NR. 18 APRIL 2019 Einleitung

Israel vor wegweisenden Wahlen Eine neue Rechtsregierung könnte den Staat grundlegend verändern Peter Lintl

Das Ergebnis der für April 2019 angesetzten Parlamentswahlen in könnte den Charakter des Staates nachhaltig prägen. Das gilt für sein demokratisches Selbst- verständnis ebenso wie für die Politik gegenüber den Palästinensern. Die Parteien am rechten Rand sind erstarkt, und im rechten Lager werden Positionen vertreten, die lange als randständig galten. Zentrale Wahlkampfthemen der Rechten sind nun die (Teil-)Annexion des Westjordanlandes und eine weitgehende Einschränkung der Arbeit des Obersten Gerichtshofs. Ministerpräsident steht diesen Ent- wicklungen nicht unkritisch gegenüber. Weil ihm aber eine Anklage wegen Korrup- tion droht, ist er politisch nur eingeschränkt manövrierfähig. Er könnte einem Straf- prozess entgehen, wenn ihm das Parlament Immunität gewährt. Dafür ist der Premier auf die Stimmen der rechten Parteien angewiesen. Sein Herausforderer wirbt hingegen für eine Regierung, die Rechtsstaatlichkeit und nationale Einheit in den Mittelpunkt stellt. Drei Szenarien für die Zeit nach der Wahl sind denkbar. Eher unwahrscheinlich wäre dabei ein Sieg des Mitte-Links-Lagers. Ein Mitte-Rechts-Bünd- nis wäre durch die mögliche Anklage gegen Netanyahu belastet. Bildet sich eine reine Rechtskoalition, könnten eine Annexion des Westjordanlandes und eine gravierende Schwächung der Prinzipien liberaler Demokratie die Folge sein.

Vier Jahre Koalition der Rechtsparteien in glaubt eine knappe Mehrheit israelischer Israel haben ein ambivalentes Bild in der Bürger (53 Prozent) zum ersten Mal seit Gesellschaft des Landes hinterlassen: Einer- Beginn der Datenerhebung zu dieser Frage seits bekommt der amtierende Premier Ben- 2003, dass die Gesamtsituation Israels gut jamin Netanyahu von einer Mehrheit der oder sehr gut ist. Andererseits ist die poli- Israelis gute Noten für seine Wirtschafts- tische Polarisierung innerhalb der Gesell- sowie seine Außen- und Sicherheitspolitik, schaft stärker denn je. Erstmalig wird die zumindest was Syrien und den Iran betrifft. Konfrontation zwischen dem linken und Selbst die linksliberale Zeitung dem rechten politischen Lager als größte attestiert ihm eine weitsichtige und richtige gesellschaftliche Spannungslage angesehen Syrienpolitik. Eine Ausnahme ist seine und hat damit die Auseinandersetzung Politik gegenüber dem Gazastreifen, mit der zwischen Arabern und Juden von diesem 74 Prozent unzufrieden waren. Weiterhin Platz verdrängt. Gespalten sind die beiden

Lager auch in der Frage, ob die israelische zwei weitere ehemalige Generalstabschefs Demokratie in ernster Gefahr oder auf gewinnen konnte, Gabi Ashkenazi und einem guten Weg ist. Diese Polarisierung Moshe Ya’alon. nimmt durch den Wahlkampf weiter zu. Auf der anderen Seite verlieren etablierte Aus dem Mitte-Links-Lager wird der rechten Parteien wie die Arbeitspartei dramatisch Regierung vorgeworfen, sie wolle die Prin- an Rückhalt. Andere wie unter der zipien liberaler Demokratie unterminieren. einstigen Justiz- und Außenministerin Tzipi Aus dem rechten Lager wird beklagt, alte Livni ziehen sich zurück. Dagegen haben linke Seilschaften hätten einen »tiefen Staat« Parteien