbild. nächste Säuberung im Stadtarchiv vollzo- schen Archivdirektion ergriff deren Luft- Auch in dem nahe gelegenen Heilbronner gen, ganz im Sinne der Entnazifizierung. schutzbeauftragter Staatsarchivdirektor Salzbergwerk kam es 1943 –1944 zu ent- Denn als ehemaliger Zentrums-Politiker Dr. Hermann Haering im Sommer 1942 sprechenden Einlagerungen. galt Otto Feger spätestens seit Veröffent- die Initiative. Er war wahrscheinlich der Dabei beschränkte sich das kriegs- lichung seiner in hoher Auflage im Juni erste einflussreiche Archivar in Deutsch- bedingt nach Heilbronn und Kochendorf 1946 erschienenen Kampfschrift Schwä- land, der im Zweiten Weltkrieg eine Verla- transportierte Einlagerungsgut keines- bisch-Alemannische Demokratie in der gerung von Archivgut in Salzbergwerke wegs auf Archivmaterialien. Auch zahlrei- Öffentlichkeit als überzeugter Föderalist. realisierte. che Bibliotheken (zum Beispiel Universi- Im Juli 1942 ließ er Bestände aus tätsbibliothek Heidelberg, Universitätsbib- dem Staatsarchiv Ludwigsburg und dem liothek Tübingen, Württembergische Hauptstaatsarchiv Stuttgart in das Berg- Landesbibliothek Stuttgart) und Museen 6

Archivnachrichten Sondernummer 2005 (zum Beispiel Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Wallraf-Richartz-Museum Köln, Linden-Museum Stuttgart) brachten Bücher oder Skulpturen und Gemälde in die beiden Bergwerke. Darüber hinaus nützten zahlreiche Industriebetriebe die Möglichkeit, Maschinen, Rohstoffe, Pro- dukte und technische Unterlagen unter Tage zu deponieren (zum Beispiel Rohsil- ber der Firma Bruckmann, technische Zeichnungen der Daimler-Benz AG und der Reichsbahn). Schließlich lagerten Hunderte von Privatleuten die unter- schiedlichsten Güter aus ihrem Besitz in den Salzstöcken ein, die darüber hinaus auch als Depot für Lebensmittel und Me- dikamente genutzt wurden. Im Heilbronner Raum endeten die Kampfhandlungen des Zweiten Welt- kriegs am 12. April 1945. Wenige Tage später traf ein amerikanischer Kunst- schutz-Offizier ein. Zusammen mit der Verkohlte Archivalien des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, darunter der Tübinger Vertrag amerikanischen Militärverwaltung und von 1514. deutschen Stellen veranlasste er erste Si- Aufnahme: Landesarchiv Baden-Württemberg HStAS cherungsmaßnahmen für die in den Berg- werken Heilbronn und Kochendorf lagern- den Kulturgüter. Verbrannt, verkohlt, verschmort Ab September 1945 durchsuchte ein fünfköpfiger Stab die beiden Bergwerke Die Zerstörung von Archivgut im Zweiten Weltkrieg nach illegalen oder entfremdeten Gütern. Parallel dazu kamen erste Rückgaben an 60 Jahre ist es her, dass französi- das ehemalige Landtagsgebäude Ecke die rechtmäßigen Eigentümer in Gang. sche und amerikanische Truppen in Würt- Kronprinzen- und Lindenstraße ausgela- Sehr früh und bewusst medienwirksam temberg einrückten und damit das Ende gert hatte. Der württembergische Landtag wurden auf diese Weise zum Beispiel die des Zweiten Weltkriegs ankündigten. Am verfügte über einen kleinen gewölbten Straßburger Münsterfenster und die Stup- 22. April 1945, also fast drei Wochen vor Raum mit sechs Panzerschränken der pacher Madonna an ihre angestammten der bedingungslosen Kapitulation am ehemaligen Staatsschuldenverwaltung, Plätze zurückgebracht. Bald folgte auch 8. Mai 1945, übergab der damalige Stutt- den man aus Luftschutzgründen für si- der homo heidelbergensis, während Tau- garter Oberbürgermeister Karl Strölin die cher hielt. Im Juli 1944 brannte das Ge- sende von Autografen aus dem Schiller- Landeshauptstadt an die Franzosen. Aus bäude bei einem Fliegerangriff vollständig Nationalmuseum Marbach oder auch die diesem Anlass zeigte das Hauptstaatsar- aus. Durch die enorme Hitze verkohlten Bannbulle des Papsts gegen Luther aus chiv Stuttgart in seiner Reihe Archivale und verschmorten die Archivalien im In- dem Stuttgarter Hauptstaatsarchiv bis des Monats im April und Mai 2005 Fotos nern der Panzerschränke. Neben den Ar- 1947 auf ihre Rückgabe warten mussten. und Originaldokumente aus den letzten chivalien des Hauptstaatsarchivs waren Mitte 1947 war die Räumung beider Kriegsjahren, welche die Situation und auch wertvolle Dokumente des Landtags- Bergwerke im Wesentlichen abgeschlos- Stimmung der Bevölkerung nach der archivs betroffen. sen. Fast alle Einlagerungsgüter kamen in Stunde Null dokumentieren. Obwohl die Stuttgarter Archivare mit perfektem Zustand wieder ans Tageslicht. Sowohl die Presse als auch die Be- dem Trocknen von nass gewordenen Ar- Der Versuch, die Menge der Kultur- sucher der kleinen Kabinettausstellung chivalien (zum Beispiel durch Löschwas- güter zu quantifizieren, erbrachte ein er- waren besonders beeindruckt von dem ser, Winterfeuchtigkeit) reichlich beschäf- staunliches Ergebnis: In den beiden Salz- eigentlichen Mittelpunkt der Präsentation: tigt waren, bemühte man sich noch im bergwerken Heilbronn und Kochendorf eine Vitrine mit einer Auswahl an verglüh- Sommer 1944 um die Freilegung und Öff- handelte es sich zusammengenommen ten Archivalien, verschmortem Pergament nung der Panzerschränke. Aufgrund feh- um 170 Regalkilometer. Dies war eine der und geschmolzenen Siegeln – wertvolles lender Materialien und geeigneter Fach- größten Kulturgutsammlungen, die jemals Kulturgut, das während des Zweiten kräfte sollte sich dies auf unbestimmte in der Menschheitsgeschichte aus Luft- Weltkriegs irreparabel zerstört wurde. Zeit verzögern. Erst 1946/47 konnten die schutzgründen zusammengetragen wor- Darunter fand sich auch ein Exemplar des verschütteten Panzerschränke aufge- den ist. landesgeschichtlich bedeutsamen Tübin- schweißt und die teils ausgeglühten, teils Literaturhinweis: Christhard Schrenk: ger Vertrags von 1514. verklumpten Dokumente geborgen wer- Schatzkammer Salzbergwerk. Kulturgüter Für viele Stuttgarter Kultureinrichtun- den. Aus damals erstellten Verzeichnis- überdauern in Heilbronn und Kochendorf gen bedeutete der Zweite Weltkrieg nicht sen wissen wir lediglich, dass unter ande- den Zweiten Weltkrieg. Stadtarchiv Heil- nur den Verlust ihrer historischen Gebäu- rem württembergische Lehen-, Diener- bronn 1997 „ Christhard Schrenk de, sondern auch schwere Einbußen an und Kopialbücher in den Panzerschrän- den Sammlungsbeständen. Auch das ken untergebracht waren. Hauptstaatsarchiv wurde bei Fliegeran- Vom Sommer 1942 bis Dezember griffen im Jahr 1944 in Mitleidenschaft 1944 wurden rund 80 Prozent des Stutt- gezogen. Die schmerzlichsten Verluste garter Archivmagazins ausgelagert. Es sind jedoch nicht im Hauptstaatsarchiv gab neben Flüchtungsorten innerhalb selber eingetreten, sondern bei be- Stuttgarts (das bereits erwähnte ehemali- sonders wertvollen Archivalien, die man ge Landtagsgebäude, ein Untergeschoss- 7 bereits während der ersten Kriegsjahre in raum des Wirtschaftsministeriums, das

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Stockgebäude der Landeshauptkasse in des im Zweiten Weltkrieg unwieder- Die dem Hauptstaatsarchiv unmittel- der Königstraße, Ulrichstraße 3) weitere bringlich zerstörten Registraturguts der bar benachbarte Württembergische Lan- 29 Ausweichstellen, 17 in der späteren württembergischen Ministerien für die desbibliothek beklagte einen Verlust von amerikanischen und zwölf in der franzö- erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in etwa zwei Dritteln des Bücherbestands; sischen Zone. Der Gesamtverlust an der archivalischen Überlieferung gravie- die Stadtarchive Stuttgart und Heilbronn Archivalien des Hauptstaatsarchivs durch rende Lücken hinterlassen hat. Lediglich büßten nahezu ihre gesamten Bestände Kriegseinwirkungen wurde auf nur drei die Registraturen des Staats- und des ein „ Anja Adelt Prozent des Bestands veranschlagt. Innenministeriums blieben verschont. Schmerzlich ist hingegen die Vernichtung

Das Stadtarchiv Mannheim in der NS-Zeit – Geschichte und einschlägige Bestände

Die Stadt Mannheim errichtete erst lichen Intrige, zum Ende des Jahrs 1937 1907 ein Archiv als selbstständige Orga- seine Kündigung ein. Das Stadtarchiv nisationseinheit. Sein erster Leiter Profes- wurde in der Folge der Leitung des sor Dr. Friedrich Walter fungierte seit Schlossmuseums unterstellt. 1921 zugleich als Direktor des histori- Da sich der Oberbürgermeister zu schen Museums. So konnte er dem Auf- Beginn des Kriegs einer Auslagerung von bau und der Pflege des Archivs nur einen Kulturgut widersetzte, wurde der größte Teil seiner Aufmerksamkeit widmen. Als Teil des Archivs bei dem Luftangriff am bürgerlicher Demokrat, verheiratet mit 5./6. September 1943 im Rathaus in N 1 einer jüdischen Frau, war er der NS-Ver- ebenso durch Brand zerstört wie die waltungsspitze von Anfang an suspekt Akten der Hauptregistratur. Lediglich die und wurde 1935 – im Zuge allgemeiner Ratsprotokolle und die Amtsbücher des Bestrebungen zur Verjüngung der Verwal- Stadtarchivs blieben erhalten. Daneben tung – ein halbes Jahr vor Erreichen der überdauerten nur einzelne Amtsregistra- Altersgrenze in den Ruhestand versetzt. turen den Krieg. Beim Wiederaufbau des Als Nachfolger trat Dr. Wolfgang Stadtarchivs nach 1945 wurden daher Treutlein, seit 1931 Mitglied der NSDAP, verstärkte Bemühungen unternommen, am 1. Oktober 1935 seinen Dienst an. die Verluste durch Ersatzdokumentation Seine erste Bestandsaufnahme fiel er- wenigstens teilweise zu kompensieren. nüchternd aus: Die Unterbringung des Ar- Einige Splitterbestände aus der NS- chivs sei völlig ungenügend, der Ord- Zeit sind besonders bemerkenswert: nungszustand mangelhaft. Dennoch – NSDAP-Kreisleitung Mannheim, Zug. scheiterte Treutlein mit seinen Vorstößen -/1962 (Beurteilungsbögen über politi- zur Verbesserung der Situation am Desin- sche Zuverlässigkeit, Buchstabe M); teresse des Oberbürgermeisters und – Reichsmusikkammer/Kreismusiker- Plakat zur Enthüllung des Benz-Denkmals reichte, wohl infolge einer innerpartei- schaft Mannheim, Zug. -/1962 (Perso- in Mannheim am 16. April 1933. nalakten der Kreismusikerschaft); Vorlage: Stadtarchiv Mannheim – Rijksinstituut voor Oorlogsdocumenta- Plakatsammlung Nr. 371 tie, Zug. 6/1967 (Schriftgut zu der Mannheimer Verwertungsstelle für volksfeindliches Vermögen); Zu ausgewählten Themen, zu denen – Polizeipräsidium, Zug. -/1962 (Meldun- auch Veröffentlichungen erschienen sind, gen und Erfahrungsberichte des ört- hat das Stadtarchiv – Institut für Stadt- lichen Luftschutzleiters); hierzu gibt es geschichte Dokumentationsbestände eine umfangreiche Fotodokumentation aufgebaut, unter anderem zu den The- aus dem Nachlass des Leiters der Fest- menbereichen Widerstand gegen den stellungsbehörde Otto Spuler; Nationalsozialismus, Verfolgung der – Polizeipräsidium, Zug. 15/2000 (Perso- Juden unter dem NS-Regime, Zweiter nalakten des Sicherheits- und Hilfs- Weltkrieg und KZ-Außenkommando diensts SHD, 1940 –1945). Mannheim-Sandhofen. Hinsichtlich der breiten Fotoüberlie- Einschlägiges Material findet sich ferung sei verwiesen auf die Bildbände auch in zahlreichen Nachlässen (verglei- Jörg Schadt und Michael Caroli: Mann- che Barbara Becker: Übersicht der im heim unter der Diktatur. Mannheim 1997 Stadtarchiv Mannheim verwahrten schrift- sowie Jörg Schadt und Michael Caroli: lichen Nachlässe. In: Mannheimer Ge- Mannheim im Zweiten Weltkrieg. Mann- schichtsblätter, Neue Folge 5 (1998) heim 1993. S. 369 – 387). In seiner Filmsammlung verwahrt Erwähnenswert ist schließlich die ge- das Stadtarchiv – Institut für Stadtge- schlossene Serie des örtlichen NSDAP- Plakat zum Handwerkertag am schichte unter anderem Stadtwerbefilme Organs Hakenkreuzbanner sowie der 15. Oktober 1933 in Mannheim. der 1930er Jahre, einen Film der Royal Air Neuen Mannheimer Zeitung und Plakate Vorlage: Stadtarchiv Mannheim Force über den Luftangriff 5./6. Septem- aus der Zeit 1933 –1945 „ Michael Plakatsammlung Nr. 373 ber 1943 sowie Filmaufnahmen der US- Caroli Army vom Vormarsch im linksrheinischen Gebiet im Frühjahr 1945. 8

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Überlieferung zum württembergischen Archivwesen im Dritten Reich im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Das Thema des Deutschen Archiv- das württembergische Archivwesen in Bände, fast lückenlos von 1898 bis in tags 2005 Das deutsche Archivwesen und den Jahren 1933 –1945 aus der Sicht sei- sein Todesjahr 1967, erhalten sind. Die Ta- der Nationalsozialismus ist für das Haupt- ner Aufsichtsbehörde (Hauptstaatsarchiv gebücher gewähren einen besonders ein- staatsarchiv Stuttgart – wie auch für an- Stuttgart E 130 b Staatsministerium, drücklichen Einblick in die tägliche Arbeit dere Archive – bislang kaum aufgearbei- 1876 –1945, maschinenschriftliches Find- in den württembergischen Staatsarchi- tet; im Haus finden sich jedoch zahlreiche buch). ven. Auch die Handakten Haerings über Quellen, die dieses Thema berühren. Besonders interessant ist jedoch die Angelegenheiten der Archivverwaltung Die behördliche Überlieferung, die korrespondierende Überlieferung, wie sie und der württembergischen Kommission herangezogen werden kann, besteht zum sich in den Nachlässen der ehemaligen für Landesgeschichte, deren Vorsitzender einen aus den Unterlagen der Württem- Archivleiter niederschlägt. Diese werden er seit 1936 war, sind recht aussagekräf- bergischen Archivdirektion, die bereits im Hauptstaatsarchiv Stuttgart in der Be- tig, vor allem auch, was die Verhältnisse seit über 30 Jahren in einem detaillierten ständegruppe J 40 Wissenschaftliche in der Zeit nach 1945 betrifft. Erschlossen Findbuch erschlossen sind (Hauptstaats- Nachlässe von Archivaren und Historikern ist der Bestand durch ein Verzeichnis, archiv Stuttgart E 61 Württ. Archivdirek- verwahrt. das bei den Tagebüchern jedoch keine in- tion 1806 –1955, maschinenschriftliches haltliche Auswertung leisten kann, son- Findbuch). Als Stichjahr für die Trennung dern sich auf die Angabe der Laufzeiten des Archivbestands (Altregistratur) von beschränkt. Die Sachakten dagegen sind der laufenden Registratur wurde bei der nach den üblichen archivischen Maßstä- Verzeichnung im Jahr 1967 in der Regel ben verzeichnet (Hauptstaatsarchiv Stutt- das Jahr 1951 gewählt, in dem innerar- gart J 40/15 Nachlass Hermann Haering chivische Umstrukturierungen bezie- (1886 –1967), 1898 –1967, EDV-Aus- hungsweise ein Wechsel in der Direktion druck). stattfanden. Das Jahr 1945 fand dagegen Hermann Haerings Nachfolger Dr. keinen Niederschlag in der Aktenführung Karl Otto Müller, geboren 1884 in Ra- der Archivdirektion; somit sind über den vensburg, war bei der Stellenbesetzung Wechsel der politischen Systeme hinweg in der Nachfolge Wintterlins im Jahr 1933 archivische Aspekte aller Art in einem zunächst übergangen worden, sodass er Bestand dokumentiert. Nebenbei erwähnt: – der ältere und in Archivangelegenheiten Die nach Schlagworten aufgebaute Benut- erfahrenere Kollege – erst 1945 an die zerregistratur des Hauptstaatsarchivs – Spitze des württembergischen Archivwe- ein unschätzbares Rechercheinstrument – sens rücken konnte. Sein Nachlass, der reicht noch heute bis in das 19. Jahrhun- hauptsächlich Materialsammlungen und dert zurück. Vorarbeiten zu wissenschaftlichen Veröf- Als eine der wenigen Registraturen fentlichungen umfasst, wird im Bestand württembergischer Ministerien hat die J 40/3 verwahrt, ist bisher jedoch uner- des Staatsministeriums den Krieg über- schlossen und – auch aufgrund der sehr dauert: Hier finden sich Unterlagen über individuellen Handschrift – nur erschwert Dr. Hermann Häring (1886 –1967), nutzbar. 1933 –1945 Leiter der Württ. Archiv- direktion und des Hauptstaatsarchivs Stuttgart. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- berg HStAS J 300 Nr. 51

Während des Dritten Reichs gab es – sieht man von dem am 31. Juli 1933 in den Ruhestand getretenen letzten Gehei- men Archivrat Friedrich Wintterlin ab – zwar nur einen Leiter der Archivdirektion, Hermann Haering, der im Oktober 1945 aus seinen Ämtern entlassen wurde. Des- sen drei Nachfolger im Amt – K. O. Mül- ler, Max Miller und Walter Grube – stan- den jedoch auch schon im Dritten Reich in Diensten der Archivverwaltung, und ihre Nachlässe enthalten ebenfalls Unter- lagen zu dieser Zeit. Von besonderer Qualität sind die Unterlagen, die aus dem Nachlass von Dr. Hermann Haering (Archivdirektor 1933 –1945) in das Hauptstaatsarchiv Dr. Karl Otto Müller (1884 –1960), Dr. Karl Friedrich Wintterlin (1867 –1945), Stuttgart gelangten: Haering, geboren am 1946 –1951 Leiter der Württ. Archiv- 1924 –1933 Leiter der Württ. Archivdirek- 4. Mai 1886 als Sohn des Theologiepro- direktion und des Hauptstaatsarchivs tion und des Staatsarchivs Stuttgart. fessors Theodor Haering, führte Zeit sei- Stuttgart. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- nes Lebens Tagebuch, teilweise sogar Vorlage: Zeitschrift für Württembergische 9 berg HStAS J 300 Nr. 277 mehrere Serien parallel, sodass 136 Landesgeschichte XIII. Jahrgang 1954

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Vor einigen Jahren neu erschlossen Der Nachlass von Millers Nachfolger wurde der Nachlass von Professor D. Dr. Professor Dr. Walter Grube (1907 –1992), Dr. h. c. Max Miller (1901–1973). Er war der in den Jahren 1940 –1942 in den be- katholischer Priester und seit 1929 Archi- setzten Gebieten Frankreichs als Kriegs- var am Staatsarchiv Stuttgart. 1951 verwaltungsrat vor allem in den Archiven wurde er Leiter des Hauptstaatsarchivs Besançon und Montbéliard tätig war, ist Stuttgart und der Archivdirektion Stutt- durch zwei Findbücher erschlossen und gart. Nach der Gründung des Landes kann ebenfalls unter Beachtung der üb- Baden-Württemberg war er zugleich auch lichen Schutzfristen genutzt werden. Er Referent für Archivwesen beim Staatsmi- umfasst persönliche, wissenschaftliche nisterium und damit bis zu seiner Pensio- und berufliche Unterlagen, zum Beispiel nierung im Jahr 1967 Leiter der staat- auch über seine Aufgaben innerhalb der lichen Archivverwaltung. Sein Nachlass Westforschung für die Archivkommission besteht zum größeren Teil aus Vorarbei- in Paris in den besetzten Gebieten Frank- ten zu seinen wissenschaftlichen Veröf- reichs (Hauptstaatsarchiv Stuttgart fentlichungen, so zum Beispiel zu seiner J 40/13 Nachlass Walter Grube, Teil 1: geschichtswissenschaftlichen Disserta- Handakten (1937 –1990), Teil 2: Persönli- tion über die Organisation Neuwürttem- che und wissenschaftliche Unterlagen bergs unter Herzog und Kurfürst Friedrich (1922 –1992), zwei maschinenschriftliche und zu seiner Arbeit über die Söflinger Findbücher mit Nachträgen). Briefe, mit der er zum theologischen Dok- Für alle vier Nachlässe gilt: Sie tor promoviert wurde. Wissenschaftliche geben nicht nur Aufschluss über einzelne Korrespondenz als solche ist nur wenig Archivarspersönlichkeiten und deren wis- Professor Dr. Walter Grube (1907 –1992), ausgewiesen und findet sich eher in den senschaftliche Arbeit, sondern bieten 1967 –1973 Leiter der Archivdirektion thematisch angelegten Akten oder wurde auch Materialien für eine wissenschaftli- Stuttgart und des Hauptstaatsarchivs von ihm konsequent in die Registratur che Untersuchung über das württember- Stuttgart. des Hauptstaatsarchivs gegeben. Auf- gische Archivwesen im Dritten Reich und Vorlage: Zeitschrift für Württembergische schlüsse über Millers persönliches und in der Nachkriegszeit „ Regina Keyler Landesgeschichte XXVI. Jahrgang 1967 berufliches Umfeld geben zum Beispiel die Glückwünsche, die zu Millers Jubiläen eintrafen; seine familiäre Situation wird Im Fadenkreuz: der Alltag vor allem durch die dicht überlieferte Feldpost aus dem Zweiten Weltkrieg Die Akten des Sondergerichts Mannheim sind erschlossen deutlich. Auch Fremdprovenienzen lassen sich in dem Nachlass nachweisen, wie 25. März 1935, Bahnhofswirtschaft stand. Es geht meist um Stimmung, um zum Beispiel die Lebenserinnerungen des in Radolfzell. Fünf Notstandsarbeiter trei- aufgestauten Ärger, oft über die da oben; württembergischen Kultusministers Chris- ben Jux mit einer Handharmonika. Beim dazu kommen unklare Ängste. Es ist der tian Mergenthaler aus dem Jahr 1964 Sprüchemachen fällt der Satz Der Adolf Stoff, aus dem Brecht seine Szenen über (Hauptstaatsarchiv Stuttgart, J 40/7 ist schon recht, aber die Adölfle sind Furcht und Elend des Dritten Reiches ge- Nachlass Max Miller, 1901–1973, Online- Lumpenseckel. – 30. März, Bezirksge- holt hat. Die Sondergerichte – das Mann- Findbuch). fängnis Stockach, Vernehmung und Pro- heimer war seit 1933 für ganz Baden zu- tokoll. Der Denunzierte verteidigt sich: ständig, 1939 kamen Offenburg und Frei- Nach rund 15 Maß Bier könne er sich an burg dazu – wurden gerade wegen der nichts mehr erinnern; wenn er das wirk- Banalität der Regelverstöße zum wirksa- lich gesagt habe, habe er damit sagen men Instrument der Einschüchterung. wollen, dass der Führer nicht alles wissen Gegenstand der Verfolgung waren der könne, was manchmal vor Ort los sei. – noch nicht kontrollierte Alltag, die latente 20. Mai, Westflügel des Mannheimer Unzufriedenheit mit dem System. Mit Schlosses, Sitzungssaal des Sonderge- Kriegsbeginn wurden die Urteile drasti- richts. Der Angeklagte wird wegen dieser scher, verschärfende Verordnungen wie und anderer Äußerungen gemäß § 4 der die gegen Volksschädlinge oder Kriegs- Reichstagsbrandverordnung zu sechs wirtschaftsvergehen ermöglichten Todes- Monaten Gefängnis verurteilt. strafen bei Schwarzschlachtung oder Er hätte auch nach der Verordnung Diebstahl von Bezugsscheinen, aber auch des Reichspräsidenten zur Abwehr heim- schon vorher waren mit Berufung auf das tückischer Angriffe gegen die Regierung gesunde Volksempfinden Homosexuelle der nationalen Erhebung vom März 1933 als Gewohnheitsverbrecher hingerichtet belangt werden können oder nach dem worden. so genannten Heimtückegesetz von Die Gerichtsverhandlung wegen der 1934. In mehr als einem Drittel der Er- Plünderung eines – geschenkten – Paars mittlungs- und Strafverfahren vor dem Schuhe beim Aufräumen nach einem Sondergericht Mannheim geht es um Äu- Luftangriff in Mannheim wurde 1998 von ßerungen dieser Art. Typische Tatorte Mitgliedern des Mannheimer National- sind das Gasthaus, der Laden, der Fri- theaters nachgespielt. Nicht zuletzt unter Professor D. Dr. Dr. h.c. Max Miller seur, die Halböffentlichkeit also, in der dem Eindruck dieser Szenen gelang es (1901–1973), 1951–1967 Leiter der Arbeiter und kleine Angestellte, wenig ge- 2002 einem Mannheimer Arbeitskreis, die Archivdirektion Stuttgart und des wohnt, sich sprachlich zu tarnen, mitei- Errichtung einer Gedenk-Stele für die Hauptstaatsarchivs Stuttgart. nander umgangssprachlich kommunizie- über 100 hingerichteten Opfer des Vorlage: Neue Beiträge zur südwest- ren. Von Widerständigkeit kann kaum die Sondergerichts durchzusetzen. Voraus- deutschen Landesgeschichte 1962 Rede sein, schon gar nicht von Wider- gegangen war eine lange Arbeitsphase im 10

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Ein Eintrag im Register des Sondergerichts Mannheim von 1943 über dauernden Ehrverlust, Todesstrafe und Vollstreckung im Oberlandesgericht Stuttgart. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg GLAK 507/9

Generallandesarchiv Karlsruhe, bei der Akten neben der Münchener Sonderge- auch, dass in Mannheim nach 1945 be- die Probleme der Nutzung und der Ano- richtsüberlieferung zu den bedeutendsten reits kassiert worden war. Ein erstes nymisierung zu lösen waren. Sonderge- süddeutschen Quellengruppen für All- Flachverzeichnis entstand im General- richtsakten sind exemplarisch für schwie- tagsgeschichte im Dritten Reich über- landesarchiv seit 1977. Über ein elektro- rige archivische Datenschutzfragen. Kei- haupt; für die Kenntnis der Stimmungsla- nisches Findbuch (MIDOSA) ist der ner der Betroffenen kann als Person der ge in der Bevölkerung sind sie nicht weni- Bestand von 65 Regalmetern jetzt voll- Zeitgeschichte gelten, viele waren noch ger wichtig als die Gestapo- oder die So- ständig inventarisiert. jung; solange die Betroffenen noch leben, PaDe-Berichte. Das Interesse daran war verlangt die Schutzpflicht stets Anonymi- stets groß. Vor allem die engagierten Re- Literatur: sierung oder Zustimmung, die aber zu- cherchen der Mannheimer Staatsanwältin Christiane Oehler: Die Rechtspre- gleich die weitergehende Milieuforschung Barbara Just-Dahlmann seit den 1960er chung des Sondergerichts Mannheim erheblich behindert. Auf der anderen Jahren zur Rolle der Justiz in der NS-Zeit 1933 –1945 (Freiburger Rechtsgeschicht- Seite zählt der Mannheimer Bestand im wirkten hier wegweisend. Bei den Be- liche Abhandlungen Neue Folge 25). Generallandesarchiv mit seinen 12 500 standsaufnahmen zeigte sich freilich Berlin 1997 „ Konrad Krimm

