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Aufklärung und Kritik Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie Herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg Mitherausgeber: Prof. Dr. Hans Albert (Heidelberg) Prof. Dr. Gerhard Besier (Dresden) Schwerpunkt: Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf) Prof. Dr. Franz Buggle (Freiburg) Glück und Lebenskunst Dr. Gerhard Czermak (Friedberg) Herausgeber: Dr. Robert Zimmer Dr. Edgar Dahl (Gießen) Dr. Karlheinz Deschner (Haßfurt) Prof. Dr. Noel Felici (Grenoble) Autoren: Prof. Dr. Dietrich Grille (Erlangen) Dr. Jürgen August Alt Dr. Horst Groschopp (Berlin) Prof. Dr. Dieter Birnbacher Prof. Dr. Rainer Hegselmann (Bayreuth) Dr. Edgar Dahl Prof. Dr. Hans Henning (Grävenwiesbach) Dr. Günter Gödde Prof. Dr. Horst Herrmann (Münster) Prof. Dr. Malte Hossenfelder Prof. Dr. Eric Hilgendorf (Würzburg) Dr. Dr. Joachim Kahl Prof. Dr. Norbert Hoerster (Mainz) Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider (Gießen) Prof. Dr. Mark Lindley (Boston) Bernd A. Laska Prof. Dr. Erich H. Loewy (Sacramento) Fürst de Ligne Prof. Dr. Ludger Lütkehaus (Freiburg) Pravu Mazumdar Ludwig A. Minelli (Forch-Zürich) Dr. Martin Morgenstern Prof. Dr. Hubertus Mynarek (Odernheim) Dr. Prof. Dr. Johannes Neumann (Tübingen) Dr. Michael Rumpf Dr. Hans-Joachim Niemann (Poxdorf) Prof. Dr. Wilhelm Schmid Prof. Dr. Vallabh Patel (Neuburg) Dr. Kurt F. Schobert Prof. Dr. Gerard Radnitzky (Trier) g Prof. Dr. Heiko Schulz Prof. Dr. Hans-Martin Sass (Bochum) Prof. Dr. Ulrich Steinvorth Prof. Dr. K. A. Schachtschneider (Nürnberg) Helmut Walther Prof. Dr. Hermann J. Schmidt (Dortmund) Dr. Robert Zimmer Dr. Michael Schmidt-Salomon (Trier) Dr. Kurt F. Schobert (Augsburg) Prof. Dr. Werner Schuffenhauer (Berlin) Prof. Dr. Peter Singer (Princeton) Sonderheft 14 Prof. Dr. Anton Szanya (Wien) Prof. Dr. Ernst Topitsch (Graz) g Prof. Dr. Gerhard Vollmer (Braunschweig) Sonderheft 14/2008 ISSN 0945-6627 Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien) Editorial

Die politische Freiheit gehört nicht zu den Dingen, die man dauerhaft besitzen kann. Sie muß ständig neu erkämpft und durch Institutionen gesichert werden. Sie verlangt Engagement und zur rechten Zeit auch Opferbereitschaft, will man nicht selber eines Tages das Opfer politischer Gewalt sein.

Freies Denken und rationales Handeln werden heute von drei Seiten zugleich angegriffen oder un- terminiert: auf der materiellen Ebene verdrängen Gewalt oder Gewaltandrohung zunehmend das rationale Ringen um Kompromisse. Auf der geistigen Ebene vergrößert sich die Schar der Relativisten und Nihilisten, die die Suche nach Wahrheit aufgegeben haben und vernünftige Argumente als Rhe- torik und Propaganda betrachten. Die Dritten im Bunde unkritischer Irrationalisten sind jene Dogma- tiker und Fundamentalisten, die sich im Besitz der Wahrheit glauben und sich seit jeher die Ohren gegen jedes bessere Argument verstopfen. Die Anhänger von Gewalt haben erreicht, daß in einigen Teilen Europas sich wieder Nationalismus und Fremdenhaß breitmachen. Die Fundamentalisten sorgen dafür, daß allenthalben neue Religio- nen und Okkultismus Zulauf finden. Die postmodernen Nihilisten liefern diktatorischen Systemen die Ideen, mit denen die Forderung nach mehr Menschenrechten als eurozentrisches Vorurteil zurück- gewiesen werden können.

Aufklärung und Kritik ist eine Absage an Gewalt, Fundamentalismus und Nihilismus. Sie will der "Gleich-Gültigkeit" aller Meinungen und Werte, die zur politischen Gleichgültigkeit führt, genauso entschieden entgegentreten wie dem blinden Engagement für irgendwelche Überzeugungen.

Im Kleinen möchte sie demonstrieren, daß die verschiedensten Meinungen hören muß, wer die beste auswählen oder zu ganz neuen Ansichten kommen will. Daher werden hier außer Fachleuten aus Philosophie, Politik und anderen Bereichen auch die zu Worte kommen, die sich mit den Lehren der Denker kritisch auseinandersetzen und sie zu leben versuchen.

Aufklärung und Kritik sieht sich einer der ältesten Traditionen der Menschheit verpflichtet – älter als Christentum und Islam –, nämlich der Tradition des kritischen Denkens, das sich bis in die Zeit der frühesten griechischen Philosophen zurückverfolgen läßt. Kritisches Denken will die Menschen dazu bringen, von sich aus jegliche Bevormundung religiöser oder säkularer Art zurückzuweisen und die Verantwortung für ihr Leben selber in die Hand zu neh- men; sich von Abhängigkeiten aller Art zu befreien; aber auch die Augen vor den eigenen Fehlern nicht zu verschließen, sondern gerade aus diesen zu lernen, wie ein besseres Leben möglich ist.

Aufklärung und Kritik sind nicht Modeerscheinungen. Daher sind sie nicht an Epochen gebunden, sondern immer wieder neu zu belebende Elemente der Menschheitsgeschichte. Die Ideale einer zweieinhalbtausendjährigen Aufklärung sind zum zeitlosen Besitz der Menschheit geworden. Ihre Realisierung wird von fast allen Völkern der Welt, wenn auch nicht von deren Herrschern, ange- strebt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie; der Glaube an die problemlösende Macht der Vernunft, Erziehung und Wissenschaft; der Wille zu unblu- tigen Gesellschafts- und Staatsreformen; die Kritik der Religionen, sofern sie uns bevormunden, verbunden aber mit dem Toleranzgedanken. Zu den Denkern dieser Tradition zählen unter vielen anderen Sokrates, Demokrit und Epikur genau- so wie Spinoza, Erasmus, Hume, Voltaire, Smith und Kant. Auch nach der "Aufklärung" des 18. Jahrhunderts blieb die Idee von Aufklärung und Kritik lebendig durch Bentham, Schopenhauer, Feuer- bach, Marx, Mill, Nietzsche, Dewey, Darwin, Russell, Karlheinz Deschner u.a. In unserer Zeit erfuhr sie erneut einen Aufschwung durch die Philosophen des Wiener Kreises und des kritschen Rationa- lismus, vor allem durch den österreichisch-englischen Philosophen Karl Raimund Popper. Inhalt

Vorwort des Herausgebers ...... 3

Prof. Dr. Ulrich Steinvorth Philosophie und Lebenskunst ...... 8 Dr. Michel Onfray Begnüge Dich mit der gegebenen Welt! ...... 28 Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider Hedonismus – eine naturalistische Ethik ...... 32 Prof. Dr. Malte Hossenfelder Vor- und Nachteile des Hedonismus ...... 44 Bernd A. Laska La Mettrie – ein gewollt unbekannter Bekannter. Zur Thematik „Aufgeklärter Hedonismus“ und „Zweite Aufklärung“ ...... 64 Prof. Dr. Dieter Birnbacher Glück – Lustempfindung, Wunscherfüllung oder Zufriedenheit? Der wechselvolle Umgang mit dem Glück im Utilitarismus ...... 85 Dr. Robert Zimmer Das Erbe des Theophrast. Moralistische Charakterzeichnung und ihre Bedeutung für eine Philosophie der Lebenskunst ...... 96 Dr. Michael Rumpf Der Fürst de Ligne als Moralist. Erwägungen über Dankbarkeit ...... 109 Dr. Martin Morgenstern Schopenhauers Lehre vom Glück ...... 116 Helmut Walther Nietzsche und das Glück ...... 136 Dr. Günter Gödde Askese als Lebensform, therapeutisches Prinzip und Axiom der Lebenskunst bei Freud ...... 163

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Pravu Mazumdar Die Glücksmaschinen: Anmerkungen zur Industrialisierung des Glücks ...... 176 Dr. Edgar Dahl Glück kann man kaufen ...... 188 Dr. Kurt F. Schobert Suche nach Glück – auch im Sterbeprozess? ...... 199 Prof. Dr. Wilhelm Schmid Mit sich selbst befreundet sein ...... 209 Dr. Robert Zimmer Was heißt „einstimmig leben“? ...... 220 Prof. Dr. Heiko Schulz Das Beanspruchte und das Verdankte. Zur Idee der Selbstverwirklichung im Anschluss an Sören Kierkegaard ...... 228 Dr. Jürgen August Alt Selbstverwirklichung ohne Illusionen ...... 254 Fürst de Ligne Mein Besuch bei Voltaire ...... 264 Dr. Dr. Joachim Kahl Rezensionen zum Thema Lebenskunst ...... 270

GKP im Internet ...... 274 Impressum ...... 277

2 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Vorwort des Herausgebers

Lebenskunst – die Kunst ein gutes und sen wie der Anspruch, von der Philoso- glückliches Leben zu führen – war für die phie etwas über Möglichkeiten und Inhal- Philosophie der Antike nicht nur ein selbst- te dieses Glücks zu erfahren. Verschließt verständliches, sondern auch ein zentra- sich die Philosophie diesem Anspruch, les Thema. Von Sokrates bis zu Boethius sind die Bauchladenverkäufer geoffenbar- verstand sich die Philosophie als „Le- ter Wahrheiten ebenso schnell zur Stelle bensform“1 , als ein Forum, auf dem wie die Wellness-Experten der zeitgenös- Weisheit im Sinne einer umfassenden sischen Glücksindustrie. Lebensorientierung nicht nur gelehrt, son- Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat dern auch eingeübt wird. im deutschen Sprachraum die Philosophie Dass die Philosophie in späteren Epochen wieder begonnen, das Terrain zurückzuer- das Thema Glück und Lebenskunst in den obern, dass man zu lange den Seelsor- Hintergrund drängte, hat mehrere unter- gern aus Theologie und Psychologie über- schiedliche Gründe. Mit der geistigen lassen hatte. Das vorliegende Sonderheft Herrschaft der christlichen Theologie fiel „Glück und Lebenskunst“ will zu dieser eine weltliche Lebenskunstlehre in Miss- wieder aufgenommenen Diskussion bei- kredit. Mit Kants Verdikt, Klugheitsüber- tragen. Dabei sollen säkulare und aufklä- legungen und Glücksstreben aus den Be- rerische Traditionen der Glücks- und Le- mühungen um eine Begründung morali- benskunstreflexion ins Spiel gebracht, aber scher Normen auszuscheiden, verlor das auch Raum für systematische Überlegun- Thema dann auch innerhalb der Ethik an gen gegeben werden, in denen solche Tra- Gewicht. Und der spätestens seit dem 18. ditionen weitergedacht werden. Jahrhundert forcierte Wissenschaftsan- spruch der Philosophie, mit dem der An- Ulrich Steinvorth schreitet in seinem Ein- schluss an die sich stürmisch entwickeln- leitungsessay die Probleme ab, die sich den mathematisch-naturwissenschaftli- für eine philosophische Reflexion der Le- chen Disziplinen gefunden werden sollte, benskunst stellen. Sie muss, wie es scheint, diskreditierte das Thema Glück und Le- auf positive, also auf inhaltlich fixierte Le- benskunst als „weiches“ Thema, das ei- bensregeln verzichten und sich auf Meta- ner „objektiven“ und systematisch begrün- regeln beschränken. Als Ausgangspunkt deten Behandlung nicht fähig sei. für solche Metaregeln diskutiert Steinvorth Doch es gibt nicht nur, wie Schopenhau- die Ideen der Authentizität und der Falsi- er zu Recht betont, ein metaphysisches fizierbarkeit, also die aus Poppers Wis- Grundbedürfnis des Menschen, sondern senschaftstheorie übernommene Vorstel- auch ein Bedürfnis nach Maßstäben einer lung der prinzipiellen Revidierbarkeit hy- Lebensorientierung, die über eine morali- pothetischer Erklärungsversuche – nun an- sche Orientierung im engeren Sinne hin- gewandt auf individuelle Lebensentwürfe ausgeht. Die These des Aristoteles, dass und Lebensentscheidungen, eine Idee, die der Mensch von Natur nach Glück strebt, hier nicht zum erstenmal ins Spiel gebracht ist ebenso schwer von der Hand zu wei- wird.2 Steinvorths Skepsis, wie weit die- Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 3 se Ideen tragen, führt ihn immer wieder den Utilitarismus als neuzeitliche Form des auf die Basis jeder individuellen Entschei- Hedonismus. Beruht der Hedonismus wirk- dungsfindung zurück: das „wache Urtei- lich auf einem „naturalistischen Fehl- len“, oder, so könnte man in aufkläreri- schluss“, also auf einem Schluss von ei- scher Tradition sagen: die Mündigkeit im nem Sein (dem Faktum des Strebens nach Sinne der Autonomie und kritischen Ver- Lust) auf ein Sollen (dem Gebot nach nunft des Einzelnen als Ausgangspunkt Lust zu streben)? Trifft es überhaupt zu, jedes gelingenden Lebens. dass alle Menschen nach Lust streben? Kann und sollte man verschiedene Arten Zu den oft vernachlässigten und ignorier- von Lust unterscheiden? Hossenfelder sieht ten philosophischen Traditionen, die sich in der unklaren inhaltlichen Bestimmung im Verlauf der Philosophiegeschichte im- des Lustbegriffs die größte Schwachstelle mer wieder gegen die theologisch und des Hedonismus und plädiert dafür, an- idealistisch inspirierten Glückslehren des stelle der größtmöglichen Lust die größt- philosophischen Mainstream gewandt ha- mögliche Wunscherfüllung als Ziel unse- ben, gehört der Hedonismus und der mit res Handelns anzunehmen. In unseren ihm verschwisterte philosophische Mate- Wünschen liegt die Quelle des Wertes, mit rialismus. In seiner Würdigung der Ge- dem wir bestimmte Dinge vor anderen schichte des Materialismus von Friedrich Dingen auszeichnen. Dieser von ihm so Albert Lange zeichnet Michel Onfray ei- genannte „Euchismus“, der dem Präfe- nige Stationen der seit Platon betriebenen renzutilitarismus sehr nahe steht, würde ein ideologischen Marginalisierung des Mate- eindeutiges rationales Handlungskalkül im rialismus und plädiert für das Projekt ei- Sinne einer Abwägung erwünschter und un- ner materialistischen Gegengeschichte, das erwünschter Handlungsfolgen erlauben. ja, in Gestalt der Onfrayschen Schriften, Bernd A. Laska stellt den vielleicht um- bereits in vollem Gange ist3 . strittensten Erben des Hedonismus in der Onfray figuriert auch in Bernulf Kanit- Aufklärung und seine von Fehldeutungen scheiders Essay: als zeitgenössischer Ver- geprägte Rezeptionsgeschichte vor: Julien treter des Hedonismus, dem für Kanitschei- Offray de la Mettrie, der nicht das allseits der überzeugendsten Kandidaten einer bekannte Der Mensch als Maschine, son- naturalistischen Ethik. Der Beitrag geht auf dern seinen sogenannten „Anti-Seneca“, die wichtigsten Vertreter dieser Richtung den Essay Über das Glück oder das höch- von der Antike bis zur Gegenwart ein und ste Gut, als sein Hauptwerk betrachtete. empfiehlt den Hedonismus als eine Glücks- Mit seiner dort entwickelten „Theorie der technologie, die auf die Überzeitlichkeit Schuldgefühle“ wird er für Laska zu ei- normativer Grundsätze verzichten und nem entscheidenden Stichwortgeber einer sich mit den konkreten Lebensumständen „zweiten Aufklärung“, die sich nun auch arrangieren kann. mit der Befreiung jener Ketten zu befas- Malte Hossenfelder untersucht wiederum, sen habe, die durch eine lustfeindliche En- wie weit der Hedonismus rational begrün- kulturation entsteht. dungsfähig ist und bezieht sich dabei im- Dieter Birnbachers Diskussion des utilita- mer wieder, wie Kanitscheider, sowohl auf ristischen Glücksbegriffs nimmt den Fa- den Hedonismus der Antike als auch auf den dort auf, wo Hossenfelder ihn liegen

4 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 gelassen hatte: beim Präferenzutilitarismus, Mein eigener Beitrag verfolgt die Traditi- den er ebenso kritisiert wie die „Glücks- on der von Theophrast ausgehenden mo- gütertheorie“, die Theorie also, die Glück ralistischen Charakterzeichnung, während mit einem bestimmten Katalog von Gü- Michael Rumpf mit dem Fürsten de Ligne tern identifiziert. Jeder Versuch, Glück zu einen bisher in Deutschland weitgehend definieren, muss nach Birnbacher zwei unbekannten Moralisten vorstellt, den er „Subjektivitätsmomente“ berücksichtigen: selbst in einer neuen Übersetzung zugäng- Das Moment der inneren subjektiven lich gemacht hat.4 Am Beispiel der sozia- Glücksempfindung und das Moment der len Tugend der Dankbarkeit wird de Lignes vom Subjekt vorgenommenen Glücks- entlarvender Blick auf die egoistischen Mo- bewertung (Bewertungssouveränität). So tive menschlichen Sozialverhaltens sicht- scheint sich auch eine begründungsfähige bar, wie er für die gesamte Moralistik cha- Form des Hedonismus auf die Autonomie rakteristisch ist. des Subjekts zurückbeziehen zu müssen. Als Bonbon für den Leser steht am Ende des Heftes der von Rumpf übersetzte Be- Eine andere, in der Philosophiegeschichte richt de Lignes über seinen Besuch bei immer wieder vernachlässigte Tradition dem großen Aufklärer und Lebenskünst- der Lebenskunstreflexion ist die von Mon- ler Voltaire. taigne ausgehende neuzeitliche Moralistik, Auch Schopenhauer kann, besonders in die, auf der Grundlage von Lebenserfah- seinen Aphorismen zur Lebensweisheit, rung und Menschenbeobachtung, Versatz- als Fortsetzer der moralistischen Traditi- stücke einer Lebenskunstlehre in Form on gelten. Martin Morgenstern demon- von Maximen, Essays oder Charakterpor- striert allerdings, vielleicht für manche träts entwickelt hat. Die Moralistik ist bei- überraschend, dass sich Schopenhauers des: Fortführer antiker Weisheits- und Tu- Theorie des Glücks keineswegs auf eine gendlehren und Vorbereiter säkularer Le- reine Leidensverminderungstheorie redu- benskunstlehren der Moderne. Im Unter- zieren lässt. Schon der frühe, besonders schied zum Hedonismus stehen hier stra- aber der späte Schopenhauer sieht durch- tegische Klugheitsüberlegungen im Mittel- aus Möglichkeiten eines positiven Glücks- punkt, die eher eine Leidensverminderung empfindens, z.B. im Umgang mit Kunst als eine Lustmaximierung zum Ziel haben. und Kultur. Anknüpfend an die stoische Tradition wird Nietzsches, der Moralistik verpflichtende an der Bedeutung der Vernunftkontrolle „kritische“ Phase ist die so genannte mitt- menschlichen Handelns festgehalten. Kenn- lere Phase mit Werken wie Menschliches zeichnend für die moralistische Tradition und Allzumenschliches und Die fröhliche ist jedoch die realistisch-skeptische Einschät- Wissenschaft. Gerade hier und auch in zung, dass die Triebbestimmtheit menschli- seinen frühen Werken trifft man auf die chen Handelns größer, der Einfluss der Ver- wichtigsten Fundstellen zum Thema Glück nunft auf unsere Lebensgestaltung dage- und Lebenskunst. In Helmut Walthers Es- gen begrenzter ist als dies ein optimisti- say wird deutlich, wie sehr Nietzsche be- sches Menschenbild wahrhaben will – eine reits ins Zentrum der Philosophie der Einschätzung, die auch bei Schopenhau- Lebenskunst der Moderne gehört. Hier er, Nietzsche und Freud nachwirkt. wird Glück und Lebenskunst zu einem

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 5 immer weiter fortschreitenden Erwerb von Kurt F. Schobert ruft ein Thema in Erin- Selbstmächtigkeit, völlig unabhängig von nerung, dass zunächst nur Wenige mit vorgegebenen Konzepten des „guten Le- dem Glücksbegriff in Verbindung bringen: bens“. Nietzsches Abkehr von jeder Art die Auseinandersetzung mit Sterben und von „Zufriedenheit“ oder Konsumglück Tod. Schobert weist zu Recht daraufhin, stellt ihn aber auch in einen Gegensatz zum dass das Sterben ebenso gelingen oder Hedonismus. scheitern kann wie das Leben. Es gibt auch Günter Gödde arbeitet die zentrale Rolle ein Glück im Sterbeprozess. Schobert sieht der Askese in der Freudschen Psychoana- dieses Glück in einer Befreiung von Bin- lyse heraus und weist nach, wie viel Freud dungen und Begrenzungen, in der Orien- sowohl den Lebenskunstkonzepten Scho- tierung an eine Welt, die er, in Ergänzung penhauers als auch denen Nietzsches ver- der Popperschen 3-Welten-Theorie, als dankt. So nimmt er sowohl die quietisti- Welt des Glücks des Nichts bezeichnet. schen Impulse Schopenhauers als auch, z.B. im Konzept der Sublimierung, Nietz- Mit der Koppelung des Themas Glück sches Gedanken eines „Umschaffens“ von und Lebenskunst an die Autonomie und Triebregungen auf. Selbstmächtigkeit des Individuums rückt auch die Reflexion über das Verständnis Mit Pravu Mazumdars Essay über die und die Ausgestaltung des Selbst, sprich: Glücksmaschinen beginnt die Reihe der die Selbstverwirklichung ins Zentrum der Beiträge, die sich mit Formen und Mög- Diskussion. lichkeiten des Glücks in der zeitgenössi- Dass Lebenskunst im Sinne einer bewuss- schen Gesellschaft auseinandersetzen. Am ten Lebensführung nicht nur Beziehungs- Beispiel der Werbung, des Tourismus und gestaltung mit anderen, sondern auch mit der Sexualität wird für Mazumdar sicht- dem eigenen Selbst beinhaltet, ist das The- bar, wie sehr der Einzelne mit industriell ma des Beitrags von Wilhelm Schmid, der produzierten Formen der Massenbeglü- mit seinen Schriften nicht unwesentlich zur ckung konfrontiert ist, die die Tendenz Renaissance der Philosophie der Lebens- haben, das autonome Glücksstreben des kunst in Deutschland beigetragen hat5. Zur Einzelnen zuzudecken und sich, so Ma- Gestaltung eines bejahenswerten Selbst zumdar, dem „Äquivalent des Geldes“ gehört für Schmid die Selbstfreundschaft, anpassen. die, anders als ein egoistischer Selbstbe- Als eine, wenn auch ungewollte, Replik zug, die Beziehung zu anderen nicht blo- kann der Beitrag von Edgar Dahl gelesen ckiert, sondern sie erst ermöglicht. werden, der, mit Rekurs auf die empiri- Mein eigener, zweiter Beitrag ist der Ver- sche Glücksforschung, die Konsummög- such, das stoische Konzept der Selbst- lichkeiten der postindustriellen Gesell- übereinstimmung („einstimmiges Leben“) schaft keineswegs negativ sieht und die aus kritisch-rationaler Sicht neu zu formu- oft schamhaft verschwiegene, aber erfah- lieren, wobei Kierkegaards Konzept der rungsgesättigte Wahrheit in Erinnerung Selbstverwirklichung als wichtige Etappe ruft, dass Geld zwar nicht alles, dass aber gesehen wird. ohne Geld Vieles nichts ist.

6 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Kierkegaards Begriff der Selbstverwirkli- rühmtes „Sapere Aude!“ gilt: Vivere Aude! chung wiederum wird in dem Beitrag von – Wage es Dein eigenes Leben zu führen! Heiko Schulz detailliert rekonstruiert und durch eigene systematische Überlegungen Robert Zimmer (Berlin) ergänzt. Einer auf Ansprüchen gegründe- ten, und damit immer vom Scheitern be- Anmerkungen: drohten Selbstverwirklichung setzt Schulz 1 Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. als existenzbestimmende Grundhaltung Geistige Übungen in der Antike. Berlin 1981. und Voraussetzung für Selbstverwirkli- 2 Vgl. R. Zimmer, „Leben als Versuch und Irrtum“, chung das Konzept der „Dankbarkeit“ in: Aufklärung und Kritik, Bd. 2/2005, S. 80-92. entgegen. Als Theologe sieht er diese 3 M. Onfray, Contre Histoire de la Philosophie, Dankbarkeit auf ein personales Gegenüber, 6 Bde, Paris: Grasset 2006 ff. nämlich auf Gott gerichtet, erkennt aber 4 Charles Joseph Fürst de Ligne, Fragmente und an, dass der Gottesglaube eine keineswegs Gedanken, herausgegeben und übersetzt von Mi- notwendige Bedingung für diese Grund- chael Rumpf, Heidelberg 2007. haltung ist, wie ja überhaupt Kierkegaards 5 Siehe vor allem W. Schmid, Philosophie der Einfluss auf säkulare und individualistische Lebenskunst, Frankfurt/M. 1998 Selbstverwirklichungstheorien der Moder- ne unbestritten ist. Jürgen August Alts Aufsatz, mit dem die Reihe der systematischen Beiträge endet, ist stärker empirisch und lebenspraktisch orientiert. In der zu intensiven Beschäfti- gung mit dem eigenen Selbst sieht Alt kei- ne Voraussetzung, sondern eine Gefahr für Selbstverwirklichung. Er plädiert dafür, sich auf eine diversifizierende, über das eigene Selbst hinausführende Selbstver- wirklichungsstrategie zu verlegen. Dort, wo wir in einer Sache „aufgehen“, sei es in Natur-. Kunst- oder anderen Erlebnis- sen, finden wir auch Erfüllung für unser Selbst.

Mehr als kleine Orientierungsmarken und Anregungen, die dem Leser helfen sollen, sich einen eigenen Weg durch den Dschun- gel der Lebenskunstdebatten zu bahnen, will dieses Heft allerdings nicht bieten. Wie bei kaum einem anderen Thema liegt der Test all dieser Debatten im praktischen Leben, sodass in Anlehnung an Kants be-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 7 Prof. Dr. Ulrich Steinvorth (Ankara/Türkei) Philosophie und Lebenskunst

1. Kann und sollte Philosophie Regeln lichen französischen Begriff des bon vi- der individuellen Lebensführung aufstel- vant. Diese Urteile stellen uns vor ein neu- len? es Problem. Wenn sie entscheiden, daß Wenn es eine Lebenskunst gibt, eine lehr- der Lebenskünstler, so beneidenswert er bare Technik, wie man am besten lebt, ist, das Leben nicht ernst genug nimmt, wer sonst sollte dafür zuständig sein als so unterstellen sie Kriterien, wie das Le- die Philosophie? Der Gedanke, es könnte ben ernst genug zu nehmen ist; wie die eine Lebenskunst geben, setzt schon Brü- richtige Mitte zwischen Schwere und che mit einer Lebensweise voraus, in der Leichtigkeit getroffen wird. Solche Krite- die Jungen zwar von den Alten lernen, wie rien auszubuchstabieren, zu prüfen und man lebt, aber nicht fragen, wie man am vielleicht sogar zu rechtfertigen könnte besten lebt. Diese Frage unterstellt den aber, so scheint es, die Aufgabe einer Zweifel, ob man nicht besser leben könn- Lebenskunst sein, die nicht zum leichten te als die Alten, und der Zweifel ist der Lebenskünstler anhalten würde, sondern Anfang der Philosophie. Warum ist die zu einem, der zu leben versteht, ohne über Philosophie trotzdem nicht als Lebens- seine Tiefen hinwegzutänzeln. kunst bekannt? Der Philosoph ist gerade- Kann es eine solche, nennen wir sie pro- zu das Gegenbild zum Lebenskünstler. Ge- visorisch tiefere, Lebenskunst geben? wiß wollten Philosophen immer wieder die Wenn wir wieder der Sprache folgen, die Philosophie als Lebenskunst verstehen. in ihren Begriffen das Urteil einer Öffent- Die Öffentlichkeit hat diese Absicht durch- lichkeit ausspricht, so könnte man mei- aus verstanden und zumindest einigen nen, jede Lebenskunst, wie tief immer, sei durch Ruhm und Andenken gedankt. So- zum Mißerfolg verurteilt. Denn im Fran- krates wollte die vorsokratische Philoso- zösischen bedeutet das Verstehen des Le- phie vom Himmel auf die Erde holen und bens, das wir von der tieferen Lebens- Nietzsche gegen die Gedankenblässe der kunst erwarten sollten, das savoir vivre, sokratischen Philosophie das Recht des die Etikette und das anständige Benehmen. Lebens behaupten. Aber waren sie Le- Können wir jedoch dieser semantischen benskünstler? Der eine wurde hingerich- Tatsache mehr entnehmen als die Wich- tet, der andre starb im Wahnsinn. tigkeit der Etikette in der französischen Kultur? Kaum. Die ars vivendi der Rö- Nehmen also die Philosophen das Leben mer, die die strengen Lebensbetrachtungen zu schwer oder die Lebenskünstler es zu des philosophierenden Kaisers Marc Aurel leicht? Zumindest die deutsche Öffentlich- einschließt, nahm auch die Bedeutung ei- keit hat ihr Urteil gesprochen. Der deut- ner ars amandi an; heute ist sie ein be- sche Begriff des Lebenskünstlers assozi- liebter Titel für Feinschmeckerjournale iert eine zwar beneidenswerte aber doch und Nachtclubs geworden. Die Entwick- nicht als gerechtfertigte geltende Leichtig- lung von Begriffen gibt nicht immer die keit des Seins. Ähnliches gilt für den ähn- Natur der Sache zu erkennen.

8 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Philosophen leben vom Zweifel; wie soll- daß sie nicht zu einer Kunst individueller ten sie nicht an der Lebenskunst jeder Tie- Lebensführung beitragen kann. Denn sie fe zweifeln. Sie leben auch von Argumen- kann zwei Leistungen anbieten, die in all- ten. Hier sind zwei Argumente gegen eine gemeingültigen Aussagen bestehen und philosophische Lebenskunst. Erstens, sie dennoch Individuen bei ihrer individuel- müßte lehrbar sein und Regeln für die Le- len Lebensführung helfen können: die Kri- bensführung liefern. Die Geschichte vie- tik an geläufigen Vorstellungen von der Art, ler Kulturen liefert Beispiele genug für die wie man leben sollte, und die Angabe von Belehrung von Individuen durch Regeln: Regeln dazu, wie man am besten die indi- Ermahnungen, wann man schlafen sollte viduell angemessene und nicht notwendig („early to bed and early to rise“); wie es- regelgeleitete Lebensführung findet. Nen- sen und trinken („in Maßen“), wie auf nen wir solche Regeln Metaregeln, auch Überraschungen reagieren („tief Luft ho- wenn sie sie nicht notwendig auf Regeln len“) und für tausend andere All- und einer ersten Ebene beziehen. Außeralltäglichkeiten. Solche Regeln er- Zum zweiten: Zugegeben, die Philosophie weisen sich schnell als untauglich für den kann ihre Kritik und Metaregeln ohne individuellen Fall. Philosophie, die nur all- Rücksicht auf die gesellschaftlichen Be- gemeine Aussagen machen kann, ist nicht dingungen, Chancen und Gefahren auf- der Ort, eine Lebenskunst zu entwickeln. stellen. Aber sie muß es nicht. Sie kann Der Ort ist die schöne Literatur. Sie führt sie berücksichtigen. Ihre Kritik und Meta- uns individuelle Fälle der Lebensführung regeln werden um so mehr zu einer indivi- vor, an deren Scheitern oder Gelingen wir duellen Lebensführung beitragen, je mehr durch Anschauung, intuitiv, nicht begriff- sie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse lich oder diskursiv erkennen, wie man am eingehen. Wir brauchen Individuen nicht besten lebt. als den bloßen Ausdruck des Ensembles Zweitens und radikaler, selbst wenn Phi- ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse zu losophie Regeln der individuellen Lebens- betrachten, um die Abhängigkeit ihrer In- führung liefern könnte, sollte sie es nicht teressen und Probleme von ihnen anzuer- tun. Individuelle Lebensführung gehört in kennen. Doch wenn die Abhängigkeit er- den Bereich des Privaten; Philosophie kannt ist, kann das Individuum sich von aber hat es mit dem Öffentlichen zu tun. ihnen unabhängig machen. Kümmert sie sich um das Private, verfehlt Hoppla, der letzte Satz schießt schon über sie ihre Aufgabe. Statt zu beschreiben und ein Gegenargument hinaus. Zuerst noch zu erklären, was die für jeden Menschen etwas zu kritischen Stimmen nicht von wichtigen gesellschaftlichen Entwicklun- Philosophen, sondern Konkurrenten in der gen, Chancen und Gefahren sind, bleibt individuellen Lebensberatung. Sind für sie sie am unwichtigen Individuellen hängen. Psychologen und Theologen nicht kom- Doch auf jedes Argument finden Philoso- petenter, vielleicht auch Mediziner und phen ein Gegenargument. Zum ersten: Zu- Juristen? Psychologen und Mediziner ha- gegeben, die Philosophie kann nur Ver- ben die empirischen Kenntnisse zu sagen, standesregeln aufstellen und ist im Ver- was man tun und nicht tun kann; Theolo- stehen individueller Fälle der schönen Li- gen und Juristen die normativen Kennt- teratur unterlegen. Doch folgt daraus nicht, nisse zu sagen, was man tun und nicht

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 9 tun soll. Welche Kompetenz haben die ihn auf nichts Positives festlegt. Betrach- Philosophen? tet er populäre Vorstellungen darüber, wie Philosophen bringen nur Logik, den Zwei- man am besten lebt, muß er sich in sei- fel an allen Behauptungen, die ihnen nicht nem Element fühlen, so schön sind sie einleuchten, und gelegentlich auch gesun- kritisierbar. Vermutlich wäre die Philoso- den Menschenverstand mit. Reicht das? phie gar nicht entstanden, wären die all- Es muß reichen. Denn es ist die Kompe- gemeinsten positiven Lebensregeln weni- tenz, die jeder hat und braucht, der über- ger zweifelhaft. Das muß uns bedenklich haupt an individueller Lebensführung in- machen. Wenn die nicht-philosophische teressiert ist. Zur individuellen Lebensfüh- Menschheit so dumm ist, auf leicht kriti- rung gehört, daß man über sein Leben sierbare Lebensregeln zu verfallen, kann selbst entscheidet und nicht von Psycho- da die philosophische Menschheit schlau- logen oder Theologen, Medizinern oder er sein? Oder können die Späteren leich- Juristen entscheiden läßt. Man kann sich ter die Fehler der Früheren erkennen? Dann von Fachleuten Kenntnisse geben lassen, könnte es sogar einen Fortschritt in der die man manchmal braucht. Entscheiden Lebenskunst geben! Leider sieht die aber muß man selbst und kann es, mit Menschheitsgeschichte gar nicht nach ei- Logik, gesundem Menschenverstand und nem solchen Fortschritt aus. dem Zweifel an allem, was einem nicht ein- leuchtet. Der Philosoph bildet sich nur ein a. Sippenorientierung zu artikulieren, was jedermann und jedefrau Was sind die allgemeinsten positiven Lebens- artikulieren kann, im Idealfall mit der nöti- regeln? Lassen wir uns bei ihrer Aufzählung gen Frechheit gegen die mit der Wissen- von einer mutmaßlichen Geschichte der schaft oder Gott, dem Krebs oder dem Menschheit leiten, so müssen wir an erster Gesetzbuch imponierenden Fachleute. Stelle die Regel nennen, für die eigene Sip- Vielleicht kann er nur ein bißchen frecher pe, Horde, Familie, Clan, Stamm zu le- sein, weil er gesehen hat, daß es zu jedem ben und zu sterben. Natürlich hält diese Argument ein Gegenargument gibt und es Sippenorientierung dem ätzenden Zweifel in den Überzeugungen noch mehr Moden nicht stand. Aber nicht etwa deshalb, weil gibt als in den Hüten, die man trägt oder das Opfer für eine Gruppe immer zwei- nicht trägt. felhaft ist, sondern weil die Regel nicht Sie sind nicht überzeugt? Dann sind Sie angibt, wofür das Opfer gut sein soll. eine gute Philosophin. Langweilen wir uns Diente die Gruppe etwa der Förderung der nicht mit abstrakten Argumenten. Machen Philosophie und wären wir begeisterte wir die Probe aufs Exempel. Versuchen Philosophen, so wäre es nur konsequent, wir einmal, kritische und Metaregeln auf- für die Gruppe zu leben und zu sterben. zustellen. Wenn wir am Ende nicht schlauer Das Problem mit der Sippenorientierung sind, müssen wir eben weiter zweifeln. ist, daß sie über den Sinn und Zweck der Sippe schweigt. Sie verlangt Aufopferung 2. Kritik an Vorstellungen, wie man le- für die Sippe, weil sie unsre Sippe ist. Sie ben sollte erwartet, daß wir vor allem dadurch zum Kritik ist das Element des Philosophen, Besten unsrer Sippe beitragen, daß wir sie die großzügige Tochter des Zweifels, die erhalten und vor dem Untergang in der

10 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Konkurrenz mit andern Sippen bewahren. das tun, so gestehen wir natürlich unsre Das Problem wird vor allem daran fühl- Sisyphosgleichheit nicht ein. Wir antwor- bar, daß wir zum Erhalt unsrer Sippe Kin- ten vielmehr: damit unsre Kinder es ein- der zeugen und auf die Frage, wofür wir mal besser haben als wir; oder: weil wir sie zeugen, nur antworten können: damit unsre Kinder lieben; oder: damit unsre sie wiederum Kinder zeugen und so groß- Kinder glücklich werden. ziehen, daß sie wieder Kinder zeugen und Nicht als ob die Antworten nicht wahr großziehen, damit sie Kinder zeugen, und wären. Sie verdecken jedoch den Mangel so fort von Ewigkeit zu Ewigkeit. Doch einer Antwort auf die Frage, warum wir wofür sollen die Kinder leben, die wir zeu- uns überhaupt auf das Geschäft des Kin- gen und unsre Kinder zeugen sollen? Dazu derkriegens einlassen. Haben wir einmal schweigt die Sippenorientierung. Sie ist Kinder, so ist es, der Natur sei Dank, für im wahrsten Sinn sinnlos, da sie keinen die meisten Eltern unvermeidlich, daß sie Sinn angibt. Ihre Absurdität wird im My- ihre Kinder mit der Inbrunst lieben, die thos des Sisyphos ausgedrückt, der ei- manche Philosophen als Affenliebe gerügt nen gewaltigen Stein einen Berg hinauf haben. Aber warum überhaupt Kinder krie- wälzt, nur um zuzusehen, wie er wieder gen, wo wir doch wissen, daß unsre Kin- hinab rollt, worauf er ihn erneut den Berg der am Ende sterben werden wie wir? Wo- hinauf wälzt, von Ewigkeit zu Ewigkeit. für ist die kurze Spanne zwischen Geburt Dieser Mythos ist übrigens ein schönes und Tod gut, die wir ihnen geben? Darauf Beispiel für eine nicht begriffliche, nicht hat die Sippenorientierung sowenig eine philosophische Kritik und beweist, daß die Antwort wie wir Eltern, wenn wir Kinder menschliche Fähigkeit und Lust zur Kri- zeugen. Ein Leben zwischen Geburt und tik nicht auf Philosophen beschränkt ist. Tod, gefüllt mit dem Großziehen von Kin- So sinnlos die Sippenorientierung ist, so dern, die wieder Kinder großziehen, de- wenig haben wir Grund, sie zu verspotten ren Leben gefüllt ist für das Großziehen oder nicht ernst zu nehmen. Sie ist unaus- von Kindern – soll das alles gewesen sein? rottbar, jedenfalls gestehe ich, daß ich un- Solch ein Leben ist ge- aber nicht erfüllt. ausrottbare Sympathien für sie habe. Die So schien und scheint es der zweifelsüch- meisten Eltern tun genau das, was Sisy- tigen Menschheit. phos tut. Sie wälzen den Stein der Auf- Vermutlich ist die Sippenorientierung ein zucht ihrer Kinder den Berg ihrer Reife Erbe unsrer tierischen Vergangenheit. Das hoch, nur um zuzusehen, wie die Kinder Tier ist der ewige Sisyphos; es lebt, um wieder Kinder in die Welt setzen und den Junge zu werfen, damit sie wieder Junge Stein der Erziehung denselben Berg hin- werfen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Si- aufwälzen, und so fort von Ewigkeit zu syphosmythos bezeugt das Ungenügen, Ewigkeit. Solange sie Eltern sind, sehen das Menschen an ihrem tierischen Erbe sie keine Sinnlosigkeit in ihrer Mühsal. Im entdeckten. Dasselbe Ungenügen bezeu- Gegenteil, sie gehen auf in ihrer Arbeit und gen das Epos von Gilgamesch, der nach stürzen oft in ein Loch der Verzweiflung, dem Mittel für Unsterblichkeit sucht, und wenn die Kinder aus dem Haus und keine der Prediger des Alten Testaments, die Enkel da sind. Fragen wir sie oder uns beide über die Sterblichkeit des Men- selbst, wenn wir Eltern sind, warum wir schen, genauer des menschlichen Indivi-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 11 duums klagen. Solche Klagen setzen den boten. Denn sie nehmen entweder aus der Zweifel an der Sippenorientierung voraus, Sippenorientierung die Idee auf, die Le- denn die Sippe ist potentiell unsterblich. benserfüllung im Opfer für einen überin- Die Klage des Predigers ist der im Sisy- dividuellen Wert zu finden, aber sagen nun, phosmythos ausgedrückten Klage sehr worin er besteht; oder aus der Erlösungs- ähnlich: religion die Idee, es komme auf das Indi- viduum an. Als überindividuelle Werte, die Wie ist alles so nichtig! spricht der Pre- jedem den Sinn und Zweck des Lebens diger. Wie ist alles umsonst! Was hat anzeigen, stehen noch immer die eigene der Mensch für Gewinn von all seiner Nation (oder Polis oder Vaterland) hoch Mühe, womit er sich abmüht unter der im Kurs. Zur Rechtfertigung der von der Sonne? Ein Geschlecht [d.h. eine Ge- Nation verlangten Opfer müssen ihre An- neration] geht dahin, und ein anderes hänger ihr Werte zusprechen, Qualitäten, kommt; aber die Erde bleibt ewig ste- die andern Nationen fehlen. Die Sippe hat- hen. Die Sonne geht auf, und die Son- te das nicht nötig. ne geht unter und strebt zurück an ih- Zweifelsüchtige Menschen kann weder die ren Ort, wo sie wiederum aufgeht. (Der Religion noch die Nation befriedigen. Aus Prediger 1, 1-5) ihrer anhaltenden Popularität sollten wir jedoch nicht oder nicht nur schließen, daß Die täglich wiederkehrende Sonne ist das die Menschen eher zum Glauben als zum Bild des steinwälzenden Sisyphos;1 die Zweifel neigen. Vielmehr sollten wir ihr drei ewig stehen bleibende Erde die Sippe, in Dinge entnehmen: daß viele Menschen noch deren Generationenkette das Individuum in Verhältnissen leben, in denen ihnen nur nichtig scheint. die eigne Sippe oder Religion Schutz bie- Natürlich suchten die Menschen Ersatz für tet; daß sie leicht in die ursprüngliche Sip- die zweifelhaft gewordene Sippenorientie- penorientierung zurückfallen, wenn sie die rung; sie suchen noch heute. Die gesamte Sicherheiten verlieren, die ihnen die Ge- Liste von Lebenszielen, die je aufgestellt sellschaftsformen boten, die historisch auf wurden, sind nur Ersatzangebote zur Sip- die Sippenverbände folgten, und daß unsre penorientierung. Sie taugen alle, wie wir Lebensziele nicht unabhängig von den sehen werden, ebensowenig, und schon sozialen Verhältnissen sind, in denen wir das zeigt, wie stark wir an der Sippenorien- leben. tierung hängen. Sie setzte den Maßstab Weitere überindividuelle Werte sind die eines erfüllten Lebens, den alle späteren Wissenschaft, die Kunst, die Philosophie, nicht erreichen. die Gerechtigkeit; die Moral; aber auch Was sind die Ersatzangebote? Nennen wir weniger erhabene wie der Fußball- oder die wichtigsten. Den historisch ersten Er- Billardsport, oder mittlere Ränge wie die satz lieferten vermutlich die Erlösungsreli- Raumfahrt oder die Krebsbekämpfung. gionen mit dem Angebot der Erlösung von Wir hören bei Nachrufen, die Verstorbe- Sterblichkeit unter gewissen Glaubensbe- nen hätten für diese Dinge gelebt, und das dingungen. Die zweifelnden Thomasse ist oft genug die Wahrheit. Menschen fin- mußten nach Alternativen suchen. Sie fol- den im Leben für Gerechtigkeit, den Fuß- gen alle wieder diesen zwei ersten Ange- ball oder die Krebsbekämpfung ihre Er-

12 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 füllung. Nur können solche Werte nicht Die Moderne ist ein Kind der westeuro- Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen. päischen Gesellschaften, die von der Er- Für den einen Mediziner kann es sinnvoll lösungsreligion des Christentums geprägt sein, für die Krebsbekämpfung zu leben waren, auch wenn im 17. Jahrhundert, als und sterben; für den andern nicht. Über- die Ideen der Moderne aufkamen, das individuelle Werte können nicht die Sip- Christentum seinen Einfluß verloren hat- penorientierung beerben. te. Aber der Individualismus des Christen- tums war nur eine günstige Ausgangs- b. Individualismus position für den härteren Individualismus, Wie steht es mit den Erlösungsreligionen der sich in Westeuropa entwickelte. Im und ihrer Orientierung am Wert des Indi- Bereich des orthodoxen Christentums ent- viduums? Soweit sie für ihre Lehren Un- wickelte sich kein vergleichbarer Indivi- fehlbarkeit beanspruchen, kommen sie für dualismus; ebensowenig im Bereich des die individuelle Lebensführung nicht in Islam. Was Westeuropa vom orthodoxen Frage, da diese den Zweifel voraussetzt. und islamischen Osten unterscheidet, ist Soweit sie den Individuen Gewissensfrei- die besondere Rolle, die der Markt ge- heit einräumen, können sie keine allgemein- wann. verbindlichen Ziele angeben. Ihre Bedeu- Um die Bedeutung des Markts und seine tung liegt in ihrer historischen Rolle: Sie Rolle für die Entwicklung des überliefer- haben der Sippenorientierung und ihren ten Individualismus zu verstehen, müssen Nachfolgern den Individualismus entge- wir die Lebenskunst kurz vergessen und gengestellt. Sie geben dem Individuum überlegen, nicht wie Individuen, sondern Vorrang vor dem Kollektiv und überindi- wie Gesellschaften organisiert sein kön- viduellen Werten, da sie die Welt als ein nen. Auch Gesellschaften müssen Proble- Drama verstehen, in dem sich alles um die me bewältigen. Zwei ihrer vielleicht ele- Erlösung des Individuums dreht. Ohne sie mentarsten Aufgaben sind das Allokations- gäbe es die Moderne nicht. und das Belohnungsproblem: wie und wo- Der Individualismus gilt oft als Kennzei- zu sie ihre Ressourcen verbrauchen oder chen der Moderne und moderner Lebens- allozieren; und wie sie die Arbeiten beloh- führung. Angesichts der Rolle des Natio- nen, durch die sie sich reproduzieren. nalismus in der Moderne, aber auch über- Für diese zwei Probleme gibt es zwei und individueller Werte wie der Wissenschaft nur zwei grundsätzlich verschiedene Lö- und der Gerechtigkeit, ist das eine falsche sungen, die Verwaltung und den Markt. Ideologie. Aber auch falsche Ideologien Entweder entscheiden einige Weise oder prägen Epochen, und die Moderne hätte Tyrannen, wie alloziert und belohnt wird, einen andern Charakter, bildete sie sich oder jedes Individuum ist frei zu tun, was nicht ein, individualistisch zu sein. Ihr In- es will. Die Verwaltungslösung hat in der dividualismus geht jedoch über den der Geschichte vorgeherrscht, oft in der Form Erlösungsreligionen weit hinaus. Denn er einer Drei-Stände-Gesellschaft, in der der schließt Egoismus ein, den die meisten dritte Stand produziert, der Stand der Krie- Erlösungsreligionen verbieten. Wie ist das ger eine ihm günstige Art der Allokation möglich? Können, dürfen wir Egoisten und Belohnung durchsetzt und der Stand sein? der Priester diese Art absegnet.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 13 Die zweite Lösung scheint ins Chaos zu ein Laster ist, ist für das Gemeinwohl ein führen. Wenn jeder frei ist zu produzie- Vorteil oder eine Tugend.2 Ähnlich erklärt ren, was er will, wie kann die Gesellschaft Adam Smith trotz seines Versuchs, sich vom überleben? Produktion und Konsumtion verteufelten Mandeville zu distanzieren: müssen aufeinander abgestimmt sein. Da jedoch jeder verkaufen muß, was er pro- It is not from the benevolence of the duziert, produziert er nur, wofür er Käu- butcher, the brewer, or the baker that fer findet; seine Produktion wird gesteu- we expect our dinner, but from their ert durch den Bedarf. Vermittelt wird die regard to their own interest. We address Abstimmung durch den Markt. Der Markt ourselves, not to their humanity but to ersetzt die Herrscher. Er macht sie über- their self-love, and never talk to them flüssig. Eine marktgesteuerte Gesellschaft of our own necessities but of their ad- ist daher viel attraktiver als jede, die Ty- vantages.3 rannen oder Weise braucht, um die Pro- bleme der Allokation und Belohnung zu Eine marktgesteuerte Gesellschaft braucht lösen; zumindest scheint es so. nicht Menschlichkeit, sie braucht Egois- Bernard Mandeville und Adam Smith prä- mus. Für uns heute ist das der Ausdruck sentierten der Welt das Modell einer Markt- des homo oeconomicus, an den nur noch gesellschaft. Marktgesellschaften brau- fanatische, wenn auch einflußreiche Neo- chen, wie sie zeigten, nicht nur keine Herr- liberale glauben. Im 18. und weit ins 19. scher; sie brauchen auch keine Moralität Jahrhundert hinein war es ein Evangelium, oder Vorschriften, worin das gute Leben eine Frohbotschaft. Sie befreite vom Pro- besteht. Sie brauchen strenge Regeln der blem des Bösen und lieferte die Theodizee, Gerechtigkeit, aber die beschränken sich nach der Philosophen und Theologen ver- darauf, jedem die Freiheit zu sichern zu geblich suchten. Stolz und Egoismus wa- tun, was er will, solange er nur die gleiche ren die Quelle des Bösen; aus Stolz hatte Freiheit jedes andern achtet. Zur gleichen Luzifer, der strahlendste unter den Engeln, Freiheit aber gehört gerade, daß jeder sei- nicht sein Knie vor Gott und seiner letz- nen eignen Ideen vom guten Leben fol- ten Schöpfung, dem Menschen, gebeugt. gen kann. Jeder kann daher auch so egoi- Nun aber zeigten die Ökonomen, daß dem stisch sein, wie er will; ja er sollte es, weil Egoismus alles Gute entspringt, was wir nur dann die Springquellen der Arbeit und uns an Reichtümern nur wünschen kön- Erfindung ungehemmt fließen. Schaden nen. Mandevilles Wirkung finden wir bei müssen wir vom universalen Egoismus Alexander Pope, der schon 1733 verkün- nicht fürchten, denn eine Gesellschaft von dete: Egoisten hält sich durch die Konkurrenz All Nature is but Art unknown to thee; in Schach. All chance direction, which thou canst Um die Umwertung der Werte hervorzuhe- not see; ben, die die Marktgesellschaft ermöglicht, All discord, harmony not understood; wählte Mandeville 1714 für seine Bienen- All partial evil, universal good: fabel in ihrer zweiten Auflage den Unterti- And spite of Pride, in erring Reason’s tel „Private Vices, Publick Benefits“: was spite, im Privaten oder der traditionellen Moral One truth is clear, Whatever is, is right.4

14 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Im selben Mandevilleschen Geist fügte ordnung eines weisen Schöpfers und nicht Pope hinzu: etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht Two principles in Human Nature reign, oder sie neidischer Weise verderbt“ hät- Self-love to urge and Reason to restrain; te.8 Nor this a good, nor that a bad we call; Hegel kennt die Quelle dieses Optimismus; Each works its end, to move or govern er weiß auch, daß der Markt nicht hält, all: was er verspricht,9 aber bewundert die And to their proper operation still Theorie, die zum Optimismus geführt hat. Ascribe all good, to their improper, ill. Es ist die … „… Staatsökonomie, (eine) Wissen- Self-love and Reason to one end aspire, schaft, die dem Gedanken Ehre macht, Pain their aversion, Pleasure their desire weil sie zu einer Masse von Zufälligkei- … 5 ten die Gesetze findet. Es ist ein inter- Thus God and Nature link’d the gen’ral essantes Schauspiel, wie alle Zusam- frame, menhänge hier rückwirkend sind … And bade Self-love and Social be the Dies Ineinandergehen, an das man zu- same.6 nächst nicht glaubt, weil alles der Will- kür des Einzelnen anheimgestellt scheint, Goethe läßt den Teufel Mephisto sich mit ist vor allem bemerkenswert und hat den Worten vorstellen: „Ich bin ein Teil eine Ähnlichkeit mit dem Planetensy- von jener Kraft Die stets das Böse will stem, das immer dem Auge nur unre- und stets das Gute schafft“.7 Das Böse gelmäßige Bewegungen zeigt, aber des- wird, auch wenn der Teufel es anders will, sen Gesetze doch erkannt werden kön- zum Guten – dank der wunderbaren Kraft nen.“10 des Markts, Laster in Tugend zu verwan- deln. Goethe muß nicht an den Markt ge- Die moderne Wirtschaft, so erläutert hier glaubt haben. Aber er hätte Mephisto nicht Hegel, erscheint als Masse von Zufällig- seine paradoxe Selbstbeschreibung in den keiten und individueller Willkür, weil jeder Mund legen können, wenn die Markt- frei ist zu produzieren, was und wie er theorie nicht die westeuropäische Öffent- will. Aber wegen der „rückwirkenden“ lichkeit zu einer radikalen Umwertung der Zusammenhänge wird Ordnung aus dem radikalsten Form des Individualismus, des Chaos und Egoismus der Individuen, die Egoismus, geführt hätte. so gesetzlos scheinen wie die Bahnen der Auch Kant zollt der neuen Wertung Tri- Planeten (die Planeten sind die Irrgänger, but. Er preist „die ungesellige Geselligkeit die andern Sterne sind die Fixsterne). Ihre der Menschen“, dankt „der Natur für die Entdeckung berechtigt die modernen Öko- … mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für nomen zur selben Bewunderung, die wir die nicht zu befriedigende Begierde zum Newton schenken, und beweist die Kraft Haben oder auch zum Herrschen“, ohne des Denkens, das Gesetze erkennt, wo die die „alle vortrefflichen Naturanlagen in der Wahrnehmung nur Zufall sieht. Menschheit ewig unentwickelt schlum- Das Modell einer Marktgesellschaft, die mern“ würden, und findet in ihr „die An- jede Machtordnung und Moralität durch

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 15 Markt und Egoismus ersetzt, erlaubte es, schaft eine große Idee: die Idee, daß jeder einen Individualismus zu bewundern, der seine Individualität gleichermaßen behaup- dem Individuum keine andre Schranke ten kann und sollte. Diese Idee aufzuge- setzt als die, die gleiche Freiheit jedes an- ben wäre Verlust, weil (wie Mandeville er- dern anzuerkennen. Es war die erste Uto- kannte)11 die Individualität aller, auch der pie einer freien Assoziation autonomer In- kleinen und oft verachteten Leute, die dividuen, die nur tun, was sie wollen, und Quelle des Reichtums des individuellen trotzdem nicht Unheil produzieren, son- und gesellschaftlichen Lebens ist und den dern Reichtum in jeder Hinsicht. Formen Schaden, den sie anrichten kann, soziale des Individualismus finden wir auch in Mechanismen besser verhindern als mo- Antike und Renaissance, in allen Erlö- ralische Regeln. sungsreligionen und in der politischen Phi- Wie weit wir uns zur Erhaltung dieser Idee losophie von Hobbes und Locke. Sie gel- auf Marktmechanismen stützen und wie ten jedoch entweder nur für eine Elite, wie weit den uneingeschränkten Markt von in Antike und Renaissance, oder bleiben Mandeville und Smith in nicht-ökonomi- folgenlos für Politik und Ökonomie, wie sche Bedingungen einbetten müssen, das in den Erlösungsreligionen, oder erlauben zu klären ist eine Aufgabe, die es wert nicht allen den uneingeschränkten Egois- wäre, ihr sein Leben zu opfern. Zuerst ein- mus, wie bei Hobbes und Locke. Wenn mal folgt aus meinem Exkurs zum Egois- wir aber heute nicht mehr daran glauben, mus der Moderne jedoch, daß er zwar ei- daß eine Gesellschaft dem uneingeschränk- nem unhaltbaren Marktmodell entsprang, ten Egoismus des Markts folgen kann; wir von ihm seine Wertschätzung der In- wenn wir sogar Belege genug dafür ha- dividualität aber übernehmen sollten. Wir ben, daß sie daran zugrunde geht; mit müssen die Marktgesellschaft der klassi- welchem Recht oder in welchem Ausmaß schen Ökonomie als Illusion erkennen und kann das Individuum sich selbst zum Ziel dennoch ihre Idee des gleichen Rechts der seiner Lebensführung machen? Individualität aller erhalten. Diese Idee ver- Die Moderne prämierte Individualismus, pflichtet auf strenge Regeln eines Rechts weil sie die Individuen als die Träger der der gleichen Freiheit, auf die Anerkennung Gesellschaft und die Schöpfer ihrer Inno- der Menschenrechte und die Ächtung ei- vationen verstehen wollte. Dies Verständ- ner Machtpolitik, wie sie heute noch be- nis ist unzureichend, weil die Individuen trieben wird. Aber sie erlaubt mit der Gel- von ihren gesellschaftlichen Bedingungen tendmachung der Individualität in den geprägt und auch ihre Erfindungen nie al- Grenzen des Rechts auch den Egoismus. lein ihr Produkt sind. Individuen schöp- Er wird eingeschränkt durch die Erkennt- fen aus den kulturellen Ressourcen, die nis der Abhängigkeit auch der Individua- ihnen Eltern, Schulen und andre gesell- lität der Individuen voneinander, aber be- schaftlichen Instanzen vermitteln und ihre hält ein Recht als Quelle der Entwicklung Erfindungen erst ermöglichen. Wir kön- zu einem erfüllten Leben. Wir werden uns nen daher nicht am uneingeschränkten noch den Kopf darüber zerbrechen, was Egoismus des Liberalismus von Mande- das heißt. ville und Smith festhalten. Trotzdem hin- terließ uns ihr Modell einer Marktgesell-

16 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 c. Glück Zwei Gründe sind es vor allem, die die- Die heute vorherrschende Form des Indi- sen Glücksdeterminismus überzeugend vidualismus ist die Orientierung am eig- machen; beide sind widerlegbar. Der er- nen Glück. Für viele Theoretiker ist dies ste ist ein Trugschluß. Der Glücksdeter- nicht nur eine Orientierung, die man wäh- minist leugnet nicht, daß manche Men- len kann, aber nicht muß, sondern die ein- schen sich für andre opfern. Aber er sagt: zig mögliche. ist ihr wohl sie glauben ihr Glück in der Opferung ih- beredtestes Sprachrohr. Mit ungebroche- res eignen Glücks zu finden. Er kann so- nem Pathos verkündete er: gar bereit sein anzuerkennen, daß man sein Unglück wählen kann, nur um zu zeigen, Nature has placed mankind under the daß man statt seines Glücks auch sein Un- governance of two sovereign masters, glück wählen kann. Er entgegnet wieder, pain and pleasure. It is for them alone daß man dann sein Glück in der Wahl sei- to point out what we ought to do, as nes Unglücks findet. well as to determine what we shall do. Was ist von diesem Argument zu halten? On the one hand the standard of right – Daß jemand sein Glück im Unglück fin- and wrong, on the other hand the chain det, heißt nur, daß er es für gut befindet, of causes and effects, are fastened to unglücklich zu sein. Aber etwas für gut their throne. They govern us in all we befinden (oder auch, in etwas sein Glück do, in all we say, in all we think: every finden) heißt nicht sein Glück anstreben. effort we can make to throw off our Wenn jemand sein Glück in seinem Un- subjection, will serve but to demon- glück findet, strebt er nicht sein Glück, strate and confirm it.12 sondern sein Unglück an. Daß er in dieser Hätte Bentham recht, so gäbe es doch ein Wahl sein Glück findet, gehört nicht zu Ziel, dem jede individuelle Lebensführung seiner Absicht. Also folgt er keinem De- nachstreben muß: unsre Lust zu vermeh- terminismus, der Lust zu folgen. ren und unsern Schmerz zu vermindern. Der zweite und vielleicht wichtigere Grund Das heißt nicht, daß wir alle dem gleichen für die Popularität der Glücksorientierung Ziel nachstreben; verschiedene Menschen ist der Determinismus, den Philosophen finden ihr Glück in verschiedenen Bedin- und Wissenschaftler lange für eine Impli- gungen; auch kann man sich darin irren, kation naturwissenschaftlicher Theorien worin man sein Glück zu finden glaubt. hielten. Wenn alle Naturprozesse determi- Für die individuelle Lebensplanung folgt niert sind, müssen auch unsre Handlun- jedoch, daß wir uns nicht den Kopf zer- gen determiniert sein, da unsre Handlun- brechen müssen, ob wir für unser Glück gen Prozesse in der Natur sind. Wie sind oder etwa die Krebsbekämpfung leben sie determiniert? Es ist nicht notwendig, wollen. Worüber wir uns allein den Kopf aber naheliegend, mit Bentham zu antwor- zerbrechen müssen ist, wie wir am besten ten: durch das Glücksziel. Der Determi- glücklich werden. Das läßt viel Platz für nismus menschlicher Handlungen kam Kopfzerbrechen, wohl für mehr, als wenn durch die Quantentheorie (ohne gute Grün- wir das Glücksziel von vornherein aus- de) aus der Mode, findet aber heute in der scheiden. Aber das Ziel steht fest, nur die Hirnforschung einen neuen Aufschwung. Mittel wechseln. Wolfgang Prinz etwa behauptet: „Wir tun