wie , die vorher eine Rand- geschaffen, der auf undemokratischem existenz fristeten, plötzlich Aussichten, die Wege einen Machtwechsel herbeiführen 3,25-Prozent-Hürde zu überwinden. wolle. Zutreffend heißt es im Israeli Demo- Daher ist die bevorstehende Wahl alles cracy Index, Israel ordne sich damit in eine andere als übersichtlich: Insgesamt treten Reihe westlicher Staaten ein, deren Gesell- 14 Parteien oder gemeinsame Listen an, die schaft eine Polarisierung erfahre, die oft laut Umfragen realistische Chancen auf unter dem Sammelbegriff »Krise der libera- den Einzug in die haben. Fünf davon len Demokratie« firmiere. (Gesher, Zehut, Yisrael Beitenu, , Ram-Balad) liegen in den Umfragen mal über, mal unter der 3,25-Prozent-Hürde, Neue Parteien, alte Blöcke wenigstens zwei weitere ( und ) sind zwar stabil, aber nur knapp darüber. Als Folge der Grabenkämpfe sind im Wahl- Die Koalitionsmöglichkeiten nach der Wahl kampf 2019 Brüche alter Fraktionsgemein- und die Balance zwischen den Blöcken wer- schaften, neue Allianzen und Parteigrün- den wesentlich davon abhängen, welche dungen zu beobachten. Aussichtsreich ist dieser Parteien ins Parlament gelangen. hier vor allem das neue Parteienbündnis Grundsätzlich bleibt Israel jedoch auch Kahol Lavan, das aus Yesh , der Ende parteipolitisch in einen Mitte-Links-arabi- 2018 ins Leben gerufenen Hosen L’Israel schen Block und einen rechts-ultraortho- und der Kleinstpartei Telem besteht. Dieses doxen Block gespalten. Bündnis der politischen Mitte ist in den Zu ersterem zählen die Parteien - meisten Umfragen stärkste Kraft vor dem Ta’al, Ram-Balad, Meretz, die Arbeitspartei, . Großen Anteil daran hat ihr Spitzen- Kahol Lavan, Gesher und Kulanu (obwohl kandidat Benny Gantz. Als erster Gegen- diese als Mitte-Rechts-Partei Teil der aktuel- kandidat seit vielen Wahlen verfügt der len Regierungskoalition ist). Zu letzterem ehemalige Generalstabschef der israeli- gehören die ultraorthodoxen Parteien Ver- schen Armee über ähnlich gute Umfrage- einigtes Thorajudentum und Shas sowie werte wie Premier Netanyahu. Sicherheit ist der Likud, Yisrael Beitenu, die Neue Rechte, in Israel das alles überschattende Thema Zehut und die Vereinigung der Rechten bei jeder Wahl. Kandidaten, denen es an Parteien. Glaubwürdigkeit in diesem Bereich man- gelt, haben de facto keine Chance. Die Premierminister, die gegen den Likud seit Themen der Wahl Anfang der 1990er Jahre eine Wahl gewan- nen – Yitzhak Rabin, Ehud Barak und Die Opposition setzt ihren Schwerpunkt im Ariel Sharon –, waren ausnahmslos hoch- Wahlkampf vor allem darauf, Netanyahu rangige Militärs. Von daher spielt Gantz’ abzuwählen. Das ist auch das einigende militärische Karriere nicht die einzig aus- Band des ansonsten recht heterogenen Bünd- schlaggebende, aber eine zentrale Rolle bei nisses Kahol Lavan. Inhaltlich konzentriert Umfragen zur Befähigung für das Amt des die Opposition sich im Wahlkampf in erster Premiers. Gestärkt wird seine Position noch Linie auf Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, dadurch, dass er für das Parteienbündnis moralische Integrität und die Frage, in

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Parlamentswahl in Israel 2019

Quelle: , Daten vom 1.3.–2.4.2019.