Opfer und Täter Der jüdische Landgerichtspräsident Alfred Marx und die Bezirksführerin des Reichsarbeitsdiensts für die weibliche Jugend (RADwJ) in Württemberg Annetraud Hammer

In den Sammlungs- und Nachlass- An dieser Stelle soll das Augenmerk verwahrt. Er enthält Unterlagen aus ihrer beständen des Hauptstaatsarchivs Stutt- aber nicht auf Persönlichkeiten des öf- dienstlichen Tätigkeit und der anderer gart werden sowohl Unterlagen von Men- fentlichen Lebens, die vor, während und RADwJ-Führerinnen in den Jahren schen aufbewahrt, die an der menschen- nach der NS-Diktatur eine herausgeho- 1932/33 bis 1945, Schriftgut, das im verachtenden Herrschaft des Nationalso- bene Stellung in Politik oder Gesellschaft Zuge der Dokumentations- und Rehabili- zialismus aktiv beteiligt waren, wie auch innehatten, gerichtet werden, wie auf den tierungsbemühungen der ehemaligen von Menschen, die diese erdulden und in Plötzensee 1945 hingerichteten ehe- Reichsarbeitsdienst-Führer und -Führerin- erleiden mussten und deren Leben durch maligen württembergischen Staatspräsi- nen erwachsen ist, und schließlich eine das barbarische Verhalten der Herrschen- denten Eugen Bolz (Bestand Q 1/25). größere Anzahl von einschlägigen Druck- den gravierende Einschnitte erfuhr, in Vielmehr sollen Menschen in den Blick schriften aus der Bibliothek von Anne- anderen Fällen die Ermordung zur Folge genommen werden, die im nationalsozia- traud Hammer. hatte. Wie in anderen Archiven werden listischen Alltag litten und Opfer der na- Hammer, geboren am 26. Januar auch im Hauptstaatsarchiv Stuttgart tionalsozialistischen Ideologie wurden 1905 in Stuttgart, gestorben am 14. Ja- Unterlagen sowohl von Tätern als auch oder auf der anderen Seite stehend aktiv nuar 1992 in Stuttgart, kam 1932 zum von Opfern unter einem Dach, in einem zur Umsetzung und Verwirklichung des freiwilligen Arbeitsdienst und wurde 1933 Magazinraum nebeneinander aufbewahrt. NS-Systems als Täter beitrugen. Bezirksführerin des RADwJ, ab 1936 mit Als Archivgut – fein säuberlich verzeich- Auf der Täterseite ist sicherlich An- dem Rang einer Stabshauptführerin. Trotz net und verpackt – erscheint es rein äu- netraud Hammer in ihrer Funktion als Be- ihrer herausgehobenen Stellung beim ßerlich gleich, beschäftigt man sich aber zirksführerin des Reichsarbeitsdiensts für Reichsarbeitsdienst und der großen Nähe mit seinem Inhalt, spiegelt es äußerst die weibliche Jugend (RADwJ) in Würt- zur nationalsozialistischen Ideologie unterschiedliche Lebenswelten und Le- temberg zu verorten. Ihr Nachlass wird wurde sie im Zuge der Entnazifizierung bensverläufe, einen grundsätzlich anders als Bestand Q 1/41 Persönliches Archiv von der Berufungskammer Va Stuttgart 11 gearteten Alltag wider. Annetraud Hammer im Hauptstaatsarchiv 1948 als Mitläuferin eingestuft (Staatsar-

Archivnachrichten Sondernummer 2005 chiv Ludwigsburg EL 904 Az. 37/17/8250 Die Mutter blieb in Deutschland, wurde nister Hjalmar Schacht. Bis April 1948 B 7516/48). Als aktive Mitarbeiterin in der nach Dellmensingen evakuiert und am fungierte er dann als Öffentlicher Anklä- Notgemeinschaft der ehemaligen Arbeits- 22. August 1942 nach Theresienstadt de- ger bei Spruchkammerverfahren. Im Mai dienstangehörigen korrespondierte sie portiert, wo sie am 14. Oktober 1942 ver- 1948 kehrte Alfred Marx in den Zustän- seit 1947 mit zahlreichen anderen ehema- starb. digkeitsbereich des Justizministeriums ligen RADwJ-Führerinnen sowie mit dem Alfred Marx erhielt als Sohn einer ak- zurück und arbeitete bis zu seiner Pen- Führer des Reichsarbeitsdiensts Konstan- kulturierten jüdischen Familie eine huma- sionierung im Jahr 1964 als Richter am tin Hierl intensiv und erstellte 1974 eine nistische Schulbildung, besuchte das hu- Landgericht in Stuttgart. Seinen Lebens- Chronik des Bezirks Württemberg – manistische Gymnasium in Cannstatt von abend verbrachte er in Stuttgart, wo er im RADwJ. Mit der Arbeit an dieser Chronik 1908 bis 1917 und bestand dort die Not- Alter von 89 Jahren am 28. Juli 1988 ver- kamen auch Unterlagen und Erinnerungs- reifeprüfung. Anschließend wurde er wie schied. Sein Grab befindet sich auf dem stücke anderer Frauen, die im RADwJ sein älterer Bruder zum Militär eingezo- jüdischen Friedhof in Cannstatt. eine führende Rolle spielten, in ihren Be- gen und machte im letzten Kriegsjahr Seine Handakten berichten nur sitz und somit auch in diesen Bestand. noch Feldzüge in Flandern und Frank- wenig aus dem bürgerlichen Leben von Die Unterlagen bieten interessante Ein- reich mit. Ab 1919 studierte er Rechts- Alfred Marx, vielmehr spiegeln sie seine blicke in die Organisation, Ideologie und wissenschaft an der Universität Tübingen Tätigkeit als Kläger und Ermittler bei das Funktionieren dieser Frauenorganisa- sowie an den Universitäten Freiburg und Spruchkammerverfahren und seine Funk- tion nicht nur für die Zeit des Dritten München. Im Herbst 1922 legte er die tion als Zeitzeuge wider. Akribisch sam- Reichs, sondern auch in das Weiterbe- erste höhere Justizdienstprüfung in Tü- melte er Abschriften und Kopien von Er- stehen beziehungsweise Neuknüpfen bingen, im Frühjahr 1925 die zweite lassen, Verfügungen und Dokumenten, eines Netzwerks nach dem Zweiten Welt- Staatsprüfung ab. Danach arbeitete er im welche die Verfolgung jüdischer Mitbür- krieg, das die Führerinnen in einer ideolo- Justizdienst als Assessor, dann seit 1928 ger besonders in Württemberg während gisch geprägten Kameradschaft auffängt als Amtsrichter an verschiedenen Gerich- der NS-Diktatur belegen, sowie Namens- und verbindet. ten in Württemberg. Er heiratete am 2. listen von in verschiedenen Orten wohn- Ein ganz anderes Bild der Zeit ab November 1929 Johanna Eckstein, Toch- haft gewesenen Juden. Daneben finden dem Jahr 1933 bis weit in die 1960er ter des in Darmstadt lebenden Amtsge- sich Unterlagen aus Wiedergutmachungs- Jahre zeichnen die Unterlagen, die als richtsrats Ernst Eckstein. Im Jahr 1935 und Rückerstattungsverfahren aus der Bestand Q 3/12 Handakten Alfred Marx, wurde er aufgrund der Nürnberger Geset- Nachkriegszeit. Interessant sind die Akten Landgerichtspräsident im Hauptstaatsar- ze aus dem Justizdienst entlassen und des Verfahrens gegen den Polizeiinspek- chiv Stuttgart verwahrt werden. Alfred arbeitete in der der Familie gehörenden tor Egle aus Heilbronn, die einen tiefen Marx und seine Familie wurden aus ras- Firma in Neuffen im kaufmännischen Be- Einblick in die Organisation und Willkür senideologischen Gründen Opfer der NS- reich mit. Nach dem erzwungenen Ver- der Judendeportationen aus dem Kreis Diktatur, deren Folgen sich auch noch kauf der Firma Ende 1938 war er in der Heilbronn im Jahr 1942 geben. Erschüt- Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Welt- Jüdischen Auswanderer- und Mittelstelle ternde Dokumente über das Schicksal jü- kriegs in seinen Unterlagen offenbaren. für Württemberg und Hohenzollern in discher Bewohner nordwürttembergischer Alfred Marx wurde am 15. Januar Stuttgart tätig, deren Leiter er seit Herbst Gemeinden sind in der Unterlagengruppe 1899 in Stuttgart-Bad Cannstatt als 1940 war. Im Sommer 1943 wurde die Deportation der Juden vereint. jüngster Sohn des Fabrikanten Eduard Württembergische Kultusvereinigung und Ein weiterer Komplex umfasst um- Marx (1854 –1904) und seiner Ehefrau mit ihr die Stelle aufgelöst, Alfred Marx fangreiche Unterlagen der Gemeinde Tal- Babette geb. Rothschild (1865 –1942) ge- wurde Mitarbeiter der Reichsvereinigung heim im Landkreis Heilbronn. Akten der boren. Sein Vater war Teilhaber der Firma der Juden in Deutschland und fungierte Gemeinderegistratur, die vor allem die jü- Gutmann-Marx, Gurten- und Bandwebe- als Vertrauensmann für Württemberg und dischen Einwohner Talheims betreffen, rei in Cannstatt, mit einer Filiale in Neuf- Hohenzollern. Kurz vor Ende des Zweiten gelangten in die Handakten von Alfred fen. Dieser starb bereits mit 49 Jahren Weltkriegs, im Februar 1945 wurde er von Marx. Sie spiegeln Verfolgung, Diskrimi- 1904 in Stuttgart. Der ältere Bruder Leo- Stuttgart in das Konzentrationslager The- nierung und Ausbeutung der jüdischen pold Marx (1889 –1983) übernahm im resienstadt deportiert und dort im Mai Einwohner durch staatliche und kommu- Jahr 1909 zusammen mit der Mutter die 1945 befreit. nale Stellen, aber auch durch die ari- Firma. Leopold war als Dichter mit Her- Alfred Marx kehrte rasch nach Stutt- schen Gemeindemitglieder wider. mann Hesse befreundet und gründete gart zurück und war seit September 1945 Die beiden an dieser Stelle vorge- 1926 unter Mitwirkung des jüdischen Re- als Landgerichtsrat in Stuttgart tätig. Im stellten Bestände des Hauptstaatsarchivs ligionsphilosophen Martin Buber zusam- August 1946 wechselte er in das Befrei- Stuttgart stehen exemplarisch für Unterla- men mit anderen das Jüdische Lehrhaus ungsministerium als Sachbearbeiter in gen in anderen Beständen, die der For- in Stuttgart. Im Jahr 1938 wurde er ins der Rechtsabteilung. Von November bis schung Quellen aus der Perspektive der Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Februar 1947 war er Mitarbeiter des An- Täter wie auch der Opfer, über Verfol- 1939 emigriert er nach Shavei Zion (Is- klägers beim Spruchkammerverfahren gung und Karriere während der NS-Dikta- rael), wo er 1983 starb. Leopold Marx gegen den ehemaligen Reichsbankpräsi- tur zur Verfügung stellen „ Peter Bohl schrieb zeitlebens in deutscher Sprache. denten und Hitlers ersten Wirtschaftsmi-

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Archivnachrichten Sondernummer 2005 Die Stuttgarter Kriegsfilmchronik Ein besonderer Bestand im Stadtarchiv Stuttgart

Am 3. Juni 1941 verfügte Stuttgarts Im August 1943 waren die so ge- Zeitzeugen zufolge kamen das Stadtar- Oberbürgermeister Dr. Strölin: Es ist be- nannten Umkehroriginale von 48 Filmen chiv und die Firma überein, einen solchen absichtigt, zur Ergänzung der beim Archiv ins Schloss Löwenstein geflüchtet wor- Film nicht zu drehen; er verwies auf die der Stadt geführten Kriegschronik von ge- den. Dort sollten sie zusammen mit dem Initiative der Stapoleitstelle Stuttgart. eigneten, für die Kriegszeit bezeichnen- historischen Archiv der Stadt Stuttgart Immerhin hatte ein der SS angehörender den Vorgängen Laufbilder aufnehmen zu und den Archiven der früher selbstständi- Ratsherr im November 1941 angeregt, die lassen (...) Federführend auf diesem Ge- gen Orte gesichert werden. Das Gegenteil Judenaustreibung in einem historischen biet ist das Stadtarchiv. war der Fall: Am 14. April 1945 gingen Dokument filmisch festzuhalten. Schriftliche Kriegschroniken legten dort die verlagerten Bestände zugrunde. Dieses Filmdokument wird heute in damals mehrere Städte an, um ihre Leis- Allerdings blieb ein Exemplar der Filme in vielen Museen und Dokumentationsstät- tungen für den Endsieg zu dokumentie- Stuttgart erhalten. ten zur Geschichte der Shoah gezeigt. ren. Die Kommunen hatten im NS-Staat Die Filme der Kriegschronik erschei- Aber auch die Filme der eigentlichen an Bedeutung eingebüßt. Typisch ist die nen dokumentarisch. Der propagandisti- Kriegschronik sind herausragende Doku- Entwicklung in Stuttgart, das 1936 den sche Charakter bleibt ohne Kenntnis der mente nicht nur der Stadtgeschichte Titel einer Stadt der Auslandsdeutschen Abläufe und der parallelen schriftlichen Stuttgarts, sondern der Verwaltungs- und erhielt, aber kaum eines der hochge- Überlieferung unklar. Gezielte inhaltliche Alltagsgeschichte des NS-Staats sowie steckten Ziele hatte umsetzen können. Fälschungen sind nicht nachzuweisen – der Filmgeschichte. Vom Nachweis administrativer und tech- mit einer Ausnahme: Im November 1941 Zur Benutzung: Im Lesesaal können nokratischer Effizienz im Krieg erhofften wurde ein Film gedreht über den so ge- auf Anfrage VHS-Kopien mit und ohne die Kommunen mehr politisches Gewicht. nannten Judenladen, eine ehemalige Timecode auf einem Fernseh-Videorekor- So registrierte Stuttgart im April 1941 Gastwirtschaft in der Seestraße, in der der abgespielt werden. Die VHS-Kopien stolz, dass die Stadt in der Betonleistung alle jüdischen Bürger im Stadtgebiet ihre sind von Betacom-Kopien abgenommen, beim Luftschutzbau an der Spitze stehe. Lebensmittelmarken einlösen mussten. die als provisorische Sicherungskopien Anlässlich einer internen Vorführung der Während Zeitzeugen übereinstimmend und für die Herstellung von Klammerko- Filmchronik 1943 hieß es: Die Stadt Stutt- mit den Akten des Ernährungsamts über pien dienen. Die Umkopierung (Negativ- gart hat damit Unterlagen von höchstem Schikanen und Mängel klagten, wurden film) und Digitalisierung der (gesperrten) dokumentarischen Wert für die Zukunft im Film volle Regale gezeigt. Originalfilme wurde begonnen, kann geschaffen, wie sie – soviel bekannt – Ein anderes wertvolles Filmdoku- derzeit aber aus Kostengründen nicht außerdem nur noch die Städte Berlin und ment gehörte ursprünglich nicht zur fortgeführt werden. Eine Ausleihe oder München besitzen. In Bezug auf die Kriegschronik: ein Film über das Sammel- die Herstellung von Kopien ganzer Filme Reichhaltigkeit und systematische Voll- lager auf dem Killesberg vor der ersten ist ausgeschlossen; möglich sind Klam- ständigkeit steht Stuttgart wohl an erster Deportation jüdischer Bürger aus Würt- merkopien von einzelnen Sequenzen „ Stelle. temberg am 1. Dezember 1941. Einem Roland Müller Ziel war also keine Ansammlung von Kurzfilmen, von denen heute 58 mit über 7800 Metern Länge vorliegen, sondern ein Gesamtfilm über die städtischen Leis- tungen im Krieg. Die Initiative war vom In- haber der dann beauftragten Firma Doku- ment Film, Jean Lommen, ausgegangen, der auf ein Filmprojekt in Essen hingewie- sen und einen Vorschlag ausgearbeitet hatte. Die Stadt griff den Vorschlag auf. Sie gab die Themen vor, und die Firma erstellte ein Drehbuch zur Genehmigung. Offenbar erfolgten keine nennenswerten Beanstandungen; nach der Abordnung des städtischen Kulturreferenten Cuhorst 1942 in den Landesdienst sind keine for- mellen Abnahmen mehr belegt. Die Stadt sorgte auch, wo nötig, für eine rechtzeiti- ge Information des Polizeipräsidenten oder für die Zustimmung der NSDAP- Gauleitung. 1941 entstanden unter anderen Filme über Luftschutzbau, den Einsatz von Kriegsgefangenen bei der Stadt und von Frauen als Schaffnerinnen; diesen Aus dem Film über den so genannten Judenladen, eine ehemalige Gastwirtschaft in Film finanzierte die Stuttgarter Straßen- der Seestraße, in der die jüdischen Bürger des Stuttgarter Stadtgebiets ihre Lebens- bahnen AG. Die letzten Filme zeigen eine mittelmarken einzulösen hatten, November 1941. Großkundgebung der NSDAP am 15. Juli Vorlage: Stadtarchiv Stuttgart, Kriegsfilmchronik Nr. 28, Standbild 1944 und Terrorschäden nach Luftangrif- fen am 25. und 26. Juli 1944. Als im Herbst 1944 die Reichsstelle Chemie wei- teres Filmmaterial verweigerte, war die 13 Stuttgarter Kriegsfilmchronik zu Ende.

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Im Südwesten viel Neues Quellen zum Aufstieg und zur Herrschaft der Nationalsozialisten neu entdeckt

Der Forscher fand nicht selten mehr, hekreises begann. Denn dem Projekt als er zu finden wünschte – was Gotthold fehlten somit wesentliche Teile für die Ephraim Lessing seinen Nathan den Wei- Darstellung der politischen Geschichte sen in der gleichnamigen Ringparabel des Untersuchungsraums, konkret die sagen lässt, gilt in umgekehrter Weise für kommunalen Wahldaten für die Jahre die württembergische Zeitgeschichts- 1919 –1938. Dabei besteht die Arbeit der schreibung (Zeile 1387 folgende). Was als Landesbeschreibung seit 1820/24 darin, nicht vorhanden gilt, wird auch nicht ver- das Land in seinen kleinsten Verwal- misst: die Gemeindeergebnisse der tungseinheiten, den Ämtern beziehungs- Reichstagswahlen zwischen 1919 und weise Kreisen, darzustellen. In diesem 1933 sowie der so genannten Volksab- Zusammenhang kommt den Kommunen stimmungen in der NS-Zeit von 1933 bis und den Ämtern oder Kreisen traditionell 1938. Denn diese wichtigen Daten für die eine wesentliche Rolle zu. Sie bilden die Geschichte der Weimarer Republik und Bausteine, auf deren Basis die Landes- des Nationalsozialismus galten bislang kunde ihre Forschungen ansetzt. Um die- entweder als nicht existent oder als ver- sem Auftrag gerecht zu werden, begaben schollen. sich die Projektbearbeiter intensiv auf die Die grundlegende Literatur zur Ge- Spuren nach den verlorenen Quellen – mit schichte Württembergs zwischen Weimar Erfolg. und Bonn stützte sich weitgehend auf die Während die in den Ministerialbe- Ergebnisse auf Landesebene beziehungs- ständen des Hauptstaatsarchivs Stuttgart weise auf der Grundlage ausgewählter liegenden Wahlunterlagen für das Kaiser- Oberämter. Wurden einmal die Resultate reich der historischen Forschung seit län- Abstimmungsschein für den ersten Wahl- einzelner Kommunen erörtert, so stamm- gerem bekannt sind und jüngst wieder gang zur Wahl des Reichspräsidenten am ten diese aus den lokalen Tageszeitun- ausgewertet wurden (Hauptstaatsarchiv 13. März 1932. gen, weil die Historiker in der staatlichen Stuttgart E 146/1 bis E 151/02), bereitete Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- Überlieferung Verluste ausgemacht hat- es größere Schwierigkeiten, die Ergeb- berg StAL F 192 II Bü. 321 ten. Auch der vierte Band des Hand- nisse der Reichstagswahlen in der Wei- buchs der baden-württembergischen Ge- marer und der NS-Zeit zu ermitteln. Fün- Dabei fanden sich auch einschlägige schichte erwähnt die Resultate der dig wurden die Projektbearbeiter im Archivalien wie Wahlscheine, Wahlbe- Reichstagswahlen nur für das Land und Staatsarchiv Ludwigsburg, konkret in der kanntmachungen oder Wahlverbote, die seine Oberämter, führt aber keine Ergeb- Überlieferung der einschlägigen Oberäm- geeignet sind, die Analyse der histori- nisse auf Gemeindeebene an. ter. Im Fall des Hohenlohekreises waren schen Prozesse zu illustrieren. Hinzu kam, dass das Statistische dies die Oberämter Künzelsau, Öhringen Die Weimarer Reichstagswahlen Landesamt in Württemberg nur wenig ge- und Weinsberg (bis zur Auflösung 1926). lagen für die Geburtsstunde der ersten meindebezogenes Material publizierte – deutschen Demokratie sowie für deren im Gegensatz zu Baden, wo die amtliche Untergang vor. Während die Resultate der Statistik die Reichstagswahlen bis 1934 Wahl zur Verfassunggebenden National- zusammenhängend und flächendeckend versammlung 1919 auch im Bestand des druckte. Das Württembergische Statisti- Innenministeriums im Hauptstaatsarchiv sche Landesamt veröffentlichte gemein- Stuttgart greifbar waren und dort für die debezogene Ergebnisse von Reichstags- Nutzung verfilmt sind (Hauptstaatsarchiv wahlen in der Weimarer Republik lediglich Stuttgart E 151/02), weist die Oberamts- 1919, beim Urnengang zur Verfassung- überlieferung die gemeindeweisen Ergeb- gebenden Nationalversammlung (bei den nisse für die Urnengänge 1919 sowie von Landtagswahlen bietet der Urnengang 1928 bis zur halbdemokratischen März- vom 24. April 1932 flächendeckende Orts- wahl 1933 auf. Lediglich die zweite und ergebnisse). Dieser Befund trifft auch auf dritte Abstimmung von 1920 und vom die so genannten Abstimmungen in der Mai 1924 fehlten; für die Dezemberwahl NS-Zeit zu, soweit diese überhaupt noch 1924, die ebenso den Weimarer Konsoli- bekannt gemacht wurden. In diesen Fällen dierungsjahren zuzurechnen ist, konnte veröffentlichte die amtliche Statistik auf die gemeindeweisen Resultate des nur die Resultate für das Land und die Oberamts Künzelsau zurückgegriffen wer- seinerzeit 62 Oberämter. den (Staatsarchiv Ludwigsburg E 175, Der Wandel der politischen Orientie- F 177 II, F 192 II). Ferner gelang es, die rungen und des Wahlverhaltens in den Ergebnisse der Reichspräsidentenwahlen württembergischen Gemeinden der Wei- ausfindig zu machen. Mit Ausnahme der marer Republik sowie deren Haltung Gemeinden des Oberamts Weinsberg gegenüber der erstarkenden NSDAP und konnten alle kommunalen Wahldaten für dem etablierten NS-Regime standen also beide Wahlgänge der Jahre 1925 und in gewisser Weise auf einem weißen 1932 erfasst und ausgewertet werden. Blatt. Vor diesem Problem stand die Ab- Schließlich vermochten die Projekt- teilung Landesforschung und Landesbe- Stimmschein für die Reichstagswahl am bearbeiter, die Urnengänge der NS-Zeit schreibung des Landesarchivs Baden- 14. September 1930 im Wahlkreis 31. zu ermitteln. Die Abstimmungsergebnisse Württemberg, als sie mit den Vorarbeiten Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- von 1933 bis 1938 waren ebenfalls ge- für die Kreisbeschreibung des Hohenlo- berg StAL F 192 II Bü. 329 meindeweise vorhanden. Zudem befinden 14

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Wähler. Auch wenn die formale Bezeich- nung der so genannten Volksabstimmun- gen und Wahlen Rechtmäßigkeit sugge- rierte, können diese Urnengänge also weder im Ablauf noch in der Auswertung demokratischen Grundsätzen genügen. Denn bei diesen gehört zur Wahl die Aus- wahl, die die Nationalsozialisten und ihr totalitärer Herrschaftsanspruch nicht zu- ließen. Somit trägt die Landesbeschrei- bung mit dazu bei, die Besonderheiten der NS-Wahlergebnisse zu verstehen und sie in den Kontext der Wahlgeschichte einzuordnen. Vor der Negativfolie der NS- Abstimmungen (siehe dazu den abgebil- deten Wahlschein von 1936) erschließen sich dem Leser das Wesen demokrati- scher Wahlen, deren Charakteristikum ja in der Aus-Wahl mehrerer Bewerber be- steht. Zweitens liefern die aufgefundenen Bestände die Basis für eine geschichts- Bekanntmachung des Wahlverbots für Juden bei der Wahl zum Großdeutschen wissenschaftliche Grundlagenforschung, Reichstag am 10. April 1938. die die charakteristischen Eigenheiten Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL F 192 II Bü. 331-2 des jeweiligen Untersuchungsraums deut- lich herauspräpariert. Für die Kreisbe- sich im Bestand des Innenministeriums Statistik bei der Reichstagswahl keine schreibung des Hohenlohekreises geben im Hauptstaatsarchiv Stuttgart die mikro- Neinstimmen aus. Diese waren auf dem die aus den neu entdeckten Beständen verfilmten Resultate der Reichstagswahl Wahlschein gar nicht vorgesehen. Wer gewonnenen Zahlenreihen das Rohmate- und der so genannten Volksabstimmung dem Regime dennoch seine Stimme ver- rial für Grafiken und Karten ab. Beson- über den Völkerbundaustritt am 12. No- sagen wollte, musste seine Ablehnung ei- ders die abgebildete Erdrutschwahl im vember 1933, des Diktaturreferendums genhändig auf dem Wahlschein vermer- Juli 1932 ist dazu geeignet, den massen- vom 19. August 1934 und der Wahl zum ken. Damit machte er sein Votum in den haften Durchbruch der NSDAP durch Großdeutschen Reichstag vom 10. April Augen der Machthaber ungültig. So er- Wählerwanderungen eingängig zu veran- 1938 (Hauptstaatsarchiv Stuttgart klärt sich die 100-prozentige Zustimmung schaulichen. E 151/02). zum NSDAP-Wahlvorschlag in allen Ge- Die Grafik vermittelt nicht nur die Er- Die vorgefundenen Quellen waren meinden. Will man dennoch die tatsächli- gebnisse der Reichstagswahl am 31. Juli teils handschriftlich, teils maschinen- che Verweigerungsquote ermitteln, so 1932 in den Gemeinden des Hohenlohe- schriftlich verfasst, mehrheitlich wurden muss man die – wohlweislich in der offi- kreises, sondern sie verweist auch auf die die Daten auf amtlichen Vordrucken ein- ziellen Statistik unterschlagenen – ungül- hinter der Wahlentscheidung liegenden getragen. Mit der Erfassung der Angaben tigen Stimmen eruieren; so berechnet, politischen Orientierungs- und Verhal- wurde eine studentische Hilfskraft auf betrug im November 1933 der Anteil der tensmuster. Dabei verdeutlicht sie die Werkvertragsbasis betraut. Diese nahm Regimegegner in ausgesuchten – katholi- enorme Bedeutung der Bekenntnisse bei die Daten mit dem Tabellenkalkulations- schen – Kommunen über ein Zehntel der der Stimmabgabe. Der Konfession kam programm Excel auf. Formale Erfas- sungsgrundlage bildete die Zollvereins- statistik, die im Bedarfsfall an den Ge- bietsstand zum Zeitpunkt der Abstim- mung angepasst wurde. In einem ersten Schritt nahm die studentische Hilfskraft die Ergebnisse – getreu der historischen Quelle – für alle Gemeinden der einschlä- gigen Oberämter auf. In einem zweiten Schritt wurden die Datensätze der Kom- munen zusammengezogen, die seit der großen Gebietsreform den Hohenlohe- kreis bilden. Damit lag für den Hohenlohekreis und alle seine Gemeinden eine Datenba- sis vor, mit der die Entwicklung der politi- schen Einstellungen aussagekräftig cha- rakterisiert werden konnte. Mithilfe der neu entdeckten Wahlergebnisse vermag die Landesbeschreibung zwei grundle- gende Anliegen einzulösen. Zum einen ermöglicht die Auswer- tung der erfassten Datenreihen eine seri- öse und gehaltvolle historisch-politische Bildungsarbeit. Ein Beispiel: Im Novem- Stimmschein für die „Wahl“ zum Reichstag für Freiheit und Frieden am 29. März 1936. 15 ber 1933 wie im März 1936 wies die NS- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL F 192 II Bü. 330-2