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 17 nicht, was wir wollen, sondern wir wol- ihm Voraussagen ableitet. Er kann nicht len, was wir tun.“13 Wolf Singer14 und vermeiden zu wissen, was er über sich Gerhard Roth15 haben sich auf ähnliche voraussagt; daher auch nicht vermeiden Aussagen eingelassen. Da ihre Vorstellun- zu entscheiden, ob er ihnen folgen sollte gen auf die individuelle Lebensführung oder nicht. Er kann sich nicht zurückleh- abfärben können, möchte ich zeigen, daß nen und abwarten, ob seine Voraussage sie nicht wissenschaftlich sind, wie sie eintritt; es liegt an ihm, was geschieht. behaupten, sondern eine These vertreten, Wenn wir eine Voraussage dazu gebrau- für die ihnen die Argumente fehlen. Ma- chen können, sie zu widerlegen, wie kön- chen wir folgendes Gedankenexperiment. nen wir determiniert sein? Stellen Sie sich einen zukünftigen Hirn- Den Deterministen werden solche Zwei- forscher vor, der alle Gesetze der Neuro- fel nicht beeindrucken. Er wird erklären, logie und alles aus Ihrer Vergangenheit die Kritik verwechsle Determinismus mit kennt. Er stellt den jetzigen Zustand Ihres Fatalismus; Fatalismus aber sei Mythos, Gehirns auf einem Computerschirm dar Determinismus Wissenschaft. Wenn wir und macht über Ihr Handeln Voraussagen. determiniert sind, handeln wir nicht unter Sie treffen alle ein, solange er sie Ihnen einem Fatum. Wir müssen selbst entschei- nicht mitteilt. Doch was geschieht, wenn den. Aber wir entscheiden so, wie wir de- er sie Ihnen mitteilt, etwa daß Sie gleich terminiert sind. Der Determinismus wirke einen Schluck Wasser trinken werden? als Kausalität durch unsre Entscheidun- Wenn Sie ein bißchen widerborstig sind, gen. Daß wir sie treffen, ändere nichts werden Sie keinen Schluck trinken; es ist daran, daß sie schon in der Vergangenheit nicht schwer, das Trinken hinauszuschie- festgelegt sind. ben, auch wenn man durstig ist. Sie be- Er wird dennoch anerkennen müssen, daß nutzen die Kenntnis der Voraussage, um ihre Festlegung in der Vergangenheit uns sie zu widerlegen. Was heißt das? zu keinen Voraussagen über unser Han- Wenn der Hirnforscher Determinist ist, deln befähigt, weil wir solche Voraussa- wird er erklären: Sie waren determiniert, gen zur Widerlegung der Voraussagen ge- die Voraussage zu falsifizieren, weil Sie brauchen können. Die Unvoraussagbarkeit halt etwas widerborstig sind. Doch war unsres Handelns ist radikal verschieden es für Sie notwendig, die Voraussage zu von der Unvoraussagbarkeit sehr komple- widerlegen? Haben Sie nicht willkürlich xer Prozesse, zu denen etwa meteorolo- entschieden; hätten Sie nicht auch anders gische gehören könnten. Bei diesen wird entscheiden können? Sie haben vielleicht die Voraussage durch die Komplexität der überlegt, ob Sie der Voraussage folgen Vorgänge, nicht durch die Kenntnis der oder sie widerlegen wollten, und sich für Voraussage verhindert. Was also bleibt von die Widerlegung entschieden, obgleich Sie der These, unser Handeln sei determiniert, auch ebensogut anders hätten entscheiden wenn auch der Determinist anerkennen können. Das Kontraintuitive der Behaup- muß, Voraussagen zu unserm Handeln tung des Deterministen wird besonders seien grundsätzlich unmöglich, falls der deutlich, wenn wir uns vorstellen, daß der Handelnde die Voraussagen kennt? Sie ist Hirnforscher den Zustand seines eignen eine These, die nichts dazu beiträgt, aus Gehirns auf den Schirm bringt und aus wissenschaftlichen Beschreibungen und

18 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Erklärungen Voraussagen zu machen, die und Trieben ein, eine Art Leidenschaft für die Mitteilung an den Handelnden über- die eigne Integrität, die den das Selbst zer- stehen. Sie ist wie ein Zierknopf an einem störenden Trieben entgegenwirkt.16 Sie Radio, den man drehen kann, ohne etwas legt auf individuelle Lebensführung fest; am Empfang zu ändern. Platon unterdrückt jedoch diese Konse- Wer daher behauptet, unsre Entscheidun- quenz in der Beschreibung eines Ideal- gen seien nicht determiniert, verletzt kein staats, der für Individualität keinen Spiel- wissenschaftliches Prinzip. Im Gegenteil raum läßt. Aristoteles erklärt das gute Le- entspricht er mit der Behauptung dem wis- ben eines Menschen als die Betätigung senschaftlichen Ideal, Phänomene so vor- seiner spezifischen Fähigkeiten und erläu- urteilsfrei wie möglich zu beschreiben. Wer tert Tugenden als die richtige Mitte zwi- dagegen behautet, sie seien determiniert, schen zwei falschen Extremen;17 beide Be- folgt nur einem alten Glauben, ohne ihn stimmungen machen aus der Moraltheorie auf Argumente zu stützen. eine Theorie von Metaregeln zur indivi- Was folgt für die Glücksorientierung? Daß duellen Lebensführung. Auch die zwei ein- sie eine unter möglichen, nicht die einzig flußreichsten Moraltheorien der Moderne mögliche ist. Sie kann sowenig Allgemein- und Gegenwart, Utilitarismus und Kantia- verbindlichkeit beanspruchen wie die Sip- nismus, sind an Metaregeln orientiert. Denn penorientierung, die Nation oder eine Re- ihre Prinzipien, das Utilitätsprinzip, nach ligion. Die individuelle Lebensführung fin- dem wir so handeln sollen, daß wir das det auch in der Glücksorientierung kein größtmögliche Glück hervorbringen, und Ziel, das sie voraussetzen könnte. Das In- der kategorische Imperativ, nach dem wir dividuum kommt nicht um seine individu- nur verallgemeinerbaren Maximen folgen elle Wahl herum. Und eine lehrbare Le- dürfen, sind Metaregeln. benskunst kann der Kritik an falschen Vorstellungen von Lebenszielen nur Meta- Die Philosophen haben ihre Metaregeln als regeln hinzufügen, Regeln dazu, wie man Richtschnur nicht nur der Politik und Ge- am besten eine individuell angemessene setzgebung verstanden, sondern auch der Lebensführung findet. individuellen Lebensführung. Von getreu- en Kantianern und radikalen Utilitaristen 3. Metaregeln abgesehen haben sie jedoch in der indivi- Die Geschichte der Philosophie ist voll duellen Lebensführung wenig Nachfolge von Metaregeln zur individuellen Lebens- gefunden. Der Grund kann nicht darin lie- führung. Sokrates säte den Zweifel an der gen, daß ihre Metaregeln dort unanwend- Richtigkeit der überlieferten positiven Re- bar sind; manche Kantianer und Utilitari- geln, wie man am besten lebt. Seine Frucht sten wenden sie ja an. Er liegt offenbar waren die Tugendethiken, die zwar die tra- darin, daß sie den meisten für ihre Pro- dierten Tugenden aufnehmen, aber mit Re- bleme untauglich scheinen. Das ist nicht geln unterfüttern, wie man sie zu verste- verwunderlich. Die antiken Philosophen hen und auf das individuelle Leben anzu- setzen soziale Verhältnisse voraus, insbe- wenden hat. Platon entwickelt dazu eine sondre die Sklaverei, die wir nicht haben neue Psychologie. Er führt den thumos und nicht wollen; der Utilitarismus setzt als vermittelnde Instanz zwischen Vernunft voraus, daß wir unser Glück maximieren

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 19 wollen; das ist entweder nicht wahr oder von ihnen scheinen mir als Ausgangspunkt zu allgemein, um uns in Konflikten zu hel- für die gesuchten Metaregeln in Frage zu fen; Kants Verallgemeinerbarkeitsprinzip kommen; die Idee der Authentizität und macht es zweifelhaft, individuelle Hand- die der Falsifizierbarkeit. Sie sind von Hei- lungsumstände ernst zu nehmen; sie ste- degger, Freud und Popper geprägt und hen immer in Verdacht, uns eine Ausnah- scheinen so unvereinbar wie diese Philo- me einzuräumen, die der kategorische sophen. Tatsächlich können sie einander Imperativ gerade verbietet. ergänzen. Aber ob sie viel zur individuel- Wenn daher die philosophischen und nicht- len Lebensplanung beitragen können, wird philosophischen Berater der individuellen zweifelhaft bleiben. Lebensführung trotz des großen Angebots an Metaregeln für die individuelle Lebens- a. Authentizität führung noch immer nach solchen Regeln Authentizität ist nur ein (an die englische suchen, erklären sie implizit ihr Ungenü- Übersetzung angelehntes) andres Wort für gen an den Metaregeln des Utilitätsprinzips Heideggers Eigentlichkeit, das ich vermei- und des kategorischen Imperativs. Ich de, um dem Jargon der Eigentlichkeit zu werde ihrem Urteil folgen und insbesondre entgehen. Sie ist der Zustand, den ein In- den Kandidaten nicht weiter prüfen, der dividuum erreicht, wenn es sich von der der beste Stützpunkt für Metaregeln schei- Herrschaft des Man befreit. Das Man ist nen könnte, nämlich das Glück. Wir sa- die erste Form der Selbststeuerung jedes hen schon, daß wir das Glück weit genug Menschen, die unvermeidlich ist, weil je- verstehen können, um auch noch im Un- der als Kind beginnt und auf die Leitung glück unser Glück zu finden; in diesem durch andre angewiesen ist. Freud nannte Sinn ist der Begriff inflationär und nichts- es das Über-Ich; er verband mit diesem sagend. Aber auch wenn wir das Glück Begriff weitere Vorstellungen, die uns hier enger verstehen, liefert es keine direkte nicht zu interessieren brauchen. Wichtig Handlungsorientierung, weil wir als Hand- ist hier nur, daß wir alle als Wesen zu le- lungsziel etwas Bestimmtes brauchen, wie ben beginnen, die von einer sozialen In- Tennismeister oder reich zu werden. Wir stanz gesteuert werden. Ebenso wichtig können ein solches Ziel zwar wählen, weil ist, daß wir uns von dieser Instanz befrei- wir annehmen, dadurch glücklich zu wer- en und sie durch etwas ersetzen können, den, obgleich die Annahme für die Wahl was Heidegger als das eigentliche Selbst nicht notwendig ist. Trotzdem ist das di- und Freud als das Ich beschreibt. Was rekte Handlungsziel nicht das Glück, son- aber unterscheidet das Ich oder authenti- dern der Gegenstand, von dem wir uns sche Selbst vom Manselbst oder dem so- Glück versprechen. Das Glück ist daher zial gesteuerten Selbst? Freud hat dazu eine nie ein direktes Handlungsziel, sondern nur Menge zu sagen,18 aber es ist nicht leicht, die Folge eines glücklich erreichten andern aus seinen vielen Aussagen das herauszu- Handlungsziels. schälen, was jedem zur leichten Unterschei- dung dienen kann. Heidegger ist noch we- Auch ohne Utilitätsprinzip und kategori- niger hilfreich. Er unterstellt, das eigentli- schen Imperativ bleiben der Lebenskunst che Selbst erschließe sich dem Menschen, genug philosophische Anregungen. Zwei dem „Dasein“, im „Vorlaufen in den Tod“:

20 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 „Das Vorlaufen erweist sich als Mög- geprägt wurden. Nur unter bestimmten lichkeit des Verstehens des eigensten Bedingungen können wir uns von solcher äußersten Seinkönnens, d.h. als Mög- Prägung frei machen. Diese Bedingungen lichkeit eigentlicher Existenz“, denn: sind jedoch nicht, wie Heidegger annimmt, „Im vorlaufenden Enthüllen dieses Sein- solche des „vorlaufenden Enthüllens“, könnens erschließt sich das Dasein ihm sondern des Urteilens nach Abwägen al- selbst hinsichtlich seiner äußersten ler erkennbaren Gründe für und gegen den Möglichkeit.“ 19 Gedanken, über den wir urteilen. Zu sol- chem Urteilen brauchen wir oft genug den Die Schwierigkeit, Heidegger zu folgen, Mut, auch solche Empfindungen in die liegt nicht in seiner Begrifflichkeit, son- Reihe der zu erwägenden Gründe aufzu- dern der These, daß wir uns nur durch nehmen, die man nicht hat, und das Selbst- eine Auseinandersetzung mit dem eignen bewußtsein, sich solcher Empfindungen Tod vom Man befreien können. Das ist nicht zu schämen. Aber was uns vom Man äußerst unglaubwürdig. Um sich vom Man unabhängig macht, ist zuletzt das Urtei- zu befreien, braucht man Mut, Selbstbe- len, das auch das berücksichtigt, was man wußtsein und ein eignes Urteil; daß man nicht wahrnimmt. sich mit seinem Tod beschäftigt hat, scheint Was ist nun das neue authentische Selbst, im besten Fall nebensächlich. Diese Ge- das das Manselbst ablöst? Manche Phi- genthese wird durch eine weitere Überle- losophen, vor allem Leibniz,21 nehmen an, gung gestützt. Wir müssen annehmen, daß daß wir im abwägenden Urteilen von den die Befreiung vom Man nicht nur ein Er- einleuchtendsten Gründen determiniert eignis in der Biographie eines modernen werden. Wenn das richtig ist, ist das au- Menschen ist, sondern auch ein Ereignis thentische Selbst ein Vernunftselbst, das in der Geschichte der Menschheit. Irgend- bei allen Individuen gleich ist und zudem wann einmal müssen Menschen angefan- in keiner Beziehung zum alten Manselbst gen haben, sich von der Herrschaft der stehen kann. Andre Philosophen dagegen, Konvention zu befreien. Tatsächlich fin- vor allem Descartes,22 argumentieren, daß den wir in der griechischen Antike Kandi- wir immer dem Grund folgen können, uns- daten für solche Emanzipatoren. Es sind re Unabhängigkeit von allen prädeterminie- die frühen griechischen Lyriker, vor allem renden Faktoren zu beweisen, und uns in Sappho und Archilochos.20 Sie zeichnet der Wahl dieses Grundes über jeden noch aus, daß sie zu ihren Empfindungen ste- so einleuchtenden Grund hinwegsetzen hen; zu diesen gehört auch die Angst vorm können. Auch dann sind wir durch einen Tod, aber nicht ein Vorlaufen, wie Heideg- Grund determiniert, aber nicht prädetermi- ger es beschreibt. niert, wie es der Determinismus annimmt. Sind also Mut, Selbstbewußtsein und eig- Den letzten Ausschlag im Urteil gibt nicht nes Urteil die Bedingungen, sich vom Man die Vernunft, sondern die Willkür des In- zu befreien? Hier müssen wir beachten, dividuums, das entscheidet, ob es seine daß wir uns nach Heidegger nie vollstän- Willensfreiheit demonstriert. Folgen wir dig vom Man befreien können. Das ist sehr Descartes, so ist das neue Selbst kein Ver- überzeugend. Wir bleiben immer abhän- nunftselbst, sondern ein individuell ver- gig von der Art, wie wir in der Kindheit schiedenes Willkürselbst. Es ist nicht völlig

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 21 getrennt vom Manselbst, weil sich in der dungen zu mir passen. Ich muß zwar fä- Willkür, in der ein Individuum entschei- hig sein, auch gegen meine Natur zu han- det, auch der Charakter des Manselbst deln, aber muß doch wissen, was ich sein entwickeln kann, trotz oder gerade wegen oder als meine Natur annehmen will. Wie der Fähigkeit des Willkürselbst, unabhän- aber finde ich das heraus? Falle ich mit gig von jedem prädeterminierenden Fak- der Anerkennung einer Natur oder eines tor zu entscheiden. Ideals, dem ich angemessen sein will, nicht Descartes hat vielleicht nicht darin recht, notwendig auf die Stufe meiner Prägung daß wir uns immer über einleuchtende durch das Milieu zurück, die ich durch Gründe hinwegsetzen können. Aber in Authentizität grade verlassen will? Fällen wie den beschriebenen Entschei- Der Idee der Authentizität haftet offensicht- dungen über Voraussagen, in denen wir lich eine Spannung, wenn nicht Wider- keine Schwierigkeiten haben, ebenso ja sprüchlichkeit an, die sie in den Ruf der wie nein zu einer Urteilsmöglichkeit zu Irrationalität gebracht hat. Sie impliziert sagen, wäre es bloßes Dogma, unsre Ver- einerseits die Unabhängigkeit des Urteils neinungsfreiheit zu leugnen. Sie aber ge- von jeder nur möglichen Prädetermination; nügt, uns im ruhigen Urteil, ob wir einer anderseits die Orientierung des Urteils an bestimmten einmal erkannten Prägung fol- einem passenden oder „wahren“ Selbst. gen sollten, zu einem Nein ebenso wie zu Aber eine solche Widersprüchlichkeit cha- einem Ja befähigen. Auch wenn wir nicht rakterisiert nun einmal den Menschen, der fähig sein sollten, unserm Urteil, daß wir allem widersprechen kann und gerade dar- ihr nicht folgen sollten, in der Praxis zu in sein Wesen findet, wie schon Pico della folgen, haben wir uns doch im Erkennen Mirandola und Hegel feststellten.23 Im Ne- über unsre soziale Bedingtheit hinwegge- gativen, im Mangel an Eigenem, das wir setzt. Unsere praktische Unfähigkeit wer- bei Zeitgenossen beobachten, wird beson- den wir dann entweder durch besondre ders deutlich, daß Authentizität kein Schein- Hilfsmittel überwinden können oder zwar begriff ist. Weil mangelnde Authentizität hinnehmen müssen, aber versuchen zu nicht nur als Tatsache anerkannt, sondern verhindern, daß sie von den nächsten Ge- schon ihr Anschein gefürchtet wird, ha- nerationen übernommen wird. In jedem ben sich manche Berater auf „Authenticity Fall ist das neue Selbst kein Vernunft-, Consulting“ spezialisiert.24 Es gibt Perso- sondern ein Willkürselbst. nen, die ein Leben führen, von dem der Zum authentischen Selbst gehört daher die Beobachter sagt, so möchte er nicht le- Fähigkeit, nach Gründen zu urteilen und ben. Der Grund ist nicht notwendig, daß dabei auch dem Grund zu folgen, seine sie nicht viel erleben oder ihr Leben lang- Unabhängigkeit von allen sonstigen Grün- weilig ist. Der Grund ist eher, daß sie ihr den zu beweisen. Aber das authentische Leben nicht wirklich leben. Sie tun, was Selbst ist nicht identisch mit dem Willkür- sie tun, weil sie nichts Besseres sehen. Sie selbst. Dessen Fähigkeit reicht nicht aus leben nicht, sie werden gelebt. zur Authentizität. Ich habe noch kein eig- Natürlich tragen dazu gesellschaftliche nes oder authentisches Selbst, wenn ich Verhältnisse bei; wer eine Familie ernäh- allem widersprechen kann. Ich muß auch ren und dazu als Verkäuferin bei Schlek- so urteilen können, daß meine Entschei- ker arbeiten muß, wird bald gelebt, auch

22 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 wenn sie mit einem authentischen Selbst schied zum Gelebtwerden ist die Folge begann. Aber die gesellschaftlichen Be- des wachen Urteils. Wenn diese Überle- dingungen sind nur ein Faktor. Von ihnen gung richtig ist, muß sich die individuelle kann man sich zumindest zu manchen Lebensführung um das wache Urteilen und Zeiten unabhängig machen, an denen man nicht die Authentizität drehen. Wir kön- verhindern kann, nur gelebt zu werden. nen den richtigen Augenblick verpassen, Solche Zeiten aber werden manchmal ver- an dem wir verhindern können, gelebt zu paßt. Wie kann man dem Verpassen ent- werden, weil wir zu urteilen verpaßt ha- gehen? Kann man überhaupt versuchen, ben. authentisch zu sein? Doch ist der Verweis auf das gute Urtei- Authentizität ist eine Tugend im aristoteli- len nicht trivial; wie sollte man ohne gutes schen Sinn einer Haltung, die man durch Urteil ein gutes Leben führen können? Ist wiederholtes Handeln erwirbt. Aber anders er nicht auch zu wenig? Wir wollen ja wis- als andre Tugenden kann sie nicht direkt sen, wie man in kritischen Lagen gut ur- erstrebt werden. Das Handeln, durch das teilt. Ganz trivial kann der Verweis nicht man sie erwirbt, ist das gute oder wache sein, weil man immerhin empfehlen könn- Urteilen. Man urteilt nicht gut, wenn man te, sich nicht aufs Urteilen einzulassen. Das authentisch zu urteilen versucht. Man kann Urteilen hat schon Sokrates die Hinrich- keinen authentischen Gründen folgen; die tung und Nietzsche den Wahnsinn einge- gibt es nicht. Es gibt auch keine Qualität bracht, und was man gewöhnlich Lebens- in einem Gefühl, das uns anzeigen könn- kunst nennt, besteht auch darin, sich vor te, daß etwas, was wir tun, erwägen oder allzu wachem Urteilen zu hüten. Wenn wir entscheiden, authentisch ist. Man urteilt trotzdem das wache Urteilen für zentral vielmehr gut oder wach, wenn man erstens erklären, nehmen wir Risiken in Kauf, die den in den jeweiligen Umständen besten aus der Kunst des Lebens keine Lebens- Gründen folgt, zweitens vor der Betrach- künstler hervorgehen lassen. tung keines relevanten Grundes zurück- Aber der Verweis ist zu wenig. Er sagt schrickt, drittens die Willkür einer Ent- nur, daß man zur Revision bereit sein muß; scheidung, in der man ebenso gut anders was wir wissen wollen, ist, wann man eine entscheiden könnte, nicht scheut, und Entscheidung revidieren muß. Die typi- viertens bereit ist, unter veränderten Hand- schen Probleme individueller Lebensfüh- lungsbedingungen Entscheidungen zu re- rung treten nicht auf, wenn wir eine Sache vidieren. beginnen, sondern beenden wollen. Wir Authentizität ist die unbeabsichtigte Ne- beginnen die meisten Dinge in einem Al- benfolge davon, daß man gut urteilt. Es ter, in dem wir eher sozial als durch ein verhält sich mit ihr wie mit dem Glück: je authentisches Selbst gesteuert sind. Sol- mehr man es anstrebt, desto weniger er- cher Anfang ist nicht schwer. Selbst wenn reicht man es. Sie geht jedoch nicht auf in wir Dinge in einem Alter beginnen, das wir der Qualität, gut zu urteilen; hinzukommen reif nennen, gibt es kein Problem, sich für muß die Qualität, die uns zwischen leben sie zu entscheiden; wir würden sie ja nicht und gelebt werden unterscheiden läßt. beginnen, wenn wir keine guten Gründe Aber das wache Urteilen ist der Weg, sie für sie hätten. Probleme gibt es, wenn der zu erreichen; auch das Leben im Unter- Anfang einer neuen mit dem Ende einer

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 23 alten Sache verbunden ist. Was sind dann de Voraussagen aus der Theorie ableitbar die besten Gründe? Hier nur auf die Um- sind, muß sie schließlich aufgegeben wer- stände zu verweisen, die schon klarma- den. chen, was das Beste ist, hieße das ent- Dies Modell der Wissenschaftsentwick- scheidende Problem verkennen. lung läßt sich auf die individuelle Lebens- führung nur übertragen, wenn in der indi- b. Falsifizierbarkeit viduellen Lebensführung Entscheidungen, Wir können das Problem auch so formu- etwas anzufangen, mit Theorien vergleich- lieren: wenn wir zur Revision auch sol- bar sind und es dort etwas gibt, was die cher Entscheidungen bereit sind, mit de- Rolle potentieller Falsifikatoren spielt. Wä- nen wir eine Sache begonnen haben, die ren Entscheidungen immer mit Erwartun- wir zwar beenden wollen, aber nur mit gen verbunden, wäre die Übertragung ein- Schäden für andre oder uns selbst been- fach, weil der Nichteintritt der Erwartun- den können, was sind dann die potentiel- gen der gesuchte potentielle Falsifikator len Falsifikatoren der zu revidierenden Ent- wäre. Er wäre wieder nur ein potentieller scheidung? Was zeigt uns an, daß es nicht Falsifikator, weil man ihn als unecht zu- so weitergeht, wie wir gelebt haben? Aber rückweisen könnte, wenn das Ausbleiben gibt es hier überhaupt potentielle Falsifika- des Erwarteten durch Zusatzfaktoren er- toren? klärt werden kann und die Entscheidung Der Begriff stammt aus Poppers Wissen- sich in andern Hinsichten bewährt hat. schaftstheorie, nach der wir eine wissen- Aber Entscheidungen sind oft mit keinen schaftliche Theorie fallen lassen müssen, Erwartungen verbunden, zumindest mit wenn Voraussagen, die aus ihr ableitbar keinen bestimmten oder artikulierten. sind, nicht eintreten. Der Falsifikator der Gibt es auch dann potentielle Falsifikato- Theorie ist die empirische Aussage oder ren? Offensichtlich ja, weil Entscheidun- Tatsache, daß das Vorausgesagte ausge- gen auch alle Erwartungen erfüllen und blieben ist. Popper sieht jedoch auch die dennoch als falsch empfunden werden Möglichkeit vor, Falsifikatoren als unecht können. Die potentiellen Falsifikatoren zurückzuweisen und das Ausbleiben des können dann Empfindungen sein, die bloß Vorhergesagten durch Theorien zu erklä- die Falschheit der Entscheidungsfolgen ren, die der ursprünglichen Theorie zuge- signalisieren. Gerade weil sie nicht ent- setzt werden, um der Falsifikation zu ent- täuschten Erwartungen entspringen, kön- gehen. Das ist vernünftig, wenn die Theorie nen sie kategorisch, bedingungslos, die auf andern Gebieten so erfolgreich in Vor- Revision einer Entscheidung verlangen. hersagen und Erklärungen ist, daß ihr Wenn wir aber der Idee der Falsifizierbar- Ende die Entwicklung der Wissenschaft keit folgen, sind auch solche Signale nur gefährden würde. So ließen sich aus New- potentielle Falsifikatoren, die eine Ent- tons Theorie Positionen des Merkur ab- scheidung nur dann zu revidieren verlan- leiten, die Merkur nie einnahm. Statt New- gen, wenn die Signale nicht aus andern tons Theorie für falsifiziert zu halten, er- Gründen als aus der Falschheit der Ent- klärten die Astronomen das Ausbleiben scheidung erklärt werden können. Was in der vorausgesagten Positionen aus Zusatz- der Wissenschaft eher als Laster gilt, die theorien. Wenn jedoch zu viele scheitern- Phantasie in der Erfindung von Annahmen

24 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 zur Rettung einer angeknacksten Theorie, sens in der Wissenschaftsgemeinde zu muß in der individuellen Lebensführung kommen. Es wäre offensichtlich hilfreich, als Tugend gelten. wenn es eine vergleichbare Orientierung Betrachten wir das geläufigste Beispiel. Ein auch für Entscheidungen in der individu- Partner fühlt sich in seiner Ehe unglück- ellen Lebensführung gäbe. Gibt es sie? lich; sein Gefühl ist ein potentieller Falsifi- Das scheint zumindest schwer, wenn ich kator seiner Heiratsentscheidung. Es kann die populären Orientierungen an der Sip- die Revision kategorisch fordern. Nach pe, überindividuellen Werten, der Nation einem verbreiteten Verständnis von Au- und dem Glück zu Recht disqualifiziert thentizität ist der Partner nicht authentisch, habe. Aber gibt es nicht einen Fortschritt wenn er seinem Gefühl nicht folgt. Nach in der individuellen Lebensführung derart, meinem Verständnis hängt dagegen die daß man aktiver leben kann, mehr Mög- Authentizität allein vom guten Urteil ab. lichkeit hat, wach zu urteilen, mehr Hand- Das gute Urteil wiederum muß hier nach lungen zu initiieren, mehr wahrzunehmen, dem Modell der Falsifizierbarkeit verfah- mehr aus seinen Anlagen zu machen? Ist ren. Das heißt, der Partner muß untersu- es nicht ein Kriterium für ein reiches oder chen, welcher Art das Gefühl ist, ob es erfülltes Leben, daß es mehr Spontaneität durch Erklärungen seiner Entstehung zu und Rezeptivität hat als ein armes und nur einem Phänomen herabzustufen ist, das gefülltes Leben? seine Entscheidung der Revision entzieht. Lassen wir uns einmal auf die Idee eines Wie in der Wissenschaft kann diese Un- Fortschritts in individueller Lebensführung tersuchung des potentiellen Falsifikators ein und bestimmen das Fortschrittskrite- nicht unabhängig von der zur Revision rium in der angedeuteten Weise. Was folgt anstehenden Sache sein; sie muß vielmehr für den unglücklichen Ehepartner? Hilft deren Bedeutung und bisherige Bewäh- ihm die Fortschrittsidee? Das klingt un- rung in Rechnung stellen und fragen, wie plausibel. Aber er soll sich ja nicht fra- das Leben für ihn, den andern Partner und gen, ob er durch das Ja oder Nein zu sei- ihre möglichen Kinder bei einer Revision ner Ehe Fortschritte machen kann, son- weiterläuft. dern wie sein und das Leben der von sei- In dieser Hinsicht bietet Popper zur Ent- ner Entscheidung Betroffenen weiter ge- scheidungshilfe in der Wissenschaft eine hen kann; so wie der Wissenschaftler fra- nützliche Orientierung an: die gefährdete gen muß, wie seine Wissenschaft weiter Theorie darf nur und muß aufgegeben wer- gehen kann, wenn er eine angeknackste den, wenn sie wissenschaftlichen Fort- Theorie rettet oder aufgibt. Sein Gefühl, schritt verhindert. Wissenschaftlicher Fort- unglücklich zu sein, könnte sich auflösen, schritt von einer Theorie A zu Theorie B wenn er in der Ehe aktiver und wacher besteht darin, daß B mehr Phänomene der wird; er selbst und die Familie insgesamt Natur erklärt und daher riskantere erfolg- könnten wacher werden. Die Ehe kann aber reiche Voraussagen erlaubt als A. Dieser auch jede größere Wachheit ausschließen; Fortschrittsbegriff ist nicht sehr exakt, weil in dem Fall wäre es im Interesse aller Be- der Begriff riskanter Voraussagen nicht troffenen, aus der Ehe ein außereheliches quantifizierbar ist, aber er reicht aus, um Verhältnis zu machen, das allen mehr zu mehr oder weniger anerkanntem Kon- Spontaneität und Rezeptivität ermöglicht.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 25 Können wir uns auf die Idee eines Fort- 4 Alexander Pope, Essay on Man, End of First Epistle. schritts in individueller Lebensführung ein- Übersetzung: lassen? Ich glaube nicht, daß sie immer Natur ist Kunstwerk, das du nicht erkennst, Zufall Bestimmung, die du nicht durchschaust, weiterhilft, aber wenn sie es manchmal täte, Mißklang ist Harmonie, nur unverstanden, wäre das schon viel. In jedem Fall ist nicht Das Böse imer nur ein Teil des Guten. zu leugnen, daß die Idee der Falsifizier- Und tut Vernunft auch noch so wichtig, barkeit von Lebensentscheidungen durch die Wahrheit ist: Was ist, ist richtig. nur potentielle Falsifikatoren viel Spielraum 5 ibid., part 2 of Second Epistle. in ihrer Anwendung läßt, vielleicht mehr Übersetzung des Verfassers: Zwei Dinge regeln die Natur des Menschen: als erlaubt ist, um der Verurteilung als be- Selbstliebe drängt, Vernunft hält ihn zurück. liebig auslegbar zu entgehen. Vielleicht Nennt nicht die eine gut, die andre schlecht. bekräftigt sie nur den Eindruck, daß wir Denn jede wirkt perfekt auf ihre Art in der individuellen Lebensführung zwar Und schafft dadurch das Gute, Schlechtes nur nicht ohne Ausflüge in philosophische Wenn sie bei ihrer Art nicht bleiben kann. Theorie auskommen, die Theorie aber nur ... Selbstliebe und Vernunft sind darin einig, Schutz vor phantastischen Theorien bie- Schmerz zu verhindern, Lust zu mehren. tet und im übrigen von uns verlangt, auf 6 ibid., end of Third Epistle. unser waches Urteil zu vertrauen, obgleich Übersetzung des Verfassers: gerade das wache Urteil verhindert, Le- Gott und Natur haben es so gefügt, benskünstler zu werden, wenn wir jeden- Daß wer sich selbst liebt, allen nützt. 7 falls an Sokrates und Nietzsche denken. J. W. Goethe, Faust, line 8 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Ge- Vielleicht; ich überlasse das Urteil Ihnen. schichte in weltbürgerlicher Absicht, 4. Satz. 9 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 243-5 und 254-6. Anmerkungen: 10 ibid. §189. 1 Der Sanskritgelehrte Max Müller betrachtete im 11 Spricht Mandeville von „the Parasites, Pimps, 19. Jahrhundert den Sisyphosmythos wie viele andre Players, Pick-Pockets, Coiners, Quacks, Sooth- Mythen als einen Mythos, der die Eigenarten der Sayers, And all those, that, in Enmity With down- Sonne beschreibt. Für diese heute oft verspottete right Working, cunningly Convert to their own Use Theorie liefert der Prediger eine unerwartete Stüt- the Labour Of their good-natur’d heedless Neigh- ze, allerdings in einem Sinn, der mit Müllers Deu- bour“ (The fable of the bees a.a.O. 49-54), so ist tung nicht viel gemeinsam hat. Zu Müllers Sonnen- seine Sympathie nicht zu überhören. deutung vgl. Richard M. Dorson, The Eclipse of 12 J. Bentham, An Introduction to the Principles of Solar Mythology, Journal of American Folklore 68, Morals and Legislation (1789), in J. St. Mill, Utili- 1955, 393-416. tarianism, ed. M. Warnock, Glasgow (Collins) 2 Mandeville published his rhymed fable first in 1705 1979, 33. under the title The Grumbling Hive: or, Knaves Übersetzung des Verfassers: Turn’d Honest; there have been later editions bet- Die Natur hat die Menschen unter die Herrschaft ween 1724 and 1732, each of them again expanded. zweier Souveräne gestellt, den Schmerz und die For a critical edition see The Fable of the Bees: or, Lust. Sie allein bestimmen, was wir tun sollten, und Private Vices, Publick Benefits. By Bernard Man- zugleich, was wir tun werden. Sowohl der Maßstab deville. With a Commentary Critical, Historical, and von recht und unrecht als auch die Kette von Ursa- Explanatory by F. B. Kaye, 2 vol. Oxford 1924, chen und Wirkungen sind an ihren Thron geknüpft. 21957. Sie regieren uns in allem Handeln, Reden, Denken; 3 Ad. Smith, The Wealth of Nations (1776) bk 1, jeder Versuch, ihre Herrschaft abzuschütteln, be- ch 2, ed. A. Skinner, Penguin 1986, 119. weist und bestätigt sie nur.

26 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 13 W. Prinz, Freiheit oder Wissenschaft, in M. v. Zum Autor: Cranach und K. Foppa, eds., Freiheit des Entschei- Prof. Dr. Ulrich Steinvorth hatte 23 Jah- dens und Handelns, Heidelberg (Asanger), 86-103, re lang einen Lehrstuhl an der Universi- 87. 14 Wolf Singer, Ein neues Menschenbild? Frankfurt tät Hamburg und lehrt z.Z. Philosophie (Suhrkamp) 2003, 65: (Interviewfrage:) „Müssen in Ankara. Zu seinen zahlreichen Buch- Sie dann nicht auch das Prinzip von Schuld und veröffentlichungen gehören: „Klassische Sühne über Bord werfen?“ – S.: „Ja, ich halte die- und moderne Ethik“ (1990), „Gleiche ses Prinzip für verzichtbar. An unserem Verhalten Freiheit“ (1999), „Was ist Vernunft?“ würde sich gar nicht viel ändern…“ Vgl. ebd. 32f. (2002), „Gerechtigkeit und Politik“ 15 Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt (Suhrkamp) 2003. (2002) und zuletzt „Docklosigkeit oder 16 Platon, Rep. IV 435c-441c. zur Metaphysik der Moderne“ (2006). 17 Aristoteles, Nikomachische Ethik Buch 1 und 2. 18 s. bes. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einfüh- rung in die Psychoanalyse. Neue Folge, in Freud- Studienausgabe Bd. 1, Frankfurt (Fischer) 1969, 516 (31. Vorlesung: Die „Absicht“ der Psychoana- lyse „ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden.“ 19 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen (Nie- meyer) 1927, § 53, 263 und 262. 20 vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1946. 21 G.W. Leibniz, Nouveaux Essais, ed. C.J. Ger- hardt, Die philosophischen Schriften, vol. 5, Berlin 1982 pp. 84f und 168. 22 René Descartes an Père Mesland, 9 Febr. 1645; Œuvres de Descartes ed. Adam et Tannery vol. IV, 173. 23 Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate §3, Abs.20; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts §§ 5-7. 24 Man braucht diesen Begriff nur bei Google ein- zugeben.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 27 Dr. Michel Onfray (Caen/Frankreich) Begnüge Dich mit der gegebenen Welt! Übersetzt von Robert Zimmer1

Die französische Universität sieht in ih- der Götter, die sich dazu herablassen mit ren Lehrplänen nie einen Kursus über Phi- den Menschen zu reden. Sie wächst we- losophiegeschichtsschreibung vor. Man der aus der Erde heraus noch geht sie aus versteht warum: Es geht darum, nicht die einem ihr innewohnenden Humus hervor. Geheimnisse der Entstehung einer glatt Das wäre zu trivial, und zu wenig des ma- gebügelten Philosophie auszuplaudern, gischen Denkens.2 die, ohne Ecken und Kanten, für einen Im Detail – und um meine Analyse auf die nach intellektueller Nahrung begierigen Antike zu beschränken – die Griechen ha- Geist bestimmt ist. In den akademischen ben demnach die Disziplin um das Jahr Hinterküchen werden Suppen gebraut, von 600 v. Chr. begründet. Aber vorher? Nichts. denen sich das Gros der philosophischen Wo bleiben demnach die ägyptischen Weis- Mannschaft klaglos ernährt. heitsbücher dreitausend Jahre vor der Ge- Eine sorgfältig gearbeitete Geschichts- burt Christi? Und was ist mit China? Und schreibung würde demgegenüber zeigen, mit Indien? Was ist mit den berühmten wie die idealistische Philosophie als einzi- Gymnosophisten, ein nichts sagender All- ge und ausschließliche in das Blickfeld gemeinbegriff, der den Reichtum des indi- rückt. In den planetarischen Raum des schen Denkens unter der Armut einer Vo- Denkens zeichnet man Diagramme. Dar- kabel versteckt, die keinen präzisen Inhalt aus entstehen künstliche Zusammenhän- hat. ge. So wird eine lineare Perspektive er- Dieses Deutungsmuster wird von einem zeugt – der christliche Pfeil einer Zeit, die philosophischen Messias beherrscht: Pla- vergeht – und Weltdeutungsmuster, die ton. Vor ihm? Nichts, jedenfalls nichts auf diese gerade Linie aufgepfropft sind. Großes, ein Magma, ein Ruinenfeld, kein Entsprechend der herrschenden Logik Denken, das es verdient hätte, dass man entsteht die Kartographie auf einem abge- sich wirklich dort aufhält. Namen, Bruch- grenzten Territorium und zu einem fest- stücke, Begriffsscherben, philosophischer gelegten Zeitpunkt, wobei das Ganze die Abfall, Kleingeld. Um sich nicht bei De- ideologischen Ausgangshypothesen recht- tails aufzuhalten: Man erfindet den Begriff fertigt. „vorsokratisch“, um ihn dazu zu benut- Der Ort? Griechenland. Die Zeit? Das 7. zen, all das ins Dunkel zurückzudrängen, Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Das was die idealistische Geschichtsschrei- erste Weltdeutungsmuster? Die Vorsokra- bung stört. Demokrit, der Atomist? Par- tiker. Ganz im Sinn der üblichen Genea- menides, der Metaphysiker? Leukipp, der logie. Ein hellenisches Wunder! Eine Seg- Materialist? Heraklit, der Dialektiker? Und nung des Olymps... Die Philosophie ge- hunderte andere? In den gleichen Sack... biert sich selbst, ohne Vergangenheit, ohne Ist die Bemerkung erlaubt, dass Demokrit Quellen, ohne Boden und ohne Wurzeln: zum Beispiel als Vorsokratiker gilt, obwohl sie steigt vom Himmel herab, in der Art er als Zeitgenosse von Sokrates denkt und

28 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 schreibt – dem er doch vorhergehen soll- der herrschenden Doktrin widerspricht, sie te – und den er mindestens vierzig Jahre in Verlegenheit oder Schwierigkeiten bringt. überlebt! So wird also jemand definiert, Und was bringt den Idealismus am mei- der in Wahrheit ein... Nach-Sokratiker war! sten in Schwierigkeiten? Der Materialis- Darf man jene charakteristische, von Dio- mus. Und welche Figur ist das größte Ge- genes Laertius überlieferte Anekdote mit gengift zu Platon? Demokrit. Schweigen übergehen, dass nämlich Pla- Von daher das Interesse der herrschen- ton die gesamten Werke des Demokrit ins den Geschichtsschreibung – begründet Feuer werfen wollte? Zwei Pythagoreer (!) durch das Christentum, das mit Konstan- haben ihn davon abgehalten – mehr aus tin zur Herrschaft aufstieg – in den Krieg dem zynischen Grund, dass dies materi- zu ziehen und einen unbarmherzigen Feld- ell unmöglich ist als aus Gründen der Be- zug der Repression gegen das materiali- rufsethik. Platon, der Antimaterialist; der stische Denken zu führen. Nichts ist da- Materialismus, der Antiplatonismus par bei unerlaubt, selbst der Tiefschlag nicht, excellence. ganz im Gegenteil. Die Erfahrungen des Fügen wir hinzu, dass Platon, der Ring- Epikur zu seinen Lebzeiten und des Epiku- kämpfer und Autor von Bildungstheater reismus mehrere Jahrhunderte nach ihm – man beachte seine Biographie – als bezeugen es. Der Gründer des Gartens? Catcher denkt und als Dramaturg schreibt. Ein grober Kerl, ein Wolllüstling, ein lü- Was voraussetzt, dass Personen nach Be- sterner Dieb, Trinker und Fresssack. Sei- darf gestaltet und entweder klein gehalten ne Lehre? Eine Rechtfertigung der Bestia- werden, wie z.B. die Sophisten, damit man lität – daher das berühmte Schwein3 . Der leichter über sie triumphieren kann, oder Idealist versteht es, sich im Dienst der gu- sehr groß gezeichnet werden (wie z.B. So- ten Sache die Hände schmutzig zu ma- krates), damit man über ein Sprachrohr chen! Die Zerstörung des Materialismus, verfügt, das lauter und besser gehört wird. das ist das Ideal, das ihm ständig vor Au- Die historischen Figuren , Gor- gen steht. gias oder Sokrates werden sogar platoni- Eine alternative Historiographie der Anti- siert, deformiert, weit entfernt von der Rea- ke würde all dies im Detail aufzeigen. Sie lität, die erst aufzudecken wäre. Denn die könnte genauso mit allen anderen Aben- Sophisten lehrten einen echten Nominalis- teuern des Idealismus in der Geschichte mus und Relativismus – im antipodischen verfahren: nach dem Platonismus das Gegensatz zu Platon –, und was Sokrates Christentum – und aus diesem folgend der betrifft, so steht er in Wahrheit Diogenes Deutsche Idealismus. Nietzsche hat es un- und Aristipp viel näher als einer Figur aus übertrefflich gesagt: Das Christentum ist dem platonischen Olymp. ein Platonismus für die Armen. Worauf Kommen wir mit dem Beispiel der anti- man ergänzen könnte: Der Deutsche Idea- ken Philosophie zu Ende. Es zeigt in gro- lismus ist ebenfalls, einige Jahrhunderte ben Strichen, dass man die Rumpelkam- später, ein Christentum für die Armen, mer im Dienst der eigenen Interessen auf- und zwar für die gleichen Armen ... räumt: Man missachtet all das, was nicht In diesen drei Weltdeutungsmustern – Pla- in das Ordnungsprinzip – Platon – passt, ton, Christus, Kant und Konsorten –, wirkt und vernachlässigt und verachtet das, was der Materialismus jedes Mal in der Art ei-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 29 ner philosophischen Kriegsmaschine: De- Band erweist sich in der Tat als eine Ge- mokrit und Leukipp, Epikur und Lukrez schichte des Materialismus von Demokrit gegen Platon und die Seinen; aber eben- und Leukipp bis zu Holbach, und führt so der christliche Epikureismus von Loren- dabei über die Klassiker Epikur und Lu- zo Valla, von Erasmus und Montaigne krez, Gassendi und Hobbes, ohne jene zu gegen die Kirchenväter, die Scholastik und vergessen, die bisher weniger oder über- den Neuplatonismus der Renaissance; das haupt nicht beachtet wurden: Aristipp von gebildete Freidenkertum eines Gassendi Kyrene und bestimmte Sophisten, aber gegen den cartesianischen Idealismus; der auch der paduanische Averroismus, Pom- französische Materialismus – wie wunder- ponazzi, Autrecour, Valla, oder auch bar doch La Mettrie, Helvetius, Diderot Priestley und Cabanis. und Holbach! – gegen die christlichen Nur fünf Jahre, nachdem er den letzten Apologeten, die von der Antiphilosophie Federstrich an diesem einzigartigen Werk vergessen wurden. angebracht hatte, schien dem Autor der Diese – materialistische- Gegengeschichte zweite Teil schon ein wenig überholt. Er der Philosophie kann gegen die offizielle hat recht. Seine Analysen über die Natur- und institutionalisierte Version durchaus wissenschaften, die Physik, Anthropolo- bestehen. Ihr Reichtum erstaunt, ihre Dichte gie, Physiologie, aber auch über Ethik, verblüfft. Aber dieser Acker wird nicht be- politische Ökonomie und Religion leiden stellt: keine Geschichte der materialisti- unter einer zu großen Nähe zu den Tages- schen Philosophie, keine Enzyklopädie diskussionen. Auch noch anderthalb Jahr- über diesen Gegenstand, keine Neuaufla- hunderte danach muss diese Kritik auf- gen, Übersetzungen, Forschungsarbeiten, rechterhalten werden. Ein beträchtlicher kein Unterricht, keine Bibliographien, kei- Teil der Namen sagt heute niemandem ne Bücher, und wenn, dann wenig: ein mehr etwas, es sei denn den Spezialisten leichtes Rascheln, zwei oder drei Namen, in deutscher Erkenntnistheorie der zwei- dessen ungeachtet aber fast nur Schwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts. gen ... Nichtsdestoweniger ist dieser Teil immer noch von Interesse: Der Materialist, des- Von daher die Bedeutung des Buches von sen kategorischer Imperativ lautet: Begnü- Albert Lange (1828-1875), Geschichte des ge Dich mit der gegebenen Welt! – ein Materialismus und Kritik seiner Bedeu- wunderbarer Satz mit erheblichen Konse- tung in der Gegenwart (1866). Ähnliches quenzen! – kann sein Denken nicht ent- ist, so scheint mir, zuvor nie unternom- wickeln ohne ein Minimum dessen zu ken- men worden. Und niemand hat das Pro- nen, was die Wissenschaft lehrt. Auf heu- jekt fortgeführt... Ein Denkmal also, das te übertragen: Das Denken eines materia- mitten aus der platonistischen Geschichts- listischen Philosophen ist heute nicht mög- schreibung und dem herrschenden ideali- lich ohne wenigstens eine minimale Kennt- stischen Schrifttum der Fachphilosophie nis der Neurowissenschaften, der Mole- herausragt. Der erste Teil trägt den Unter- kularbiologie, der Kristallographie, der titel „Geschichte des Materialismus bis auf Nuklearphysik, Teilchenphysik und ande- Kant“, der zweite „Geschichte des Mate- rer Bereiche einer Kartographie der Wirk- rialismus seit Kant“. Der einführende lichkeit, so wie sie ist.

30 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Lange wollte gegen die Geschichten kämp- Dr. Michel Onfray, geb. 1959, ist gegen- fen, die Erwachsenen erzählt werden, die wärtig der prominenteste Vertreter einer immer bereit sind, sich dem magischen hedonistischen und libertären Philoso- Denken4 der Kinder hinzugeben... Als Erbe phie sowie Gründer der freien Volks- der Aufklärung hatte er recht. Als Vorläu- universität in Caen (Normandie). Zu sei- fer einer neuen Aufklärung hat er immer nen wichtigsten, ins Deutsche übersetz- noch recht. Diese Geschichte des Materia- ten Büchern gehören: Der Bauch der Phi- lismus liefert uns eine Kriegsmaschine ge- losophen. Kritik der diätischen Vernunft gen den Idealismus, der immer den Schul- (1991), Der sinnliche Philosoph. Über die terschluss mit religiösen Fabeln und poli- Kunst des Genießens (1992), Die genie- tischen Mythen sucht. Dieses Buch, das ßerische Vernunft. Die Philosophie des in Teilen veraltet ist, ist dennoch immer guten Geschmacks (1996), Formen der noch aktuell, weil es von größtem Nutzen Zeit. Eine Theorie des Sauternes (1999) ist, um sich gegen die Ausdünstungen der und Der Rebell. Ein Plädoyer für Wider- herrschenden Geschichtsschreibung zu stand und Lebenslust (2001). 2006 er- schützen, die sich behauptet – ja dabei schien in Deutsch sein viel diskutiertes ist, das Fell des Bären wieder an sich zu Plädoyer für den Atheismus, Wir brau- reißen! chen keinen Gott. Warum man Atheist sein muss. Anmerkungen: 1 Der Übersetzer dankt Yvonne Petter-Zimmer für wichtige Hinweise bei der Herstellung der deutschen Endfassung. 2 Das „magische Denken“ gehört der „präoperatio- nalen Phase“ und damit der zweiten von vier Stufen der kognitiven Entwicklung an, die, nach dem Mo- dell Jean Piagets, jeder Mensch durchläuft. Das magische Denken führt Phänomene auf eine Steue- rung höherer Kräfte zurück. (Anm. d. Übers.) 3 Horaz bezeichnet sich im 4. Brief seiner Epistolae als „Epicuri de grege porcus“, als „Schwein aus der Herde Epikurs.“ (Anm. d. Übers.) 4 Siehe Anm. 2

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 31 Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider (Gießen) Hedonismus – eine naturalistische Ethik l. Die Grundlagen in der griechisch- – dann gibt es auch keinen Grund, nicht römischen Antike mit einer Frau zu verkehren, die schon vie- le andere erfreut hat.“1 Aus der Stadt Kyrene, im Osten der gro- ßen Syrte in Nordafrika, kam einst ein Phi- Auch wenn in der klassischen Antike die losoph namens Aristippos, Sohn des Ari- Beziehung zu Hetären gesellschaftlich ak- tadas, wohl um das Jahr 410 nach Athen. zeptiert war, so ist der darin ausgedrück- Er war durch den Ruhm des weisen So- te Pragmatismus doch bemerkenswert. krates angezogen worden und wollte sich Diese lebenspragmatische Einstellung ist an dessen Gesprächskreis beteiligen. Er charakteristisch für den Gründer der kyre- war ein weitgereister und weltoffener naischen Schule der Philosophie: Paul Na- Mann, der nach Sophistenart umherzuzie- torp kennzeichnet ihn als gewandten Le- hen pflegte, der sich an kein Gemeinwe- benskünstler, der sein Leben nach eige- sen binden mochte, und der es vorzog, nen Wünschen gestalten will, sich auch in dort wo man ihn einlud, das Gastrecht zu misslichen Situationen mit Heiterkeit zu- genießen. Nach Griechenland zogen ihn rechtfindet, der den Genuss liebt, ohne nicht nur die Philosophenschulen, son- von ihm beherrscht zu werden, der lie- dern auch eine schöne Frau. benswürdig im Umgang, doch scharfsich- In Korinth lebte damals die allseits begehr- tig für die Schwächen der Menschen ist, te Hetäre Laïs, die im Ruf stand, vielen kein Weltverbesserer, zwar hochgebildet, Männern den Kopf zu verdrehen. Der Hi- aber pedantischer Grübelei abhold, grund- storiker Athenaios berichtet, dass Aristipp sätzlich im Augenblick lebend – kurz ein jedes Jahr zwei Monate mit Laïs in Aegina, Virtuose der Lebenskunst.2 zur Zeit des Festes von Poseidon ver- Dieser Aristipp besuchte auch den Ge- brachte. Einige Zeitgenossen äußerten sich sprächskreis um Sokrates. Dabei kam ei- despektierlich über sein Liebesleben. Doch nes Tages die Sprache auf die möglichen auf den Vorwurf hin, dass es sich doch Lebensstile und die Rollen, die ein Bür- für einen Philosophen nicht schicken ger in der Gesellschaft innehaben kann. könnte, mit einem Freudenmädchen zu- Sokrates – so berichtet es Xenophon in sammenzuleben, reagierte Aristipp mit Ge- seinen Erinnerungen – verteidigte eine lassenheit und einem Gleichnis, das uns strenge Alternative: Es gibt nur zwei mög- Diogenes Laërtius überliefert hat: liche gesellschaftliche Rollen, zwischen denen man zu wählen hat, entweder ge- „Ist es unbotmäßig, lieber Freund, in ei- hört man zur herrschenden, oder man ge- nem Haus zu wohnen, in dem andere hört zur beherrschten Klasse in der Ge- schon gelebt haben? meinschaft. Nimmt man die Last auf sich, – Eigentlich nicht bei der Ordnung des Gemeinwesens eine – und mit einem Schiff zu fahren, das führende Rolle zu spielen, dann muss man schon viele benutzt haben? auf Grund der Verantwortung sich vieler – durchaus nicht Wünsche entsagen. Lehnt man diese Bür- 32 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 de ab, wird man von den Führenden un- Freude macht, aber „niemand fragt, zu terjocht und muss deren Gebote erfüllen. welchem Zweck man sich freuen wolle, Aber Aristipp lässt sich nicht in die sokra- darin drückt sich die Tatsache aus, dass tische Alternative zwingen: „Es scheint mir Freude und Lust an sich begehrenswert einen mittleren Weg demgegenüber zu ge- sind.“ Man kann jemanden fragen, wen er ben, den ich zu gehen versuchte, und zwar liebt und auf welche Weise, aber niemand weder über die Herrschaft noch über die wird die Frage, wozu er Liebe haben möch- Knechtschaft, sondern über die Freiheit, te, als sinnvoll ansehen, eben weil er intui- denn dieser führt am ehesten zur Glück- tiv voraussetzt, dass das Streben nach seligkeit.“3 Lust vielleicht erklärt werden kann, aber Damit ist das Programm des Hedonismus jedenfalls einer Begründung weder fähig formuliert, ein individualistisches Lebens- noch bedürftig ist. ideal, in dem das individuelle Glück das primäre axiologische Ziel bildet. Worin Die empirische Basis von Aristipps hedo- kann nun aber dieses Glück bestehen? Um nistischer Ethik bedeutet nicht völligen seinen Weg der Freiheit inhaltlich auszu- Verzicht auf die Rolle der Vernunft, sie füllen, macht Aristipp von einer anschei- wird gebraucht, aber nicht um eine Tu- nend evidenten Erfahrung Gebrauch: Der gendlehre zu begründen, sondern als Ver- Mensch strebt von Natur aus nach Lust. rechnungsinstrument zur Bilanzierung von Nicht die Vernunft, sondern die Erfahrung Lust und Unlust, vor allem zur Schadens- liefert das Telos (Lebensziel), den ober- vermeidung des empfindenden Subjekts. sten Wert. So betont er bei allem Streben nach Ver- Wir stellen ein Grundstreben bei allen hö- gnügen und Genuss die Aufrechterhaltung heren Lebewesen fest, bei Tieren und Kin- der Selbstbestimmung, der Autonomie: dern ebenso wie beim erwachsenen Men- Dies ist auch der Sinn seines Prinzips: schen: Alle neigen spontan der Lustempfin- „œcw, all’ oÙk œcomai“ („Ich besitze, dung zu und sind ebenso unmittelbar be- werde aber nicht besessen“).4 müht, der Unlust zu entfliehen. Das grie- Diogenes Laërtius berichtet, dass Aristipp chische Wort (¹don») hat dieser einmal mit einem jüngeren Begleiter eine Lebensphilosophie ihren Namen gegeben. Hetäre besuchen wollte und dieser scheue Weil wir dieses Streben beim Menschen Jüngling zögerte etwas. Aristipp beruhig- konstatieren, deshalb muss nach Aristipp te ihn: „Nicht im Eintritt in ihr Haus liegt diese anthropologische Grunddisposition das Bedenkliche, aber nicht wiederloskom- die Basis für die Regelung aller Handlun- men, das ist’s.“5 In der Verwaltung des Be- gen im menschlichen Leben bilden. gehrens liegt somit die Aufgabe der Vernunft. Ein Zeitgenosse Aristipps, Eudoxos von Die inhaltliche Ausfüllung des Lustbegriff Knidos, hat schon damals dafür argumen- ist bei Aristipp vage, nur so viel erfahren tiert, dass das Befolgen des Luststrebens wir, dass es sich nicht einfach nur um Frei- keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Eu- heit von Schmerz, sondern um „die sanf- doxos sieht den Basischarakter der Lust te zur Empfindung hin sich steigernde Be- dadurch gegeben, dass sie von allen Men- wegung“ handelt, die er als höchstes Ziel schen als Selbstzweck angesehen wird. ansieht. An eine wertmäßige hierarchische Man kann Menschen fragen, was ihnen Ordnung in den einzelnen Lustarten denkt

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 33 er nicht, er möchte keine inhaltlichen Vor- zu philosophieren, kam 323 nach Athen, gaben machen, jeder einzelne muss die nahm Unterricht in Mathematik, Naturphi- ihm gemäße Form der Lustgewinnung losophie und Rhetorik bei Nausiphanes. selbst finden. 310, als er 32 Jahre alt war, entwarf er Wohl aber lehrt er, dass die Erlebnisqualität sein praktisch-eudämonistisches Philoso- einer Lusterfahrung unabhängig vom Zustan- phie-Programm, den Menschen vom Lei- dekommen der Empfindung besteht. den zu befreien und den Weg zum Glück Panajotis Kondylis hat dies später die zu weisen. Er begann zuerst in Mytilene, „Entkoppelung der Legitimität der Lust dann in Lampsakos und zuletzt in Athen von der Legitimität ihrer Ursache“ ge- seine Schule aufzubauen. In Athen kaufte nannt. Vom Phänomen allein her lässt sich er für 80 Minen jenes Gartengrundstück, kein Lusterlebnis abwerten: Wenn wir eine wo er die Wohnstätte für seine Schule er- Erfahrung als freudvoll verbucht haben, richten ließ. Ihr gehörten neben den phi- dann stellt diese einen Wert dar, wie im- losophischen Schülern auch deren Ehe- mer sie auch hervorgebracht wurde. frauen, Sklaven und eine Reihe von Hetä- Der Status einer angenehmen Empfindung ren an. Seine eigene Lieblingshetäre war ändert sich nicht, selbst wenn diese auf Leontion. eine Weise zustande gekommen ist, die Der Garten (KhpÒj) sollte eine Oase des gegen konventionelle Sittengesetze ver- Friedens sein, wo man von den Stürmen stößt. In Bezug auf die Bewertung tradi- des Weltlebens geschützt war: Hier fand tioneller Sittenregeln gehen die Kyrenaiker die Praxis des dritten Weges statt, nicht übrigens konform mit den Kynikern, die in Revolte gegen Staat und Gemeinschaft, ebenfalls die Sitte als willkürlich festge- aber in abgeschiedener kontemplativer legte Konvention ansehen, um die sich ein Freiheit. Epikur war in seinen letzten Jah- aufgeklärter Bürger nicht unbedingt küm- ren kränklich und von Schmerzen geplagt, mern muss. Diogenes von Sinope war be- eine Tatsache, die sich dann auch in sei- rüchtigt für seine kontratraditionellen Vor- ner Philosophie niedergeschlagen hat. schläge in Sachen Sexualmoral. Sein Prin- zip: „naturalia non sunt turpia,“ nichts Anders als die kyrenaische basiert die epi- Naturgewolltes ist für den Menschen kureische Ethik auf einem naturphiloso- schimpflich, demonstrierte er drastisch, phischen Fundament und zwar dem ato- indem er in aller Öffentlichkeit mit der Lais mistischen Materialismus von Demokrit. Liebe machte.6 Im Gegensatz zu den Ky- Man braucht Wissen über die Natur und renaikern ging es den Kynikern aber nicht die Erkenntnis, um den Weg zur Glückse- um eine Kultivierung, sondern um die ligkeit zu finden. Naturwissenschaft ist Überwindung der Leidenschaften. wichtig für die Ethik, weil der handelnde Mensch selbst ein Stück Natur ist. Dieser Es besteht kein Zweifel, dass der bedeu- epikureische Naturalismus macht die An- tendste hedonistische Ethiker des griechi- knüpfung an eine moderne naturwissen- schen Altertums Epikuros von Athen we- schaftliche Weltsicht leicht. Naturerkennt- sentlich von dem Gründer der kyrena- nis wirkt aufklärerisch, weil sie in der Lage ischen Schule beeinflusst war. 341 auf ist, unsinnige und nutzlose bzw. gefährli- Samos geboren, begann er mit 14 Jahren che metaphysische Illusionen aufzulösen.