welchem Stil das Land regiert werden soll. rechten Lagers – auch in Bezug auf den Benny Gantz hat dies auf die Formel »Mem- Friedensprozess. Anders als der Premier shala Mamlachtit« gegenüber »Memshala verlangt Gantz, man solle sich wieder um Malchutit« gebracht. Sinngemäß bedeutet einen Friedensprozess bemühen, spricht das die Wahl zwischen einer staatstragen- aber nicht von einem palästinensischen den, inklusiven Regierung und einer Regie- Staat oder der Zweistaatenlösung. Statt- rung, die den Staat wie ein »Königreich« dessen bekräftigt er, Israel werde sich nicht führt sowie persönliche und partikulare aus den Siedlungsblöcken, dem Golan oder Interessen über Allgemeinwohl und Rechts- Ostjerusalem zurückziehen, und beklagt, staat stellt. Damit nimmt Gantz Bezug auf es gebe keinen Partner auf der anderen die polarisierende Haltung der Regierung, Seite. Diese Unklarheit ist generell ein Pro- verbale Angriffe auf staatliche Einrichtun- blem des politischen Zentrums: Laut einer gen und den Obersten Gerichtshof sowie Umfrage des Israel Democracy Institute die Anklage, die Netanyahu wegen Bestech- sagen sogar Wähler, die sich selbst im Zen- lichkeit droht. trum verorten, es sei nicht eindeutig, wofür Darüber hinaus bleibt die inhaltliche Parteien der politischen Mitte genau stehen. Auseinandersetzung zwischen Gantz und Die Arbeitspartei sucht eine neue Rolle, Netanyahu relativ vage. Im Hinblick auf nachdem sich die Zahl ihrer Mandate wahr- Iran und Syrien divergieren ihre Positionen scheinlich halbieren wird. Im Wahlkampf kaum. Was die Politik gegenüber dem Gaza- positioniert sie sich links und behauptet, streifen betrifft, wirft Gantz Netanyahu ohne eine starke Arbeitspartei werde Gantz zwar Versagen vor, lässt aber im Unklaren, ein Bündnis mit dem Likud eingehen. wie er selbst vorgehen würde. In einem der Zusammen mit Meretz und Hadash-Ta’al ersten Wahlwerbespots wurde Gantz sogar bildet die Arbeitspartei den kleinen Rest als Hardliner porträtiert: Gezeigt wurde der Parteien, die noch explizit für eine ein zerstörtes Gaza nach den kriegerischen Zweistaatenlösung eintreten. Auseinandersetzungen 2014. Als einer der In den Reihen der arabischen Parteien Erfolge wurde »1364 getötete Terroristen« hat sich die Vereinte Liste in zwei neue genannt. Marginal sind die Differenzen – Listen aufgespalten, sie sich über die zu Netanyahu selbst, weniger zum Rest des Mandatsverteilung und grundsätzlichere

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3 Punkte nicht einig war: Während Ram- die nach rechts offen ist: Seit der letzten Balad eine Kooperation mit zionistischen Legislaturperiode hat sich eine Debatte Parteien weiterhin kategorisch ablehnt, will innerhalb der Koalition und besonders Hadash-Ta’al einen pragmatischeren Weg zwischen Likud und Jüdischem Heim ent- gehen und unter bestimmten Umständen wickelt, wer »authentischer« rechte Posi- eine Mitte-Links-Koalition unterstützen. tionen vertritt. Diese Dynamik hat den Diskurs innerhalb des rechten politischen Lagers noch mehr vom Zentrum entfernt. Die Rechte im Wahlkampf Das heißt, die eigentlichen Neuerungen im Zuge dieser Wahlen finden im rechten Netanyahu präsentiert sich im Wahlkampf politischen Lager statt, das immer weiter als kompetenter Außenpolitiker, der mit nach rechts rückt. den Führern der Großmächte dieser Welt auf Augenhöhe diskutiert. Die Anerken- Parteipolitischer Rechtsruck nung der israelischen Annexion der Golan- höhen durch die USA zwei Wochen vor der Festzuhalten ist, dass im Parteienspektrum Wahl kommt ihm dabei zupass und kann der rechte Rand