Fachwissenschaft Geschichte
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1. Geschichte als Wissenschaft 1.1 Was ist Geschichte? Geschichte als Wissenschaft vom Geschehen 1.1.1 Zweck der Geschichtswissenschaft Droysen „Natur und Geschichte sind die weitesten Begriffe, unter denen der menschliche Geist die Welt der Erscheinungen fasst. Und er fasst sie so den Anschauungen Raum und Zeit gemäß, die sich ihm ergeben, wenn er sich die rastlose Bewegung der wechselnden Er- scheinungen nach seiner Art zerlegt, um sie zu erfassen“,schreibt Johann Gustav Droysen (1808-1884) in seinem „Grundriss der Historik“. Huizinga, Bloch Geschichte ist demnach die von der Zeit und dem Raum des Betrachters abhängige, d. h. standortgebundene Wissenschaft vom vergangenen Geschehen und seine Darstel- lung. Droysen stellte den Menschen in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung, indem er erklärte: „Die Geschichte ist das Wissen der Menschheit von sich, ihre Selbst- gewissheit“ (Systematik § 86). Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) verstand Geschichte als „geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt“. Der französische Historiker Marc Bloch (1886-1944) definierte als Gegenstandsbereich der Geschichte die Aktivitäten der Menschen, und zwar ausdrücklich der Menschen im Plural; der Plural entspreche eher „einer Wissen- schaft, die es mit Unterschiedlichem zu tun hat“: Der gute Historiker suche „stets die Menschen zu erfassen“, er gleiche sozusagen „dem Menschenfresser der Legende. Wo er menschliches Fleisch wittert, weiß er seine Beute nicht weit.“ Der Begriff und Geschichte hat mit Erinnern und Vergessen zu tun. Das Vergessene zu heben, um seine Herleitung zur reflektierten Erinnerung beizutragen, ist die Aufgabe des Historikers. Der Begriff „Geschichte“ leitet sich ab vom althochdeutschen scehan (geschehen) und bezeichnet im Mittelhochdeutschen als gisciht bzw. im Frühneuhochdeutschen geschicht (Singular Neut- rum) bzw. geschichte ursprünglich „Ereignis“, „Begebenheit“, „Tat“ oder „Werk“ bzw. eine „Folge von Ereignissen“ oder die „Erzählung von Geschehnissen“. Das Lehnwort „Historie“ lässt sich auf das lateinische Wort historia zurückführen. Bis in das 18. Jahrhundert hatten „Geschichte“ und „Historie“ unterschiedliche Bedeutungen. Während man unter „Geschichte“ den Ereignis- und Handlungsbereich verstand, mein- te „Historie“ die Kunde bzw. die Erzählung von Ereignissen oder Handlungen. Seit dem 16. Jahrhundert wurde die Bedeutung von „Historie“ zunehmend auf „Geschichte“ übertragen, das nun Ereigniszusammenhang wie Erzählung bedeuten kann. In der zwei- ten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdrängte der Begriff „Geschichte“ den Begriff „Histo- rie“ und schließt die Geschichtswissenschaft mit ein. Der moderne Kollektivsingular „Geschichte“ bezeichnet mehrere Sachverhalte oder Ebenen, die zwar in enger Bezie- Stuttgart Kohlhammer, W. 2011 © Was ist Geschichte? 11 hung zueinander stehen, aber nicht deckungsgleich sind. Mit dem „gewesenen Gesche- hen“ ist der Ereignis- und Handlungsbereich als Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung gemeint. Dagegen ist die „Wissenschaft vom Geschehen als Beschäftigung oder Umgang mit dem gewesenen Geschehen“ ein theoretischer, formaler Begriff. Als „Darstellung vom Geschehen“ ist die Geschichte das rekonstruierte und vielfältige Pro- dukt der Beschäftigung mit dem gewesenen Geschehen. Dabei erhellt die Rekonstruktion der Vergangenheit zugleich die aus ihr gewordene Geschichte als Gegenwart und ermöglicht einen Blick in die dann nur noch bedingt offene Zukunft. Erfahrungs- Geschichte wird damit zur Erfahrungswissenschaft. Dieser Ansatz ist insbesondere für wissenschaft die gesellschaftliche Bedeutung des historischen Lernens wichtig. Historisches Lernen hat somit eine Sozialisationsfunktion, indem es jeweils die nachwachsende Generation befähigen soll, sich in der gegenwärtigen und künftigen Gesellschaft zurechtzufinden. Geschichte als Geisteswissenschaft unterscheidet sich vom Ansatz her grundlegend Geschichte als von den Naturwissenschaften, wie der Philosoph Wilhelm Windelband (1848-1915) Geisteswisseschaft betonte. Denn während die Naturwissenschaften ihre Erkenntnisse aus Gesetzen ablei- ten, also „nomothetisch“ verfahren, arbeiten die Geisteswissenschaften „idiographisch“, indem sie einzelne Phänomene beschreiben. Grundlage ist die hermeneutische Metho- de, die ausgehend von einer historischen Frage durch das Auffinden und die Interpreta- tion von Quellen zu Erkenntnissen gelangt, um so Aussagen über die Geschichte ma- chen zu können (quellenkritischer Ansatz). Diese ureigene geisteswissenschaftliche Me- thode wurde in Deutschland von den Historikern Leopold von Ranke (1795-1886), Johann Gustay Droysen (1808-1884, s. auch oben), Theodor Mommsen (1817-1903) und in der Schweiz von Jacob Burckhardt (1818-1897) entwickelt. Nach Leopold von Ranke (1795-1886) hat der Historiker die Aufgabe, die Geschich- Ranke te wahrheitsgemäß zu rekonstruieren: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nut- zen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen ist.