34 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Naiver Volksglaube an zürnende Götter gebildet. Die Fertigkeiten des Geistes sind verbreitet unnötigerweise Furcht und Schre- Ergebnisse der Auseinandersetzung des cken. In seiner modern wirkenden Natur- Organismus mit den Notwendigkeiten sei- lehre formuliert Epikur bereits Erhaltungs- ner Existenz. Wir haben es hier mit einer gesetze für die stoffliche Materie und in Naturgeschichte des Geistes zu tun, die seiner Ontologie nimmt er nur Raum und in einigen Zügen beachtlich darwinistisch Materie an, womit die Ewigkeit der Be- klingt.8 So sieht Epikur bereits einen Über- wegung und die Unaufhörlichkeit des Auf- gang von tierischen zu menschlichen Fä- baus und Zerfalls geordneter Gestalten higkeiten. Die ursprünglich instinktiv aus- garantiert ist. geübten Tätigkeiten werden im Laufe der In der Erkenntnislehre vertritt er einen Zeit durch den sich selbst verstärkenden materiellen Sensualismus; auch sinnliches Intellekt feiner ausgestaltet. Erkennen ist ein physischer Vorgang, ein Speziell widmet sich Epikur der Sprache.9 Abbildungsprozeß, bei dem die Informa- Er entwirft eine Sprachentwicklungshypo- tion über kleine Bildträger in die Sinne these, weil gerade die Existenz der mensch- gelangt. lichen Sprache zu irrigen spiritualistischen In der Psychologie verteidigt er einen kon- und teleologischen Konzeptionen in der sequenten materialistischen Monismus. Anthropologie geführt habe. Worte ent- „Wer also die Seele für unkörperlich er- standen, wie er meint, aus Reflexreaktionen klärt, der redet ins Blaue hinein, denn wäre auf äußere Sinnesreize wie Husten oder die Seele von dieser Art, so könnte sie Niesen. überhaupt weder wirken noch leiden, tat- Das Bellen eines Hundes funktioniert auf sächlich aber finden diese Vorgänge bei- solche Weise und stellt die Vorform einer de bei der Seele statt.“7 Es war bis weit kommunikativen Zeichensprache dar. Im in die Stoá hinein griechische Überzeu- Brief an Herodotus wird bereits eine Art gung, dass nur Körperliches wirken kann. Selbstorganisationsmodell der Sprachent- Nur wenn das Lust-Gefühl als körperli- stehung vorgeschlagen. che Reaktion verstanden wird, kann man Der Naturalismus ist nun Epikurs wich- begreifen, dass stoffliche Genussmittel wie tigste Basis für seine Ethik. Erst muss man Essen und Trinken angenehme Seelenzu- die Menschen über die vielen supernatura- stände hervorrufen. listischen metaphysischen Illusionen auf- Nur unter monistischer Voraussetzung ver- klären, denen sie anhaften, denn die Furcht steht man, dass die Vorstellung einer fer- vor den traditionellen Göttern steht dem nen geliebten Person jemanden in einen Glück im Wege, die Furcht vor dem Tode physischen Erregungszustand versetzen führt zur Täuschung des Glaubens an die kann. In der modernen Psychobiologie Unsterblichkeit der Seele. besitzen wir eine eklatante Bestätigung von Eine Brücke von Naturlehre und Ethik stellt Epikurs materialistischer Seelenlehre. die Einsicht dar, dass die beiden Erlebnis- Epikurs Theorie von der Natur des Gei- formen (paq») Lust und Schmerz rein stes ist ultramodern: Auch der menschli- physiologische Funktionen des Nerven- che Geist ist ein Produkt der Natur und systems bilden, eine Einsicht, die Paul hat sich in langsamer stetiger Entwicklung Broca im 19. Jahrhundert durch seine Ent- unter dem Zwang der Bedürfnisse heraus- deckung des Limbischen Systems bestä-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 35 tigt hat. Dabei ergibt sich nach Epikur fol- gende Relation:

[ bezeichnet Homologie] Unter dieser Voraussetzung kann er dar- allerdings zur Lustverstärkung dienen, an gehen, eine Ethik auf empirischer Ba- Vernunft kann vergangene Freuden ins Be- sis aufzubauen. Er macht dabei eine fol- wusstsein zurückrufen und zukünftige Ge- genreiche Unterscheidung: er trennt die ru- nüsse antizipieren. Ontologisch gesehen hige ausgeglichene Lust, katasthmatik¾ liegen beide Gefühlsregungen jedoch auf ¹don», von jener Lust, die in einer Bewe- derselben Ebene. gung besteht, ¹ ™n kin»sei ¹don». Der physiologische Reduktionismus Epi- Nur die erste statische Lustform kann kurs hat eine bedeutsame Konsequenz: nach Epikur als Weg zum wahren Glück Als sich später vor allem im christlichen angesehen werden, nur ein Zustand der Kontext der Gegensatz von Geist und Ruhe und Schmerzlosigkeit bildet die Vor- Körper verschärfte, wurde die Körperwelt aussetzung für ein glückliches Leben, nicht = „Welt des Fleisches“ = „Welt der Lust“, aber der von leidenschaftlicher Bewegung zum Ort der Sünde. Schlüsselbegriff s£rx erfüllte Seelenzustand. = Fleisch. Dies ist ein Leitbegriff der An- Anders als die kyrenaische Schule, die kei- thropologie des Neuen Testamentes. Nun ne Hierarchie der Lustarten vorgeben woll- taucht aber s£rx auch bei Epikur auf. Er te, bewertet Epikur die Seelenruhe (atara- gebraucht nämlich die Begriffe xia) höher als die aktive dynamische Lust. ¹don¾ tÁj sarkèj körperliche Lust Wichtig ist für ihn Freiheit von Angst, ¹don¾ tÁj yuc»j Lust der Seele. Unempfindlichkeit gegen Schicksalsschlä- ge und Abwesenheit von Schmerz. Das Entscheidend für seine Ethik ist, dass bei- sinnliche Vergnügen, das für Aristipp, de aber kategorial nicht verschieden sind, Eudoxos oder Theodoros ganz oben ran- also der gleichen ontologischen Ebene an- gierte, wertet Epikur als positiv, aber doch gehören.10 Aufgrund des monistischen sekundär. In Bezug auf das Verhältnis von Materialismus ist also eine These von der geistiger und sinnlicher Lust (intellektuel- Sündhaftigkeit des Fleisches im epikure- les Begreifen und z.B. Sexualität) denkt ischen System nicht haltbar. er ganz von seinem reduktionistischen Ma- Zentraler Diskussionspunkt in der epikure- terialismus her. ischen Ethik ist die Transformation des Die geistige Freude hat keinen autonomen Lustbegriffes, schon in der Antike bemerk- Gegenstand, sie ist nur die Spiegelung der te man hier eine Inkongruenz; bereits Ci- sinnlichen Lust im Denken; der Geist kann cero hat darauf hingewiesen, dass See-

36 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 lenruhe (¢tarax…a) und Lust (¹don») se- voreilig, denn die Hedonisten erkennen mantisch schlecht harmonieren. Tugenden an, deuten sie jedoch anders. Mit einigem Recht könnte man daran den- Der Wert der Tugenden ist nicht absolut, ken, die Erfüllung der Ziele, welche die sondern instrumentell zu verstehen. Auf Beseitigung der Spannungszustände Hun- dem Wege zur Lust lauern Gefahren und ger, Durst, sexuelle Erregung liefert, als Störungen dieses Zustandes. Sittliche Tu- Zustände der Seelenruhe zu betrachten. genden haben nun die Funktion, das an- Aber dadurch ist dennoch eine Bedeu- genehme Leben zielstrebig zu erreichen tungsverschiebung involviert, die dem ur- und Hindernisse auf dem Wege zum freud- sprünglichen kyrenaischen Gebrauch des vollen Erleben zu beseitigen. Der Wert der Ausdruckes „Lust“ zuwiderläuft. So be- Tugenden ist also abgeleiteter, funktiona- merkt denn selbst , dass die Epiku- ler Natur. reer zwar bescheidener, die Kyrenaiker Nehmen wir als Beispiel die Gerechtigkeit: jedoch konsequenter sind. Der Ungerechte kann nie sicher sein, dass Eine Erklärung, warum Epikur diese Be- seine Übervorteilung von Mitmenschen für deutungsverschiebung vorgenommen hat, alle Zukunft verborgen bleibt. Durch die- bietet die Vermutung von Hermann Usener: se stete Unsicherheit wird seine Gemüts- Im höheren Alter war Epikur von einem ruhe und Glückseligkeit beeinträchtigt und schmerzhaften Blasenleiden gequält, das zwar mehr, als die rechtswidrig angeeig- man damals nicht heilen konnte. Aus die- neten Güter es gut machen können. Auf sem Grund verschob sich das in der Ju- der anderen Seite tragen Wohlwollen, Lie- gend hochgehaltene Ideal der Lustoptimie- be und Unterstützung zu unserer ausge- rung in Richtung auf Schmerzlosigkeit. glichenen Seelenverfassung bei, sie ver- Aus dieser frühen Zeit finden wir jeden- bessern somit die Lustbilanz. falls Äußerungen, die in die Richtung ge- Sittliche Normen, Tugenden werden also hen, wie man sich einen Epikureer vor- bei Epikur nicht aus evidenten Prinzipien, stellt. Diogenes Laërtius berichtet aus sei- Wertintuitionen oder dergleichen abgelei- ner nicht erhaltenen Schrift über das „End- tet, sondern sie ergeben sich aus langfri- ziel des menschlichen Handelns“: stigen, folgenorientierten Klugheitsüber- „Ich wüsste nicht, was ich mir überhaupt legungen. Im Wettbewerb der egoistischen noch als ein Gut vorstellen kann, wenn Strebungen sind solche Klugheitsregeln ich mir die Lust am Essen und Trinken vonnöten, die Konflikte vermeiden und wegdenke, wenn ich die Liebesgenüsse die Kooperationskosten senken. Wenn alle verabschiede und wenn ich nicht mehr Mitglieder der Gesellschaft zielbewusste meine Freude haben soll an dem Anhören und perfekte weit vorausdenkende Egoi- von Musik und dem Anschauen schöner sten wären, wären keine Gesetze, ja gar Kunstgestaltungen.“11 keine Staatswesen vonnöten. Da aber nur Solche Äußerungen haben das Bild geprägt, die Weisen virtuose Egoisten sind – da dass Hedonisten egoistische Lustoptimie- sie diesen Rückkoppelungsmechanismus rer sind, die sich um keine Tugenden, verstanden haben – die übrigen Menschen nicht um die Gemeinschaft, ja nicht ein- aber nicht auf lange Sicht denken können, mal um das Wohlergehen der Objekte ih- deshalb brauchen wir Gesetze. rer Begierde kümmern. Dies ist jedoch

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 37 Der Begriff des Egoismus hat heutzutage Sparsamkeit getragene moderne naturali- einen schlechten Klang, weil man damit stische Lebensphilosophie. eine zu kurzsichtige, wenig sozialverträg- Mit einem Axiom und einem Langzeitkal- liche Handlungsweise verbindet. In der kül kommt diese Ethik aus: Man braucht griechischen Antike muss man aber vom als materielle ethische Voraussetzung nur damals durchaus respektablen Begriff der das Lustaxiom und einen Verrechnungs- Selbstsorge, ™pimšleia ˜autoà, ausge- Algorithmus zur Konsequenzen-Analyse. hen, der mehr als die Selbstreflexion, das Keine metaphysisch dubiosen Vorausset- gnîqi sautÒn, nämlich das „Sich-küm- zungen wie eine Götterlehre, die Unsterb- mern-um-sich-selbst“ ausdrückt. Die lichkeit der Seele oder eine allwissende Selbstsorge hat nichts mit möglichem so- Vorsehung, welche allesamt der skepti- zialschädlichem Verhalten zu tun, im Ge- schen Analyse nicht standhalten, werden genteil ist sogar Platon davon überzeugt, benötigt. dass man im Staat keine verantwortliche Allein der Atomismus, die Kausalität und Rolle übernehmen kann, wenn man mit ein Zufalls-Generator auf der ontologi- sich selber nicht zurechtkommt12 und Ari- schen Ebene14 sowie eine zum normati- stoteles meint in der Nikomachischen ven Axiom erhobene psychologische Er- Ethik: „Jeder ist sich selbst der beste Freund, fahrung auf der axiologischen Ebene rei- und darum soll man auch sich selbst am chen aus. meisten lieben“.13 Im epikureischen Sys- Diese sparsame Basis macht den Hedonis- tem der Ethik ist speziell der tetraf£r- mus zur geeigneten Ethik für die moderne makoj, die vier Grundregeln, dazu da, die Zeit, in der einerseits das naturwissen- Stabilisierung und Regulierung des Innen- schaftliche Weltbild vorherrschend ist und lebens hervorzubringen. Selbstsorge ist andererseits das individuelle Glück der durchaus mit der Sorge um den anderen Person im Mittelpunkt steht. Epikurs Ethik zu verbinden. ist also im Einklang mit Physik, was ein Auch Freundschaft kann aus dem egois- Blick auf die Quantenchromodynamik be- tischen Glückstreben abgeleitet werden, stätigt, in Einklang mit Psychologie, wenn ohne jede metaphysische Vorgabe. Nach man an Freuds Lustprinzip denkt, und im Freunden soll man streben, weil sie uns Einklang mit der Neurologie, wenn man helfen, sicher und furchtlos zu leben. an die moderne Sicht des Leib-Seele-Pro- Freunde sind nicht nur wichtig, weil sie blems denkt. Epikurs Ethik steht überdies uns Wohltaten erweisen, sondern auch das im Einklang mit der Evolutionsbiologie, Gute, das wir ihnen tun, trägt zu unserem wenn man die historische Dimension der angenehmen Leben bei. Für Freunde Op- menschlichen Strebungen im Auge hat. fer zu bringen, ist durchaus in Einklang Epikurs Ethik ist sogar in Übereinstim- mit der hedonistischen Wurzel der Freund- mung mit metatheoretischen Prinzipien wie schaft. ontologischer Sparsamkeit, sprachlicher Der rationalistische Kalkül, der die Rezi- Einfachheit und intersubjektiver Verständ- prozitätsanalyse durchführt, reicht völlig lichkeit. aus, um Freundschaft als hohes Gut zu rechtfertigen. Damit erweist sich die hedo- nistische Ethik als von metaphysischer

38 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 II. Rezeption des Hedonismus um uns ein glückliches Leben zu ermögli- chen. Die hedonistische Tradition wird wieder Bei Agnolo Firenzuola wird das Schöne vom Renaissance-Humanismus aufgenom- Sinn und Zweck des Lebens und wieder men, hier geraten die stoischen Tugend- taucht die Argumentation von Eudoxos lehren unter skeptische Analyse, speziell von Knidos auf: die Vorstellung, dass Tugenden evidente „Delectatio autem ultima rerum est om- Selbstzwecke seien. nium neque quis ab aliquem finem delecta- Der erste Protagonist, der an Epikur an- tur, sed ipsa delectatio est finis.“ knüpfend die Motivationen der Tugend ins Langsam finden die Ideen der Kyrenaiker Visier nimmt, ist Lorenzo Valla, der in und Epikureer Eingang in die Literatur und seinem 1431 erschienenen Werk: „De vo- das zuerst in die Utopien der Lebenswelt. luptate ac vero bono“ bereits die Frage François Rabelais verbreitet in „Gargan- stellt: tua und Pantagruel“ optimistische Lebens- „Wo findet sich jemand, der behauptet, auffassung als Gesundheitsfürsorge. Dies die Tugenden seien um ihrer selbst willen liegt ganz im Sinne des tetraf£rmakoj, zu erstreben? Nicht einmal Gott muss man der epikureischen Anleitung zur Selbst- dienen ohne Aussicht auf Belohnung.“15 sorge als philosophischer Therapie. Ra- Im Mittelalter lässt sich kaum ein Philo- belais utopische Gesellschaft der Abtei soph identifizieren, der eine Ethik mit he- Thélème hat als Klosterregel das Prinzip donistischer Tendenz vertreten hätte. Das Lebensideal war auf die Nachfolge Chri- „Fay ce que tu vouldras“ sti ausgerichtet und somit asketisch ori- [Tu was du willst] entiert. Selbst die stark eingeschränkten Freuden des ehelichen Lagers wurden nur Thélème ist das Antikloster, in dem freie unter Auflagen und nur zur Reproduktion Menschen ein eigenbestimmtes, genuss- freigegeben. Dies bedeutet nicht, dass sich volles Gemeinschaftsleben führen. Thélè- das Volk und schon gar nicht die hohe me ist typisch epikureisch, weil Eigennutz Geistlichkeit an das Sparsamkeitsprinzip und Gemeinwohl sich gegenseitig stützend der Lust gehalten hätten, sondern nur, simultan realisiert sind. Die Selbstsorge ei- dass die in der Öffentlichkeit vertretenen nes jeden kommt dem Glück aller zu Gute. ethischen Leitlinien an Enthaltsamkeit, Ver- Die Optimierung des individuellen Glücks zicht und Tristesse orientiert waren. führt ohne weitere Zusatzbedingungen zum Valla stellt den Lustgewinn als Ziel mensch- Glück der Gemeinschaft. licher Handlungen dar und zwar argumen- Zur Zeit der Aufklärung war der kompro- tiert er dabei, dass er den Menschen als missloseste und radikalste Verteidiger ei- Teil der Natur begreift, sein Körper, seine ner lustorientierten Ethik Julien Offray de Bedürfnisse, seine Empfindungen sind, LaMettrie. LaMettrie gründet seine Ethik weil von Natur aus gegeben, nicht zu ver- wie Epikur auf einen konsequenten Mate- achten „Ceterum natura mortalibus quam rialismus, genauer auf eine Maschinenthe- plurima bona proposuit. Nostrum est illis orie des menschlichen Geistes. Lust, Freu- bene uti scire.“16 Auch die Gesetze, die de, genauso wie intellektuelles Verstehen das Gemeinwesen regieren, sind dazu da, sind Geschehnisse im Zentralnervensys-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 39 tem, damit wird auch die kategoriale Damit reiht sich LaMettrie auch in die Tra- Gleichheit von körperlichem und geisti- dition der philosophischen „Glückstech- gem Vergnügen etabliert, ganz im Sinne nologen“ ein. So wie man den Theologen von Aristipps Prinzip: m¾ diafšrein te als Verfechter einer „Heilstechnologie“ an- ¹don¾n ¹donÁj. sehen kann, kümmert sich der hedonisti- sche Philosoph um das Gelingen eines Die Freude bei der Lösung eines mathe- guten, geglückten Lebens. matischen Problems, das Entzücken beim LaMettrie bemüht sich somit um die Wie- Anblick des geliebten Partners, das Er- dererweckung des epikureischen Zieles, götzen an raffinierten Klangkombinationen, eine Therapie glückshemmender Einstel- alles sind Emotionen, denen Erregungen lungen zu liefern; wohl wissend, dass sei- eines Komplexes im ZNS entsprechen – ne Aufgabe schwieriger war als zu den Zei- seit Paul Broca Limbisches System ge- ten, da Epikur seine kur…ai dÒxai, die nannt. Anleitung zur glücklichen Lebensführung Die moderne psychobiologische Forschung verfasst hatte. hat durch Analyse der emotiven Zentren des Gehirns LaMettrie voll bestätigt. III. Vom Hedonismus zum Utilitarismus Auf dieser Basis baut dann LaMettrie sei- ne Ethik auf, die er bezeichnenderweise Die Tradition der sensualistisch fundier- unter dem Titel Anti-Seneca laufen lässt. ten Lustethik kommt im 19. Jh. vor allem Ihm schwebt aber als Lebensziel weder unter dem Einfluss kantischer Pflichtethik stoische Apathie noch epikureische Atara- und den idealistischen Normensystemen xie vor, das wäre aus seiner Sicht nur ne- fast völlig zum Erliegen. Vor allem in der gatives Glück. deutschen Philosophie hatte alle empirisch Das Ziel des Lebens muss positiv be- verankerte Ethik immer den Einwand ge- stimmt werden: „Eine ausgezeichnete Kon- gen sich, dass ihre Grundsätze nicht aus stitution von Leib und Seele, Schönheit, Gründen apriori eingesehen werden kön- Wissen, Geist, Talent, Charme, Ehren, nen. Nur im angelsächsischen Raum hielt Wohlstand, Gesundheit, ... – das ist das sich getragen durch den Utilitarismus eine wirkliche und vollkommene Glück“ heißt Lebensphilosophie hedonistischer Prägung. es im Anti-Seneca. Die Schlüsselfigur beim Aufbau eines mo- Damit liegt sein tšloj nahe am kyrena- dernen Utilitarismus ist Jeremy Bentham. ischen Ideal. LaMettrie weiß aber auch, dass es viele Menschen gibt, die auf Grund Die Basis seines Moralsystems ist sehr endogener oder ideologisch induzierter einfach: „Nature has placed mankind under Geisteshaltung sich selbst bei dem Stre- the governance of two souvereign masters ben nach diesem Glück im Wege stehen. pain and pleasure. It is for them alone to Solche Personen bedürfen therapeutischer point out what we ought to do...“18 Hilfe, ganz im Sinne des epikureischen Der Wert einer Handlung ist aus den Fol- Seelentrainings. Für die Zögerlichen hat gen für das Glück der involvierten Perso- LaMettrie dann sein Werk „L’art de jouir“ nen zu bestimmen. Soziale Handlungen verfasst, das die Kunstfertigkeit lehrt, die sind also von sich aus moralisch neutral, Fülle des Lebens zu genießen.17 die Wertung erfolgt durch die Folgenab-

40 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 schätzung in Bezug auf die Lust-Bilanz der Nicht zukunftsorientierte Akkumulation Betroffenen. von Gütern, nicht rastloser Arbeitseifer mit wachsendem materiellem Aufstieg, son- In der analytischen Philosophie waren es dern gegenwartsfokussierte Freude am nur wenige Autoren, die sich für die ma- Genuss an einer erfüllten Freizeit preist terialen Fragen der Ethik engagierten, fast Russell in dieser Schrift. Er wiederholt alle flüchteten sich in das weniger angreif- dabei, was der griechische Satiriker Lukian bare Gebiet der Metaethik oder deonti- von Samosata21 schon proklamierte: schen Logik. Eine Ausnahme bildet hier Sechs Stunden Arbeit sind genug für ei- Bertrand Russell, der eine praktische Phi- nen Tag, die andere Zeit sei zum Leben losophie auf hedonistischer Basis vertei- da. digt hat. Leitlinie seiner Ethik ist eine The- In diese Tradition reiht sich in jüngster Zeit se von David Hume, die dieser in seinem Michel Onfray ein, der in seiner „Theorie „Treatise of Human Nature“ [2.3.3] vor- des verliebten Körpers“ eine hedonistische gebracht und die immer wieder Erstaunen Philosophie aristippischer Prägung vertei- bei rational-nüchternen Philosophen, auch digt, die sich für einen ausgefeilten Liber- bei Karl Popper ausgelöst hat: „Die Ver- tinismus einsetzt. nunft ist die Sklavin der Leidenschaften, Als Zusammenfassung sei noch einmal sie soll es bleiben, sie kann nie eine ande- zusammengestellt, was nach meiner Mei- re Rolle beanspruchen als den Leiden- nung das Wesen einer hedonistischen schaften zu dienen und ihnen zu gehor- Ethik auf naturalistischer Basis sein könn- chen“.19 Russell geht in diesem Sinne von te: Aus naturalistischer Sicht ist es sinn- der Tatsache aus, dass die Menschen Wün- voll, bei dem Aufstellen von Handlungs- sche besitzen, welche die Ziele der Hand- normen die faktischen Dispositionen des lungen bilden, zu deren Realisierung be- Menschen zu berücksichtigen, um die darf es dann der Vernunft. Die Vernunft Spannungen zwischen Sollen und Wollen hat nichts mit den Zielen zu tun, ihr ob- zu minimieren. Apriorische Vernunftethiken liegt nur die Suche nach dem optimalen haben in der Vergangenheit immer nur von Weg zur Verwirklichung der Interessen. Die den Prinzipien her Rechtfertigungen von Vernunft kann aber auch helfen, Blocka- Handlungsmustern aufgebaut. Eine apos- den der Erlebnisfähigkeit aufzuheben. teriorische Moralphilosophie wird vom Russell nennt v.a. Sündenbewußtsein, Können, d.h. den faktischen Engrammen Narzissmus und Größenwahn als Hinder- der Individuen ausgehen, um ein harmo- nisse auf dem Weg zu einem gelungenen nisches Zusammenleben der Individuen zu Leben. In einer Abhandlung mit dem v.a. ermöglichen. Auf Celsus geht der Grund- für puritanische Ohren provokativen Titel satz zurück „ultra posse nemo obligatur“, „Lob des Müßigganges“ (1935) kritisiert man kann niemanden verpflichten, mehr er jene Arbeitsethik, bei der nicht mit Ar- zu tun als er imstande ist. Rigoristische For- beit ausgefüllte Zeit als Vergeudung ange- derungen, die den Menschen über seine sehen wird. Fähigkeiten hinaus belasten, sind ethisch „Diese Moral der Arbeit ist eine Sklaven- nicht sinnvoll. Naturalisierung in der Ethik, moral und in dieser neuzeitlichen Welt be- z.B. Biologisierung, heißt nicht einfach, darf es keiner Sklaverei mehr“.20 beliebige Neigungen zu sanktionieren, nur

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 41 weil sie vorhanden sind, sondern, soweit her begrenzt ist, ergibt sich ein höheres von der Schadensminimierung her vertret- Maß an Humanität. Eine naturalistische bar, den sparsamsten Kanon von Restrik- Ethik wird verständnisvoll, aber nichtsde- tionen aufzustellen, der mit dem Glück des stotrotz energisch mit Schadensstiftern in einzelnen kompatibel ist. Sparsamkeit der Gesellschaft umgehen. Sie kann es spielt also sowohl im deskriptiven als auch aber besser und erfolgreicher, wenn sie im normativen Naturalismus eine Rolle. In auf die internen, somatisch verankerten einem Fall begrenzt sie die Zahl der Enti- Aggressionspotenziale Rücksicht nimmt. täten bei der Erklärung, in anderen Fall Eine naturalistische Ethik kann auch ohne die Zahl der Restriktionen, die dem Glück Verlust der Dignität zeitabhängig sein. An- des Menschen entgegenstehen. Eine na- ders als traditionelle Offenbarungs-, Ver- turalistische Ethik kann eine eudämonis- nunft- oder intuitionistische Ethiken kann tische Form haben oder speziell einen He- sie sich an die wandelnden sozio-ökono- donismus verteidigen, eben weil sie an der mischen Bedingungen anpassen. Als Glücks- Faktizität des Luststrebens aller Individu- technologie kann sie sich durchaus als ein en nicht vorbei gehen will.22 Ihr ist es ein variables Regelsystem begreifen, das das Anliegen, dass die Menschen nicht aus freudvolle Zusammenleben vieler Indivi- Selbstzweck Prinzipien erfüllen müssen, duen optimieren möchte. Die raumzeitliche sondern dass das Lebensglück des Ein- Variierbarkeit einer naturalistischen Ethik zelnen optimiert wird. Sie ist in dem Sin- macht sie flexibel, undogmatisch und si- ne auch einem Ockhamschen Sparsam- tuativ anwendbar. Sie verabschiedet sich keitsprinzip unterworfen, denn sie bemüht von der Überzeitlichkeit der normativen sich, sparsam mit Verboten umzugehen. Grundsätze und arrangiert sich mit der Eine naturalistische Ethik, die die Faktizi- Kontingenz der Lebensumstände des tät der Wünsche und Strebungen des Men- Menschen. Auf diese Weise dient die na- schen nicht negiert, wird auch eher mit turalistische Ethik dem Ziel eines freud- Empfehlungen und Ermunterungen arbei- vollen, gelungenen Lebens. ten, weniger mit Verboten. Sie wird über- dies Toleranz bezüglich der Varianz von Anmerkungen: Einstellungen üben. Da sie eingesehen hat, dass die menschliche Spezies kein homo- 1 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühm- genes Ensemble ist, sondern starke Streu- ter Philosophen II, 74. ungen in den Dispositionen besitzt, wird 2 K. Doering: Der Sokratesschüler Aristipp und die sie auch duldsam bezüglich der Vielfalt Kyrenaiker. Akad. Wiss. Lit. Jg. 1988; 1 1988, S. von Verhaltensmustern sein. Eine natura- 62-70. listische Ethik wird im Unterschied zu Ethi- 3 Xenophon: Memorabilien § 8. ken, die auf unfehlbaren Wertintuitionen 4 Diogenes Laërtius II, 75. oder theonomen Grundsätzen aufbauen, 5 Diogenes Laërtius: II, 70. nicht mit Strafsanktionen gegen Übertreter 6 Clemens Romanus: Homiliae 5, 18, 147. von Regeln angehen, sondern mit Ab- 7 Diogenes Laërtius: X, 67. schirmmaßnahmen und Präventivstrate- 8 Ch. J. Lumsden/E. O. Wilson: Wie das menschli- gien. Aus dem Wissen daraus, dass das che Denken entstand. Das Feuer des Prometheus. Befolgen von Sollensregeln vom Können München 1984.

42 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 9 H. Usener: Epikurea fr. 335. 10 H. Cancik: Zur Entstehung der christlichen Sexual- moral. In: A. K. Siems: Sexualität und Erotik in der Antike. Darmstadt 1994, S. 347-374. 11 Diogenes Laërtius, X, 6. 12 Platon: Alkibiades I 133e. 13 Aristoteles Nikomachische Ethik, 1168b, 5-10. 14 Die spontane Abweichung der Atome von ihrer deterministischen Bahn, die paregkl…sij führte Epikur ein, um die Verflechtung der Atome zu kom- plexen Systemen zu erklären. 15 L. Valla, XIV, 9. 16 L. Valla, XII, 9. 17 J. O. de LaMettrie: Die Kunst Wollust zu emp- finden. Nürnberg 1987. 18 J. Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. New York 1948, S. 1. 19 D. Hume: Ein Traktat über die menschliche Na- tur. Hamburg 1973, S. 326. 20 B. Russell: Lob des Müßigganges. In: Ders.: Phi- losophische und Politische Aufsätze. Reclam 1971, S. 170. 21 Lukian: Sentenzen 17. 22 B. Dessau/B. Kanitscheider: Von Lust und Freu- de. Gedanken zu einer hedonistischen Lebens- orientierung. Frankfurt Insel 2000.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 43 Prof. Dr. Malte Hossenfelder (Graz/Österreich) Vor- und Nachteile des Hedonismus

Der Hedonismus genießt keinen besonders man die bei einer Handlung zu erwarten- guten Leumund. Jemanden einen Hedonis- de Lust und Unlust gegeneinander verrech- ten zu nennen, wird oft als Vorwurf ver- net, um so den „Gratifikationswert“ zu standen. Man denke etwa an die ehemali- erhalten. Gewählt wird dann jeweils die ge „Toscana-Fraktion“ des deutschen Bun- Handlungsalternative mit dem größten Gra- destages. Das hat seinen Ursprung in der tifikationswert. Dass dieser Wert bei zwei langen Geschichte lustfeindlicher Lehren, Alternativen identisch ausfällt und so kei- die sich in der platonisch-stoischen Tra- ne Entscheidung ermöglicht, ist theoretisch dition und später im Christentum ausge- zwar nicht auszuschließen, aber höchst un- bildet haben. Dabei werden die Vorteile, wahrscheinlich, wenn man die Messskala die der Hedonismus als ethische Theorie entsprechend verfeinert. hat, leicht übersehen. Ich möchte dem Der Hedonismus hat so gegenüber ande- entgegenwirken und diese Vorteile hervor- ren Ethiken einen deutlichen Rationalitäts- kehren (A), jedoch auch die Probleme und vorteil. Die religiösen Ethiken gründen sich Schwierigkeiten, die mit dem Hedonismus auf einen irrationalen Glaubensartikel, der verbunden sind, nicht verschweigen (B), nur die jeweiligen Anhänger bindet. Und um schließlich den Versuch einer Umdeu- auch die so genannten Sollensethiken, de- tung zu unterbreiten (C). ren Prototyp Kants Lehre ist, fußen letztlich auf einem irrationalen Grundsatz. Kants A. Vorteile „kategorischer Imperativ“ entspringt zwar Ein unschätzbarer Vorteil des Hedonismus aus der Vernunft, aber seine Geltung ist ist, dass er sich als einheitliches, in sich ein bloßes „Faktum der Vernunft“ und kei- geschlossenes System konstruieren lässt, nes Beweises weiter fähig, wie Kant selbst das es gestattet, für jede einzelne Hand- eingesteht. Das heißt, man kann nieman- lung eine lückenlose rationale Begründung dem begründen, warum er dem kategori- zu geben. Damit erfüllt er eigentlich in voll- schen Imperativ Folge leisten soll. Und kommener Art das Ideal, das den Begrün- das ist nur konsequent. Denn als katego- dern der abendländischen philosophischen rischer Imperativ gebietet er unbedingt Ethik zweifellos vorgeschwebt hat: Der und wollte man seine Geltung begründen, griechische Weise kann auf jede noch so dann würde man sie auf die Geltung an- konkrete praktische Frage eine rationale derer Prinzipien zurückführen und dann Antwort geben. Dem Hedonisten müsste geböte er nicht unbedingt, sondern eben das tatsächlich gelingen. Wenn man als unter der Bedingung der Geltung jener höchstes Prinzip alles menschlichen Han- anderen Prinzipien. Alles unbedingte Sol- delns den größtmöglichen Lustgewinn an- len muss unbegründet und insofern irra- sieht, dann müsste sich jede einzelne tional sein. Handlung eindeutig daraus ableiten lassen. Der zweite große Vorteil des Hedonismus Das geschieht mit Hilfe des „hedonisti- ist, dass er keine unmittelbaren Motivati- schen Kalküls“, der darin besteht, dass onsprobleme aufwirft, wie sie mit der Sol-

44 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 lensethik unweigerlich verbunden sind. Da Hedonismus widerlegt sich in toto selbst, kein Grund angegeben werden kann und weil sein Grundprinzip, dass die Lust der darf, warum man den unbedingten Sol- höchste Wert sei, der all unser Handeln lensforderungen folgen soll, muss die Fra- leite, unhaltbar wird. Wenn jemand zum ge nach einem möglichen Motiv unbeant- Beispiel sinnliche und geistige Lust als zwei wortbar bleiben. Kants Versuch, die Ach- verschiedene Lustarten trennt, von denen tung vor dem Gesetz als Motiv heranzu- die eine wertvoller sein soll als die ande- ziehen, bietet keine Lösung, sondern reicht re, so bleiben zwei Möglichkeiten. Entwe- das Problem nur weiter. Denn nun lautet der der Wertunterschied liegt in dem, was die Frage: Warum soll ich vor dem blo- beiden gemeinsam ist und was sie zur Lust ßen Gesetz solche Achtung haben, dass macht, dann kann er nur quantitativ sein, ich ihm bedingungslos gehorche, auch d.h. in der einen Art ist mehr von dersel- wenn es zu meinen größten Schaden ge- ben Gegebenheit als in der anderen. Oder reicht? Eine Begründung kann und darf der Wertunterschied beruht auf dem, was nicht gegeben werden, weil dann die blo- in beiden verschieden ist, in den artbil- ße Gesetzesachtung nicht mehr der letzte denden Eigenheiten, dann ist die Lust nicht Bestimmungsgrund des Willens wäre, son- der höchste Wert, von dem alle anderen dern die angeführten Gründe. Der Einzel- Werte abgeleitet sind, denn der Wertunter- ne kann nur warten, ob sich die Achtung schied der beiden Lustarten ist auf etwas zufällig einstellt; wenn nicht, hat er keine anderes als Lust zurückzuführen. Wer also Chance, ein guter Mensch zu sein.1 Der mehrere Lustarten mit qualitativen Wertun- Hedonismus dagegen richtet sich an das terschieden annimmt, hebt den Hedonis- Eigeninteresse des Menschen. Die Lust mus auf. wird als ein Gefühl vorgestellt, das unmit- Ein prominenter Vertreter einer solchen telbar als angenehm, als positiv empfun- Auffassung ist John Stuart Mill. In seiner den wird. Das Luststreben bedarf daher Schrift „Utilitarianism“ unterscheidet er keiner besonderen Motivation, weil die körperliche und geistige Lust und misst Menschen ohnehin geneigt sind, dem, was der geistigen einen weitaus höheren Wert ihnen als gut erscheint, nachzugehen. Erst zu. Dabei betont er ausdrücklich, dass der wenn man sie davon abbringen will, muss Wertunterschied kein rein quantitativer sei, man Gründe angeben. sondern in der Qualität begründet liege.2 Er verweist in diesem Zusammenhang auf B. Probleme die Epikureer, aber das beruht sicher auf 1. Verschiedene Lustarten einem Missverständnis, das freilich häu- Freilich hat auch der Hedonismus seine fig anzutreffen ist. Die antiken Hedonisten Probleme. Zunächst einmal muss man ihn waren sich über die Problematik mehre- konsequent konstruieren und der Versu- rer Lustarten durchaus im Klaren. Aris- chung widerstehen, mehrere Lustarten zu tipp, der Begründer des kyrenaischen He- unterscheiden, um sie unterschiedlich zu donismus, lehrt, „dass Lust von Lust sich bewerten. Wenn der Wertunterschied näm- nicht unterscheide und nichts lustvoller lich nicht rein quantitativ, sondern quali- sei“.3 Damit kann gewiss nicht gemeint tativ aufgefasst wird, geht nicht nur die sein, dass die Lust überhaupt keinerlei Einheit des Systems verloren, sondern der Grade kenne, sodass nie eine Sache lust-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 45 voller sei als eine andere. Dadurch würde rungen und Antizipationen sinnlicher Lü- im Hedonismus jede Handlungsentschei- ste sind. Epikur macht außerdem die Ein- dung unmöglich gemacht. Wogegen Aris- teilung in „zuständliche Lust“ und „Lust tipp sich ganz offensichtlich richtet, ist die in Bewegung“. Diese Einteilung deckt sich qualitative Unterscheidung verschiedener nicht mit der in sinnliche und geistige Lust, Lustarten, sofern sie zugleich einen Wert- sondern ergibt sich aus dem negativen unterschied begründen soll, der nicht rein Hedonismus, den Epikur vertritt, indem quantitativ ist. Zwar unterscheidet auch er er Lust als Freiheit von Unlust definiert. zwischen körperlicher und seelischer Lust Zuständliche Lust ist die Empfindung der und wertet die körperliche höher. Doch Unlustfreiheit, Lust in Bewegung die Emp- das lässt sich leicht mit der Auffassung, findung des Übergangs von der Unlust zur dass „Lust sich nicht von Lust unterschei- Unlustfreiheit, bei dem sukzessive die Un- de“, in Einklang bringen, wenn man es so lust ab- und die Unlustfreiheit zunimmt, interpretiert, wie es allem Anschein nach zum Beispiel während des Essens oder gemeint ist: Lust ist stets ein und dassel- Trinkens. Diese Begriffe bezeichnen also be. Sie kann nun freilich im Körper oder/ nicht zwei verschiedene Lustarten, die sich und in der Seele auftreten, und im erste- qualitativ unterschieden, sondern Lust ist ren Fall ist die Empfindung regelmäßig immer ein und dasselbe, aber sie kennt stärker als im letzteren. D.h. die Lüste las- zwei unterscheidbare Zustände, sofern sie sen sich wohl unterteilen nach dem Medi- in der Quantität schwanken oder dauern um, in dem sie auftreten, aber ihr Wert- kann. Die Alten vertreten demnach einen unterschied ist rein quantitativer Natur. konsequenten Hedonismus, der dem mill- Aristipps jüngerer Zeitgenosse Eudoxos schen eindeutig überlegen ist.5 von Knidos, der ebenfalls einen Hedonis- mus vertritt, argumentiert im gleichen Sin- 2. Naturalistischer Fehlschluss ne, dass „das Gute nur durch sich selbst Das zweite Problem des Hedonismus ist vermehrt werde“.4 Wenn also die Lust das seine Begründung. Wie lässt sich bewei- Gute ist, dann sind Wertunterschiede nur sen, dass das höchste Prinzip alles mensch- quantitativ denkbar. lichen Handelns der größtmögliche Lustge- Auch Epikur schließlich ist dieser Auffas- winn ist? Das häufigste Argument ist, dass sung. Gewiss hat Mill darin Recht, dass alle Lebewesen nach Lust strebten. Des- Epikur zwischen sinnlicher und geistiger wegen wurde der Hedonismus zum Para- Lust unterscheidet und die geistige höher debeispiel des so genannten naturalisti- bewertet, aber Epikur lässt keinen Zweifel schen Fehlschlusses, genauer: des Schlus- daran, dass Lust für ihn immer sinnliche ses vom Sein auf das Sollen, der unzuläs- Lust ist und dass der höhere Wert der gei- sig sei. Denn daraus, dass alle Wesen tat- stigen nur daraus resultiert, dass die Sin- sächlich nach Lust strebten, dürfe man ne auf die gegenwärtigen Empfindungen nicht schließen, dass sie es tun sollten eingeschränkt sind, der Geist dagegen die bzw. dass es richtig oder gut sei, dass sie Gegenwart in die Vergangenheit und Zu- es tun. Vorausgesetzt ist dabei, dass sich kunft überschreiten und so die gegenwär- der Hedonismus als normative Ethik ver- tige Lust durch Nach- und Vorfreude stei- steht, die zwischen richtigem und falschem gern kann, wobei diese immer nur Erinne- Tun unterscheidet, was aber zweifellos

46 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 zutrifft. Mill zum Beispiel schreibt, „dass ist: „Wenn du zum größten Lebensmittel- Handlungen insoweit und in dem Maße geschäft in Oxford gehen willst, geh zu moralisch richtig sind, als sie die Tendenz Grimbly Hughes.“ Das folge aus: „Grim- haben, Glück zu befördern“, wobei unter bly Hughes ist das größte Lebensmittel- Glück Lust und das Freisein von Unlust geschäft in Oxford.“ Es wird logisch ein- zu verstehen sei6 . Die Diskussion um den wandfrei aus einem deskriptiven Satz ein ethischen Naturalismus hat, angestoßen Imperativ abgeleitet. Da das eigentlich ja durch G.E. Moore, Bände gefüllt. Sie kon- unzulässig ist, bemüht Hare sich sofort, zentrierte sich hauptsächlich auf die logi- das Skandalon zu beseitigen. Zunächst sche Frage, ob es in allen Fällen unzulässig will er uns glauben machen, dass „Wol- sei, vom Sein auf das Sollen bzw. von len“ im hypothetischen Imperativ nicht deskriptiven auf präskriptive Sätze zu „Wollen“ bedeute, sondern „ein logischer schließen. Die Frage, ob ein solcher Ausdruck“ sei und „für einen Imperativ Schluss überhaupt sinnvoll wäre und was innerhalb eines Nebensatzes“ stehe. Am unter dem Sollen eigentlich zu verstehen Ende kommt er zu dem Ergebnis: „Die sei, wurde ganz vernachlässigt. Ich meine beste Art, die Sache zu beschreiben, wur- dagegen, sie sollte vorher geklärt werden, de von Kant vorgeschlagen: das imperati- bevor man sich so viel Mühe mit der Zu- ve Element in einem hypothetischen Im- lässigkeit macht. Dadurch würde vielleicht perativ ist analytisch (‘Wer den Zweck will auch deutlich, ob im Hedonismus tatsäch- … will auch das Mittel’), weil die Impera- lich fehlerhaft geschlossen wird. tive in den beiden Teilen einander sozusa- Lassen wir den Begriff des Sollens zu- gen aufheben. Es ist ein Imperativ, doch, nächst einmal beiseite und beschäftigen qua Imperativ, hat er keinen Inhalt; der uns mit dem des richtigen Handelns. Un- Inhalt, den er hat, ist der des indikativen problematisch scheint mir dieser Begriff, Untersatzes, von dem er abgeleitet ist.“7 wenn er auf die Zweckdienlichkeit bezo- Ich glaube, diese Sätze muss man nicht gen wird. Wer die geeigneten Mittel zu kommentieren (schon gar nicht Kant-Le- seinen Zwecken verwendet, handelt rich- sern). Hare folgt offenbar dem Grundsatz, tig, wer ungeeignete heranzieht, handelt dass nicht sein kann, was nicht sein darf, falsch. So wird wohl jeder zustimmen, der unter den Naturalismusgegnern viele wenn man urteilt, dass jemand, der sein Anhänger hat, wie schon J.R. Searle klagt. brennendes Haus mit Benzin zu löschen Dass aus deskriptiven keine präskriptiven versuche, sich falsch verhalte. Um in die- Sätze folgen, steht unerschütterlich fest, sem Sinne zwischen richtigem und fal- also müssen alle Gegenbeispiele irgendei- schem Tun zu unterscheiden, muss man ne Absonderlichkeit aufweisen, die dann also die Zwecke der Menschen und die auch regelmäßig entdeckt wird und sei das dazu geeigneten Mittel kennen. In diesem Ergebnis noch so dümmlich. Wer derlei Fall lassen sich auch präskriptive Sätze begriffliche Willkür scheut, wird daher lie- aus deskriptiven ableiten, wenn man die ber eingestehen, dass es Fälle zulässigen Zweck-Mittel-Beziehung in einen hypothe- naturalistischen Schließens gibt. Dabei ist tischen Imperativ kleidet. Das wird auch die hypothetische Form nicht wesentlich, von R.M. Hare, einem der großen Natura- wie folgende Umformung zeigt: „Du willst lismuskritiker, eingeräumt. Sein Beispiel zum größten Lebensmittelgeschäft in Ox-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 47 ford gehen. Das ist Grimbly Hughes. Also dann wären alle ihre selbst gewählten geh dorthin.“ Dergleichen Schlüsse wer- Zwecke letztlich nur Mittel für die vorge- den im täglichen Leben tausendfach ge- gebenen Zwecke und man könnte ihre zogen („Du willst groß und stark werden, Richtigkeit überprüfen. Die übergeordne- dazu verhilft Spinat, also iss deinen Spi- te Instanz müsste man sich dann als hö- nat“) und es ist nicht einzusehen, weshalb heres Wesen denken, weil Zwecksetzung sie unzulässig sein sollen. Denn man muss einen vorausschauenden freien Willen ver- bedenken, dass für die Unzulässigkeit bis- langt, sodass in einer durchgängig kau- her kein überzeugender Beweis beige- sal-determinierten Welt keine Zwecke vor- bracht werden konnte. Es scheint sich also kommen können. Der Vorwurf des Natu- um ein bloßes Dogma zu handeln, sodass ralismus würde somit darauf hinauslaufen, die Gegenthese der Zulässigkeit den glei- dass man aus der Tatsache, dass alle Men- chen Wahrheitsanspruch besitzt. Da wir schen nach Lust streben, nicht schließen die logischen Grundregeln ohnehin nicht könne, dass dies dem Willen eines höhe- beweisen können, ohne uns wie Münch- ren Wesens entspreche. Dem wird jeder- hausen an den eigenen Haaren aus dem mann zustimmen, aber ein solcher Schluss Sumpf zu ziehen, müssen wir letztlich bei ist meines Wissens auch noch nie von ei- der Feststellung enden, dass wir in unse- nem philosophischen Ethiker gezogen rem Denken eben nach diesen Regeln ver- worden. Er würde in unserer Frage nach fahren, und dann wäre es reine Willkür, dem Richtig oder Falsch auch nicht wei- ein Schlussverfahren, das ebenso ge- terhelfen. Denn jeder, der sich überhaupt bräuchlich ist wie die anderen, zu verban- mit ethischen Fragen beschäftigt, muss nen. Die Hedonisten begehen demnach dem Menschen einen freien Willen zubilli- keinen logischen Fehler, wenn sie argu- gen. Andernfalls würde alle Ethik zur mentieren: Da alle Wesen nach Lust als Naturwissenschaft und Normen verlören höchstem Ziel streben, sind diejenigen jeglichen Sinn. Wenn der Mensch aber in Handlungen richtig, die die Lust mehren, seinen Entscheidungen frei ist, dann denn dann ergreifen die Handelnden die müsste er sich fragen, ob er dem Willen geeigneten Mittel zur Erreichung ihres Zie- des höheren Wesens gehorchen, ob er les. dessen Zwecke zu seinen machen will oder Nun kann man freilich das Ziel selbst in nicht. D.h. bevor wir urteilen können, dass Zweifel ziehen und fragen, ob es richtig jemand, der Gottes Geboten nicht folgt, ist, überhaupt nach Lust zu streben. Um falsch handelt, müssen wir wissen, ob er zu einer sinnvollen Antwort zu kommen, ihnen selbst folgen will. Denn nur, wenn müsste man nach dem oben Gesagten das jemand ungeeignete Mittel zu den eigenen Luststreben selbst wiederum als Mittel Zwecken, die er tatsächlich zu erreichen betrachten, um beurteilen zu können, ob sucht, verwendet, handelt er eindeutig es geeignet ist oder nicht. Wenn es aber falsch, nicht aber, wenn es sich um die der oberste Zweck sein soll, den alle Men- Zwecke anderer handelt, die ihn vielleicht schen verfolgen, müsste man annehmen, gar nicht interessieren. Um zwischen rich- dass die Menschen sich ihre Zwecke nicht tigem und falschem Tun zu unterscheiden, selber setzten, sondern sie ihnen von über- müssen wir also immer die tatsächlichen ei- geordneter Seite vorgegeben würden; denn genen Zwecke der Handelnden kennen.

48 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Bleibt schließlich die eigentliche Sollens- türlichen Instanz in uns, der wir uns un- ethik kantischer Prägung, in der ein abso- terwerfen können oder auch nicht, eben- lutes Sollen angenommen wird, ein kate- so wie wir unseren Trieben entweder nach- gorischer Imperativ, der unbedingt gebie- geben können oder nicht. Kants Diktum, tet und objektiv gültig ist, gleichgültig, ob dass die Geltung des kategorischen Im- ihn irgendeiner befolgt oder nicht. Kant perativs ein „Faktum der Vernunft“ sei, erkennt allerdings an, dass der Handeln- verlöre auf diese Weise etwas von seiner de sich seine Endzwecke selbst setzen Paradoxität. Aber ein allgemeines Urteil muss. Er ersetzt den negativen Freiheitsbe- anhand des Sittengesetzes über Richtig griff des Nichtdetermiertseins durch den oder Falsch wäre wiederum nicht mög- positiven der Autonomie. Freiheit bedeu- lich. tet nicht Gesetzlosigkeit, sie besteht dar- Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, in, dass der Handelnde sich das Gesetz dass der Vorwurf gegen den Hedonismus, selbst gibt. Das Sittengesetz, der katego- dass er in seiner Begründung einen logi- rische Imperativ, entspringt der eigenen schen Fehler begehe, zu Unrecht erhoben praktischen Vernunft. Darf man in diesem wird. Sein Prinzip ist, dass das oberste Falle sagen, dass ein Verstoß gegen das Ge- Ziel der Menschen Lustgewinn und alles setz falsches Verhalten sei, weil der Handeln- andere nur Mittel dazu sei. Das wird da- de seinen eigenen Zweck verfehle? Wenn durch bewiesen, dass alle Menschen tat- man die Selbstgesetzgebung so versteht, sächlich nach Lust als höchstem Zweck dass der Mensch in der Wahl des Gesetzes strebten, und das ist auch der einzige rich- frei ist, sodass er sich auch ein anderes tige Beweis. Um zu beweisen, dass die als das Sittengesetz geben könnte, darf Franzosen Käse schätzen, muss man zei- man nicht allgemein urteilen, dass ein Ver- gen, dass sie es tatsächlich tun. Die Fra- stoß dagegen falsch sei; man müsste erst ge, ob die Menschen recht daran tun, nach erkunden, ob der Handelnde sich nicht ein Lust zu streben, ist damit ebenfalls posi- anderes Gesetz gegeben hat. Ist man da- tiv beantwortet; denn in Sachen Endzwe- gegen mit Kant der Auffassung, dass die cke ist der Mensch selbst der höchste Selbstgesetzgebung immer auf den kate- Richter, sie können ihm von keiner Seite gorischen Imperativ führen müsse, dann zwingend vorgeschrieben werden, weil er wären wir insoweit determiniert. Unsere als freies Wesen letztlich sich in jedem Falle Freiheit bestünde nur in der Möglichkeit, selbst entscheiden muss. Der Naturalis- das Sittengesetz zu befolgen oder zu miss- musvorwurf setzt voraus, dass es eine achten. Damit hätten wir die gleiche Si- übergeordnete Instanz gibt, die es gestat- tuation wie bei den göttlichen Geboten. tete, unsere Endzwecke zu bewerten. Aber Um einen Verstoß als falsch qualifizieren ein übergeordnetes absolutes Sollen, sei zu können, müssten wir wissen, ob der es, dass es von Gott oder der Vernunft Handelnde selbst dem Gesetz gehorchen ausgeht, lässt sich nicht denken, es ist eine wollte, ob er „es zu seiner Maxime ge- bloße Chimäre, denn der freie Wille kennt macht hat“. Gott wäre lediglich durch die über sich keinen Herren. Dass der Vor- Vernunft ersetzt, was einer allgemeinen wurf sich so hartnäckig hält, liegt offen- Tendenz der Aufklärung entspricht. Die bar daran, dass man sich auf die forma- praktische Vernunft würde so zu einer na- len Fragen kapriziert und die inhaltlichen

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 49 vernachlässigt hat. Hätte man sich gefragt, diese Weise wird der Gedankengang ein- was mit dem Sollen denn sinnvollerweise wandfrei. gemeint sein könnte, wäre man vielleicht bald darauf gekommen, dass das Problem 3. Zweifelhafter Lustbegriff gar kein allgemeinethisches ist, sondern Bisher haben wir die formale Seite des nur in einer bestimmten Ethik, nämlich der Hedonismusbeweises betrachtet. Damit er Sollensethik, aufkommen kann und dass gültig ist, müssen aber natürlich auch die es genauso widersinnig ist wie die Sollens- Prämissen wahr sein. Trifft es also zu, dass ethik insgesamt. die Menschen nur auf Lust aus sind? In Wer wissen will, was das höchste Ziel dieser Frage müssen wir uns zunächst mit menschlichen Handelns ist, muss dem- dem Begriff der Lust selbst beschäftigen nach erforschen, was die Menschen tat- und hier scheint mir das Hauptproblem sächlich dafür halten. So ist schon Aristo- des Hedonismus zu liegen. Der Begriff ist teles vorgegangen und ebenso die Hedo- uns von den Griechen vererbt worden, die nisten. Mill ist somit im Recht, wenn er in der hedone ein pathos sahen. Pathos behauptet, dass der einzig mögliche Be- ist ein schwer zu übersetzender Begriff, weis für die letzten Zwecke im Hinweis weil kein deutscher Ausdruck seine Be- auf die Tatsächlichkeiten bestehe. Dass er deutungsbreite umfasst. Die ursprüngliche dabei einer Amphibolie des Ausdrucks Bedeutung ist „Leiden“ und so bezeich- „desirable“ erlegen sei, wie man ihm vor- net er im Laufe der Entwicklung alles, was wirft, halte ich für unwahrscheinlich. Mill man erleidet, von der Krankheit über die schreibt: „Der einzige Beweis dafür, dass Sinneseindrücke bis zu den Affekten, den ein Gegenstand sichtbar [visible] ist, ist, „Leidenschaften“. In unserem Zusammen- dass man ihn tatsächlich sieht. […] Eben- hang übersetzt man pathos am besten mit so wird der einzige Beweis dafür, dass „Empfindung“, denn es wird bei den Grie- etwas desirable ist, der sein, dass die chen meist in eine Reihe mit den Sinnes- Menschen es tatsächlich wünschen.“8 empfindungen gestellt, zu denen es das Wenn man „desirable“ mit „wünschens- auf das Handeln bezogene Pendant bil- wert“ übersetzt, was zweifellos korrekt ist, det. So sind im Sensualismus die Sinne kommt allerdings ein Quaternio termino- das theoretische Kriterium, Lust und Un- rum heraus. Aber ich weigere mich zu lust das praktische, weil sie diejenigen glauben, dass ein Mann, dessen Haupt- Empfindungen sind, die Wertungen ent- werk ein System der deduktiven und in- halten. Im Deutschen hat es sich einge- duktiven Logik ist, einen so plumpen und bürgert, Lust zu den Gefühlen zu zählen, offenkundigen Schlussfehler begangen die man ja auch zu den Empfindungen haben soll. Ich schlage deshalb vor „desi- rechnen kann. rable“ mit „wünschbar“ zu übersetzen und Das gängige antike Modell zur Erklärung Mill so zu verstehen: Dass die Menschen der Lust haben wir schon mit Epikurs tatsächlich das Glück (die Lust) wünschen, „Lust in Bewegung“ kennen gelernt. Es beweist, dass es überhaupt wünschbar macht Lust zu einem Übergangsphäno- und somit ein mögliches Gut für sie ist. men, das dann auftritt, wenn wir aus ei- Im zweiten Schritt wird dann bewiesen, nem widernatürlichen Zustand des Man- dass es das einzige Gut für sie ist. Auf gels, wie er durch die Unlustgefühle (zum