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Ergebnisse der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 in den Gemeinden des Hohenlohekreises. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg, Landesforschung ein herausragender Stellenwert für die dagegen erreichte die NSDAP Ergebnisse Die Zugehörigkeit zum Volksstaat NS-Empfänglichkeit zu, wie er für kein bis zu 90 oder 87,6 Prozent (Orendelsall Württemberg oder zum Freistaat Baden weiteres Kriterium mehr zutraf. Im Hohen- beziehungsweise Neunstetten). In Hohen- wirkte sich nicht auf die Stimmabgabe lohekreis erhielt das Zentrum nur in drei lohe kam im Juli 1932 dem Württember- aus, das Bekenntnis der Wähler aller- der 28 katholischen Gemeinden (Gom- gischen Bauern- und Weingärtnerbund, dings. Die Grafik bestätigt somit die his- mersdorf 65,5 Prozent, Berlichingen 66,4 einer protestantischen, agrarisch konser- torische Wahlforschung, die festgestellt Prozent und Krautheim 71,7 Prozent) we- vativen Interessenvertretung mit antimar- hat, dass der typische NSDAP-Wähler niger als 85 Prozent der Stimmen, wäh- xistischen und antisemitischen Einflüs- wie auch die Wählerin, die bis zur halbde- rend die NSDAP sich dort mit einem Re- sen, eine vorübergehende Pufferwirkung mokratischen Märzwahl 1933 zur NSDAP sultat von unter einem Drittel begnügen zu, die aber nur bis zur Märzwahl 1933 überliefen, in erster Linie evangelisch und musste. In den protestantischen Orten anhielt. männlich waren und auf dem Lande leb- 16

Archivnachrichten Sondernummer 2005 ten. Zeigte sich das katholische Milieu Jede Kreisbeschreibung bildet so einen Handbuch der baden-württembergi- tendenziell resistent, legte man in den gewichtigen Baustein für eine umfassen- schen Geschichte. Vierter Band: Die Län- protestantischen Orten eine ausgespro- de Landeskunde. Dazu helfen die neu der seit 1918. Herausgegeben von Hans- chene Affinität zum Nationalsozialismus entdeckten Quellen. Der Blick in die Ar- martin Schwarzmeier und Meinrad an den Tag. chive lohnt sich – dafür muss man nicht Schaab (†) in Verbindung mit Paul Sauer Die ermittelten Wahldaten auf Ge- einmal ein Lessingkenner sein. und Gerhard Taddey. Stuttgart 2003. meindeebene ermöglichen den Aufbau S. 73f. und S. 231f. und die Fortschreibung einer Datenbank, Literatur: Mitteilungen des Württembergischen deren Zahlenreihen nach einem festen Jürgen Falter: Hitlers Wähler. Mün- Statistischen Landesamts, Jahrgang Strukturprinzip erfasst sind. Die Wahl- chen 1991. Besonders S. 169 –186. 1919 ff. und Jg. 1933 ff.; als Beispiel 8 ergebnisse lassen sich somit unter ver- Andreas Gawatz: Wahlkämpfe in (1932) S. 181– 240 (für Württemberg). schiedenen Aspekten in kartografische Württemberg. Landtags- und Reichstags- Sonderdrucke zu den einschlägigen Ur- Darstellungsformen – analog oder digital wahlen beim Übergang vom politischen nengängen (für Baden). – überführen und stehen folglich für viel- Massenmarkt (1889 –1912) (Beiträge zur Thomas Schnabel: Württemberg zwi- fältige Kooperationsprojekte der wissen- Geschichte des Parlamentarismus und schen Weimar und Bonn 1928 –1945/46. schaftlichen Forschung und der interes- der politischen Parteien 128). Düsseldorf Stuttgart 1986. S. 16 und S. 649. sierten Öffentlichkeit zur Verfügung. Bei 2001. Reinhold Weber: Bürgerpartei und der Kreisbeschreibung bilden sie die Josef Griesmeier: Die Reichstags- Bauernbund in Württemberg. Konserva- Basis für die Erstellung grafischer Ele- wahlen im Wahlkreis Württemberg von tive Parteien im Kaiserreich und in Wei- mente, die exakt auf thematische Einhei- 1919 –1930. In: Sonderdruck aus Würt- mar (1895 –1933) (Beiträge zur Geschich- ten abgestimmt sind. Text und Bild befä- tembergische Jahrbücher für Statistik und te des Parlamentarismus und der politi- higen den Leser leicht zum Vergleich zwi- Volkskunde 1930/31. Stuttgart 1931. schen Parteien 141). Düsseldorf 2004 „ schen den Gemeinden eines Kreises, S. 77 –145. Peter Exner aber auch über die Kreisgrenzen hinweg.

Das deutsche Volk ist – politisch gesehen – als ein Kind zu betrachten Bemerkungen zu und aus einem laufenden Erschließungsprojekt im Staatsarchiv Ludwigsburg

Kinder aber – so spann ein politi- ten ebenso wie solche der Ober- bezie- weise neu zu Personalakten formiert. An scher Leiter im November 1943 seine Er- hungsweise Landratsämter, Unterlagen zwei Beispielen lässt sich schön aufzei- kenntnis weiter aus – Kinder müssen des der Staatsanwaltschaften ebenso wie gen, worauf es den Amerikanern bei der öfteren zum Guten gezwungen werden, Überlieferung der Gemeinden oder der Durchkämmung ihrer Aktenbeute allein weil ihnen die Vernunft und der Überblick örtlichen Polizeibehörden. Provenienz- ankam. Zum einen: Allgemein wird an fehlt. Nun, die Geschichte sollte ihm prinzip? – to hell with it! Der Zweck heilig- sämtlichen Einzelstücken der Bestände Recht geben, freilich nicht so, wie er te die Mittel, und der Zweck war nun ein- das pure name-dropping als handlungs- sich’s gedacht hatte. Anderthalb Jahre mal eine personenbezogene Dokumenta- leitendes Interesse schon äußerlich daran nach der zitierten Äußerung übernahmen tion von Zugehörigkeit und Nähe zu den erkennbar, dass Eigennamen in Betreff- andere die Erziehungsgewalt, neue Klas- Organisationen des Regimes. Bei der Er- zeilen, im Text oder als Unterschrift senziele bestimmten den Lehrplan und stellung derartiger Dossiers waren Regist- Unterstreichungen mit Blau- und Rotstift die Re-education begann – erfolgreich, raturzusammenhänge nur hinderlich. aufweisen. Zum andern ein spezieller Fall: denn das Kind, ein Spätentwickler in Akten wurden auseinander genommen, Die bei den Ortspolizeibehörden konfis- Sachen Demokratie, verinnerlichte die Einzelblätter verschiedener Herkunft teil- zierten Kennkartenanträge und -duplikate Lektionen so sehr, dass es heutzutage, ein wahrer Musterschüler, zuweilen besser Bescheid zu wissen glaubt als seine einstigen Umerzieher. Vernunft und Überblick sind auch vonnöten, wenn es gilt, die Hinterlassen- schaften der beiden Erzieher, jener vor und jener nach 1945, zu ordnen und zu verzeichnen. Das nämlich ist die Aufgabe eines von der Stiftung Kulturgut finanzier- ten Projekts im Staatsarchiv Ludwigs- burg, das im Mai 2004 gestartet ist. Erste Erfahrungen und Impressionen aus die- sem work in progress sollen im Folgen- den wiedergegeben werden. Basis des Projekts ist die 65 Regal- meter umfassende Beständegruppe PL 501– 506, das heißt die Überlieferung der NSDAP und der ihr angegliederten Organisationen, und zwar weitestgehend in der Form, in der sie aus dem Gewahr- sam der in den einzelnen Kreisen tätigen US-Besatzungsbehörden hervorgegan- gen ist. Die nämlich hatten, das Ziel der Entnazifizierung vor Augen, offizielles Schriftgut beschlagnahmt, wo immer sie Der Schutzgeist der deutschen Familie, Blick auf einen „Hausaltar“ in Künzelsau. 17 seiner habhaft werden konnten: Parteiak- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL PL 502/23 Bü. 7

Archivnachrichten Sondernummer 2005 gruppen, gedacht als Quellenbasis für später zu erstellende Kriegschroniken, und schließlich von den US-Militärbehör- den verfasste, knappe Charakteristiken belasteter (und unbelasteter) Personen. Was die Erschließung der Bestände im Rahmen des Projekts angeht, so be- müht sich der Bearbeiter um die Rekon- struktion von Sachzusammenhängen, wo immer dies möglich ist. Dabei geht es, um nochmals auf unser Eingangszitat zu- rückzugreifen, nicht immer ohne Zwang ab, auch hier allerdings einem Zwang zum Guten – die Nutzer der Akten wer- den es später hoffentlich zu schätzen wissen. Der Personenerfassung dienende Serien wie Karteien und Stammrollen werden grundsätzlich wieder hergestellt, personenbezogene Einheiten hingegen dort belassen oder gebildet, wo die Be- deutung der Person oder der äußere Um- fang des vorhandenen Dossiers dies ge- Unveränderliche Kennzeichen am Revers, Passbilder aus der Zeit vor der „Befreiung“ rechtfertigt erscheinen lassen. Darüber auf Göppinger Kennkartenanträgen aus der Zeit danach. hinaus werden Provenienzbereinigungen Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL PL 502/13 Bü. 81 vorgenommen: vornehmlich bei den auf die Kreisbestände verteilten Unterlagen aus SA-, SS- und HJ-Provenienz, aber wurden im Hinblick auf solche Passbilder Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt auch dann, wenn sich, wie wohl aufgrund gefleddert, die den Ausweisinhaber als ungewöhnlich stark ins Gewicht, und die mangelnder Schriftkenntnisse geschehen, Mitglied der NSDAP oder einer ihr bei- Unterlagen aus dem Kreis Vaihingen/Enz Gögginger Schriftgut in den Göppinger geordneten Organisation auswiesen, in stammen zu einem erheblichen Teil aus Bestand verirrt hatte. Das Alltagsgeschäft aller Regel durch ein sichtbar am Jacken- Gemeindeakten. Ergänzt werden die Be- erstreckt sich bislang also wesentlich auf aufschlag prangendes Abzeichen. Der stände jeweils durch Material, das aus die Ordnung des massenhaften Materials. Blick aufs Knopfloch als Selektionsme- eigenen Ermittlungen der Besatzungsbe- Gleichwohl kommt keine Eintönigkeit auf. chanismus! Besonderen Reiz entfaltet es, hörden erwachsen ist. Aufmerksamkeit Dafür sorgen vor allem die Ansichten von unter dem Material auch solche Kennkar- verdienen hier vor allem Fragebögen, der unpolierten Rückseite des Haken- ten zu finden, die in den Monaten nach Denunziationen vonseiten altbewährter – kreuzes, die aus der Papierwüste immer dem Ende des Kriegs ausgestellt wurden. und frisch gebackener – Antifaschisten wieder ans Licht treten. In löblicher Sparsamkeit hatten die An- sowie Geheimberichte aufgrund von ab- Da zeigt sich beispielsweise, dass tragsteller alte Fotos verwendet; manche gehörten Telefonaten und von geöffneter die Arbeitsbeschaffungspolitik der Nazis hatten immerhin versucht, die Schwach- Post. durchaus zu wünschen übrig ließ, sogar stelle abzuschaben oder mit Kugelschrei- Vom Typus her handelt es sich bei nach Ansicht hochverdienter Alter Kämp- ber zu übermalen – gefruchtet hat das den Unterlagen, soweit bisher absehbar, fer – und zugleich erhalten wir einen wert- freilich nichts, das Kainsmal ließ sich überwiegend um serielle Quellen (Erfas- vollen Beitrag zur Soziologie jenes Typus, nicht entfernen. sungsbögen, Karteien, Stammrollenaus- der damals in, wenn schon nicht archivi- Was die ursprüngliche Herkunft des züge et cetera), die sich vorderhand frei- scher, so doch wenigstens artverwandter Materials betrifft, so handelt es sich gro- lich als Chaos, als im wahrsten Sinne des Tätigkeit sein berufliches Heil erspäht ßenteils um Unterlagen der NSDAP-Gau-, Worts buntes Allerlei präsentieren. Dabei hatte. Ein Schriftgutverwalter, Sohn eines Kreis- und Ortsgruppenleitungen sowie sind Zusammengehörigkeiten oft schon Bahnhofswirts und selbst (eigener Anprei- der NS-nahen Organisationen (SA, SS, äußerlich aus Farbgebung und Format sung nach ausgezeichneter) Kleintier- HJ, BDM, Frauenschaft, Deutsche Ar- ersichtlich; gleichwohl ist die Rekonstruk- züchter, war seit 1927 NSDAP-Mitglied beitsfront, Nationalsozialistisches Kraft- tion ursprünglicher Ordnungszusammen- und hatte 1935 eine Anstellung bei der fahrkorps, Nationalsozialistisches Flieger- hänge ein zeitraubendes Geschäft. Be- Landesbauernschaft gefunden, wo er zu- korps, Nationalsozialistische Volkswohl- sondere Erwähnung gebührt einer Reihe gleich auch als Mitarbeiter an der Buch- fahrt, Nationalsozialistische Kriegsopfer- von Photo Records, die nationalsozialisti- reihe Ahnen deutscher Bauernführer versorgung, Reichskolonialbund et ce- sche Physiognomien auf die Nachwelt fungierte. Bald war es ihm vergönnt, tera), das angesichts des nahenden Zu- bringen. seine genealogischen Kenntniße in die sammenbruchs nicht rechtzeitig vernich- Als inhaltlich besonders beachtens- Abteilung für Blutsfragen einzubringen, tet worden war. Das Schriftgut staatlicher wert seien genannt: etliches Material aus wo die Dorfsippenbücher für Württemberg- und kommunaler Provenienz, das die Be- der Kampfzeit der NSDAP und der Völki- Hohenzollern erstellt wurden. Angesichts stände anreichert, ist demgegenüber ge- schen Bewegung überhaupt, das Auf- solcher Fähigkeiten schien es ihm nur ringeren Umfangs. Es fällt auf, dass schluss über interne Auseinandersetzun- recht und billig, bei der Landesbauern- sich von Kreis zu Kreis sehr verschiedene gen gibt; die vergleichsweise dichte schaft um Gehaltserhöhung einzukom- Schwerpunkte geltend machen: Der Überlieferung der Kreiskulturhauptstellen; men – doch die stellte sich stur. Zunächst Heidenheimer Bestand beispielsweise politische Stimmungsberichte der zeigte der Antragsteller noch Verständnis besteht fast ausschließlich aus Personal- NSDAP-Ortsgruppen; vereinzelte Polizei- dafür, daß es heute, nachdem wir schon erfassungskarten der NSDAP, Bad Mer- berichte, in denen NS-regimefeindliche 4 Jahre an der Macht sind, ungleich gentheim dagegen ist ganz überwiegend Äußerungen und Handlungen dokumen- schwerer ist, mir einen guten Posten zu mit Wehrstammblättern vertreten; bei tiert werden; Sammlungen von Feldpost- besorgen, weil schon alles besetzt ist. Göppingen fällt die Überlieferung der briefen an die heimatlichen NSDAP-Orts- Recht gerne würde ich sagen, ich nehme 18

Archivnachrichten Sondernummer 2005 schon in die Knie und hat wohl nicht sel- frieden bei den Stadtwerken in Schwä- ten auch die Hosen voll – der Kreisleiter bisch Gmünd. Gegenüber deren Direktor aber denkt nur an seine Knie und seine hob ein Arbeiter zwar zögerlich den Arm, Hosen, insbesondere an deren Farbe hielt seine Zunge jedoch im Zaum. Sein und Reißfestigkeit: Meine persönlichen Chef stellte ihn darob zur Rede mit den Erfahrungen, die ich schon mit dem Worten, ob er nicht wisse, wie der deut- Färben von alten Politischen-Leiter-Hosen sche Arbeiter zu grüssen habe, der deut- gemacht habe (Grünfärbung), haben er- sche Gruss heisse: „Heil Hitler“. Sogleich geben, dass diese gefärbten Uniformstoffe ergab sich ein Wortwechsel der unfreund- im allgemeinen doch ziemlich stark mitge- lichen Art, und schließlich ließ der Arbei- nommen werden und nach dem Färben ter der Faust den der Stirn wissen: Sie eine starke Brüchigkeit aufweisen (z. B. an brauchen mir nicht den Hitler-Gruss zu den Knieen), während dieses Aufdruck- lernen, Sie elender Fetz, ich werde es verfahren, weil es nicht heiss geschieht, Ihnen schon besorgen. Die darauf folgen- die Stoffe nicht so mitnimmt. Mag es um de Ermahnung des Direktors, unverzüg- einen herum auch noch so heiß herge- lich an die Arbeit zu gehen, muss der Er- hen: Der Mann von Welt weiß, was wirk- mahnte missverstanden haben. Er ver- lich zählt: eine gepflegte äußere Erschei- setzte seinem Gegenüber schnurstracks „From Russia with love“? Handgemalte nung. Neue Erkenntnisse gewinnen wir einen Faustschlag gegen die linke Wange. anonyme Grußkarte an einen Polizeirat in jedoch nicht nur über die kleinen, son- Der, blutend, versuchte zurückzuschla- Schwäbisch Gmünd. dern auch über den großen Führer, ihn, gen, zog sich dabei aber, von zarterer Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- den Herrlichsten von allen. Vor allem über Konstitution als sein proletarischer berg StAL PL 502/12 Bü. 85 die prägende Zeit, wo er, seinerzeit noch Kontrahent, eine ziemliche Schwellung als Unbekannter Gefreiter, erstmals mit- am Daumen zu. Nun, die Schrammen half, einen Weltkrieg zu verlieren. Ein verheilten – was verschlugen sie auch an- jede Beamtenstellung an trotz der Nach- Züttlinger Bauer weiß Interessantes aus gesichts der Ehre, die politisch korrekte holung einiger Examens, jedoch fällt mir seines Führers Heldenleben zu berichten. Beschwörung des Führers im Gruß bis dies insofern schwer, als ich durch mei- Angeblich war er, der Bauer, bei einem aufs Blut verteidigt zu haben? Apropos nen Schädelbruch doch etwas gehemmt Patrouillengang damals mit Hitler zu- verheilen: Dass das Heil im Deutschen bin. Das soll nun aber nicht heissen, daß sammengetroffen, dieser sei aber immer ein zweischneidig Ding ist und zu freud- ich nun überhaupt nicht mehr aufnahme- 6 km hinter der Front gewesen; ja, einmal, schen Fehlleistungen geradezu einlädt, fähig wäre, denn alles ist nun denn doch in kritischer Situation, habe man ihn wurde im September 1934 offenbar, als nicht weggeblasen, nur hat sich durch sogar zwei Stunden lang bestürmen müs- auf dem Obersalzberg ein Brief aus Ell- verschiedene Schlägereien in der Kampf- sen, bis er seine Leute endlich vorge- wangen einflatterte, verfasst von einem zeit die Denkfähigkeit nicht gerade ver- schickt habe. Postinspektor, dem der kirchenfeindliche bessert. Da nun Geistesschärfe bekannt- Von den Ludwigsburger Akten profi- Kreisleiter ein Dorn im Auge war, und lich schon immer eine zwingende Voraus- tieren kann auch die Alltagsgeschichte adressiert an Fräulein Klara Hitler, eine setzung für Verbeamtung und Karriere des Dritten Reichs. Beispielswiese durch vermeintliche Schwester des Hausherrn. gewesen ist, blieb in unserm Fall alles erhellende Streiflichter auf die zentrale In Klärchen hoffte der gut katholische beim Alten, die Bezahlung blieb schlecht Alltagserscheinung, den so genannten Parteigenosse eine Fürsprecherin zu fin- und die sichere Lebensstellung blieb aus, deutschen Gruß. Da sind zunächst seine sodass unser Sippenforscher die Landes- Metamorphosen in der Frühzeit der Be- bauernschaft schließlich mit gänzlichem wegung, als es offenbar noch an Straff- Entzug seiner wertvollen Mitarbeit strafte heit, Einheitlichkeit und vor allem – an der – und das nicht zu seinem Vorteil. Nach charakteristischen Verbindung mit dem zwei Jahren erfolgloser Stellensuche fin- Eigennamen Hitler gebrach: Neben dem den wir ihn seelisch zermürbt: Wenn wir Heilgruß (1925) begegnen Heilgruß und Alten Kämpfer nur noch so viel gelten, Handschlag (1926), Mit treudeutschem dass man nicht einmal mehr auf 5 Briefe Heilgruß und Treudeutsche Grüße (1926) Antwort bekommt, dann wäre es doch sowie Heil Sieg (1927). Nach 1933, als es vielleicht das Beste, man würde uns „ab- dann galt, den Gruß in seiner endgülti- murksen“ und in ein Massengrab werfen. gen, festgeprägten Form der ganzen Auch dieser aus echt nationalsozialisti- Volksgemeinschaft in den Mund zu legen, schem Geist geborene Vorschlag stieß kam es mitunter zu Irritationen. Im Okto- nicht auf Gegenliebe. Wie es dieser tragi- ber 1933 verwechselte in Leinroden ein schen Existenz weiterhin erging, darüber Gipser den Hitlergruß mit Heil Moskau! finden sich in den Parteiakten leider keine (vielleicht aus alter Gewohnheit?) und Anhaltspunkte. musste sich für diesen Black-out recht- In die mentale Struktur derer, die fertigen, wobei er sich auf alkoholisch be- den Sprung nach oben geschafft, ja sich dingte Unzurechnungsfähigkeit herauszu- gar zu Goldfasanen gemausert hatten, reden suchte: Diesen Ruf hätte ich aus gewähren uns die Bestände natürlich meinem Mund nicht gebracht, wenn ich ebenfalls sehr aparte Einsichten. Ein in meinen Sinnen gewusst hätte, denn Exempel: Zwei dieser Fasanen – der Göp- das kann ich nicht begreifen, ich als Krie- pinger Kreisleiter und der Adjutant des ger und als gut gesinnter alter Soldat, mir „Schrille Nacht“, Schnappschuss vom – sorgen sich im Februar 1945 das aus dem Munde zu kommen […] Der weihnachtlichen Beisammensein Ellwan- um die Leuchtkraft ihres Gefieders, das Deutsche Gruß ist in mein Herz einge- ger Nazis mit einem jüdischen Viehhänd- heißt um die Verwendbarkeit der wachsen und kein anderer kann und darfs ler, entstanden vor 1933. schmucken Uniformen im Dienst des bei mir nicht geben. Ein halbes Jahr spä- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- 19 Volkssturms. Der geht zwar allenthalben ter störte der Gruß massiv den Betriebs- berg StAL PL 503/1 Bü. 4

Archivnachrichten Sondernummer 2005 „Heilt Hitler!“ Ein Hilferuf auf den Obersalzberg, erste und letzte Seite eines Briefs vom August 1934. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL PL 503/1 Bü. 12 den; um seinem Anliegen Nachdruck zu Doch nicht nur über den Gebrauch wird: Ein Scheissdreck ists, en Scheiss- verleihen, schloss er den Brief mit: Ich des deutschen, nein, auch über den des dreck hat er gesagt. Verfängliche Äuße- begrüße Sie vielmals mit Heilt Hitler! (Die schwäbischen liefern uns die NS-Akten rungen, die eine Passantin, die zufällig entsetzten Kanzlisten des Führers mar- Belege. An dem Beispiel, das uns das Ohrenzeugin wurde, prompt zur Denun- kierten den bösen Buchstaben durch veranschaulichen soll, lässt sich noch ziation veranlassten. Und dabei wollte der achtfache Unterstreichung!) Blenden wir mehr zeigen, zum einen nämlich, wie sich Herr Regierungsrat, ein alter Deutschna- abschließend vom Beginn der nationalso- Ereignisse der großen Politik im Spiegel tionaler, doch bloß zum Ausdruck brin- zialistischen Durchdringung des Alltags der Meinung der Volksgenossen ausnah- gen, dass der Reichskanzler durch seine hinüber in die Zeit ihrer Vollendung nach men und zum andern, welchen Grad von Reden den Gegnern den Schwäbischen dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli Begeisterung die Rundfunkreden des Gruss entboten habe! 1944. Ein Ereignis von einschneidender Führers hervorrufen konnten – einen En- Die Äußerung selbst freilich zeigt: Bedeutung auch für den Einzelhandel, thusiasmus, so stark, dass er Gefahr lief, Wer NS-Akten erschließt, muss nicht nur wie eine unmittelbar hernach in Heilbronn Missverständnissen Vorschub zu leisten. bestimmte Tugenden haben – Vernunft, ergangene Empfehlung für den netten Belauschen wir ein Gespräch, das sich Überblick, langen Atem –, umgekehrt Umgang mit der Kundschaft erhellt: Es am 15. Oktober 1933 (tags zuvor hatte schadet es auch nicht, wenn ihm be- kommt ein altes Fraule und sagt gewohn- Hitler Deutschlands Austritt aus dem Völ- stimmte, an sich löbliche Eigenschaften heitsmässig „guten Morgen“. Hier kann kerbund zelebriert) zwischen einem Re- fehlen: die Scheu vor Grobem und Ge- man sehr nett darauf sagen, es ist ja nett, gierungsrat und seinem Friseur bei einer meinem zum Beispiel, eine feine Nase, dass Sie uns einen guten Morgen wün- zufälligen Begegnung im Bad Mergent- der die Schwaden, die den braunen schen, aber auch Sie sollten nun Ihre Ver- heimer Kurpark zutrug. Jener klagte, die Akten entsteigen, Rümpfkrämpfe verursa- bundenheit mit dem ganzen Volk und mit außenpolitische Lage des Reichs sei chen könnten. Wie sagte doch schon unserem Führer langsam zum Ausdruck scheußlich, die Brüder stellten die un- jener Alte Kämpfer aus Bad Mergent- bringen und von nun an „Heil Hitler“ glaublichsten Forderungen. Der Figaro heim, der, als Bürokuli versorgt, Einblick sagen. Sie stellen sich sonst ja ausserhalb unterbrach ihn: Haben Sie gestern Abend in die tägliche Arbeit der Partei hatte, als der Volksgemeinschaft und dies wollen die Rede gehört, die war doch fabelhaft. ihm die Propagandaparole Deutschland Sie sicher nicht. Ein guter Kaufmann weiß Darauf wiederum entgegnete der Regie- wird schöner mit jedem Tag zu Gesicht eben immer, was seine Kunden wollen – rungsrat – in Fortsetzung seines eigenen kam: Ja, wenn’s bloss net so stinke tät gegebenenfalls besser als sie selbst. Gedankenganges, wie er später betonen dabei „ Carl-Jochen Müller

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Archivnachrichten Sondernummer 2005 Das Hakenkreuz über Basel – Eine Episode und ihre Wirkungen

Das Hakenkreuz über Basel – so be- titelte die Nationalzeitung Basel am 15. März 1933 eine kurze Notiz über ein Er- eignis, das vielleicht symbolträchtig, aber nicht wirklich wichtig war, und das dann doch seine Kreise ziehen sollte. Es ging um das Beflaggen und Schmücken der Dienstgebäude der Reichsbahndirektion Karlsruhe – so lautet der wenig spektaku- läre Titel der Akten im Generallandesar- chiv Karlsruhe, in denen der Vorfall über- liefert ist (GLAK 421-1/5840, 5841, 5856 und 5857). Die Besonderheit an dem kon- kreten Fall liegt darin, dass es sich um Flaggen an einem deutschen Gebäude auf Schweizer Boden in einer politisch angespannten Zeit handelte. Was war ge- schehen? So mancher Bewohner Basels wird am Morgen des 14. März 1933 nicht schlecht gestaunt haben. An diesem Tag wurde anlässlich des Gedenktags für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erst- mals die Hakenkreuzflagge am Turm des Badischen Bahnhofs in Basel sowie auf dem Bahnhof im Basler Vorort Riehen, dem ersten Bahnhof der Reichsbahn auf Schweizer Boden an der Strecke Lör- rach–Basel, gehisst. Erst zwei Tage vor- her hatte die Parteiflagge der NSDAP durch einen Erlass des Reichspräsidenten Hindenburg den Status eines nationalen Emblems neben der Reichsflagge erhal- ten (zur alleinigen Reichs- und National- flagge erklärt wurde sie durch das Reichsflaggengesetz vom 15. September 1935). Sowohl in Riehen als auch in Basel Bericht der Basler Nachrichten vom selbst kam es daraufhin zu Tumulten. In 15. März 1933. Riehen wurde noch am Vormittag des 14. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württem- März die Fahne von linksgerichteten Ar- berg GLAK 421-1/5856 beitern gewaltsam heruntergeholt. Zwei von ihnen wurden von den deutschen Bahnhofsbediensteten festgehalten und der schweizerischen Polizei übergeben. Am Nachmittag wurden die Festgenom- schlossen. Auch im Zentrum Basels de- menen zwar freigelassen, jedoch wurde monstrierten Menschen, 120 Personen ein Strafverfahren gegen sie wegen der wurden festgenommen. Verletzung geschützter ausländischer Ho- Die Reaktion der Schweizer Öffent- heitszeichen eingeleitet. In Basel versam- lichkeit auf die Geschehnisse war gespal- melten sich ebenfalls am Vormittag des ten. Während links gerichtete Kreise und 14. März 200 – 300 Menschen auf dem Medien zum Kampf gegen die Flagge des Bahnhofsvorplatz und schickten sich an, Arbeitermords und das Symbol der Arbei- in das Bahnhofsgebäude einzudringen. terschinder aufriefen, bezeichnete die Diese Aktion war durch die Kommunisti- Neue Züricher Zeitung am 15. März 1933 sche Partei organisiert worden. Die die Akteure von Riehen und Basel als Un- Schweizer Polizei schritt ein und trieb die ruhestifter und ihre Handlungsweise als Menge auseinander, die sich wenig spä- Provokation; man solle sich an geltendes ter erneut sammelte. Es kam zu weiteren Recht halten und die Beziehungen zu heftigen Zusammenstößen mit einigen Deutschland, wie auch immer man die Verletzten und weiteren Festnahmen. Vorgänge dort beurteilen möge, nicht ge- Gegen Mitternacht trafen sich erneut De- fährden: Was unter dem Hakenkreuz in monstranten in der Nähe der Basler Mus- Deutschland geschieht, ist eine Sache für termesse. Zwei Tage später fanden trotz sich, über die bei uns jeder denken kann, eines Demonstrationsverbots Protestver- was er will; eine andere Sache ist die sammlungen in Kleinbasel statt. Das Bas- Respektierung der neuen Hoheitszeichen ler Volkshaus, die Zentrale der Sozialde- des Deutschen Reichs, zu denen seit dem 21 mokraten, wurde vorübergehend ge- 12. März die Hakenkreuzfahne gehört.