auf Kosten der moderaten durchaus als Wahlkampfgeschenk an ihn Rechten gestärkt wurde. Das ging vor allem verstanden werden. Ansonsten setzt er stark zu Lasten der Mitte-Rechts-Partei Kulanu. auf die Botschaft, nur eine von ihm geführ- Verfügt sie in der derzeitigen Knesset noch te rechte Regierung könne die physische über zehn Sitze, ist mittlerweile ungewiss, Sicherheit und den jüdischen Charakter ob sie wieder ins Parlament einziehen wird. Israels garantieren. Dies wird ständig in Zu beobachten ist eine parteipolitische Dif- kurzen, einprägsamen Wahlkampfslogans ferenzierung und ein Erstarken der Parteien verbreitet, in denen vor der militärisch am rechten Rand. Wurde dieser vorher »schwachen« Linken und einem Erstarken allein durch die Partei Jüdisches Heim ver- der arabischen Parteien gewarnt wird. »Bibi treten, sind es jetzt drei Parteien mit guten oder Tibi« (Ahmad Tibi ist Ko-Vorsitzender Aussichten auf Einzug in die Knesset: die der arabischen Partei Hadash-Ta’al) und Neue Rechte, die Vereinigung der Rechten »Gantz ist links. Die Linke ist schwach« Parteien und Zehut. lauten die bekanntesten Parolen. Diese Aus- Die Neue Rechte ist eine Ausgründung drucksweise ist tonangebend in der israe- aus dem Jüdischen Heim. Mit diesem lischen Rechten geworden, seit Netanyahu Schritt hatten sich die Parteispitzen Naftali im Wahlkampf 2015 eine populistische Bennett und erhofft, ihre Wende vollzogen hat. Im Angesicht einer Wählerbasis über das nationalreligiöse Lager drohenden Wahlniederlage mobilisierte hinaus auf die säkulare Rechte auszudeh- er damals noch am Wahltag seine Unter- nen. Daraufhin schlossen sich die verbliebe- stützer, als er behauptete, die Araber nen Knessetmitglieder des Jüdischen Heims würden in Scharen wählen und von den mit zur Vereinigung der Linken mit Bussen zu den Wahlurnen Rechten Parteien zusammen. Bemerkens- gebracht. Mit dieser Äußerung und weite- wert daran ist, dass Otzma Yehudit eine ren im Verlauf des damaligen Wahlkamp- Nachfolgepartei der 1988 wegen Rassismus fes bezichtigte er die arabische Minderheit aus der Knesset ausgeschlossenen Partei implizit, als »fünfte Kolonne« zu agieren, ist. Sie vertritt einen jüdischen Supre- und brachte sie unmittelbar in Zusammen- matismus und offenen Rassismus. Otzma hang mit dem israelisch-arabischen Kon- Yehudit verlangt, das gesamte Westjordan- flikt nach dem Motto: Eine Stimme für die land zu annektieren, alle dem Staat gegen- Linke ist eine Stimme für die Feinde des über illoyalen Palästinenser bzw. Araber Staates. (nach ihrer Aussage 99 Prozent) auszuwei- Damit hat er aber auch eine Dynamik in sen, den Dritten Tempel auf dem Tempel- Gang gesetzt (siehe SWP-Aktuell 60/2016), berg wiederaufzubauen und die Moscheen

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4 dort abzureißen. Ferner kündigt sie in ihrem als vollkommen verrückt angesehen. Wir Wahlprogramm einen »totalen Krieg« gegen haben das in den letzten Jahren in ein die Feinde Israels an. Mainstreamthema verwandelt.« Ein Blick Die dritte Partei am rechten Rand, die auf die parteipolitische Landschaft bestätigt sich Hoffnungen auf einen Einzug in die das: Die drei Parteien vom rechten Rand, Knesset machen kann, ist Moshe Feiglins also Neue Rechte, Vereinigung der Rechten Zehut. Sie ist eine Partei der Extreme: Einer- Parteien und Zehut, haben in ihren Pro- seits vertritt sie einen äußerst libertären grammen die (Teil-)Annexion des West- Standpunkt, nach dem der Staat das Leben jordanlandes fest verankert. Auch der Likud der Bürger so wenig wie möglich reglemen- spricht sich dafür