50 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Beispiel des Hungers oder Durstes) an- bei der Lust nicht der Fall; jeder könne gezeigt wird, in den natürlichen Zustand von beliebigen Dingen unwidersprochen des „Angefülltseins“ (zum Beispiel durch behaupten, dass er bei ihnen Lust emp- Essen oder Trinken) zurückkehren. Die finde. Also könne Lust nicht wie ein Ge- Empfindung dieses Übergangs ist die Lust fühl behandelt werden.9 Dieses Ergebnis und das erklärt zugleich ihren positiven gilt zwar unmittelbar nur für den Gebrauch Charakter; denn der Zustand des „An- des Wortes „pleasure“ im Englischen, aber gefülltseins“ ist der gesollte, natürliche da dasselbe in etwa auch auf die entspre- Zustand, während die Unlust negativ be- chenden Ausdrücke in den anderen mir setzt ist, da der Zustand des Mangels wi- bekannten Sprachen zutrifft, dürfte es sich dernatürlich ist. Impliziert ist immer, dass hier nicht um ein rein sprachliches, son- die Lust eine selbständige, für sich identi- dern ein begriffliches Problem handeln. Es fizierbare Empfindung sui generis ist, die steht zu befürchten, dass die Griechen uns ich jederzeit für sich allein von anderen hier einen Begriff hinterlassen haben, dem unterscheiden kann, wie etwa eine Rot- in der Realität nichts entspricht. Das zu empfindung. Diese Auffassung hat sich in entscheiden ist natürlich eine Aufgabe der der philosophischen Diskussion nahezu empirischen Forschung. Aber schon der unverändert bis in unsere Zeit erhalten. Laie muss sich doch fragen, ob jemand, Lust wird gemeinhin als ein Gefühl eige- der mit Lust die Traviata hört, dann mit ner Art, eine menschliche Grundgegeben- Lust ein Dutzend Austern schlürft und heit angesehen. Die Philosophen haben schließlich mit Lust seiner Begleiterin bei- also nicht viel am Lustbegriff gearbeitet, schläft, jedes Mal ein identisches Gefühl obwohl er in der Geschichte der Philoso- empfindet. Oder selbst im Bereich des- phie in verschiedenen Zusammenhängen selben Sinnes: Empfinden wir genau das- eine wesentliche Rolle gespielt hat. Das selbe, wenn wir mit Lust einen Steinbutt Leiden ist viel besser erforscht. Erst in und wenn wir mit Lust ein Rebhuhn ge- jüngerer Zeit hat man sich auch den posi- nießen? Am Ende bleibt, wenn man die tiven Gefühlen mehr zugewandt, sodass vielen Verwendungen des Lustbegriffes zum Beispiel die Beschäftigung mit dem betrachtet, als Identisches nicht mehr als Glück geradezu einen Boom erlebt. die Positivität, d.h. dass er jeden beliebi- Erst J.C.B. Gosling geht der Frage nach, gen Bewusstseinsinhalt bezeichnet, wenn ob „Lust“ überhaupt ein identisches Ge- wir ihn für gut halten. fühl bezeichnet. Er tut es mit sprachanalyti- Ein ähnliches Ergebnis scheint bereits schen Mitteln, indem er den Gebrauch des Epikur auf ganz anderem Wege erreicht Wortes „Lust“ untersucht und ihn mit dem zu haben. Die Quellen lassen sich so deu- Gebrauch anderer Ausdrücke für Gefüh- ten, dass er zu einem breiteren Lustbegriff le wie „Kopfweh“, „Nadelstiche“, „Krib- gelangt ist. Er ersetzt den positiven Be- beln im Bauch“ u.ä. vergleicht. Er kommt griff durch den negativen der Unlustfrei- zu dem Schluss, dass Lust kein Gefühl heit. Das geschieht, um den Hedonismus bezeichne; denn während bei den ande- mit dem Glücksbegriff seiner Zeit in Ein- ren Gefühlsausdrücken sich die Art des klang zu bringen. Die antike Ethik ist fast Gefühls und die Gelegenheit seines Auf- durchweg eudämonistisch. Glück ist das tretens stets genau angeben ließen, sei dies höchste Gut, darin sind sich die Alten ei-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 51 nig. Gestritten wird lediglich darum, wor- zum höchsten Gut untauglich mache. Das in das Glück zu sehen und wie es am be- wurde dann genauer damit begründet, dass sten zu erreichen sei. Die hellenistischen die Lust als Übergang immer ein Werden Philosophen sind einhellig der Überzeu- sei und deswegen nicht das höchste Gut gung, dass das Glück in der Seelenruhe sein könne. Der Zweck eines jeden Wer- bestehe, die die Pyrrhoneer und Epikureer densprozesses sei nämlich der erreichte Ataraxie, die Stoiker Apathie nennen. Ge- Endzustand und dieser bestimme somit meint ist beide Mal dasselbe: die Freiheit den eigentlichen Wert. Epikur erkennt das von innerer Erregung, der gelassene inne- an und wendet es gegen die Gegner: Es re Frieden. Epikur nun deutet innere Erre- beweise vielmehr, dass die Lust kein Wer- gung als Unlust, sodass Ataraxie für ihn den sein könne. Da sie als eigener Wert zur Unlustfreiheit wird. Um diese nun als empfunden werde, müsse sie mit dem Lust bezeichnen zu können, könnte Epikur Endzustand, der dauerfähigen Unlust- folgendermaßen argumentiert haben: Un- freiheit, identisch sein. strittig ist, dass wir die Lust als etwas Die Frage ist natürlich: Wozu die Mühe? Positives, die Unlust als etwas Negatives Wenn es eigentlich um die Ataraxie geht, empfinden. Das wird nach dem gängigen warum vertritt Epikur dann überhaupt ei- Modell so erklärt, dass Lust die Rück- nen Hedonismus? Der Grund dürfte fol- kehr in den natürlichen Zustand ist. Hun- gender sein: Anknüpfend an Überlegun- ger zeigt einen Mangel an und bedeutet gen des Eudoxos einerseits und des Aris- Unlust, Essen dagegen ist Lust, weil es tipp andererseits, stellt Epikur sich die durch Wiederauffüllung den Mangel und grundsätzliche Frage, woher unsere ur- damit die Unlust beseitigt und so den na- sprünglichen Wertungen stammen und turgemäßen Zustand wiederherstellt. Was kommt zu dem Schluss, dass sie aus der nun, fragt Epikur, ist hier der eigentliche Vernunft nicht kommen können, weil die Wert, das eigentlich Erstrebte? Augen- Vernunft als bloß formales Vermögen kei- scheinlich ist das der naturgemäße Zu- ne originären Inhalte setzen kann. Die ur- stand, der am Ende erreicht wird. Der Wert sprünglichen Wertungen können also nur des Übergangs zu ihm indessen, des Pro- aus unserem anderen Vermögen stammen, zesses seiner Wiederherstellung, also in der Sinnlichkeit. Nun heißen diejenigen diesem Fall des Essens, ist nur ein abge- Sinnesempfindungen, die Wertungen ent- leiteter, er ist der eines Mittels zum Zweck. halten, Lust und Unlust. Also ist Lust das Essen ist nur deshalb gut, weil es die Ge- ursprüngliche Gut, von dem sich alle an- sundheit erhält. Dass es keinen unabhän- deren Güter ableiten, und somit das höch- gigen Eigenwert besitzt, lässt sich leicht ste Gut und Unlust das größte Übel. Die- daraus ersehen, dass es, wenn es nicht se metaethische Erwägung führt zu einem dem Sattwerden dient, sogar zum Übel ganz formalen Lustbegriff. Lust ist hier werden kann, z.B. wenn jemand mehr isst, nicht eine inhaltlich bestimmte, angebba- als ihm gut tut. Epikur nutzt hier geschickt re Entität, etwa ein für sich identifizierba- einen Gedanken der Lustgegner für seine res und von anderen unterscheidbares Ge- Absichten. Denn eines der populärsten Ar- fühl, wie Wärme oder Trauer, sondern der gumente gegen den Hedonismus war die Begriff besagt nicht mehr als: irrationaler, rasche Vergänglichkeit der Lust, die sie von der Sinnlichkeit gegebener positiver

52 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Endwert. Mehr ist zunächst nicht enthal- und auch nicht auf alles, was er tut, son- ten. Auf welche konkrete Gegebenheit, dern nur auf sein zwecktätiges Verhalten. welche inhaltlich bestimmbare Empfindung In Übereinstimmung damit verstehe ich er nun zutrifft, bleibt völlig offen. Infolge- unter einer Handlung die bewusste Ver- dessen bereitet es auch keine logische folgung eines Zweckes. Ich hatte schon Schwierigkeit, die Ataraxie mit ihm zu iden- erwähnt, dass Zwecktätigkeit einen vor- tifizieren, sodass Lust gleich Ataraxie und ausschauenden freien Willen verlangt. Ataraxie gleich Lust ist. Zugleich gewinnt Denn der in der Zukunft liegende Zweck Epikur eine Antwort, warum Ataraxie bzw. bestimmt die Handlung in der Gegenwart; Lust überhaupt das höchste Gut ist: weil sie ist also nicht durch voraufgehende wir sie eben als dieses empfinden. Ursachen vollständig determiniert und in Im Grunde hat schon Aristoteles einen for- diesem negativen Sinne frei. Da sie frei malen Lustbegriff. Er definiert Lust als die ist, erfordert jede Handlung eine Entschei- „hinzutretende Vollendung“ der Tätigkeit, dung. Denn dass sie nicht determiniert ist, bei der sie auftritt. Wie das genau zu ver- heißt, dass mehrere Möglichkeiten zu han- stehen ist, vermag er allerdings nicht auf deln bestehen; andernfalls wäre die Hand- den Begriff zu bringen, sondern behilft lung determiniert. Der Handelnde kann sich sich mit einem Gleichnis: „So wie in der also so oder anders verhalten. Da er nicht Blüte der Jahre sich die Schönheit ein- beides zugleich tun kann, muss er folg- stellt.“10 Epikur dagegen füllt seinen Be- lich eine Entscheidung treffen, wie er sich griff mit Inhalt, indem er in der dargestell- verhalten will. ten Weise an den traditionellen Lustbegriff Jede Entscheidung nun verlangt eine anknüpft und ihn als Unlustfreiheit umdeu- Norm, nach der sie gefällt wird, genauer: tet. eine Maxime im kantischen Sinn eines sub- jektiven Verhaltensgrundsatzes, d.h. eines C. Der Hedonismus als Euchismus Wollensgrundsatzes. Vor der Entschei- Wir haben aufgrund der sprachanalyti- dung sind die alternativen Handlungs- schen Untersuchungen von Gosling ge- möglichkeiten für den Handelnden abso- sehen, dass auch der gängige Lustbegriff lut gleichrangig. Zwar ist es immer mög- einen so großen Umfang hat, dass er am lich, dass er auf Grund seines Charakters Ende nicht mehr bedeutet als „positiver oder seiner gegenwärtigen Gemütsverfas- Bewusstseinsinhalt“. Das muss für den sung oder aus anderen Gründen der ei- Hedonismus kein Nachteil, sondern könn- nen Alternative zuneigt, aber wenn er wirk- te im Gegenteil von Vorteil für seine Be- lich als frei gelten soll, dann muss er sich gründung sein, wenn man die metaethi- immer fragen können, ob er dieser Zunei- schen Überlegungen Epikurs aufgreift und gung folgen will oder nicht (libertas indif- durch eine allgemeine Handlungstheorie ferentiae). Die Gleichrangigkeit bedeutet, untermauert. dass der Handelnde keine der alternativen Der Begriff der Handlung ist freilich nicht Handlungsmöglichkeiten unmittelbar an leicht zu bestimmen. Man kann jedes Er- sich selbst will. Denn beide zugleich kann eignis überhaupt eine Handlung nennen. er die Alternativen, sich so oder anders Es hat sich aber eingebürgert, diesen Be- zu verhalten, nicht wollen. Man kann sich griff nur auf den Menschen anzuwenden zwar wünschen, den Wein jetzt zu trinken

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 53 und noch im Keller altern zu lassen, aber alle Menschen sind Ethiker, die über ihre man kann sich aus Gründen der Logik Maximen und deren Berechtigung nach- nicht dafür entscheiden, beides zu tun. Der denken. Wieweit sie es tun, hängt sicher Handelnde will aber auch nicht nur eine vor allem vom Bildungsgrad ab. Aber vor- der Alternativen unmittelbar; denn dann handen sind die Maximen immer und sie wäre er entschieden. Vor der Entscheidung werden konsequent angewendet. Es ver- also will er keine der Alternativen unmit- hält sich wie mit den logischen Regeln: telbar an sich selbst. Um zu einer Entschei- Alle wenden sie an, aber die wenigsten dung zu kommen, bleibt ihm daher nur zu können sie benennen. überlegen, ob er eine der Handlungs- Aus dem bisher Erörterten ergibt sich, möglichkeiten mittelbar will, indem er et- dass alles Handeln rational ist. Ich nenne was sucht, das er schon will – für das er eine Handlung dann rational, wenn sie be- sich schon früher entschieden hat – und gründbar ist, d.h. wenn sie sich aus ei- in dessen Wollen das Wollen einer der Al- nem allgemeinen Grundsatz ableiten lässt. ternativen impliziert ist. Das aber kann nur Wenn eine Frau sagt, sie halte Diät, weil ein allgemeiner Grundsatz sein, für den die sie Wert auf eine schlanke Erscheinung eine Alternative ein Anwendungsfall ist, da lege, so verhält sie sich in diesem Sinne er ja die konkrete, einzelne Handlung noch rational. Die Rationalität verbürgt, dass nicht will. Die Entscheidung beruht dem- man bei jeder Handlung grundsätzlich ver- nach auf einem Schluss. Zum Beispiel suchen kann, zu einer Verständigung dar- schwankt jemand, ob er den Wecker für über zu kommen, ob sie zu billigen oder den Sonntag auf 6 Uhr oder 9 Uhr stellen zu missbilligen sei. Ein Geschehnis, das soll. Da er sich aber irgendwann vorge- keiner Begründung fähig ist, kann man nur nommen hat, immer früh aufzustehen, als Faktum hinnehmen. Wenn eine Hand- wählt er die frühere Zeit. Er schließt also: lung sich dagegen auf einen Grundsatz Ich will immer früh aufstehen, 6 Uhr ist zurückführen lässt und dieser wiederum die frühe Zeit, also will ich den Wecker auf einen anderen usw., so kann man zu- auf 6 Uhr stellen. mindest nicht a priori ausschließen, dass Nun beruht die Anerkennung der Maxi- irgendwann ein Grundsatz erreicht wird, me, nach der eine Entscheidung gefällt über den sich alle Beteiligten einig sind, wird, selbst wiederum auf einer Entschei- sodass dann auch über die in Frage ste- dung, wenn das Handeln als frei gelten hende Handlung ein einhelliges Urteil mög- soll. Es bedarf also einer weiteren Maxi- lich ist. Diese Möglichkeit lässt sich in ei- me, die die erste unter sich begreift, so- nem utopischen Traum so erweitern, dass dass über diese entschieden werden kann, schließlich alle Menschen zu einer friedli- usw. Man muss also voraussetzen, dass chen Einigung darüber gelangen, wie sie jemand, der handelt und somit Entschei- sich verhalten wollen und wie nicht. dungen fällt über ein mehr oder minder Dass nun alle Handlungen im genannten komplexes und mehr oder minder konsi- Sinne rational sind, folgt aus dem Begriff stentes Maximensystem, also über irgend- der Handlung als bewusster Zwecktätig- eine eine Ethik im weiten Sinne, verfügt. keit. Wir haben gesehen, dass Zwecktätig- Das soll freilich nicht besagen, dass sich keit Freiheit impliziert, dass diese in der jeder dessen auch klar bewusst sei. Nicht Entscheidung zwischen mehreren Mög-

54 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 lichkeiten liegt, dass jede Entscheidung der widerstreiten oder Unmögliches ver- nach einer Maxime gefällt wird und dass langen oder gegen das Recht verstoßen die Setzung eines Zwecks somit durch ei- o.Ä. Die Fundamentalmaxime jedoch, den nen Vernunftschluss geschieht. Ein Han- Wünschen im Prinzip Folge zu leisten, ist deln „aus dem Bauch“ aufgrund einer ir- dem Willen von der Handlungslogik zwin- rationalen, „bloßen“ Entscheidung, einer gend auferlegt. „Dezision“, wie sie die Dezisionisten an- Man könnte einwenden, dass die Annah- nehmen, ist demnach ein Unding, sie lässt me einer vom Willen unabhängigen Ge- sich nicht denken. Wenn wir Wollen als wichtungsinstanz nicht notwendig sei, weil Zwecksetzen definieren, dann gehört der der Einzelne sich seine Maximen gar nicht Wille zur Vernunft. selbst bilden müsse. Sie würden ihm im Dass das Handeln durchgängig rational ist, Laufe seiner Sozialisation anerzogen, so- bedeutet freilich nicht, dass es in seinem dass er bereits über ein ausreichendes Sys- ganzen Inhalt aus der Vernunft stammt. tem von Maximen verfüge, wenn er das Wir haben bisher nicht gefragt, wie wir erste Mal in die Lage komme, eigene Ent- überhaupt zu unseren Maximen kommen. scheidungen zu treffen. An dem Einwand Sie sind Grundsätze, die ein bestimmtes ist unstrittig, dass der Großteil unserer Verhalten den Alternativen vorziehen. Der Maximen anerzogen ist. Wie man sich im freie Wille aber wäre zu einer solchen Be- Leben verhält, lernen wir zunächst einmal vorzugung nicht in der Lage. Für ihn sind, von unseren Eltern und Lehrern. Doch da- wie wir gesehen haben, alle Alternativen durch wird unser Problem nicht gelöst, absolut gleichrangig. Wäre er daher auf sondern nur verschoben in einen unendli- sich allein gestellt, so würden wir in den chen Regress. Denn unsere Erzieher ha- Wahnsinn getrieben. Denn weder könn- ben die Maximen wiederum von ihren Er- ten wir nicht handeln, weil sowohl das Tun ziehern und diese von den ihren usw. Au- wie das Lassen eine Entscheidung erfor- ßerdem müssten wir heute noch nach den dern; noch könnten wir alle Alternativen Grundsätzen der Neandertaler leben, wenn realisieren, weil sie einander ausschließen; man das Argument in sensu stricto nimmt. noch könnten wir eine auswählen, weil sie Alternativ könnte man die These vertre- absolut gleichrangig sind. Es bedarf also ten, dass die Art der Maximenbildung be- einer vom Willen unabhängigen Instanz, reits in unseren Genen angelegt sei und die es ermöglicht, die Handlungsalternati- sich durch Evolution entwickelt habe, so- ven zu gewichten und so eine Entschei- dass uns unsere Maximen angeboren sei- dung zu treffen. Diese Instanz nenne ich en. Oder religiöse Gemüter könnten glau- die Wünsche. Der Wille ist also genötigt, ben, dass Gott die Maximen in uns gelegt sich bei seinen Entscheidungen an den habe. Aber welche Variante man auch Wünschen zu orientieren, sodass seine fun- wählt, sie kann die Entbehrlichkeit der damentale Maxime sein muss, den Wün- Wünsche nicht begründen. Solange wir schen zu folgen. Das bedeutet nicht, dass uns als frei betrachten, müssen wir uns er durch sie determiniert wäre. Es steht die Möglichkeit zugestehen, die anerzo- ihm jederzeit frei, ihnen die Gefolgschaft gene oder angeborene oder gottgegebene zu verweigern, wenn er dafür besondere Ethik jederzeit in Frage zu stellen und zu Gründe hat, zum Beispiel weil sie einan- entscheiden, ob wir ihr weiterhin folgen

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 55 oder sie durch eine andere ersetzen wol- Entscheidung offen lassen: „Wenn das len, und bei dieser Entscheidung kann uns auch nicht da ist, nehme ich irgendetwas die bisherige Ethik nicht helfen, weil sie anderes.“ Der Hausherr muss also an die- gerade in Frage steht. Da nun der Wille sem Punkt die vorhandenen Weine selbst für sich allein die Alternativen nicht ge- gewichten und da für seinen freien Willen wichten kann, ist er auf die Wünsche an- alle gleichwertig sind, wird er seinen Wün- gewiesen. Auch wenn jemand nie in sei- schen folgen, sodass er nach der Maxime nem Leben die Grundsatzfrage nach der handelt: „Wenn das auch nicht da ist, neh- eigenen Ethik stellt und die entsprechen- me ich irgendetwas anderes, auf das ich de Entscheidung nie bewusst fällt, könnte gerade am meisten Appetit habe.“ er, als mit einem freien Willen begabt, es Durch die notwendige Mitwirkung der doch jederzeit tun und folglich müssen wir Wünsche wird unser Handeln keineswegs voraussetzen, dass er seiner Ethik folgt, irrational. Jede Entscheidung geschieht weil er selbst es gutheißt, weil er es durch einen Vernunftschluss, auch dann, wünscht. wenn sie unmittelbar an die Wünsche de- Darüber hinaus kann kein Maximensystem legiert wird. Das geschieht ja nach einem so umfassend und detailliert sein, dass es allgemeinen Grundsatz. Unser Weinfreund alle etwaigen Entscheidungssituationen, leitet seine Wahl aus der genannten Maxi- die sich in einem Leben ergeben mögen, me ab, bei Fehlen des verlangten Weines vorwegnehmen kann. Vielmehr müssen wir sich nach seinem gegenwärtigen Appetit unsere Maximen fortlaufend den veränder- zu richten. Diese Maxime geht letztlich auf ten Gegebenheiten anpassen und das müs- die schon erwähnte fundamentale Maxi- sen wir in Eigenverantwortung tun. Ange- me, grundsätzlich den eigenen Wünschen nommen in einer Familie herrscht seit lan- zu folgen, zurück, die sich ihrerseits aus gem die Tradition, dass der Hausherr am keiner anderen Maxime ableitet. Sie ist Sonntagabend eine Flasche Burgunder nicht frei gewählt, sondern durch die öffnet. Eines Sonntags stellt er fest, dass Handlungslogik erzwungen und daher auch ihm der Burgunder ausgegangen ist. Er nicht änderbar oder aufhebbar. Das wi- kann also seine Maxime nicht ausführen. derspricht nicht der Willensfreiheit. Auch Da solche Fälle aber leicht vorhersehbar wenn wir uns als frei betrachten, so be- sind, hat die Maxime sie vielleicht schon deutet das nicht, dass unsere Freiheit un- berücksichtigt: „Wenn kein Burgunder begrenzt ist. Sie endet an wenigstens zwei mehr da ist, nehme ich Bordeaux, wenn Schranken. Die eine bilden die Naturge- der nicht da ist, Côte Rôtie, wenn der nicht setze. Ich kann mich nicht wie ein Adler da ist, Barolo usw.“ Es ist leicht ersicht- in den Mittagshimmel schwingen und ru- lich, dass die Maxime nicht alle unendli- hig meine Kreise ziehen. Wenn ich fliegen chen Möglichkeiten, ein Getränk zu sich will, so muss ich ein Fluggerät besteigen. zu nehmen, auflisten kann, weil sie dann Ebenso wenig kann jemand durch die selbst unendlich würde, abgesehen davon, Wand das Nachbarzimmer erreichen. dass ja auch noch zwischen den einzel- Wenn er dorthin will, muss er die Tür be- nen Lagen und den Flaschen im Regal nutzen. Die andere Schranke bilden eben entschieden werden muss. Die Maxime die logischen Gesetze. Man kann den Ku- muss also irgendwo abbrechen und die chen nicht essen und behalten oder den

56 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 höchsten Berg der Alpen, aber nicht den bestimmten Sachverhalten, derart dass es Montblanc besteigen. Diese Begrenztheit ihre Wirklichkeit ihrer Nichtwirklichkeit der Freiheit macht es allererst denkbar, vorzieht. Einfacher, aber weniger genau dass sich allgemein geltende Normen be- ausgedrückt: Wenn wir uns etwas wün- gründen lassen. schen, dann ist es uns lieber, dass es vor- Dass die Logik unseres Handelns uns handen, als dass es nicht vorhanden ist. zwingt, unseren Wünschen nachzugeben, Wenn ich mir zum Beispiel Reichtum wün- verliert das vielleicht Anstößige, wenn man sche, dann ziehe ich Reichtum der Armut berücksichtigt, was hier unter „Wünschen“ vor. Der Begriff ist damit so allgemein, verstanden werden soll. Ich definiere den dass er alles positive Bewerten schlecht- Begriff allein durch seine handlungstheo- hin umfasst. Es ist demnach nicht so, dass retische Funktion, er enthält nicht mehr wir etwas wünschen, weil es uns wertvoll als „willensunabhängige Wertungsinstanz ist, sondern umgekehrt ist etwas für uns überhaupt“, was immer dies in concreto wertvoll, weil wir es wünschen.11 sein mag. Die Frage, um welcher Art psy- Wenn meine Deutung zutrifft, war schon chisches Phänomen es sich handelt, das Epikur zu einem ähnlich weiten Begriff diese Funktion ausübt, bleibt offen, eben- gelangt, weil auch er die Frage nach der so wie die Frage nach den Ursachen der Quelle unserer Wertungen gestellt hat. Er Wünsche. Vermutlich werden viele durch identifiziert die Lust als diese Quelle, aber die vitalen Bedürfnisse hervorgerufen, wie dieser Begriff scheint mir nicht besonders die Wünsche nach Essen, Trinken, Sexua- gut geeignet, zumal Epikur dann an den lität usw. Der größte Teil aber dürfte uns traditionellen Begriff anknüpft und die Lust anerzogen sein. Das reicht bis in die vita- als pathos, als Empfindung, auffasst, wie len Belange hinein. Die erste Auster ist vie- die späteren Hedonisten es ebenfalls tun. len eher eklig, die später viel Geld für ein Nun kann eine Empfindung gewiss einen Dutzend Colchester ausgeben. Und auch Wert für uns darstellen und sei es sogar die erste Zigarette und der erste Alkohol den höchsten Wert, von dem alle übrigen munden meist nicht sonderlich und trotz- Werte als Mittel zum Zweck abgeleitet dem ist die Welt voller Raucher und Säu- sind. Aber das beantwortet die Frage nach fer. Solche Fragen gehören in die empiri- der Quelle des Wertes nicht. Wodurch sche Forschung. Wir sind auf die Wün- wird die Lust zum Wert? Was macht sie sche durch bloße begriffliche Analyse der dazu? freien Handlung geführt worden, die die Um darauf zu antworten, empfiehlt es sich, Annahme einer unabhängigen Wertungs- sich auf das zu besinnen, was wir mit instanz als notwendig erwies, sodass man „Wert“ eigentlich genau meinen. Der Be- nach ihr suchen muss wie nach einem vor- griff bezeichnet ja keine Eigenschaft, die ausberechneten Himmelskörper. Unter den bestimmten Dingen inhärierte wie die Far- gebräuchlichen Begriffen nun scheint mir be oder die Größe. Vielmehr bezeichnet der des Wünschens am besten das hier er eine Beziehung, die wir zu bestimmten Verlangte zu treffen. Dingen haben, und diese Beziehung lässt Ich möchte daher genauer definieren: sich, wie ich meine, am besten dadurch Wünschen ist eine vom Wollen unabhän- charakterisieren, dass wir die Wirklichkeit gige bewusste Beziehung des Subjekts zu der betreffenden Dinge ihrer Nichtwirk-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 57 lichkeit vorziehen. Wenn ich etwas „gut“ Gebrauch kommt dem des „Wünschens“ nenne, dann drücke ich damit aus, dass sehr nahe. Aber es ist eben nicht der ich möchte, dass es existiert. Der hedonis- hedonistische Gebrauch. tische Lustbegriff aber meint keine Bezie- Freilich lässt sich mit dem Wunschbegriff hung, sondern eine Empfindung oder ein nicht das erreichen, was Epikur erreichen Gefühl, das eine selbständige, für sich wollte, nämlich mit dem Nachweis unse- identifizierbare Entität darstellt, die rer Wertequelle zugleich den höchsten unabhängig von allen Beziehungen, in die Wert zu gewinnen. Er hatte argumentiert, sie treten mag, gedacht werden kann. Da- dass unsere Wertungen nicht aus der Ver- gegen scheint mir der Begriff des Wün- nunft, sondern nur aus der Sinnlichkeit schens genau diejenige Beziehung des stammen könnten und da diese nur einen Vorziehens zu beinhalten, die wir auch mit Wert liefere, sei die Lust der einzige ur- dem Begriff des Wertens verbinden, so- sprüngliche Wert und somit das höchste dass Werten gleich Wünschen ist. Güter Gut. Epikur hatte damit einen quasi-aprio- sind diejenigen Sachverhalte, die wir wün- rischen Beweis des Hedonismus an der schen, deren Wirklichkeit wir ihrer Nicht- Hand – „quasi“ deshalb, weil der zugrun- wirklichkeit vorziehen. Die Übel lassen de liegende Vermögensdualismus sich sich so definieren, dass bei ihnen die Sach- nicht a priori ableiten lässt. Seiner Argu- verhalte, deren Wirklichkeit wir ihrer Nicht- mentation können wir darin folgen, dass wirklichkeit vorziehen, negativ sind („Ich der rationale Wille keine ursprünglichen ziehe vor, nicht arm zu sein“). Verkürzt Werte schaffen kann, sondern auf eine un- kann man bestimmen: Güter sind die Din- abhängige Gewichtungsinstanz angewie- ge, deren Wirklichkeit wir wünschen, Übel sen ist. Das kann aber nicht das Lust- diejenigen, deren Nichtwirklichkeit wir empfinden, sondern muss etwas sein, das wünschen. Es ist also ein und dieselbe Be- eine bestimmte Beziehung zu den Dingen ziehung des Subjekts zu bestimmten Sach- herstellt, wie wir es im Begriff des Wün- verhalten, durch die wir diese positiv oder schens denken. Vom Wünschen lässt sich negativ bewerten, nämlich das Wünschen, nun aber schwerlich ohne weiteres be- d.h. die Bevorzugung ihrer Wirklichkeit. haupten, dass es nur einen einzigen Wert Sind die Sachverhalte positiv, sprechen liefere, wenn man sich die Vielfalt der wir von Gütern, sind sie negativ, von Wünsche vor Augen führt. Um die Lust Übeln. Das Wünschen ist somit die allei- als höchsten Wert zu etablieren, wäre man nige Quelle all unserer Wertungen, der also wieder an das gängige Argument zu- positiven wie der negativen. Wenn wir von rückverwiesen, die empirische Hypothe- der Frage nach dieser Quelle ausgehen, se, dass alle Lebewesen nur nach Lust dann werden wir demnach nicht, wie Epi- strebten, d.h. nur den einen Wunsch nach kur meinte, auf den Begriff der Lust ge- Lust hätten. führt, sondern auf den des Wünschens. Zum Ausgleich bietet der Wunschbegriff Es gibt allerdings speziell im Deutschen die Möglichkeit, einen echten, wenn auch noch einen anderen Gebrauch des Aus- nur teilweisen apriorischen Beweis für das drucks „Lust“. Wir haben ja nicht nur Lust eigentliche höchste Gut des Hedonismus an einer Sache, sondern auch auf eine zu liefern, nämlich das Glück. Wie schon Sache oder zu einer Sache und dieser erwähnt, war Epikur sich mit seinen Zeit-

58 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 genossen einig, dass das Telos, das höch- als die „Zusammenstellung aus den ein- ste Gut, die Eudämonie sei. Der Streit ging zelnen Lüsten“ und infolgedessen in ih- allein um die Frage, worin die Eudämonie rem Wert von diesen abhängig; wenn sie zu sehen sei. Für Epikur war das die Lust: keinen Wert besäßen, wäre auch ihre Zu- Weil sie das einzige und damit höchste sammenfassung wertlos. Auch Eudoxos Gut sei, falle die Eudämonie mit ihr zu- wollte allem Anschein nach die Lust an- sammen, Glück sei das sinnliche Empfin- stelle der Eudämonie als höchstes Gut eta- den der Unlustfreiheit, der Ataraxie. Auch blieren. Jedenfalls versteht Aristoteles, der das utilitaristische Prinzip fordert, dass ihn noch selbst gehört hat und unser Haupt- man das Glück der Menschen befördern gewährsmann ist, seine Lehre offensicht- solle. Die Lust kommt erst dadurch ins lich als Gegenposition gegen den Eudämo- Spiel, dass hier ebenfalls das Glück in der nismus. Erst seit Epikur verbindet sich der Lust gesehen wird. Der Hedonismus ist Hedonismus mit dem Eudämonismus. also eigentlich ein Eudämonismus und so Das hängt zusammen mit der Entwicklung, werden die Begriffe denn auch häufig syn- die der Glücksbegriff im Hellenismus onym verwendet, vor allem im angelsäch- durchmacht. Glück war, allgemein zu re- sischen Sprachraum. den, die Erfüllung aller vorgesetzten Zwe- Das war allerdings nicht von Anfang an cke. Ich möchte diese Definition vorschla- so. Die ersten hedonistischen Theorien gen, weil sie die in der antiken Philoso- waren offenbar antieudämonistisch kon- phie verwendeten Glücksbegriffe am bes- zipiert. Von den Kyrenaikern, d.h. Aristipp ten abdeckt. In der Klassik des Platon und mit seiner Schule, wird berichtet: „Sie leh- Aristoteles waren die zu erfüllenden Zwe- ren auch, dass das höchste Gut vom Glück cke vorgegeben durch die kosmische Ord- verschieden sei. Denn das höchste Gut nung. Der Mensch war dann glücklich, sei die einzelne Lust, das Glück dagegen wenn er die ihm von der Weltordnung zu- die Zusammenstellung (systema) aus den gedachte Rolle vollkommen ausfüllte. Im einzelnen Lüsten, denen sowohl die ver- Hellenismus änderte sich das Weltbild, sein gangenen als auch die zukünftigen zuge- Charakteristikum war der Individualismus. zählt würden. Und die einzelne Lust sei Nicht mehr eine höhere Ordnung gab dem um ihrer selbst willen wählenswert, das Dasein Sinn, sondern das Heil des Ein- Glück nicht um seiner selbst willen, son- zelnen. Daraus ergab sich, dass die Zwe- dern um der einzelnen Lüste willen.“12 Die cke nicht mehr vorgegeben sein konnten, Quelle ist nicht sehr ausführlich, aber da- sondern der Einzelne sie sich selber set- hinter dürfte der folgende Gedanke ste- zen musste, und das hatte wiederum eine hen: Der Begriff der Eudämonie umfasst radikale Privatisierung des Glücks zur das gesamte Leben eines Menschen von Folge, die die Glücksvorstellung des gan- der Geburt bis zum Tode. Jemand ist erst zen späteren Abendlandes entscheidend dann glücklich zu nennen, wenn man sei- geprägt hat. Wenn ich meine Zwecke sel- nen ganzen Lebenslauf überblickt und ber wähle, dann kann nur ich selbst ent- feststellt, dass er mit guten Dingen, für scheiden, wann ich glücklich bin und wann Aristipp also mit Lust, angefüllt war. Dann nicht, kein anderer kann darüber urteilen. aber kann die Eudämonie nicht das höch- Für die Klassiker wäre es durchaus denk- ste Gut sein; denn sie ist ja nichts anderes bar gewesen, dass ein anderer besser über

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 59 meinen Glückszustand Bescheid weiß als rakter und wird zu einer analytischen Wahr- ich selbst, wenn er nämlich die besseren heit und damit zu einer apriorischen Er- metaphysischen Kenntnisse besitzt; denn kenntnis. Wir haben gesehen, dass der Glück war keine subjektive Befindlichkeit, Wille durch die Logik genötigt ist, sich an sondern die objektive Übereinstimmung den Wünschen zu orientieren, sodass sei- mit der Weltordnung. Im Hellenismus da- ne fundamentale Maxime sein muss, die gegen wurde Glück zum reinen Bewusst- Wünsche zu erfüllen. Wenn nun das Glück seinsinhalt. „Niemand ist glücklich, der in der Erfüllung der Wünsche besteht, so sich nicht dafür hält“, zitiert Seneca.13 So ist aus logischen Gründen klar, dass alle war es dann möglich, das Glück als eine Menschen notwendig nach Glück streben. subjektive Empfindung, als ein positives Denn nicht handeln können sie nicht und Gefühl aufzufassen, wie es bei Epikur ge- handeln können sie nur, wenn sie sich nach schieht, wenn er das Glück der Lust gleich- ihren Wünschen richten. setzt. Damit ist freilich der Eudämonismus noch Diese Auffassung schlägt sich bis heute nicht ausreichend bewiesen. Daraus, dass auch in den alltäglichen Glücksvorstellun- die Menschen notwendig nach Glück stre- gen der Menschen nieder. Wenn man je- ben, folgt nicht, dass es für sie das höch- manden fragt, was er unter Glück verste- ste Gut sein muss. Wenn wir Mills Be- he, so wird man in den allermeisten Fällen weis hernehmen, so haben wir seinen er- zur Antwort bekommen, dass es eine Art sten Schritt, dass die Menschen tatsäch- Hochgefühl sei, das uns gelegentlich er- lich nach Glück streben, sodass es ein Gut fülle. Glück wäre demnach ein bestimm- für sie ist, durch einen apriorischen Be- tes psychisches Phänomen, ein Gefühl, weis ersetzt. Mills nächster Schritt bestand das, wie andere Gefühle auch, zuweilen in dem Nachweis, dass die Menschen nur in uns auftritt, zuweilen nicht und das als nach Glück streben, sodass es das einzi- im höchsten Grade positiv empfunden ge und damit höchste Gut für sie ist. Das wird. Aber auch der allgemeinere Aspekt lässt sich mit unserem Glücksbegriff nicht des hellenistischen Glücksbegriffs, dass bewerkstelligen. Es würde bedeuten, dass das Glück in der Erfüllung aller selbst ge- wir nur den einen Wunsch hätten, dass wählten Zwecke bestehe, schlägt sich in alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen den alltäglichen Vorstellungen bis heute mögen. Das aber führt zum Widerspruch, nieder, nämlich dort, wo Glück mit Zu- denn der Wunsch nach Glück bezieht sich friedenheit in Verbindung gebracht wird, ja auf andere Wünsche, setzt ihre Existenz was nicht minder verbreitet ist. Denn mit also voraus. Zufriedenheit ist gemeint, dass man alles Man könnte jedoch auf anderem Wege hat, was man möchte. Daran möchte ich versuchen das Ziel zu erreichen. Damit sie anknüpfen und Glück definieren als Er- ihre Funktion als Entscheidungshilfe er- füllung aller eigenen Wünsche. füllen können, dürfen die Wünsche nicht Legt man diese Definition zugrunde und völlig chaotisch sein. Im Gegensatz zu den zieht heran, was wir oben über die Wün- Zwecken, die unser tatsächliches Handeln sche gesagt haben, dann verliert die The- leiten, sind die Wünsche an sich an kei- se, dass alle Menschen nach Glück stre- nerlei Gesetze, weder logische noch na- ben, ihren empirisch-hypothetischen Cha- turwissenschaftliche, gebunden. Wün-

60 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 schen kann ich mir, was ich will, Mögli- Glück befinden wir uns auf einer anderen ches und Unmögliches, auch ein vier- Ebene, als wenn wir zum Beispiel Gesund- eckiges Dreieck, denn das Reich der heit wünschen. Wie schon erwähnt, sind Wünsche ist nicht das der Realität. Um der Gegenstand des Glückswunsches aber zwecktätiges Handeln zu ermögli- selbst wiederum Wünsche, sodass wir uns chen, muss wenigstens ein hinreichender gewissermaßen auf der Metaebene bewe- Teil der Wünsche sich auf Mögliches rich- gen. Die Wünsche dieser Ebene müssen ten und harmonieren; was nicht bedeutet, nun keineswegs mit den korrespondieren- dass sie nicht gegensätzlich sein dürfen, den der Objektebene übereinstimmen. Es sofern sie sich dann hierarchisieren las- ist durchaus denkbar, und jeder hat ver- sen. Wie müsste eine Hierarchie aussehen? mutlich schon die Erfahrung gemacht, Da die Wünsche in keinem inhaltlichen Zu- dass wir Wünsche ausbilden, von denen sammenhang, wie einer Zweck-Mittel-Be- wir wünschen, dass sie besser nicht in ziehung, stehen müssen, sodass der eine Erfüllung gehen. Das führt zwar zum Wi- Wunsch nicht notwendig den anderen nach derspruch; denn wenn jemand einerseits sich zieht; da sie vielmehr völlig unabhän- wünscht, der gewalttätige Vater möge ster- gig von einander entspringen können, ben, andererseits, der Wunsch möge nicht bleibt als Ordnungsprinzip nur die Stärke in Erfüllung gehen, dann wünscht er zu- des jeweiligen Wunsches. Das höchste gleich, dass der Vater sterbe und nicht Gut wäre dann das, was die Menschen sterbe. Aber das ist auf dem Felde der sich am stärksten wünschen. Wenn nun Wünsche kein Ausschließungsgrund, so- das Glück das höchste Gut sein soll, dann lange sie nicht zu Zwecken gemacht und müsste die Erfüllung unserer Wünsche in die Tat umgesetzt werden sollen. Aus dasjenige sein, was wir uns am meisten seinem Begriff lässt sich somit nicht fol- wünschen. Das scheint in der Tat prima gern, dass das Glück notwendig das höch- facie plausibel, denn was können wir uns ste Gut ist. Das schließt natürlich nicht aus, mehr wünschen, als dass alle unsere Wün- dass es de facto als das höchste Gut an- sche in Erfüllung gehen. Man könnte da- gesehen wird. Doch das wäre dann wie- für auch eine Begründung versuchen: Im der eine bloße empirische Hypothese. Wunsch nach der Erfüllung eines Wun- Wenn man sie aber akzeptiert, erhält man sches ist dieser selbst enthalten. Wenn je- eine Ethik, die den großen Vorteil des He- mand sich wünscht, sein Wunsch nach donismus, die geschlossene systemati- einem Sohn möge in Erfüllung gehen, so sche Einheit, teilt, nur dass die Lustemp- wünscht er sich zugleich, dass seine Frau findungen durch die Wünsche ersetzt wä- einen Sohn zur Welt bringt, also genau den ren und es nicht um größtmögliche Lust, Gegenstand des ursprünglichen Wunsches. sondern um größtmögliche Wunscherfül- Folglich sind im Wunsch nach Glück alle lung ginge. Der hedonistische Kalkül zur anderen Wünsche enthalten, sodass das Errechnung des Gratifikationswertes stellte Glück notwendig dasjenige ist, was wir sich dann so dar, dass die erwünschten uns am meisten wünschen. und unerwünschten Folgen einer Hand- Allein der Beweis scheitert daran, dass lung gegeneinander aufgerechnet würden, unsere Wünsche an sich an keine Geset- sodass eine eindeutige rationale Begrün- ze gebunden sind. Mit dem Wunsch nach dung jeder Handlung möglich wäre. Die

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 61 größte Schwachstelle des Hedonismus sten Gut zu erklären, könnte man die Hy- aber, der traditionelle Lustbegriff, dem in pothese vertreten, dass wir de facto nur der Realität nichts entspricht, wäre ver- den einen Wunsch nach diesem Hochge- mieden. Der Utilitarismus könnte mit die- fühl hätten, das damit das einzige Gut wäre, ser Version ohne weiteres leben. Der Eu- sodass all unser Tun nur Mittel wäre, die- dämonismus würde beibehalten und nur ses Gefühl zu erlangen und zu erhalten. die Identifikation von Glück mit Lust fal- Das ließe sich dann weniger bedenklich len gelassen. Die jüngste Entwicklung zum als Hedonismus bezeichnen, wäre aber „Präferenz-Utilitarismus“ bestätigt das, sie wohl eine äußerst unwahrscheinliche Hy- läuft letztlich auf dasselbe hinaus. „Hedo- pothese. nismus“ allerdings könnte man eine sol- Der Hedonismus krankt daran, dass er che Ethik schwerlich nennen, ohne große letztlich immer auf einer empirischen Hy- Verwirrung zu stiften; zu sehr ist dieser pothese ruht, auf welche Art man ihn auch Begriff mit dem herkömmlichen Lustbe- konzipiert. Das ist jedoch für eine norma- griff verknüpft. Man müsste eher von ei- tive Ethik kein ausreichendes Fundament. nem „Euchismus“ sprechen. Wer zwischen richtigem und falschem Ver- Wenn man dagegen den anderen gängi- halten unterscheiden und das falsche Ver- gen Glücksbegriff, der auf den Hedonis- halten womöglich noch mit Sanktionen mus zurückgeht und der das Glück in ei- belegen möchte, darf sich nicht auf bloß nem bestimmten Hochgefühl sieht, zugrun- hypothetische Annahmen berufen. Es wird de legt, ließe sich der Euchismus wohl in sich kein Richter finden, der urteilt: „Dieb- eine Art Hedonismus umwandeln. Dieses stahl ist möglicherweise Unrecht, also Hochgefühl lässt sich eher als der her- werfe ich Diebe ins Gefängnis.“ Eine nor- kömmliche Lustbegriff als eine selbstän- mative Ethik braucht eine unstrittige dige, für sich identifizierbare Gegebenheit Grundlage, indem sie nachweist, dass es denken. Wenn ich die damit verbundenen Zwecke gibt, die notwendigerweise jeder Vorstellungen richtig einschätze, handelt hat. Wie sich das denken lässt, habe ich es sich nicht um ein Gefühl, das beliebi- andernorts zu zeigen versucht. 14 ge, völlig heterogene Tätigkeiten beglei- tet, sondern es führt ein Eigenleben, kann Anmerkungen: ebenso unerwartet auftreten wie ausblei- 1 Zur Problematik der kantischen Ethik vgl. M. ben und weist einen bestimmten, höch- Hossenfelder, Das Erbe des kategorischen Impe- sten Intensitätsgrad auf. In solchem Falle rativs, in: A. Lorenz (Hg.), Transzendentalphilosophie heute. Breslauer Kant-Symposion 2004, Würzburg fällt die Annahme leichter, dass es sich 2007, S. 117-129. Dort auch die Nachweise. stets um dasselbe Phänomen handelt. 2 J. St. Mill, Der Utilitarismus, Übers. v. D. Wenn man das einräumt, könnte man fol- Birnbacher, Stuttgart 1976, S. 15. gendermaßen argumentieren: Dass das Hoch- 3 Aristippi et Cyrenaicorum fragmenta, ed. E. gefühl ein Glücksgefühl genannt wird, liegt Mannebach. Leiden/Köln 1961, Fr. 191. daran, dass ihm ein überaus positiver Cha- 4 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1172 b 9 rakter zugeschrieben wird. Das aber be- ff. 5 S. das Genauere zum Problem der Lustarten in deutet, dass es Gegenstand eines Wün- der Antike bei M. Hossenfelder, Epikur, 3. Aufl., schens ist, das ja der Quell all unserer Wer- München 2006, S. 33f.; 39f.; 68-71. tungen ist. Um nun das Glück zum höch- 6 Mill, (Anm. 2), S. 13.

62 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 7 R. M. Hare, The language of morals, Oxford 1952, Part I. 3. 2. 8 Mill, (Anm. 2), S. 60f. 9 J. C. B. Gosling, Pleasure and desire. The case for reviewed, Oxford 1969. 10 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1174 b 33. S. das Genauere und die weiteren Belege zum antiken Lustbegriff in Hossenfelder, (Anm. 5), S. 29ff. (Eudoxos); 36ff. (Aristipp); 48f. (Aristoteles); 63ff. (Epikur). 11 Ich konnte die Handlungstheorie hier nur kurz in Auszügen wiedergeben. Die ausführliche Darstel- lung findet sich in: M. Hossenfelder, Der Wille zum Recht und das Streben nach Glück. Grundlegung einer Ethik des Wollens und Begründung der Men- schenrechte, München 2000. 12 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen be- rühmter Philosophen, 2, 87 f. 13 „Non est beatus, esse se qui non putat“, Seneca, Briefe an Lucilius, 9,21. Der Vers stammt vermut- lich von Publilius Syrus (1. Jh. v. Chr.). 14 Vgl. Hossenfelder, (Anm. 11).

Zum Autor: Prof. Dr. Malte Hossenfelder ist emeri- tierter ordentlicher Professor für Philo- sophie an der Universität Graz. Einer seiner Publikations- und Forschungs- schwerpunkte liegt in der Ethik. Zu sei- nen wichtigsten Publikationen auf die- sem Gebiet gehören „Der Wille zum Recht und das Streben nach Glück. Grundlegung einer Ethik des Wollens und Begründung der Menschenrechte“ (2000), „Antike Glückslehren“ (1996), „Epikur“ (1991, 3. Aufl. 2006), „Stoa, Epikureismus und Skepsis (Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. III)“ (1985, 2. Aufl. 1995).

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 63 Bernd A. Laska (Nürnberg) La Mettrie – ein gewollt unbekannter Bekannter Zur Thematik „Aufgeklärter Hedonismus“ und „Zweite Aufklärung“

La Mettrie? Oder Lamettrie? Ja, den kennt chen Leben oder zu vollendeter Lebens- man. Natürlich. Das war Monsieur Machi- und Liebeskunst, wird darin vermutlich ne, der Franzose, der das Buch L’homme wenig Neues finden. Vielmehr findet man machine geschrieben hat, im 18. Jahrhun- dort Überlegungen darüber, warum sol- dert, der Mann, der den Menschen kurz- che Anleitungen wenig nutzen und kaum um als Maschine betrachtete und deshalb je bewirken können, was von ihnen erhofft als der erste „mechanistische Materialist“ wird. La Mettrie versucht zu ergründen, in die Ideengeschichte eingegangen ist. woher die Unfähigkeit – nicht „des“ Men- schen, aber doch: – der meisten Menschen Aber kennt man La Mettrie wirklich, wenn stammt, genuine Wollust und genuines man ihn mit dieser extremen Position iden- Glück in vollem Umfang zu empfinden tifiziert? Und wenn nicht: Kann es lohnen, bzw. zu erfahren. Er hätte den Fragesatz ihn näher kennenzulernen? Kann ein Ma- geprägt haben können: „Der Mensch wird terialist der Frühaufklärung uns Heutigen glücksfähig geboren, doch überall lebt er noch etwas sagen, das nicht in den zwei- im Unglück; wie ist es dazu gekommen?“ einhalb Jahrhunderten nach ihm – gestützt La Mettrie fragt radikaler als Rousseau durch die enormen Fortschritte in den em- nach ihm: „Der Mensch ist frei geboren, pirischen Wissenschaften – besser, kla- doch überall liegt er in Ketten ... wie kam rer, richtiger gesagt worden ist? es zu dieser Umwandlung?“ Radikaler als bei Rousseau wären auch die politischen Ich meine: ja, erstaunlicherweise ja. Denn Konsequenzen aus La Mettries Einsich- La Mettrie hat noch einige andere, nach ten, die man zu Recht tiefenpsychologisch wie vor kaum bekannte Bücher geschrie- nennen kann: zum Unbewussten, zum Se- ben: L’École de la volupté (Schule der xuellen, zur Gewissens- bzw. Über-Ich- Wollust), Discours sur le bonheur (Rede Bildung. Ihretwegen ist La Mettrie in letz- über das Glück), L’Art de jouir (Die ter Zeit gelegentlich als Vorläufer Freuds Kunst des Genießens). Das sind augen- ausgezeichnet worden.1 So richtig dies in scheinlich Texte zum Thema Hedonismus. speziellen Punkten sein mag: in genereller Aber was kann La Mettrie, als Hedonist, Hinsicht ist es falsch. La Mettrie würde uns heute, nach zweieinhalb Jahrhunder- der bekannten Grundauffassung Freuds, ten Aufklärung, nach Feuerbach, Scho- „die Absicht, dass der Mensch ‘glücklich’ penhauer und Nietzsche, nach Freud, Kin- sei, [ist] im Plan der ‘Schöpfung’ nicht sey und sog. sexueller Revolution, noch enthalten“, 2 widersprechen. Er hielt die- lehren? se Frage offen.

Wer heute La Mettries Schriften über das Damit ist bereits die elementare Ebene er- Glück und die Wollust als eine Art Ratge- reicht, auf der zu prüfen wäre, ob La ber liest, als Anleitungen zu einem glückli- Mettrie uns heute – möglicherweise für

64 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 einen selbstkritischen Ansatz zu der oft mir notwendig, sie in ihren wesentlichen für nötig befundenen „Zweiten Aufklä- Stationen darzustellen. Dies ist auch die rung“ – noch etwas lehren kann. Natür- beste Propädeutik für das Verständnis lich können Schriften, die in der Mitte des von La Mettries allenthalben unwillkom- 18. Jahrhunderts in feudalen gesellschaft- menem „aufgeklärten Hedonismus“. Erst lichen Verhältnissen entstanden sind, kei- die Kenntnis der verschiedenen, manch- ne direkte Antwort auf Probleme des 21. mal recht raffinierten, bis in unsere Tage Jahrhunderts geben. Ich möchte deshalb reichenden Ausweich- und Verdrängungs- hier nicht ahistorisch und unvermittelt eine taktiken gegenüber diesem Hedonismus Darstellung von La Mettries Gedanken weckt, nährt und steigert den Verdacht, zum Hedonismus geben und sie mit dem dass es hier tatsächlich etwas zu entde- heute verbreiteten „real existierenden“ He- cken gibt, das nicht nur historische Be- donismus konfrontieren. Die Rezeptions- deutung hat. Aktualisierbar ist La Mett- geschichte der Gedanken La Mettries er- ries Position am ehesten dann, wenn die scheint mir für ihr Verständnis unverzicht- heutige Situation aus „aufklärerischer“ bar, denn sie zeigt zweierlei: dass diese Sicht als hochproblematisch empfunden Gedanken immer wieder kurzschlüssig und der „real existierende“ Hedonismus missverstanden und in eine bereits beste- mit Unbehagen und Skepsis betrachtet hende Schublade – unter „mechanisti- wird, nicht zuletzt deshalb, weil in ihm die scher Materialismus“, „Atheismus“, „Ni- Aufklärungsresistenz und Rückwendung hilismus“ – abgelegt wurden; und dass zur Religion angelegt sind. dies bei vielen Autoren mit einer unaufge- deckten, uneingestandenen, vielleicht auch Zur Vergegenwärtigung und einführenden unbewussten Absicht geschah. Es gibt al- Orientierung zunächst die wichtigsten bio- so außer den eigentlichen Gedanken La graphischen Daten: Julien Offray de La Mettries noch einen hochinteressanten Mettrie wurde 1709 in Saint Malo in der „Fall“ La Mettrie. Dieser erstreckt sich Bretagne geboren. Er studierte Medizin in zeitlich über mehr als zweieinhalb Jahrhun- Paris, in Rennes (wo er 1736 promovier- derte: von der konspirativ anmutenden te) und im niederländischen Leiden (bei Ächtung und Tabuisierung des Aufklärers Boerhaave, dem damals führenden Medi- durch die zeitgenössischen Kollegen über ziner). Seit etwa 1736 praktizierte er als die spät einsetzenden Bemühungen um Arzt, zivil und im Krieg. Zur gleichen Zeit eine zwiespältige Teil-Rehabilitation bis zu begann er seine schriftstellerische Tätig- verfehlten Vereinnahmungen in unseren keit mit kommentierten Übersetzungen der Tagen. Stets handelte es sich um Manö- medizinischen Werke seines Lehrers Her- ver, die so oder so der Abwehr und Ver- mann Boerhaave ins Französische. Dane- drängung von La Mettries Vorstellungen ben verfasste er kleinere medizinische Ab- von Hedonismus und deren praktischen handlungen und eine Reihe von polemischen Konsequenzen galten. Schriften, in denen er die Geschäftspraktiken der etablierten französischen Ärzteschaft Nicht nur, um Zweifel an dieser kurzen aufs Korn nahm. Seine philosophischen Charakteristik der Re(pulsions- und De)zep- Schriften entstanden in dem kurzen Zeit- tionsgeschichte zu zerstreuen, erscheint es raum von 1745 bis zu seinem frühen Tod

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 65 1751, also viele Jahre vor den Werken der mischen Impetus, mit dem er publizierte, anderen Autoren des „französischen Ma- so wird deutlich, wie verfehlt eine Rezep- terialismus“, dem La Mettrie meist zuge- tion dieses Autors ist, die ihn auf einen rechnet wird. Ihre Titel lauten: kruden „mechanistischen Materialismus“ reduziert. Histoire naturelle de l’âme – Naturge- schichte der Seele 1745 Und doch war es bis Mitte der achtziger (L’École de) la volupté – (Schule der) Jahre des 20. Jahrhunderts so. Einzig La Wollust 1745, 1746, 1747 Mettries kleine Schrift L’homme machine L’homme machine – Der Mensch eine / wurde immer wieder neu herausgegeben: als Maschine 1747 (1748) ab 1865 in Frankreich, ab 1875 in deut- L’homme plante – Der Mensch als Pflanze scher Übersetzung. La Mettries andere 1748 Schriften blieben weitgehend vergessen. L’homme plus que machine – Der Seine Œuvres philosophiques wurden Mensch mehr als Maschine 1748 zwei Jahrhunderte lang nicht mehr ge- Discours sur le bonheur – Rede über das druckt; erst 1970 erschien ein reprogra- Glück 1748, 1750, 1751 phischer Nachdruck einer Ausgabe von Les animaux plus que machines – Die 1774. Eine vierbändige deutsche Werkaus- Tiere mehr als Maschinen 1750 gabe mit den wichtigsten Schriften in Erst- Le Système d’Épicure – Epikurs System übersetzung erschien 1985, bemerkens- 1750 werterweise im Selbstverlag des Heraus- Discours préliminaire – Vorrede (zu den gebers und Übersetzers (des Autors die- Œuvres philosophiques) 1750 ses Artikels). Deren Band 1, Der Mensch L’art de jouir – Die Kunst zu genießen / als Maschine, ist trotz zweier konkurrie- Die Kunst, Wollust zu empfinden 17513 render Ausgaben der bei weitem gefrag- teste Titel, was deutlich zeigt, dass man La Mettrie musste wegen der Histoire in La Mettrie noch immer vorwiegend naturelle de l’âme aus Frankreich fliehen, Monsieur Machine sieht, einen der „fran- und wegen des L’homme machine auch zösischen Materialisten“, den radikalen aus dem liberalen Holland. Anfang 1748 „mechanistischen Materialisten“. fand er ein Asyl am Hofe Friedrichs II, wo er bis zu seinem Tode 1751 lebte. Die Maschinenmetapher ist durch ständi- ge Wiederholung derart mit La Mettrie Schon die Titel einiger dieser meist eher verschmolzen, dass selbst ausgewiesene kurzen 4 Schriften bekunden, dass der Satz Spezialisten, die gezeigt haben, dass sie „Der Mensch [ist] eine Maschine“ nicht, eine tiefer gehende Kenntnis von La Mett- wie es der Hauptstrom der akademischen ries Werk haben, der Magie dieser Meta- Philosophie tut, als Essenz seiner Philo- pher erliegen und, indem sie sie im Titel sophie zu nehmen ist. Zieht man zudem verwenden, dabei sogar den Inhalt ihrer das satirische Temperament La Mettries differenzierteren Abhandlungen konterka- in Betracht, das in all seinen Büchern und rieren. Ein Beispiel: Ursula Pia Jauch, die in zahlreichen separaten Pamphleten zum Verfasserin einer 600-seitigen Monogra- Ausdruck kam,5 vor allem auch den pole- phie über La Mettrie, hielt den Festvor-

66 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 trag zu einer wissenschaftlichen Tagung kategorialen Zugehörigkeit außer Acht ge- über La Mettrie – der weltweit ersten über- lassen werden können und der dafür zu haupt – unter dem Titel Herr Maschine einer Antwort auf die eingangs gestellte im Jenseits von Gut und Böse.6 Der darin Frage führt, was denn damals – und heu- anklingende Unernst ist, neben dem Spiel te noch immer – unter aufgeklärtem Hedo- mit der mechanistischen Reduktion, ein nismus verstanden werden könnte. Es ist weiterer Zug der neueren Rezeption La der schon genannte Königsweg über die Mettries, die auf leichtfertigen Interpreta- kritische Untersuchung der Reaktionen auf tionen der Rolle La Mettries als Hofnarr La Mettries Publikationen, dessen haupt- Friedrichs II und der ironischen Passa- sächliche Stationen nachfolgend skizziert gen in seinen Schriften beruht.7 werden.