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Und: Es ist in diesem Zusammenhang hoheitlichen Aufgaben, die auf den in der tonalen Flaggen am deutsch-schweizeri- festzustellen, dass selbst […] die Flagge Schweiz gelegenen Liegenschaften der schen Gemeinschaftsbahnhof gehisst der Sowjetunion, die von der großen Bahn von deutschen Stellen ausgeübt wurde. Die örtlichen Polizeidienststellen Mehrheit der Bevölkerung der „kapitalisti- wurden, zum Beispiel auf dem Gebiet des hatten dazu ihr Einverständnis und die schen“ Staaten als das Kampfzeichen Zollwesens oder der Gesundheitspolizei. Zusage gegeben, die Flagge als Privatei- eines Todfeindes betrachtet wird, in ihrer Damit sei klar dargelegt, dass die Bahn- gentum zu schützen, jedoch mit der Ein- Eigenschaft als Hoheitszeichen eines anlagen nicht extraterritorial seien, so- schränkung, dass diese abzunehmen sei, fremden Staates überall respektiert wird dass die Reichsbahn nicht die Vorrechte wenn sie Anlass zur Unruhe unter der Be- und beispielsweise auch in dem fascisti- genieße, die den Gebäuden fremder Ge- völkerung geben würde. Ähnlich wie zwei schen [sic] Italien […] vollkommen unan- sandtschaften und Konsulate zukomme. Jahre zuvor in Riehen und Basel kam es gefochten bleibt. Die Reichsbahn sei ein Unternehmen mit auch in Schaffhausen zu Aufläufen, die Der Basler Flaggenstreit beschäftigte eigener Rechtspersönlichkeit und keine zwar geringere Ausmaße hatten, aber in den folgenden Tagen und Wochen die staatliche Autorität. Die ausländischen doch Grund genug waren, die Flagge Politik in der Schweiz immer stärker. Die Bahnhöfe auf Schweizer Territorium seien wieder einzuholen. Die Pressestimmen zu Zwischenfälle von Riehen und Basel als private Gebäude anzusehen. Das His- diesem Vorfall waren ähnlich uneinheitlich selbst wurden dabei zur Nebensache. So- sen von Flaggen durch die Reichsbahn wie im Fall Basel und Riehen: Links- zialdemokraten und Kommunisten stritten sei also gleichzusetzen mit dem Aufhän- gerichtete Zeitungen protestierten gegen sich um die Führerschaft in der Arbeiter- gen einer Fahne durch eine Privatperson. das Hakenkreuz, bürgerliche forderten bewegung; dazu diente der Flaggenstreit Jeder Privatmann habe das Recht, auf dazu auf, die Hakenkreuzflagge als Zei- zunehmend als Aufhänger. Für das bür- seinem privaten Besitz Fahnen zu hissen, chen eines benachbarten Staats zu gerliche Lager ging es um die Respektie- so lange nicht die Verwendung bestimm- respektieren, ohne deswegen das dahin- rung der öffentlichen Ordnung. Die ter Symbole verboten sei. Fahnen an pri- ter stehende politische System gut zu Schweizer Behörden und die Mehrheit der vaten Liegenschaften seien Eigentum des heißen, denn alles andere sei nun eben politischen Mandatsträger im Kanton Liegenschaftseigentümers und unterlägen einmal rechtswidrig und schade dem Basel-Stadt und auf Bundesebene such- somit dem Schutz des privaten Eigen- politischen und wirtschaftlichen Interesse ten nach einer Lösung, indem sie den tums, nicht mehr, aber auch nicht weni- der Schweiz. Erst am 1. Mai 1940, ein Streit juridifizierten: Welche Rechtsqualität ger. dreiviertel Jahr nach Kriegsbeginn, ent- kam eigentlich der deutschen Reichsbahn Diese Sichtweise wurde im Parla- schloss sich der Bundesrat in Bern, das und ihren Schweizer Liegenschaften zu ment des Kantons Basel-Stadt, dem Gro- Hissen ausländischer Fahnen (und zwar und welchen rechtlichen Charakter trug ßen Rat, am 22. März 1933 kontrovers dis- aller Nationen) für die Dauer des Aktiv- vor diesem Hintergrund das Hissen der kutiert: War der massive Polizeieinsatz in dienstes zu verbieten; ausgenommen Hakenkreuzfahne auf deutschen Bahnge- Basel gerechtfertigt, wenn es nur um eine waren ausländische Gesandtschaften und bäuden in der Schweiz? private Fahne gegangen war und nicht Konsulate. Die Schweizer Regierung, der um den besonderen Schutz eines Ho- Zugegeben: Der Basler Flaggenstreit Bundesrat, kam am 22. März zu folgen- heitszeichens auf einem als öffentlich an- von 1933 war nicht mehr als eine Episo- dem Schluss. Es sei zu differenzieren zusehenden Gebäude? Letztlich setzte de. Allerdings lässt sie tiefe Einblicke zu zwischen der Flaggenverwendung durch sich die durch den Bundesrat vertretene in das in den kleinen Dingen des Alltags fremde Staaten in den Gebäuden ihrer Devise Tiefer hängen durch. Die Staats- gelebte politische Verhältnis der Schwei- diplomatischen Vertretungen und dem anwaltschaft Basel-Stadt stellte die Er- zer Öffentlichkeit zum Dritten Reich, das Hissen von Flaggen auf privaten Grund- mittlungen gegen die beiden Riehener nicht nur durch den später oft so stilisier- stücken und Gebäuden. Die Flaggen Delinquenten ein, weil es sich nicht um ten energischen Kampf für Freiheit und fremder Staaten seien nur dann als zu die Verunglimpfung eines völkerrechtlich Heimat geprägt war, sondern auch durch schützende Hoheitszeichen anzusehen, geschützten Hoheitszeichens gehandelt Lavieren, durch realpolitische Kompro- wenn sie durch Behörden dieser Staaten habe, sodass nur außerhalb des Straf- misse, Nützlichkeitsdenken und einen aufgehängt werden, die zur Vertretung rechts zu prüfen sei, ob die beiden sich Neutralitätskurs, der aus heutiger Sicht ihrer Länder gegenüber der Schweiz be- des unbefugten Betretens von Bahnge- fragwürdig erscheint und der vor einigen rechtigt seien. Rechtsgrundlage für den lände schuldig gemacht hatten. Damit Jahren international in die Diskussion ge- Bau und Betrieb der deutschen Bahn- war die Sache politisch entschärft. raten ist. Die Überlieferung der Bundes- strecken auf schweizerischem Gebiet sei Im Kanton Basel-Stadt wurde auch bahndirektion Karlsruhe und ihrer Rechts- (und ist bis heute) der Vertrag vom 27. noch in späteren Jahren zu besonderen vorgänger im Generallandesarchiv (rund Juli/11. August 1852 zwischen der Eidge- Anlässen die Hakenkreuzflagge gehisst, 250 Regalmeter Akten, viele tausend Ori- nossenschaft und dem Großherzogtum allerdings nur im Benehmen mit dem ginal-Pläne, fast 300 000 verfilmte Pläne, Baden. In ihm habe die Schweiz unter deutschen Konsulat und den schweizeri- rund 100 000 Fotos), die gegenwärtig er- ausdrücklicher Wahrung ihrer Hoheits- schen Stellen und ohne dass es noch schlossen wird (die Aktenüberlieferung rechte und derjenigen der betroffenen einmal zu vergleichbar heftigen Kollisio- wird bis gegen Ende 2005 vollständig Kantone dem Großherzogtum Baden den nen gekommen wäre. Anders war die nutzbar sein), enthält vielfach versteckte Bau und Betrieb ihrer auf Schweizer Terri- Lage in Schaffhausen, wo erstmals zum Quellen dieser Art. In den Akten der torium befindlichen Abschnitte der Hoch- Schweizerischen Nationalfeiertag am Bundesbahndirektionen und ihrer Rechts- rheinstrecke von Lörrach über Basel nach 1. August 1935 die Hakenkreuzflagge vorgänger geht es um mehr als nur um Konstanz überlassen – ungeachtet der neben der schweizerischen und den kan- Eisenbahngeschichte „ Martin Stingl

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Archivnachrichten Sondernummer 2005 Zur Überlieferung der Deutschen Botschaft Paris in Sigmaringen

Von der Deutschen Botschaft Paris, mat mehrere Schließkörbe mit Akten ge- Rückkehr schaute der Dentist Güntert die die im September 1944 zusammen mit lagert. Einige Körbe wurden vor der Ab- im Heizungskeller noch gelagerten Papie- der Vichyregierung unter Staatspräsident reise von Dr. Knapp, die vor dem 22. April re durch und übergab anschließend die Marschall Philippe Pétain kriegsbedingt 1945 erfolgt sein muss, von der Spedition Schriftstücke, die ihm wichtig erschienen, nach Sigmaringen verlegt wurde, ist in Lauterwasser und von dem Bäckermeis- dem Sigmaringer Bürgermeister. der Hohenzollernstadt an der Donau, ter Dinser aus Sigmaringen abgeholt. Ein Über das Schicksal der am 15. Mai soweit in Erfahrung zu bringen war, nur Korb und eine Menge Altpapier blieben in 1945 ins Bürgermeisteramt gelangten noch ein Aktendeckel ohne Inhalt vorhan- dem Zimmer zurück; den Korb wollte Akten und Dokumente werden wir in dem den. Dass die Botschaft, die in den 1938 Dr. Knapp später abholen, was dann je- Vorgang des Depositums Stadtarchiv für das Staatsarchiv Sigmaringen ange- doch unterblieb. Das Altpapier sollte der Sigmaringen nicht unterrichtet. Auch über mieteten Räumen im Obergeschoss des Wohnungseigentümer auf Geheiß des die Verwendung der von der Spedition Fürstlich Hohenzollernschen Haus- und Diplomaten im Kessel seiner Dampfhei- abtransportierten Akten können wir nur Domänenarchivs untergebracht war, auch zung verbrennen. noch Vermutungen anstellen. Die rest- Akten aus Paris mitgebracht hatte, ist in Der noch vorhandene Schließkorb lichen Akten und auch das übrige Altpa- einem kürzlich entdeckten Vorgang doku- mit den darin befindlichen Akten betref- pier, das der Dentist noch in seinem Kel- mentiert, der im Depositum Stadtarchiv fend jüdische Ärzte und der Suchkartei ler gelagert hatte, dürften indes wohl im Sigmaringen T 9 Nr. 328 der Abteilung wurde, wie wir in dem Protokoll weiter er- Backofen des Bäckermeisters Dinser und Staatsarchiv Sigmaringen des Landesar- fahren, in Abwesenheit des Hauseigen- im Heizkessel des Hauses Fürst-Wilhelm- chivs Baden-Württemberg verwahrt wird. tümers von seiner Schwiegertochter am Straße 2 in Sigmaringen entsorgt worden Danach wurden nämlich am 15. Mai 1945 15. Mai 1945 ausgefolgt. Nach seiner sein „ Otto H. Becker im Haus des Dentisten Erich Güntert in der Fürst-Wilhelm-Straße 2 in Sigmarin- gen im Beisein von zwei Beauftragten der amerikanischen diplomatischen Abteilung zehn Leitzordner mit Akten über jüdische Ärzte in Paris und eine Suchkartei mit der Maßgabe beschlagnahmt, diese bis zum Erhalt einer entsprechendenr Weisung im Rathaus der Stadt sicherzustellen. Auf welchem Weg dieses Schriftgut in das Privathaus gekommen war, können wir dem Aussageprotokoll des Dentisten vom 15. Mai 1945 für den französischen Militärgouverneur in Sigmaringen entneh- men. Danach wurden in dem Haus im September 1944 Praxisräume nach dem Reichsleistungsgesetz beschlagnahmt und drei französischen Ärzten zur Nut- zung zugewiesen. Unter diesen befand sich übrigens auch der Arzt Louis-Ferdi- nand Destouches (1894 –1961), der als Schriftsteller das Pseudonym Céline ver- wendete. Die Ärzte gaben vermutlich im Hinblick auf die immer näher rückende Front Anfang April 1945 die Praxis wieder auf und verließen die Stadt an der Donau. Ein Raum davon wurde nach Aussage von Erich Güntert anschließend für etwa 14 Tage von einem Herrn Dr. Knapp von Das Haus Güntert in Sigmaringen, in dem 1945 Akten der Deutschen Botschaft Paris der Deutschen Botschaft Paris als Büro zurückblieben, 2005. genutzt. In dem Zimmer hatte der Diplo- Aufnahme: Volker Trugenberger, Sigmaringen

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Archivnachrichten Sondernummer 2005 Reine Glückssache? Überlieferungen zur NS-Zeit in Kommunalarchiven Erfahrungen aus der Tätigkeit eines baden-württembergischen Kreisarchivs

Die Erforschung der Stadtgeschichte Riegel vorgeschoben. Denn zu den wich- die Gemeinden diese Aufgabe lösen, setzt ein funktionierendes Stadtarchiv tigsten Aufgaben der Kreisarchive gehört steht, hier kommt die Selbstverwaltung voraus. Diese Feststellung des Karlsruher es, auf dem Weg der Subsidiarität histo- zum Tragen, in deren Belieben. Stadtarchivars Ernst Otto Bräunche gilt risch bedeutsames Schriftgut auch der Weiterhin bestimmt das Landesar- nicht nur für große Städte wie Karlsruhe, kleineren Kreisgemeinden zu erschließen chivgesetz, dass das Archivgut nutzbar sondern für alle Gemeinden und für und zu sichern. Dies betrifft auch und gemacht werden soll. Diese einschrän- kleinere Städte, deren Archive nicht von gerade Schriftgut, das in den Jahren kende Bestimmung kann theoretisch die hauptamtlichem Fachpersonal betreut 1933 –1945 erwachsen ist beziehungs- Nutzung von Archivgut in kommunalen werden. In einer Zeit, in der die an weise Schriftgut der Jahre nach 1945, Archiven behindern; doch ist davon aus- wissenschaftlichen Methoden orientierte aus dem die Geschichte des National- zugehen, dass eingerichtete Archive auch Ortsgeschichte die beschaulichen Hei- sozialismus vor Ort ersichtlich ist. benutzbar sind, zumal die Gemeinden matbücher früherer Jahrzehnte immer Aufgrund von Erfahrungen, die der laut § 7 Abs. 3 LArchG zum Erlass einer mehr verdrängt, hat auch die Beschäfti- Verfasser beim Erschließen kleinerer Archivordnung verpflichtet sind, die ins- gung mit der Geschichte einzelner Ortsarchive auf der einen, eigenen lokal- besondere die Benutzung kommunalen Gemeinden zunächst von deren vor Ort geschichtlichen Forschungen zum Natio- Archivguts regelt. befindlichen Überlieferung auszugehen, nalsozialismus auf der anderen Seite ge- Da auch für kommunales Archivgut vom kommunalen Archiv. sammelt hat, sollen einige Punkte zum die im Landesarchivgesetz festgelegten Dabei war gerade diese Archivebene Thema Die NS-Zeit in Kommunalarchiven und definierten gesetzlichen Sperrfristen stets ein besonderes Sorgenkind der thematisiert werden: Welche rechtlichen gelten (§ 6 Abs. 2 LArchG), ist die Nut- Überlieferungssicherung. Trotz der vor Rahmenbedingungen bestehen bei der zung von kommunalem Archivgut ent- rund 120 Jahren einsetzenden Bemühun- Benutzung von Kommunalarchiven? Mit sprechend eingeschränkt. Die allgemeine gen in Baden und Württemberg, nicht welchen Verlusten ist zu rechnen? Was Sperrfrist für Verwaltungsschriftgut von nur herrschaftliches, staatliches Handeln können Forscher in Kommunalarchiven 30 Jahren nach Schließung der Akten bil- zu dokumentieren, sondern auch die zur Geschichte des Nationalsozialismus det hier kein Hindernis mehr für die For- geschichtlichen Zeugnisse einzelner erwarten? Wo sind gegebenenfalls Er- schung. Etwas anders sieht es bei den Gemeinden durch Archivpflege zu be- satzüberlieferungen zu suchen? Unterlagen aus, die Geheimhaltungsvor- wahren, traten hier über die Jahrzehnte Wenn im Folgenden einige der Quel- schriften unterliegen und die 60 Jahre hinweg schwere Verluste ein. Verluste, die lengattungen kurz beschrieben werden, lang gesperrt sind, allerdings in Kommu- nicht immer nur auf kriegerische Ereig- die zur Geschichte des Nationalsozia- nalarchiven praktisch nicht vorkommen, nisse und Natur- oder Brandkatastrophen lismus in Gemeindearchiven zu finden will man nicht die nichtöffentlichen Teile zurückzuführen waren, sondern viel öfter sind, so ist stets zu beachten, dass kom- von Gemeinderatsprotokollen hierzu zäh- auf Vernachlässigung, fehlendes Ge- munale Archive ebenso wie die staat- len, die ebenfalls für 60 Jahre gesperrt schichtsinteresse, Platzmangel oder die lichen den Bestimmungen des Landes- sind; eine Bestimmung, die demnächst verheerenden Altpapiersammlungen. archivgesetzes (LArchG) von 1987 unter- also für die Zeit des Nationalsozialismus In Baden-Württemberg hat die flä- worfen sind. Dieses Gesetz verpflichtet nicht mehr greift. Besonders zu beachten chendeckende Einrichtung von Kreis- die Gemeinden in § 7 zur Verwahrung, sind daher die personenbezogenen archiven seit der Mitte der 1970er Jahre Erhaltung und Erschließung ihres histo- Unterlagen. Mithin – nach Definition des diesem schleichenden Verlust in den klei- risch bedeutsamen Archivguts (Unter- Landesarchivgesetzes – Archivgut, das neren kommunalen Archiven beziehungs- lagen von bleibendem Wert) und zur Ein- sich nach seiner Zweckbestimmung auf weise Registraturen weitgehend einen richtung eines Archivs. Auf welche Weise natürliche Personen bezieht. Diese Defini- tion ist nicht ganz unproblematisch. Mit Sicherheit zählen hierzu Personalakten, aber auch Unterlagen über Entnazifizie- rungsverfahren, die sich teilweise in Kom- munalarchiven erhalten haben, oder Für- sorgeakten; kurz, Akten, bei denen der Name ein wesentlicher Bestandteil des Aktentitels ist, um eine Definition von Gerhard Taddey aus dem Jahr 1992 zu verwenden. Hier gilt die Sperrfrist von zehn Jahren nach dem Tod beziehungs- weise 90 Jahre nach Geburt. Im Übrigen besteht auch bei gesperrtem kommuna- lem Archivgut die Möglichkeit, einen An- trag auf Verkürzung der Fristen zu stellen. Insgesamt ist festzustellen, dass die Sperrfristenregelung der Erforschung der lokalen Geschichte der NS-Zeit auf der Basis der Kommunalarchive keine we- sentlichen Hindernisse in den Weg stellt. Die mit wissenschaftlichen Metho- den arbeitende Ortsgeschichtsforschung hat in den letzten Jahren die kleineren Gemeinden erreicht. Wenn hier auch Ge- Die zerstörte Stadt Heimsheim im April 1945. samtdarstellungen für die Zeit des Dritten Vorlage: Stadtarchiv Heimsheim Reichs noch die Ausnahme sind und vor 24

Archivnachrichten Sondernummer 2005 allem die größeren Städte des Landes eine solche Gesamtdarstellung vorzuwei- sen haben, so werden mittlerweile die dunklen Jahre im Rahmen von breit ange- legten Ortsgeschichten nicht mehr wie in den Heimatbüchern schamhaft ver- schwiegen. Dass das Nennen bitterer Wahrheiten nach wie vor mitunter mit Un- behagen registriert wird, unterstreicht nur die Notwendigkeit einer hieb- und stich- festen quellenmäßigen Absicherung der Darstellung und damit die Notwendigkeit funktionstüchtiger kommunaler Archive. Was aber können diese Archive im güns- tigsten Fall an Quellen für die NS-Zeit an- bieten? Es wird nicht überraschen, dass eine allgemein gültige Antwort hierauf nicht gegeben werden kann. Das führt uns zu- nächst zum Problem der Quellenverluste. Sie sind für die Jahre des Nationalsozia- lismus oft sehr hoch, in Einzelfällen total. Die Ursachen sind mannigfach. So fielen nicht nur in den großen Städten wie Stuttgart und Heilbronn Archive und Re- gistraturen alliierten Angriffen zum Opfer. Das Landstädtchen Heimsheim (heute im Enzkreis gelegen) etwa wurde am 18. April 1945 von alliierten Jagdbombern in Schutt und Asche gelegt, wobei nicht nur die im Rathaus lagernden Verwaltungs- unterlagen verbrannten, sondern auch die Archivalien, die an sicheren Orten depo- niert worden waren. In Haiterbach (Land- Schreiben einer NSDAP-Dienststelle an das Bürgermeisteramt Iptingen vom August kreis Calw) andererseits überlebten Archiv 1936. und Registratur die letzten, besonders Vorlage: Gemeindearchiv Wiernsheim, Teilortsarchiv Iptingen gefährlichen Tage des Kriegs, nur um zu- grunde zu gehen, als französische Solda- ten als Repressalie das Rathaus am 10. Mai 1945 niederbrannten. Auch wurde wohl häufig von Bürger- luste überdauert hat? Was ortsgeschicht- Registraturzustand. Für badische Gemein- meistern oder Stadt- und Gemeindeange- lich Interessierte oft übersehen: Hier den gilt entsprechend der so genannte stellten Aktenmaterial belastender Natur findet sich zumeist nur Schriftgut der Külby-Plan, der jedoch – im Gegensatz vernichtet oder beiseite geschafft. Es Gemeindeverwaltung. Das heißt, Bereiche, zum 1928 erstmals eingeführten Flattich- scheint dies vor allem in größeren Ge- die nicht von der Gemeinde verwaltet Plan – vor dem Ersten Weltkrieg entstand. meinden und Städten der Fall gewesen wurden, haben auch keinen oder nur ge- Zu beachten ist, dass der selbstbestimm- zu sein. Bürgermeister auf dem flachen ringen schriftlichen Niederschlag in den te und -verwaltete Bereich kommunaler Lande hatten oft kurz vor der Besetzung Gemeinderegistraturen gefunden: der Politik in der Zeit des Nationalsozialismus andere Sorgen und wohl auch ein größe- private Alltag, weitgehend auch das Ver- stetig zurückging und die Gemeinden res Verantwortungsbewusstsein gegen- eins- und Parteiwesen, persönliches immer mehr zu ausführenden Organen über den Bürgern, was sich allein darin Kriegserleben, die Geschichte lokaler staatlicher beziehungsweise Vorgaben zeigt, dass sie in aller Regel im Gegen- Industrie- oder Gewerbebetriebe. Auch vonseiten der Partei wurden. satz zu den örtlichen NS-Funktionären zu den örtlichen NS-Organisationen ent- Ausgangspunkt der Beschäftigung am Ort blieben. halten die Archive meist nur sehr wenige mit der örtlichen NS-Geschichte bilden Andererseits wurde mitunter Akten- Hinweise. Diese Organisationen unter- zunächst einmal die Ratsprotokolle, die material von den Siegern zur Beweissi- hielten eigene Registraturen, die fast oft selbst auch dann noch erhalten sind, cherung für nationalsozialistisches Un- überall vor dem Einmarsch der Alliierten wenn Sachakten weitgehend verloren ge- recht aus den Rathäusern abgeholt oder vernichtet wurden. gangen sind. Manche Historiker, die sich auch mutwillig geplündert oder zerstört; Was aber wurde von den Gemein- mit der Lokalgeschichte zur NS-Zeit be- Teile dieser Unterlagen lagern heute den verwaltet? Wer sich hierüber im Un- schäftigen, stützen ihre Ausführungen noch, oft schwer greifbar, in den Colma- klaren ist, der möge sich mit dem Syste- ausschließlich auf diese Quellengattung. rer Archives de l’occupation oder aber in matischen Aktenplan für die Württember- Dabei sind die Protokolle von ganz unter- den Beständen des Internationalen Such- gische Gemeindeverwaltung von Hugo schiedlicher Aussagekraft. Da mit der dienstes in Arolsen. Nur selten wurden Flattich, kurz Flattich-Plan (vor allem mit Deutschen Gemeindeordnung von 1935 solche Unterlagen, gerade in der franzö- der 3. Auflage von 1938) vertraut ma- der Gemeinderat als Beschluss- und sischen Besatzungszone, an die Gemein- chen. Dieser Aktenplan dient im Übrigen Kontrollorgan ausgeschaltet und nur noch den zurückgegeben. bei Kommunalarchiven, die noch nicht auf rein beratende Tätigkeiten beschränkt Was enthält nun im günstigsten Fall erschlossen sind, häufig als einziges worden war, lag es weitgehend im Belie- ein Kommunalarchiv für die Jahre des Findmittel, vorausgesetzt, das Schriftgut ben des Bürgermeisters, welche Themen 25 Nationalsozialismus, wenn es ohne Ver- befindet sich noch im ursprünglichen auf die Tagesordnung kamen und disku-