aus, obwohl sich Netan- tieren soll. Unter anderem verspricht sie im yahu selbst aus diplomatischen Gründen Wahlkampf, Marihuana zu legalisieren, dagegen wendet. Diese Streitfrage ist der womit sie anscheinend auch für die Mitte- Grund dafür, dass es seit 2009 kein aktuel- Links-Wählerschaft attraktiv ist. Anderer- les Parteiprogramm des Likud mehr gibt. seits steht Feiglin weit rechts, wenn es um Allerdings befürworten 28 der 30 Knesset- den Konflikt mit den Palästinensern geht: abgeordneten des Likud (bis auf Tzachi Laut Parteiprogramm soll das ganze West- Hanegbi und Netanyahu) eine Annexion jordanland annektiert und eine »jüdische von Teilen oder des ganzen Westjordan- Synagoge« (eine Metapher für den Tempel) landes. Erst kürzlich hat die Lobbygruppe auf dem Tempelberg wiedererrichtet wer- Ribonut (Souveränität) ein Video veröffent- den; außerdem sollen die in Gaza und im licht, in dem zahlreiche Knessetabgeordne- Westjordanland lebenden Palästinenser te vor allem der Parteien Likud, Jüdisches in arabische Nachbarländer ziehen. Nach Heim und Neue Rechte ihre Unterstützung Feiglin selbst steht die Partei den Positionen für Annexionen aussprechen. Die ultra- von Otzma Yehudit sehr nahe, mit dem orthodoxen Parteien Vereinigtes Thora- Unterschied, dass Zehut auf freiwillige judentum und Shas geben sich in diesem Übersiedlung und nicht auf Ausweisung Punkt zögerlicher, da sie Koalitionspartner der Palästinenser setzt. Damit zeichnet sich des Likud sind. innerhalb des rechten Lagers eine mehr oder weniger deutliche parteipolitische Transformation zu einer Verschiebung ab – je nachdem, ob Zehut majoritären Demokratie den Einzug in die Knesset schafft. Aber auch im rechten Mainstream, also beson- Ein weiteres Thema im rechten Lager ist ders in den Parteien Likud und Yisrael der weithin geteilte Wunsch, Israel in eine Beitenu, haben sich die Positionen weiter majoritäre Demokratie zu verwandeln. In nach rechts verschoben. liberalen Demokratien sollen Verfassungs- prinzipien und ein System gegenseitiger Forderung nach (Teil-)Annexion Kontrollen (Checks and Balances) Individual- des Westjordanlandes und Minderheitenrechte schützen. Befür- worter eines majoritären Systems behaup- Die Forderung nach Annexion oder Teil- ten nun, diese Prinzipien schränkten die annexion gehört im rechten Lager mittler- Demokratie ein und verzerrten den Willen weile zum Standardrepertoire. Yuli Edel- der Mehrheit. Deshalb versprechen Parteien stein, Sprecher der Knesset und Kandidat des rechten Lagers, das System gegenseitiger auf Platz 2 der Likud-Liste, brachte diese Kontrollen zwischen den Gewalten, vor Diskursverschiebung in einem Interview im allem die Kontrollfunktion der Justiz, weit- Januar 2019 auf den Punkt: »Wir haben in gehend abzuschwächen oder gar abzuschaf- der nächsten Knesset die große Aufgabe, die fen und die Stellung des Parlaments deut- Souveränität über die Siedlungen in Jehuda lich zu stärken. Gleichzeitig sollen Indivi- und Samaria zu erklären. Noch vor einigen dual- und Minderheitenrechte hinter jüdi- Jahren wurde jeder, der darüber sprach, schen Kollektivrechten zurückstehen. Ein