La Mettrie wurde im Laufe der Zeit in die- Die Geschichte dieser Reaktionen lässt se oder jene philosophische Kategorie ein- sich in vier Phasen unterteilen: geordnet, oft mit den Beiworten „radikal“, 1) 1745 bis 1748: La Mettrie wird als ma- „konsequent“, „extrem“. So galt er als Na- terialistischer und atheistischer Philosoph turalist, Physikalist, Mechanist, Empirist, zwar von Klerus und staatlicher Zensur Spinozist, Sensualist, Monist, Materialist, verfolgt, genießt aber in aufklärerischen Atheist. Als Karl Popper sich diesen „be- Kreisen hohes Ansehen. rühmtesten aller Materialisten“ einmal ge- 2) Ab 1749: La Mettrie verliert aufgrund nauer ansah, war er überrascht und fand, seines Discours sur le bonheur seine Re- dass La Mettrie „eine Art empirischer und putation, auch und insbesondere bei den naturalistischer Auffassung [vertrat], in der Aufklärern, die ihn wegen dieses Buches auch evolutionäre Emergenz einen Platz zu einer Unperson machen; Ende des 18. hatte (... die an den Epiphänomenalismus Jahrhunderts ist er weitgehend vergessen. angrenzt).“ La Mettrie sei, so Popper, gar 3) Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kein radikaler Materialist gewesen, denn wird der totgeschwiegene und dann ver- er habe das subjektive Erleben nicht be- gessene La Mettrie wiederentdeckt. Es stritten. Man könne ihn auch als einen In- erscheinen von nun an immer wieder Ar- teraktionisten auffassen, und als „Vitalis- beiten, die zwar auf eine Rehabilitation des ten hinsichtlich der Physiologie der Tiere verfemten Denkers abzielen, den Grund (im Gegensatz zu Descartes).“8 La Mett- der einstigen Verfemung aber mehr oder ries Status als „Materialist“ ist, das zeigt weniger akzeptieren. dieses Zitat beispielhaft, bis heute diffus 4) Ab 1985 wird La Mettrie, im Rahmen und widersprüchlich geblieben – was auch des sog. LSR-Projekts, als eine von drei an La Mettrie liegt, der solche Kategorisie- Schlüsselfiguren untersucht, deren Schick- rungen nicht allzu ernst nahm und manch- sal Aufschluss über die tieferen Gründe mal mit ihnen sein ironisches Spiel trieb. des seit Mitte des 20. Jahrhunderts wahr- genommenen enttäuschenden Ergebnisses Dieser Stand der Dinge braucht nicht zu der neuzeitlichen Aufklärung geben soll. entmutigen. Es gibt einen Zugang zum Werk La Mettries, bei dem die ungeklär- In der ersten Phase waren es zunächst ten fachphilosophischen Fragen seiner La Mettries 1745 erschienene Bücher

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 67 L’histoire de l’âme und La volupté – sei- ste: er sollte unbehelligt von jeglicher Zen- ne Ärztepolemiken können hier außer Acht sur publizieren können. In einem Brief vom bleiben –, die zum einen wegen materiali- 18. Oktober 1748 schrieb Friedrich an stischer Tendenz und Leugnung der Un- Maupertuis, den Präsidenten der Akade- sterblichkeit der menschlichen Seele, mie: „Ich freue mich, den La Mettrie für zum anderen wegen Libertinage und Un- meinen Hof angeworben zu haben. Er hat terminierung von Sitte und Moral der Zen- all den Frohsinn und all den Geist, den sur zum Opfer fielen und in Paris öffent- man überhaupt nur haben kann.“ lich verbrannt wurden. Die Anonymität des Autors war offenbar kein wirksamer Schutz Festzuhalten ist für diese erste Phase: zum vor Verfolgung, denn La Mettrie floh dar- einen, dass der materialistische und athei- aufhin aus Frankreich und ließ sich in Hol- stische Philosoph La Mettrie, Autor des land nieder, dem traditionell liberalen Land, L’homme machine, zwar von Klerikalen in dem die verbotenen Schriften für ganz und der staatlichen Zensur verfolgt wor- Europa gedruckt wurden. Dort veröffent- den war, in der aufklärerisch gesinnten lichte er Ende 1747, vorsorglich wieder- Gesellschaft um Friedrich II. aber einen um anonym, den L’homme machine, eine angesehenen Platz innehatte; zum ande- kurze Schrift, knapp hundert Seiten im ren, dass das Akademiemitglied La Mettrie Duodezformat, auf denen er das Leib-See- von niemandem auf Schloss Sanssouci le-Problem nach neuestem Stand der Na- als Hofnarr angesehen wurde. turwissenschaften diskutiert. Die vermut- lich „anstößigste“ Stelle war die, wo er Diese erste Phase der Reaktionen endete einen ironischen Dialog mit einem gleich- mit dem schlagartigen Verlust des Anse- gesinnten Freunde fingiert. Dieser „ent- hens, das La Mettrie bei den Freidenkern setzliche Mensch“, berichtet er, habe zwar und Aufklärern hatte. Der Grund dafür war an allem gezweifelt, aber doch in einem eine einzige Schrift: sein Discours sur le Punkte eine feste Überzeugung gehabt, bonheur, die Rede über das Glück, die nämlich, „dass die Welt niemals glücklich Ende 1748 erschien. Die Entstehungsge- sein wird, wenn sie nicht atheistisch ist.“ schichte dieses Werks ist eine genauere (MM, 66) Diese Auffassungen gingen al- Betrachtung wert. Offenbar, weil La lerdings auch dem holländischen Libera- Mettrie aus seinen Gedanken und publizi- lismus, der konfessioneller Pluralismus stischen Plänen kein Geheimnis machte, war, entschieden zu weit. Erneut bedroht hat man ihm schon im Sommer 1748 eine an Leib und Leben, kam für La Mettrie Form der internen, vorbeugenden Zensur eine Einladung Friedrichs II. zur rechten auferlegt: „Er hatte mir versprechen müs- Zeit. Im Februar 1748 traf er am Potsda- sen“, schrieb später der Akademie- mer Hof des preußischen Königs auf präsident Maupertuis in einem Brief, „sich Schloss Sanssouci ein. La Mettrie wurde bloß an Übersetzungen zu begnügen, weil Friedrichs Leibarzt, Vorleser und Gesell- ich ihn dazu für fähiger hielt, und dadurch schafter, und er nahm an dessen Tafel- seine gefährliche Einbildungskraft einzu- runde berühmter Freigeister teil. Bald wur- schränken glaubte.“ (KW, 119) La Mettrie de er in die Preußische Akademie der Wis- musste, da ihm kein anderer Zufluchtsort senschaften aufgenommen. Das Wichtig- mehr offen stand, diese demütigende

68 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Bedingung akzeptieren. Aber er wollte sich schafter brüskiert; Maupertuis, der La nicht davon abhalten lassen, jenes Buch zu Mettries Schreiben kontrollieren sollte, war schreiben, das er später als sein Hauptwerk abwesend; die Lage war prekär, am mei- bezeichnen wird. In seiner „kleinen Schrift“, sten natürlich für La Mettrie, der so tat, dem L’homme machine, sagt er, habe er als sei er sich seines Vergehens nicht noch „nicht gewagt, gegen alle Vorurteile auf bewusst gewesen, und sich von da an in einmal anzutreten.“ (AS, 63) Zumindest ein die Rolle des Hofnarren flüchtete. La „Vorurteil“, das größte von allen, das auch Mettries neue Schrift jedenfalls schien, die Freigeister seiner Meinung nach pfleg- anders als der materialistisch-atheistische ten, wollte er noch attackieren. L’homme machine, nicht mehr tolerierbar zu sein. Die Reaktionen waren unisono ab- Als sein „Aufpasser“ Maupertuis Anfang lehnend. Oktober 1748 für eine mehrmonatige Rei- se Berlin verließ, sah La Mettrie seine Stun- Was war der Grund für die einhellige Ab- de gekommen: Er erstellte, wie man ihm lehnung dieses Buches „über das Glück“, geheißen hatte, eine Übersetzung von Se- deren Geschichte unten noch in groben necas De beata vita, dies aber nur, um Zügen zu schildern sein wird? La Mettrie sie mit einer „Rede des Übersetzers zum hatte in einigen Büchern zuvor immer wie- gleichen Thema“ als Einleitung zu verse- der einmal über das Glück geschrieben, hen; denn das hatte man ihm nicht aus- über dessen verschiedene Quellen, die in- drücklich verboten. Diese Rede hatte frei- ternen und die externen, über Tugend und lich mit Seneca nur indirekt zu tun und Laster etc. Dabei knüpfte er oft an antike war in Wahrheit sein geplantes Hauptwerk, Autoren an, auch an jüngere französische, der Discours sur le bonheur. Mit einigen affirmativ oder kritisch, zustimmend oder nicht unriskanten Manövern gelang es La polemisch. Oft waren seine vordergrün- Mettrie, das Manuskript zum Druck brin- dig harmlosen Betrachtungen in Ironie gen, ohne dass Friedrich davon erfuhr. Al- verpackte Attacken auf konventionelle les geschah innerhalb weniger Wochen, so Moral und Politik. Für diese Schriften dass Ende 1748 vollendete Tatsachen ge- wurde er in freisinnigen Kreisen geschätzt; schaffen waren: die Buchhändler waren sie taten jedenfalls seinem Renommée als beliefert. Wissenschaftler und Philosoph keinen Ab- bruch. Aber dies war auch eine Schrift- Die Situation war verzwickt und ohne stellerei, auf die er sich nicht viel zugute Präzedenz. Offiziell galt im Reich des „Phi- hielt. Seine neue Schrift jedoch, für deren losophen auf dem Königsthron“ die Zen- Publikation er die Sicherheit seines letz- sur nicht für Schriften rein philosophi- ten Asyls riskierte, war ihm die ernsteste schen Inhalts. Akademiemitglieder unter- und wichtigste. Sie ist die einzige, für de- lagen zwar einer informellen, offenbar bis- ren theoretischen Gehalt – seine théorie her genügend wirksamen Aufsicht. La des remords/Theorie des Schuldgefühls Mettrie hatte aber, weil er wusste, dass er – er Originalität beanspruchte. diese neue Schrift sonst nicht hätte publi- zieren dürfen, diese Aufsicht überlistet. Die Kernidee von La Mettries Theorie des Der König fühlte sich von seinem Gesell- Schuldgefühls lässt sich treffend unter den

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 69 Titel Negation des irrationalen Über- Charakterhaltungen – also die Errichtung Ichs9 bringen, weil der (erst 1923 von eines Über-Ichs, welche das werdende Ich Freud eingeführte) Begriff des Über-Ichs, als innere Instanz „über sich“ bereits vor- auch wenn er hier vage bleiben muss, sich findet, wenn es sich zu entfalten beginnt bestens eignet, heute eine Vorstellung von – bezeichnet La Mettrie als „unheilvollste La Mettries mit Begriffen seiner Zeit be- Mitgift“, als „Unkraut im Kornfeld des schriebenen Auffassung zu vermitteln. Lebens“, als „grausames Gift“, das dem Menschen „das Leben vergällt“. Warum? La Mettrie ging von der Beobachtung aus, Weil es in aller Regel ihm die Fähigkeit zu dass es nur sehr wenigen Menschen ge- authentischem Glückserleben beeinträch- lingt, einen aufgeklärten Status zu errei- tigt und ihm den Weg versperrt, die chen, d.h. „die Vorurteile der Kindheit ab- „Kunst, Wollust zu empfinden“ auszubil- zulegen und die Seele mit der Fackel der den. La Mettries Fazit: „Den ärgsten sei- Vernunft zu reinigen.“ (AS, 22) Er sprach ner Feinde trägt der Mensch also in sei- das Offenkundige aus: dass dies nicht an nem Inneren.“ (AS, 53-63) mangelnder Intelligenz oder bösem Wil- len liege und die Resistenz gegen Aufklä- Es liegt auf der Hand, dass es bei dem rung tiefer im Organismus verankert sei – Prozess der Enkulturation zunächst gar „denn man entledigt sich nicht auf bloße nicht um die Einpflanzung von bestimm- Lektüre hin jener Prinzipien, die einem so ten, konkreten Wertvorstellungen geht; es selbstverständlich sind, dass man sie für geht um die psycho-physiologische Mo- natürliche hält.“ Im Gegenteil, der schar- difikation des Organismus („eingeprägt wie fe Intellekt fungiere oft als virtuose Ab- ein Petschaft in weiches Wachs“), um die wehr von vernünftigen Einsichten, wenn Zurichtung und „Beugung der Seele“ diese den Seelenfrieden des in Vorurtei- zwecks Einpassung in die bestehende Kul- len Befangenen bedrohen. (PP, 27f) Wenn tur, die wahrer Wollust (s.u.) ebenso feind- aber jemand die Vernunft abwehrt, weil selig gegenüber steht wie wahrer Vernunft. sie sein Wohlbefinden stört, liege das dar- (AS, 53-63) Das Fatale: die auf diese – an, dass seine Seele früh entsprechend präkognitive, irrationale – Weise erfolgen- „gebeugt“ worden ist. Hier, in der Erzie- de Errichtung eines Über-Ichs erzeuge so- hung, in der schon mit der Geburt einset- gar, als Nebenwirkung, erst viele jener zenden Enkulturation des Menschen, sah „Triebe“, zu deren Niederhaltung das ir- La Mettrie die Wurzel des Übels der rationale Über-Ich (mittels Schuldgefühl, Glücksunfähigkeit und Aufklärungs- remords) offenkundig später oft gar nicht resistenz. (AS, passim, 21, 70) in der Lage ist.

Enkulturation und Erziehung sind, wie La Diese seit Urzeiten „normale“ Schädigung Mettrie natürlich wusste, für den Men- der Individuen hat natürlich soziale Kon- schen so lebensnotwendig wie unvermeid- sequenzen. Deshalb meinte La Mettrie bar. Aber gerade das, was allgemein als auch, „dass die Welt niemals glücklich sein ihr wichtigster Effekt angesehen wird, die wird, solange sie nicht atheistisch ist“ weitgehend „unbewusst und ungeprüft“ (MM, 66), letzteres verstanden im Sinne erfolgende Weitergabe von Wert- und von „ohne irrationales Über-Ich“ (denn die

70 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Frage nach der Existenz „Gottes“ – die ein „in seiner Bedeutung kaum zu über- heute, nach fast drei Jahrhunderten Auf- schätzendes Thema“, eingeht und eine für klärung, wieder mit großem Ernst disku- seine Philosophie unabdingbare Unter- tiert wird – war für La Mettrie sinnlos). In scheidung deutlich machen will. (AS, diesem Sinne ist auch seine Forderung zu 105ff) La Mettrie sagt hier noch einmal verstehen, dass „die Religion samt allen mit großem Nachdruck, dass der Wollüs- ihren [säkularen] Ablegern vernichtet und tige (voluptueux) und der Wüstling (dé- mit der Wurzel ausgerottet“ werde, damit bauché ) in Bezug auf die Art ihres Lust- die Menschen „allein der spontanen Stim- empfindens als Gegensätze zu betrachten me ihres authentischen Ichs folgen.“ (MM, sind – weshalb Sade und La Mettrie, auch 66) Unbehindert durch ein irrationales wenn beide Atheisten und Materialisten Über-Ich wären sie in der Lage, einem ra- sind, auf einer fundamentaleren, konkre- tionalen Über-Ich, einer vernünftigen Ethik teren Ebene Antipoden sind. Wenn La gemäß zu leben. Der nicht gebeugten Seele Mettrie von Wollust spricht, dann meint erschlösse sich „eine ganz andersartige er Wollust als „eine wahrhaftige Ekstase Quelle der Tugend, die ... innere Stärke.“ ... die nur der Wollüstige, nicht der Wüst- (AS, 72) La Mettrie hielt es für grund- ling, erleben kann.“ (KW, 61) Er meint hier falsch, zu glauben, dass der Menschen einen qualitativen, keinen bloß graduellen „Sinn für Ehrlichkeit, Redlichkeit und Unterschied im Lusterleben. Der Wüst- Gerechtigkeit nur noch an einem dünnen ling hat, wie jeder „Normale“, die (bis- Faden hinge, wenn sie von den Ketten des lang immer repressive) Moral seiner Ge- Aberglaubens befreit wären.“ (PP, 75) Im sellschaft verinnerlicht, nur dass er zwang- Gegenteil: erst dann könnten diese Tugen- haft ihre Regeln verletzt. Das Lusterleben den sich voll entfalten. „In einer vernünf- des Wüstlings ist, da seine Seele „ge- tigen Seele vereinigen sich Pflichtbewusst- beugt“ wurde, tatsächlich „wüst“, d.h. sein und Sensibilität für Lust so vorzüg- öde, und von den Normen jener Moral, lich, dass sie, weit davon entfernt, einan- die auch ihm im Grunde heilig ist, inso- der zu beeinträchtigen, sich gegenseitig fern abhängig und bestimmt, als es sich verstärken.“ (AS, 103) primär aus deren Schändung speist. Die Lust des Wüstlings ist eine andere als die Die „Sensibilität für Lust“ steht in La des Wollüstigen; sie ist, so könnte man Mettries Anthropologie an zentraler Stel- formulieren, nicht Wo(h)l-Lust, sondern le; sie ist die materielle Entsprechung zur Wüst-Lust oder, wegen ihrer negativen Freiheit von einem irrationalen Über-Ich Fixierung auf die geltende Moral, Bös- und Garant für ein rationales. La Mettrie Lust. Der Wüstling ist ihr verfallen, ist schrieb sein Buch „Die Kunst, Wollust zu nach ihr süchtig. Seine „Begierden, die empfinden“ nicht, wie man vom Titel her einer übersteigerten Phantasie entsprin- vermuten könnte, als eine ars amandi der gen“, (AS, 106) sind unersättlich, unbe- damals verbreiteten Art – er spricht im friedigbar. Der Wollüstige hingegen ist, da Gegenteil mit Geringschätzung vom „Le- seelisch unversehrt, auch in seiner Fähig- bemann“ und seinen „Techniken des Ver- keit zum Lusterleben unversehrt und des- gnügens“ (AS, 111) – sondern als einen halb befriedigbar. Text, in dem er explizit auf das Sexuelle,

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 71 Damit begann die zweite Phase der Re- als „geiles Geschwätz“ und „Porneutik“12; aktionen auf La Mettrie. Eine Schrift, die und Voltaire, der seine einflussreiche Mei- derartige Ansichten enthält, war auch in nung in zahlreichen Briefen verbreitete, so Friedrichs Preußen, wo philosophische z.B.: „Ohne dass es ihm bewusst gewor- Bücher bisher nicht zensiert wurden, nicht den wäre, hat er eben ein schlechtes Buch tolerierbar. Hochgestellte Persönlichkeiten geschrieben ... darin verunglimpft er die forderten sofort nach Erscheinen ihre Kon- Tugend und das Gewissen, lobt das La- fiszierung, da sie „von sehr gefährlicher ster ... Vernünftige Leute haben sich nun Folge für die Untertanen“ sei.10 Der König darangemacht, ihm die Absonderlichkeit war der gleichen Meinung, aber etwas im seiner Moral aufzuzeigen. Er war sehr er- Zwiespalt, weil der Autor ihm persönlich staunt, er weiß nicht, was er geschrieben nahe stand. Er handelte aber sofort, als der hat, und wenn man will, wird er morgen Akademiepräsident Maupertuis von seiner auch das Gegenteil davon schreiben.“13 Reise zurück war, und erließ am 11. Mai 1749 das „Edict wegen der wieder hergestellten La Mettrie sah jedoch, wie er in dem Vor- Censur...“ Es scheint evident, ist aber nicht wort bekräftigte, gerade dieses Buch als ausdrücklich belegt, dass La Mettries Buch sein Hauptwerk an. Die inkriminierten An- der entscheidende Grund dafür war. sichten über Tugend und Laster, die er darin vertrete, hätten vor ihm schon viele Dennoch gelang es dem unbotmäßigen Autoren geäußert, antike ebenso wie jün- Autor, seine „Vorrede“ unter dem Titel gere französische. Priorität beanspruche Anti-Sénèque ou Le souverain bien (Anti- er jedoch für seine im Discours dargelegte Seneca oder Das Höchste Gut) zweimal Theorie des Schuldgefühls, für seine Lehre separat drucken zu lassen. Als der erste von den „Gewissensbissen“, vom Schuld- dieser Drucke im Oktober 1750 erschien, gefühl, modern: vom Über-Ich. (AS, 11)14 erzürnte dies den König so sehr, dass er, Da diese Lehre in engem Zusammenhang wie der junge Lessing – übrigens hocher- mit seiner Auffassung vom Sexuellen freut – seinem Vater berichtete, eigenhän- steht, kann La Mettries Schrift L’art de dig zehn Exemplare davon ins Feuer warf.11 jouir, eine Neufassung von La Volupté, Für den zweiten Separatdruck, der im Au- die er ebenfalls noch 1751 zum Druck gust 1751 erschien, schrieb La Mettrie ein gebracht hat, mit gutem Grund als zwei- Vorwort, in dem er die Reaktionen auf die ter Band des Hauptwerks angesehen wer- beiden früheren Ausgaben kommentiert. „Es den – wofür auch spricht, dass diese bei- gibt kein Buch“, schreibt er dort, „das die den Bücher die einzigen sind, die La Frommen je so in Wut gebracht hätte wie Mettrie ins Deutsche übersetzen ließ. Sie das vorliegende.“ (AS, 5) Die Frommen, erschienen, ebenfalls noch kurz vor seinem damit meinte er jetzt weniger die Klerikalen, Tod, 1751, unter den Titeln Das höchste die gar nicht seine Adressaten waren, son- Gut oder Gedanken über die Glückse- dern, freilich ohne Namen zu nennen, die ligkeit und Die Kunst, Wollust zu emp- Freidenker und Aufklärungsfreunde, etwa finden, waren aber aufgrund sofortiger seinen erbosten Schutzherrn Friedrich; und zensorischer Repression lange Zeit ver- Lessing, der den Discours als „Abscheu- schollen und wurden erst Ende des 20. lichkeit“ bezeichnete und L’art de jouir Jahrhunderts wiederentdeckt.

72 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Zuvor hatte man, wie im zitierten Voltaire- hatten, das von La Mettrie entstand. An Brief anklingt, La Mettrie genötigt, sich Richelieu: „Dieser La Mettrie ... mitsamt von seinem Discours zu distanzieren. Dies seiner strotzenden Gesundheit und seinen fand seinen klarsten, gleichwohl indirekt verrückten Ideen, er ist soeben zu Grun- bleibenden Ausdruck darin, dass man den de gegangen, weil er aus Prahlsucht eine erst vierzig Jahre alten und erst seit fünf ganze getrüffelte Fasanenpastete gegessen Jahren philosophisch schreibenden Autor hat ... voilà, eine unserer perfektesten Far- dazu brachte, seine gesammelten Œuvres cen.“15 Auch dass man La Mettries Wunsch philosophiques in kastrierter Form her- ignorierte, nicht in geweihter Erde begra- auszubringen: in diesem aufgenötigten ben zu werden, kommentierte Voltaire mit philosophischen Testament fehlten ausge- hämischer Genugtuung: „Sein Körper, auf- rechnet seine beiden Hauptwerke, der Dis- gedunsen und dick wie ein Fass, wurde, cours und die L’art de jouir. ob er wollte oder nicht, in der katholischen Kirche beigesetzt; er wird staunen, sich La Mettries Situation war also seit Ende dort wiederzufinden.“16 In einer Reihe 1748 äußerst prekär. Hatten Friedrich und weiterer Briefe verfestigte er das Bild von die Freigeister seiner berühmten Tafelrun- La Mettrie als einem Narren, der oft in de von Sanssouci La Mettries Philosophie betrunkenem Zustand schrieb. des L’homme machine teils geschätzt, teils akzeptiert oder zumindest toleriert, so Friedrich revanchierte sich für La Mett- galt dies für den Discours nicht mehr, zu- ries Widersetzlichkeiten postum: mit einer mal der Autor renitent war und das uner- längeren Lobrede, Éloge de La Mettrie, wünschte Buch mit einiger List noch zwei- die in der Akademiesitzung vom 19. Ja- mal zum Druck brachte. Dass die Rolle nuar 1752 verlesen wurde. Über weite des Hofnarren, in die er geflohen war, ihm Strecken ist sie rein biographisch, an etli- keinen dauerhaften Schutz bot, war La chen Stellen aber voll des Lobes für die Mettrie klar. In der dritten Version des Dis- Fähigkeiten und den Charakter des Arz- cours, im August 1751, spricht er offen tes und Philosophen. Über dessen Zeit an von seiner Befürchtung, dass „eines Ta- seinem Hof fasst er sich jedoch sehr kurz. ges der Schierlingsbecher der Lohn mei- La Mettrie habe dort vor allem vorzügli- nes philosophischen Mutes sein würde.“ che medizinische Abhandlungen verfasst. (AS, 93) In einer kleinen Schrift, die zur Den gravierenden Konflikt um den Dis- gleichen Zeit erschien, äußert er sich ähn- cours kaschiert er in zwei Sätzen, deren lich. (KW, 90f) Drei Monate später, am Zynismus vielen verborgen blieb: „Er ent- 11. November 1751, starb er. Die Todes- warf auch mehrere Werke über abstrakte ursache wurde nie geklärt. Kolportiert wur- philosophische Gegenstände, wollte sie de indes gern, der Hedonist sei Opfer sei- aber noch einer näheren Prüfung unter- ner Fresslust geworden („Pastetentod“). ziehen. Durch eine Reihe schicksalhafter Fügungen, die ihm widerfuhren, kamen Für Voltaire, der seit Juni 1750 ebenfalls diese Schriften dann abhanden; doch als an Friedrichs Hof weilte, war das kein sie wieder auftauchten, verlangte er selbst Trauerfall. Er verbreitete die Nachricht in ihre Unterdrückung.“17 Briefen, die großen Einfluss auf das Bild

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 73 Von den Enzyklopädisten resp. philoso- dass selbst nach drei Jahrzehnten diszi- phes sind keinerlei Reaktionen auf La plinierten Totschweigens noch immer ge- Mettries Tod überliefert. Auch später, als waltige emotionale Energie hinter der La- sich einige, vor allem Diderot und Hol- Mettrie-Feindschaft steckte. Der Haupt- bach, zu Materialisten und Atheisten ent- grund dafür kann nicht der sein, den wickelt hatten, erwähnten sie weder ihn Diderot und spätere Ideenhistoriker an- noch sein Werk in ihren Schriften, Brie- führten: dass „die Feinde der Philosophie fen oder Manuskripten. Diese „Nacht ei- ihn [La Mettrie] immer wieder zusammen nes konspirativen Schweigens ... der ma- mit jenen weisen und aufgeklärten Men- terialistischen Gesinnungsgenossen“ er- schen nennen, deren Leben in der Suche schien späteren Ideenhistorikern, insbe- nach Wahrheit und in der Ausübung der sondere den Kennern der Epoche, als Tugend aufgeht.“20 Der wahre Grund für „völlig rätselhaft“.18 Allein Diderot hatte, den stillschweigenden Schulterschluss al- kurz vor seinem Tod, ein einziges Mal die ler Aufklärer, Rousseau eingeschlossen, Contenance verloren: „La Mettrie ist ein gegen La Mettrie muss sehr viel tiefer lie- Autor ohne Urteilskraft ... Man erkennt gende Gründe gehabt haben, über die ich die Oberflächlichkeit seines Geistes in weiter unten einige Vermutungen äußern dem, was er sagt, und die Verdorbenheit werde. La Mettrie war den Aufklärern sei- seines Herzens in dem, was er nicht zu ner Generation Unperson, den nachfolgen- sagen wagt. ... La Mettrie, sittenlos und den ein Vergessener. schamlos, ein Narr und ein Schmeichler, war wie geschaffen für das Hofleben und Zwar wurden La Mettries Œuvres philoso- die Gunst der Großen. Er ist so gestor- phiques im 18. Jahrhundert noch einige ben, wie er sterben musste: als Opfer sei- Male neu aufgelegt, sogar mit dem ver- ner Maßlosigkeit und seiner Verrücktheit. pönten Discours, doch eine seriöse Re- Da er in seiner Profession [Arzt] ein Stüm- zeption der Ideen La Mettries gab es nicht, per war, tötete er sich selbst. Dieses Ur- weder in Frankreich noch in Deutschland. teil ist hart aber gerecht; es war gewiss Während die maßgeblichen Köpfe, auch nicht leicht, diesem Lobredner des Lasters diesseits des Rheins, sich für Autoren wie und Verächter der Tugend gegenüber maß- Diderot und Rousseau begeisterten, sie voll zu bleiben.“ Der führende Kopf der übersetzten und diskutierten, war ihnen philosophes fühlte sich ermächtigt, ja ver- von La Mettrie nur ein grobes Zerrbild ge- pflichtet, „einen in seinen Sitten und An- läufig. Wenn sie ihn erwähnten, dann ganz schauungen so verdorbenen Menschen aus am Rande und oft voller Abscheu: ein der Gemeinschaft der Philosophen auszu- Geck, ein Affe Demokrits, ein Narr (Her- schließen.“19 der); ein unsauberer Geist (Gellert); einer, der den Menschen „in das alte barbari- Diese Passage ist ein höchst bemerkens- sche Dunkel tierischer Wildheit“ zurück- werter Beleg, zum einen, weil dies die ein- stoßen will (Schiller); einer, dessen Ge- zige Äußerung über La Mettrie aus den sicht verrate, so der Physiognom Lavater, Reihen der philosophes ist und für deren dass er „den letzten Tropfen Religions- verschwiegene Einstellungen repräsenta- gefühl für Wollust hingegeben“ habe.21 tiv sein dürfte, zum anderen, weil sie zeigt,

74 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Als in Deutschland, nach der Blütezeit des teren Zeitgenossen finden, der erstere die Deutschen Idealismus, mit Ludwig Feuer- unbestreitbare Priorität für sich hätte.“ bach erstmals ein Denker des Materialis- (345) Auch die verbreiteten abträglichen mus hervortrat, da hegte er ähnliche An- Urteile über La Mettries Charakter weist sichten und verwahrte sich vehement ge- Lange zurück: „eine edlere Natur als Vol- gen polemische Unterstellungen: „Es ist taire und Rousseau“. (347) Langes Anlie- nichts verkehrter, als wenn man den deut- gen war, dass der „Prügeljunge des fran- schen Materialismus vom Système de la zösischen Materialismus“ (344) nicht län- Nature [Holbachs] oder gar von der Trüf- ger „von der sonst üblichen Gerechtig- felpastete La Mettries ableitet. Der deut- keit ausgeschlossen“ bleibt. (365) In zwei sche Materialismus hat einen religiösen Punkten widerspricht Lange dem sonst Ursprung...“22 Ein Verehrer Feuerbachs, hochgelobten La Mettrie allerdings mit Ent- Hermann Hettner, verbreitete diese Mei- schiedenheit: Seiner Behauptung, „dass nung in seiner vielgelesenen Literaturge- die Welt niemals glücklich sein wird, wenn schichte in deutlicheren Worten: „La Mett- sie nicht atheistisch wird“ (362; HM, 66), rie ist ein frecher Wüstling, welcher im und seiner gesamten Ethik. Diese sei schon Materialismus nur die Rechtfertigung sei- deshalb „verwerflich, weil sie Lustlehre ner Liederlichkeit sieht.“23 So ähnlich dürf- ist“ (369), und er nennt sogar jene Schrif- ten die meisten Materialisten, Monisten ten La Mettries „besonders widerwärtig, und Positivisten des 19. Jahrhunderts über in denen er eine gewissermaßen poetische La Mettrie gedacht haben. Eine Ausnah- Verherrlichung der Wollust gesucht hat.“ me war Emil DuBois-Reymond, der aller- (374) Lange rehabilitiert den „Prügeljun- dings schon in die dritte Phase gehört.24 gen“, der La Mettrie für die Gegner des Materialismus war, nicht aber die Unper- Die dritte Phase der Reaktionen auf La son, die er für die Materialisten und die Mettrie begann, ohne dass die zweite be- Aufklärer insgesamt war. Weil Lange La endet wurde, im letzten Drittel des 19. Mettries Theorie des Schuldgefühls, das Jahrhunderts und dauert bis heute an. Sie Kernstück seiner hedonistischen Ethik, ist durch Rehabilitationsbemühungen ge- verwirft, hat er natürlich Verständnis für kennzeichnet. Der Neukantianer Friedrich „den Ingrimm der Zeitgenossen“(365), Albert Lange widmete 1866 La Mettrie in und auch dafür, dass für die Aufklärer seiner berühmten „Geschichte des Mate- „nichts so wichtig [war] wie der Nach- rialismus“25 ein langes Kapitel, in dem er weis, dass die christliche Moral auch die mit den verbreiteten grob fehlerhaften Dar- ihre sei und auch ohne Kirche bestehen stellungen seiner philosophischen Leistun- könne.“26 gen gründlich aufräumt. Lange betont die naturwissenschaftliche Bildung La Mett- Die Tendenz, La Mettrie zu rehabilitieren, ries sowie die Ernsthaftigkeit und den indem man seine guten persönlichen Ei- Scharfsinn seiner Argumentation, und er genschaften, seine denkerischen Leistun- stellt fest, dass – entgegen der vorherr- gen und seine humanistische Gesinnung schenden Meinung – „in fast allen Fällen, betont, ist danach weiter gestiegen. Seine wo wir eine auffallende Ähnlichkeit der Ge- Ansichten über Sexualität und Lust verlo- danken bei La Mettrie und einem berühm- ren im 20. Jahrhundert ihre Anstößigkeit.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 75 Seine Theorie des Schuldgefühls wurde oft gegen Tierversuche (266-276; 423-426) schlicht übersehen oder als Übertreibung und für eine Humanisierung des Strafvoll- bagatellisiert. Mit zunehmend liberalisti- zugs (395), „Verteidiger der Urteilsunfä- scher Sicht auf sein Werk verlor La Mettrie higen und Verehrer der Weiblichkeit“ (402), seinen Status als Paria und wurde ein ge- und passim: ein visionärer Kämpfer ge- wöhnlicher marginaler philosophischer gen die damals noch drohende und inzwi- Autor, wegen des L’homme machine ge- schen längst vollzogene „Verzifferung“ legentlich als einer der Ahnherren von und „Geometrisierung“ der Welt, gegen Robotik, cyberman etc. genannt. Nur die die „kalte Vernunft“ und ihren „Zahlen- wenigen Autoren, die sich näher mit ihm wahn“. (528f) Das abschließende Kapitel befassten, spürten bisweilen den Stachel, ihres Buches lautet denn auch: „Statt Auf- der seine Theorie des Schuldgefühls noch klärung: Wiederverzauberung der Welt“ heute sein könnte. Sie verstanden es je- (564-568). – Jauch erweckt durch eine Flut doch, ihm mehr oder weniger geschickt zeitgeistkonformer Komplimente den Ein- auszuweichen. druck, eine Ehrenretterin La Mettries zu sein, lässt aber die Idee, die er als seine Ursula Pia Jauch legte 1998 die mit 600 wichtigste und einzig originäre ansah, in Seiten bisher umfang- und detailreichste einer flott erzählten Geschichte zur Neben- Monographie über La Mettrie vor.27 Kei- sache werden. Ihr Fazit lautet: „La Mett- nem der Rezensenten dieser akademischen ries Glückstheorie ist weder genial, noch Studie (Habilitationsschrift) fiel auf, dass bringt sie – mit Ausnahme der Gewissens- Jauch La Mettries Discours systematisch theorie – etwas genuin Neues.“ (561) Ein zu depotenzieren versucht. Als Hauptwerk kaum verständlicher Satz. Klar ist zunächst bezeichnet sie ihn ungern und in Anfüh- nur sein Abwehrcharakter. War sie damals rung (537). Wenn sie auf dessen Sonder- weder genial noch neu? Bringt sie uns heu- stellung im Gesamtwerk zu sprechen kommt, te nichts Neues? Die Gewissenstheorie fallen relativierende Floskeln (510f, 514, 561). oder die Glückstheorie? Die erstere als Sie spielt die einhellige Gegnerschaft der (nebensächlicher?) Teil der letzteren? Sol- philosophes zu La Mettrie, die zweifellos che Konfusionen unterlaufen der sonst dieser Schrift geschuldet ist, herunter und eloquenten Autorin stets an Stellen, wo sie versucht, stattdessen den Mathematiker offenkundig gegen einen inneren Widerstand und Naturwissenschaftler Maupertuis als schreibt, wo sie „verdrängt“. Da kommt Gegenpart La Mettries zu lancieren und es sogar zu einer im Grunde vernichten- damit einen anderen Antagonismus in den den Kritik La Mettries: nachdem sie ihn Vordergrund zu stellen: „Verzauberter Ma- immer wieder gelobt hat, auch als hervor- terialismus contra geometrische Transzen- ragenden Psychologen, heißt es an einer denz“. (509-536) Derart zu einem frühen Stelle plötzlich, La Mettries Forderung, Gegner der „rechnenden Vernunft“ erklärt, „den Menschen von den Gewissensbis- erhält La Mettrie von Jauch vielerlei Lob. sen zu befreien“, (DB, 57: Schuldgefühl)28 Er sei bereits gegen den „Speziesismus“ sei entwicklungspsychologisch „undiffe- des Menschen gewesen und „Ahnvater der renziert“. Das klingt zunächst wie ein sach- Ökologie“ (397), gegen „Rassismus“ (538) liches Urteil, das nicht überrascht. Gemeint und ein „Pazifist avant la lettre“ (392), ist aber: La Mettries „Forderung“ ist nicht,

76 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 jedenfalls heute nicht mehr, der Rede wert den Discours nur selten erwähnt. Dies wie- – so, als wäre sie inzwischen durch „dif- derholte sich wenige Jahre später, als er ferenzierte“ Forschung als unerfüllbar, un- La Mettries L’Art de jouir herausgab und sinnig, schädlich, jedenfalls als obsolet er- mit einer Einleitung versah.30 Onfray, Jahr- wiesen. Es klingt wie bissiger Hohn, wenn gang 1959, begann 1989 zu publizieren. Jauch La Mettries subtile Einsichten in die Zehn Jahre später hatte er, ein philosophi- Entstehung und die schädliche Funktion scher selfmademan, das dreißigste seiner des Schuldgefühls bzw. des Über-Ichs, Bücher – einige davon in hohen Auflagen als Forderung interpretiert, „künftig in der – herausgebracht. Nach wie vor propagiert Erziehung darauf zu achten, dass die Ge- er einen hedonistischen Materialismus. wissensbisse nicht mehr weiter zum Lehr- Aber La Mettrie spielt dabei keine große stoff gehören.“ Gewissensbisse als Lehr- Rolle mehr. In seinem internationalen best- stoff! Jauchs immer wieder spürbares Un- seller Traité d’Athéologie31 feiert Onfray behagen gegenüber der philosophischen stattdessen Holbach – dessen „Ethokra- Essenz La Mettries kulminiert darin, dass tie“ er früher als Äquivalent zu den Evan- sie jene zitierte „Forderung“ wie eine fixe gelien verspottet hatte – mit Meslier und Idee La Mettries ansieht und sozusagen Feuerbach als die drei „Säulen“ des „wah- entschuldigt: sie stamme aus dessen „ur- ren Atheismus“. Der einmal kurz erwähn- eigener Erfahrung im Umgang mit der re- te „wütende La Mettrie“32 tritt hier in den ligiösen Zerknirschung.“ (555) Hintergrund, ebenso wie in seiner groß an- gelegten Contre-histoire de la philoso- In Frankreich, wo das Interesse an La phie, wo La Mettrie einer von Dutzenden Mettrie stets geringer war als in Deutsch- von Philosophen ist, die wegen ihrer mehr land, gibt es bis heute keine umfassende oder weniger „hedonistischen“ Einstellung Monographie über ihn. Aber ein mittler- in der etablierten akademischen Philoso- weile berühmter philosophischer Autor, phiegeschichte ein Schattendasein fristen.33 Michel Onfray, hatte sich für ein paar Jahre leidenschaftlich seiner angenommen. Für In Deutschland vertritt seit etwa einem eines seiner eigenen frühen Bücher über- Jahrzehnt Bernulf Kanitscheider eine „wis- nahm er sogar den Titel von La Mettrie: senschaftskompatible Ethik auf sensuali- L’art de jouir; der Untertitel: Pour un stischer Basis“ bzw. einen „aufgeklärten matérialisme hédoniste. Onfray schien Hedonismus“. Auch er verfolgt, wie On- sich damals, 1991, sehr mit La Mettrie zu fray, historisch den Gedanken einer hedo- identifizieren, denn das Buch, das kein nistischen Lebensführung von der Antike Buch über La Mettrie ist, beginnt mit ei- – mit einem langen Jahrtausend Unterbre- ner Art Hymnus an ihn, und an einigen chung – über die Anfänge der Aufklärung Stellen im Buch lässt er seinen eigenen bis in unsere Zeit. Auch er war zunächst Namen scherzhaft mit dem seines Helden von La Mettrie begeistert und nannte ihn verschmelzen: Julien Onfray de La Mett- den „zweifellos kompromisslosesten und rie.29 Bei allem überschwänglichen Feiern offenherzigsten Verteidiger der Lebenslust des „hedonistischen Materialismus“ fällt unter den Philosophen.“34 Aber auch er jedoch ins Auge, dass Onfray La Mettries nahm diese überschwängliche Einschät- Theorie des Schuldgefühls meidet und auch zung einige Jahre später stillschweigend

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 77 wieder zurück.35 Der Grund dafür dürfte Horkheimers „Institut für Sozialforschung“, auch bei ihm La Mettries Theorie des damals noch aufklärerische Avantgarde, Schuldgefühls gewesen sein. Dies lässt und referierte begeistert die „sehr interes- sich auf zweierlei Weise zeigen: 1) formal, santen Bemerkungen“ und „sehr frucht- denn während er im Jahre 2000, in dem baren Gedanken de Sades“: „Sexualität mit Bettina Dessau verfassten Buch, Von ist ihm die wesentlichste Quelle der Lust“; Lust und Freude, den Discours als La er sei „in dieser Beziehung ein Vorläufer Mettries Hauptwerk anerkennt, erwähnt er Freuds“; und „Lust ist ihm das Hauptziel ihn 2007, zumal in dem systematischer des menschlichen Daseins.“ Fromm nennt angelegten Buch, Die Materie und ihre Sade einen Philosophen, der „ein Anhän- Schatten, nicht einmal mehr; 2) inhaltlich, ger La Mettries“ war.36 Ob Horkheimer und was jedoch wegen der schwierigen Pro- Adorno, als sie 1944 in ihrer Dialektik der blematik an dieser Stelle nicht möglich ist. Aufklärung Sade zum Gewährsmann ih- Ein Satz mag die Tendenz einer Kritik an- rer Wendung gegen die Aufklärung mach- deuten: Aufgeklärter Hedonismus im Sin- ten, La Mettrie mit meinten, muss und ne La Mettries fordert nicht zum Hedonis- kann dahingestellt bleiben. Andere Auto- mus auf (weil dies entweder überflüssig ren jedoch haben in der Folge Sade als oder gar schädlich ist), sondern erforscht Konsequenz La Mettries dargestellt, um Ursprünge der Pseudo- und Anhedonie so die atheistische Aufklärung insgesamt der sog. Spaß- und Leistungsgesellschaft, zu diskreditieren.37 um sie – im Verlauf der „Zweiten Aufklä- rung“ – langfristig zu beseitigen. Einer der Autoren, die La Mettrie mit Sade verschmolzen haben, tat dies jedoch in an- Die Autoren dieser von 1866 bis heute an- derer Absicht. Panajotis Kondylis inter- haltenden dritten, „wohlwollenden“ Pha- pretiert in seiner großen Studie über die se der Rezeption La Mettries stimmen bei Aufklärung (als Bewegung zur „Rehabili- aller sonstigen Verschiedenheit darin über- tation der Sinnlichkeit“) beide als „Nihilis- ein, dass sie den Discours nicht wirklich ten“, als Vertreter der „These von der Re- als La Mettries Hauptwerk akzeptieren und lativität und Fiktivität aller Werte“. Er han- seine Theorie des Schuldgefühls nicht als delt beide zusammen in einem zentralen seinen Hauptbeitrag zur Ideengeschichte. Kapitel als „Die Konsequenten“ ab und Neben dieser dominierenden Rezeptions- erhebt sie damit zu Schlüsselfiguren für linie hat sich seit Mitte des 20. Jahrhun- das Verständnis der Epoche.38 Die Aufwer- derts eine zweite gebildet. Bei ihr steht nun tung, die Kondylis diesen beiden Rand- gerade der Discours im Fokus, was offen- figuren, diesen „Parias“ der Aufklärung bar dadurch möglich geworden war, dass zuteil werden lässt, ist allerdings zwiespäl- man den Marquis de Sade als Philoso- tig. Dies zeigt sich am besten in seiner phen – und zwar als Materialisten, Athei- Würdigung des im genannten Sinne „nihi- sten und Hedonisten – entdeckt hat. Den listischen“ Standpunkts. Es liege zwar klar Anfang hatte ausgerechnet einer gemacht, in der Konsequenz aufklärerischen Den- der als Psychoanalytiker und Marxist in kens, die Welt schließlich von ihm aus zu die gleiche Kategorie fiel: Erich Fromm. betrachten, wenn man ihre „letzte Wirk- Er war seit etwa 1930 Mitarbeiter von Max lichkeit“ erfassen will; aber dies werde im-

78 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 mer ein Privileg weniger randständiger Be- schichtlichen Bedeutung war ich allerdings obachter bleiben, die am gesellschaftli- nicht gänzlich unvorbereitet. Zuvor hatte chen Geschehen nicht teilnehmen.39 Kon- ich mich viele Jahre intensiv mit zwei dylis’ Aufklärung über die Aufklärung läuft ideengeschichtlichen Vorgängen befasst, darauf hinaus, dass aufgeklärte Menschen die in ähnlicher Weise Gipfelpunkte neu- („Nihilisten“) keine funktionierende Gesell- zeitlichen aufklärerischen Denkens markie- schaft bilden können. Kondylis vermengt La ren: dies waren Mitte des 19. Jahrhunderts Mettrie mit Sade nicht, um ihn moralistisch der „Fall“ Stirner und Mitte des 20. Jahr- zu diskreditieren. Er schreibt ihm eine ver- hunderts der „Fall“ Reich (s. Epilog). meintlich theoretisch überlegene Position zu, Frappierend an diesen drei „Fällen“ – La die praktisch wertlos ist; auch das eine durch Mettrie, Stirner, Reich / LSR – sind ihre großes Lob kaschierte Verdrängung. Ähnlichkeiten trotz der sehr unterschied- lichen historischen Kontexte: zum einen Kondylis war der „unfreiwillige Pate des die Ähnlichkeit der Methoden, mit denen LSR-Projekts“40, mit dem ich 1985 die die „siegreichen“ Aufklärer jeweils die ra- vierte Phase der Rezeption La Mettries dikalen Ideen ihres Kollegen verdrängten, einleitete.41 La Mettrie spielt darin eine sei- zum anderen die Ähnlichkeit dieser ver- ner singulären Stellung in der Aufklärung drängten Ideen selbst. Das Ziel des LSR- des 18. Jahrhunderts entsprechende Rol- Projekts ist es, über diese drei Vorgänge le (s. Epilog). – Als ich Anfang der acht- zu einer konstruktiven Aufklärung über ziger Jahre jenes zentrale Kapitel bei Kon- Aufklärung, zu der oftmals postulierten dylis las, wusste ich über La Mettrie und „Zweite Aufklärung“ zu kommen. Sade nicht mehr als das Übliche. Aber Kondylis’ forciertes Bemühen, diese bei- Epilog den disparaten Autoren zusammenzu- spannen, machte mich hellhörig. Ich fand, Das 18. Jahrhundert war das „Jahrhundert dass weder La Mettrie noch Sade einen der Aufklärung“. Doch die Aufklärung war Nihilismus im Sinne von Kondylis vertre- am Ende des Jahrhunderts nicht vollen- ten haben. Sade blieb, kurz gesagt, im- det, der Ausgang des Menschen aus sei- mer auf das geltende normative System ner „selbstverschuldeten“ Unmündigkeit fixiert, nur eben negativ, und für La Mettrie nicht vollzogen. Auch die besten Köpfe war der Nihilismus eine denkerische Durch- des 19. und noch des 20. Jahrhunderts gangsstation, mit der er ironisch spielte, sahen sich als Aufklärer. Die Aufklärung, um ihn dann auf dem Weg zu seiner Theo- einmal auf den Weg gebracht, schien un- rie des Schuldgefühls hinter sich zu las- aufhaltbar, denn sie vermochte prinzipiell sen. Ich fand außerdem, dass La Mettrie auch Kritik, „Aufklärung über Aufklä- und Sade insbesondere in ihren Auffas- rung“, zur eigenen Stärkung zu nutzen. So sungen über die Lust, über das, was Hedo- war, trotz vielfältiger innerer Hemmungen nismus bedeutet, veritable Antipoden sind, und Kontroversen, trotz massiver politi- und das ist entscheidender als die Katego- scher Repressionen, alles in allem den- risierung, nach der beide Materialisten und noch stets ein Fortschreiten der Aufklä- Atheisten sind. Auf diese Funde und die rung zu verzeichnen – bis zur Mitte des Erkenntnis ihrer potentiellen ideenge- 20. Jahrhunderts. Von da an wurde, nach

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 79 meinem Eindruck, das große europäische tische, jeweils erkauft um den Preis ihrer Projekt der Aufklärung, das selbst der strategischen Schwächung – bis hin zum pessimistische späte Freud noch ins Auge stillschweigenden Arrangement („Pluralis- fasste42, stillschweigend aufgegeben. mus“) mit den wieder erstarkenden tradi- tionellen geistigen Mächten? Eine „Zweite Als paradigmatisch für diese welthisto- Aufklärung“, eine neue Aufklärung über rische Wende kann das Schicksal der Kri- die alte Aufklärung, die das europäische tischen Theorie angesehen werden. Hork- Projekt der Aufklärung nicht als längst heimer, Adorno et al. traten in den drei- vollendet oder als überwundene Ideolo- ßiger Jahren als Avantgarde des aufkläre- gie betrachtet, sondern zu neuem Leben rischen Denkens auf, sahen sich als Er- erwecken will, wird sich mit diesen Fra- ben von Marx, Nietzsche und Freud. In gen befassen. den vierziger Jahren, unter dem Eindruck der katastrophalen politischen Wirklich- Hierzu schlage ich vor, den Fall La Mettrie keit („Die vollends aufgeklärte Erde“, er- neu aufzurollen. Warum? Die Eruierung klärten sie, „strahlt im Zeichen triumpha- des Grundes, warum Aufklärer aller Rich- len Unheils“), dementierten sie ihre einsti- tungen gegen ihr eigenes Ethos ohne Dis- gen Ambitionen und kamen zu der Auf- kussion einmütig gegen einen einzelnen fassung, aller Aufklärung sei per se eine Aufklärer vorgingen, ist überfällig. Die ge- fatale „Dialektik“ inhärent.43 Habermas, der naue Untersuchung des Phänomens der als prominentester Erbe der Kritischen „Verdrängung“ (im doppelten Sinn: psy- Theorie dennoch eine „nichtdefätistische chologisch und ideenpolitisch) von La Aufklärung“ neu begründen wollte, schei- Mettries Anthropologie – seiner Auffas- terte grandios: er suchte schließlich die sungen zur Enkulturation des Individuums, Nähe zum – Katholizismus.44 zum Schuldgefühl bzw. Über-Ich, zum Hedonismus, zur Sexualität – seit 1748 Das über gut zwei Jahrhunderte hinweg bis heute verspricht instruktive Erkennt- anhaltende stetige Fortschreiten der Auf- nisse. Der effektivste Verdränger La Mett- klärung erwies sich in unserer Epoche, ries unter seinen Zeitgenossen war Rous- unerwartet und mit niederschmetternder seau. Er griff die von La Mettrie expo- Wirkung, als umkehrbar. Das wirft grund- nierte Problematik der Ambivalenz des En- sätzliche Fragen über die Natur von Auf- kulturationsprozesses auf und „entschärf- klärung auf. Stellen die Errungenschaften te“ sie mit großer Virtuosität. Während La der westlichen Gesellschaften das dar, was Mettrie zur Unperson wurde, stieg Rous- einst, bis in die dreißiger Jahre, die Vision seau – trotz und wegen der Kontrover- vom „Ausgang aus der Unmündigkeit“ sen, die er auslöste – zum einflussreichsten meinte? Wer heute eine „Zweite Aufklä- Philosophen der Epoche auf. Die These, rung“ fordert, verneint das. Doch wie ist dass Rousseaus Erfolg großteils darauf sie zu konzipieren? Angesichts der apore- beruhte, dass er einen konsequent aufklä- tisch erscheinenden Lage weckt der Blick rerischen Gedanken, den die Aufklärer auf die Geschichte Zweifel. Waren die Sie- gleichsam anathematisiert hatten, im Keim ge der Aufklärung, die zur gegenwärtigen erstickte, bedarf allerdings noch einer sehr Situation geführt haben, letztlich nur tak- sorgfältigen Ausarbeitung.45

80 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Rund hundert Jahre später, in der Mitte ist, denn dies birgt die Gefahr eines Fehl- des 19. Jahrhunderts, gab es einen sehr verständnis des dargestellten Ansatzes – ähnlich gelagerten Fall, und zwar wieder- zumal auf naheliegende Fragen, etwa nach um, als die Aufklärung, diesmal in der Wissenschaftskompatibilität, nicht ein- Deutschland, an einem Punkt angelangt gegangen werden konnte. Ich kann hier war, wo sie den Materialismus/Atheismus nur auf anderweitige Publikationen verwei- als nicht bloß kognitive Angelegenheit zu sen.49 Die konzise Darstellung des Falles begreifen begann. Dies war der Fall Stirner. La Mettrie möge eine Anregung sein, sich Stirner legte seiner Kritik an Feuerbach ei- auf das denkerische Abenteuer zu bege- ne anthropologische Auffassung zu Grun- ben: die Erkundung, ob die drei genann- de, die der La Mettries im Wesentlichen ten Figuren, die die Aufklärung im Keller gleicht. Er rief damit gleich zwei Verdrän- hat, wirklich Leichen sind oder möglicher- ger auf den Plan, die ebenso effektiv wa- weise so vital, dass sie einer „Zweiten Auf- ren wie Rousseau bei La Mettrie: Marx klärung“ auf die Sprünge helfen könnten. und Nietzsche.46 Anmerkungen: 1 Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. Mün- Auch im 20. Jahrhundert gab es einen, chen: Carl Hanser 1998, S. 342, 406; wieder nur einen einzigen, analogen Fall, Kathleen Wellman: La Mettrie. Durham and Lon- den Fall Reich. Reich, ein Schüler des de- don: Duke University Press 1992, p. 220. zidierten Atheisten Freud, geriet in einen 2 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. grundsätzlichen Konflikt mit Freud, weil Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag er ebenfalls im Wesentlichen La-Mettrie- 1930; zahlreiche Nachdrucke; Abschnitt II. 3 Die wichtigsten Schriften La Mettries sind in einer Stirner’sche Auffassungen zum individu- 4-bändigen deutschen Werkausgabe (Hg. Bernd A. ellen Enkulturationsprozess vertrat. Als Laska, LSR-Verlag Nürnberg 1985-87) zugänglich. dessen Folge konnte er, gleichermaßen Zitate aus ihnen werden nachfolgend mit einem Kür- lautlos wie La Mettrie und Stirner, zur Un- zel und der Seitenzahl nachgewiesen. person der Psychoanalyse gemacht wer- MM: Der Mensch als Maschine den.47 AS: Über das Glück oder Das Höchste Gut („Anti-Seneca“) PP: Philosophie und Politik (Vorrede zu den Die wiederum verdrängte Idee, derentwe- Œuvres und Auszüge aus „Epikurs System“) gen La Mettrie, Stirner und Reich zu Parias KW: Die Kunst, Wollust zu empfinden (mit 2 An- wurden, brach seither nur noch selten und hängen: Auszug aus La Mettries letzter Schrift Le gleichsam kurz auflodernd hervor, so etwa petit homme à longue queue; Briefwechsel Haller rudimentär beim späten Adorno, wo er / Maupertuis) 4 Die Schriften erschienen in unterschiedlichen For- inmitten eines langen Texts plötzlich das maten, meist in Duodez oder Sedez. Im heutigen Über-Ich als das „wahrhaft Heteronome“ Druck der Œuvres philosophiques umfassen sie anprangert: Es sei „das Schandmal der zwischen ca. 20 und 70 Seiten (mit Ausnahme des unfreien Gesellschaft“ und sein Fehlen das ersten Titels). Kriterium für einen „Zustand allseitiger 5 vgl. Ernst Bergmann: Die Satiren des Herrn Ma- rationaler Aktualität“.48 schine. Leipzig: Ernst Wiegandt 1913; Lionel P. Honoré: The Philosophical Satire of La Mettrie. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Dieser Epilog musste äußerst knapp ge- vol. 215 (1982), pp. 175-222 (part I); vol. 241 halten werden, was fast unverantwortlich (1986), pp. 203-236 (part II).

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 81 6 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissen- Vollständig in deutscher Übersetzung abgedruckt in: schaften (Hg.): Berichte und Abhandlungen, Band Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine, a.a.O., 10. Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 169-178. S. 145-151. 7 La Mettrie nannte in einer kleinen Schrift, die noch Diese Rede Friedrichs wurde immer wieder als das kurz vor seinem Tod erschien, den sehr ernsten erstaunliche einzige positive – und völlig verfehlte – Grund dafür, dass er „überall in seinem Werk das Urteil eines Zeitgenossen über La Mettrie angese- Stilmittel der Ironie verwandt hat“: Er sah sich „in hen. Der Zynismus der zitierten Stelle wurde auch der Lage eines Seefahrers, der in ungünstigen Wet- von Spezialisten nicht erkannt und deshalb manch- tern manövrieren muss“ und obendrein aufpassen, mal ungewollt überboten. So schreibt Jauch (ebd., dass er nicht „Beute gewisser Piraten“ wird, die „in S. 145): „Nie zuvor und auch nicht später hat Fried- einer Welt des Wahnsinns höchste Achtung genie- rich ähnlich leicht und doch klar und bestimmt Posi- ßen.“ (KW, 89f) tion für das freie Denken bezogen.“ 8 Karl Popper / John C. Eccles: Das Ich und sein 18 Martin Fontius: Der Tod eines „philosophe“. Gehirn. München: Piper 1982, S. 254f. Unbekannte Nachrufe auf La Mettrie. In: Bei- 9 vgl. Bernd A. Laska: Die Negation des irratio- träge zur romanischen Philologie, 6(1967), S. 5-28, nalen Über-Ichs bei La Mettrie. Internet: http:// 226-251, zit. S. 20. www. lsr-projekt.de/lmnega.html. 19 : Essai sur les règnes de Claude 10 zit. n. Birgit Christensen: Ironie und Skepsis. Das et de Néron et sur la vie de Sénèque (1778/82). offene Wissenschafts- und Weltverständnis bei Versch. Ausgaben, versch. Übers.; Zitat aus 2. Buch, Julien Offray de La Mettrie. Würzburg: Königs- Abschn. VI. – Die Anmerkung in Holbachs Systè- hausen & Neumann 1996, S. 257f. me de la Nature, dass La Mettrie „über die Sitten 11 Brief Lessings an seinen Vater vom 2. November wahrhaftig wie ein Wahnsinniger geurteilt“ habe, 1750. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und stammt vermutlich ebenfalls von Diderot, der das Briefe in zwölf Bänden, Band 11/1. Frankfurt/M.: Werk redigierte. Deutscher Klassiker-Verlag 1987, S. 32. 20 ebd. 12 Gotthold Ephraim Lessing: Das Neueste aus dem 21 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke in Reich des Witzes, Junius 1751. In: ders.: Werke und 33 Bänden, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877ff Briefe in zwölf Bänden, Band 2. Frankfurt/M.: (S. III, 76; IX, 418; X, 309); Deutscher Klassiker-Verlag 1998, S. 136. Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Vorlesun- 13 Brief Voltaire an Mme Denis vom 6. Nov. 1750. gen, Leipzig 1770, Band 1, S. 87; In: Voltaire’s Correspondence, ed. by Theodore Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Leipzig 1927, Besterman. Genève 1953-1965 (Lettre 3683). Band 1, S. 75-82; 14 Erläuterung zu „Théorie des remords“: remords, Johann Caspar Lavater: Physiognomiche Frag- als Singular und Plural gebräuchlich, wird meist mit mente. Leipzig und Winterthur 1777, S. 279; Gewissensbiss(e) oder Schuldgefühl übersetzt. La sachlich diskutierte Hermann Samuel Reimarus: Die Mettrie meint an manchen Stellen, wie aus dem vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Reli- Kontexten hervorgeht, aber etwas Grundlegenderes, gion, Hamburg 1754, V. Abhandlung, §4. für das ihm noch kein Begriff zu Verfügung stand: 22 Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke, hg. v. die von Freud (Das Ich und das Es, 1923) einge- Werner Schuffenhauer. Band 11. 3. Auflage. Berlin führte psychische „Instanz“ des Über-Ich. Vgl. un- (DDR) : Akademie-Verlag 1990, S. 115. ten den Abriss von La Mettries Theorie. 23 Hermann Hettner: Geschichte der französischen 15 Brief Voltaire an Richelieu vom 13. Nov. 1751. Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Braun- In: Voltaire’s Correspondence, a.a.O. (Lettre schweig: Vieweg 1860, S. 373-375. 4010). Man beachte Voltaires sarkastisches Wort- 24 Emil DuBois-Reymond: La Mettrie. In der Fried- spiel mit dem Doppelsinn von Farce (auch: Pasteten- richs-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am füllung). 28. Januar 1875 gehaltene Rede. In: ders.: Reden. 16 Brief Voltaire an Mme Denis vom 14. Nov. 1751. 1. Folge: Litteratur, Philosophie, Zeitgeschich- In: Voltaire’s Correspondence, a.a.O. (Lettre 4011). te. Leipzig: Veit 1886, S. 178-210. 17 Frédéric II de Prusse: Œuvres, t. 4, Potsdam 25 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Mate- 1805, pp. 87-94. rialismus. Iserlohn: Baedeker 1866. Neudruck:

82 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 (Zitatnachweise im schen Lebensorientierung. Frankfurt/Main: Insel folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe) 2000, S. 90. 26 So treffend und bis heute leider nicht obsolet: Fritz 35 Bernulf Kanitscheider: Die Materie und ihre Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte Schatten. Naturalistische Wissenschaftsphiloso- im Abendlande. Band 3. Stuttgart und Berlin: Deut- phie. Aschaffenburg: Alibri 2007 (Zweiter Teil: Prak- sche Verlagsanstalt 1922, S. 127 (über La Mettrie tische Philosophie, S. 215-273; bes. 262). S. 116-130). 36 Erich Fromm: Besprechung von „Geoffrey 27 Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine, a.a.O. Gorer: The revolutionary Ideas of the Marquis (Zitatnachweise durch Seitenzahlen im Text). de Sade“. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 28 zu Gewissensbisse=remords: gemeint Schuldge- 3(1934), S. 426-427. fühl, Über-Ich, vgl. Anm. 14. 37 Lester G. Crocker: An Age of Crisis. Baltimore 29 Michel Onfray: L’art de jouir. Pour un matéria- MD: Johns Hopkins Press 1959; lisme hédoniste. Paris: Grasset 1991; ders.: Nature and Culture. Baltimore MD: Johns die deutsche Übersetzung von Eva Moldenhauer Hopkins Press 1963; erschien in zwei Büchern. Arno Baruzzi: Einleitung, Kap. La Mettrie, Kap. Der sinnliche Philosoph. Über die Kunst des Sade. In: ders. (Hg.): Aufklärung und Materialis- Genießens. Frankfurt/Main: Campus 1992; mus im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Mün- Philosophie der Ekstase. Frankfurt/Main: Cam- chen: List 1968. pus 1993; 38 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen (der erwähnte „Hymnus“ ist mit „tombeau“ über- des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart: Klett- schrieben und wurde nicht mitübersetzt; Onfrays Cotta 1981, S. 490-5; 503-518. Namensverschmelzung zu Julien Onfray de La Mett- 39 Panajotis Kondylis: Macht und Entscheidung. rie fehlt, wurde offenbar als Fehler betrachtet und Die Herausbildung der Weltbilder und die Wert- „stillschweigend korrigiert“) frage. Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 128. 30 Julien Offroy [sic!] de La Mettrie: L’art de jouir. 40 vgl. Bernd A. Laska: Panajotis Kondylis – un- Nantes: Éditions Le Passeur 1995 (Préface de Mi- freiwilliger Pate des LSR-Projekts. Anstelle ei- chel Onfray, pp. 7-15). nes Nachrufs, 25. Juli 1998. Internet: http://www. 31 Michel Onfray: Traité d’Athéologie. Physique lsr-projekt.de/kondylis.html. de la métaphysique. Paris: Grasset 2005; im er- 41 durch die Herausgabe der deutschen Werkaus- sten Jahr eine Auflage von 200.000 verkauft; be- gabe der wichtigsten Schriften La Mettries (s. Anm. reits in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt; 3). deutsche Ausgabe: Wir brauchen keinen Gott. War- 42 z.B. in seiner religionskritischen Schrift Die Zu- um man jetzt Atheist sein muss. München: Piper kunft einer Illusion von 1927 gegen Ende: In Be- 2006. zug auf die Religion ist er „optimistisch genug anzu- 32 Michel Onfray: Wir brauchen keinen Gott. nehmen, dass die Menschheit diese neurotische a.a.O., S. 55. Phase überwinden wird. [...] Der Primat des Intel- 33 Michel Onfray: Contre-histoire de la philoso- lekts liegt gewiss in weiter, weiter, aber wahrschein- phie. Paris: Grasset. lich doch nicht in unendlicher Ferne.“ Tome 1: Les sagesses antiques - de Leucippe à 43 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialek- Diogène d’Oenanda (2006) tik der Aufklärung. Amsterdam: Querido 1947. Tome 2: Le christianisme hédoniste - de Simon Das Zitat stammt aus dem zweiten Satz des Werks. le magicien à Montaigne (2006) – Hier ist hervorzuheben, dass die Autoren den Mar- Tome 3: Les libertins baroques - de Charron à quis de Sade als Gewährsmann für ihre Aufklärungs- Spinoza (2007) kritik nehmen. Tome 4: Les ultras des lumières - de Meslier à 44 Auf andere Ansätze der letzten Jahrzehnte, die Sade (2007) Aufklärung weiterzuführen, kann ich hier nicht ein- Tome 5: L’eudémonisme social (2008) gehen. Tome 6: Les radicalités existentielles (2008). 45 Zum Verhältnis Rousseaus zu La Mettrie gibt es 34 Bettina Dessau und Bernulf Kanitscheider: Von erstaunlicherweise kaum Literatur. Giuseppe Rogge- Lust und Freude. Gedanken zu einer hedonisti- rone zieht ein etwas ratloses Fazit aus seiner Studie

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 83 Controilluminismo. Lecce: Milella 1975: „La Mett- rie ist nicht Rousseau. Aber bei La Mettrie finden sich zweifellos wichtige Gedanken, die Rousseau direkt oder indirekt aufgenommen hat.“ Zit. n. Giuseppe Roggerone: Bibliografia degli studi su Rousseau. Lecce: Milella 1992, p. 252. – Rousseau hat sich zu La Mettrie weder in seinen Werken noch in Briefen jemals geäußert. 46 vgl. dazu Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dis- sident. Eine kurze Wirkungsgeschichte von Stir- ners „Einzigem“. Nürnberg: LSR-Verlag 1996; sowie mehrere Artikel, auch im Internet: http:// www.lsr-projekt.de/ms.html. 47 Um den Gegensatz kurz anzudeuten: Gegen Freuds Formel „Wo es war, soll Ich werden“ setzte Reich „Wo Über-Ich war, soll Ich werden“ (kein Zitat). – Es gibt ein Buch Der „Fall“ Reich, hg. von Karl Fallend und Bernd Nitzschke, Frankfurt: Suhrkamp 1997. Darin wird der Konflikt vornehm- lich auf der politischen Ebene gesehen, während Freud selbst in einem Brief „wissenschaftliche Grün- de“ angab. Diese Gründe nannte er jedoch nie. Statt- dessen ließ er Reich administrativ kaltstellen. Das klingt banal, ist aber, detektivisch erforscht, eine Ge- schichte mit einem Potential, das dem der Geschichte La Mettries gleicht. 48 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frank- furt: Suhrkamp 1966, S. 272, 269. 49 Die Netzpräsenz http://www.lsr-projekt.de, die Angaben zu gedruckter Literatur und frei zugängli- che Texte enthält.