“ Rankes Geschichtsbild ruhte auf einem religiösen, lutherisch und neuhumanistisch geprägten Fundament. Dieses zeichnete sich dadurch aus, dass sich alle menschlichen Handlungen in einen göttlichen Kosmos einfügten, der „sinnerfüllt“ sei und letztlich von Gott ge- lenkt werde. Dass Geschichte einen Sinn habe, unterscheidet Rankes Geschichtsbild von Vorstellungen, die den Geschichtsablauf als ein sinnloses, chaotisches Nach- und Nebeneinander verstehen. Aus der Sinnhaftigkeit der Geschichte folgte Rankes „me- thodologischer Kerngedanke“: Da jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ sei, herrsche letztlich „historische Gerechtigkeit“. Zugleich war Rankes Vorstellung von Geschichte eindeutig auf das Abendland fixiert. Rankes „Geschichtstheologie begründete das abendländische Ideal der Objektivität, das er erstmals in der Vorrede zu den ‚Geschich- ten der romanischen und germanischen Völker‘ klassisch formulierte.“ Ranke gab von 1883 bis 1886 die bis heute erscheinende Historische Zeitschrift her- aus (HZ, vgl. auch Kap. 3.2.4). Er zählt zu den „Klassikern der deutschen Geschichts- schreibung“ und hat bedeutende Schüler hervorgebracht (Heinrich von Sybel, Jacob Burckhardt, Carl von Noorden, Wilhelm Maurenbrecher). Sein historiographisches Werk beeinflusste die Entwicklung der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Stuttgart Kohlhammer, W. 2011 © 12 Geschichte als Wissenschaft Literatur: Siegfried BAUER: Versuch über die Historik des jungen Ranke, Berlin 1998; Helmut BERDING, Leopold von Ranke, in: Hans-Ulrich WEHLER (Hg.), Deutsche Historiker, Göttin- gen 1973, S. 7-24; Marc BLOCH, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 1974, S. 43; Egon BOSHOF, Kurt DÜWELL, Hans KLOFT, Geschichte. Grundlagen des Studiums, eine Einführung, Köln, Weimar, Wien 51997, S. 4; – für terminologische Fragen unentbehrlich: Otto BRUNNER, Werner CONZE, Reinhard KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997, im Bd. 2, 1975, insbes. Artikel „Geschichte, Historie“, S. 593-716; Johann Gustav DROYSEN, Grundriss der Historik, Leipzig 31882, I, § 1; Wolfgang HARDTWIG, Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 43; Wolfgang J. MOMMSEN (Hg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988; Leopold von RANKE, Sämtliche Werke Bd. 33/34, Leipzig 1885, S. 7; Theodor SCHIEDER, Die deutsche Geschich- te im Spiegel der Historischen Zeitschrift 189 (1959), S. 2; Martin WAHLER, Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988; Wilhelm WINDELBAND, Geschichte und Naturwissenschaft, Straßburg 1894. 1.1.2 Von der Heuristik bis zu den „Annales“ Droysens Heuristik Johann Gustav Droysen, zunächst Gymnasiallehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin (1829), dann Professor an den Universitäten Kiel (seit 1840), Jena (seit 1851) und Berlin (seit 1859), überdachte in seinem Werk „Grundriss der Historik“ 1868 die historische Methode grundlegend und gilt als Richtung weisend für die moderne Ge- schichtswissenschaft. Es ging ihm nicht um die Rekonstruktion der „historischen Wirk- lichkeit“ (vgl. Ranke), sondern um die Feststellung der Bedingtheit historischer Er- kenntnis, um die Zeit- und Standortgebundenheit der historischen Methode. In den Mittelpunkt stellte Droysen die „Heuristik“, die in den Geisteswissenschaften aus dem Dreischritt „Historische Frage“, „Historische Analyse“ und „Historische Deutung“ be- steht und aus den Quellen, die in „Überreste“ und „Quellen“ (von Ahasver von Brandt später „Tradition“ genannt, vgl. unten Kap. 4.1.3) geschieden werden, zu Erkenntnissen gelangt: „§ 20. Der Ausgangspunkt des Forschens ist die historische Frage (§ 19). Die Heuristik schafft uns die Materialien zur historischen Arbeit herbei; sie ist die Bergmannskunst, zu finden und ans Licht zu holen, ‚die Arbeit unter der Erde‘ (Niebuhr). § 21. Historisches Material ist teils, was aus jenen Gegenwarten, deren Verständnis wir su- chen, noch unmittelbar vorhanden ist (Überreste), teils was von denselben in die Vorstellung der Menschen übergegangen und zum Zweck der Erinnerung überliefert ist (Quellen), teils Dinge, in denen sich beide Formen verbinden (Denkmäler). § 22. In der Fülle der Überreste kann man unterscheiden: a) Werke menschlicher Form- gebung (künstlerische, technische usw., Wege, Feldfluren usw.); b) Zustände sittlicher Ge-