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5 wichtiger Schritt in diese Richtung war das zum Rassismus anstiften. Solche Beschlüsse im Juli 2018 verabschiedete Nationalstaats- trafen in steter Regelmäßigkeit arabische gesetz (siehe SWP-Aktuell 50/2018). Die Vor- Parteien (wie Ram-Balad) und Kandidaten reiter des Gesetzes in der Regierungskoali- (etwa der bereits genannte Ahmad Tibi), er- tion artikulieren offen den aus ihrer Sicht füllten aber gemäß dem Obersten Gerichts- notwendigen Primat jüdischer Kollektiv- hof nicht die gesetzlichen Kriterien. Wird rechte. Justizministerin Shaked betonte, der nun die Überstimmungsklausel verabschie- jüdische Charakter des Staates müsse auch det, gewinnt die politische Perspektive der auf Kosten von Menschenrechten geschützt Knesset die Oberhand über die juristische werden. Tourismusminister Yariv Levin er- Sicht des Gerichtshofs. Meistens entspinnen klärte, das Judentum solle immer Vorrang sich diese Differenzen zwischen Oberstem vor anderen politischen Prinzipien haben. Gerichtshof und Parlament an Fragen von Bildungsminister Bennett verlangte, eine Minderheitenschutz oder Gleichheitsprinzi- Trennmauer zwischen den drei Gewalten pien. zu bauen: »Eine Gewalt darf nicht in die Bereiche einer anderen intervenieren.« In diesem Kontext haben rechte Parteien Der drohende Strafprozess gegen den Obersten Gerichtshof zum Hauptgegner Netanyahu gewählt. Justizministerin Shaked hat einen Hundert-Tage-Plan vorgelegt, mit dem das Verstärkt werden die Ressentiments gegen Grundgesetz »Menschenwürde und Frei- Justiz als Teil des »tiefen Staates« im Zu- heit« von 1992, als »konstitutionelle Revolu- sammenhang mit der drohenden Anklage tion« bekannt, endgültig zurückgenommen gegen Netanyahu wegen Korruption. Gene- werden soll. In dem Gesetz waren erstmals ralstaatsanwalt Avichai Mandelblit empfahl liberale Prinzipien im Verfassungsrang am 28. Februar 2019, Netanyahu wegen verankert worden, aus denen der Oberste Korruption in drei Fällen anzuklagen, und Gerichtshof ein Normenkontrollrecht ab- legte dazu einen 57-seitigen Bericht vor. leitete. So wurden Normenkontrollklagen So soll der Premier den führenden Kommu- gegen Knesset-Beschlüsse möglich. Shaked nikationsunternehmer Shaul Elovitch von will Richter nur noch mit Zustimmung staatlichen Regulierungen befreit haben, von Knesset und Regierung ernennen lassen damit dieser Geschäfte im Wert von um- und eine Überstimmungsklausel (Piskat gerechnet rund 250 Millionen Euro tätigen HaHitgabrut) verabschieden, die dem Parla- konnte. Im Gegenzug soll Elovitch dafür ment erlauben würde, Urteile des Obersten gesorgt haben, dass auf der zu seinem Gerichts zu revidieren. Hinter diesem Plan Konzern gehörenden Nachrichtenwebsite steckt die Vorstellung, die Demokratie von – der zweitgrößten Newswebsite Israels – Fesseln zu befreien, indem dafür gesorgt durchweg positiv über Netanyahu berichtet wird, dass den Mehrheiten im Parlament wurde. In dem Bericht des Generalstaats- kaum mehr Beschränkungen durch das anwalts werden über 100 Einzelbelege da- Oberste Gericht auferlegt werden können. für genannt. Vor allem die Verabschiedung der Über- Der nächste Schritt ist eine Anhörung stimmungsklausel hätte weitreichende Netanyahus, in der er Einwände gegen die Auswirkungen, denn sie zielt auf ein Ende Beschuldigungen vorbringen kann. Danach juristischer Kontrolle der Legislative. So hat entscheidet der Generalstaatsanwalt, ob er der Oberste Gerichtshof häufiger Beschlüsse tatsächlich Anklage erheben wird – wovon der Knesset oder ihres Wahlausschusses allgemein ausgegangen wird. kassiert, Parteien oder Kandidaten von einer Netanyahu hat erklärt, er wolle auch bei Wahl auszuschließen. Laut Gesetz ist dies einer Anklage im Amt bleiben. Er sei in der statthaft, wenn diese Israel nicht als jüdi- Lage, in der Anhörung sämtliche Vorwürfe schen und demokratischen Staat anerken- auszuräumen. Allerdings halten dies fast nen, bewaffneten Kampf unterstützen oder alle Kommentatoren für unwahrscheinlich.