Zum Autor: Bernd A. Laska lebt als Autor, Heraus- geber, Übersetzer und Verleger in Nürn- berg. Er befasst sich in dem von ihm be- gründeten „LSR-Projekt“ mit den von ihm so genann- ten drei Unpersonen der Aufklärung: La Mettrie, Stirner, Reich. Im LSR-Verlag erschien u.a. eine von ihm herausgege- bene und übersetzte 4-bändige Werkaus- gabe La Mettries.

84 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf) Glück – Lustempfindung, Wunscherfüllung oder Zufriedenheit? Der wechselvolle Umgang mit dem Glück im Utilitarismus

„Utilitarismus“ leitet sich von utility, dem lich unvereinbarer Auffassungen. Das ist englischen Wort für Nutzen her. Aber an- vielleicht nicht weiter verwunderlich bei ei- gemessener bezeichnet würde diese ethi- nem so verfänglichen Begriff wie „Glück“. sche Schule mit dem Ausdruck Glücks- Dieser Begriff legt nahe, man könnte in Ethik. Denn der „Nutzen“, um den es den irgendeiner allgemein verbindlichen Wei- Utilitaristen ging, war nicht das, was wir se angeben, worin Glück besteht, etwa in heute üblicherweise mit „Nutzen“ bezeich- Gestalt eine Katalogs von (möglicherwei- nen, den „Nutzen für etwas“, wobei der se hierarchisch geordneten) Grundgütern. Zweck, für den etwas nützlich ist, offen- Aber sobald man daran geht, einen sol- bleibt, sondern das „größte Glück der chen Katalog aufzustellen, muss man fest- größten Zahl“. „Nutzen“ und „Nützlich- stellen, dass es unzweifelhafte Fälle von keit“ wurden begrifflich an den Wert Glück gibt, in denen einige der in diesem „Glück“ gekoppelt und nicht als instru- Katalog aufgeführten Güter gar nicht oder menteller, sondern als eigenständiger nur minimal verwirklicht sind. In den mei- Wert aufgefasst. Diejenigen Handlungen sten Katalogen finden sich Güter wie Ge- sollten als moralisch richtig gelten, die die sundheit, Sicherheit, Selbstachtung, sozia- Aussicht bieten, aufs Ganze gesehen und le Integration und intensive Erlebnisse. auf lange Sicht den größten Zuwachs an Aber wenn ein solcher Katalog gilt, dann Glück zu verwirklichen. Welche praktisch- nicht ausnahmslos. Auch schwerkranke, politischen Strategien aus dieser Ethik fol- von existenziellen Risiken bedrohte, weit- gen, hängt danach wesentlich von zwei gehend isoliert lebende oder mit dem „Tik- Dingen ab: einerseits von der Abschätzung tak des kleinen Glücks“ (Nietzsche 1980, der kurz- und langfristigen Folgen gegen- 213) zufriedene Menschen können glück- wärtigen Handelns und Unterlassens, an- lich sein. dererseits davon, wie der Begriff „Glück“ Glück ist, wie Kant gesehen hat (Kant genauer verstanden und durch welche 1903/11, 418), ein „unbestimmter Begriff“, messbaren Indikatoren er konkretisiert und dessen Semantik nicht auf bestimmte überprüfbar gemacht wird. Glücksgüter festgelegt werden kann. Was Menschen glücklich macht, lässt sich nicht Was ist dieses „Glück“, dessen Menge a priori und mit rein begrifflichen Mitteln nach utilitaristischer Auffassung maximiert ausmachen. Dass Menschen in der Re- werden soll? Geht man die Hauptautoren gel nur glücklich sind, wenn sie über die dieser Denkrichtung durch, stellt man fest, meisten der genannten Grundgüter zumin- dass die Meinungen darüber in der Ge- dest in einem gewissen Maße verfügen, schichte des Utilitarismus nicht weniger ist eine psychologische Tatsache und folgt weit auseinander gingen als in den „Glücks- nicht bereits aus den Bedeutungsmerkma- theorien“ der Gegenwart. Statt Einheit fin- len des Begriffs „Glück“. Deshalb kann det man eine Vielfalt verwandter, aber letzt- eine philosophische Definition von „Glück“

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 85 stets nur formal sein: Sie muss die Inhalte ist fraglich, ob er damit auch nur im An- des Glücks weitgehend der empirischen satz eine angemessene Explikation des Psychologie bzw. der Lebenserfahrung Glücksbegriffs leisten kann. Diese Erklä- überlassen. rung wird dem Erfordernis der Formali- tät des Glücksbegriffs gerecht, aber nicht Die Utilitaristen haben diese Einsicht zu- einem weiteren Merkmal, mit dem dieser meist, aber nicht durchweg beherzigt. Die Begriff spätestens seit der Aufklärung fest am stärksten „formale“ und am wenigsten verknüpft ist, dem Merkmal der Subjekti- inhaltlich festgelegte Glückstheorie inner- vität. Er berücksichtigt die Intensität des halb des Utilitarismus ist zweifellos die Wunsches, aber nicht die Intensität der Wunscherfüllungstheorie, die Nutzen mit Wunscherfüllung. Das Ausmaß des Glücks der Verwirklichung von Wünschen oder (bzw., des „Nutzens“) ist für ihn völlig Präferenzen gleichsetzt, gleichgültig, auf unabhängig davon, wie die Erfüllung ei- welche Zwecke die Wünsche oder Präfe- nes vorangegangenen Wunsches empfun- renzen im einzelnen zielen. Das Maß des den wird. Intensität des Wunsches und durch eine Handlung bewirkten Nutzens Intensität der Wunscherfüllung entspre- bestimmt sich dann entweder nach dem chen sich jedoch oft nicht. Die Intensität Ausmaß, in dem die vorgängig bestehen- des Wunsches, die Stätten ihrer Kindheit den Präferenzen der von der Handlung di- wiederzusehen, der viele „entwurzelte“ rekt oder indirekt Betroffenen erfüllt wer- Menschen in einem bestimmten Lebens- den, oder nach der Intensität und Dring- alter beschleicht, entspricht nicht immer lichkeit dieser Präferenzen (oder beidem). der Intensität des Erlebnisses bei Erfül- lung dieses Wunsches: Auch wenn sich Diese Theorie ist möglicherweise allzu nicht so viel geändert hätte, wie sich ge- formal, um in konkrete Handlungsstrate- ändert hat, wäre der Zauber des Zum-er- gien umgesetzt werden zu können. Was sten-Mal nur schwer wiederherzustellen. in jedem Fall hinzukommen muss, um sie Die Erfüllung auch intensivster Wünsche anwendbar zu machen, ist eine Antwort macht nicht unbedingt glücklich, ganz ab- auf die Frage, auf die Erfüllung welcher gesehen davon, dass gerade die intensiv- Präferenzen es ankommen soll: auf die der sten Wünsche vielfach kognitiv verzerrt, langfristigen Präferenzen zu einem weit irrational oder selbstschädigend sind, so zurückliegenden Zeitpunkt, die der kurz- dass ihre Erfüllung nicht hält, was man fristigen Präferenzen zu einem näher zu- sich von ihr verspricht. rückliegenden Zeitpunkt oder auf die wäh- rend der Präferenzerfüllung bestehenden Es gibt noch einen weiteren Grund, aus Gegenwartspräferenzen. Bemisst sich der dem die Wunscherfüllungstheorie als an- Nutzen der Gelegenheit, eine bestimmte gemessene Erklärung des Glücksbegriffs, Reise zu unternehmen, nach der Intensi- wie er gemeinhin verstanden wird, nicht tät meiner Sehnsucht vor 20 Jahren, diese in Frage kommt. Sie lässt keinen Raum Reise zu unternehmen, meinen Wünschen für die Möglichkeit eines „windfalls“, ei- von vorgestern oder meiner gegenwärti- nes unvorbedachten Glücks. Nietzsche hat gen Neigung? Wie immer der Präferenz- einmal gesagt, dass das „leiseste, leichte- utilitarist diese Fragen beantwortet – es ste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch,

86 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 ein Husch, ein Augen-Blick ... die Art des chologische Bedenken. Es ist zweifelhaft, besten Glücks macht“ (Nietzsche 1980, ob wir jemanden, dem wir Glück wünschen, 344). Das ist aber gerade das Glück, auf wünschen sollen, dass alle seine Wünsche das kein zeitlich vorangehender Wunsch in Erfüllung gehen. Eine wesentliche Be- gerichtet gewesen ist, das uns überrascht dingung des Glücks scheint gerade darin – ein Zufallsgeschenk, in dem „Glück“ im zu bestehen, dass zumindest einige Wün- Sinne von happiness und „Glück“ im Sin- sche unerfüllt sind, zumindest noch nicht ne von luck zusammenfallen. erfüllt sind – gewissermaßen als utopischer Horizont „seliger Sehnsucht“. Ein wort- Einige Vertreter des Präferenzutilitarismus wörtlich „wunschloses Glück“ ist mögli- haben auf diese Kritik mit weitgehenden cherweise eine contradictio in adjecto. Revisionen ihres Ansatzes geantwortet. In Wunscherfüllung ist nicht nur keine hin- John Harsanyis Version des Präferenzuti- reichende, sondern möglicherweise auch litarismus treten an die Stelle der faktischen keine notwendige Bedingung von Glück. Präferenzen (der im Verhalten manifestier- ten revealed preferences bzw. die durch Ein zweiter von einigen Utilitaristen ver- Befragen erfassten expressed preferences) tretener Typ von Glückstheorie, die der die true preferences, die mithilfe eines Bedingung der Subjektivität des Glücks Idealisierungsverfahrens aus den fakti- nicht gerecht wird, ist das, wann man schen Präferenzen erschlossen werden. Glücksgütertheorie genannt hat, die be- Die „wahren“ Präferenzen einer Person reits erwähnte Identifikation von Glück mit sind bestimmt als die Präferenzen, die eine einem bestimmten Katalog an Grundgü- Person haben würde, falls sie über alle tern. Glücksgütertheorien postulieren, dass einschlägigen empirischen Kenntnisse ver- Glück in dem Besitz oder Genuss be- fügte, ihre Überlegungen mit der größt- stimmter Güter wie Gesundheit, Wohl- möglichen Sorgfalt anstellte und sich in stand, Anerkennung und Bildung besteht, einer für eine rationale Entscheidung gün- und zwar unabhängig von der Stärke der stigen psychischen Verfassung befände individuellen Präferenzen für diese Güter. (vgl. Harsanyi 1982, 55). Aber auch für Ansätze zu einer Glücksgütertheorie inner- diese „verbesserte“ Version des Präferenz- halb des Utilitarismus finden sich bei John utilitarismus ergeben sich paradoxe Kon- Stuart Mill und im „idealen“ Utilitarismus sequenzen. Was ist etwa mit Wünschen G. E. Moores. Beide machen den „Glücks- für die fernere Zukunft wie der Wunsch gehalt“ subjektiver Zustände u.a. von der nach langfristigem Erhalt der Biosphäre Qualität der Quellen dieser Zustände ab- und nach einer weltweiten Sicherung der hängig, wobei das Kriterium dieser Quali- Lebensgrundlagen auf Generationen hin- tät nicht beim Individuum selbst, sondern aus? Kein Wünschender kann dadurch bei einer externen Instanz liegt, etwa im glücklicher werden, dass sich seine Wün- Urteil einer Elite der Erfahreneren, Urteils- sche in einer Zukunft jenseits seiner Le- fähigeren oder „Reiferen“. Nach Mill ist benserwartung erfüllen. Glücklich kann er ein unzufriedener Sokrates auch dann allenfalls durch den Gedanken daran wer- glücklicher als ein zufriedener Narr, wenn den. Darüber hinaus bestehen gegen eine dieser sich entschieden glücklicher fühlt. Wunscherfüllungstheorie des Glücks psy- Nach Moore ist ein Zustand der persönli-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 87 chen Zuneigung und des ästhetischen Ge- Die Glücksgütertheorie verkennt, dass nusses einem Zustand ohne diese Güter Glück auf zwei und nicht nur auf eine auch dann überlegen, wenn das jeweilige Weise subjektivistisch verstanden werden Individuum dasselbe subjektive Wohlbe- muss: Glück im Sinne von happiness ist finden aus anderen Erfahrungen beziehen erstens ein (wie immer im einzelnen be- könnte (Moore 1970, 261). stimmter) innerer Zustand eines empfin- dungsfähigen Subjekts, und Glück ist Glücksgütertheorien dieser Machart wer- zweitens an die jeweils subjektiven Bewer- den dem Erfordernis der Subjektivität des tungsstandards gebunden. Es liegt an den Glücks zweifellos gerecht. Anders als der jeweiligen Wertstandards des Subjekts, ob aristotelische Eudaimonismus lösen sie das und inwieweit es Glücksgüter tatsächlich Glück nicht vollständig vom subjektiven glücklich machen. Diese zweite Art von Erleben ab. Glücklich zu sein heißt auch Subjektivität – die „Wertungssouveränität“ nach diesen Konzeptionen immer auch, des Subjekts hinsichtlich seines Glücks – sich in einem irgendwie positiven psychi- eröffnet dem Glück Chancen, birgt aber schen Zustand zu befinden. Gleichzeitig auch Risiken. Sie ermöglicht dem Sub- vernachlässigen sie jedoch eine zweite vom jekt auch dann Glück zu erleben, wenn es Glück untrennbare Art von Subjektivität: mit Glücksgütern eher dürftig ausgestat- die Abhängigkeit des als beglückend Emp- tet ist, etwa indem es sich an seiner relati- fundenen von den jeweiligen individuellen ven Position im Verhältnis zu anderen ori- Wertungen. Diese zweite Art von Subjek- entiert und – im Sinne einer nicht-ironi- tivität bedeutet, dass Glücksgüter nur in- schen Deutung des Sprichworts vom Ein- soweit glücklich machen, als dem Sub- äugigen unter Blinden – sein Glück aus jekt an ihnen gelegen ist. Selbst so schein- der Tatsache schöpft, dass es im Verhält- bar selbstverständliche Glücksgüter wie nis zu anderen das mit Glücksgütern am Gesundheit, Wohlstand und Anerkennung besten ausgestattete ist. Auf der anderen machen nur denjenigen und diesen nur in- Seite kann das Wissen, mit Glücksgütern soweit glücklich, als dieser diese Güter schlechter ausgestattet zu sein als andere, wertschätzt – was in der Regel, nicht aber auch dann das eigene Glück gefährden, notwendig und unter allen Umständen der wenn das absolute Niveau der Glücksgü- Fall ist. Dass Reichtum nicht eo ipso glück- tern so üppig ist, dass es im Grunde kei- lich macht, gilt bereits sprichwörtlich, aber nen Anlass zur Klage geben sollte. Empi- dasselbe gilt auch für das – von Schopen- rische Ergebnisse legen unglücklicherwei- hauer für schlechthin maßgeblich gehalte- se nahe, dass dieser negative Effekt der ne – Glücksgut Gesundheit. Gesundheit relativen Wahrnehmung durchschlagender ist keine hinreichende, aber auch keine ist als der analoge positive. Unglück scheint notwendige Bedingung für Glück. Im Zuge von der Existenz real oder scheinbar eines erfolgreichen coping-Prozesses kön- Glücklicherer in deutlich höherem Maße nen sich die Bedürfnisse und Erwartun- abzuhängen als Glück von der Existenz gen eines Kranken sogar so „nahtlos“ an real oder scheinbar Unglücklicherer. seine objektiven Lebensbedingungen an- passen, dass es ihm möglicherweise sub- Mills Lehre von der qualitativen Dimensi- jektiv besser geht als im gesunden Zustand. on des Glücks kann als ein – unglückli-

88 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 cher – Versuch gedeutet werden, eine orientierten – Glücksideals anreichert. Wir Glücksgütertheorie zu vertreten, ohne die alle haben Glücksideale. Wir haben in der doppelte Subjektivität des Glücks in Fra- Regel nicht nur den Wunsch, glücklich zu ge stellen zu müssen. Einerseits möchte werden, sondern auch den Wunsch, durch Mill die Wertungssouveränität des Sub- bestimmte Dinge glücklich zu werden. Wir jekts aufrechterhalten. Glück soll das sein, haben in der Regel nicht nur den Wunsch, was alle meinen, wenn sie von sich sagen, dass unsere Kinder glücklich werden, son- dass sie nach Glück streben. Was glück- dern auch den Wunsch, dass sie durch lich macht, soll dem Subjekt nicht von au- bestimmte – durch die richtigen – Dinge ßen vorgegeben, sondern von ihm selbst, glücklich werden, z.B. durch reale statt aufgrund seiner Erfahrung und seiner ur- durch bloß imaginäre oder manipulierte eigensten Wertungsstandards, bestimmt Leistungen und Erfolge. Glück soll nicht werden. Andererseits möchte er sicherstel- Ergebnis einer geschickten Selbstmanipu- len, dass die Quellen und Gegenstände lation sein, sondern aus der Konfrontati- des Glücks nicht ins Beliebige ausarten, on mit konkreten Welterfahrungen fließen. sondern bestimmten Wertmaßstäben ge- Es soll sich nicht einer Pille oder einer nügen. Deshalb die an Platon anknüpfen- Psychotechnik, sondern einem objektiv de Berufung auf das Urteil derjenigen, die vielfältigen, reichhaltigen, produktiven Le- aufgrund ihrer umfassenden Erfahrung mit ben und einer entwickelten Erlebnisfähig- niederen und höheren, instinktnäheren und keit verdanken. Für Mill als „Viktorianer“ kultivierteren, materiellen und idealen war insbesondere wichtig, dass sich das Glücksgütern am ehesten in der Lage sind, menschliche Glück aus spezifisch mensch- über das, was „wahrhaft“ glücklich macht, lichen Quellen speist, d.h. aus Aktivitäten, zu entscheiden. Aber damit wird der Ge- durch die sich der Mensch vom Tier un- gensatz zwischen Subjektivismus und Ob- terscheidet. Insofern kann man seine Aus- jektivismus des Glücks nur scheinbar auf- zeichnung der geistigen gegenüber den gelöst. Dass das Urteil der Erfahrenen körperlichen, der „höheren“ gegenüber auch für denjenigen verbindlich sein soll, den „niederen“ Genüssen als eine Amalga- der – wie Mills „Narr“ (Mill 2006, 33) – mierung von Glücksbegriff und Glücks- sein Glück ausschließlich in den niederen ideal verstehen. Das Ergebnis ist freilich Lüsten findet, läuft nicht weniger auf den eine Glücksdefinition, die man mit Charles Oktroi eines von außen und von anderen L. Stevenson unbedenklich als persuasive definierten Glücks hinaus als die Vorgabe definition bezeichnen und als solche kri- eines gänzlich objektiven Standards „ech- tisieren muss: Die Amalgamierung von ten“, „wahren“ oder „eigentlichen“ Glücks. Begriff und Ideal führt zu dem Anschein, ein Glück, das nicht aus den dem Ideal Was waren die Gründe für Mills scharfe entsprechenden und in besonderer Weise Ablehnung von Benthams Hedonismus wertvollen Quellen bezogen wird, sei kein und für das Liebäugeln mit einer Grund- „richtiges“ Glück, mögen auch diejenigen, gütertheorie des Glücks? Zwei Erklärun- die es empfinden, dezidiert anderer Mei- gen bieten sich an. Die erste ist die, dass nung sein. Mill den Glücksbegriff durch Elemente seines persönlichen – an antiken Autoren

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 89 Mills Glücksideal war aufklärerisch-fort- Leben des Politikers, Sozialreformers, schrittsoptimistisch und stoisch-pessimi- Wissenschaftlers, Unternehmers oder stisch zugleich. Mill zufolge liegt das lang- Künstlers, der sein Glück in der Verbes- fristige Glück der Menschheit nicht in der serung der menschlichen Lebensbedingun- Zunahme der Verfügung über materielle gen und der Verwirklichung dauerhafter Güter, sondern in der kontinuierlichen Zu- Werte findet, auch gleich glücklich sein, nahme von Bildung, Moral und der Emp- so ist doch aus utilitaristischer Sicht die fänglichkeit für die Reize der Natur. Nicht zweite Art von Glück entschieden vorzu- von einer Zunahme der Güterproduktion ziehen, da zu erwarten ist, dass sie sich in und des Konsums erhoffte er sich den höherem Maße auf das Glück anderer po- Fortschritt der Menschheit, sondern von sitiv auswirkt. Zusätzlich bedenklich er- einer Zunahme an sozialer Gerechtigkeit, scheinen musste ein uneingeschränkter Freiheit und Kreativität. Nur so wird ver- Hedonismus vor allem auch wegen seiner ständlich, dass er genau diejenige pessi- Konsequenzen für die Sexualmoral. Schließ- mistische Zukunftserwartung in eine po- lich war Mill einer der ersten öffentlichen sitive Utopie umdeutete, die den Ökono- Vertreter des Gedankens der Geburten- men seiner Zeit als Menetekel der kapita- kontrolle. Während sich Bentham eine Ver- listischen Produktionsweise erschien, die mehrung des allgemeinen Glücks vor al- Stagnation der Güterproduktion. Für Mill lem von einer Vermehrung der Zahl der (als einzigen Utilitaristen vor der „ökolo- Menschen erhoffte und in seiner Liste von gischen Bewegung“) hatte die Aussicht auf Zuwiderhandlungen gegen das Nützlich- eine stagnierende Wirtschaftstätigkeit nichts keitsprinzip provokanterweise auch das Besorgniserregendes. Ein „Nullwachstum“ Zölibat aufführt (Bentham 1948, 288), er- würde weniger von der generationenüber- hoffte sich der Nachmalthusianer Mill eine greifenden Aufgabe der inneren Bildung Vermehrung des Glücks wesentlich auch und Kultivierung des Menschen ablenken von einem stationary state auf der Seite und die Reste an ursprünglicher Natur vor der Bevölkerung. Aus beiden Gründen weiteren zivilisatorischen Übergriffen ver- könnte Mill versucht gewesen sein, im Sin- schonen. ne einer persuasive definition das Glück von vornherein so zu definieren, dass das Eine zweite mögliche Erklärung macht „glücksproduktivere“ Glück als das „wah- Mills Annäherung an die Glücksgüter- re“ oder „eigentliche“ Glück erscheint, theorie weniger von seinen persönlichen auch wenn er sich diesen begriffspoliti- Idealen als von seinen spezifisch utilitari- schen Schachzug aus Gründen der intel- stischen Denkvoraussetzungen abhängig lektuellen Redlichkeit hätte verbieten müs- und unterstellt ihm moralstrategische Mo- sen. Angesichts des öffentlichen Charak- tive: Für Mill als Utilitaristen konnte es in- ters der Schriften Mills, in denen er seine soweit nicht gleichgültig sein, worin Men- Vorstellungen von einer eigenständigen schen ihr Glück finden, als davon andere qualitativen Dimension des Glücks entwi- – und insbesondere die Angehörigen spä- ckelt hat, lassen sich solche Absichten zu- terer Generationen – betroffen sind. Mö- mindest nicht ausschließen. gen das Leben des Lotophagen, der sein Glück im Opiumrausch findet, und das

90 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Mit dem Problem einer unzureichenden kultivierter oder moralischer Mensch. Das Berücksichtigung der Subjektivität des Ausmaß des Nutzengewinns soll aus- Glücks im Sinne der individuellen Wer- schließlich von Menge und Intensität der tungssouveränität ist auch diejenige Form Empfindung abhängen. einer Glückstheorie konfrontiert, die in- nerhalb der utilitaristischen Tradition als Indem der Hedonismus Glück mit Lust- die „klassische“ gelten muss, der Hedo- gewinn gleichsetzt, wird er nicht nur der nismus. Ein Hedonist reinsten Wassers Formalität, sondern auch der subjektiven war Bentham. Der „Stammvater“ des Uti- Qualität des Glücks besser gerecht als die litarismus (der allerdings nur bereits bei Glücksgütertheorie. Fraglich ist jedoch, ob Hobbes, Hutcheson und Helvétius vor- er auch die zweite Subjektivitätsforderung, liegende Theorieelemente zusammenmon- die individuelle Wertungssouveränität an- tierte, vgl. Trapp 1992, 234) war auch der gemessen berücksichtigt. Bei allem For- seitdem radikalste Vertreter einer rein hedo- malismus hinsichtlich der Lustquellen engt nistischen Interpretation von „Glück“. Der er das Spektrum der Möglichkeiten erheb- Hedonismus kann so definiert werden, lich ein, indem er Glück auf Lustgewinn dass er „Glück“ mit dem Lustgehalt des festlegt und damit der Wertungssouverä- subjektiven Erlebnisstroms identifiziert. nität des Subjekts entzieht. Demgegenüber Der Hedonismus hat ähnlich wie die ist festzuhalten, dass Lustgewinn zwar in Wunscherfüllungstheorie den Vorzug, der Regel, aber nicht notwendig glücklich dass er der notwendigen Formalität und macht – weder im logischen noch im na- inhaltlichen Substanzlosigkeit des Glücks- turgesetzlichen Sinn von Notwendigkeit. begriffs Genüge tut, indem er die Quellen Lust kann auch als Störung bewertet wer- des Lustgewinns nicht begrifflich festlegt, den (zum Beispiel wenn einem nach Ar- sondern der Erfahrung überlässt. Es ist beit zumute ist), Unlust kann auch will- Sache der Erfahrung, welche Lustquellen kommen sein (zum Beispiel, wenn man sich für wen als ergiebiger erweisen. Ähn- etwas zu büßen hat). Und auch dann, lich wie La Mettrie ein halbes Jahrhundert wenn es zutreffen sollte, dass alle Men- zuvor in seinem „Anti-Seneca“ würzt schen glücklich werden und bleiben wol- Bentham seinen Hedonismus dabei mit len, folgt daraus nicht, dass sie dieses dem Beigeschmack der Provokation. Pro- Glück ausschließlich aus dem Erleben von vokant ist nicht nur seine viel zitierte De- Lustgefühlen beziehen wollen. Wissen- vise „quantity of pleasure being the same, schaftler zum Beispiel streben primär nach push-pin is as good as poetry“, sondern Wahrheit und Erkenntnis, andere primär auch, dass er nicht zögert, die Lust an nach Status, Wohlstand oder Macht. Auch Bosheit und Gemeinheit (die „Schaden- wenn das Erreichen dieser Ziele in der Re- freude“) im felicific calculus, Benthams gel mit starken Lustgefühlen verbunden ist geplantem, aber nicht ausgeführten utili- und diese Lustgefühle möglicherweise er- taristischen „Glückskalkül“ als Positivpos- klären, warum sich Menschen beim Errei- ten zu berücksichtigen. Für das Ausmaß chen bestimmter Ziele glücklich fühlen, des Glücks soll es nicht darauf ankom- sind doch diese Lustgefühle nicht das, wo- men, ob ein Mensch ein Vergnügen als nach sie streben – so als wäre es ihnen Säugetier empfindet oder als zivilisierter, (wie Angehörigen der sogenannten „Fun-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 91 Kultur“ unterstellt wird) gleichgültig, wor- dungen können einen Menschen unter- aus sie diese Lustgefühle beziehen. schiedlich stark unglücklich machen, je nachdem wie er sie deutet: ob als sinnvoll Problematisch an der hedonistischen Deu- oder sinnlos, als vorübergehend oder tung des Glücks ist zusätzlich ein grund- chronisch, als Anzeichen von Besserung sätzliches Defizit: Sie wird der für Glücks- oder von Verschlechterung. erfahrungen wesentlichen intentionalen Struktur nur unzureichend gerecht. Wir Noch weniger vermag der Hedonismus die erleben Glück entweder in Gestalt von Besonderheiten des periodischen (manch- episodischen Glücksgefühlen oder in mal auch „übergreifend“ genannten, vgl. Gestalt von längerdauernden, ganze Pe- Seel 1995, 62) Glücks zu erfassen. An- rioden umfassenden Glückszuständen. ders als auf die entsprechende Frage nach Beide haben eine intentionale Struktur. dem episodischen Glück lässt sich die Deshalb lässt sich weder die eine noch Frage, ob man glücklich (gewesen) ist, in die andere angemessen als Empfindung der Regel nur ex post beantworten. Beim oder Empfindungskomponente verstehen. periodischen Glück wird eine bestimmte Periode eines Lebens oder ein ganzes Le- Episodische Glücksgefühle sind zuständ- ben als insgesamt glücklich oder unglück- liche Gefühle. Sie kommen und gehen und lich beurteilt. Beidemal erfolgt die Beur- dauern eine in etwa bestimmbare Zeit. Aber teilung nicht dadurch, dass man sich ak- anders als Empfindungen haben sie in der tuelle Empfindungen oder Stimmungen Regel intentionale Gegenstände. Wir sind bewusst macht, sondern rückblickend, in glücklich oder unglücklich über bestimmte der Form eines zusammenfassenden Ur- (äußere und innere) Sachverhalte. Dieses teils. Entscheidend ist aber, dass ein Ur- Glücklich- oder Unglücklichsein kann mit teil, glücklich gewesen zu sein, auch dann einem sensorischen Zustand (etwa Lust- zutreffen kann, wenn ein Leben oder eine gefühlen oder Gefühlen der Niedergeschla- Lebensphase nicht in jedem einzelnen Au- genheit) eng zusammenhängen. Aber auch genblick von Glücksgefühlen beherrscht dann ist es mehr als ein sensorischer Zu- war oder insgesamt die größtmögliche stand, nämlich eine auf eine eigene Emp- Menge und Intensität an Glücksgefühlen findungen gerichtete wertende Einstellung. realisiert hat. Wie Mill zu Recht feststellt, Diese Einstellung ist nicht eine weitere war das Glück, das die antiken Eudaimo- Empfindung, sondern die Perspektive, in nisten meinten (und denen er sich in die- der einem Individuum eine bestimmte sem Punkt anschließt), „nicht ein Leben Empfindung (oder andere Erfahrung) er- überschwenglicher Verzückung, sondern scheint. Nur wenn diese Perspektive po- einzelne Augenblicke des Überschwangs sitiv ist, ist Glück möglich. Glück ist ge- inmitten eines Daseins, das wenige und bunden an eine emotionale Bewertung. schnell vorübergehende Phasen der Un- Deshalb ist sie in erheblich stärkerem Maße lust, viele und vielfältige Freuden enthält als sensorische Empfindungen abhängig (mit einem deutlichen Übergewicht der von Deutungen, Erwartungen und Ansprü- aktiven über die passiven) und dessen chen. Das gilt für lustvolle wie für unlust- Grundhaltung es ist, nicht mehr vom Le- volle Empfindungen. Unlustvolle Empfin- ben zu erwarten, als es geben kann.“ (Mill

92 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 2006, 41) Mill korrigiert damit den von den. „Zustände“ umfassen nicht nur Emp- Kant in der Grundlegung zur Metaphy- findungen, sondern auch, was man weiß, sik der Sitten dem Glücksbegriff unter- glaubt, befürchtet und hofft. Wissen – aber stellten Maximalismus, nach dem „zur Idee auch Nichtwissen – können ebenso be- der Glückseligkeit [...] ein Maximum des glückend oder unerträglich sein wie Lei- Wohlbefindens in meinem gegenwärtigen dens- oder Begeisterungszustände. Man und jedem zukünftigen Zustande erforder- kann sich darüber freuen, dass man sich lich“ sei (Kant 1903/11, 418) Auch wenn gesund fühlt, aber auch darüber, dass man es unwahrscheinlich ist, dass sich jemand weiß, dass man gesund ist. Man kann dar- als glücklich bezeichnen wird, der keine unter leiden, dass man sich krank fühlt, oder nur sehr wenige positive Gefühlszu- aber auch darunter, dass man weiß, dass stände erlebt hat, kommt es doch nicht man krank ist, ohne sich krank zu fühlen. nur auf die Zahl und Intensität dieser po- Dabei verfügen wir in der Regel über mehr sitiven Gefühlszustände an (und noch we- als nur eine Reflexionsebene. Wir können niger darauf, ob zu diesen auch ausge- die Bewertungen unserer sensorischen sprochen ekstatische gehören), sondern Zustände ihrerseits bewerten und uns etwa darauf, ob er sein Gefühlsleben auf dem durch das Leiden an einer Empfindung Hintergrund seiner höchstpersönlichen (wie Schmerz) unterschiedlich belastet Wertmaßstäbe als befriedigend erlebt. fühlen. Nicht nur sensorische Zustände, Camus’ Paradox, dass wir uns einen (hin- auch Interpretationen dieser sensorischen reichend gelassenen) Sisyphos als einen Zustände lassen sich durch Interpretati- glücklichen Menschen vorstellen müssen, on, aber auch durch schlichte Gewöhnung ist alles andere als paradox. in ihrer Glücksrelevanz beeinflussen. Nicht nur unter Schmerzen, auch unter Leiden Wie sähe eine Konzeption aus, die Glück selbst kann man unterschiedlich stark lei- – und damit „Nutzen“ im Sinne des Utili- den, z.B. je nachdem, ob es erwartet oder tarismus – so bestimmt, dass beide dem unerwartet ist, ob es selbst- oder fremd- Glücksbegriff inhärente Subjektivitätsmo- verursacht ist, wie weit es der „Preis“ für mente angemessen berücksichtigt werden? positiv Bewertetes ist oder wie weit es Eine entsprechende Konzeption ist von positiv Bewertetes verhindert oder er- Haslett (1990) vorgeschlagen worden. schwert. Nach dieser wird „Nutzen“ als eine refle- xive Selbstbewertung interpretiert. Das Dem zweiten Subjektivitätserfordernis Maß von Glück ist das Ausmaß, in dem wird dieser Vorschlag gerecht, indem er ein Individuum seinen eigenen inneren die Bewertungsstandards vollständig dem Zustand reflexiv als positiv bewertet. Individuum überlässt. Glück oder Unglück sind relativ auf individuelle Bewertungs- Diese Interpretation erfüllt das erste Sub- maßstäbe und damit auf Persönlichkeits- jektivitätsmoment, indem sie stets nur in- und Charakterstrukturen. Welche äußeren nere Zustände, aber keine Weltzustände und inneren Glücksgüter einen Menschen zu Gegenständen von Bewertungen macht. glücklich machen, hängt u.a. davon ab, Dabei darf allerdings „innerer Zustand“ in was für ein Mensch er ist. Zugleich wird keinem zu engen Sinne verstanden wer- das Ausmaß des durch äußere und innere

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 93 Güter gewährten Glücks von den indivi- für Glück. Zufriedenheit kann auch resi- duellen Ansprüchen abhängig gemacht: gnativer Art sein, ein Sich-Abfinden mit Glück wird, wie Schopenhauer im An- dem als schlecht oder mittelmäßig Beur- schluss an Epikur meinte (Schopenhauer teilten. Zufriedenheit ist mehr als Unglück, 1988, 367) zu einem Bruch, bei dem der aber nicht immer schon Glück. „Besitz“ im Zähler und die „Ansprüche“ im Nenner stehen. 2. Nicht nur Bewertungen der äußeren Ver- hältnisse, auch Bewertungen der inneren Dass diese Konzeption den beiden Subjek- Verhältnisse können Resultate von Mani- tivitätserfordernissen gerecht wird, heißt pulation sein und sind dann keine verläss- selbstverständlich nicht, dass sie allen An- liche Grundlage für Glücksbewertungen. forderungen gerecht wird, die man eine Deshalb hat Sumner (1996, 156 ff.) vor- tragfähige Glückskonzeption stellen kann. geschlagen. Hasletts Modell um eine Au- An Hasletts Konzeption könnte in minde- thentizitätsbedingung zu ergänzen. Da- stens drei Hinsichten Kritik geübt werden: nach soll ein vom Individuum als Wohl- befinden bewerteter subjektiver Zustand 1. Diese Konzeption scheint die Unter- immer dann nicht als berücksichtigungs- scheidung zwischen Glück und Zufrie- würdig gelten, wenn diese Bewertung denheit, auf die Mill besonderen Wert leg- durch äußere Faktoren wie Indoktrinie- te (vgl. Mill 2006, 31) zu nivellieren. Auch rung und Gehirnwäsche bewirkt ist oder wenn sie Glück ausschließlich von Bewer- durch Manipulationen anderer Art indu- tungen der eigenen inneren Befindlichkeit ziert ist, die die Autonomie des Subjekts (im umfassenden Sinne) abhängig macht in der Wahl von Lebensoptionen zerstö- und nicht von Bewertungen der äußeren ren. Diese Kritik ist sicher bedenkenswert. Verhältnisse, scheint sie doch zur Folge Ich bezweifle allerdings, ob sie wirklich zu haben, dass Glück auch unter sehr un- tragfähig ist und eine Erweiterung des sub- günstigen Bedingungen erlebbar wird, vor- jektivistischen Modells um objektive Fak- ausgesetzt, der Bewertungsstandard habe toren erzwingt. Auch in Situationen, in sich den inneren Reaktionen auf diese Be- denen sich niemand befinden möchte, weil dingungen durch Gewöhnung angepasst. sie extreme Unfreiheit und Abhängigkeit Kann nicht danach auch der Sklave glück- bedeuten (wie etwa Geiselhaft), ist Glück lich werden, vorausgesetzt, er habe seine nicht unmöglich (siehe das sogenannte Standards so heruntergeschraubt, dass er „Stockholm-Syndrom“), auch wenn man mit einem Minimum an Glücksmöglich- Bedenken hat, es so zu nennen, weil der keiten zufrieden ist? Dagegen lässt sich Begriff „Glück“ unweigerlich eine insge- Hasletts Konzeption allerdings verteidigen: samt positive Wertung nahelegt. Erstens ist keineswegs ausgemacht, ob nicht auch der Sklave glücklich werden 3. Für problematisch könnte schließlich kann (siehe Dostojewskis Lagerinsassen). die Tatsache gehalten werden, dass diese Zweitens besteht auch in einer rein sub- Konzeption nicht auf Wesen anwendbar jektivistischen Glückstheorie ein Unter- ist, die zeitweilig oder dauerhaft über kei- schied zwischen Glück und Zufriedenheit. ne Möglichkeit der reflexiven Selbstbewer- Zufriedenheit ist kein hinreichendes Indiz tung verfügen, etwa empfindungsfähige

94 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Tiere, Kleinkinder und hochgradig De- Mill, John Stuart: Utilitarianism/Der Utili- mente. Wie soll etwa das Leiden, das lei- tarismus (1861). Stuttgart 2006. densfähigen Tieren aus schmerzhaften oder ängstigenden Tierversuchen in der Moore, George Edward: Principia Ethica Arzneimittelforschung erwächst, mit der (1903). Stuttgart 1970. Leidensminderung verglichen werden, die diese Arzneimittel voraussichtlich oder Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zara- möglicherweise bei menschlichen Patien- thustra (1886). In: F. Nietzsche: Sämtli- ten bewirken? In der Tat folgt aus diesem che Werke. Kritische Studienausgabe, Einwand eine entscheidende Begrenzung Band 4. München/Berlin 1980. der Reichweite von Hasletts Vorschlag. Die Reichweite dieser Konzeption ist sehr Schopenhauer, Arthur: Aphorismen zur viel enger als die der utilitaristischen Ethik. Lebensweisheit. In: A. Schopenhauer: Da Hasletts Nutzenkonzeption auf nicht- Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hüb- selbstbewusste empfindungsfähige Wesen scher, Band 5. 4. Aufl. Mannheim 1988, nicht anwendbar ist, das Wohl und Wehe 331-530. nicht-selbstbewusstseinsfähiger Wesen nach utilitaristischer Auffassung aber nicht Seel, Martin: Versuch über die Form des weniger berücksichtigungswürdig ist als Glücks. Studien zur Ethik. Frankfurt am das selbstbewusstseinsfähiger Wesen, Main 1995. bleibt keine andere Wahl, als das Wohl- befinden nicht-selbstbewusstseinsfähiger Sumner, L. W.: Welfare, happiness and Wesen weiterhin nach ihrer (vermuteten) ethics. Oxford 1996. Empfindungsqualität zu beurteilen. Trapp, Rainer: Die Wertbasis des klassi- Literatur: schen Utilitarismus. In: Ulrich Gähde/ Wolfgang H. Schrader (Hrsg.): Der klassi- Bentham, Jeremy: An introduction to the sche Utilitarismus. Einflüsse – Entwick- principles of morals and legislation (1789). lungen – Folgen. Berlin 1992, 172-265. New York 1948.

Harsanyi, John C.: Morality and the theory of rational behaviour. In: A. Sen/B. Wil- liams (Hrsg.): Utilitarianism and beyond. Cambridge/Paris 1982, 39-62.

Haslett, D. W.: What is utility? Economics and Philosophy 6 (1990), 65-94.

Kant, Immanuel: Grundlegung zur Meta- physik der Sitten (1785). In: I. Kant: Wer- ke (Akademie-Ausgabe) Bd. 4, Berlin 1903/11.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 95 Dr. Robert Zimmer (Berlin) Das Erbe des Theophrast Moralistische Charakterzeichnung und ihre Bedeutung für eine Philosophie der Lebenskunst

I. Begründung und Anwendung von Nor- men, deren Akzeptanz wir mit anderen tei- Die Philosophie der Lebenskunst ist die len und zu deren Einhaltung wir verpflich- Erbin der antiken Glücksethik und der tet sind. In einem moralisch guten Leben neuzeitlichen Moralistik. In dieser Traditi- richten wir unseren Blick nicht vorrangig on hat sie es, ob unter dem Titel einer auf unsere individuelle Selbstverwirkli- Klugheitslehre oder dem einer „Ästhetik chung, sondern auf den anderen als gleich- der Existenz“1 , nicht nur mit der indivi- berechtigte autonome Person. Dement- duellen Persönlichkeitsbildung, sondern sprechend bin ich gehalten, individuelle In- auch mit den Möglichkeiten sozialer In- teressen im Zweifelsfall zurückzustellen. teraktion zum Zweck eines glücklichen, So bin ich verpflichtet, einem Verletzten selbstverwirklichten Lebens zu tun. „Ei- auf der Straße zu helfen, auch wenn es nem guten menschlichen Leben muß die mich Zeit und Geld kostet und es sich um Dimensionen – müssen Dimensionen – der einen sehr unsympathischen Menschen gelingenden Interaktion mit anderen offen- handelt. stehen“ schreibt Martin Seel in seinem Moralische Regeln haben also gegenüber Versuch über die Form des Glücks2 . Eine Klugheitsregeln, die dem Streben nach in- solche Interaktion setzt aber die Kenntnis dividuellem Glück und Selbstverwirkli- der Natur des Menschen und der Prägun- chung dienen, immer Vorrang. Dennoch gen menschlichen Sozialverhaltens voraus. lassen sie genügend Spielraum für eine Wer ein „gutes Leben“ will, muss sich auf gelungene, den individuellen Bedürfnissen die Menschen, ihre Gewohnheiten, ihre angepasste Lebensführung. Hier geht es Tugenden und Tücken einstellen. um die Reflexion jener Art des „guten Le- Dabei ist der Begriff des „guten Lebens“ bens“, die nicht in die Moralphilosophie, allerdings bis heute zweideutig: Er wird sondern in die Philosophie der Lebens- sowohl im Sinne eines moralisch guten kunst fällt. Was hier „gutes Leben“ heißt, Lebens als auch im Sinne eines weltklu- kann individuell ganz unterschiedliche Le- gen Lebens gebraucht. Beide gehören al- bensziele umfassen. Bei der Durchsetzung lerdings zwei unterschiedlichen Bereichen dieser Ziele berufe ich mich nicht auf Prin- der Lebensorientierung und auch zwei un- zipien, die Universalität beanspruchen, terschiedlichen Bereichen philosophischer sondern stütze mich auf situationsgebun- Reflexion innerhalb der praktischen Phi- dene Regeln. Hier muss ich von Fall zu losophie an. Der systematische Ort einer Fall entscheiden. Soll ich mich auf eine Reflexion über moralische Prinzipien, die langfristige Partnerschaft einlassen? Ist es universale Geltung beanspruchen, ist die klug, einem bestimmten Bekannten Geld Ethik im Sinne einer Moralphilosophie. In zu leihen oder nicht? Soll ich mich mit ihr geht es spätestens seit Kant um die Herrn X auf einen Konflikt einlassen? –

96 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Die Antwort kann je nach Situation sehr zogen, sondern auch die Formen lebens- unterschiedlich ausfallen. kluger Menschenkenntnis bis heute be- Die Art der menschlichen Interaktion ist fruchtet. deshalb in beiden Kontexten, im Kontext des moralischen und in dem des weltklu- II. gen Handelns, jeweils unterschiedlich. Seel bezeichnet die von moralischen Prinzipi- Wie sein Mentor ist Theophrast Autor ei- en bestimmte Interaktion als „dialogische nes umfangreichen Werks. Doch die Über- Interaktion“, in der die Interaktion selbst lieferungsgeschichte hat den Metaphysi- Zweck des Handelns ist, und setzt sie von ker und Naturphilosophen Theophrast in einer „strategischen Interaktion“3 ab, auf den Hintergrund gedrängt. Gewirkt hat er die man sich als Mittel zur Durchsetzung vor allem durch die Sammlung von 30 kur- individueller Ziele einlässt und über deren zen Charakterskizzen. Die „charakteres Gestaltung nicht moralische Pflicht, son- ethikoi“ – die „Charaktere aus dem Be- dern kluges Kalkül entscheidet. reich des Ethos“, wie der ursprüngliche Ein solche Diskussion um die Möglich- griechische Titel des Werks lautet, stehen keit einer Weltklugheit, die auf strategische in engem Zusammenhang mit den „ethi- Lebensorientierung setzt und sich auf die schen oder Charaktertugenden“ in der Ni- Erfahrung und Kenntnis menschlichen So- komachischen Ethik des Aristoteles. Diese zialverhaltens stützt, wurde in der Philo- enthält zwei unterschiedliche Wegbe- sophiegeschichte schon sehr früh, näm- schreibungen zu zwei unterschiedlichen lich in der peripatetischen Schule geführt. Formen des Glücks: den Weg der Weis- Eine besondere Rolle haben dabei immer heit („sophía“) und den Weg der prakti- die Charaktere des Theophrast gespielt. schen Klugheit, der „phrónesis“, ein Be- Theophrast, der Freund, Schüler und griff, der zuweilen auch mit „Besonnen- Nachfolger des Aristoteles als Leiter der heit“ oder „Vernünftigkeit“ übersetzt peripatetischen Schule, spielt aber in den wird4 . Die Weisheit führt, in der Tradition Diskussionen um eine Philosophie der der platonischen Akademie, zum Glück Lebenskunst bisher nur eine Nebenrolle. der reinen Anschauung, zur zweckfreien Dabei ist sowohl seine traditionsstiftende Kontemplation. Die Phrónesis hingegen Bedeutung für die Moralistik als auch sei- führt zu einem Glück zweiter Ordnung, ne systematische Relevanz für die Refle- einem weltlichen Glück, das sich im Han- xionen über eine kluge Lebensführung deln und nicht in der Kontemplation ver- häufig übersehen worden. Theophrast ist wirklicht. Sie ist eine Form der praktischen der Vater der moralistischen Charakter- Urteilsfähigkeit, die durch Erfahrung, zeichnung, er betreibt Anthropologie avant durch Beobachtung der sozialen Welt, er- la lettre, eine Anthropologie, die unmit- worben wird und in dem Vermögen be- telbar erfahrungs- und anwendungsorien- steht, das Rechte in einer konkreten Si- tiert ist. Mit seiner literarisch innovativen tuation zu tun, d.h. sich gleichzeitig stra- Form, menschliches Sozialverhalten mit tegisch und sozial angemessen zu verhal- Hilfe anschaulicher Typisierungen in den ten. Sie ist der Kompass der vita activa. Blick zu bringen, hat er nicht nur eine lan- Während die Weisheit den Weg der „dia- ge Spur durch die Geistesgeschichte ge- noethischen“, d.h. geistigen und kontem-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 97 plativen Tugenden geht, beschreitet die ten ab einem bestimmten Alter eine kon- Klugheit den Weg der „ethischen“ Tugen- stante Form gibt. Theophrasts „Charak- den. Es ist ein Weg, der in der sogenann- ter“ ist eine fest sitzende Charaktermaske. ten Mesotés-Lehre entwickelt wird, der Seine Charaktertypologie dient dazu, das Lehre von der richtigen Mitte zwischen menschliche Panorama in seiner Vielfalt zwei Extremen. Dabei geht es um die Aus- anschaulich zu machen. Dass soziale Ver- prägung von Verhaltensdispositionen, in haltensdispositionen zur „persona“ wer- denen unsere Affekte und Leidenschaften den, d.h. Masken-tragende menschliche geformt und im Sinne einer klugen Lebens- Gestalt annehmen, ist eines jener innova- führung ausgerichtet werden. Eine solche tiven Merkmale der Charaktere, die in der Disposition ist z.B. die Freigiebigkeit als neuzeitlichen Moralistik in vielfacher Wei- richtige Mitte zwischen Geiz und Ver- se, u.a. in den allegorischen Figuren Gra- schwendung, der Stolz als richtige Mitte cians oder in den Porträtskizzen La Bruy- zwischen Eitelkeit und Kleinmut, oder die ères, fortgesetzt und weiterentwickelt wur- Tapferkeit als Mitte zwischen Feigheit und den. fahrlässiger Tollkühnheit. Im Unterschied zu Aristoteles richtet sich Die aristotelische Lehre von der Phrónesis der Blick des Theophrast dabei aber nicht hat eine Reflexion über Weltklugheit in auf die Tugenden, sondern auf das un- Gang gesetzt, in der es nicht um „Moral“ endlich weite Feld sozialer Defizite. Seine im heutigen Sinne als vielmehr um For- 30 Charakterskizzen bestehen durchweg men der sozialen Angemessenheit geht, aus negativen „Prägungen“: Nicht der Tap- die, im Gegensatz zu Formen des morali- fere und der Stolze, sondern der „Geizi- schen Handelns, nicht prinzipiengebun- ge“, der „Prahler“ und der „Eitle“ sind, den, sondern in gesellschaftlichen Kon- neben vielen anderen, Gegenstand des ventionen, in „Sitten“ verankert und des- Buches. Theophrasts eigenes Konzept der halb auch nur durch konkrete Beobach- Phrónesis, des klugen Sozialverhaltens, tung und Erfahrung erschließbar sind. Was wird in der Lektüre deshalb nur indirekt die angemessene richtige „Mitte“ jeweils erschließbar, durch Umkehrung der nega- ist, kann sich nur aus der konkreten Si- tiven Charakteristik. tuation des Handelnden ergeben. In Theophrasts negativer Anthropologie Auch Theophrast gewinnt seine „Charak- ist die skeptische Weltsicht der Moralistik tere“ durch die Beobachtung sozialer Ver- vorgeprägt. Alle neuzeitlichen Moralisten, haltensdispositionen. Grundlage ist das, von Gracian, La Rochefoucauld, La Bruy- was er in den Straßen Athens gesehen und ère bis zu den englischen Essayisten des gehört hat. Definitionen nehmen in seinem Spectator im frühen 18. Jahrhundert, ha- Werk nur einen sehr kleinen Raum ein, ihre ben in der Tradition des Theophrast die Illustration durch das konkrete Beispiele kritische Beobachterrolle eingenommen. dagegen einen wesentlich größeren. Der Sie wurde zur klassischen Perspektive der griechische Begriff Ð carakt»r meint ur- Moralistik. sprünglich den „Präger“ und später jene Vorbildhaft wurde auch, wie Theophrast „Prägung“, wie wir sie z.B. bei Münzen die beobachteten Figuren erzählerisch an- finden. Bei Theophrast wird sie zu jener schaulich macht. Sie werden in konkrete Prägung, die dem menschlichen Verhal- soziale Situationen eingebettet und treten

98 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 dem Leser wie auf einer Bühne entgegen. hast, Bursche!“ und salbt sich mit frem- Karikaturhafte Züge und Situationskomik dem.“6 .... sind deshalb nicht zufällig Merkmale der Theophrastschen Charaktere und verbin- Der Geizige ist eine täglich zu beobach- den sie mit den Komödienfiguren seines tende Gestalt im sozialen Leben, vermut- Schülers Menander, eine Parallelität, die lich sehr viel häufiger als der tugendhaft sich in der französischen Klassik des 17. „Freigiebige“ des Aristoteles. Seine „Prä- Jahrhunderts zwischen den Komödienfi- gung“ wird uns in einem knappen Satz guren Molières und den Porträtskizzen La vermittelt – maßlose Gewinnsucht. Leben- Bruyères wiederholen sollte. dig wird die Charaktermaske durch die Schauplatz der Beobachtungen Theo- konkreten sozialen Situationen, in die phrasts ist Athen. Der soziale Kontext der Theophrast ihn stellt: als Gastgeber eines Charaktere ist damit ein öffentlicher und großen Hauses, als Verkäufer, im Thea- urbaner. Die Stadt mit ihrer Vielfalt an ter, im öffentlichen Bad. Es sind typische menschlichen Typen wird zum Paradig- Situationen des urbanen Lebens in Athen. ma der Welt und Urbanität zum Ort und Die Personalisierung des „Charakters“ Maßstab weltklugen Verhaltens5 . Auch wird sogar soweit fortgetrieben, dass wir hier initiiert Theophrast eine Tradition, die ihn sprechen hören. Nicht nur für einen schließlich in den Charakteren La Bruy- Athener Bürger stellen sich sofort Asso- ères zu einem Begriff urbaner Weltklugheit ziationen zu selbst erlebten Situationen her. führt, der bereits frühmoderne Züge trägt. Theophrast definiert, indem er exemplifi- ziert und er exemplifiziert, indem er er- Theophrasts Darstellungsweise sei an ei- zählt. Er führt uns Formen des unklugen nem Beispiel illustriert, dem Beispiel des Lebens vor Augen, hinter denen die Phró- „Geizigen“. Wie jede Skizze beginnt sie nesis wie ein Negativ sichtbar wird. „Un- mit einer umgangssprachlichen Definition moralisch“ im heutigen Sinne ist Geiz je- der „Prägung“ und führt uns dann den denfalls solange nicht, als anderen dadurch Charakter in exemplarischen Situationen bewusst kein Schaden zugefügt wird. Es vor: ist vielmehr eine soziale Untugend, die das „(1) Der Geiz ist ein Streben nach schänd- Zusammenleben zwischen Menschen er- lichem Gewinn, der Geizige ist einer, (2) schwert und die Möglichkeiten einer eige- der seinen Gästen nicht genug Brot vor- nen glücklichen Lebensführung beschä- zusetzen (3) und von einem Fremden, der digt. bei ihm einkehrt, Geld zu borgen pflegt. (4) Wenn er Portionen austeilt, sagt er, es III. sei gerecht, dass der Austeiler die doppel- te Portion bekomme, und teilt sich selbst Theophrasts Typisierung menschlicher gleich aus. (5) Verkauft er Wein, gibt er Fehlhaltungen hat in der Antike u.a. bei gepanschten auch dem Freund. (6) Ins Lukian, Plutarch und Diogenes Laertius Theater nimmt er nur dann seine Söhne weitergewirkt. Im Mittelalter überlebte die mit, wenn die Ordner kostenlos Einlass Schrift in Klosterbibliotheken und entfal- gewähren....(8) Im Bad salbt er sich und tete ab der Renaissance in den Schriften sagt: „Ranzig ist das Öl, das du verkauft der Moralisten wieder eine sichtbare Wir-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 99 kung. Wie die Rezeption der antiken Ethik pessimistischen Menschenbeurteilung ei- insgesamt, so wurde auch die Lektüre des nes Machiavelli und Guiccardini, in der Theophrast über den Humanismus vermit- spanischen Moralistik im Begriff des „de- telt7. Aus den Händen Pico della Miran- sengaño“ wirksam. Der Lebensweg wird dolas gelangte eine griechische Hand- als ein Prozess der Desillusionierung ge- schrift der Charaktere in die Hände des sehen, für den besonders die Erfahrung Dürer-Freundes Willibald Pirckheimer, der Falschheit und Bösartigkeit des Men- dessen lateinische Übersetzung 1527 in schen prägend ist. Gemeinsam ist allen Nürnberg erschien. Dieser editio princeps Vertretern des spanischen „siglo de oro“, folgte 1592 eine kommentierte Ausgabe sei es Calderon, Cervantes, Quevedo oder des „goldenen Büchleins“, wie es sein Gracian, das Anliegen, den Schleier vom Herausgeber Isaac Casaubonus nannte. schönen Schein der Welt zu ziehen. Gra- Überall in Westeuropa wurden nun die cian wählt für seinen allegorischen Roman Charaktere zum Textbuch einer Men- El Criticón den Untertitel: „El Mundo de- schenbetrachtung zum Zwecke der Le- cifrado“ – „Die Welt entziffert“ – und be- bensorientierung. völkert ihn mit zahlreichen allegorischen Die neuzeitliche Moralistik, die sich zu- Figuren, die wie die Charaktere Theo- nächst von Italien aus entwickelte, war in phrasts den Weltklugen zu einem Hinder- einer sehr viel radikaleren Weise auf das nisparcours zwingen. Die illusionslose Be- Individuum bezogen, das sich selbst sei- urteilung des Menschen hält auch die fran- ne Lebensorientierung in der Welt suchen zösische Moralistik des 17. Jahrhunderts musste. Sowohl die antike Einheit von von La Rochefoucauld bis La Bruyère auf- Mensch und Welt in einem vernunftgesteu- recht, auch wenn sie dem düsteren Pessi- erten Kosmos als auch die christlich-theo- mismus Gracians den Ton einer ironischen logische Lebensausrichtung hatten ihre bis sarkastischen Distanz entgegensetzt. Bindungskraft verloren. Umso mehr war Den urbanen Rahmen dieser Anthropolo- wiederum eine sich auf Beobachtung und gie liefert nun nicht mehr die antike Polis, Lebenserfahrung stützende Menschenkun- sondern der absolutistische Fürstenhof. de gefragt. So übernimmt die Moralistik Das Leben im Umkreis des Hofes ist die das peripatetische Programm, eine Klug- Schlangengrube, in der Weltklugheit sich heitslehre durch Analyse sozialer Verhal- bildet. Das Ideal des weltläufigen Verhal- tensdispositionen zu entwickeln, und ori- tens wird nun selbst zu einem positiven entiert sich dabei in vielfacher Weise an „Charakter“, zu einem als Figur ausgestal- den Charakteren des Theophrast. Alle teten Typ. Bei Castiglione gilt der „Hof- wichtigen Elemente der Theophrastschen mann“ als personalisierte Weltklugheit8 , Menschenbeobachtung: Personalisierung, der sich durch die Haltung der „sprezza- negative Anthropologie, Erzählrahmen und tura“, des lässig-distanzierten souveränen urbaner Kontext finden sich nun in den Auftretens auszeichnet. Gracian bezeich- Essays, Aphorismen, allegorischen Roma- net seine Weltklugheitslehre als „filosofia nen und Porträtskizzen der Moralisten cortesana“, als „höfische Philosophie“ wieder. und entwickelt aus der Beobachtung höfi- Theophrasts negative Anthropologie wird schen Verhaltens sein Ideal des „discre- in der italienischen Rennaisance in der to“, des „klugen Weltmanns“9 . In der