Archivnachrichten Sondernummer 2005 tiert wurden. Waren die alten oder neuen Seit Kriegsausbruch war es eine der schen Überlieferungen außerhalb der Ge- Bürgermeister gelernte Verwaltungsleute, zeitaufwendigsten Aufgaben der Kommu- meindearchive suchen. In erster Linie ist dann legten sie meist nach wie vor Wert nalverwaltungen, die kriegsbedingte hier an die Pfarrarchive zu denken, die auf eine geordnete Verwaltung mit ent- Zwangsbewirtschaftung vor Ort durchzu- gerade in Württemberg, wo der Kirchen- sprechendem schriftlichem Niederschlag. führen, etwa durch Ausgabe von Bezugs- kampf zeitweise sehr intensiv war, oft die Waren es alte Kämpfer, die man mit die- scheinen und Lebensmittelkarten oder die einzigen Nachweise enthalten für nicht- sem Posten belohnt hatte, dann geht der Erfassung vorhandener Güter. In diesem konformes Verhalten von Teilen der Be- Dokumentationsgehalt der Protokolle Zusammenhang seien auch die jährlich völkerung. Die meist fehlende Überliefe- ebenso wie die Sitzungsfrequenz oft durchgeführten, sehr umfangreiches sta- rung der örtlichen Parteiorganisationen gegen null. tistisches Material enthaltenden Boden- lässt sich mitunter anhand der Tages- Daneben können die erhaltenen nutzungserhebungen und Erntestatistiken presse ersetzen. Private zeitgenössische Sachakten vielfältige Auskünfte geben, erwähnt, die sich in Gemeindearchiven Quellen sind in einem Kommunalarchiv wofür im Folgenden einige Beispiele ge- finden lassen. nur dann zu erwarten, wenn nach 1945 nannt seien. Wichtige Informationen ent- Auch Fürsorgeakten geben Einblick gezielt danach gesucht und Sammlungen halten etwa noch vorhandene Personal- in Herrschaftshandeln. In diesem Kontext angelegt wurden, was vor allem in kleine- akten. Insbesondere dann, wenn im Jahr sind mitunter Informationen in den Kom- ren Gemeinden so gut wie nie der Fall 1933 missliebige Bürgermeister aus dem munalarchiven über den Umgang mit war und ist. Amt gejagt wurden, wie etwa in den Ge- Asozialen zu erwarten, aber auch die Die vorstehenden Aufzählungen sind meinden Illingen (damals Oberamt Maul- Unterstützung von Familien, bei denen nur als grober Hinweis darauf zu verste- bronn, heute Enzkreis) oder Hochdorf bei Vater oder Sohn zur Wehrmacht eingezo- hen, was Kommunalarchive an zeitgenös- Nagold (damals Oberamt Horb, heute gen worden waren. Anhand von Akten sischen Quellen zur Geschichte des Drit- Stadtteil von Nagold, Landkreis Calw). In über Kindergärten oder Gemeinde- ten Reichs in den Gemeinden enthalten solchen Fällen war mitunter das Oberamt schwestern lässt sich mitunter die zuneh- können. Doch selbst im günstigsten Fall mit Klagen der abgelösten Bürgermeister mende Konkurrenz öffentlicher oder wird man nicht umhin kommen, wesentli- befasst und die Untersuchungen der Fälle kirchlicher Träger mit dem Anspruch der che Informationen zur Ortsgeschichte aus haben sich in den Personalakten von Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt auf Unterlagen zu entnehmen, die nach 1945 Bürgermeisteramt und Oberamt nieder- möglichst umfassende Kompetenz im so- entstanden sind. Sehr häufig bieten sie geschlagen. Aber nicht nur die Personal- zialen und kulturellen Bereich verdeut- die einzigen oder doch die wesentlichen akten der Bürgermeister können Auskunft lichen. Quellen. Hier ist vor allem an die mittler- über den personellen Wandel nach der Ansonsten waren die Gemeinden mit weile der Forschung zugänglichen, sehr Machtergreifung geben; auch die Akten NS-Organisationen oft nur dann direkt umfangreichen Entnazifizierungsakten in anderer Gemeindebediensteter zeigen befasst, wenn es darum ging, finanzielle den Staatsarchiven zu denken, die wichti- das Eindringen von NSDAP-Mitgliedern in Zuschüsse zu geben, etwa für HJ-Heime. ge Informationen zur Ortsgeschichte ent- die Gemeindeverwaltungen und damit die Die zunehmende staatliche Bevormun- halten: vom Lebenslauf des im Internie- Machtergreifung und die Gleichschaltung dung der Gemeinden im finanziellen Be- rungslager sitzenden in der kommunalen Verwaltung. reich lässt sich ablesen am häufig in bis hin zu den Kriegsgewinnen örtlicher Zu den Aufgaben der Gemeinden Ratsprotokollen im Rahmen von Haus- Fabrikbesitzer. gehört das Meldewesen. Sind hier die haltsberatungen dokumentierten Zwang Aber auch die Unterlagen zur NS- Unterlagen erhalten, so lässt sich die Be- zur Rücklagenbildung, welche die kom- Zeit in den Kommunalarchiven selbst sind völkerungsbewegung gut nachzeichnen. munalen Investitionen zugunsten von häufig nicht zeitgenössisch. So etwa die Das betrifft nicht nur Evakuierte oder zivi- staatlichen Rüstungsvorhaben drosseln auf Befehl der Militärregierung angelegten le Zwangsarbeiter, sondern auch das Ver- sollten. Ausländerlisten, zusammenfassende Be- legen von Rüstungsbetrieben. Aus so Aber auch wenn ein Kommunalarchiv richte über Kriegsereignisse und Beset- genannten Bautagebüchern ist mitunter ein dichtes Überlieferungsbild zur Ge- zung, Gefallenenlisten oder Listen der das Vorhandensein von Lagern für schichte der NS-Zeit bietet, gelingt es oft örtlichen Parteimitglieder. Dass nichtzeit- Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter nicht, nur hieraus der Forderung von Be- genössische Unterlagen in quellenkriti- nachzuweisen. Bauakten geben darüber nigna Schönhagen gerecht zu werden, scher Sicht besonders heikel sind und oft hinaus Auskunft über die Entwicklung der nämlich das jeweils Ortsspezifische he- nur gegen den Strich gelesen werden örtlichen Industrie, aber auch über den rauszuarbeiten. Wie erwähnt, schlugen können, ist eines der großen methodi- privaten Wohnungsbau, der etwa ab sich viele spezifische Facetten der Jahre schen Probleme der Auseinandersetzung 1935 in den meisten Gemeinden auf- 1933 –1945 eben nicht in den Unterlagen mit der NS-Zeit auf allen Ebenen. grund der wiedererlangten Vollbeschäfti- der Gemeindeverwaltung nieder. In seiner umfassenden Darstellung gung stark zunahm. Diese Entwicklung Es gibt glückliche Ausnahmen. So der Stadt Stuttgart zur Zeit des National- spiegelte sich zum Beispiel auch in der lässt sich etwa die Anwesenheit zahlrei- sozialismus hat der heutige Leiter des Übernahme von Darlehensbürgschaften cher Spanienflüchtlinge, deutsche Staats- Stuttgarter Stadtarchivs, Roland Müller, durch die Gemeinde. angehörige, die aus dem vom Bürgerkrieg darauf hingewiesen, dass die lokalge- Mit etwas Glück sind auch Akten zerrissenen Spanien evakuiert worden schichtliche Forschung in besonderem vorhanden, aus denen sich die örtliche waren, in einem Teilbestand des Nagolder Maß von der Quellenlage abhängig sei. Umsetzung der menschenverachtenden Meldeamts detailliert nachweisen. Im Zugleich unterstreicht er die Erkenntnis, NS-Gesetze und Maßnahmen ablesen heutigen Nagolder Teilort Hochdorf findet dass Forscher, die sich der Geschichte lässt, etwa die Mitwirkung der Gemein- sich in den Bauakten die dicht belegte des Nationalsozialismus widmen, auf das den beim Erbgesundheitsgesetz (Zwangs- Geschichte der örtlichen Hermann- paradoxe Dilemma stoßen, zum einen sterilisation), der Euthanasie oder beim Göring-Halle, die gegen den heftigen fast in Material zu ertrinken, zum anderen Transport jüdischer Mitbürger in die To- Widerstand der Bevölkerung von einem aber manche Sachverhalte und Zu- deslager. Die Ortspolizeibehörde war oft- besonders fanatischen Nazi-Bürgermeis- sammenhänge mangels Quellen nicht mals mit der Überwachung von politi- ter Mitte der 1930er Jahre errichtet nachvollziehen können. Dieses Fazit gilt schen Gegnern beauftragt, die nach der wurde. häufig auch für die Kommunalarchive. Ist ersten Verhaftungswelle (Konzentrations- Wer sich mit der Ortsgeschichte der hier die Suche nach Quellen zum Natio- lager Heuberg) wieder in ihre Heimatorte NS-Zeit befasst, wird trotz solcher nalsozialismus also reine Glückssache? entlassen worden waren. Glücksfälle immer auch nach zeitgenössi- Die Frage ist weitgehend zu bejahen. 26

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Aber gerade in Bezug auf die Geschichte kritischem Blick auch der Geschichte der Benigna Schönhagen: Das Dritte des Nationalsozialismus gilt dies für ganz normalen Gemeinden annehmen Reich in der Ortsgeschichte. In: Der fur- sämtliche Überlieferungsebenen. und dabei die Zeit des Nationalsozia- nehmbste Schatz. Ortsgeschichtliche Anders als etwa bei den in Stuttgart lismus nicht aussparen. Dafür zu sorgen, Quellen in Archiven. Vorträge eines quel- und Karlsruhe zentralisierten Ministerial- dass dann funktionierende, gehaltvolle lenkundlichen Kolloquiums im Rahmen registraturen lässt sich der Grad des Ver- und benutzbare Kommunalarchive zur der Heimattage Baden-Württemberg am lusts beziehungsweise das Ausmaß des Verfügung stehen, bleibt auch in Zukunft 23. Oktober 1999 in Pfullingen. Heraus- noch vorhandenen Quellenmaterials bei eine der wichtigsten Aufgaben der gegeben von Nicole Bickhoff und Volker den weit über 1000 Städten und Gemein- baden-württembergischen Stadt- und Trugenberger. Stuttgart 2001. S. 17 – 31. den und deren ehemals selbstständigen, Kreisarchivare. Unterlagen der Nachkriegszeit als heutigen Teilorten in Baden-Württemberg Quellen zur Geschichte des Dritten nur schwer bestimmen. Ebenso wenig Literatur: Reichs. Vorträge eines quellenkundlichen der durchschnittliche Dokumentationsge- Wolfgang Kramer und andere: Zur Kolloquiums im Rahmen der Heimattage halt der in den Stadt- und Gemeindear- Betreuung der vielen Archive auf dem fla- Baden-Württemberg am 13. Oktober chiven vorhandenen Quellen. chen Lande. Kommunale Archivpflege – 2001 in Bad Rappenau. Herausgegeben Sicher scheint zu sein, dass die Kernaufgabe der Kreisarchive. In: Der Ar- von Nicole Bickhoff. Stuttgart 2004. Überlieferung zur NS-Geschichte in den chivar 53/2 (2000) S. 107 –114. Edwin Ernst Weber: Das Gemeinde- kommunalen Archiven in Zukunft immer Andreas Schmauder: Der Stand der archiv Kreenheinstetten. In: Edwin Ernst mehr Beachtung finden wird. Nicht nur im ortsgeschichtlichen Forschung im deut- Weber und Christoph Schmider: Kommu- Zusammenhang mit den periodisch schen Südwesten. In: Gemeindebeschrei- nale und kirchliche Archivpflege im länd- wiederkehrenden Jahrestagen oder im bungen und Ortsgeschichte in ihrer lichen Raum. Geschichte, Probleme und Zusammenhang mit plötzlich auftreten- Bedeutung für die Landeskunde. Heraus- Perspektiven am Fallbeispiel des Ge- den Aufgaben wie etwa bei der Nach- gegeben von Eugen Reinhard (Werkhefte meinde- und des Pfarrarchivs Kreenhein- weisführung für Zwangsarbeiter, sondern der Staatlichen Archivverwaltung in stetten (Heimatkundliche Schriftenreihe vor allem aus dem zu Anfang genannten Baden-Württemberg A 12). Stuttgart des Landkreises Sigmaringen 5). Saulgau Grund: Die Ortsgeschichte wird sich 1999. S. 99 –116. 1997. S. 109 –137 „ Karl J. Mayer immer häufiger mit wissenschaftlich-

Ehrentafel der alten Parteigenossen der NSDAP im Kreis Neuenbürg. Vorlage: Kreisarchiv Enzkreis

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Archivnachrichten Sondernummer 2005 Öl für den Endsieg Das Unternehmen Wüste in der Überlieferung des Finanzministeriums Württemberg-Hohenzollern

Nachdem im Mai 1944 durch alliierte und mit umfangreichen Sondervollmach- Capitain Couderc stellte im Verlauf des Bombenangriffe ein Großteil der Produk- ten ausgestattet hatte. Zu seinem verant- Folgejahrs den Betrieb der Wüste-Werke tionsanlagen für synthetisches Flugbenzin wortlichen Stellvertreter im Bauvorhaben wegen mangelnder Rentabilität ein. Fort- zerstört worden war und sich gleichzeitig Wüste, das im gesamten Geilenberg- an konzentrierte man sich auf ein von mit dem Vorrücken der Roten Armee der Programm etwa drei Prozent ausmachte, Couderc entwickeltes Verfahren, das auf Verlust der rumänischen Ölfelder für die bestimmte Geilenberg den Hauptmann dem Schweitzer Verfahren der Lias-Anla- deutsche Kriegsmaschinerie abzeichnete, Freiherr von Kruedener. Dieser war ge in Frommern aufbaute. Mit der dort er- drohte die Treibstoffversorgung des bereits als für den richteten Raffinationsanlage wurde nicht Reichs vollends zusammenzubrechen. Ausbau der Mineralölgewinnung aus nur Treibstoff, sondern auch ein Aus- In aller Eile wurde daher seit Som- Ölschiefer Verbindungsoffizier zum SS- gangsprodukt für Pharmapräparate, das mer 1944 unter dem Decknamen Wüste Wirtschaftsverwaltungshauptamt unter so genannte Balingol, hergestellt. Aber ein Unternehmen aus dem Boden ge- Obergruppenführer Pohl und Ordonnanz- das Unternehmen blieb ein Zuschussbe- stampft, das die Gewinnung von Rohöl offizier des Feldmarschalls Milch in trieb. Daran änderte auch die Anfang aus Schwäbischem Ölschiefer anstrebte. Görings Reichsluftfahrtministerium. 1948 erfolgte Übertragung der Zwangs- Für Hitlers letzte Hoffnung (Michael Auf von Kruedeners Initiative ging verwaltung in deutsche Verantwortung Grandt) wurden in den kommenden Mo- auch die Gründung der DÖLF zurück, die nichts. Im November 1949 wurde das naten am Fuß der Schwäbischen Alb nach der Fertigstellung den Produktivbe- Lias-Werk als letzte Anlage des schwäbi- zahlreiche Kriegsgefangene und Zwangs- trieb der Wüste-Werke übernehmen schen Ölschieferprogramms stillgelegt. arbeiter, vor allem abertausende von KZ- sollte. Mit den Bauarbeiten für die insge- Die gesetzliche Grundlage für die Häftlingen unter entsetzlichen Bedingun- samt zehn Wüste-Werke wurden die Fortführung des Wüste-Programms unter gen in einen gnadenlos brutalen und Deutsche Bergwerks- und Hüttenbau französischer beziehungsweise deutscher letztlich sinnlosen Arbeitseinsatz getrie- GmbH (DBHG) sowie die Organisation Zwangsverwaltung bildete das vom Alli- ben, der wohl weit mehr als 4000 Men- Todt beauftragt. Der DBHG oblag die ma- ierten Oberkommando erlassene Gesetz schen das Leben gekostet hat. schinelle und apparative Ausstattung der Nr. 52 über die Sperre und Kontrolle von Wegen seines hohen Bitumenanteils Werke, während die Organisation Todt für Vermögen. Neben der Entnazifizierung wurde der am Nordtrauf der Schwäbi- die bergbaulichen und sonstigen bau- und der Wiedergutmachung stellte das schen Alb anstehende Posidonienschiefer lichen Arbeiten, so auch für den Bau von Gesetz eine der drei Säulen in dem Ver- (Lias epsilon) schon seit dem 17. Jahr- Häftlingslagern, verantwortlich zeichnete. such der Besatzungsmächte dar, das im hundert als Energiequelle und Ölreservoir Wie schon beim Aufbau der Ver- nationalsozialistischen Deutschland be- erkannt und genutzt. Erfolgreiche Versu- suchsanlagen sollten auch für das gangene Unrecht zu sühnen und so weit che zur Öldestillation im 19. Jahrhundert, Wüste-Unternehmen Kriegsgefangene, wie noch möglich wieder rückgängig zu während des Ersten Weltkriegs sowie in Zwangsarbeiter und vor allem KZ-Häftlin- machen. Es zielte zum einen darauf ab, den ersten Jahren der Weimarer Republik ge zum Einsatz kommen. Nach dem die Wiedereinweisung der Eigentümer von blieben wegen der mangelnden Wirt- Geilenberg-Plan war pauschal für jedes Vermögen vorzubereiten, über das diese schaftlichkeit jedoch Episode. Erst mit Werk ein Häftlingslager für jeweils 500 während der nationalsozialistischen Herr- den im Verlauf des Zweiten Weltkriegs Personen vorgesehen. Aus Bewachungs- schaft nicht verfügen durften oder das zunehmenden Treibstoffengpässen wurde gründen drängte die SS jedoch auf eine Gegenstand von Entziehungsmaßnahmen der schwäbische Ölschiefer für die Reduzierung, sodass zusammen mit den gewesen war, zum anderen das Vermö- nationalsozialistische Kriegswirtschaft bereits vorhandenen Lagern bis Anfang gen der aufgelösten politischen, militäri- interessant. 1945 im ganzen sieben Lager in Schöm- schen und militärähnlichen Organisatio- Im Auftrag des Reichsamts für den berg, Schörzingen, Frommern, Erzingen, nen, der Kriegsverbrecher, der Personen, Wirtschaftsausbau wurden in der Umge- Bisingen, Dautmergen und Dormettingen die durch die Säuberungskommissionen bung von Balingen zunächst einige Ver- eingerichtet wurden, die allesamt Außen- abgeurteilt worden waren, sowie der nicht suchsanlagen errichtet. Den Auftakt bil- lager beziehungsweise -kommandos des mehr bestehenden Körperschaften aufzu- dete die im September 1942 gegründete Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof lösen und auf andere Personen zu über- Lias Ölschiefer-Forschungs GmbH mit im Elsass waren. tragen. einem von Dr. Alexander Schweitzer ent- Bei Kriegsende hatten trotz des Mit der Durchführung des Gesetzes wickelten Schachtofenschwelverfahren in rücksichtslosen Arbeitseinsatzes nur vier war innerhalb der Militärregierung der Frommern. 1943 folgten die Deutsche Öl- Werke die Produktionsphase erreicht. Service du Contrôle des Biens beauftragt schiefer-Forschungsgesellschaft (DÖLF) Insgesamt waren nicht mehr als 1500 worden. Diese vorläufige Organisations- sowie die Kohle-Öl-Union von Busse KG Tonnen an Öl gewonnen worden, das sich form stellte sich jedoch schon bald als (KÖU). Während Letztere in Schörzingen zudem nur bedingt für die Verwendung in nicht ausreichend heraus. Durch den Er- die Untertageverschwelung erprobte, be- Verbrennungsmotoren eignete. Trotzdem lass Nr. 20996 des Gouvernement Mili- trieb die DÖLF in Schömberg ein im Ta- führte die DÖLF auch nach der französi- taire de la Zone Française d’Occupation gebau beschicktes Meilerverfahren, das schen Besetzung im Auftrag der Militärre- vom 25. März 1946 wurde die Einrichtung für die meisten der späteren Wüste- gierung ihre Arbeit fort. Bis August 1945 der Inspecteurs du Contrôle des Biens Werke zur Anwendung kommen sollte. hatten die Wüste-Werke in Dormettingen, geschaffen, die bei der Einsetzung eines Die Produktionsphase wurde Bisingen und Schömberg die Produktion deutschen Hilfsdiensts für Vermögens- schließlich mit dem Start des Unterneh- wieder aufgenommen, und im November kontrolle behilflich sein und dessen Tätig- mens Wüste im Sommer 1944 eingeläu- wurden die unter Sequestration gestellten keit überwachen sollten, bis eine deut- tet, nachdem Hitler am 31. Mai Edmund Firmen und Anlagen des schwäbischen sche Dienststelle für Vermögenskontrolle Geilenberg, den früheren Vorsitzenden Ölschieferprogramms zur Zentralverwal- gebildet war. Mit einer Entscheidung vom des Hauptausschusses Munition, zum tung der württembergischen Ölschiefer- 13. Juni 1946 wurden in allen Ländern Generalkommissar für die Sofortmaßnah- werke mit Sitz in Dotternhausen zu- der französischen Besatzungszone deut- men beim Reichsminister für Rüstung und sammengefasst. Der von der Militärregie- sche Ämter für Vermögenskontrolle ge- Kriegsproduktion (Albert Speer) ernannt rung als Sequester bestellte Chemiker schaffen, die unter der Überwachung des 28

Archivnachrichten Sondernummer 2005 gen, die am 5. Juli 1946 durch die Lan- desdirektion der Finanzen zum Zweck der Einziehung und Verwaltung des im Zuge der politischen Säuberung beschlag- nahmten Vermögens gegründet worden war. Diese eingezogenen Vermögenwerte wurden später zugunsten des Sonderver- mögens für die Wiedergutmachung ver- wertet. Die Leitung der WVT teilten sich drei Geschäftsführer, ein hauptamtlicher und zwei nebenamtliche, die jeweils die beiden Leiter der Abteilung Vermögens- kontrolle waren. Im Zuge der Bildung des Landes Baden-Württemberg wurden die Ministe- rien der bisherigen Länder abgewickelt. Die Aufgaben der Abteilung Vermögens- kontrolle wurden der Oberfinanzdirektion Stuttgart – Landesvermögens- und Bau- abteilung, Gruppe Vermögenskontrolle, übertragen. Als Außenstelle der Oberfi- nanzdirektion Stuttgart fungierte das seit Dezember 1952 beim Regierungspräsi- dium Südwürttemberg-Hohenzollern in Tübingen angesiedelte Referat für die Verwaltung des gesperrten und kontrol- lierten Vermögens. Die zuletzt zentral bei der Oberfi- nanzdirektion Stuttgart geführten Unterla- gen der Vermögenskontrolle in Württem- berg-Hohenzollern gelangten mit Ausnah- me der an Bayern abgegebenen Unterla- gen des Kreisamts Lindau in den Jahren 1991–1995 in mehreren Teilablieferungen an das Staatsarchiv Sigmaringen. Sie las- sen sich unterteilen in Generalakten und Einzelfallakten der Abteilung Vermögens- kontrolle, Unterlagen der WVT und Einzel- fallakten der Kreisämter. Während die Unterlagen der Kreisämter im Bestand Wü 120 T 3 vereint sind, umfasst der erst vor kurzem erschlossene Bestand Wü 120 T 4 die Akten der Abteilung Ver- mögenskontrolle im Finanzministerium Württemberg-Hohenzollern, der Württem- Forderungsnachweis des Konzentrationslagers Natzweiler über den Häftlingseinsatz bei bergischen Verwaltungs- und Treuhand- der Lias-Ölschiefer-Forschungsgesellschaft in Frommern vom 1. Juni 1944. gesellschaft mbH sowie der nachgeord- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAS Wü 120 T 4 Nr. 585 neten Zwangsverwaltungen mit insgesamt 1201 Titelaufnahmen im Umfang von Service du Contrôle des Biens der Militär- – die Erfassung der unter das Gesetz Nr. 30 Regalmetern bei einer Laufzeit von regierung für die Durchführung des Ge- 52 fallenden Vermögenswerte sowie der 1945 bis 1959 (mit Vorlaufzeiten ab 1902 setzes verantwortlich waren. durch vermögensrechtliche Beschlag- und Nachlaufzeiten bis 1985). Die bis dahin im französisch besetzten nahme und Einziehung im Zuge der po- Allein 218 Akten betreffen die Zent- Gebiet Württembergs und Hohenzollerns litischen Säuberung betroffenen oder ralverwaltung der Württembergischen bestellten Bezirks- beziehungsweise unter Kontrolle zu stellenden Vermö- Ölschieferwerke. Der überwiegende Teil Kreisbeauftragten für die Vermögenskon- genswerte, davon enthält das im Rahmen der trolle, die zunächst der Dienstaufsicht der – die Anordnung, Durchführung und Auf- Zwangsverwaltung üblicherweise angefal- Finanzamtsvorsteher unterstanden hat- hebung der Kontrolle über diese Vermö- lene Schriftgut wie Organisation, Perso- ten, wurden dem Amt für Vermögens- genswerte, nal, Geschäftsberichte, Memoranden, Bi- kontrolle unterstellt, das als Abteilung – die Einsetzung von Geschäftsführern in lanzen, Wirtschafts- und Rechnungsprü- Vermögenskontrolle im Direktorialamt des Fällen, in denen dies erforderlich war, fung, Verträge, Gebäude- und Grund- Staatssekretariats für das französisch sowie deren Überwachung und Abberu- stücksverwaltung, Patentvereinbarungen, besetzte Gebiet Württembergs und fung, gerichtliche Auseinandersetzungen et ce- Hohenzollerns angesiedelt war. Nach – die allgemeine Durchführung des Ge- tera. Vereinzelt finden sich darin aber der Bildung des Landes Württemberg- setzes Nr. 52. auch Unterlagen aus der Zeit vor der Hohenzollern wurde die Abteilung Ver- Die Verwaltung der ihr unterstellten französischen Besetzung, also originäre mögenskontrolle zu einer dem Finanzmi- Vermögenswerte konnte die Abteilung Akten der Wüste-Unternehmen aus der nisterium angegliederten Landesbehörde. Vermögenskontrolle der Württembergi- NS-Zeit. Auch sie enthalten Geschäftsbe- Die Aufgaben der Abteilung erstreckten schen Verwaltungs- und Treuhandgesell- richte, Bilanzen mit Gewinn- und Verlust- 29 sich auf: schaft mbh in Tübingen (WVT) übertra- rechnungen, Pacht- und Darlehensverträ-