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6 Gleichzeitig fahren der Premier und seine anderen Politikern der Vereinigung zwei Unterstützer eine massive Diskreditierungs- Ministerposten und einem sogar einen kampagne gegen die Klageerhebung und Listenplatz beim Likud an. Netanyahu deren Hintergründe. Die wichtigste Bot- betrieb seine Lobbyarbeit vor dem Hinter- schaft aus dem Lager Netanyahus lautet, die grund des ungewissen Wahlausgangs und drohende Klage sei auf das Bestreben links- der Furcht, dass der rechte Block zu viele liberaler Eliten zurückzuführen, die einen Stimmen verlieren würde, wenn die klei- »Staat im Staate« bzw. einen »tiefen Staat« nen Rechtsparteien an der 3,25-Prozent- etabliert hätten. Da die Linke es nicht schaf- Klausel scheitern sollten. fe, Netanyahu auf demokratischen Wege Dieser Ansatz Netanyahus hat weit- abzulösen, nutzten diese Eliten ihre Kon- reichende Konsequenzen. Indem der Pre- trolle über die Medien, um Druck auf Poli- mier für die Integration einer rechtsextre- zei und Staatsanwaltschaft auszuüben, dem men Partei warb, vollzog er einen Bruch diese schließlich nachgegeben hätten. Viele mit bisherigen Grundlagen des Konsenses Politiker aus dem rechten Spektrum, aber in der israelischen politischen Kultur – auch rechte Medien teilen diese Sichtweise. auch wenn eine Abmachung existiert, laut Wie Netanyahu einer Anklage entgehen der die Abgeordneten von Otzma Yehudit will, ist noch nicht ganz klar. Zwei Szenari- in die Opposition gehen werden. Mit seinem en sind denkbar. Erstens kann die Knesset Werben um die rechtsextreme Partei setzte einem Abgeordneten oder Minister Immu- Netanyahu eine Diskursverschiebung in nität gewähren, falls sie zu der Überzeu- Gang. Einige Abgeordnete von Meretz und gung kommt, dass die Anklage nicht in der Arbeitspartei beantragten im Wahl- »guter Absicht« vorgebracht wurde. In diese ausschuss der Knesset, Otzma Yehudit nicht Richtung bewegt sich Netanyahus Medien- zur Wahl zuzulassen. Der Ausschuss musste kampagne. Zweitens gibt es konkrete Pläne, unter dem Eindruck des Wahlkampfs nicht das sogenannte Französische Gesetz zu ver- nur eine Sachentscheidung treffen, sondern abschieden, das einem amtierenden Minis- auch artikulieren, wo er steht: links oder terpräsidenten per se Immunität gewähren rechts, für oder gegen Netanyahu. Mit einer würde. Eine solche Gesetzesvorlage wurde Mehrheit von 16 zu 15 (die Partei Kulanu schon verschiedentlich von Unterstützern enthielt sich) lehnte der Ausschuss es ab, Netanyahus im Likud ins Spiel gebracht, im den Spitzenkandidaten von Otzma Yehudit, März 2019 aber auch von Bezalel Smotrich, Michael Ben-Ari, auszuschließen. Das hat einem Knessetmitglied des Jüdischen Heims. Symbolwirkung, denn das Gremium, stell- Netanyahu hat Ende März 2019 kundgetan, vertretend für das Parlament, sanktioniert er halte es für unwahrscheinlich, dass er die Positionen der Partei und legitimiert sie ein solches Gesetz unterstützen würde – damit als einem demokratischen Parlament ausgeschlossen hat er es nicht. Dabei scheint angemessen. Damit verschieben sich die klar, dass ein solches Vorhaben die Unter- Grenzen des legitim Sagbaren, da auf diese stützung der Parteien des rechten politi- Weise auch rechtsextreme Positionen nobi- schen Spektrums benötigt. Viele Politiker litiert werden. Zwar schloss der Oberste der Rechten – mit der bemerkenswerten Gerichtshof Ben-Ari nachträglich wegen Ausnahme Bennetts – haben auch schon Rassismus von der kommenden Parlaments- verkündet, dass sie dazu bereit wären, wahl aus. Die Diskursverschiebung lässt während die Parteien des Mitte-Links-Spek- sich aber nicht mehr ohne weiteres rück- trums ihre Ablehnung signalisierten. gängig machen. Dass Netanyahu auf rechte Parteien angewiesen ist, macht sich auch im Wahl- kampf bemerkbar. Der Einschluss von Otzma Yehudit in die Vereinigung der Rechten Parteien erfolgte tatsächlich unter massivem Druck Netanyahus. Er bot den