100 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 französischen Moralistik wird dieses Ide- achteten Panoramas als auch durch die al im „honnête homme“ verkörpert10 , dem Vielfalt seiner literarischen Formen als vielseitig gebildeten, gleichzeitig mit Sou- Synthese und Höhepunkt der klassischen veränität und Distanz auftretenden Welt- französischen Moralistik gelesen werden mann, dessen sozialer Takt und Urteilsfä- kann: Jean de la Bruyères Les Caractères higkeit nur in der Schule des Versailler von 1688. La Bruyère übernahm nicht nur Hofes erworben werden kann. Dem ent- Theophrasts Titel, sondern er begann auch spricht in der englischen Moralistik der sein Buch als Übersetzung Theophrasts, „gentleman“, aber auch der „wit“, der sei- ein Unternehmen, das sich schließlich ne soziale Kompetenz als rhetorische durch eigene Beobachtungen und Zusät- Kunstfertigkeit inszeniert. Die aristoteli- ze auf das Zehnfache des ursprünglichen sche Phrónesis hatte sich somit in eine Umfangs vergrößerte, bis diese Zusätze souveräne Weltläufigkeit entwickelt, sei es schließlich die Übersetzung in den Hin- als „sprezzatura“ bei Castiglione, als „arte tergrund gedrängt hatten und in den mei- de prudencia“ bei Gracian oder als „hon- sten Ausgaben der Caractères weggelas- nêteté“ in der Gesellschaft des französi- sen wurden. schen Absolutismus. Diese Neudefinition Auch wenn La Bruyère reklamiert, die Sit- von Weltklugheit umfasst u.a. jene breite, ten seines eigenen Jahrhunderts beschrei- für die neuzeitliche Moralistik charakteri- ben zu wollen, so können auch seine stische Diskussion um „Höflichkeit“ als „Charaktere“, wie die des Theophrast, eines Normensystems sozialer Angemes- mit Recht beanspruchen, zeitübergreifen- senheit, die sich bis in Verhaltenvorschriften de menschliche Schwächen in zeitgebun- für Tischmanieren ausweitet11. denem Kostüm zu präsentieren. In seiner dem Buch vorgeschalteten „Rede über IV. Theophrast“ macht er die anthropologi- schen Konstanten deutlich, die seine Be- Doch es entwickelt sich auch eine sehr obachtungen mit denen des Theophrast viel direktere Nachfolge der Charaktere. verbinden: In England äußert sich dies in Form der „Nun waren die Menschen, deren Sitten so genannten „character-books“, von de- Theophrast in seinen Charakteren malt, nen allein bis Ende des 17. Jahrhunderts Athener, und wir sind Franzosen; und über 200 erscheinen12 und die das Erbe wenn wir zu der Verschiedenheit der Ge- des Theophrast mit der Tradition der pu- genden und des Klimas den langen Zwi- ritanischen „conduct-books“13 verbinden. schenraum der Zeiten hinzufügen, und Charakterporträts finden sich z.B. in Jo- wenn wir bedenken, dass dieses Buch im seph Halls Characters of Virtues and letzten Jahre der 115. Olympiade, 314 Jah- Vices (1608), in den 1614 erschienenen re vor der christlichen Zeitrechnung hat Characters von John Overbury oder in geschrieben werden können, und dass fast Robert Burtons berühmter Anatomy of 2000 Jahre vollendet sind, seit dieses Volk Melancholy von 1621. von Athen, das er schildert, lebte, so wer- Ihren Höhepunkt erreicht diese Gattung den wir von Bewunderung ergriffen, in- allerdings in Frankreich, in einem Werk, dem wir uns selbst, unsere Freunde, un- das sowohl durch die Breite des beob- sere Feinde, unsere ganze Umgebung dar-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 101 in erkennen, und indem wir sehen, dass cauld. Erst in späteren Ausgaben greift er, diese Ähnlichkeit mit Menschen, die angeregt durch die englischen „character- durch so viele Jahrhunderte von uns ge- writers“ und durch Formen der Porträt- trennt sind, so vollkommen ist. In der Tat, zeichnungen der französischen Literatur die Menschen haben sich nicht geändert, des 17. Jahrhunderts15 , auf die Typisie- wenn man ihr Herz und ihre Leidenschaf- rungen Theophrasts zurück und entwi- ten ins Auge fasst, sie sind noch so, wie ckelt seine eigene Form der Charakter- sie damals waren und wie sie im Theo- typisierung in Form von Porträtskizzen. phrast festgehalten sind: eitel, heuchle- Der Unterschied zwischen den Porträts La risch, schmeichelnd, interessiert, scham- Bruyères und den Charakteren Theo- los, aufdringlich, misstrauisch, boshaft, phrasts liegt dabei vornehmlich in der zänkisch, abergläubisch.“14 weiterentwickelten Individualisierung. La Bruyères Porträtskizzen kommen ohne La Bruyère steht ganz auf dem Boden des Definition aus, sie tragen individuelle (in peripatetischen Programms. In Anlehnung Hommage an Theophrast häufig griechi- an Theophrast wird Weltklugheit vor al- sche) Namen und werden erzählerisch so lem am unendlichen Panorama menschli- detailliert ausgestaltet, dass sich Zeitge- cher Schwächen und Lächerlichkeiten nossen wiedererkennen konnten und Schlüs- deutlich. Es geht um Tugenden und Un- sel zur Entzifferung im Umlauf waren. tugenden aus dem Bereich des Ethos, um Entsprechend übersteigt die Anzahl sei- die kluge Kanalisierung von „Herz und ner Charaktere um ein Vielfaches die des Leidenschaften“, gewonnen durch Beob- Theophrast. achtung in einem urbanen Umfeld. Es sind Dennoch handelt es sich immer noch um Beobachtungen, die für jede Reflexion Charaktere im Sinne von Typen, deren über kluge Lebensführung relevant sind, Quelle in gesellschaftlichen Verhaltensmu- weil sich „die Menschen nicht geändert stern liegt und die in ähnlicher und z.T. haben.“ Dass die Herzenstugenden und identischer Gestalt in der zeitgenössischen Herzensuntugenden tiefer in die Natur rei- französischen Literatur auffindbar sind. chen als die Vermögen des Verstandes, Nicht zufällig haben die Porträts La Bruy- war zudem eine seit Pascal in der franzö- ères viele Gemeinsamkeiten mit Komö- sischen Moralistik allgemein akzeptierte dienfiguren Molières, ohne sie jedoch zu Ansicht. imitieren. So bezieht sich La Bruyère in La Bruyère ist jedoch kein reiner Nachah- dem Porträt des „Onuphre“ auf Molières mer Theophrasts. Dessen Schrift ist ihm „Tartuffe“ und setzt sich mit diesem kri- vielmehr Folie einer schöpferischen Wei- tisch auseinander16: terentwicklung. Bereits La Bruyères Über- „Onuphre benutzt in seinem Bett nur eine setzung aus dem Griechischen weist viele graue Kammgarndecke, aber er schläft auf Eigenwilligkeiten auf und ist mit einer phi- Baumwolle und Daunen; so ist er auch lologisch korrekten Übersetzung im heu- einfach gekleidet, und doch bequem, also tigen Sinne nicht zu vergleichen. Auch die mit einem sehr leichten Stoff im Sommer, aphoristischen Zusätze der ersten Aufla- und einem anderen sehr molligen im Win- ge orientieren sich weniger an Theophrast ter. Er trägt Hemden aus feinstem Materi- als vielmehr an Pascal und La Rochefou- al, die zu verbergen er sich große Mühe

102 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 gibt. Er sagt keinesfalls: „Mein härenes Onuphre ist der ideologische Heuchler, der Gewand und meine Geißel!“ im Gegen- Wein aus Wassergläsern trinkt und dem teil; dann würde er für das gelten, was er wir in allen Zeiten und in allen Gesellschaf- ist, nämlich einen Heuchler, und er will ten begegnen. doch für das gelten, was er nicht ist, ei- Anders als Theophrast entwirft La Bruyère nen frommen Mann; allerdings ist es wahr, auch weibliche Porträts, der wachsenden dass er, ohne es direkt zu sagen, den An- Rolle der Frau in der höfischen Gesell- schein erweckt, er trage ein härenes Ge- schaft des Absolutismus entsprechend. wand und traktiere sich mit der Geißel ... Frauen führten die großen Salons, präg- Onuphre ist nicht fromm, aber er will glau- ten die Konversationskultur und standen ben machen, dass er es sei, und durch im Mittelpunkt des Gesellschaftsspiels der eine perfekte, wenn auch falsche Nachah- Galanterie. Mit der Kokotte prägten sie mung der Frömmigkeit unauffällig seine einen klassisch weiblichen Charakter. Ent- Interessen verfolgen ...“17 sprechend nehmen die Formen weiblicher Sensibilität und sozialer Strategien bei al- Dieses über drei Seiten ausgebreitete Por- len französischen Moralisten einen großen trät schildert die Figur des falschen From- Raum ein. Aber auch hier steht die Eigen- men, des „Devoten“, die als zeitgenössi- liebe Pate für eine ganze Reihe sozialer sche Modeerscheinung Teil des Alltagsle- Untugenden. So ist der Charakter der „Ar- bens der höheren Stände im Paris des 17. gyre“ ein Beispiel für eitle Selbstinsze- Jahrhundert war – weswegen La Bruyère nierung: sie auch im Kapitel „Von der Mode“ be- „Argyre zieht ihren Handschuh aus, um handelt. Deshalb ist auch der durch das ihre schöne Hand zu zeigen und versäumt Zitat aus Tartuffe („Mein härenes Gewand es dabei nicht, ihren kleinen Schuh zu ent- und meine Geißel!“ – „Ma haire et ma hüllen, der vermuten lässt, sie habe einen discipline“18) hergestellte Bezug zu Mo- kleinen Fuß; sie lacht sowohl über amü- lière nicht zufällig: Der Komödie wie der sante als auch über ernsthafte Dinge, um moralistischen Literatur in der Tradition ihre schönen Zähne sehen zu lassen; wenn des Theophrast geht es darum, die mensch- sie ihr Ohr zeigt, so deshalb, weil es so liche Natur, am Beispiel der eigenen er- schön geformt ist; und wenn sie niemals lebten Welt, von ihren Schwächen her zu tanzt, so deswegen, weil sie mit ihrer et- zeichnen. Molières Tartuffe ist La Bruyère was breiten Taille nicht zufrieden ist. Sie allerdings nicht scharfkantig genug: Er will weiß immer, was in ihrem Interesse ist, den Devoten als Mann mit strategischer mit einer einzigen Ausnahme: sie redet un- Konsequenz, als „Charakter“ mit ideal- unterbrochen und das ohne jeden Es- typischen Eigenschaften zeichnen. prit.“19 Genau deshalb bleibt Onuphre auch im- mer unser eigener Zeitgenosse: Hinter der Was La Bruyère uns wie Theophrast vor- Maske der falschen Frömmigkeit agiert die führt, ist jenes Panorama, dessen Kennt- Eigenliebe und der Eigennutz, jene „Eigen- nis derjenige erwerben muss, der An- liebe“, die für La Rochefoucauld der spruch auf „Weltläufigkeit“ erhebt: das Grundantrieb menschlichen Handelns und Panorama der Eigennützigen, Selbstver- das Ziel der moralistischen Entlarvung war. liebten und Heuchler, denen niemand aus-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 103 weichen kann und gegen die nur eine klu- La Bruyère machte die literarische Form ge Selbstbehauptungsstrategie hilft. Eine der Charaktere wieder salonfähig. War er der zentralen und immer wieder diskutier- selbst von den englischen „character-wri- ten Techniken der Weltläufigkeit, die Höf- ters“ mit inspiriert worden, so wirkte nun lichkeit, dient genau dazu, Kommunikati- sein Einfluss wieder auf England zurück. on zu ermöglichen, ohne in die Täuschungs- Einen maßgeblichen Anteil daran hatte fallen zu tappen und ohne die eigenen Kar- Abel Boyer, ein 1664 in Frankreich gebo- ten auf den Tisch legen zu müssen. rener Hugenotte, der 1689, im Jahr der La Bruyère lebt in einer Gesellschaft, in „Glorreichen Revolution“ und ein Jahr der der absolutistische Hof seinen größ- nach Erscheinen der Caractères La Bruy- ten Einfluss entfaltet und nicht nur die ères nach England übersiedelte. Dort be- staatlichen Machtfunktionen, sondern gann er sehr schnell, in der moralistischen auch die Etikette, die gesellschaftlichen Szene seines Gastlandes eine zentrale Umgangsformen zentralisiert hat. Der Ver- Rolle zu spielen. Die englische Moralistik sailler Hof wird zur Schule der Welt- war schon viel früher weniger höfisch, läufigkeit („honnêteté), deren Normen aber sondern weitaus mehr städtisch geprägt ebenso vom städtischen Bürgertum („la und erhielt ihre literarischen Inspirationen ville“) übernommen werden. Der „honnête aus den zahlreichen neu gegründeten Kaf- homme“, der Mann von Welt, verbindet feehäusern Londons. Hier entstanden die das taktische Geschick eines „habile hom- berühmten, von Joseph Addison und Ri- me“ mit einem werteorientierten Verhal- chard Steele herausgegebenen moralisti- ten20, zu dem u.a. Takt, Höflichkeit und schen Wochenschriften wie The Tatler, „esprit de finesse“, ein praktisch-ästheti- The Spectator oder The Guardian, die scher Feinsinn gehören. In seiner Fähig- zahlreiche Charakterporträts enthielten. keit, die Souveränität über die eigene Le- Boyer vereinigte die moralistischen Ein- bensgestaltung hinter einem Netz kunst- flüsse aus Frankreich und England in ei- voll orchestrierter Sozialbeziehungen zu nem Werk, das 1695 unter dem Titel Cha- bewahren, wird er zu einem frühen Re- racters of the Virtues and Vices of the präsentanten einer Urbanität, wie sie sich Age, und 1702 schließlich, erheblich er- später in modernen Großstädten auspräg- weitert, als The English te21. In der Unterscheidung zwischen dem Or: The Manners of the Age. Being the „honnête homme“, dem Mann von Welt, Modern Characters of the Court, the und dem „homme de bien“, dem mora- Town and the City erschien. lisch guten Menschen, macht La Bruyère Wie bei La Bruyère ging es um die kriti- fast ein Jahrhundert vor Kant allerdings sche Beobachtung menschlichen Sozial- klar, dass es zwischen weltklugem und verhaltens in den urbanen Zentren der zeit- moralischem Handeln einen nicht überseh- genössischen Gesellschaft. Will’s Coffee- baren Unterschied gibt22. Beide orientie- house in der Londoner City, wo sich vie- ren sich an Werten und Tugenden: Doch le Vertreter der neuen intellektuellen Schi- die Tugenden des Weltklugen unterstehen ckeria, der „Wits“ und Möchtegern-Wits“ dem strategischen Ziel der Selbstbehaup- versammelten, steht dabei besonders oft tung und sind nicht mit denen der morali- im Zentrum. Wie La Bruyère versteckt schen Integrität identisch. auch Boyer seine Charakterporträts hin-

104 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 ter antikisierenden Namen. Doch im Ge- nung vollends in den Ruf eines vorwis- gensatz zu seinem französischen Vorbild senschaftlichen Relikts. Die akademischen ist Der englische Theophrast vor allem Anthropologen betrachten die Charakter- eine eindrucksvolle kompilatorische Lei- typologie wie die Ärztekammer die etwas stung und keine Weiterentwicklung des zweifelhafte Kunst des Schamanen und Genres: Zahlreiche Passagen seines Bu- Medizinmanns. So konnte man scheinbar ches sind von anderen Autoren, u.a. auch nur noch als Außenseiter, die wissen- von La Bruyère selbst, geborgt. schaftliche Anthropologie und Psycholo- Die Gattung selbst erschöpfte sich in den gie schräg unterlaufend, sich auf die Theo- folgenden Jahrzehnten aus mehreren phrastsche Tradition beziehen. Genau dies Gründen: Die Kunst des literarischen Por- unternahm im 20. Jahrhundert Elias Canetti träts in moralistischer Absicht wanderte mit den 50 Charakteren seines Ohrenzeu- in andere Gattungen ab, so in den im 18. gen, aber auch mit den zahlreichen Cha- Jahrhundert in Europa entstehenden Ro- rakterskizzen, die sich besonders in sei- man. Zum anderen nahm der Charakter- nen mehrbändigen Aufzeichnungen finden begriff in der Philosophie zunehmend die und die den Charakteren Theophrasts zu- Bedeutung der moralischen Identität an, weilen sogar formal näher stehen als die nachdem Kant mit der Abgrenzung zwi- im Ohrenzeugen enthaltenen. Die meisten schen hypothetischen Imperativen und dieser, zuweilen surreal anmutenden Figu- kategorischem Imperativ Weltklugheit und ren wie die „Bitterwicklerin“, die „Pferde- Moralität voneinander geschieden und er- dunkle“ oder der „Papiersäufer“, zeich- stere aus der Ethik hinausgedrängt hatte. nen menschliche Verhaltensdispositionen In dem Werk Kants, das thematisch der von extremen Rändern her; nur wenige wie moralistischen Tradition am nächsten der „Hinterbringer“, der „Gottprotz“ oder steht, nämlich in seiner Anthropologie in der „Selbst-Hasser“ streifen den von pragmatischer Hinsicht von 1798, bedeu- Theophrast vorgezeichneten Bereich der tet „Charakter haben“, „diejenige Eigen- sozialen Untugenden. So ist der „Selbst- schaft des Willens, nach welcher das Sub- Hasser“24 der notorische Glücksverhin- jekt sich selbst an bestimmte praktische derer, der nicht nur kein Selbst gefunden Prinzipien bindet, die es sich durch seine hat, mit dem er sich in Einklang befindet, eigene Vernunft unabänderlich vorge- sondern der jede Art der Selbstfindung schrieben hat“.23 „Charakter“ als morali- systematisch destruiert. scher Charakter wird zum Merkmal der Canettis Skizzen sind im Unterschied zu menschlichen Vernunftnatur und der durch denen Theophrasts nicht am sozialen, sie möglichen Autonomie. Der „Charak- sondern am psychologischen Verhalten ter“ überlagert die Vielfalt der „Charakte- orientiert und scheinen weniger der Be- re“. obachtung, als vielmehr einer imaginativ inspirierten Konstruktion entwachsen. V. Deshalb wird das Erbe des Theophrast hier nur partiell aufgenommen. Was Canet- Im Zeitalter der Anthropologie und Psy- tis Charakteren fehlt, ist der soziale Kon- chologie als empirischer Wissenschaften text der Figuren, der öffentliche und ur- geriet die moralistische Charakterzeich- bane Raum der Interaktion. In Canettis

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 105 Charakterskizzen gibt es keine Alltags- aristotelische Begriff der Phrónesis be- begegnung im Cafe, im Theater oder an zeichnet und die es uns als Weltklugheit der Straßenecke. Es gibt, mit anderen ermöglicht, unsere sozialen Beziehungen Worten, keinen Raum für jene soziale Tu- im Interesse eines gelingenden Lebens zu genden oder Tugenden, an deren Beschrei- gestalten. bung sich die peripatetische Phrónesis Die Kunst der Charakterskizzen in der oder deren moralistische Folgekonzepte Tradition des Theophrast stattet uns mit exemplifizieren könnte. Canettis Charak- einem Taschenkompass aus, der uns in tere mögen in einzelnen Skizzen das The- der Beurteilung unserer sozialen Umwelt ma der Selbstverwirklichung berühren, die richtige Richtung anzeigt. In den „Cha- doch den Bereich der Weltklugheit betre- rakteren“ sind unmittelbare Erfahrung und ten sie nicht. Beobachtung des Menschen so kristalli- Dass die Tradition der Charakterzeichnung siert und sortiert, dass sie eine unmittel- dennoch einen Platz innerhalb der Philo- bare strategische Verhaltensorientierung sophie der Lebenskunst beanspruchen ermöglichen. Theophrasts negative An- kann, ergibt sich aus ihrer Erfahrungsnähe, thropologie bewahrt uns vor einer illusio- vor allem aber aus ihrer Handhabbarkeit nären Lebensführung und befreit uns von für eine praktische Lebensorientierung. den Naivitäten des Gutmenschen, der Der Weltkluge reist auf dem Weg zur glaubt, wir könnten unser Glück in der Selbstfindung nicht mit den großen Kof- ungehinderten Entwicklung unserer Kräf- fern der anthropologischen Theoriebil- te und der Harmonie mit der Umwelt er- dung, sondern mit dem Handgepäck der reichen. Theophrast, wie die gesamte mo- moralistischen Menschenbeobachtung. ralistische Tradition nach ihm, lehrt uns Derjenige, der wissen will, mit wem er es eine zugleich skeptische und pragmatische zu tun hat, wenn er sein Glück in der Welt Haltung gegenüber dem Menschen. Nie- sucht, kann zu diesem Zweck nicht im- mand hält das Nest des Glücks für uns mer wissenschaftliche Anthropologie be- bereit, wenn wir es nicht mit strategischem treiben. Er kann jedoch eine Menschen- Geschick im Interesse der Selbstbehaup- kenntnis erwerben, die sich, wie Wilhelm tung selbst aufspüren. Jedes Leben rennt Schmid es formuliert hat, „auf die erfahr- gegen die Hindernisse an, die die soziale baren Regelmäßigkeiten des historisch ge- Umwelt bereit hält. Gefordert sind des- wachsenen Menschseins in einer bestimm- halb Techniken zur Entzifferung der so- ten Kultur“25 stützt. Genau dies ist es, was zialen Welt, die Fähigkeit, die Fassade des in der moralistischen Literatur als „Welt“ Scheins zu durchschauen und sich selbst im Sinne des sozial erfahrbaren Mitein- den Strategien der anderen zu entziehen. anders bezeichnet wurde. Der Einzelne ist Genau deshalb ist es wichtig, den „Cha- aufgefordert, in diesem Sinne Akteur und rakter“ seines Gegenüber zu durchschau- Betrachter zugleich zu sein, zu leben und en. den Beobachterposten zu beziehen, um Dabei sind die kulturellen Differenzen zwi- den Menschen, sein Verhalten und die so- schen dem Athen Theophrasts, dem Pa- zialen Spielregeln kennen zu lernen. Was ris La Bruyères und unserer eigenen Le- dabei erworben wird, ist eben jene richti- benswelt, was menschliches Sozialverhal- ge Einschätzung der Umstände, die der ten angeht, erstaunlich gering. „Rüpel“ und

106 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 „Schwätzer“ begegnen uns – gerade in 5 Vgl. Peter Steinmetz, „ Nachwort“, in Theophrast, einer mediatisierten Welt, täglich. Theo- Charaktere, Griechisch und Deutsch. Übers. und phrasts und La Bruyères Typen „decken hrsg. von Dietrich Klose, Stuttgart 1981, S.99: „In dieser ihrer Art gewähren die Charaktere wie kaum sich“, wie man sagt, mit unseren Beob- ein zweite Buch der Antike einen Einblick in das achtungen dabei nicht nur deswegen, weil Leben und Treiben der bürgerlichen Gesellschaft im es in der Welt immer Heuchler, Schwät- Athen des Frühhellenismus.“ zer und Geizige geben wird. Sie bedienen 6 Theophrast (1981), S. 73. eine auch uns im Alltag vertraute Wahrneh- 7 Vgl. dazu R. Zimmer, Die europäischen Morali- mungsweise. Ist es denn nicht so, dass sten zur Einführung, Hamburg 1999, S. 19ff. 8 Vgl. Baldassare Castiglione, Das Buch vom Hof- auch wir unsere soziale Welt mit „Cha- mann, München 1986. rakteren“ bevölkern, den Kollegen als 9 Baltasar Gracian, Der Kluge Weltmann (El „Prahler“ oder als Verkörperung der Ei- Discreto), übers. Von Sebastian Neumeister, Frank- telkeit wahrnehmen? Unsere Beurteilung furt/M. 1996. der menschlichen Umwelt bedient sich seit 10 Vgl. R. Zimmer (1998), S. 86ff. 11 jeher, mehr als uns bewusst ist, der Cha- Vgl. z.B. Giovanni Della Casa , Der Galateo. Traktat über die guten Sitten. Herausgegeben und raktertypologie, die im übrigen unendlich übersetzt von Michael Rumpf, Heidelberg 1988. erweiterbar ist. Unsere eigene Welt ist nicht 12 Vgl. G. Murphy, A Bibliography of English nur voller alter, sondern auch voller neuer Character-Books 1608-1700, Oxford 1925. „Charaktere“, sei es der „Macho“, der 13 Vgl. Hans Peter Balmer, Philosophie der „Blender“ oder der „Warmduscher“. Theo- menschlichen Dinge. Die europäische Moralistik. phrast liefert uns nicht nur die allseits be- Bern/München 1981, S. 72f. 14 La Bruyère, Charaktere, übersetzt und eingelei- kannten und immer wieder erfahrenen Ty- tet von Otto Flake, Wiesbaden 1979, S.17f. (Neu- pen, er kann auch als Anregung dienen, auflage dieser Übersetzung: Insel: Frankfurt/M. diesen Kosmos der Charaktere mit unse- 2007) ren eigenen Beobachtungen zu erweitern. 15 Vgl. Margot Kruse, „Die französischen Morali- Als Kompass im Dschungel strategischer sten des 17. Jahrhunderts“, in A. Buck (Hg.), Neu- Interaktion hätte ein neuer Theophrast in- es Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 10. 2.Teil, Frankfurt 1972, S. 291. nerhalb der Philosophie der Lebenskunst 16 Vgl, dazu auch Erich Auerbach, « Der Schein- durchaus einen sinnvollen Platz. heilige », in : ders. Mimesis. Dargestellte Wirklich- keit in der abendländischen Literatur, Bern, 8.Aufl. 1988, S. 343-370. Anmerkungen: 17 La Bruyère, Les Caractères, De la mode, 24, 1 Der Begriff wurde von Michel Foucault populär Übersetzung v. Verf. gemacht. Siehe u.a. M. Foucault, Ästhetik der 18 Vgl. Molière, Le Tartuffe, Acte III, Scène 2 : Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt/ « Laurent, serrez ma haire et ma discipline » M. 2007. 19 La Bruyère, Les Caractères, De l’homme, 83, 2 Martin Seel, Versuch über die Form des Glücks, Übers. vom Verf. Frankfurt/M. 1999, S.150. 20 Vgl. dazu La Bruyère, Les Caractères, Des 3 Vgl. Seel (1999), S. 151ff. Jugements, 55. 4 Diese Übersetzung wählt z.B. Hans-Georg Ga- 21 Vgl. dazu Georg Simmel, Die Großstädte und damer, um zu betonen, dass es sich nicht nur um das Geistesleben, Frankfurt/M. 2006. eine Form der Geschicklichkeit, sondern um eine 22 Vgl. La Bruyère, Les Caractères, Des Jugements, lebensprägende Haltung geht. Siehe dazu Hans- 55. Georg Gadamer, „Einleitung“, in: Aristoteles, Niko- 23 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmati- machische Ethik VI, Frankfurt/M. 1998. scher Hinsicht, Stuttgart 1983, S. 241.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 107 24 Vgl. Elias Canetti, Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972, Frankfurt/M. 16.Aufl. 2003, S.144. 25 Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt/M. 1998, S. 82.

Über den Autor: Dr. Robert Zimmer, lebt als freier Autor in Berlin und ist Verfasser mehrerer phi- losophischer Bücher, darunter Die euro- päischen Moralisten zur Einführung (1999), Karl Popper (2002, zus. mit M. Morgenstern), Das Philosophenportal (2004) und Das Neue Philosophenportal (2007). Er ist Mitherausgeber des Brief- wechsels zwischen Hans Albert und Karl Popper (2005).

108 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Dr. Michael Rumpf (Grünstadt/Pfalz) Der Fürst de Ligne als Moralist Erwägungen über Dankbarkeit

I ches La Rochefoucauld und dem Fürsten de Ligne vorschwebt.2 Das Selbstver- Der Begriff der Moralistik, so eingebür- ständnis geht eindeutig über bloßes Regi- gert er ist, wird gerne als Abwehr von strieren hinaus: Wir Moralisten sind nur Vorstellungen konturiert, die ihn mit dem so viel wert wie unsere Leser. Wir gehö- Predigen von Moral in Verbindung brin- ren einem Beruf an, der zwischen der gen: Der Moralist hält den Spiegel vor, Amme und der Erzieherin steht, und den ohne dem Gesicht, welches hineinschaut, man meines Wissens Kindermädchen durch Wölbungen ein Zerrbild zurückzu- nennt. Diese sind oft ebenso töricht wie werfen. Er schildert Sitten, schreibt sie jene, die sie am Gängelband führen. nicht vor. Wiederzugeben, was Voltaire les Dennoch möchte man das Menschenge- moeurs du siècle nannte, gilt als wesentli- schlecht, das wie ein großes Kind ist, che Intention der europäischen Denk- und gerne ans Gängelband nehmen, um zu Literaturbewegung, deren Höhepunkt in verhindern, dass es hinfällt, sich ver- der französischen Tradition von Mon- brennt, vor allem, dass es weint, schreit, taigne bis La Bruyère liegt. Dabei formu- alles an sich reißt und kaputt macht.3 liert der Gegensatz Wiedergeben – Vor- geben die moderne Bevorzugung des wis- Dass die französischen Moralisten gleich- senschaftlichen Zugriffs vor dem nor- wohl eher als Schilderer der Sitten ange- mativen, die sich, so erhellend sie sein sehen werden, erklärt sich unter anderem kann, nicht streng durchhalten lässt.1 Das aus dem fehlenden utopischen Impuls. interesselose Wiedergeben dessen, was Ihre Mahnungen kennen keinen endzeitli- geschieht, also der Zeitgenossenschaft, chen Maßstab, Skepsis grundiert sie und rief – wie Rankes Geschichtsschreibung die Ahnung, dass sich der Mensch nicht sine ira et studio oder Kant interesselo- ändern wird. Und die Welt auch nicht: Jede ses ästhetisches Wohlgefallen – berechtig- Lösung eines Problems wirft ein neues te Kritik wach. Das menschliche Gehirn auf, jede Verbesserung erhöht die Unzu- bewertet ständig, eine Trennung von Ge- friedenheit. Auf den Hängen zwischen den danken und Gefühlen ist ihm unmöglich, Gipfeln des Ideals und dem Tal der Wirk- da es, evolutionär gesehen, als Organ des lichkeit siedeln die Enttäuschungen. Ihrer Überlebens eine Funktion zu erfüllen hat, Mittellage entspricht der mittlere Tonfall für die Werte und Bedürfnisse verwandt der Moralisten, die selten pathetisch prei- sind wie Abendstern und Morgenstern. sen, selten emphatisch verdammen. Es Moralisten stellen die beobachteten menschli- steckt etwas von der – je nach Einstel- chen Verhaltensweisen nicht nur dar, sie lung als Resignation oder Realismus be- kritisieren, messen, wie es jede Kritik tut, trachteten – Weisheit in ihnen, das Leben an einem Ideal, zum Beispiel an dem des zu nehmen, wie es ist. Wird doch selbst universal gebildeten honnête homme, wel- der Tod entschrecklicht, indem man ihn

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 109 als Teil des Lebens anerkennt. Was dazu- aber seine Herkunft und sein ständiger Um- gehört, darf nicht ausgegrenzt werden. gang mit den Großen des 18. Jahrhunderts, Damit ist die französische Moralistik ein die Vielzahl seiner Bewunderer und Gönner Teil der Säkularisierungsbewegung, die bescherten ihm ein abwechslungsreiches Europa in die Moderne führte, ohne der und angesehenes Leben. Nach eigenem chiliastischen Energien Herr zu bleiben, die Urteil der glücklichste Mensch seiner Epo- sie vom Himmel auf die Erde umgelenkt che,6 war de Ligne sich bewusst, sein hat. Während die Lehren vom neuen Men- europaweites Renommee nicht nur kraft schen,4 ob nationalistisch, kommunistisch seiner Begabungen erreicht zu haben. So oder esoterisch, gleich Sternschnuppen kommentiert er seinen Ruf als Schriftstel- verglüht sind, glänzt die in den Salons er- ler: „Vielen komme ich weder eindeutig, zogene Literatur in der Dialektik und Dia- noch angenehm zu lesen, noch tiefsin- logik ihrer zeitlosen Zeitbezogenheit fort. nig vor. Wäre ich es, dann dank der Län- Ihr ist der Rat fremd, das Unmögliche der und der Leute, in denen und mit de- müsse versucht werden, um das Mögli- nen ich den Großteil meines Lebens ver- che zu erreichen, ein Rat, dessen Über- bracht habe.“ Obwohl er die Rolle der zeugungskraft in jeder Konkretion entkräf- Persönlichkeit betont und das Individu- tet wird: Soll man die Quadratur des Krei- um nie auf ein Milieu reduziert,7 definiert ses zur Voraussetzung dafür erheben, sei- er sich über seine Zugehörigkeit zum Adel nen Umfang berechnen zu können? Oder und seine Treue zur österreichischen Mon- das Ausschöpfen des Ozeans mit einem archie und stellt die eigene Bedeutung in Löffel zur Bedingung dafür, ein Gezeiten- seinen Memoiren nie in den Vordergrund. kraftwerk zu bauen? Oder die Selbster- Beiden Traditionsmächten gegenüber durch- schaffung zur Prämisse der Autonomie? aus zur Kritik fähig, blieb de Ligne ein er- Der Fürst de Ligne kannte den Vorbehalt, bitterter Gegner der französischen Revo- dass der Mensch zwar vielleicht seines lution. Charakteristisch seine Bemerkung: Glückes Schmied sein mag, die Schmie- „Die großen Genies (man nennt sie, mei- de jedoch nicht von ihm gebaut wird. nes Wissens, Philosophen) verleumdeten, nachdem sie über Gott, den sie gar nicht II kennen, gelästert hatten, die Herrscher, die sie genauso wenig kannten. Zwei Wer sich mit de Lignes Biographie befasst, Möglichkeiten gibt es, sie dafür zu be- stellt schnell fest, dass der „frohste Mann strafen. Die eine besteht darin, sie nicht des Jahrhunderts“, wie Goethe den Für- zu bestrafen, denn sie sind verrückt ge- sten nannte, vom Schicksal in jeder Hin- nug, aus einem Unheil Ruhm gewinnen sicht begünstigt wurde. Zwar grämte er zu wollen. Die andere besteht darin, die sich zeit seines Lebens, keine historischen Pressefreiheit zu verbieten. Besser aber militärischen Siege errungen zu haben, die wäre es, wenn die Regierungen Autoren er, der den Tag, als er das erste Mal eine in Diensten hätten, die alle selbsternann- Uniform trug, als den schönsten seines ten Retter des Menschengeschlechts, die, Lebens bezeichnete, bereits als Kind er- indem sie das sogenannte Allgemein- träumte; und er musste es erleben, dass wohl predigen, nur ihren Vorteil suchen, sein geliebter Sohn 1792 im Kampf fiel,5 widerlegen und lächerlich machen.“

110 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Dem Umgang mit den Mächtigen seiner nen Bereichen in Kraft, „wo das Aequiva- Zeit verdankte er Vorteile, die ihm seine lent für die Hingabe nicht erzwungen wer- Tapferkeit im Felde ebenso wenig einge- den kann.“10 Sie ist ein personaler Affekt bracht hätten wie sein Esprit, der ihn zum und senkt sich tief in die Seelen ein, was idealen Zeitvertreiber an den Höfen der Biographie und Erfahrung des Fürsten de Epoche machte. Seine militärische Kar- Ligne bestätigen: Oft genug fügten sich riere förderte der österreichische Marschall die Fäden von Freundschaften, Loyalitä- Lacy, seine literarische Madame de Staël, ten, Liebschaften, Gesprächs- und Brief- die 1809 mit einer Auswahl seiner Schrif- wechseln in ein Gewebe wechselseitiger ten unter dem Titel „Lettres et pensées du Dankbarkeit. De Ligne war, obwohl er den maréchal prince de Ligne“ zu seinem Ruhm Rückzug in seinen Garten liebte, ein mon- beitrug.8 Katharina die Große, die ihn sehr däner Gesellschaftsmensch, für den das schätzte, gewährte ihm in Notzeiten be- Glück und die Kunst des Lebens das Zu- deutende finanzielle Hilfen, Kaiser Leo- sammenleben ist. Eine Theorie des So- pold II, der 1808 auf den Rat hochrangi- zialen, wie Simmel sie entwickelt hat, fin- ger Fürsprecher hörte, die lang ersehnte det sich beim Fürsten, dem systematisches Ernennung zum Feldmarschall, vertraute Denken fremd blieb, so wenig wie eine ihm aber keine wichtige Position im Kampf der Dankbarkeit. Seine Gedanken stimmen gegen Napoleon an. Dennoch hat der Fürst – zumal in der Überzeugung, dass Dank- de Ligne in melancholischer Stimmung barkeit ein natürliches Gefühl sei – mit geäußert, er habe niemanden gefunden, denen Rousseaus überein,11 wie er selbst dem er wirklich Dank schulde.9 Vielleicht betont hat, und berühren sich in ihrem Rea- ein Grund dafür, dass er – im Alter fromm lismus mit denen anderer französischer und frömmer werdend – in den letzten Sät- Moralisten.12 Charakteristisch folgendes zen seiner „Fragments de l´historie de ma Fragment: Ich habe – wie ich annehme vie“, Gott für die Gnade eines solchen – schon hundertmal gesagt, dass ich Un- Lebens dankt. Ihn als Schöpfer anerken- dankbarkeit für ungeheuerlich halte. nend, weiß er sich ihm gegenüber in einer Dennoch sollte man um die Erlaubnis unaufhebbaren kreatürlichen Schuld. Auch bitten, jemand einen Gefallen zu tun, die Welt ist eine Kugel, in der Hand Got- denn Wohltaten, deren man sich nicht tes. Sie beschreibt nicht immer eine ge- versieht, aus der Hand eines Mannes, rade Bahn. Aber sie rollt und wird im- von dem man sie nicht erwartet, wirken mer rollen. wie körperliche Übergriffe. Man fühlt sich sein ganzes Leben lang verpflich- III tet, oft ohne die Möglichkeit, sich dank- bar zu erweisen, ja, oft einer Person ge- Georg Simmel hat die Dankbarkeit als Er- genüber, die man nicht schätzt. Gibt es gänzung des Rechtssystems analysiert: eine peinlichere Situation? Entweder Während dieses den wirtschaftlichen lässt man es an Dankbarkeit fehlen oder Tausch, das Geben und Nehmen, ohne an Wahrhaftigkeit. Aus Angst davor, un- welches keine Gesellschaft existieren dankbar zu sein, tun wir vielleicht vielen kann, mit Verpflichtungscharakter regelt, Unrecht. Man fühlt sich genötigt, Gutes tritt die Forderung der Dankbarkeit in je- über den aufdringlichen Wohltäter zu

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 111 sagen. Man wurde zum Narren gehal- die folgende Bemerkung: Gewöhnlich ist ten und wirkte dabei mit. Nie zeigt man keiner so verderbt, dass er nicht freudi- so viel Charakter, dass die Angst aus- gen Herzens dankbar ist. Doch sind wir bleibt, zu wenig Charakter zu zeigen. De derart bestrebt, Wohltaten abzuschwä- Lignes Sinn für soziale Asymmetrie, sei- chen, ihnen unterschiedlichste Beweg- ne Erfahrung mit dem menschlichen Min- gründe zu unterstellen und den Wohltä- derwertigkeitsgefühl, das denjenigen durch- tern ein Interesse daran nachzusagen, dringen kann, der dankbar sein muss, weil uns ihnen zu verpflichten, dass wir nach er einen Vorteil oder sein Wohlergehen der und nach undankbar werden, ohne es Großzügigkeit – und das heißt der Über- zu merken.“13 De Ligne argumentiert mit legenheit – eines anderen verdankt, las- der jederzeit möglichen Unterstellung, eine sen ihn den Rat formulieren, die Menschen altruistische Handlung sei durch persönli- nicht gedankenlos zu beglücken. Dass Un- che Vorteile motiviert und entspreche da- dank der Welten Lohn ist, muss nicht auf mit nicht der reinen Gesinnung, die allein die moralische Schwäche der Menschen sie im Lichte des Uneigennutzes glänzen zurückgeführt werden, es kann seine Ur- ließe, sondern werde durch das unausge- sache in der Beschaffenheit der Welt ha- sprochene Kalkül beeinträchtigt.14 Da Dank- ben. Definierte man als eine gerechte Welt barkeit sich nicht in Worten erschöpfen jene, in der alle Machtdifferenzen und Ein- darf und will, sondern sich in Taten be- flussunterschiede abgeschafft wären, fie- weist, also die Gelegenheit suchen wird, len in ihr die meisten Gründe für Dank- die Dankesschuld durch einen Gegenge- barkeit weg. Die Chancen, Dankbarkeit zu fallen, eine Gegenhilfe abzutragen, um die erregen oder zu erzeugen, das heißt, An- gegebene Ungleichheit wieder ins Lot zu lass zu ihr zu geben, sind seit jeher eben- bringen, kann es nützlich sein, Wohltaten so ungleichgewichtig zwischen den Ge- in der Absicht zu erweisen, in naher oder sellschaftsschichten, den Rangfolgen und ferner Zukunft auf Gegenleistungen rech- den biologischen Gegebenheiten verteilt, nen zu können. Der gewährte Vorteil wäre dass es eine Selbstschutzmaßnahme sein mit einer Investition zu vergleichen, deren kann, die Dankesschuld zu verdrängen. Profit das Risiko ausgleicht. Als Objekt Die äsopische Fabel von der Maus, die eines Kalküls ist der Mensch aber nicht den Löwen aus dem Netz befreit, und da- zu der Handlungsantwort verpflichtet, zu mit beweist, dass die Kleinen den Großen der ihn eine sittliche, folglich uneigennüt- nützlich sein können, tröstet mit der Aus- zige Tat verpflichten würde. Der ebenso nahme über die fatale Regel hinweg. De scharfsichtige wie tadelsüchtige Blick hin- Lignes Reflexion ist gleichermaßen von der ter die Kulissen einer Wohltat, den de Ligne Überzeugung geprägt, dass Dankbarkeit wirft, entlarvt den Egoismus in egoistischer eine Selbstverständlichkeit ist, wie von der Absicht: Wer überall niedrige Beweggrün- Beobachtung, welcher psychologische de vermutet, kann der eigenen Vorteils- Druck von ihrer Forderung ausgeht. Die- suche bedenkenlos folgen. Er setzt sich selbe Mischung aus Sittenlehre und See- allerdings der Kritik aus, der die französi- lenkunde, dieselbe Mischung aus morali- schen Moralisten in ihrer entlarvenden Psy- schem Appell und Einblick in die Mecha- chologie ausgesetzt waren, dass die Zer- nismen der Selbstentlastung kennzeichnet störung der Illusionen über das menschli-

112 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 che und damit das eigene Verhalten zu- IV gleich eine Zerstörung der Anstrengung bedeuten könne, sich den Idealen anzu- Es könnte scheinen, die Dankbarkeit spiele nähern. Diese Gefahr formuliert de Ligne heute eine geringere Rolle im Kanon der hellsichtig im letzen Satz seiner Reflexi- Tugenden, als ihr der Fürst de Ligne, on. Rousseau folgend, trotz aller Differenzie- Auch die folgende Überlegung de Lignes rungen zuschrieb. Westliche Gesellschaf- gilt dem Wechselspiel zwischen der Norm ten erleben, dass in einem Kernbereich die- der Dankbarkeit, dem menschlichen Be- ser sittlichen Forderung die Erosion fort- dürfnis, dankbar zu sein und der Realität schreitet. Die Familie ist nicht länger der der Versuche, sich dieser Norm, diesem Ort, an welchem das Gebot, Vater und Bedürfnis zu entziehen. Er schildert eine Mutter zu ehren, wie der biblische An- Taktik, mittels derer nicht der Empfänger spruch der Dankbarkeit formuliert wurde, der Wohltat, sondern der Wohltäter unter eine Heimstätte hat. Kinder verklagen ihre Argwohn gerät: Leicht entledigt man sich Eltern vor Gericht, um ein zweites Studi- der Dankbarkeit. Es genügt den Wohl- um finanziert zu bekommen, und geben täter zu ignorieren. Er wird gekränkt sein sie, vom Rentensystem aus der Solidari- und zu verstehen geben, dass er etwas tät befreit, ins Altersheim – Zerwürfnisse Besseres als euch verdient hätte. Darauf zwischen der älteren und der jüngeren fällt einem der berühmte Vers ein: Der Generation gelten als normal. Institutio- Tadel einer Wohltat gleicht einer Belei- nelle Fürsorge entlastet von der geschul- digung.15 Und siehe da: Der Undank- deten Wechselseitigkeit. Dass man Dank- bare wird freigesprochen. Das Verhältnis barkeit nicht verlangen darf, nicht einmal Geber – Nehmer, Helfer – Geholfener, Be- erwarten, diese Redeweise der Vorsicht günstiger – Begünstigter vollzieht sich im hatte ihren Grund in der Selbstverständ- Licht der Öffentlichkeit, es steht unter er- lichkeit der Norm und in der Wahrschein- hellenden Normen, die das Verhalten prä- lichkeit des von ihr gesteuerten Gefühls, gen. Obwohl die Regel, dass man über während sie heute ihren Grund in der Vor- Gutes, das man tut, schweigen soll, kul- aussicht hat, Enttäuschungen zu vermei- turell vermittelt wird – nicht zuletzt, um den. Bekommen Kinder in anderen Kul- die von de Ligne erwähnten Reaktionen turkreisen Dankbarkeit den Lehrern gegen- überflüssig zu machen –, steht das Abtra- über vermittelt, ist dies deutschen Kinder gen einer Dankesschuld nicht in gleicher fremd geworden. Sie fällt unter den Ver- Strenge unter dem Bescheidenheitsgebot. dacht, welcher leichtfertig der Höflichkeit Eine Asymmetrie, die möglicherweise auf entgegengebracht wird: eine Verhaltens- die Religion zurückweist, in der das weise der Kriecherei, der Liebedienerei zu ritualisierte gemeinsame Dankgebet den sein. Eigennutz, so offen er propagiert und Menschen an seine unsichere Stellung im zugegeben wird, soll die Echtheit und Ehr- Kosmos erinnert. Für den französischen lichkeit des eigenen Verhaltens nicht ver- Philosophen André Comte-Sponville liegt dunkeln. Überdies: Wo das Geld spricht, in der Tugend der Dankbarkeit Demut.16 fehlen der Dankbarkeit die Worte. Wer bezahlt wird, tue seinen Job.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 113 So nah wie die Beispiele liegen die Erklä- Arbeit, der Selbstdisziplin, der Einstellung rungen. André Comte-Sponville hat her- „geht nicht, gibt’s nicht“. Zwar bekennen vorgehoben, dass der Egoismus die Ur- Schauspieler und Sportler im Interview, sache von Undankbarkeit ist, da es ihm ohne Regisseur oder Trainer wären sie schwer fällt, im anderen die Ursache sei- nicht in die Regionen des Applauses auf- ner Freude anzuerkennen.17 Gegenwärti- gestiegen, man bekundet Dankbarkeit, er- ge Gesellschaften, die dem Individuum ein- zählt von Zufällen und Beziehungen, die reden, es gestalte aus sich heraus sein Le- idealtypische Erfolgsmär aber bleibt die ben, ohne ihm ein Bewusstsein zu vermit- vom Tellerwäscher zum Millionär. teln, dass jeder Weg, und sei er noch so Martin Buber hat beobachtet, dass die erfolgreich, von anderen ausgetretenen Neigung zum Danken mit dem Alter zu- Pfaden folgt, Gesellschaften, die Moral nimmt.18 Pflichtet man ihm bei, ließe sich zur Privatsache erklärt haben und dem mutmaßen, dass die Allgegenwart des Jung- Einzelnen suggerieren, sein Weltbild male seins dankbarkeitsvergessen werden lässt. eigene Skizzen aus, Gesellschaften, die alle Die Moderne wäre nicht nur das Zeitalter Abhängigkeitsverhältnisse als Fesseln der der Angst, sondern auch das der Undank- Freiheit lösen und alle Rang- und Macht- barkeit. Hatte Brecht ein Land bedauert, unterschiede aufheben möchten, können das Helden braucht, mögen Verhältnisse, der Dankbarkeit, die Asymmetrien voraus- die Dankbarkeit erzeugen, ebenfalls zum setzt, keinen hohen Platz in der Hierar- Bedauern Anlass geben. Das soziale Stre- chie der Verhaltensweisen einräumen. Was ben nach Gleichheit gilt dem Ideal des grö- für de Ligne individuelle Strategien wa- ßeren Glücks für alle und der Weg ist zum ren, die Last der Dankbarkeit zu mindern, Ziel geworden. Vielleicht aber ist Glück ist zur kollektiven Anstrengung geworden, eine Charakterfrage wie Dankbarkeit: Auf Verhältnisse aufzuheben, in denen sie un- äußere Glücksgüter eines Menschen mag vermeidlich wird. Die wirtschaftliche Dy- man neidisch schauen und glauben, das namik des Egoismus hat ihren Preis: Das Schicksal sei ungerecht. Aber das Glück, Ideal der Selbstbestimmung herrscht, das das aus der Seele kommt, ist immer ver- in letzter Konsequenz eines der Herkunfts- dientes Glück. Doch auch die inneren losigkeit sein muss. Indizien dafür sind die Glücksgüter sind ungleich verteilt. Ist es Scham der Kinder, ihren Eltern ähnlich zu möglich, sich selbst zu danken? sein oder ein ihnen ähnliches Leben füh- ren zu müssen, der Vorrang der Zukunft vor der Gegenwart, der Glaube, Wirklich- Anmerkungen: keit sei eine Konstruktion des Subjekts, 1 Vgl. Robert Zimmer, Die europäischen Morali- und die verbreitete Illusion, man bilde sich sten zur Einführung, Hamburg 1999, S. 8,10. Sie- seine Meinung selbst, und sei in seiner he auch Jürgen von Stackelberg, Französische Mo- ralistik im europäischen Kontext, Darmstadt 1982. Unverwechselbarkeit kein Produkt seiner 2 Vgl. zu diesem Ideal Margot Kruse, Die französi- sozialen Schicht. Es herrscht das Ideal der schen Moralisten des 17. Jahrhunderts, in: Beiträge Individualität – das Fädchen feiert seine zur französischen Moralistik, Berlin 2003, S. 20/21 Befreiung aus dem Gewebe. Es herrscht Seine Bedeutung für den Fürsten de Ligne stellt her- das Ideal der Willensstärke: Karrieren, aus: Helene Walbröhl, Der Fürst von Ligne. Leben heißt es, gelingen auf Grund der harten und Werk, Genf 1965, S. 25.

114 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 3 Die kursiv gesetzten Zitate de Lignes entstammen 14 Vgl. Thomas Nagel, Die Möglichkeit des Altru- meiner im Manutius-Verlag erschienenen Überset- ismus, und Michael Rumpf: Egoismus Altruismus, in zung: Fragmente und Gedanken, Heidelberg 2007. Zeno Heft 19, 1997, S. 88-93. 4 Vgl. Karl Otto Hondrich, Der Neue Mensch, 15 Der Vers stammt aus Jean Racines Tragödie Frankfurt a.M. 2001. „Iphigenie in Tauris“, 4. Aufzug, 6. Szene und wird 5 Vgl. Ernst Benedikt: Karl Josef Fürst von Ligne. von Agamemnon gesprochen. Vgl. Racine, Dra- Ein Genie des Lebens, Wien 1936, S.170-173 und matische Dichtungen und Geistliche Gesänge, hrsg. Philip Mansel, Der Prinz Europas, Stuttgart 2006, u. übersetzt von Wilhelm Willige, Bd. 2, Darmstadt S.260. 1956, S. 102. 6 Philip Mansel urteilt, hinter der glitzernden Fassa- 16 André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeit- de verbarg sich ein unzufriedener und enttäuschter gemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden Mensch. Ebenda S. 261. und Werte, Reinbek 1998, 3. Auflage 2004. Die Dankbarkeit analysiert Comte-Sponville im 10. Ka- 7 Typisch hierfür ist, dass de Ligne folgende Anek- dote festhält: „Zum General muss man – wie zum pitel, S. 157-166. Zur Demut äußert er sich S. 161. Maler, Dichter oder Musiker – geboren werden. 17 a.a.O. S. 160. Als einer unserer Offiziere, nachdem er am Hofe 18 Martin Buber, Nachlese, Heidelberg 1964, S. befördert worden war, zu Guido Stahremberg 254. Buber hebt den etymologischen Zusammen- sagte: ‘Der Kaiser hat mich zum General ge- hang zwischen ‚danken‘ und ‚denken, gedenken‘ macht’, antwortete dieser: ‘Das bezweifle ich, hervor. er hat Euch zum General ernannt, mehr nicht.’“ 8 Vgl. Literat und Feldmarschall. Briefe und Erin- Dr. Michael Rumpf lebt in Grünstadt nerungen des Fürsten Charles Joseph de Ligne, hrsg. (Pfalz). Er ist Autor von Aphorismen, u. eingeleitet von Günther Elbin, Stuttgart 1979, S. Essays, Erzählungen und Lyrik und über- 107. setzt aus dem Italienischen und Franzö- 9 Benedikt a.a.O. S. 130. sischen. Zu seinen jüngsten Veröffentli- 10 Georg Simmel: Dankbarkeit. Ein soziologischer chungen gehört der Aphorismenband Quer- Versuch, in: Gesamtausgabe Bd. 8, Aufsätze und linien (2004), der Lyrikband Ausgelöst Abhandlungen 1901-1908 Bd. II, Frankfurt a. M. (2006) und die Übersetzung einer Text- 1993, S. 308. auswahl des Fürsten de Ligne (Fragmen- 11 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die te und Gedanken 2007). Erziehung, Paderborn 1972, S. 237/238. 12 Als Beispiel seien drei Aphorismen La Rochefou- caulds angeführt:: „Wer die Pflichten der Dankbar- keit erfüllt, darf sich noch nicht einbilden, dankbar zu sein.“ - „Der Stolz will nichts schuldig sein, und die Eigenliebe nichts bezahlen.“ - „Die Dankbarkeit der meisten Menschen ist nur ein geheimes Verlan- gen nach noch größeren Wohltaten.“ Zitate nach: Die französischen Moralisten Bd. I, hrsg. u. übers. von Fritz Schalk, München 1973, S. 66, 73. 13 Mit Rousseau hat de Ligne sich darüber unter- halten, wie schwierig es ist, Dankbarkeit gegenüber Menschen zu empfinden, die man nicht mag. Vgl. Mansel, a.a.O. S.53. De Lignes eigener Bericht über seinen Besuch bei Rousseau findet sich in: Erinne- rungen und Brief, hrsg. v. Victor Klarwill, Wien 1920, S. 97.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 115 Dr. Martin Morgenstern (St. Wendel/Saar) Schopenhauers Lehre vom Glück

I. schen Lehren zu tun hat, die aus der Wil- Auf den ersten Blick kann es paradox er- lensmetaphysik für das alltägliche Leben scheinen, dass der Pessimist Schopenhau- zu ziehen sind. „Anleitungen zum Nicht- er eine Glückslehre entwickelt hat. Als Me- Unglücklichsein“2 sind aber mit der pes- taphysiker vertritt er die Auffassung, dass simistischen Metaphysik durchaus ver- das Wesen aller Dinge ein unbewusster, träglich. irrationaler Lebenswille ist, der durch sein Schopenhauers Lehre vom Glück ist nicht blindes Streben alles Leid in der Welt ver- nur ein wichtiger Teil seiner Philosophie, ursacht. Leben ist unweigerlich mit Lei- sondern sie war auch für deren Wirkung den verbunden, ein leidfreies glückliches von besonderer Bedeutung. Als sein Werk Leben also unmöglich. Ein Ende des Lei- ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zuneh- dens durch Aufhebung oder „Verneinung“ mend rezipiert wurde, war es gerade der des Willens erreichen jedoch nur die as- pessimistische Weisheits- und Glücks- ketischen Heiligen. Schopenhauers Philo- lehrer Schopenhauer, der in breiten Krei- sophie führt daher nicht nur zu einer pes- sen Beachtung fand. Eine herausragende simistischen Lebensauffassung, die das Rolle bei der Entstehung seiner Populari- menschliche Streben nach Glück als illu- tät haben die Aphorismen zur Lebensweis- sionär zu entlarven versucht, sondern sie heit gespielt, die 1851 im ersten Band der gipfelt zudem in einer Erlösungslehre, die Parerga und Paralipomena erschienen.3 einen ausgesprochen religiösen Charakter Sie boten einer breiten Leserschaft die hat. Möglichkeit, seine Glückslehre kennen zu Wenn Schopenhauer trotz seiner Willens- lernen, ohne sich auf die Komplikationen metaphysik in der Tradition der antiken seines philosophischen Systems einlassen Weisheitslehren und der neuzeitlichen Mo- zu müssen. ralistik1 als Glückslehrer auftritt, also An- Obwohl die Frage nach dem Glück eine leitungen und Ratschläge zu einem glückli- wichtige Stelle in der Philosophie Scho- chen Leben erteilt, so ist dies nur schein- penhauers einnimmt, wird diese Frage in bar ein Widerspruch. Als Weisheits- und der Sekundärliteratur eher marginal behan- Glückslehrer geht es ihm nämlich darum delt. Zwar taucht das Thema Glück im zu zeigen, wie man Leiden vermeiden und Kontext des Pessimismus immer wieder auf ein unvermeidliches Minimum redu- auf, doch als eigenständiges Thema kommt zieren kann. Der anscheinende Wider- es nur selten in den Blick. Und wenn sei- spruch zwischen seiner Metaphysik und ne Lehre vom Glück einmal gesondert un- Glückslehre löst sich somit bei genaue- tersucht wird, wie etwa von Barbara Ney- rem Hinsehen durch die Einsicht, dass meyr4 , dann wird die Glücksfrage primär seine Glückslehre gerade auf die Vermei- im Kontext seines philosophischen Sys- dung von Leiden und Unglück abzielt. tems gesehen. Gefragt wird dann nach den Schopenhauer liefert also eine Unglücks- Formen und Abwandlungen, die seine vermeidungslehre, die es mit den prakti- Glücksauffassung in Metaphysik, Ästhe-

116 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 tik und Ethik erfährt, wobei vor allem über- pessimistischen Grundgedanken seiner prüft wird, ob und wie weit die verschie- Glückslehre einige weitere Grundgedan- denen Glückskonzepte miteinander verein- ken sichtbar zu machen, die zu seiner of- bar sind. fiziellen pessimistischen Lehre nicht recht Diese Vorgehensweise ist ein durchaus passen und die daher das dunkle Bild des sinnvolles Interpretationsverfahren, doch pessimistischen Glückslehrers etwas auf- bedeutet sie eine Vorentscheidung zugun- hellen. Zunächst (Abschnitt II) soll geklärt sten des Systems und läuft daher auf die werden, wie Schopenhauer selbst die Stel- Anerkennung des pessimistischen Grund- lung der Glückslehre in seiner Philosophie charakters von Schopenhauers Glücks- gesehen hat. Anschließend (III-V) werden lehre hinaus, also auf ihre Deutung als rei- drei Grundgedanken seiner pessimisti- ne Unglücksvermeidungslehre. Die The- schen Glückslehre dargestellt, die bereits se der Negativität des Glücks, d.h. die An- im ersten Band der Welt als Wille und nahme, dass Glück lediglich in der Auf- Vorstellung (WWV) entwickelt und die hebung von Leid besteht (vgl. unten Ab- später in den Aphorismen teilweise fort- schnitt IV), bietet sich dann als das zen- geführt werden. Diese Gedanken betref- trale Element der Glückslehre Schopen- fen den Ursprung des Leidens aus der Na- hauers an. Bei dieser Vorgehensweise tritt tur des Wollens (III), die Negativität des daher die Frage, ob seine Glückslehre ins- Glücks (IV) und den Antagonismus von gesamt pessimistisch ist, nur allzu leicht Schmerz und Langeweile (V). In den fol- in den Hintergrund. Sieht man seine Aus- genden Abschnitten (VI-IX) werden eini- führungen über Glück von vornherein als ge nicht-pessimistische Grundgedanken Bestandteile seines pessimistischen Sys- seiner Glückslehre untersucht. Diese von tems, dann werden systemwidrige Auffas- seinem Pessimismus unabhängigen (oder sungen leicht übersehen oder nur unzu- mit ihm gar unverträglichen) Lehrstücke reichend gewürdigt. Geht man in dieser betreffen die Rolle der Vernunft beim Weise vor, dann kann man z.B. der Rolle, menschlichen Streben nach Glück (VI), die Schopenhauer der Persönlichkeit für das Glück der ästhetischen Kontemplati- das Glück zuspricht, kaum gerecht wer- on (VII) sowie die Bedeutung der Per- den. Fragt man dagegen nach den Auf- sönlichkeit (VIII) bzw. des Temperaments fassungen von Glück, die in seinem Den- (IX) für das Glück. Wie gezeigt werden ken überhaupt eine zentrale Rolle spielen, wird, finden sich diese Gedanken nicht und stellt man bei der Sichtung seiner nur in den Aphorismen, sondern schon Grundgedanken die Frage ihrer Verträg- im frühen Hauptwerk. Es hat sich sogar lichkeit mit seinem System zuerst einmal herausgestellt, dass Schopenhauer sich zurück, dann bekommt man auch andere, bereits sehr früh, offenbar schon neben nicht-pessimistische Elemente seiner Glücks- der Arbeit an seinem Hauptwerk, mit dem lehre eher in den Blick. Projekt einer alltagsbezogenen Glücks- Im Folgenden geht es nicht um eine Ge- und Weisheitslehre zu beschäftigen be- samtdarstellung von Schopenhauers Glücks- gann.5 Da sich aber gleichwohl wichtige lehre in ihrer ganzen Breite, sondern um Unterschiede zwischen frühem Hauptwerk die Klärung ihrer Grundlagen. Dazu wird und den Aphorismen nachweisen lassen, der Versuch unternommen, neben den sollen im letzten Abschnitt (X) diese Un-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 117 terschiede noch einmal eigens thematisiert einem hedonistischen Begriff von Glück werden. Dabei wird zugleich die Frage der ausgeht, kann er aus der Annahme des Entwicklung von Schopenhauers Denken universellen Leidens die Quintessenz sei- gestellt werden. nes Pessimismus folgern, „dass es bes- ser wäre, es [das Leben] nicht zu haben.“ II. (WII 660)6 In der einleitenden Passage der Aphoris- Wenngleich es nach Schopenhauer kein men hat Schopenhauer die Stellung sei- wirkliches, „positives“ Glück gibt und der ner Glückslehre innerhalb seiner Philoso- Ausdruck „Eudämonologie“ daher eigent- phie kurz und prägnant umschrieben. Er lich ein Euphemismus ist, hat er in den erläutert hier zunächst den Begriff „Le- Aphorismen dennoch eine Glückslehre bensweisheit“ als die „Kunst, das Leben entwickelt. Freilich handelt es sich dabei möglichst angenehm und glücklich durch- eben um eine pessimistische Glückslehre, zuführen“. (PI 333) Sie ist eine Anleitung die eine Anleitung zur Vermeidung von zu einem glücklichen Leben, die man auch Unglück sein soll. Mit der Glückslehre der „Eudämonologie“ nennen könnte. (PI 333) Aphorismen werden daher die zentralen Hier wie an anderen Stellen geht er davon metaphysisch-ethischen Lehren vom Elend aus, dass Glück in Lust und Freude be- des Daseins und von der Erlösung kei- steht. Unter der Voraussetzung dieses he- neswegs zurückgenommen. Glückslehre donistischen Glücksbegriffs versucht er und Erlösungslehre werden jedoch zwei dann den Begriff des glücklichen Lebens verschiedenen Stufen zugeordnet: Die Er- näher zu bestimmen. lösungslehre beschreibt die Stufe der Wil- „Dieses [das glückliche Daseyn] nun wie- lensverneinung, die aber nur ganz wenige der ließe sich allenfalls definiren als ein Menschen erreichen und die daher für die solches, welches […] bei kalter und reif- allermeisten Menschen ohne praktische licher Ueberlegung, dem Nichtseyn ent- Relevanz bleibt. In der Glückslehre tritt schieden vorzuziehen wäre. Aus diesem Schopenhauer demgegenüber eine Stufe Begriffe desselben folgt, dass wir daran zurück auf den Standpunkt der alltäglichen hiengen, seiner selbst wegen, nicht aber Lebensbejahung, also auf den Standpunkt bloß aus Furcht vor dem Tode; und hier- des natürlichen Glücksstrebens, das dem aus wieder, dass wir es von endloser Dau- viel zitierten „angeborenen Irrtum“ vom er sehn möchten.“ (PI 333) Glück als Sinn und Zweck des menschli- Diesem Begriff eines glücklichen Lebens, chen Lebens verhaftet bleibt. (vgl. PI 333; das als Selbstzweck erstrebt wird, ent- WII 729) Auf diesem Standpunkt will spricht nun aber, wie Schopenhauer mit Schopenhauer dem alltäglichen menschli- Hinweis auf sein Hauptwerk betont, das chen Streben nach Glück Hilfestellung wirkliche Leben des Menschen in keiner und Orientierung geben. Durch die Zuord- Weise. Das Leben ist wegen des mit ihm nung zu zwei verschiedenen Stufen las- untrennbar verbundenen Leidens vielmehr sen sich somit die Erlösungslehre für die gerade nicht etwas, was nach „kalter und Heiligen und die Glückslehre für die All- reiflicher Überlegung“ als Selbstzweck tagsmenschen miteinander vereinbaren. gewollt und dem Nichtsein vorgezogen Während die Erlösungslehre den abschlie- werden könnte. Weil Schopenhauer von ßenden Kapiteln seines frühen Hauptwerks