Archivnachrichten Sondernummer 2005 ge, Verträge und Verhandlungen mit re- aber kaum größer als der in Sigmaringen berg. Herausgegeben von Robert gionalen Baufirmen, Grundstücksangele- liegende Überlieferungsrest sein. (Verglei- Kretzschmar (Werkhefte der Staatlichen genheiten, Patentvereinbarungen sowie che http://www.france.diplomatie.fr/ Archivverwaltung Baden-Württemberg Geschäftsführer- und Gesellschaftsverträ- archives/service/inventaires/colmar/ A 7). Stuttgart 1997. S. 171–178. ge, darunter den als Geheime Reichssa- Documents/Wurtemberg_Hohenzollern/ Michael Grandt: Unternehmen Wüste che eingestuften Vertrag zwischen der im Wurtemberg-Hohenzollern.doc, Online- – Hitlers letzte Hoffnung. Das NS-Öl- Auftrag des Deutschen Reichs handeln- Zugriff: 8. April 2005). Auch die Samm- schieferprogramm auf der Schwäbischen den Deutschen Revisions- und Treuhand- lung Unternehmen Wüste im Kreisarchiv Alb. Tübingen 2002. Aktiengesellschaft und der DBHG vom Zollernalbkreis (Balingen) enthält nur eini- Das Unternehmen Wüste. Ölschie- 25. August 1944 über das Bauvorhaben ge Splitter authentischen Schriftguts aus ferwerke und Konzentrationslager entlang Wüste. Darüber hinaus gewähren diese der NS-Zeit. Mit den im Staatsarchiv Sig- der Bahnlinie Tübingen–Rottweil 1944/45. Akten punktuelle Einblicke in die Verwal- maringen nunmehr zugänglichen Archiva- Leitfaden und Materialien zur Ausstellung tung des Arbeitseinsatzes von KZ-Häftlin- lien könnte es also durchaus möglich in der ehemaligen Baracke auf dem gen, Kriegsgefangenen, Ostarbeitern und sein, neue Aspekte des Unternehmens Gelände des Oberschulamtes Tübingen freien ausländischen Arbeitskräften aus Wüste zu beleuchten. 7. Mai – 31. Juli 1997. Schömberg 1997. Holland und Kroatien. Hierzu gehören Andreas Zekorn: Das Unternehmen selbst einfache Kassenbelege der Lias Literatur: Wüste. In: Verblendung, Mord und Wider- wie Forderungsnachweise des Konzentra- Rainer Brüning: Vermögenskontrolle stand. Aspekte nationalsozialistischer Un- tionslagers Natzweiler über den Häftlings- nach 1945. Eine Aktenübernahme von rechtsherrschaft im Gebiet des heutigen einsatz in Frommern oder über die Aus- der Oberfinanzdirektion Stuttgart. In: His- Zollernalbkreises von 1933 –1945. [He- gabe von 500 Reichsmark im Dezember torische Überlieferungsbildung aus Ver- chingen] 1995. S. 55 – 70 „ Franz-Josef 1944 als Weihnachtsgeschenk für die waltungsunterlagen. Zur Praxis der Archi- Ziwes SS-Wachmannschaft. vischen Bewertung in Baden-Württem- Eines der aufschlussreicheren Doku- mente dürfte ein von leitenden Angestell- ten der DÖLF stammendes Memorandum vom 19. April 1946 sein (Staatsarchiv Sig- maringen Wü 120 T 4 Nr. 508). In ihren Erläuterungen zum Organisationsplan Geilenberg-Bauvorhaben Wüste bieten die Mitarbeiter eine geraffte Darstellung des Wüste-Unternehmens mit den betei- ligten Institutionen und Personen. Den Er- läuterungen liegt die Niederschrift über die Besprechung betr. Arbeitsstab Geilen- berg-Wüste vom 27. und 28. Juli 1944 in Tübingen unter Vorsitz von Edmund Gei- lenberg bei. Dieses als Geilenbergbibel bezeichnete Protokoll war die Richt- schnur, nach der die Aufgaben und Ver- antwortlichkeiten für das Unternehmen Wüste verteilt wurden. Demzufolge er- folgte auch die Zuweisung von Häftlingen für das Bauvorhaben auf direkte Veran- lassung Geilenbergs. Die Verantwortung für den Häftlingseinsatz und die katastro- phalen Zustände in den Häftlingslagern, die im Winter 1944/45 sogar eine Lager- besichtigung durch Obergruppenführer Pohl auf den Plan riefen, lag nach Dar- stellung der DÖLF-Mitarbeiter ausschließ- lich bei Geilenberg und der SS. Bei den im Staatsarchiv Sigmaringen verwahrten Unterlagen dürfte es sich nur noch um einen Bruchteil der ursprünglich in den Registraturen der Wüste-Unter- nehmen vorhandenen Akten handeln. Verschiedene Hinweise in Schriftwech- seln der Nachkriegszeit und Brandspuren an einer Akte lassen keinen Zweifel daran, dass der überwiegende Teil des Schriftguts kurz vor der französischen Besetzung gezielt vernichtet wurde. Die noch vorhandenen Unterlagen wurden von den Franzosen zum Teil beschlag- Die Verbrennung des Synagogeninventars auf dem Mosbacher Marktplatz nach der nahmt. Nach Ausweis des einschlägigen Reichspogromnacht 1938. Inventars der Archives de l’occupation Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg HStAS EA 99/001 Bü. 305 Nr. 1223 française en Allemagne et en Autriche in Colmar dürfte der Umfang der in französi- schem Gewahrsam verbliebenen Akten 30

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Dokumentationsstelle zur Erforschung jüdischer Schicksale im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Es vergeht kaum eine Woche, in der kumentiert werden. Dies entspricht etwa schicksale von 1933 bis 1945; ihm ist als das Hauptstaatsarchiv Stuttgart nicht we- 90 Prozent der einstigen jüdischen Wohn- sechster Band ein Gedenkbuch der Opfer nigstens eine oder mehrere Anfragen zum bevölkerung. Nahezu ein Viertel der süd- beigegeben. Schicksal jüdischer Bürger während der westdeutschen Juden, mindestens 8529 So aufschlussreich die Veröffentli- nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Personen, fielen der Verfolgung zum chungsreihe auch ist, kann sie doch die zu beantworten hätte. Vielfach dienen die Opfer. Fast 24 000 Menschen konnten Primärunterlagen der Dokumentations- Nachforschungen biografischen, orts- sich durch Emigration retten; ein kleinerer stelle nicht ersetzen. Auf 50 Regalmetern und landesgeschichtlichen Studien, juris- Teil überlebte die Deportation. umfassen sie rund 300 Aktenbüschel mit tischen Belangen oder aber der Erinne- Die Arbeitsergebnisse der Dokumen- Tausenden Erhebungsbogen, die weltwei- rungskultur, wie sie sich beispielsweise in tationsstelle wurden zwischen 1966 und te Korrespondenz mit Überlebenden, Sta- der Stuttgarter Initiative Stolpersteine ma- 1969 in sechs umfangreichen Bänden tistiken, Kopien von Dokumenten zur Ju- nifestiert. Für die Beantwortung der viel- publiziert: Zwei Bände enthalten Quellen- denverfolgung, rund 100 Karteikästen mit fältigen Fragen verfügt das Archiv über zeugnisse über die Verfolgungsmaßnah- Namensnachweisen sowie eine fast 2000 den einzigartigen Bestand EA 99/001 Do- men, zwei weitere Bände sind den im 19. Aufnahmen zählende Fotosammlung. kumentationsstelle zur Erforschung der und 20. Jahrhundert bestehenden israeli- Kurzum: Die Überlieferung der Stuttgarter Schicksale der jüdischen Bürger Badens, tischen Gemeinden in Baden, Württem- Dokumentationsstelle ist die zentrale Württembergs und Hohenzollerns wäh- berg und Hohenzollern gewidmet. Der Quellenbasis für die jüngere Geschichte rend der nationalsozialistischen Verfol- fünfte Band bietet die zusammenfassen- der Juden im heutigen Baden-Württem- gungszeit 1933 –1945. de Darstellung der jüdischen Einzel- berg „ Albrecht Ernst Angestoßen von der Presse und einer Landtagsinitiative beauftragte Minis- terpräsident Kurt Georg Kiesinger 1962 die staatliche Archivverwaltung, das Los der verfolgten jüdischen Bürger Südwest- deutschlands aufzuklären und für kom- mende Generationen festzuhalten. Noch im selben Jahr brachte Professor D. Dr. Max Miller, der damalige Leiter des Hauptstaatsarchivs, das Projekt auf den Weg, indem er Dr. Paul Sauer den Aufbau und die wissenschaftliche Konzeption der Dokumentationsstelle übertrug. Die Ein- richtung, der zeitweise bis zu zwölf Mitar- beiter angehörten, bestand bis 1968. Im Rahmen des Dokumentationsvor- habens wurde in ganz Baden-Württem- berg, im In- und Ausland eine Fülle schriftlicher Quellen ermittelt, zusammen- getragen und ausgewertet. Zunächst sichtete man die Einwohnermelderegister der 520 Städte und Gemeinden, in denen nach 1933 jüdische Bürger lebten. Hinzu kamen Ausweisungs- und Deportations- verzeichnisse, Listen jüdischer Geschäfte und Gewerbebetriebe. Als besonders er- giebig erwiesen sich die Akten der Wiedergutmachungsämter Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart und Tübingen. Man nahm Einsicht in das Schriftgut der Fi- nanzämter über Judenvermögensabga- ben, die Reichsfluchtsteuer und die Ver- äußerung jüdischer Vermögen zugunsten des Fiskus. Überdies lieferten die Regist- raturen von Landratsämtern, Gerichten und Staatsanwaltschaften wichtiges Ma- terial, das man mit Informationen anderer Stellen, aus zeitgenössischen Zeitungen und Druckschriften ergänzte. Nicht zuletzt befragte man Überlebende des Holo- caust, um unbekannte Einzelschicksale aufzuklären. Die erhobenen Daten wurden auf ei- gens entwickelten Formblättern erfasst und systematisch ausgewertet. Insge- Die Deportation von jüdischen Bürgern aus Gailingen (oben) und aus Mannheim samt konnten die Lebensstationen von (unten) nach Gurs am 22. Oktober 1940. 31 35 613 Personen nachgezeichnet und do- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg HStAS EA 99/001 Bü. 305 Nr. 575 und 1154

Archivnachrichten Sondernummer 2005 War mein Opa eigentlich ein Nazi? tisierungen, die durch Verschweigen und Beschönigen in den Familien der Täter Familienforschung als Vergangenheitsbewältigung verursacht wurden, haben gerade einige jüngere Publikationen nachdrücklich offen Auch 60 Jahre nach dem Ende des Das offensichtliche Bemühen, die Deut- gelegt. Zweiten Weltkriegs ist das Interesse an schen stärker als Opfer des NS-Regimes Dass diese Entwicklung auch ihren der NS-Zeit ungebrochen, hält die media- darzustellen, sei Ausdruck einer Phase Niederschlag in den Archiven findet, kann le und wissenschaftliche Auseinanderset- der Schuldkompensation, welche die mit angesichts des Gesagten kaum verwun- zung mit der Geschichte des Dritten der juristischen Aufarbeitung der NS-Ver- dern. Mit dem Aussterben der Zeitzeu- Reichs unvermindert an. Kaum eine brechen um 1955 einsetzende Zeit der gengeneration geht auch der allmähliche Woche vergeht, ohne dass in Fernsehen Schuldbearbeitung zwischenzeitlich ab- Ablauf der Sperr- und Schutzfristen ein- oder Radio historische Themen zur NS- gelöst habe. her, die einer Einsichtnahme personenbe- Zeit behandelt werden. Und auch auf den Tatsächlich sind es heute vielfach die zogener Unterlagen über die NS-Zeit Kinoleinwänden häufen sich gerade in der während der NS-Zeit geborenen Kinder durch die Allgemeinheit für nichtwissen- letzten Zeit Spielfilmproduktionen, die und die Enkel, die dem Schicksal ihrer schaftliche Nutzungen bislang im Wege sich mit Personen und Ereignissen der verstorbenen Eltern und Großeltern wäh- standen. Von Jahr zu Jahr können so Jahre 1933 –1945 beschäftigen. Selbst rend des Dritten Reichs nachzuspüren immer umfangreichere Teile insbesondere für Experten kaum mehr zu überschauen versuchen. Im Bemühen, das Verhalten der in der Nachkriegszeit entstandenen ist schließlich die Flut von Publikationen ihrer Familienangehörigen im Dritten Akten der Gerichte und Behörden über zu diesem Thema. Darstellungen für ein Reich nachvollziehen zu können, nehmen die juristische und finanzielle Aufarbei- breites Publikum finden ebenso ihren Empathie und Mitfühlen mit den damals tung der NS-Zeit – und selbstverständlich Weg auf den Buchmarkt wie wissen- Handelnden zu, wobei die persönlichen auch die Unterlagen aus der Zeit des schaftliche Untersuchungen. Neu hinzu und politischen Verantwortlichkeiten Dritten Reichs selbst – ohne Einschrän- gekommen sind in den letzten Jahren ebenso in den Hintergrund zu treten kungen eingesehen werden. Zu denen, Bücher von Zeitzeugen und deren Nach- drohen wie die strukturellen Vorausset- die zu diesem Zweck in die Archive kom- kommen, die dem Schicksal ihrer Familie zungen des nationalsozialistischen Terror- men, gehören seit einiger Zeit nicht mehr während des Dritten Reichs nachspüren. regimes. Mit zunehmendem zeitlichem nur Heimat- und Ortsgeschichtsforscher, Dabei ist im öffentlichen Diskurs der ver- Abstand scheint es überdies leichter, Ver- sondern zunehmend auch insbesondere gangenen Jahre eine Akzentverschiebung ständnis für die Verstrickungen der eige- Nachfahren und Verwandte der Kriegsge- festzustellen, die von manchem als nicht nen Eltern oder Großeltern aufzubringen. neration, die Aufschluss über die Ge- unproblematisch empfunden wird. Anders Dass in der innerfamiliären Kommunika- schichte ihrer Familie während der NS- als in den Jahrzehnten zuvor thematisie- tion die Geschehnisse der NS-Zeit nicht Zeit zu bekommen hoffen. Im Staatsar- ren viele Autoren nämlich verstärkt die selten jahrzehntelang beschwiegen oder chiv Ludwigsburg vergeht kaum eine Leiden der deutschen Zivilbevölkerung, zumindest beschönigt worden waren, Woche, in der nicht Anfragen von Ange- etwa wenn an die verheerenden Bomben- spielt bei der milden Beurteilung durch hörigen eingehen, die nach entsprechen- angriffe auf deutsche Städte oder Flucht die Nachgeborenen sicherlich eine Rolle. den Unterlagen suchen. Auch wenn zu und Vertreibung aus den deutschen Ost- Allerdings gibt es auch nicht wenige, die den Nutzern durchaus auch Nachfahren gebieten erinnert wird. Der Historiker verstört durch das jahrzehntelange von Opfern des NS-Regimes, in manchen Norbert Frei hat diesen Wandel in der Schweigen in den Familien überhaupt Fällen auch noch die Opfer selbst gehö- Blickrichtung mit dem allmählichen Aus- erst nach dem Tod ihrer Eltern und Groß- ren, so gilt das Hauptinteresse der Anfra- sterben der Zeitzeugengeneration und eltern damit beginnen, sich Klarheit über genden doch zumeist den Akten, die im der damit einhergehenden Historisierung deren Rolle im NS-Regime zu verschaf- Zusammenhang mit der so genannten der NS-Zeit in Zusammenhang gebracht. fen. Die bis heute fortwirkenden Trauma- Entnazifizierung entstanden sind, also Unterlagen, die vor allem das Schicksal der Funktionäre, Sympathisanten und Mitläufer des NS-Regimes beleuchten. In der amerikanischen Besatzungs- zone, zu der die nördlichen Teile des spä- teren Bundeslands Baden-Württemberg gehört haben, ist die Entnazifizierung be- sonders systematisch durchgeführt wor- den und hat entsprechend umfangreiches Archivgut hinterlassen. Ausgangspunkt der Entnazifizierungsverfahren waren die so genannten Meldebögen, in denen jeder Erwachsene Angaben insbesondere über Mitgliedschaften in NS-Organisatio- nen zu machen hatte; alle diejenigen, die aufgrund ihrer Angaben als formal be- lastet zu gelten hatten, mussten sich da- nach – gegebenenfalls sogar postmortal – einem gerichtsähnlichen Verfahren vor einer so genannten Spruchkammer stel- len, das mit der Einstufung in eine von fünf Belastungskategorien und gegebe- nenfalls mit der Verhängung von Sühne- Eine Karikatur über die Entnazifizierungsverfahren, gezeichnet von Waldl, vermutlich maßnahmen endete. Im Staatsarchiv Lud- Pseudonym für Walter Hofmann, geboren am 13. Mai 1905 in Braunau am Inn, inter- wigsburg, das den württembergischen niert in Ludwigsburger Lagern. Teil der Überlieferung der Spruchkam- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL PL 723 mern in der amerikanischen Besatzungs- 32

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Der Meldebogen von Adolf Hitlers Sekretärin E. Christa Schroeder vom Oktober 1946. Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL EL 903/5 Bü. 269

zone verwahrt, finden sich neben den Die Nutzung dieser Akten für fami- hen, wie die große Mehrheit der Deut- Verwaltungsakten von Spruchkammern liengeschichtliche Zwecke ist freilich nicht schen die eigenen Verstrickungen in das und Interniertenlagern ein umfangreicher unproblematisch. Da die Spruchkammer- NS-Regime herunterzuspielen suchte, als Bestand an Meldebögen sowie rund verfahren – deutschen Rechtstraditionen Gewissheit über historische Gescheh- 500 000 Verfahrensakten von 30 Internier- widersprechend – eine Umkehr der Be- nisse erhalten. ten- und Heimatspruchkammern. weislast vorsahen, waren die Beklagten Wenn die im Zusammenhang mit Unter den Verfahrensakten sind alle gezwungen, möglichst umfangreiche Be- den Entnazifizierungsverfahren entstan- diejenigen Fälle zu finden, bei denen die lege dafür beizubringen, dass sie trotz denen Unterlagen heute für familienge- Durchführung eines formellen Entnazifi- bestehender formaler Belastungen den schichtliche Recherchen herangezogen zierungsverfahrens vorgesehen war, un- NS-Staat nur unwesentlich unterstützt werden, so besteht damit selbstverständ- abhängig davon, ob dieses auch tatsäch- oder sogar Widerstand geleistet hatten. lich die Gefahr, dass die Nachfahren in lich durchgeführt wurde. Obwohl nicht Dies erklärt die große Zahl so genannter den Akten möglicherweise genau jenes wenige dieser Verfahrensakten deshalb Persilscheine in den Akten, also Beschei- beschönigende Bild wiederfinden, das kaum mehr als den Meldebogen enthal- nigungen, mit denen Freunde und Be- über Jahrzehnte in der Familie tradiert ten, hat sich hier doch ein immenser Fun- kannte die charakterliche Unbescholten- wurde. Tatsächlich ist zu beobachten, dus an Quellen mit Informationen über heit der betreffenden Person bezeugten dass vielen Nutzern der zeitgeschichtli- Funktion und Verhalten von Personen jen- oder Begebenheiten schilderten, aus che Kontext, in dem die Entnazifizierung seits der so genannten Führungselite er- denen auf eine gewisse Regimeferne ge- stattfand, nicht bewusst ist. Die Gefahr halten. Angesichts des großen Interesses schlossen werden konnte. Die Zahl der von Fehleinschätzungen der Spruchkam- an diesen Unterlagen, das zunächst vor eingereichten Persilscheine ist dabei merentscheidungen, insbesondere aber allem die historische Forschung artikulier- meist um so größer, je höher die gesell- der in den Akten enthaltenen Persilschei- te, hat sich das Staatsarchiv Ludwigsburg schaftliche Stellung des Beklagten wäh- ne ist daher nicht von der Hand zu wei- bereits vor Jahren entschlossen, diese rend der NS-Zeit war. Es war nicht zuletzt sen. Angesichts des großen Unwissens, Akten EDV-gestützt zu erschließen und die kollektive Bereitschaft der Deutschen, das in vielen Familien über die Verwick- zudem einer konservatorischen Grundsi- solche Persilscheine auszustellen, die die lung der eigenen Verwandtschaft in das cherung (Entmetallisierung, fachgerechte Spruchkammern im Lauf der Zeit zu so NS-Regime herrscht, offenbaren aller- Verpackung) zu unterziehen. Die zwi- genannten Mitläuferfabriken werden lie- dings oft schon die formalen Angaben in schenzeitlich fast 200 000 Fälle umfas- ßen, in denen zuletzt weniger Sühnemaß- den Meldebögen Informationen etwa über sende Gesamtdatei der Verfahrensakten, nahmen verhängt als Rehabilitationen Mitgliedschaften in der NSDAP oder an- die bis zum Ablauf sämtlicher Sperrfristen ausgesprochen wurden. Der Historiker deren parteinahen Organisationen, die ohne Einschränkungen allerdings nur für Norbert Frei hat in diesem Zusammen- bislang nicht bekannt waren. Und so interne Zwecke genutzt werden kann, er- hang von einer Phase der kollektiven kommt es tatsächlich immer wieder vor, leichtert Recherchen nach Einzelfällen Schuldverweigerung der Deutschen in dass nach der Aktenlektüre jahrzehnte- außerordentlich, insbesondere wenn nicht den ersten Nachkriegsjahren gesprochen. lang gepflegte Vorstellungen über die mehr bekannt ist, welche Spruchkammer Über die Geschichten, die in den Persil- Rolle der eigenen Eltern und Großeltern einen Fall behandelt hat. Zudem ermög- scheinen erzählt und während der Ver- während der NS-Zeit revidiert werden licht sie berufs- oder ortsspezifische Re- handlungen vorgetragen wurden, kann müssen. So schmerzhaft das im Einzelfall 33 cherchen. man deshalb vielfach eher nachvollzie- sein mag, nur über das Studium von au-

Archivnachrichten Sondernummer 2005 thentischen Dokumenten aus den Archi- Publikum Einfluss auf die Entwicklung lichen Sonderregelungen zu unterwerfen. ven besteht die Chance, die seelischen des kollektiven Gedächtnisses. Trotz der Es bleibt zu hoffen, dass möglichst viele Verwundungen, die der unehrliche Um- unbestreitbaren Gefahr, dass durch eine derjenigen, die sich aus der Aktenlektüre gang mit der Geschichte der eigenen Fa- Nutzung gerade der Entnazifizierungsak- Hilfe bei ihrer individuellen oder familiären milie gerade bei Nachfahren von NS- ten verharmlosende und beschönigende Vergangenheitsbewältigung versprechen, Funktionären hinterlassen hat, ein Stück Sichtweisen, wie sie in der unmittelbaren auch tatsächlich den Weg in die Archive weit zu heilen. In gewissem Umfang hat Nachkriegszeit artikuliert wurden, wieder- finden mögen, belegt ihr Interesse doch damit neben dem medialen Diskurs auch belebt werden können, war es zweifels- nachdrücklich die gesellschaftliche Be- die Erforschung der NS-Bestände in den ohne richtig, diese Überlieferung nicht deutung der Archive, die weit mehr als Archiven durch ein breiteres, nicht in ers- durch Kassationen zu dezimieren, sie an- nur Quellenreservoire für Wissenschaftler ter Linie wissenschaftlich interessiertes dererseits aber auch keinen archivrecht- sind „ Peter Müller

Ich verreise nach Theresienstadt … Erschließung und Verfilmung von Rückerstattungsakten im Staatsarchiv Ludwigsburg in Kooperation mit Yad Vashem

Vor wenigen Jahren bewegte die listische Herrschaft überlebt hatte, häufig Juden endgültig enteignet und an die Ausstellung Deutsche verwerten jüdische aber nur noch von den überlebenden Reichsschuldenverwaltung abgeliefert. Nachbarn die Gemüter. Erst dann nahm Nachkommen oder Verwandten; wenn Unter Treuhandverwaltung gestellt, wurde eine breitere Öffentlichkeit wahr, was die gar kein Familienmitglied mehr zu ermit- es durch die Reichsfinanzverwaltung ver- zeitgeschichtliche Forschung schon frü- teln war, traten die jüdischen Nachfolge- wertet. Ein Teil des Vermögens kam auch her herausgearbeitet hatte: Die Verfol- organisationen an deren Stelle. in private Hand. Nicht zu Geld verwandel- gung und Vernichtung der jüdischen Be- Die nach Kriegsende einsetzende tes Vermögen der Verfolgten und Ermor- völkerung fand nicht nur unter weitgehen- Vermögensrestitution bezog sich auf die deten – vor allem Liegenschaften – wurde der Billigung, sondern häufig auch unter gesamten Vermögensverluste, die durch in bestimmten Fällen öffentlichen Funktio- sich bereichernder Beteiligung ihrer nicht- verschiedene Sonderabgaben – Juden- nen zugeführt. Götz Aly schätzt den jüdischen Mitbürger statt. Die antijüdi- vermögensabgabe (im öffentlichen staatlichen Gewinn auf rund zwei Milliar- sche Politik der Nationalsozialisten war Sprachgebrauch Judenbuße), Auswande- den Reichsmark (Hitlers Volksstaat. zunächst auf Diskriminierungsmaßnah- rungsabgabe (Reichsfluchtsteuer), Dego- Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozia- men und erzwungene Massenemigration abgabe (Gebühren für die Genehmigung lismus. Frankfurt am Main 2005. S. 222). gerichtet, um 1938/39 durch Eingriffe in zur Mitnahme von Umzugsgut) – und Ent- Über die biografische Nutzung hi- das Vermögen und Kollektivausweisun- eignung verursacht waren. Ähnlich wie naus nimmt die geschichtswissenschaft- gen aus dem Reich abgelöst zu werden. das arisierte Vermögen fiel der Besitz der liche Forschung seit kurzem die bei der Der Krieg forderte eine Neukonzeption, ins Ausland geflohenen sowie die Hinter- Wiedergutmachung entstandenen Mas- die in der Verfolgung und Deportation der lassenschaften der ausgesiedelten und in senakten als solche in den Blick. Hier Juden und dem damit zusammenhängen- den Vernichtungslagern ermordeten, liegt ein umfangreiches Quellenmaterial den Völkermord ihren Ausdruck fand. In meist verarmten Juden dem Staat zu. vor, das nicht nur den Umgang der Deut- der Dynamik der nationalsozialistischen Aufgrund der Elften Verordnung zum schen mit der Wiedergutmachung an den Judenpolitik waren Auswanderung und Reichsbürgergesetz vom 25. November Opfern nach 1945 spiegelt, sondern auch Zwangsveräußerung des Vermögens 1941 wurde nämlich das in Staatstitel eine hervorragende Ersatzüberlieferung einerseits und Deportation und Konfiska- umgewandelte Vermögen deutscher für die Verfolgung und Ermordung der jü- tion des Eigentums andererseits eng mit- einander verschränkt. Die Zwangsmaßnahmen und Verbo- te, die einzelnen Schritte der Entziehung von Rechten und Vermögen und schließ- lich die Ausplünderung und Deportation wurden bis in die 1990er Jahre überwie- gend an individuellen Schicksalen aufge- arbeitet. Zum ungeheuren Echo, das die Tagebücher von Viktor Klemperer hervor- riefen, trug sicherlich bei, dass in ihnen diese Entwicklung von der Wegnahme des Automobils über die Vertreibung aus dem Wohnhaus bis hin zur Verweigerung des Lebensnotwendigen minutiös aufge- zeichnet wird. Für die Untersuchung des Vertrei- bungs- oder Verfolgungsschicksals ein- zelner Personen werden in der Regel die im Rahmen der Wiedergutmachung nach 1945 angefallenen Akten herangezogen. Die erlittenen Schäden an Leib, Leben und Gesundheit konnten im Rahmen von Entschädigungsverfahren, die materiellen Schäden als Rückerstattungsansprüche Bauernhaus in Massenbach mit Scheune, deren erster Stock als Synagoge diente, geltend gemacht werden – vom Geschä- Aufnahme aus der Nachkriegszeit. digten selbst, sofern er die nationalsozia- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL FL 300/33 I Rest S 246 34

Archivnachrichten Sondernummer 2005 dischen Bevölkerung darstellt und über Abertausende von Schicksalen oft die einzige Auskunft gibt. Auch die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem bezieht daher die Unterla- gen zur Wiedergutmachung in ihre Doku- mentation der Geschichte des Holocaust mit ein. Dazu gehört der im Staatsarchiv Ludwigsburg verwahrte Bestand des Schlichters für Wiedergutmachung Stutt- gart und Ulm, der weit über 30 000 Ein- zelfallakten der Rückerstattung enthält. In einem gemeinsam finanzierten Projekt des Staatsarchivs und der Gedenkstätte Yad Vashem wird der bisher unverzeich- nete Bestand erschlossen, konservato- risch behandelt und im Anschluss ver- filmt. Nach Abschluss des auf nur zwei Jahre terminierten Projekts kann der Be- stand einschließlich der Datenbank mit den Erschließungsdaten sowohl in Jeru- salem (auf Mikrofilm) als auch in Lud- wigsburg genutzt werden. Die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit des Schlichters für Wiedergutmachung in der amerikanischen Zone war das Gesetz Nr. 59 der Militärregierung (Amerikani- sches Kontrollgebiet) vom 10. November 1947. Dieses legte fest, dass der entzo- gene Gegenstand zurückzugeben oder Schadensausgleich zu leisten war. Der Geschädigte oder sein Rechtsnachfolger musste dafür ein streitiges Verfahren gegen die rückerstattungspflichtige Ein- zelperson oder Institution führen, die ihnen die Immobilie, Firma, Bankgutha- ben oder sonstiges Eigentum entzogen hatte. Um zu verhindern, dass jeder Rückerstattungsanspruch zu einem lang- wierigen Verfahren vor der Restitutions- kammer des Landgerichts führte, vor allem aber mit Rücksicht darauf, daß der volkswirtschaftliche Schaden, der durch einen notwendigen Besitzerwechsel ent- steht, tunlichst gering bleiben sollte (Ver- Zwangsverkauftes Wohnhaus in Stuttgart, Mohlstraße. ordnung Nr. 162 des Staatsministeriums Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL FL 300/33 I Rest S 94 über den Aufbau der Wiedergutma- chungsbehörden vom 14. Juni 1947. Re- gierungsblatt Württemberg-Baden 1947. zusatz Schlichter für Wiedergutmachung Problem und Nutzungshindernis war aber S. 57 § 3), wurde eine Schlichtungsin- Stuttgart, FL 300/33 II entsprechend bisher die fehlende Erschließung. Wenn stanz vorgeschaltet, die bei einigen Amts- Schlichter für Wiedergutmachung Ulm er- die Aktenzeichen bekannt waren oder aus gerichten eingerichtet wurde. Im württem- halten hat. Normalerweise hing es vom anderen Unterlagen, zum Beispiel aus bergischen Teil der amerikanischen Zone Standort der entzogenen Sache ab, wel- den Rückerstattungsakten der Oberfi- fungierten entsprechend der Schlichter cher Schlichter zuständig war. Gerade bei nanzdirektion, erschlossen werden konn- für Wiedergutmachung beim Amtsgericht komplexeren Verfahren mit verschieden- ten, waren die nach Aktenzeichen gela- Stuttgart mit Zuständigkeit für die Land- artigen Rückerstattungsansprüchen gerten Schlichterakten problemlos zu fin- gerichtsbezirke Stuttgart und Heilbronn kommt es nicht selten vor, dass ein und den – allerdings nur dann. Bereits die und der Schlichter für Wiedergutmachung derselbe Berechtigte den einen Teil seiner Suche nach bestimmten Personen führte beim Amtsgericht Ulm, der für die Land- Ansprüche in Ulm, den anderen in Stutt- nicht immer und vor allem nicht ohne gerichtsbezirke Ellwangen und Ulm zu- gart verhandeln lassen musste. Es emp- weiteres zum Erfolg. Zum Bestand des ständig war. Der Schlichter für Wieder- fiehlt sich daher für die Nutzung, stets Schlichters Stuttgart gehören zwar über gutmachung Ulm wurde 1954 aufgeho- beide Bestände mit einzubeziehen. 30 Karteikästen (die Karteien zu den ben und mit dem Schlichter in Stuttgart Insgesamt umfassen die Bestände Akten des Ulmer Schlichters müssen vereinigt. Daher ist die abgebende Stelle der Schlichter Stuttgart und Ulm fast 100 wohl als verloren gelten). Doch erfolgte für beide das Amtsgericht Stuttgart. Regalmeter. Den weitaus größten Teil die Abgabe ans Staatsarchiv erst zu Wegen dieser Endprovenienz werden die davon machen rund 29 000 Einzelfallak- einem Zeitpunkt, als das Funktionsprinzip Bestände im Staatsarchiv Ludwigsburg ten aus; dazu kommen Karteikarten und dieser in mehrere nach Aktenzeichen ge- unter der Signatur FL 300/33 und der Be- einige wenige Sachakten. Die Bestände trennten alphabetischen Serien sich nicht standsbezeichnung Amtsgericht Stuttgart sind nach den Bestimmungen des Lan- mehr ohne weiteres erschloss: Es erfor- 35 geführt, wobei FL 300/33 I den Bestands- desarchivgesetzes nutzbar. Das größte dert Geduld und Glück, um anhand der