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7 Drei Szenarien für die mit Kahol Lavan würde Netanyahus Abhän- Regierungsbildung gigkeit von den rechtsextremen Parteien verringern. Auch könnte sie in den außen- Das erste Szenario wäre eine Koalition politisch schwierigen Entwicklungen mode- unter der Führung von Benny Gantz, wobei rierend wirken, besonders der Annexions- nach zweieinhalb Jahren ein Wechsel von debatte. Gantz auf Lapid im Amt des Premiers vor- Im Falle einer Anklage gegen Netanyahu gesehen ist. Weil Gantz ausgeschlossen hat, ist eine Koalition mit den Mitte-Links-Par- Vertreter der arabisch-palästinensischen teien unwahrscheinlich. So gut wie ausge- Listen in eine Regierung zu holen, ist Kahol schlossen ist zudem, dass eine Mitte-Rechts- © Stiftung Wissenschaft Lavan auf dreierlei angewiesen, um eine Koalition ein Gesetz verabschiedet, das und Politik, 2019 Regierungsmehrheit stellen zu können: Das Netanyahu Immunität gewähren würde. Alle Rechte vorbehalten Bündnis muss bei der Wahl deutlich besser Darüber hinaus ist unklar, ob Netanyahus abschneiden als Likud, außerdem benötigt Partei, der Likud, eine Koalition mit Kahol Das Aktuell gibt die Auf- es ein gutes Ergebnis kleinerer Parteien der Lavan mittragen würde: Während der lau- fassung des Autors wieder. Mitte (wie Gesher und Kulanu) und die fenden Legislaturperiode stoppten Abge- In der Online-Version dieser Bereitschaft kleinerer Parteien des rechten ordnete des Likud Netanyahu bei seinem Publikation sind Verweise Lagers (etwa Yisrael Beitenu), mit Kahol Versuch, eine Große Koalition mit der Zio- auf SWP-Schriften und Lavan zu koalieren. Vertreter ultraortho- nistischen Union anzubahnen. wichtige Quellen anklickbar. doxer Parteien würden nur dann in eine Diese Argumente sprechen daher für Regierung Gantz gelangen, wenn eine Koa- ein drittes Szenario, bei dem Netanyahu SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfah- lition unter Netanyahu unmöglich wäre. eine reine Rechtsregierung formen müsste. ren, einem Faktencheck und Zwei weitere Regierungskoalitionen sind Kommt sie zustande, ist erstens damit zu einem Lektorat unterzogen. vorstellbar, jeweils mit Netanyahu als Pre- rechnen, dass sie versuchen wird, Israel von Weitere Informationen mier. Beide sind wahrscheinlicher als eine einer eingeschränkt liberalen zu einer majo- zur Qualitätssicherung der Mitte-Links-Regierung, auch wenn Kahol ritären Demokratie umzubauen. Zweitens SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. Lavan in Umfragen derzeit vor dem Likud dürfte sich die Rechtsregierung voraussicht- swp-berlin.org/ueber-uns/ liegt. Nicht nur die Demoskopie spricht für lich daran begeben, die weithin geteilten qualitaetssicherung/ diese Szenarien, auch Netanyahus Möglich- Forderungen nach einer (Teil-)Annexion des keiten, sowohl mit rechten Parteien als Westjordanlandes zu erfüllen. SWP auch mit Parteien der Mitte zu koalieren. In beiden Fällen würde sich Israel weiter Stiftung Wissenschaft und Das zweite Szenario bestände in einer von der gemeinsamen politischen Werte- Politik Deutsches Institut für Mitte-Rechts-Koalition unter Netanyahu. basis mit der EU entfernen, wie sie etwa in Internationale Politik und Diese Lösung dürfte er einer reinen Rechts- den Assoziationsverträgen zwischen der Sicherheit koalition vorziehen. Zwar hat er die Bedeu- Union und Israel festgehalten wurde. Jeg- tung einer rechten Regierung gepriesen, liche Annexion würde einen klaren Bruch Ludwigkirchplatz 3–4 doch in diese müsste er wahrscheinlich die des Völkerrechts darstellen. Darüber hinaus 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 rechtsextremen Parteien Otzma Yehudit wäre ein solcher Schritt faktisch das Ende Fax +49 30 880 07-100 oder Zehut einschließen. Stattdessen läge es der einzig realistischen Lösungsformel für www.swp-berlin.org für Netanyahu nahe, mit Kahol Lavan zu den israelisch-palästinensischen-Konflikt, [email protected] koalieren, weil dieses Bündnis und Likud in nämlich der Zweistaatenlösung. sicherheitspolitischen Fragen weitgehend ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2019A18 auf einer Linie liegen. Kahol Lavan hat dazu ambivalente Signale gesendet: Hatten Gantz und Lapid eine solche Zusammenarbeit An- fang 2019 durchaus für möglich gehalten, schloss Gantz sie später aus. Eine Koalition

Dr. Peter Lintl ist Leiter des Projekts »Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld: Innere Entwicklungen, Sicherheitspolitik und Außenbeziehungen«. Das Projekt ist in der SWP-Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika angesiedelt und wird vom Auswärtigen Amt gefördert.

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