Archivnachrichten Sondernummer 2005 gaben eine solide Erschließung vorliegt, die einen qualifizierten Zugang zu den Beständen durchaus ermöglicht, ohne dabei eine Auswertung vorwegzunehmen. So ist es jetzt erstmals möglich, die Viel- zahl der aufgrund von rückerstattungs- rechtlichen Bestimmungen getrennten Verfahren nach Rückerstattung der Im- mobilie, des Hausrats, der Bibliothek, des Firmenvermögens und so weiter, die teil- weise von einem Geschädigten bezie- hungsweise den Erben angestrengt wer- den mussten, zu ermitteln. Die Schicksale von Familien fügen sich damit wieder zu einem Gesamtbild. Die Angabe des Wohnorts zum Zeitpunkt der Entziehung ermöglicht den ortsgeschichtlichen Zu- gang auch dann, wenn die Namen der Verfolgten gar nicht bekannt sind. Mit der Zugangsmöglichkeit über den Personen- namen und über den ursprünglichen Wohnort ist ein hoher Prozentsatz der bisherigen Nutzeranforderungen zu erfül- len. Weitergehende Wünsche, etwa die nach einem Sample bestimmter Entzie- hungsfälle (zum Beispiel Wohnhäuser, Firmen oder auch Versicherungspolicen) lassen sich, wenn auch nicht bereits durch Einsichtnahme in das Findmittel, sehr wohl aber über eine kluge Nutzung der bei der Behörde angelegten Karteien in Kombination mit den Möglichkeiten der Erschließungsdatenbank durchaus befrie- digen. Dass es sich unbedingt lohnen wird, sich nach Abschluss der Erschlie- ßung auf die intensive Auswertung der Akten einzulassen, steht bereits nach der Bearbeitung der ersten Hälfte des Be- stands fest. Die Personen, die eine Wiedergut- Das Turmrestaurant im Stuttgarter Hauptbahnhof, Anlage zum Rückerstattungsantrag des machung beantragten, sind sowohl Men- ehemaligen Pächters, dessen Vertrag unter politischem Zwang aufgelöst worden war. schen, die nach der Machtergreifung der Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL FL 300/33 I Rest S 127 Nationalsozialisten nach 1933 ausgewan- dert sind, sich der Deportation während Karteikarten alle Akten zu bestimmten einfache Erfassungsmaske nur folgende des Kriegs durch Flucht entziehen, Kon- Einzelpersonen zu ermitteln. Andere Zu- Kernangaben eingetragen: Bestellnum- zentrationslager oder den Verbleib im griffe, etwa auf Verfolgte aus bestimmten mer, Aktenzeichen, Name des Geschä- Untergrund überleben konnten, als auch Orten, waren bisher ohne Kenntnis der digten (nicht des Antragstellers), Wohnort erbberechtigte Familienangehörige und Namen überhaupt nicht möglich. des Geschädigten zum Zeitpunkt der Verwandte von Opfern. Die Akten vermit- Angesichts der Bedeutung der Entziehung (in normierter Form aus einer teln ein eindrucksvolles Bild über den Unterlagen der Schlichter für Wiedergut- baden-württembergischen Ortsliste ent- Umfang des Vermögensverlusts und der machung, aber auch im Hinblick auf die nommen), Geburts- und gegebenenfalls Vermögenskonfiskationen von Angehöri- eingeschränkten Ressourcen im Landes- Todesdatum. Im Normalfall lassen sich gen unterschiedlicher sozialer Schichten archiv Baden-Württemberg sollte die Er- diese Angaben dem Formular entneh- – vom Großbürgertum bis zu armen Ge- schließung so rasch wie möglich vor sich men, mit dem die Ansprüche auf Rück- meindemitgliedern. Aus den Erklärungen gehen. Ziel ist es, die Bestände innerhalb erstattung beim Zentralanmeldeamt ge- der Opfer wird die gesamte, sozial diffe- von zwei Jahren zu erschließen, zu ver- meldet wurden. Alle sonstigen Angaben, renzierte Vermögensstruktur dieser Be- packen und zu verfilmen, wobei die kom- etwa die Bezeichnung der entzogenen völkerungsgruppe ersichtlich: sowohl der plette Datenerfassung von einer Arbeits- Güter und Vermögen, die Beschreibung Besitz an Immobilien (Grund-, Haus- und kraft zu leisten ist. An eine detaillierte Er- des Entziehungsvorgangs, des Verfol- Firmeneigentum) als auch an bewegli- schließung, wie sie in manchen Projekten gungsschicksals, den Verlauf der Rücker- chem Vermögen wie Bankguthaben (Bar- zur Erschließung massenhafter Entschä- stattungsverhandlungen, die Auflistung beträge, Goldmünzen, Aktien- und Devi- digungsakten oder auch nur für Teile der Rückerstattungsberechtigten, die sendepots, Versicherungen), Edelmetalle davon praktiziert wird, war von vornherein nicht unbedingt mit den Geschädigten (Gold, Platin), Edelsteine und Schmuck- nicht zu denken. Die zu erfassenden Da- identisch waren, oder auch das Auswer- stücke (Juwelen, Perlen), Wertgegenstän- tenfelder wurden nach der Auswertung fen möglicherweise enthaltener Original- de (Kunstgegenstände, Briefmarken- mehrerer Testläufe immer weiter reduziert. unterlagen aus der NS-Zeit müssen ent- sammlungen, Uhren) und Einrichtungs- Angelehnt an die Erfahrungen aus der Er- fallen. und Gebrauchsgegenstände. Die Rücker- schließung der Spruchkammerakten im Die bis jetzt vorliegende Erfassung stattungsakten geben aber nur fallweise Staatsarchiv Ludwigsburg werden in eine hat aber gezeigt, dass mit diesen Kernan- Auskunft über das Enteignungsverfahren, 36

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Restitution hinausgehen. Migrations- geschichtlichen Quellenwert haben die Informationen über die Herkunftsorte und Wanderungswege osteuropäischer Juden, die sich vor und im Gefolge des Ersten Weltkriegs in Deutschland niedergelassen haben, und über die Situation der Überle- benden zum Zeitpunkt der Antragstellung in der neuen Heimat: in Israel, Übersee, überall in der Welt. Die räumliche Streu- ung der Flüchtlinge ist beeindruckend. Weltumspannende familiäre Netzwerke, radikal veränderte Familien- und Gemein- destrukturen, die Bindungen zu überle- benden Angehörigen und Verwandten und zur alten, ihnen fremd gewordenen Heimat werden sichtbar. Die zahlreichen genealogischen Angaben können für fa- miliengeschichtliche Recherchen nutzbar gemacht werden. Im Unterschied zu den Deportatio- nen als wesentlichem Bestandteil der Ju- denverfolgung im Dritten Reich ist der Ein Beleg für den Verlust des Familienschmucks, einem Rückerstattungsantrag der aus Komplex der Wiedergutmachung weit- Ludwigsburg emigrierten Familie Weis beigelegt. gehend unerforscht. Er ist erst in den Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL FL 300/33 I BRS 3707 zurückliegenden Jahren durch die Diskus- sion um die Entschädigung von Zwangs- die neuen Besitzer und Nutznießer oder hen zu dürfen … Herzzerreißend ist die arbeitern in das Blickfeld von Wissen- über den Verbleib des Eigentums der Mitteilung auf einer in die Schweiz ver- schaft und Öffentlichkeit geraten. Die expropriierten und ermordeten Perso- schickten Postkarte: Ich verreise nach Ludwigsburger Bestände der Schlichter nen. Theresienstadt – vielfach eine Reise in für Wiedergutmachung bieten für die wei- Beeindruckend sind die Zeugnisse den Tod. tere Beschäftigung mit dem Thema eine von Deportationsopfern, die im Besitz Anhand der Akten sind aber auch hervorragende Quellengrundlage von von überlebenden Familienmitgliedern andere Aspekte rekonstruierbar, die überregionaler Relevanz „ Elke Koch/ geblieben sind, und dem Antrag auf über den Problemkreis Verfolgung und Marionela Wolf Rückerstattung als Beweisstücke beige- legt wurden: Porträts und Familienbilder vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Personalakten und Briefe, die Aufschluss über das Schicksal der Geschädigten und Verfolgten geben. Die Schilderungen enthalten Informatio- nen über den Reise- und Fluchtweg der Betroffenen und die Umstände der Zwangsumsiedlung und Deportation. Eine Insassin des Jüdischen Wohnheims – ei- gentlich Arbeitslagers – in Dellmensingen bei Ulm beschreibt am 13. April 1942 ihre Lage wie folgt: … Du siehst schon an der Adresse, daß ich meinen Wohnsitz verän- dert habe und aufs Land in der Nähe von Ulm gezogen bin, wo ich als helfende Krankenpflegerin auf einer Siechenstation für alte Leute arbeite. Ich habe ein kleines Nordzimmerchen im Erdgeschoß zusam- men mit noch 2 jüdischen Krankenschwes- tern. Mein Dienst geht von morgens 6 bis abends 8 Uhr mit 1 stündiger Mittags- ruhe. Manchmal haben wir auch Nacht- wachen. Als Ausgehmöglichkeit steht uns nur ein großer Garten zur Verfügung. Meine Wohnungsreinrichtung mußte ich ganz verkaufen abgesehen von meinem Bett, Nachttisch, Stuhl und Schrank und einigen Koffern, die ich mitnehmen konn- te. Von Mariele und Peter kann ich leider gar nichts mehr hören. Du siehst mein Leben hat sich von Grund auf geändert Eine Innenaufnahme der Wohnung von Anna Levi in Stuttgart, Zeppelinstraße, zur aber ich will durchhalten in der Hoffnung, Dokumentation des Verlusts einer großbürgerlichen Existenz. 37 doch eines Tages meinen Peter wiederse- Vorlage: Landesarchiv Baden-Württemberg StAL FL 300/33 I BRS 4214

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Besatzungspolitik, Entnazifizierung und Wiedergutmachung in Südbaden Bedeutung und konservatorische Behandlung von Unterlagen zur NS-Zeit im Staatsarchiv Freiburg

Im Oktober 1945 brach General de war auf dem Territorium des heutigen spektiven für die Zukunft auf, indem er Gaulle zu einer Inspektionsreise durch Bundeslands Baden-Württemberg das die Hilfe Frankreichs bei der Behebung das französische Besatzungsgebiet in Gebiet südlich der Autobahn von Karls- der Kriegsschäden und beim Wiederauf- Deutschland auf, die einen doppelten ruhe nach Ulm. Diese Zonenabgrenzung bau zusicherte. Für de Gaulle war die Zweck erfüllen sollte: De Gaulle beab- teilte das vormalige Land Baden in einen Katastrophe des von Deutschland begon- sichtigte zum einen, die Besatzungsbe- nördlichen, amerikanisch besetzten, nenen Zweiten Weltkriegs vor allem der hörden an ihre Vorbildfunktion gegenüber sowie einen südlichen Teil, der unter fran- Tatsache zuzuschreiben, dass – folgt man der deutschen Bevölkerung zu erinnern, zösischer Kontrolle stand. Wohlwissend, Thomas Nicklas – der 1871 entstandene da das Bild Frankreichs im deutschen dass die ökonomische Überlebensfähig- deutsche Nationalstaat in seinen Augen Südwesten wesentlich vom Auftreten der keit des französischen Besatzungsgebiets kaum etwas anderes war, als die Ausge- Besatzungsmacht und ihrer Vertreter ge- sich bei einer Übernahme intakter Ver- burt bewaffneter preußischer Hegemonie prägt wurde. Zum anderen wollte de waltungseinheiten besser gestalten würde über die anderen deutschen Staaten. Die Gaulle auch bei der deutschen Bevölke- als bei durch artifizielle Grenzen entstan- Entpreußung des öffentlichen Lebens und rung selbst für eine Hinwendung zu denen Rumpfstaaten, gelang es de Gaulle die folgerichtige Annäherung an Frank- Frankreich werben und eine aus seiner indessen nicht, eine Vereinigung der bei- reich sollten der südwestdeutschen Sicht evidente Kongruenz der Interessen den Teile Badens herbeizuführen. Um de- Bevölkerung den Weg in eine bessere Frankreichs mit denen der südwestdeut- rentwillen wäre die französische Seite Zukunft weisen. Indessen waren die Folge- schen Bevölkerung verdeutlichen. Im auch bereit gewesen, andere Teile ihrer lasten des Zweiten Weltkriegs in Süd- April 1945 war Baden nach den Rhein- Besatzungszone den Amerikanern zu westdeutschland weder mit Gesten der übergängen der 6. Alliierten Armeegrup- überlassen. Während Nordbaden somit Annäherung noch mit der Beseitigung pe, deren Südflanke die 1. Französische als Teil des späteren Bundeslands Würt- einer tatsächlichen oder mutmaßlichen Armee unter General de Lattre de Tas- temberg-Baden in die amerikanische Be- preußischen Vorherrschaft allein zu be- signy bildete, von französischen Truppen satzungszone integriert blieb, etablierte wältigen. Die schwierigen und bisweilen besetzt worden. Nachdem es den franzö- sich ab dem Herbst 1945 das spätere langwierigen Problemkomplexe der Ver- sischen Streitkräften gelungen war, we- Bundesland (Süd-)Baden, dessen zent- folgung und Bestrafung nationalsozialisti- sentliche Teile Südwestdeutschlands rale Verwaltungseinrichtungen wie etwa scher Entscheidungsträger im Rahmen unter ihre Kontrolle zu bringen, die nach die dem Staatspräsidenten zugeordnete der Entnazifizierung und die Wiedergut- de Gaulle wertvolle Faustpfänder für eine Staatskanzlei und die einzelnen Ministerin machung nationalsozialistischen Unrechts aus seiner Sicht angemessene Partizipa- ihren Sitz in Freiburg im Breisgau hatten. sollten auch im neu entstandenen tion Frankreichs an der zukünftigen alliier- Bei seiner Tour d’Inspection traf de Bundesland (Süd-)Baden die entspre- ten Deutschlandpolitik bilden sollten, Gaulle am 4. Oktober 1945 auch in Frei- chenden Verwaltungen noch über Jahre mussten die französischen Truppen im burg ein, wo er am Abend desselben beschäftigen und einen entsprechenden Rahmen einer auf amerikanisches Betrei- Tags mit den wichtigsten Vertretern aus schriftlichen Niederschlag finden. ben hin veranlassten Abgrenzung der Be- Kirche, Verwaltung, Wirtschaft, Kunst und Die kurze Vorbereitungszeit und die satzungszonen wesentliche Teile des er- Wissenschaft zusammentraf. De Gaulle unklare Zonenabgrenzung wirkten sich in oberten Territoriums wieder räumen und enthielt sich bei seiner folgenden Rede der Anfangszeit kontraproduktiv auf die der amerikanischen Besatzungsmacht jeglicher Schuldvorwürfe gegenüber den Entnazifizierungsbemühungen in Südba- überlassen. Was den Franzosen blieb, Besiegten und wies statt dessen Per- den aus. Der französische Ansatz bemüh- te sich um eine Einbindung deutscher Kräfte im Rahmen der politischen Säube- rung, da man sich auf diese Weise eine weniger an formalen Belastungskriterien als vielmehr an der sozialen Wirklichkeit des nationalsozialistischen Staats ausge- richtete Vorgehensweise bei der Umset- zung der von den Alliierten in Potsdam geforderten Entnazifizierung versprach. Der Einfluss der so gebildeten Untersu- chungsausschüsse und Reinigungskom- missionen gelangte indessen nicht über den lokalen Rahmen hinaus. Mangelnde Koordination und eine daraus resultieren- de Uneinheitlichkeit beim Säuberungspro- zess sowie das auch in den anderen Be- satzungszonen auftretende Dilemma, zwar einerseits eine umfassende Entnazi- fizierung der Verwaltung anzustreben, an- dererseits aber bei der Administration der besetzten Gebiete und der Abwicklung der Demontagen auf politisch belastete Spezialisten aus den deutschen Appara- ten angewiesen zu sein, verurteilten die eingeleiteten Maßnahmen zum Scheitern. Das Verschnüren der einzelnen Faszikel zu Konvoluten führte bei den Wiedergut- Unter dem Zeitdruck, bis zum Ende des machungsakten nicht selten zu mechanischen Beschädigungen. Jahres 1946 ein vorgegebenes Maß an Aufnahme: Landesarchiv Baden-Württemberg StAF Verfahren zum Abschluss zu bringen, fäll- 38

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Zuständigkeiten übernahmen das baden- württembergische Justizministerium (Wiedergutmachung, Rückerstattung) und das baden-württembergische Finanzmi- nisterium (Vermögenskontrolle). Als Mittelbehörde fungierte im Regierungsbe- zirk Südbaden für die dem Justizministe- rium übertragenen Aufgaben das Landes- amt für Wiedergutmachung in Freiburg im Breisgau. Diese anfänglich selbstständige Behörde wurde – nachdem sie zuletzt nur noch als Außenstelle des Landesamts für Wiedergutmachung Karlsruhe fungierte – im Jahr 1960 aufgehoben und gab ihre Kompetenzen an das Karlsruher Landes- amt ab. Als Mittelbehörde für jene Auf- gaben, die dem Finanzministerium über- tragen worden waren, wirkte zunächst das Regierungspräsidium Freiburg: Abtei- lung II, ab 1953 die Oberfinanzdirektion Freiburg: Landesvermögens- und Bau- abteilung. Im Staatsarchiv Freiburg, das aus dem unter französischer Besatzungsherr- Das Bild zeigt die verschachtelte Struktur der Wiedergutmachungsakten vor der schaft gegründeten Landesarchivamt er- Bearbeitung; es handelt sich um einen einzigen Faszikel. wuchs und das somit selbst ein unmittel- Aufnahme: Landesarchiv Baden-Württemberg StAF bares Produkt der Nachkriegszeit dar- stellt, gehören neben den Ministerialbe- ständen des kurzlebigen Bundeslands ten die Entnazifizierungsgremien zahlrei- kammer und der Untersuchungsaus- (Süd-)Baden die schriftlichen Unterlagen che Fehlurteile, die den politischen Säu- schüsse sowie den Vollzug der Entschei- zur Entnazifizierung und zur Wiedergut- berungsprozess in Baden nachhaltig in dungen zu überwachen. Zudem spielte er machung zu den wichtigsten Bestandtei- der Bevölkerung diskreditierten. eine zentrale Rolle in Revisions- und Be- len der Überlieferung. Beide Arten von Mit der Ende 1946 vom Kontrollrat in rufungsverfahren. Die Zahl der Abteilun- Akten bilden gerade aufgrund der Kriegs- Berlin verabschiedeten Direktive Nr. 38, gen der Spruchkammer Südbaden wurde verluste bei Schriftgut, das zwischen die eine gewisse Vereinheitlichung des sukzessive reduziert, bevor mit der Grün- 1933 und 1945 entstanden ist, eine we- Entnazifizierungsprozesses in den einzel- dung des Landes Baden-Württemberg sentliche Säule für die wissenschaftliche nen Besatzungszonen anstrebte, geriet das Justizministerium in Stuttgart mit der Beschäftigung mit der nationalsozialisti- auch die politische Säuberung unter fran- endgültigen Abwicklung der Entnazifizie- schen Herrschaft. Die Entnazifizierungs- zösischer Aufsicht zunehmend in den rung betraut wurde. akten erlauben neben der Erforschung lo- Sog des von Seiten der amerikanischen Im Bereich der Wiedergutmachung kalgeschichtlicher Zusammenhänge auch Besatzungsmacht favorisierten Modells und Rückerstattung war in Baden bis Untersuchungen zur Auswirkung von Er- der Einteilung der Belasteten in Kate- 1948 zunächst das 1946 errichtete Badi- eignissen mit großer Reichweite (zum Bei- gorien und der Errichtung von Spruch- sche Landesamt für kontrollierte Vermö- spiel Reichspogromnacht) auf regionaler kammern. Durch eine Landesverordnung gen (BLKV) mit Sitz in Freiburg im Breis- Ebene, die Erstellung von Biografien pro- vom März 1947 wurde die beschriebene gau zuständig, dem die Verwaltung jüdi- minenter Entscheidungsträger des NS- Vorgehensweise schließlich auch auf schen und während der NS-Zeit als Staats sowie ganzer Gruppen von Perso- Südbaden übertragen. Der ein Jahr zuvor volks- und staatsfeindlich eingestuften nen wie etwa bestimmter Berufszweige. errichtete Politische Kontrollausschuss Vermögens sowie die Kontrolle der nach Ähnliches gilt für die schriftlichen Unterla- bei der Militärregierung wurde im Dezem- dem Gesetz Nr. 52 gesperrten und beauf- gen zur Wiedergutmachung, die neben ber 1946 durch ein Staatskommissariat sichtigten Vermögen oblag. Vollzugsorga- der Rekonstruktion der ökonomischen für politische Säuberung ersetzt. Im März ne des BLKV waren die den Finanzäm- Verhältnisse der jüdischen Bevölkerung 1947 wurde beim Staatskommissariat tern angegliederten Kreisstellen. Die Zu- vor der Enteignung sowie der entspre- eine aus mehreren Abteilungen bestehen- ständigkeit für Wiedergutmachungsfragen chenden Verfolgungsmaßnahmen im NS- de Spruchkammer errichtet, wobei jede lag zunächst bei der 1946 errichteten Ba- Staat auch Rückschlüsse auf das Emigra- Abteilung mit einem Vorsitzenden, je dischen Landesstelle für die Betreuung tionsverhalten vor allem jüdischer Bürger einem Vertreter der zugelassenen politi- der deutschen Opfer des Nationalsozia- zulassen. Nicht zuletzt sind sowohl die schen Parteien sowie der Gewerkschaf- lismus, die sich in eine Hauptstelle in Entnazifizierungs- als auch die Wieder- ten, zwei Beisitzern aus der Berufsgruppe Freiburg und acht Zweigstellen gliederte. gutmachungsakten wertvolle Quellen für des Betroffenen und einem Vertreter des Im Jahr 1948 wurde zunächst das BLKV, den Umgang der jungen Demokratie in Staatskommissariats besetzt wurde. Der ein Jahr später auch die Badische Lan- Deutschland mit der nationalsozialisti- Spruchkammer oblag es, auf der Grund- desstelle aufgehoben. Ihre Zuständigkei- schen Vergangenheit. lage des gesammelten Ermittlungsmate- ten gingen auf das Badische Ministerium Beide Arten von Akten nehmen nicht rials Entscheidungen in den von den der Finanzen über, wo sie in der Abtei- nur wegen ihres Quellenwerts, sondern Untersuchungsausschüssen auf Kreis- lung IV (Vermögenskontrolle und Wieder- auch aufgrund ihres Umfangs im Staats- ebene vorbereiteten politischen Säube- gutmachung) angesiedelt waren. Die archiv Freiburg eine besondere Position rungsverfahren zu fällen. Eine besondere kurzlebige Abteilung IV des Badischen Fi- ein: Die Einzelfallakten zur Entnazifizie- Rolle fiel dem Staatskommissar selbst zu: nanzministeriums wurde wie das gesamte rung umfassen nach ihrer im Jahr 2004 Er hatte die Organisation des Säube- Ministerium mit der Gründung des Lan- abgeschlossenen Entmetallisierung und 39 rungsprozesses, die Arbeit der Spruch- des Baden-Württemberg aufgelöst. Ihre Verpackung etwa 400 Regalmeter, die

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Einzelfallakten zur Wiedergutmachung maßen vor Beginn der konservatorischen Arbeiten in diesem Jahr etwa 260 Regal- meter. Damit machen die Akten beider Kategorien rund 4,5 Prozent der Gesamt- bestände des Staatsarchivs Freiburg aus. Sowohl die Einzelfallakten zur Entnazifi- zierung wie auch die Einzelfallakten zur Wiedergutmachung gelangten in mehre- ren Ablieferungen des Generallandesar- chivs Karlsruhe im Rahmen eines gegen- seitigen Beständeausgleichs in den 1990er Jahren ins Staatsarchiv Freiburg. Die Entnazifizierungsakten bilden in Frei- burg den Bestand D 180/2 Spruchkam- mer Südbaden. Die etwa 230 000 Akten- faszikel waren in unterschiedlicher Zahl zu Konvoluten von etwa 20 – 30 Zentime- tern Höhe zusammengeschnürt. Ein Find- mittel existiert in Form eines mehrbändi- gen alphabetischen Behördenregisters, das einen guten Zugriff auf die einzelnen Akten erlaubt, jedoch nur in analoger Form vorliegt. Ähnlich gestaltet sich die Situation hinsichtlich der etwa 20 000 Ein- Derselbe Faszikel, bestehend aus Laufzetteln, einer mehrbändigen Hauptakte, zelfallakten zur Wiedergutmachung, die in Beiakten, einer Prozess- und einer Rentenakte (vgl. Abbildung S. 39). Freiburg die Bestände F 196/1 und Aufnahme: Landesarchiv Baden-Württemberg StAF F 196/2 bilden. Während der etwa 5000 Faszikel umfassende Bestand F 196/2 im Jahr 2000 entmetallisiert, verpackt und einer entsprechenden Bearbeitung. Die kontrollen ausgezeichnet. Als Abschluss verzeichnet wurde, konnte die konserva- Chance, die sich bereits über Jahre er- dieses Projekts soll nunmehr auch die torische Behandlung für das Gros der streckenden Arbeiten nunmehr in kür- Digitalisierung der Registerbände in An- Wiedergutmachungsakten im Bestand zester Zeit mit einer schnellen Aktion griff genommen werden, um diese rasch F 196/1 (rund 15 000 Faszikel) in diesem einem Ende zuzuführen, ergab sich im im Internet einer Nutzung zuführen zu Jahr in Angriff genommen werden und Jahr 2004 durch die Aufstockung der können. wird bis zum Herbst abgeschlossen sein. Mittel im Rahmen des so genannten Lan- Die Planungen hinsichtlich einer ent- Ein adäquates Findmittel existiert nicht, desrestaurierungsprogramms. Es lag zur sprechenden Behandlung der Wiedergut- sondern lediglich Fotokopien einer von Beschleunigung des Verfahrens auf der machungsakten gestalteten sich etwas der Behörde erstellten alphabetischen Hand, mit einer möglichst großen Zahl schwieriger. Die Akten differieren hin- Kartei. von Arbeitskräften gleichzeitig zu operie- sichtlich ihres Umfangs erheblich und Der oben erwähnte Quellenwert der ren, wobei allerdings die räumlichen Ver- viele Faszikel umfassen etliche Teile, wie Unterlagen und ihre Rolle in der Gesamt- hältnisse im Staatsarchiv Freiburg und die Hauptakte, Handakte, Rentenakte und überlieferung des Staatsarchivs Freiburg Zahl des zur Verfügung stehenden Be- mehrere Prozessakten, die – in jeweils ei- legten ihre bevorzugte Behandlung hin- treuungspersonals gewisse Grenzen setz- genen Ordnern abgeheftet – von den sichtlich konservatorischer Fragen nahe; ten. Als ideale Vorgehensweise erwies einstmaligen Bearbeitern beim Landes- es war jedoch evident, dass der große sich somit der Einsatz von jeweils fünf amt für Wiedergutmachung zu ineinander Umfang der Unterlagen ein entsprechen- studentischen Kräften auf der Basis von verschachtelten und mit zahllosen Metall- des Vorgehen zu einem mutmaßlich kost- Werkverträgen. Für die eingesetzten Ar- klammern versehenen Bündeln ver- spieligen und langwierigen Unterfangen beitskräfte galt es, die stark säurehaltigen schnürt worden waren. Überdies waren werden lassen könnte. Der Zustand der Pappmappen um die Akten zu entfernen die einzelnen Faszikel noch zu Konvolu- Akten, die vielfach aus stark säurehalti- (sofern diese keine Informationen trugen), ten zusammengebunden, was Aushebun- gem Nachkriegspapier bestanden und die die Akten komplett zu entmetallisieren, gen erheblich erschwerte und zwangsläu- durch mechanische Beschädigungen be- gegebenenfalls den Ordnungszustand der fig zu mechanischen Beschädigungen reits erheblich gelitten hatten, ließ indes- Akten wiederherzustellen, die Faszikel zu- an den Akten führen musste. Auch bei sen keine andere Lösung zu als sie sammenzubinden, zu signieren und in diesem Bestand lässt die Qualität des mittels Entmetallisierung und Verpackung säurefreie Umschläge und Boxen zu ver- Papiers häufig zu wünschen übrig. Nach auf die Sicherungsverfilmung vorzuberei- packen. Die eingesetzten Kräfte wurden den sehr guten Erfahrungen mit dem ten, um sie so dauerhaft für die Nachwelt nicht nach Stunden, sondern nach Stück- Modell von Werkverträgen sollte nun sichern zu können. zahl bezahlt und legten eine entspre- auch dieser Bestand (im Rahmen des Mit der Entmetallisierung und Ver- chend große Motivation an den Tag, ihre Landesrestaurierungsprogramms 2005) packung der Entnazifizierungsakten war Arbeitspakete in möglichst kurzer Zeit ab- entsprechend bearbeitet werden, die Be- bereits vor Jahren begonnen worden, zuarbeiten. Der Betreuungsaufwand für rechnung des Arbeitspensums und des wobei die Arbeiten in der Regel von den zuständigen Referenten und für das Arbeitslohns indessen aufgrund des stark ABM-Kräften erledigt wurden. Dies führte Magazinpersonal war zwar kurzfristig unterschiedlichen Umfangs der einzelnen dazu, dass zwar Fortschritte bei der kon- hoch, jedoch auf wenige Wochen kon- Akten nicht auf der Basis der Stückzahl, servatorischen Behandlung des Bestands zentriert. Die Arbeitsgüte gestaltete sich sondern nach Regalmetern erfolgen. Zu D 180/2 sichtbar waren, sich die Arbeiten aufgrund der permanenten Ansprechbar- diesem Zweck wurde ein Probelauf mit aber durch häufige Bearbeiterwechsel in keit des Personals des Staatsarchivs Frei- einer studentischen Hilfskraft gestartet, die Länge zogen. So harrten im Jahr burg bei Zweifelsfällen und durch ein um eine verlässliche Zahl hinsichtlich 2004 noch weit mehr als 30 000 Faszikel recht engmaschiges Netz von Qualitäts- eines erreichbaren Tagessolls erzielen zu 40

Archivnachrichten Sondernummer 2005 können. Für die Abarbeitung dieser – Literatur: Baden-Württemberg (Schriftenreihe der innerhalb von acht Arbeitsstunden – er- Pädagogischen Hochschule Freiburg 1). reichbaren Zentimeterzahl erhielt jede Reinhard Grohnert: Die Entnazifizie- Freiburg 1986. S. 201– 224. studentische Kraft jeweils 64 Euro. Für rung in Baden 1945 –1949. Konzeption Stephan Molitor: Spruchkammerver- die eingesetzten Studierenden bietet das und Praxis der „Epuration“ am Beispiel fahrensakten. Überlieferung zur Entnazifi- Werkvertragsmodell vor allem den Vorteil eines Landes der französischen Besat- zierung als Quelle für die NS-Zeit. In: einer recht freien Gestaltung der Arbeits- zungszone (Veröffentlichungen der Kom- Unterlagen der Nachkriegszeit als Quellen zeit: Das festgelegte Arbeitspaket muss mission für geschichtliche Landeskunde zur Geschichte des Dritten Reichs. Vor- innerhalb eines bestimmten Zeitraums er- in Baden-Württemberg B 123). Stuttgart träge eines quellenkundlichen Kollo- ledigt werden, sodass keine Festlegung 1991. quiums im Rahmen der Heimattage der täglichen Arbeitszeit auf eine be- Martin Carl Häußermann: Quellen zur Baden-Württemberg am 13. Oktober stimmte Stundenzahl besteht. Wiedergutmachung nationalsozialisti- 2001 in Bad Rappenau. Herausgegeben So konnte mit bis zu fünf Arbeits- schen Unrechts in den baden-württem- von Nicole Bickhoff. Stuttgart 2004. kräften gleichzeitig in einem Zeitraum von bergischen Staatsarchiven. In: Unterlagen S. 7 –14. nur sieben bis acht Wochen (weniger als der Nachkriegszeit als Quellen zur Ge- Thomas Nicklas: Die Deutschland- 150 Manntage) bereits die Hälfte des Be- schichte des Dritten Reichs. Vorträge und Badenpolitik Frankreichs nach 1945. stands F 196/1 entsprechend bearbeitet eines quellenkundlichen Kolloquiums im In: (Süd-)Baden nach 1945. Eine neue werden, wobei auch in diesem Fall hin- Rahmen der Heimattage Baden-Württem- Kulturpolitik. Vorträge und Quelleneditio- sichtlich der Arbeitsgüte keine Beanstan- berg am 13. Oktober 2001 in Bad Rap- nen zum 50-jährigen Bestehen des dungen zu vermelden waren. Die zweite penau. Herausgegeben von Nicole Bick- Staatsarchivs Freiburg. Herausgegeben Hälfte der Akten wird im Lauf des Som- hoff. Stuttgart 2004. S. 15 – 24. von Joachim Fischer (Werkhefte der mers in einer ähnlichen Aktion entspre- Elmar Krautkrämer: De Gaulles Staatlichen Archivverwaltung in Baden- chend bearbeitet werden. Parallel zur deutschlandpolitische Ambitionen 1945. Württemberg A 14). S. 31– 48. konservatorischen Seite des Projekts wird In: Gelb-rot-gelbe Regierungsjahre. Badi- Paul-Ludwig Weinacht: Föderalisie- auch die Verbesserung der Recherche- sche Politik nach 1945. Gedenkschrift rungspolitik der Besatzungsmächte in möglichkeiten bei den Wiedergutma- zum 100. Geburtstag Leo Wohlebs Deutschland (1945 –1947). Warum wurde chungsakten vorangetrieben: Eine im (1888 –1955). Herausgegeben von Paul- das Land Baden nicht wiederhergestellt? Rahmen der Hartz-Reformen des Arbeits- Ludwig Weinacht. Sigmaringendorf 1988. In: Politik – Bildung – Religion. Hans markts im Staatsarchiv Freiburg tätige S. 97 –115. Maier zum 65. Geburtstag. Herausgege- Mitarbeiterin erstellt zur Zeit eine Daten- Elmar Krautkrämer: Das Kriegsende ben von Theo Stammen, Heinrich Ober- bank des unhandlichen und wenig über- in Südwestdeutschland. In: Der Oberrhein reuter und Paul Mikat. Paderborn u.a. sichtlichen Findmittels, das die Möglich- in Geschichte und Gegenwart. Von der 1996. S. 241– 259 „ Christof Strauß keit einer zukünftigen Nutzung im Internet Römerzeit bis zur Gründung des Landes eröffnet. Beide Maßnahmen – die abschlie- ßende Bearbeitung der Entnazifizierungs- akten sowie die noch andauernde Be- handlung der Wiedergutmachungsakten – tragen nicht nur dazu bei, zentrale Be- stände des Staatsarchivs Freiburg zur Geschichte der NS-Zeit auch für kom- mende Generationen dauerhaft zu erhal- ten. Der Verlauf beider Aktionen hat ebenso gezeigt, dass Inhouse-Lösungen im Rahmen von Maßnahmen zur Be- standserhaltung bei adäquater Konzep- tion und Planung hinsichtlich der Arbeits- güte und der anfallenden Kosten gegen- über anderen Lösungen absolut konkur- renzfähig sind. Die Belastungen für das Staatsarchiv Freiburg sind zwar kurzfristig hoch, allerdings ist diese Vorgehensweise erheblicher effizienter, als wenn sich der- artige Projekte mehr oder weniger quä- lend über Jahre hinziehen. Die bisherigen Projekte im Staatsarchiv Freiburg zeitigen nicht nur quantitativ gute Ergebnisse; vielmehr sorgen eine sorgfältige Perso- nalauswahl, gezielte Qualitätskontrollen, Die verschachtelte Struktur der Wiedergutmachungsakten wurde aufgelöst und die die permanente Ansprechbarkeit von Mit- einzelnen Bestandteile zu einem einzigen Aktenheft formiert, sofern der Umfang der arbeitern des Hauses für Rückfragen sei- Faszikel dies zuließ. tens der studentischen Kräfte, die Integ- Aufnahme: Landesarchiv Baden-Württemberg StAF ration von schriftlichen Handlungsanlei- tungen mit Qualitätsstandards in die Werkverträge und vor allem die exzellente Motivation des eingesetzten Personals auch für qualitative Verbesserungen bei der Behandlung historisch wertvoller Be- stände. 41

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Erstellung und Auswertung einer Zwangsarbeiter-Datenbank im Stadtarchiv Reutlingen

Dem Reutlinger Stadtarchiv sind Zwangsarbeiter rasch und effektiv beant- schungsvorhaben genutzt und in diesem 1991 vom Amt für öffentliche Ordnung/ wortet werden, vielfach auch in solchen Zusammenhang auch im Vorfeld der Ein- Abt. Ausländerangelegenheiten und vom Fällen, in denen aufgrund unvollständiger richtung des bundesrepublikanischen Amt für Wirtschaftsförderung zwei um- Angaben eine Suche in den Karteien mit Entschädigungsfonds für eine statistische fangreiche, nach Nationalitäten geordnete Sicherheit ergebnislos verlaufen wäre. Hochrechnung der noch lebenden osteu- Ausländer-Meldekarteien übergeben wor- Zum anderen boten die in den Kar- ropäischen Zwangsarbeiter beziehungs- den, deren Laufzeit sich von 1939 bis teien enthaltenen Informationen und ihre weise Anspruchsberechtigten herangezo- in die 1950er Jahre erstreckt, wobei der EDV-gestützte Erschließung eine hervor- gen. Schwerpunkt in den Kriegsjahren ragende Grundlage für eine wissenschaft- Die Datenbank war auch Ausgangs- 1939 –1945 und in der unmittelbaren liche Aufarbeitung des Zwangsarbeiter- punkt für ein weiteres Dokumentations- Nachkriegszeit liegt. Bei einer ersten Einsatzes in Reutlingen während des projekt. Im Oktober 2000 erhielt das Sichtung wurde rasch deutlich, dass es Zweiten Weltkriegs. Insbesondere die Da- Stadtarchiv vom Reutlinger Gemeinderat sich bei den registrierten Personen in den tenbank und das angeschlossene Statis- den Auftrag, den Einsatz von Zwangsar- meisten Fällen um ausländische Zwangs- tikprogramm eröffneten eine Vielfalt von beitern speziell bei der Stadt und ihren arbeiterinnen und Zwangsarbeiter han- Auswertungsmöglichkeiten und neuen Er- Einrichtungen zu untersuchen und deren delte. kenntnissen zum Beispiel über die Her- Adressen zu ermitteln. Durch zusätzliche Die eine Kartei besteht aus rund kunftsorte, zum Männer-Frauen-Anteil archivalische Recherchen, insbesondere 5000 meist maschinenschriftlich ausge- und zur Zahl der Kinder, zur Altersstruk- eine systematische Durchsicht der Besol- füllten Karten im A5-Format. Neben den tur, zur Verweildauer und Entwicklung der dungsunterlagen, konnte festgestellt wer- üblichen Melde- und Personenstandsda- Beschäftigtenzahlen während des Kriegs, den, dass mindestens 335 Zwangsarbei- ten, Angaben zu Heimatort, Beruf, Arbeit- zur Lagerbelegung, zur Verteilung der Na- ter bei der Stadtverwaltung beschäftigt geber, Unterbringung und Verweildauer tionalitäten auf Firmen und Unterkünfte waren, wobei die Arbeitskräfte zum Teil sind die Meldekarten der so genannten oder über die Zusammenhänge zwischen auch kurzfristig von Firmen für Sonder- Ostarbeiter und Polen in der Regel auch Nationalität und Unterbringungsart. Die maßnahmen wie den Bau von Luft- mit Passfoto und Fingerabdruck verse- Ergebnisse sind von Karin-Anne Böttcher, schutzstollen abgestellt worden sind. hen. Bei dieser A5-Kartei handelt es sich die auch schon die datenbankgestützte Der von Elisabeth Timm vorgelegte Ab- um die bei den örtlichen Polizeibehörden Erfassung vorgenommen hatte, in einem schlussbericht ist eine der ersten Unter- verbliebene Zweitausfertigung der im Feb- umfangreichen Beitrag in den Reutlinger suchungen zum Thema Zwangsarbeiter- ruar 1939 in Berlin eingerichteten Aus- Geschichtsblättern 1995 und in dem Aus- Einsatz bei der öffentlichen Hand. An 22 länderzentralkartei. Die andere, nicht so stellungskatalog Reutlingen 1930 –1950 noch am Leben befindliche ehemalige umfangreiche Kartei ist im A6-Format und publiziert worden. städtische Zwangsarbeiter hat die Stadt mit der städtischen Adressiermaschine Außerdem steht die Datenbank in Reutlingen daraufhin als humanitäre Hilfe (Adrema) angelegt, wobei diverse Über- einer anonymisierten, schreibgeschütz- einen Betrag von jeweils 3000 DM ausbe- schneidungen mit der A5-Kartei festzu- ten, aber mit allen Suchfunktionen ausge- zahlt und sie im Herbst 2002 zu einem stellen sind. Die Karteien sind dann spä- statteten Version für die allgemeine Be- Besuch nach Reutlingen eingeladen „ ter, als sie nicht mehr fortgeschrieben nutzung zur Verfügung. Schon mehrfach Heinz Alfred Gemeinhardt wurden, bei den zuständigen Ämtern (die wurde sie für statistisch orientierte For- eine sinnigerweise bei dem erst in den 1980er Jahren geschaffenen Amt für Wirt- schaftsförderung!) verblieben und bis zu ihrer Ablieferung an das Stadtarchiv mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Der Quellenwert dieser beiden Kar- teien lag angesichts der stark dezimierten städtischen Überlieferung und einer bis dato eher zurückhaltenden Beschäftigung der Lokalgeschichtsschreibung mit der Zeit des Nationalsozialismus auf der Hand. Das Stadtarchiv hat daraufhin 1992/93 – als eines der ersten Archive in der Bundesrepublik – sämtliche auf den Karteien enthaltene Angaben mittels eines speziell für dieses Projekt entwi- ckelten Datenbankprogramms durch eine Studentin auf Werkvertragsbasis erfassen lassen. Die Datei enthält die Namen von 4439 ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus insgesamt 20 Nationen, knapp die Hälfte davon aus der damaligen Sowjetunion und aus Polen. Eine positive Auswirkung des Pro- jekts stellte sich sofort ein: Dank der Meldekarte eines ukrainischen Zwangsarbeiters mit Foto und Fingerabdrücken. komfortablen Recherchemöglichkeiten Vorlage: Stadtarchiv Reutlingen S 100 Nr. 11. 417/17 konnten seit 1994 mehrere hundert Anfra- gen wegen Beschäftigungsnachweisen für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und 42

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Projekte des Stadtarchivs Karlsruhe – Institut für Stadtgeschichte zur NS-Zeit

Zu den Schwerpunktthemen und Die Daten – Name, Vorname sowie und Recherchen in verschiedenen priva- Daueraufgaben des Stadtarchivs Karlsru- Geburtsdatum und -ort, Schulausbildung, ten Bildarchiven und umfasst rund 1000 he gehören im Rahmen der Historischen Beruf, Karlsruher Adressen, Wege der Fotos, die bei jeder Beschäftigung mit Bildungsarbeit die Erforschung der NS- Emigration und Deportation sowie Todes- dem Dritten Reich herangezogen werden Zeit und die damit zusammenhängende datum und -ort – stammen ebenso wie können. Erinnerungsarbeit. In diesem Jahr wid- die Fotos aus den Beständen des Stadt- men sich drei Projekte, darunter ein Ko- archivs, vor allem aus der 1936 angeleg- Geschichte im Plakat. Ein Gemeinschafts- operationsprojekt mit dem Stadtarchiv ten so genannten Judenkartei sowie älte- projekt der Stadtarchive Karlsruhe und Mannheim – Institut für Stadtgeschichte, ren Rechercheunterlagen des Amts für Mannheim – Institute für Stadtgeschichte dieser Thematik. Einwohnerwesen und Statistik aus den Kommunalarchive verfügen in der 1960er Jahren und des Stadtarchivs aus Regel über umfangreiche Sammlungen, Das Gedenkbuch für die ermordeten den Jahren 1987/88. Bis Anfang 2005 darunter als besonders anschauliche Karlsruher Juden sind etwa 80 Patenschaften für Lebens- Quellen die Plakatsammlungen. Auch die Das Gedenkbuch für die ermordeten läufe von Einzelnen oder Gruppen über- Stadtarchive Karlsruhe und Mannheim – Juden ist das jüngste Projekt einer schon nommen worden. Fast 200 Personen Institute für Stadtgeschichte besitzen sol- früh begonnenen Erinnerungsarbeit und haben über 180 Biografien – zum Teil als che Plakatsammlungen, die zu vielen -kultur der Stadt Karlsruhe. Als 2001 ein Familienbiografien – erarbeitet oder stel- stadtgeschichtlichen Themen des 19. und kollektives Grabmal mit den Namen der len diese in absehbarer Zeit fertig. 20. Jahrhunderts herangezogen werden ermordeten Karlsruher Juden auf dem jü- können. Auf dieser guten Quellenbasis dischen Friedhof errichtet wurde, war Zielort Karlsruhe. Die Luftangriffe im startete deshalb im Oktober 2004 eine damit das Ziel verknüpft, wenigstens im Zweiten Weltkrieg vierteilige Ausstellungsserie Geschichte Nachhinein den Ermordeten ihre persönli- In der Reihe der Veröffentlichungen im Plakat mit dem Zeitraum 1914 –1933, che Unverwechselbarkeit wiederzugeben. des Karlsruher Stadtarchivs erschien die im November dieses Jahres mit der Aus den Nummern der Deportationslisten 1996 als Band 18 Zielort Karlsruhe. Die Zeit des Dritten Reichs fortgesetzt wird. sollten wieder Namen und Biografien Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg. Der Vorgesehen sind zwei weitere Ausstellun- werden, die von Bürgern und Bürgerinnen Band war seit mehreren Jahren vergriffen, gen zur Nachkriegszeit bis in die 1970er der Stadt erforscht und geschrieben wer- sodass er anlässlich der Ausstellung Luft- Jahre. den. Veröffentlicht werden sie als reales schutz und Luftkrieg in Karlsruhe 1933 bis Zur Vorbereitung wurden die Plakat- Buch, das mit jedem Eintrag anwächst, 1945 neu aufgelegt wurde. Die Publika- sammlungen größtenteils digitalisiert. Die recherchierbar sind sie an PCs im Stadt- tion und die Ausstellung konnten aus Digitalisate wurden in die jeweiligen Ar- archiv, im Stadtmuseum, im Pfinzgaumu- einem umfangreichen Bildbestand schöp- chivierungsprogramme, in Karlsruhe seum und in der Erinnerungsstätte für fen, der in den 1960er Jahren als Samm- AUGIASarchiv, in Mannheim in FindStar den badischen Parlamentarismus im lungsbestand angelegt wurde (Stadtar- eingebunden. In der Ausstellung, die zu- Neuen Ständehaus, die alle zum Institut chiv Karlsruhe 8/Alben 5). Er entstand nächst in Karlsruhe im Stadtmuseum, für Stadtgeschichte gehören. nach einem Aufruf an die Bevölkerung dann in Mannheim im Stadthaus N1 ge- zeigt wurde, waren ausschließlich Repro- duktionen, die von diesen Digitalisaten hergestellt wurden, zu sehen. Dieses Projekt ist einerseits ein Beleg dafür, wie historische Bildungsar- beit und die Erschließung und Nutzbar- machung der Bestände sich wechselsei- tig ergänzen. Andererseits wird mit dieser Kooperation in einer Zeit begrenzter fi- nanzieller Ressourcen auch ein beacht- licher Synergieeffekt erzielt. Die beiden Stadtarchive – Institute für Stadtge- schichte sind in ihren Städten zentrale Dienstleister für die Vermittlung stadtge- schichtlicher Themen. Sie archivieren als Gedächtnis der Stadt die stadtgeschicht- lichen Quellen, sie stellen sie interessier- ten Bürgerinnen und Bürgern mit mo- dernster Technik zur Verfügung und sie leisten unter anderem durch Ausstellun- gen, Vorträge und Publikationen einen wichtigen Beitrag zur Identitätsstiftung „ Ernst Otto Bräunche

Die Ausstellung „Geschichte im Plakat“ wurde auch im Mannheimer Stadthaus N 1 gezeigt. Aufnahme: Stadtarchiv Mannheim 43

Archivnachrichten Sondernummer 2005 Prinz Max Karl zu Hohenlohe-Langenburg, am 27. Juli 1943 in Stuttgart hingerichtet

Eine unangenehm berührende Anfra- aktiv wurde er im Kreis deutscher Emi- Volk gegeben hat. Er wird deshalb mit ge erreichte vor einigen Jahren das Ho- granten in Paris, und er prangerte schon dem Tode bestraft. Am 27. Juli 1943 wurde henlohe-Zentralarchiv Neuenstein. Die 1933 publizistisch die Unmenschlichkeit Prinz Max Karl im Stuttgarter Gefängnis Heidelberger Anatomie hatte in den des Nationalsozialismus an. Engagiert hingerichtet. 1940er Jahren mehrere Leichen von in bekämpfte er von Frankreich aus die Das Hohenlohe-Zentralarchiv ver- Stuttgart Hingerichteten zu Forschungs- Rückgliederung des Saarlands ins Reich. wahrt unter der Signatur La 147 einen zwecken erhalten. Nach dem Ende der Deswegen wurde ihm 1934 die deutsche kleinen Nachlass von Max Karl zu Hohen- NS-Zeit bestattete man die Leichen oder Staatsbürgerschaft aberkannt. Auch in lohe-Langenburg. Die 0,4 Regalmeter deren Überreste anonym. Zum besonde- Frankreich war sein dauernder Aufenthalt umfassenden Unterlagen stammen aus ren Gedenken wollte die Stadt Heidelberg wenig gelitten, sodass sich der Prinz der Zeit zwischen 1919 und 1924, da- nun eine Granitstele errichten, welche die schließlich für die französische Fremden- nach verliert sich die Spur. Viele Unterla- Namen und wichtigsten Lebensdaten die- legion verpflichtete. Nach Abschluss des gen sind verloren gegangen oder gar ser Opfer des NS-Regimes aufnehmen deutsch-französischen Waffenstillstands nicht erst aufgehoben worden. Aber die sollte. Noch vorhandenen Unterlagen war intendierte Max Karl allzu leichtsinnig die wenigen überlieferten halten Lebensspu- zu entnehmen, dass sich unter ihnen ein Rückkehr nach Deutschland, wurde dabei ren des Langenburgers mit interessanten Prinz Max von Hohenlohe-Langenburg aber den deutschen Behörden überstellt Quellen fest. Einige Dokumente zum befand. Die Stadtverwaltung bat um Er- und in verschiedenen Lagern festgehalten, äußeren Leben sind darunter. Wertvoller mittlung der Lebensdaten, damit ein Text bis er schließlich im Gerichtsgefängnis noch sind die Tagebücher, Gedichte und für die Granitstele verfasst werden könne. Karlsruhe in Schutzhaft genommen wurde. sonstigen Texte des Prinzen, die sein in- Anhand der einschlägigen Hilfsmittel Man bezichtigte ihn ohne Nachweis der neres Leben widerspiegeln. Das Tage- ließen sich die gewünschten Informatio- Spionage, warf ihm seine Kontakte zu den buch von 1919 (Bü. 9) enthält zum 4. Juni nen im Hohenlohe-Zentralarchiv rasch er- deutschen Emigranten vor und deutete den Satz Wir bewundern in der Malerei mitteln. Gemeint war Prinz Max Karl, der seine publizistischen Äußerungen gegen und allen darstellenden Künsten die Be- der Linie Rothenhaus angehörte, einer den Nationalsozialismus als Landesverrat. gabung des Menschen, welcher uns je böhmischen Seitenlinie des Hauses Am 12. Dezember 1942 verurteilte ihn der nach seiner innerlichen Tiefe die Natur zu Hohenlohe-Langenburg. Er wurde am Volksgerichtshof unter Vorsitz von Freisler offenbaren sucht. Er dürfte für das Le- 21. Juli 1901 in Toblach (Südtirol) geboren. zum Tod. Die Begründung lautete: Der bensverständnis Max Karls und seinen Anfang der 1920er Jahre begann er eine Angeklagte hat organisatorisch und durch beruflichen Werdegang maßgeblich ge- Ausbildung an der staatlichen Kunstge- öffentliche Hetzschriften und schwere Ver- wesen sein. Einige Zeichnungen, eher werbeschule in München und ergriff das leumdung des Führers und des deutschen Skizzen, und die frühe Korrespondenz mit Leben eines Künstlers und Schriftstellers, Volkes im Ausland und im Reich selbst Verwandten und anderen lassen die Le- der oft auf die finanzielle Unterstützung jahrelang als Emigrant Hochverrat gegen benssituation des angehenden Künstlers seiner Familie angewiesen war. In den das Deutsche Reich vorbereitet, um die konkret werden. In allen diesen Unterla- 1930er Jahren hielt er sich im Ausland auf nationalsozialistische Lebens- und Füh- gen manifestiert sich auf vielfältige Weise und wirkte als Reiseschriftsteller. Politisch rungsart zu stürzen, die sich das deutsche das Empfinden und Denken des heran- wachsenden Prinzen. Nicht allein die inzwischen fertig ge- stellte Stele auf dem Heidelberger Berg- friedhof, auch der kleine Nachlass im Ho- henlohe-Zentralarchiv hält die Erinnerung an den Hohenlohe wach, der im jungen Alter Opfer der NS-Justiz wurde „ Peter Schiffer

Landesarchiv Baden-Württemberg, Eugenstraße 7, 70182 Stuttgart, Telefon (07 11) 2 12-4273, Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Heidelberger Bergfriedhof Telefax (07 11) 2 12-42 83. mit der Stele von 2001, der anonymen Tafel von 1950, dem 2001 ergänzten Namens- Redaktion: Dr. Nicole Bickhoff schild und einer französischen Erinnerungstafel für Opfer des Nationalsozialismus Gestaltung: Luise Pfeifle (von links nach rechts). Druck: Offizin Chr. Scheufele, Stuttgart Aufnahme: Astrid Grail, Gundelsheim Das Heft wird kostenlos abgegeben. 44

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