118 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 (§ 68-71) vorbehalten ist, hat Schopen- taphysische Wesen aller Dinge ist, tritt hauer seine Glückslehre an verschiedenen nämlich im Menschen als triebhaftes Stre- Stellen entwickelt. In den Paragraphen 56- ben zur Befriedigung von Bedürfnissen 58 des ersten Bandes der WWV begrün- und zur Erfüllung von Wünschen in Er- det er die Grundgedanken seiner pessimi- scheinung. Die Unmöglichkeit von Glück stischen Glücksauffassung. In den Apho- ergibt sich für Schopenhauer nun daraus, rismen kommt er auf diese Grundgedan- dass keine je vom Willen erreichte Befrie- ken zurück, doch gibt er hier seiner digung von Dauer ist. Vielmehr erwacht Glückslehre eine neue systematische nach jeder Befriedigung bald wieder ein Form, indem er von drei Glücksquellen neues Bedürfnis. ausgeht, nämlich von dem Glück, das in „Denn alles Streben entspringt aus Man- der menschlichen Person („was Einer gel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zu- ist“), in ihrem Besitz („was Einer hat“) und stande, ist also Leiden, so lange es nicht in ihrem Ansehen („was Einer vorstellt“) befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist begründet ist. Alle diese Ausführungen dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Aus- sollen der pessimistischen Glückslehre eine gangspunkt eines neuen Strebens.“ (WI breite empirische Basis geben. Ob und wie 365) weit diese Ausführungen insgesamt tat- Da die erreichten Ziele des Willens nur sächlich pessimistisch sind, ist damit je- kurze Befriedigungen bringen, gibt es kein doch noch nicht entschieden. dauerhaftes Glück. Die Unmöglichkeit von Glück folgt damit aus der Natur des me- III. taphysischen Willens. Der Wille strebt Grundgedanke von Schopenhauers pes- eben unaufhörlich, simistischer Glückslehre ist, dass alles Le- „[…] weil Streben sein alleiniges Wesen ben mit Leiden verbunden ist. Der Lei- ist, dem kein erreichtes Ziel ein Ende denscharakter des Lebens bedeutet aber macht, das daher keiner endlichen Befrie- zugleich die Unmöglichkeit von Glück. digung fähig ist, sondern nur durch Hem- Sehen wir uns nun Schopenhauers Be- mung aufgehalten werden kann, an sich gründungen für seine pessimistische aber ins Unendliche geht.“ (WI 364) Grundansicht vom Leben als Leiden nä- Weil der Wille als metaphysisches Wesen her an. Es handelt sich dabei im Wesentli- der Welt ein endloses, unvernünftiges Stre- chen um drei Argumente, die er in den ben ist, kann es keine endgültige Befriedi- erwähnten Kapiteln 56-58 der WWV ent- gung und kein dauerhaftes Glück geben. wickelt hat. Ohne dauerhaftes Glück bleibt Leben aber Die erste Begründung für die pessimisti- stets mit Leiden verbunden. sche Grundansicht, die Schopenhauer in Man beachte, dass dieses Argument von § 56 vorträgt, hängt eng mit seiner Meta- der (gleich zu erläuternden) These der Ne- physik zusammen und spielt daher nur im gativität des Glücks unabhängig ist. Man Hauptwerk, nicht aber in den Aphorismen könnte nämlich durchaus zugestehen, dass eine wichtige Rolle. Sie geht davon aus, es positives Glück gibt, und doch zugleich dass Wollen stets auf die Befriedigung von behaupten, dass es kein dauerndes Glück Bedürfnissen und auf die Erfüllung von gibt. Indem Schopenhauer jedoch Glück Wünschen abzielt. Der Wille, der das me- als Bedürfnisbefriedigung und Wunsch-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 119 erfüllung versteht, werden Glückserfah- These besagt, dass nur Schmerz und Lei- rungen zu einer Sache flüchtigen, nur kur- den positive, tatsächlich erlebte Erfahrun- ze Zeit währenden Erlebens. Dauerhafte gen sind, wohingegen Glück und Lust nur Zustände von Wohlbefinden oder anhal- negativ im Verschwinden von Unglück und tende Hochstimmungen gibt es dagegen Schmerzen bestehen. Die Negativitätsthe- nicht. se behauptet damit, dass jede Befriedigung Schopenhauer setzt damit voraus, dass eines Bedürfnisses (bzw. jede Erfüllung wahrhaftes Glück dauerhaft, ja unvergäng- eines Wunsches) ein Leiden, einen Man- lich sein müsste. Diese Vorstellung von gel oder irgendeine Hemmung des Wil- Glück hat er vor Augen, wenn er davon lens voraussetzt. spricht, dass der Wille keiner endlichen „Alle Befriedigung, oder was man gemein- Befriedigung fähig ist. Offenbar geht er hin Glück nennt, ist eigentlich und wesent- hier von einer Glücksvorstellung aus, die lich nur negativ und durchaus nie positiv. für die religiöse Idee der Erlösung cha- Es ist nicht eine ursprünglich und von rakteristisch ist: Wie Erlösung ein dauer- selbst auf uns kommende Beglückung, hafter Zustand der Seligkeit sein soll, so sondern muss immer die Befriedigung ei- müsste, wie Schopenhauer unterstellt, nes Wunsches seyn. Denn Wunsch, d.h. auch Glück ein dauerhafter, endloser Zu- Mangel, ist die vorhergehende Bedingung stand von Lust und Freude sein. jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört Schopenhauers erstes Argument gegen die aber der Wunsch und folglich der Genuß Möglichkeit von Glück basiert also auf auf. Daher kann die Befriedigung oder einem anspruchsvollen Glücksbegriff, den Beglückung nie mehr seyn, als die Befrey- eine alltagsbezogene Glückslehre, die es ung von einem Schmerz…“ (WI 376; vgl. mit dem Glück in unserer Welt zu tun hat, WI 443) nicht voraussetzen muss. Lässt man die Schopenhauer behandelt die Negativitäts- Forderung der Dauerhaftigkeit von Glück these wie eine apriorische These, die fallen, dann gibt es auch die Möglichkeit strenge Allgemeinheit besitzt, ohne von eines irdischen Glücks. Man kann dann empirischen Gründen abhängig zu sein. akzeptieren, dass Glück endlich und ver- Anders als einige seiner Nachfolger, wie gänglich ist, und doch zugleich darauf in- etwa Eduard von Hartmann, begründet er sistieren, dass auch ein vergängliches seinen Pessimismus nicht durch eine em- Glück das Leben um seiner selbst willen pirische Lust-Leid-Bilanz.7 Die Begrün- lebenswert macht. Schopenhauer füllt hier dung, die er für diese apriorische These also den Glücksbegriff mit Erwartungen, liefert, ist freilich nicht ganz klar, doch die nur innerhalb einer religiösen Weltan- dürfte sie sich folgendermaßen rekonstru- schauung erfüllt werden könnten. ieren lassen: Weil Bedürfnisse und Wün- sche jeweils einen Mangel oder Schmerz IV. darstellen und weil mit der Befriedigung Das Argument für die Unmöglichkeit von Schmerz und Leid aufhören, ist das (auf Glück, das Schopenhauer in § 58 der Befriedigung abzielende) Wollen stets mit WWV vorträgt und das sein eigentliches Leiden verbunden und Befriedigung be- Hauptargument darstellt, besteht in der steht folglich stets nur im Abbau von These der Negativität des Glücks. Diese Schmerzen. Die entscheidende Prämisse,

120 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 auf die Schopenhauer sich hier stützt, ist und in den Aphorismen anführt, findet er offenbar die Annahme, dass mit der Be- in menschlichen Grunderfahrungen wie friedigung Schmerz und Leid enden. Doch Schmerz und Sorge. selbst wenn man dies akzeptiert, also eine „Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die über den Moment der Befriedigung fort- Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Sorge, dauernde Empfindung ablehnt, folgt dar- aber nicht die Sorglosigkeit; die Furcht, aus nicht, dass der Prozess der Befriedi- aber nicht die Sicherheit. […] Denn nur gung nur im Abbau von Schmerzen be- Schmerz und Mangel können positiv emp- steht. Der Abbau könnte ja auch mit posi- funden werden und kündigen daher sich tiven Lustgefühlen verbunden sein. Ein selbst an: das Wohlseyn hingegen ist bloß Nachweis des rein negativen Charakters negativ. Daher eben werden wir der drei von Glück und Lust dürfte Schopenhau- größten Güter des Lebens, Gesundheit, er jedenfalls kaum gelungen sein. Jugend und Freiheit, nicht als solcher inne, Man beachte, dass Schopenhauers Negati- so lange wir sie besitzen; sondern erst vitätsthese verschiedene Formen von nachdem wir sie verloren haben: denn Glückserleben leugnet, die im alltäglichen auch sie sind Negationen.“ (WII 659f) Leben durchweg anerkannt werden. Zu- Immer wieder weist Schopenhauer auf die nächst schließt seine These es aus, dass Erfahrung hin, dass wichtige Güter des es spontanes Glückserleben ohne vorher- Lebens wie Gesundheit und Freiheit erst gehende Wünsche oder Bedürfnisse gibt. dann als wertvoll erlebt werden, wenn sie Damit steht seine Auffassung im Wider- verloren gegangen sind. Solche Güter be- spruch zu der nur schwer zu leugnenden glücken daher nur negativ, indem sie Lei- Erfahrung, dass es auch ungewolltes, aus den abhalten. Als weitere Bestätigung führt Situationen sich ergebendes Glückserle- er zum Beispiel die Erfahrung an, dass be- ben gibt. Man kann sich etwa über die reits kleine Wünsche oder Schmerzen ein zufällige Begegnung mit einem alten Be- ansonsten schmerzloses Leben wesentlich kannten freuen, ohne dass vorher der trüben können. (vgl. WI 376ff; PI 431ff) Wunsch nach einem Wiedersehen bestan- den hätte.8 Außerdem lässt sich Schopen- Viele solcher Ausführungen beschreiben hauers Auffassung kaum mit der Tatsa- zutreffend grundlegende Glückserfahrun- che in Einklang bringen, dass Menschen gen. Denn tatsächlich gibt es bestimmte Getränke und Speisen genießen können, Güter, deren Wert man erst richtig zu ohne überhaupt Durst oder Hunger zu schätzen lernt, wenn man sie verloren hat, haben. Seine Negativitätsthese steht schließ- und offenbar gibt es auch hypochondrisch lich auch im Widerspruch zu der kaum be- veranlagte Menschen, deren Befindlichkeit streitbaren Erfahrung, dass bereits der bereits durch kleine Unannehmlichkeiten Prozess des Wollens und keineswegs nur oder geringfügige Schmerzen wesentlich das Erreichen des Ziels als lustvoll erlebt beeinträchtigt werden kann. Doch solche wird.9 Beobachtungen können die Negativitäts- Schopenhauer hat seine Negativitätsthese these in ihrer Allgemeinheit natürlich nicht aber auch durch empirische Beobachtun- zureichend begründen. Damit sie als em- gen gestützt. Solche Belege, die er vor al- pirisch gut bestätigte These gelten könn- lem im zweiten Band der WWV (1844) te, müsste sie an kritischen Fällen, insbe-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 121 sondere an Erfahrungen sinnlicher Lust Dass (positives) Glück eine Fata Morgana und geistigen Freuden, plausibel gemacht ist, der nur die Narren nachlaufen, betrach- werden. Dass es sich bei solchen anschei- tet Schopenhauer als Kern der Lehre der nend positiven Fällen von Freude und Kyniker. Auch die stoische Lehre vom Glück ebenfalls nur negativ um Erfahrun- Glück als Gemütsruhe findet er in Über- gen des Verschwindens von Unlust und einstimmung mit der These der Negativität Schmerzen handelt, versucht Schopenhau- des Glücks. In diesem Kontext wird deut- er jedoch nicht empirisch (oder phänome- lich, dass seine pessimistische Glückslehre nologisch) zu zeigen, sondern nur durch vor allem in der Tradition der Stoa steht. das erwähnte apriorische Argument. Ähnlich wie den Stoikern geht es ihm dar- Aus der Negativitätsthese leitet Schopen- um, den Menschen gegen Unglück zu hauer als Folgerung für die Weisheitslehre wappnen. (vgl. WI 375f) ab, dass man nicht nach Glück und Lust suchen soll, sondern dass man Schmerz V. und Leid vermeiden soll. Das Argument für seine pessimistische „Denn die Genüsse sind und bleiben ne- Glückslehre, das Schopenhauer in § 57 gativ: daß sie beglücken ist ein Wahn, den der WWV entwickelt und auf das er auch der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. in den Aphorismen ausführlich eingeht, Die Schmerzen hingegen werden positiv stützt sich auf die gegensätzlichen Erfah- empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der rungen von Schmerz und Langeweile. Er Maaßstab des Lebensglückes. Kommt zu denkt beide als Pole des Unglücks, zwi- einem schmerzlosen Zustand noch die Ab- schen denen das menschliche Leben hin- wesenheit der Langeweile; so ist das irdi- und herpendelt. Je mehr das Leben von sche Glück im Wesentlichen erreicht: denn Schmerzen frei ist, desto mehr ist es der das Uebrige ist Chimäre […] Der Thor Langeweile ausgeliefert. läuft den Genüssen des Lebens nach und „Die Basis alles Wollens aber ist Bedürf- sieht sich betrogen: der Weise vermeidet tigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folg- die Uebel.“ (PI 433) lich schon ursprünglich und durch sein Nun ist es sicher richtig, dass die Vermei- Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen dung von Schmerz und Unglück sich als an Objekten des Wollens, indem die zu Klugheitsregel aus der Negativitätsthese leichte Befriedigung sie ihm sogleich wie- ableiten lässt. Kaum zutreffen dürfte da- der wegnimmt; so befällt ihn furchtbare gegen die Unterstellung, dass diese The- Leere und Langeweile: d.h. sein Wesen se dafür notwendig sei. Dieselben Klug- und Daseyn selbst wird ihm zur unerträg- heitsregeln können z.B. auch für jeman- lichen Last. Sein Leben schwingt also, den akzeptabel sein, der die Erfahrungen gleich einem Pendel, hin und her, zwischen von Leid und Schmerz für wahrscheinli- dem Schmerz und der Langeweile […]“ cher hält als die Erfahrungen von Glück (WI 367f) und Lust – vorausgesetzt freilich, dass er Während diese Aussage des frühen Haupt- den Wert der Glücks- und Lusterfahrun- werks im Kontext der metaphysischen Be- gen nicht so hoch einschätzt, dass er des- gründung (vgl. Abschnitt III) steht, ist in wegen bereit wäre, hohe Risken für sie der folgenden Bemerkung der Aphoris- einzugehen. men der empirische Bezug deutlicher:

122 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 „Aeußerlich nämlich gebiert Noth und Ent- seiner Betrachtungen zur Langeweile stellt behrung den Schmerz; hingegen Sicher- Schopenhauer nun aber fest, dass nach heit und Ueberfluß die Langeweile. Dem- dem Erreichen der Willensziele Langeweile gemäß sehen wir die niedere Volksklasse folgt. Um Langeweile zu vermeiden, darf in einem beständigen Kampf gegen die es nicht bei der bloßen Bedürfnisbefriedi- Noth, also den Schmerz; die reiche und gung (bzw. Wunscherfüllung) bleiben, vornehme Welt hingegen in einem anhal- sondern Glück muss im Wechsel von Be- tenden, oft wirklich verzweifelten Kampf dürfnis und Befriedigung liegen. gegen die Langeweile.“ (PI 349) „Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun Schopenhauer hat das Wechselspiel von durchaus jedes Menschenleben fort. Der Schmerz und Langeweile als menschliche Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: Grunderfahrung betrachtet, die er durch die Erreichung gebiert schnell Sättigung: verschiedene Beobachtungen untermauert das Ziel war nur scheinbar: der Besitz hat. So findet er eine Bestätigung darin, nimmt den Reiz weg: unter einer neuen dass mit der Zunahme des Genusses ei- Gestalt stellt sich der Wunsch, das Be- ner bestimmten Art der Reiz für diesen dürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Genuss abnimmt. Wenn man mehrmals Oede, Leere, Langeweile, gegen welche hintereinander eine Lieblingsspeise ver- der Kampf eben so quälend ist, wie ge- zehrt hat, dann verliert diese zusehends gen die Noth. – Dass Wunsch und Be- an Reiz. Durch Gewohnheit geht also die friedigung sich ohne zu kurze und ohne Empfänglichkeit für bestimmte Reize zu- zu lange Zwischenräume folgen, verklei- rück. Daraus erklärt sich nach Schopen- nert das Leiden, welches Beide geben, hauer die Jagd nach immer neuen Reizen zum geringsten Maaße und macht den bei Menschen, die sich ihre Wünsche glücklichsten Lebenslauf aus.“ (WI 370; leicht erfüllen können. Je leichter Wünsche vgl. WI 196) und Bedürfnisse sich befriedigen lassen, Diese Auffassung von Glück als ständi- desto leichter stellt sich Langeweile ein, gem, aber angemessenem Wechsel von und um die Langeweile zu vertreiben, Wunsch und Befriedigung lässt sich mit braucht man wieder neue Reize. Damit be- der Auffassung von Glück als Wunscher- schreibt Schopenhauer eine menschliche füllung und Bedürfnisbefriedigung nicht Grunderfahrung, die vor allem für die ohne weiteres vereinbaren.10 Dennoch Wohlstandgesellschaft charakteristisch dürfte sich diese Schwierigkeit beheben sein dürfte. Als Klugheitsregel leitet er dar- lassen, wenn man die im Kontext seiner aus ab, dass man beglückende Reize va- Überlegungen zur Langeweile entwickelte riieren muss, dass man also Glück und Konzeption als eine Erweiterung der Auf- Freude in verschiedenartigen Tätigkeiten fassung von Glück als Wunscherfüllung suchen sollte. versteht. Glück als Wunscherfüllung ist die Schopenhauers Ausführungen zur Lange- primäre Erfahrung des Augenblicks, wo- weile sind in mehrfacher Hinsicht bedeut- hingegen die Abfolge von Bedürfnis und sam. Zunächst zeigt sich in ihnen eine neue Bedürfnisbefriedigung eine umfassende- Auffassung von Glück. Bisher war Glück re Glückserfahrung darstellt.11 als Bedürfnisbefriedigung und Wunsch- Eine andere Schwierigkeit von Schopen- erfüllung verstanden worden. Im Kontext hauers erweiterter Glücksauffassung be-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 123 steht darin, dass sie im Grunde auf die Diener des Willens frei wird. Finden die absurde Empfehlung hinausläuft, zur Kräfte des Geistes dann keine erfüllende Überwindung des Übels der Langeweile Tätigkeit, so entsteht das Gefühl der Lee- auf ein anderes Übel zurückzugreifen, re und Öde, das die Langeweile kennzeich- nämlich das endlose Rad von Bedürfnis net. Da nun der Mensch in dieser Stim- und Bedürfnisbefriedigung in Gang zu mung sein Dasein als Last empfindet, setzen. Diese Empfehlung ist absurd, sucht er nach Zeitvertreiben, die seinen wenn man, wie Schopenhauer anschei- Geist beschäftigen und unterhalten. Da- nend voraussetzt, beide Übel als gleich her widmet Schopenhauer viel Aufmerk- groß betrachtet. In diesem Fall kann das samkeit alltäglichen Beschäftigungen wie eine Übel eben nicht ein „kleineres“ oder Spielen und Reisen. „notwendiges“ Übel zur Überwindung des Schopenhauers Ausführungen zur Lange- anderen (größeren) Übels sein. Der Grund weile sind schließlich auch deshalb wich- dafür, dass Schopenhauer zu dieser frag- tig, weil hier die pessimistische Glücks- würdigen Konzeption gelangt, liegt darin, lehre implizit in Frage gestellt wird. Die dass er an dieser Stelle (WI 370) unter- These der Negativität des Glücks lässt stellt, Langeweile lasse sich nur durch eine sich nämlich mit dem Phänomen der Lan- gewöhnliche sinnliche Erfahrung aufhe- geweile kaum vereinbaren. Denn ginge es, ben. Zwar weist er hier auch auf die äs- wie Schopenhauer behauptet, tatsächlich thetische Erfahrung als eine Möglichkeit immer nur um den Abbau von Leid und der Überwindung der Langeweile hin, Schmerz, dann bräuchte man Reize auch doch betrachtet er dies als Sache weniger nicht zu variieren, um die Intensität be- und geht daher nicht weiter darauf ein. stimmter Erfahrungen zu erhalten. Man In den Aphorismen widmet Schopenhau- müsste vielmehr froh über das Verblas- er sich dagegen ausführlich den verschie- sen der betreffenden Bedürfnisse sein. denen Formen geistiger Tätigkeiten, durch Auch seine These, dass ein Bedürfnis sich die Menschen im Alltag ihre Langweile „zu leicht“ befriedigen lässt, wäre absurd, zerstreuen. Die Betrachtungen, die er hier wenn es nur um die Beseitigung von zur Langeweile anstellt, zeigen deutlich, Schmerz und Leid ginge. Schopenhauers dass sein Glücksbegriff keineswegs sen- Überlegungen und Ratschläge zur Be- sualistisch konzipiert ist. Menschliches kämpfung der Langeweile sind daher häu- Glück besteht keineswegs nur in sinnli- fig nur sinnvoll, wenn ein positiver Glücks- cher Lust (bzw. im Abbau von sinnlichen begriff vorausgesetzt wird. Schmerzen), sondern im menschlichen Glückserleben spielt auch der menschli- VI. che Geist eine wichtige Rolle. Um das Wenn Schopenhauer Glück in der Befrie- Phänomen der Langeweile verständlich zu digung von Bedürfnissen erblickt, so machen, greift Schopenhauer nämlich auf spricht er damit der Vernunft eine Funkti- das menschliche Bewusstsein und dessen on beim menschlichen Streben nach Glück Fähigkeit der Reflexion zurück. Langewei- keineswegs ab. Die Vernunft ist, metaphy- le stellt sich ein, wenn die sinnlichen Be- sisch betrachtet, freilich dem Willen un- dürfnisse und Wünsche befriedigt sind tergeordnet. Als Instrument des Willens und der Geist damit von seiner Rolle als fällt ihr die Aufgabe zu, die Mittel zur Be-

124 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 friedigung der sinnlichen Triebe bereitzu- ihn auch einfacher Glück und Zufrieden- stellen. Der Mensch entscheidet durch ra- heit zu erreichen. tionale Überlegungen darüber, wann und „Die Gränze unserer vernünftigen Wün- wie er welche Bedürfnisse befriedigt. In sche hinsichtlich des Besitzes zu bestim- der Tradition der antiken Glückslehren men ist schwierig, wo nicht unmöglich. betrachtet Schopenhauer es als selbstver- Denn die Zufriedenheit eines Jeden, in die- ständlich, dass der Mensch als vernünfti- ser Hinsicht, beruht nicht auf einer abso- ges Lebewesen sein Leben nach Zielen luten, sondern auf einer bloß relativen Grö- und Zwecken gestaltet und damit sein ße, nämlich auf dem Verhältniß zwischen Glück und Leid selbst wesentlich mitbe- seinen Ansprüchen und seinem Besitz: da- stimmt. Seine Glückslehre zielt daher auch her dieser Letztere, für sich allein betrach- darauf ab, den Einfluss der Vernunft auf tet, so bedeutungsleer ist, wie der Zähler das Leben zu stärken und das Glück der eines Bruchs ohne den Nenner.“ (PI 367; Menschen zu fördern. Der Einfluss der vgl. WI 104f ) Vernunft erstreckt sich vor allem auf die Was Schopenhauer hier über Besitz sagt, Art und Weise der Befriedigung der na- hat er an anderer Stelle allgemeiner auf alle türlichen Bedürfnisse. Durch rationale beeinflussbaren Wünsche und Erwartun- Überlegungen kann der Mensch sich etwa gen bezogen. die negativen Folgen übermäßiger Sinnen- „Demnach ist es gerathen, seine Ansprü- genüsse klar machen und sich für eine che auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre u.f.f. gesunde Lebensweise entscheiden. auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen; weil Die Vernunft hat nach Schopenhauer aber gerade das Streben und Ringen nach nicht nur die Aufgabe, die Bedürfnisbe- Glück, Glanz und Genuß es ist, was die friedigung zu organisieren, sondern sie hat großen Unglücksfälle herbeizieht.“ (PI 436) auch auf die Ziele des Willens selbst ei- Die Vorstellung von Glück als einem nen gewissen Einfluss. Zwar bleibt die Bruch, bei dem die Güter und Wunscher- Vernunft gegenüber den natürlichen Zie- füllungen im Zähler und die Wünsche und len des Willens, insbesondere gegenüber Ansprüche im Nenner stehen, ist dort be- dem instinktiven Lebenswillen, normaler- sonders hilfreich, wo es sich um Ziele han- weise ohnmächtig, doch kann sie bei un- delt, die bewertet und korrigiert werden tergeordneten, durch Gesellschaft und können. Setzt man ein bestimmtes, gleich Kultur bedingten Zielen korrigierend ein- bleibendes Maß an erreichbarer Wunscher- greifen. Daher widmet Schopenhauer gro- füllung voraus, dann muss der Glücks- ße Aufmerksamkeit den Wünschen und wert umso geringer ausfallen, je größer die Erwartungen, die der Mensch als gesell- Wünsche und Ansprüche sind; umgekehrt schaftliches Wesen entwickelt. Dazu ge- muss der Glückswert umso größer sein, hören nach seiner Ansicht insbesondere je geringer die Wünsche sind. Es ist für die Wünsche nach Reichtum, Ruhm und Schopenhauer daher ein Zeichen von Le- gesellschaftlichem Rang. Hat ein Mensch bensklugheit, die Ansprüche und Erwar- etwa den Wunsch, großen Reichtum zu tungen den objektiven Möglichkeiten an- erlangen, wird er nur schwer zufrieden und zupassen, ja sie möglichst gering zu glücklich werden. Hat er dagegen geringe halten.12 Erwartungen und Ambitionen, so ist es für

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 125 In diesem Kontext, wo Schopenhauer die hofftes Glück oder ein drohendes Leid Rolle der Vernunft bei der Befriedigung übertrieben ausmalt. Illusionäre Vorstellun- von Bedürfnissen und bei der Kontrolle gen von künftigem Glück oder Leid füh- von Wünschen und Erwartungen heraus- ren aber nicht nur zu falschen Vorstellun- stellt, spielt seine pessimistische Grund- gen und Erwartungen, sondern sie haben these vom Leben als Leiden praktisch kei- auch unmittelbare Rückwirkungen auf das ne Rolle. Indem er der Vernunft die Auf- gegenwärtige Erleben von Glück und Leid. gabe zuweist, Mittel zur Befriedigung von Da der Mensch durch seine Vorstellungs- Bedürfnissen zu suchen und Wünsche kraft sowohl Glück als auch Leid vermeh- rational zu kontrollieren, sagt er eben nichts ren kann, spricht Schopenhauer einmal über die Natur von Bedürfnisbefriedigung von der Reflexion als dem „Kondensator und Wunscherfüllung. Dass diese Ausfüh- der Freuden und Leiden“ (PII 312). rungen unabhängig von seiner pessimisti- „Denn sie [tiefer Jammer oder lauter Ju- schen Grundthese sind, lässt sich auch bel] entstehn nicht über den unmittelbar an der Vorstellung von Glück als einem gegenwärtigen Genuß oder Schmerz, son- Bruch verdeutlichen: Ist von den Erwar- dern nur über die Eröffnung einer neuen tungen und Ansprüchen als Inhalte des Zukunft, die darin anticipirt wird. Nur da- Nenners die Rede, dann bleibt die (nega- durch, daß Schmerz oder Freude von der tive oder positive) Natur der Erlebnisse, Zukunft borgten, konnten sie so abnorm die die Inhalte des Zählers ausmachen, erhöht werden, folglich nicht auf Dauer.“ noch ganz offen. Die Überlegungen, die (WI 373; vgl. WI 374, PII 312ff) Schopenhauer über das Glück als Bruch Obwohl sich diese Überlegungen im Kon- anstellt, sind daher neutral hinsichtlich der text der pessimistischen Lehre vom Le- Grundfrage, ob Glückserfahrungen nur im ben als Leiden finden, spricht Schopen- Fehlen von Schmerz und Leid bestehen hauer hier weniger als Pessimist denn als oder ob sie eigene positive Erlebnisse aus- lebenspraktischer Realist, der vor den Ge- machen. Sie könnten jedenfalls auch in fahren ungezügelter Phantasie und unrea- einer optimistischen Glückslehre verwen- listischer Zukunftserwartungen warnt. Er det werden. wendet sich eben nicht nur gegen Illusio- Die menschliche Vernunft beeinflusst nach nen des optimistischen Wunschdenkens, Schopenhauer das Glück nicht nur durch sondern auch gegen die pessimistische die rationale Planung und Kontrolle von Schwarzmalerei, die ein zu erwartendes Wünschen und Bedürfnissen, sondern Unglück in der Phantasie in grellen, un- auch durch das bloße Vorstellen der Zu- realistischen Farben ausmalt. In diesem kunft. Die Vernunft gibt dem Menschen Sinne kritisiert er in der Tradition Epikurs nämlich die Möglichkeit, sein zukünftiges und der Aufklärung auch die imaginären Leben gedanklich vorwegzunehmen und Sorgen und Ängste, die Menschen gegen- es in der Phantasie als angenehm oder leid- über fiktiven Wesen wie Göttern und Dä- voll vorzustellen. Doch in solchen Antizi- monen entwickeln. Um das Leiden des Le- pationen von Freude und Leid neigt der bens und die Langeweile zu ertragen, ist Mensch nach Schopenhauer zu Übertrei- es dazu gekommen, bungen. Die Fähigkeit der Imagination „[…] dass der menschliche Geist, noch wird missbraucht, wenn man sich ein er- nicht zufrieden mit den Sorgen, Beküm-

126 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 mernissen und Beschäftigungen, die ihm Es handelt sich dabei um Glückserfah- die wirkliche Welt auflegt, sich in der Ge- rungen, bei denen Vernunft und Geist des stalt von tausend verschiedenen Supersti- Menschen ebenfalls eine zentrale Rolle tionen noch eine imaginäre Welt schafft, spielen. War bisher von der Vernunft vor- mit dieser sich dann auf alle Weise zu thun nehmlich als einem Instrument die Rede, macht und Zeit und Kräfte an ihr ver- das Bedürfnisbefriedigung und Wünsche schwendet, sobald die wirkliche ihm die steuert, so kommt nunmehr der mensch- Ruhe gönnen will, für die er gar nicht emp- liche Geist als eine grundlegende Erfah- fänglich ist.“ (WI 380) rungs- und Erlebnisform selbst in den Bemerkenswert ist, dass sich diese auf- Blick. Neben dem Glück der Bedürfnisbe- klärerischen Überlegungen bereits im er- friedigung und Wunscherfüllung kennt sten Band der WWV befinden und im Schopenhauer nämlich auch die Kontem- zweiten Band der Parerga aufgegriffen plation als eigene Form von Glück. werden. In den Aphorismen beziehen sich Am deutlichsten hat Schopenhauer das Schopenhauers Warnungen vor illusionä- Glück der Kontemplation in seiner Ästhe- ren Hoffnungen und Ängsten dagegen vor- tik herausgearbeitet. Hier spricht er in wiegend auf die Wünsche nach Ruhm und höchsten Tönen von den geistigen Freu- Ehre. Nun sind diese Warnungen vor illu- den, die das Erleben der Kunst gewährt. sionärem Leid mit der pessimistischen Das Phänomen des Schönen hat er dabei Grundauffassung vom Leben als Leiden im Anschluss an Kants Auffassung vom zwar durchaus vereinbar, aber sie sind „interesselosen Wohlgefallen“ durch die doch deutlich weniger pessimistisch ak- Annahme erklärt, dass der Geist im äs- zentuiert. Auf jeden Fall nimmt damit be- thetischen Wohlgefallen sich von seiner reits der frühe Schopenhauer seine radikal Rolle als Diener der Triebe und Bedürf- pessimistische These von der „schlech- nisse gänzlich befreit und zum reinen wil- testen aller möglichen Welten“ in diesem lenlosen Subjekt wird. Das ästhetische Zusammenhang faktisch zurück. Die Pas- Wohlgefallen betrachtet Schopenhauer da- sagen, in denen er einer vernünftigen Kon- bei als die einzige Freude, die ganz ohne trolle von Zukunftserwartungen das Wort Schmerzen ist, also als eine von aller Sin- redet, gehören jedenfalls zu den Teilen nenlust unabhängige, rein geistige Freu- seiner Glückslehre, die mit seiner pessi- de. In der Kunst gibt es mistischen Grundauffassung nur lose ver- „[…] das reine willensfreie Erkennen, wel- bunden sind. ches freilich auch in der That das einzige reine Glück ist, dem weder Leiden noch VII. Bedürfniß vorhergeht, noch auch Reue, Nachdem wir mit der Rolle der Vernunft Leiden, Leere, Ueberdruß nothwendig beim menschlichen Glücksstreben einige folgt […]“ (WI 378) Elemente von Schopenhauers Glückslehre Abgesehen von dem Glück der Erlösung, kennen gelernt haben, die von seiner pes- das freilich den Asketen vorbehalten simistischen Grundansicht weitgehend un- bleibt, gewährt die Kunst damit nach abhängig sind, wollen wir uns nun einigen Schopenhauer die höchste Form mensch- Lehrstücken zuwenden, die mit seinem lichen Glücks. Pessimismus kaum zu vereinbaren sind.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 127 „Es ist der schmerzenslose Zustand, den Schmerz und Leid deutet. Wenngleich er Epikuros als das höchste Gut und als den also auch in diesem Kontext explizit an Zustand der Götter pries: denn wir sind, seiner Lehre von der Negativität des für jenen Augenblick, des schnöden Wil- Glücks festhält, ist es doch kaum zu über- lensdranges entledigt, wir feiern den Sab- sehen, dass sich die Anerkennung des bath der Zuchthausarbeit des Wollens, das positiven Charakters von Lust und Glück Rad des Ixion steht still.“ (WI 231) hier stillschweigend immer wieder geltend Im ersten Band der WWV redet Scho- macht. Ein Indiz dafür, dass geistige Freu- penhauer vor allem im Kontext der Äs- den nicht im bloßen Fehlen von Schmer- thetik vom Glück der Kontemplation. Da- zen bestehen können, kann man darin er- bei charakterisiert er das ästhetische Wohl- blicken, dass Schopenhauer bei der Be- gefallen auch als eine Erlebnis- oder Erfah- schreibung geistigen Glücks auch positi- rungsform, die sich von dem sonst in al- ve Ausdrücke für Emotionen und Emp- ler Erfahrung (und in allen empirischen findungen verwendet. So spricht er nicht Wissenschaften) geltenden „Satz vom nur von „Freude“, „Genuss“ und „Wohl- Grund“ (Kausalität) gelöst hat. In den gefallen“, sondern er bezeichnet die Wir- Aphorismen spielt diese systematische kung der Kunst unter anderem als „erqui- Idee dagegen keine Rolle. Hier beschränkt ckend“ und „aufrichtend“. (vgl. WI 232) Schopenhauer seine Betrachtungen zum Damit unterscheiden sich seine Charakte- Glück der Kontemplation auch nicht mehr risierungen geistigen Glücks auch von sei- auf die Kunst, sondern spricht allgemein nen Ausführungen über das Glück der Er- von geistigen Freuden und Genüssen. Wie lösung, das durchweg nur mit negativen seine Erläuterungen deutlich machen, rech- Ausdrücken wie „Willenlosigkeit“, „Ruhe“ net er nunmehr auch Philosophie und Wis- und „Entsagung“ beschrieben wird. Bei senschaft, sofern sie sich aus reinem Er- der Kunsterfahrung ist also von Glückser- kenntnisinteresse der Welt zuwenden, zu lebnissen im Sinne angenehmer, schöner den Quellen höchsten geistigen Glücks. Erfahrungen die Rede, die wegen ihres Ei- (vgl. PI 357ff und unten Abschnitt VIII) genwerts erstrebt werden. Zwar bleibt Das hohe Lied auf die Kunst und die gei- auch hier eine rein negative Deutung der stigen Freuden, das Schopenhauer immer Kunsterfahrung logisch möglich, aber eine wieder anstimmt, steht nun freilich in deut- solche Deutung passt kaum zu dem en- lichem Kontrast zu seiner pessimistischen thusiastischen Ton, den Schopenhauer bei Lebensauffassung. Nicht wenige Interpre- der Beschreibung des Glücks der Kon- ten haben einen offenen Widerspruch zwi- templation anschlägt. Das ästhetische schen seiner Ästhetik und seinem Pessi- Wohlgefallen und die geistigen Freuden mismus gesehen.13 Nun ist es tatsächlich drängen sich ihm immer wieder als positi- so, dass Schopenhauer einerseits das Erle- ve Glückserfahrungen auf, auch wenn er ben der Kunst und die geistigen Freuden als sie nie offen anerkennt.14 höchste Form menschlichen Glücks be- greift, andererseits jedoch das Glück der VIII. ästhetischen Kontemplation (ebenso wie Auf Glückserfahrungen, die mit seiner das Glück der anderen intellektuellen Ge- pessimistischen Grundansicht kaum zu nüsse) rein negativ, als Abwesenheit von vereinbaren sind, kommt Schopenhauer

128 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 schließlich auch zu sprechen, wenn er die sten Zufriedenheit mit sich selbst zu ge- Rolle der Persönlichkeit für das Glück un- langen.“ (WI 361) tersucht. Im Kontext seiner Betrachtun- Die eigenen Fähigkeiten zu kennen und gen zur Langeweile war bereits deutlich entsprechend auszubilden, ist deshalb geworden, dass das menschliche Glück wichtig, weil eben darin die Erfahrungen keineswegs nur Sache sinnlicher Bedürf- von Zufriedenheit und Glück bestehen. nisse ist. Langeweile stellt sich ein, wenn „Denn es giebt eigentlich gar keinen Ge- nach der Befriedigung sinnlicher Bedürf- nuß anders, als im Gebrauch und Gefühl nisse die Geisteskräfte ungenutzt dahin der eigenen Kräfte, und der größte Schmerz treiben. Glück besteht hier also darin, dass ist wahrgenommener Mangel an Kräften, die intellektuellen Fähigkeiten des Men- wo man ihrer bedarf. Haben wir nun er- schen eine angemessene Betätigung fin- forscht, wo unsere Stärken und wo unse- den. re Schwächen liegen; so werden wir un- Langeweile ist für Schopenhauer aber nur sere hervorstechenden natürlichen Anla- ein Fall der allgemeinen Erfahrung, dass gen ausbilden […] Nur wer dahin gelangt Glück und Leid entscheidend von der ist, wird stets mit voller Besonnenheit ganz Persönlichkeit abhängen. Der Rolle der er selbst seyn […] Er wird alsdann oft Persönlichkeit für das Glück hat er in den der Freude theilhaftig werden, seine Stär- Aphorismen das zweite Kapitel „Von Dem, ken zu fühlen, und selten den Schmerz was Einer ist“ (PI 343-366) gewidmet. erfahren, an seine Schwächen erinnert zu Zwar steht dieses Kapitel, was den Um- werden […]“ (WI 360f) fang betrifft, hinter den Ausführungen über In den Aphorismen hat Schopenhauer die Ruhm und Ehre in dem Kapitel „Von Dem, primäre Bedeutung der Persönlichkeit für was Einer vorstellt“ (PI 367-430) und den das Glück ausführlich beschrieben. Aus- vermischten Bemerkungen in dem Kapi- gangspunkt seiner Überlegungen ist da- tel „Paränesen und Maximen“ (PI 431-507) bei die Tatsache, dass jede Person als Sub- deutlich zurück, dennoch kann dieses Ka- jekt des Erlebens etwas Unmittelbares und pitel mit einigem Recht als das Herzstück Bleibendes in allen ihrer Erfahrungen ist. seiner Glückslehre betrachtet werden. Die Person ist gewissermaßen die Form Mit der Bedeutung der Persönlichkeit für oder das Medium, das alle Erfahrungen das Glück befasst sich auch schon der bedingt und mitbestimmt. frühe Schopenhauer im ersten Band der „Was Einer in sich ist und an sich selber WWV. Seine Ausführungen stehen dabei hat, kurz die Persönlichkeit und deren im Kontext seiner Theorie des „erworbe- Werth, ist das alleinige Unmittelbare zu nen Charakters“.15 Schopenhauer ver- seinem Glück und Wohlseyn. Alles An- sucht hier zu zeigen, dass die Selbster- dere ist mittelbar; daher auch dessen Wir- kenntnis einer Person von sich und ihren kung vereitelt werden kann, aber die der Fähigkeiten zentrale Bedeutung für ihre Persönlichkeit nie.“ (PI 343) Zufriedenheit hat. Dass die Person das Erleben von Glück „Kenntniß seiner eigenen Gesinnung und unmittelbar bestimmt, heißt nun vor allem, seiner Fähigkeiten jeder Art und ihrer un- dass Glückserfahrungen auf der Betätigung abänderlichen Gränzen ist in dieser Hin- der eigenen Kräfte beruhen. Wie Lange- sicht der sicherste Weg, um zur möglich- weile darin besteht, dass der menschliche

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 129 Geist unbeschäftigt ist, so gibt es nach Dieses ist, und je mehr demzufolge er die Schopenhauer die allgemeine Erfahrung, Quellen seiner Genüsse in sich selbst fin- dass Leid und Unglück entstehen, wenn det, desto glücklicher wird er seyn. Mit die verschiedenen Kräfte einer Person vollem Rechte also sagt Aristoteles […]: brachliegen. Umgekehrt entstehen Glücks- das Glück gehört Denen, die sich selber und Lusterfahrungen, wenn die Kräfte ei- genügen. […] Demnach ist eine vorzügli- ner Person eine angemessene Betätigung che, eine reiche Individualität und beson- finden. Glück besteht somit in der Aus- ders sehr viel Geist zu haben ohne Zwei- bildung und Betätigung der eigenen Kräf- fel das glücklichste Loos auf Erden […]“ te. Mit ausdrücklicher Berufung auf Ari- (PI 353f) stoteles behauptet Schopenhauer die Be- Die Grundansicht, dass menschliches deutung der Persönlichkeit für das Glück, Glück in der Betätigung der eigenen Kräf- wenn er sagt, te besteht, hat Schopenhauer in den Apho- „ […] daß jeglicher Genuß irgend eine rismen durch seine Lehre von den drei Aktivität, also die Anwendung irgend ei- physiologischen Grundkräften weiter ent- ner Kraft voraussetzt und ohne solche faltet. Auf der Betätigung der Reproduk- nicht bestehen kann.“ (PI 355) tionskraft beruhen die Genüsse des Es- Damit akzeptiert er die sens und Trinkens. Zur Irritabilität gehö- „Aristotelische Lehre, daß das Glück ei- ren die Genüsse der Körperbewegungen, nes Menschen in der ungehinderten Aus- insbesondere der Sport. Auf der Sensibi- übung seiner hervorstechenden Fähigkeit lität basieren schließlich geistige Genüsse bestehe […] “ (PI 355) wie Lesen, Dichten, Musizieren, Denken, Sofern das Glück eines Menschen in der Erfinden und Philosophieren. (vgl. PI Betätigung und Entfaltung der eigenen 357ff) Um Glück zu erleben, kommt es Kräfte besteht, genießt daher jeder, wie er nach Schopenhauer darauf an, dass der mit Bezug auf die englische Redewendung Mensch vor allem die Kräfte betätigt, die „to enjoy yourself“ sagt, zunächst und vor am stärksten in ihm vorhanden sind. Auch allem sich selbst. Auch das auf den fran- bei diesen Betrachtungen über die Bedeu- zösischen Moralisten Chamfort zurückge- tung der Persönlichkeit und der physiolo- hende Motto der Aphorismen, dass der gischen Grundkräfte für das Glück wird Mensch das Glück, wenn überhaupt, nur die Negativitätsthese faktisch suspendiert. in sich selbst finden kann, gehört in die- Wäre Glück nämlich nur negativ, so wäre sen Kontext. Die Bedeutung des Mottos es überflüssig, ja widersinnig die Persön- liegt nach Schopenhauer zunächst darin, lichkeit zu entwickeln, weil die dadurch dass jeder Mensch durch Betätigung all entfalteten Kräfte ja nur (schmerzhaft emp- seiner Kräfte Glück erfahren kann, wohin- fundene) Bedürfnisse wären, die wie Wun- gegen sein Besitz und sein Rang für sein den geheilt werden müssten. Glück eher unbedeutend sind. Im enge- Soweit Schopenhauer die Ausbildung der ren, eigentlichen Sinne ist damit aber ge- Persönlichkeit empfiehlt, vertritt er eine meint, dass die geistigen Fähigkeiten einer Glückslehre, die sich an alle Menschen Person die Hauptquelle ihres Glücks sind. richtet und deren Verschiedenheit in Rech- „Das Beste und Meiste muß daher Jeder nung stellt. Obwohl seine Lehre in dieser sich selber seyn und leisten. Je mehr nun Hinsicht zunächst wertneutral auftritt und

130 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 der Vielfalt menschlicher Glückserfahrun- stellung zu seiner Leserschaft, als sein Auf- gen Rechnung trägt, hat Schopenhauer stieg zum Modephilosophen bereits be- doch meist keinen Hehl daraus gemacht, gonnen hatte. dass er selbst die geistigen Freuden am höchsten schätzt und den anderen For- IX. men des Glücks, die von Sinnengenüssen Mit Schopenhauers Betrachtungen über und Körperbewegungen abhängen, als die Bedeutung der Persönlichkeit thema- weit überlegen betrachtet. Auch innerhalb tisch eng verknüpft sind seine Überlegun- der geistigen Genüsse macht er deutliche gen über die Rolle des Temperaments für Unterschiede. So schätzt er besonders die das Glück. Gerade hier lassen sich be- Genüsse der Kunst, Literatur und Philo- merkenswerte Differenzen zwischen sei- sophie. Geringschätzig, ja verächtlich nem frühen Hauptwerk und den Aphoris- spricht er dagegen meist von Spielen, be- men feststellen. sonders von dem ihm verhassten Karten- In § 57 der WWV, wo Schopenhauer sich spiel. Unter diesen in seinen Augen trivia- mit dem Antagonismus von Schmerz und len Zeitvertreiben billigt er lediglich dem Langeweile auseinandersetzt, versucht er Schachspiel einen besonderen Rang zu. auch zu zeigen, dass das dem Leben we- In diesem Kontext kommen offensichtlich sentliche Leiden, wenn es in einer be- persönliche Wertungen und Vorlieben stimmten Form vertrieben wird, sogleich Schopenhauers zum Tragen, die mit der in einer anderen Form wieder auftritt. Über Intention, eine Glückslehre für alle Men- die These der Unvermeidlichkeit von Lei- schen zu entwickeln, nicht zu vereinbaren den geht er hier aber hinaus, indem er die sind. Das Glück des geistigen Lebens, Vermutung äußert, das er als die höchste Form des Glücks „[…] daß in jedem Individuum das Maaß betrachtet, ist nämlich nur für den einsa- des ihm wesentlichen Schmerzes durch men, geistig hoch stehenden Menschen er- seine Natur ein für alle Mal bestimmt wäre, reichbar, nicht jedoch für die breite Mas- welches Maaß weder leer bleiben, noch se.16 Offenbar war Schopenhauer, als er überfüllt werden könnte, wie sehr auch die sich mit der Verschiedenheit menschlicher Form des Leidens wechseln mag. Sein Glückserfahrungen konfrontiert sah, ähn- Leiden und Wohlseyn wäre demnach gar lich wie J. St. Mill nicht bereit, die Gleich- nicht von außen, sondern durch jenes wertigkeit aller Glückserfahrungen zu ak- Maaß, jene Anlage, bestimmt […]“ (WI zeptieren und damit das Glück des Nar- 372) ren als ebenso wertvoll wie das Glück des Dieses feste Maß an Schmerz ist nun aber Künstlers oder Philosophen anzuerken- „[…] nichts Anderes […], als was man nen.17 Seine häufig hervortretende elitäre sein Temperament nennt, oder genauer, Einstellung, die ihn mitunter verächtlich der Grad in welchem er […] leichten oder vom Menschen als der „Fabrikware“ der schweren Sinns [ist].“ (WI 372) Natur sprechen lässt, ist nicht nur mit sei- Für diese Hypothese eines angeborenen ner Mitleidsethik unverträglich, sondern Temperaments spricht unter anderem, sie passt auch nicht zum ursprünglichen „[…] daß der menschliche Frohsinn, oder Anliegen seiner Glückslehre. Offenbar hat- Trübsinn, augenscheinlich nicht durch te er auch dann noch eine ambivalente Ein- äußere Umstände, durch Reichtum oder

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 131 Stand, bestimmt wird; da wir wenigstens Rolle zu klären, die Grundstimmungen wie ebenso viele frohe Gesichter unter den Ar- Heiterkeit und Schwermut für das mensch- men, als unter den Reichen antreffen […]“ liche Glück und Leid spielen. Doch in- (WI 373) dem er so fragt, erhalten seine Überlegun- In Anlehnung an die alte Lehre von den gen einen anderen, freundlicheren Ton. Es Temperamenten formuliert Schopenhau- geht ihm nun nicht mehr darum, das Tem- er damit die Auffassung, dass jede Per- perament als unveränderlich herauszustel- son durch einen ihr eigenen Grad von len und dem Menschen eine stoische Hal- Heiterkeit oder Schwermut gekennzeich- tung zu empfehlen. Stattdessen beschreibt net ist. Jeder Mensch besitzt also eine kon- er den Wert der Heiterkeit für das Glück stante Grundstimmung, die von äußeren in einer Weise, wie man es von einem Pes- Erfahrungen weitgehend unabhängig ist simisten nicht erwarten würde. Er betrach- und die sich nach kurzen Erlebnissen gro- tet Heiterkeit nämlich als die Grundstim- ßer Freude oder großen Leids bald wie- mung, die sich selbst mit Glück belohnt, der einstellt. (vgl. WI 373) Hat eine Per- wohingegen ihm Melancholie als ein be- son einen Hang zur Melancholie, so wer- dauernswerter Charakterzug gilt. Während den auch erfreuliche Ereignisse sie nur er im frühen Hauptwerk Heiterkeit als Zei- wenig aufheitern; ist sie dagegen von ei- chen der Erlösung beschreibt und wür- ner natürlichen Heiterkeit beseelt, dann digt (vgl. WI 461, 486), wird sie in den wird sie auch durch schlechte Erfahrun- Aphorismen als ein Persönlichkeitsmerk- gen nicht leicht aus der Bahn zu werfen mal gefasst, das ein glückliches Leben er- sein. möglicht, ja in gewisser Weise ausmacht. Mit diesen Überlegungen zum angebore- „Was nun aber, von jenen Allen [äußeren nen Temperament will Schopenhauer die und inneren Gütern], uns am unmittel- Menschen dazu bringen, das in ihrer Per- barsten beglückt, ist die Heiterkeit des sönlichkeit begründete Leid als unvermeid- Sinnes: denn diese gute Eigenschaft be- lich zu begreifen und zu akzeptieren. lohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben Durch die Einsicht in die Notwendigkeit fröhlich ist hat allemal Ursache es zu sein: sollen die Menschen getröstet und zu stoi- nämlich eben diese, daß er es ist. Nichts schem Gleichmut erzogen werden. Als kann so sehr, wie diese Eigenschaft, je- verfehlt und sinnlos lehnt er jedoch alle des andere Gut vollkommen ersetzen; Bemühungen ab, das Leiden endgültig und während sie selbst durch nichts zu erset- vollständig zu beseitigen. Ähnlich wie bei zen ist.“ (PI 344) seinen Warnungen vor illusionären Äng- Diese Überlegung zur Bedeutung der Hei- sten schlägt er hier einen aufklärerischen terkeit für ein glückliches Leben sind mehr und moderat-pessimistischen Ton an, als eine bloße Beschreibung eines Tem- wenn er sich auch gegen eine übersteiger- peraments. Schopenhauer stimmt hier ge- te, ängstliche Sorge um das eigene Wohl radezu eine Eloge auf die Heiterkeit an, wendet. (vgl. WI 372) wenn er einen Menschen mit heiterem Eine davon ziemlich verschiedene Betrach- Temperament als per se glücklichen Men- tungsweise hat Schopenhauer dem Tem- schen preist. Nicht ganz zufällig klingt da- perament in den Aphorismen gewidmet. bei auch die These an, dass das heitere Hier geht es ihm vornehmlich darum, die Leben ein Leben ist, das um seiner selbst

132 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 willen erstrebens- und lebenswert ist. (vgl. Trotz der Gemeinsamkeiten, die die Glücks- oben II) In seinem Lob der Heiterkeit tritt auffassungen des jungen und alten Scho- die pessimistische Grundansicht von Glück penhauer aufweisen, lassen sich aber auch als bloßer Abwesenheit von Leid gänzlich einige bemerkenswerte Differenzen fest- zurück und macht der (impliziten) Anerken- stellen. Es handelt sich dabei um Verschie- nung positiver Glückserfahrungen Platz. bungen in den thematischen Schwerpunk- ten, aber auch Veränderungen im Inhalt X. und im Ton. Zunächst ist festzustellen, Die vorangegangenen Untersuchungen dass die Betrachtungen zum Thema Glück konzentrierten sich auf die Grundlagen von beim alten Schopenhauer erheblich an Um- Schopenhauers Glückslehre und können fang zugenommen haben. Waren es im frü- daher nur ein vages Bild von der ganzen hen Hauptwerk die Paragraphen 56-58 Breite und dem Reichtum seiner Betrach- (WI 363-381), so machen die Aphoris- tungen zum Glück vermitteln. Trotz die- men (PI 333-530) eine selbständige Ab- ser Einschränkung lässt sich feststellen, handlung innerhalb der Parerga und Pa- dass die Glücksauffassungen des frühen ralipomena aus. Der alte Schopenhauer Hauptwerks und der Aphorismen weitge- hat sich viel weiter auf die konkreten Le- hend übereinstimmen. Von einem Bruch bensbereiche des Menschen eingelassen in Schopenhauers philosophischer Ent- und dabei zu einer Vielzahl von Lebens- wicklung kann hinsichtlich seiner Glücks- fragen Analysen und Ratschläge geliefert. lehre kaum gesprochen werden. Die Grund- gedanken der pessimistischen Glückslehre Mit dieser Verbreiterung der Erfahrungs- finden sich großenteils beim jungen und basis in den Aphorismen ist auch eine ge- beim alten Schopenhauer. In seiner Früh- wisse Abkehr von systematischen Frage- zeit wie in seiner Spätzeit vertritt er die stellungen verknüpft. Bei den Betrachtun- Grundthese vom Leben als Leiden, die gen des alten Schopenhauer zum Glück These der Negativität des Glücks sowie tritt nämlich die erkenntnistheoretisch- den Antagonismus von Schmerz und Lan- metaphysische Systematik seines Haupt- geweile. Aber auch die Elemente seiner werks meist in den Hintergrund. Zwar setzt Glückslehre, die von seiner pessimisti- er nach wie vor sein philosophisches Sy- schen Grundansicht unabhängig sind, fin- stem voraus, doch nimmt er in seinen kon- den sich weitgehend nicht nur beim alten, kreten Beobachtungen und bei der Formu- sondern bereits beim jungen Schopenhau- lierung seiner Ideen darauf nur wenig er. Schon im frühen Hauptwerk stellt er Rücksicht. So macht er etwa keinen Ge- die Rolle der Vernunft bei der Befriedi- brauch von der metaphysischen Begrün- gung von Bedürfnissen heraus, beschreibt dung, die er für die pessimistische These das Glück der ästhetischen Kontemplati- vom Leben als Leiden in der WWV aus on und befasst sich mit der Bedeutung der Natur des Wollens gegeben hatte. der Persönlichkeit für das Glück. Diese Ebenso kümmert er sich nicht mehr um Kontinuität in den Grundgedanken zeigt die Frage, ob das Glück der Kontempla- aber auch, dass bereits der junge Scho- tion oder der geistigen Genüsse eine Los- penhauer Auffassungen vertrat, die seinem lösung von Satz vom Grund bedeutet. offiziellen Pessimismus entgegenliefen. Ferner treten das übergeordnete Ziel der

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 133 Erlösung und der Wert des stoischen nen, werden ein Stück weit abgeschliffen Gleichmuts ganz in den Hintergrund, wenn und es zeichnen sich die Konturen eines er sich mit der Frage von Glück und Hei- nüchternen Realisten ab, der in gelasse- terkeit befasst. Nicht zuletzt hat der alte ner Altersweisheit die Menschen nicht nur Schopenhauer in einem eigenen Kapitel vor den Illusionen und Irrwegen des den Wert der Persönlichkeit für das Glück Glücksstrebens bewahren will, sondern untersucht, ohne sich dabei von der Fra- zugleich auch auf Erfahrungen aufmerk- ge beunruhigen zu lassen, ob diese Be- sam macht, die um ihrer selbst erstrebens- trachtungen mit seiner pessimistischen und lebenswert sind. Grundansicht überhaupt vereinbar sind. Während der junge Schopenhauer ein star- kes Bemühen zeigt, seine konkreten Be- Anmerkungen: trachtungen jeweils in seinem philosophi- 1 Zur Einordnung Schopenhauers in die europäi- schen System zu verankern, ist der alte sche Moralistik vgl.: Robert Zimmer, Die europäi- Schopenhauer ein Stück weit offener und schen Moralisten zur Einführung, Hamburg 1999, undogmatischer. S.134-138. 2 Volker Spierling, Arthur Schopenhauer. Eine Ein- Als Fazit drängt sich damit die Hypothe- führung in Leben und Werk, Frankfurt am Main se auf, dass es in Schopenhauers philo- 1994, S.211. sophischer Entwicklung zwar keinen 3 Die Schriften Schopenhauers werden nach der Bruch, aber doch eine behutsame Distan- Ausgabe von A. Hübscher (3. Aufl. Wiesbaden zierung vom radikalen Pessimismus sei- 1972) zitiert: ner Jugend gibt. Die meisten seiner nicht- WI = Die Welt als Wille und Vorstellung Bd.1 WII = Die Welt als Wille und Vorstellung Bd.2 pessimistischen Auffassungen finden sich PI = Parerga und Paralipomena Bd.1 schon im frühen Hauptwerk, doch kom- PII = Parerga und Paralipomena Bd.2 men sie hier weniger zur Geltung. In den 4 Barbara Neymeyr: Pessimistische Eudaimonolo- Aphorismen nehmen diese quasi-optimi- gie? Zu Schopenhauers Konzeptionen des Glücks, stischen Bestandteile seiner Glückslehre in: 77. Schopenhauer-Jahrbuch 1996, S.133-165. 5 dagegen einen bedeutenden Platz ein. Zur Entstehungsgeschichte der Aphorismen vgl.: Volker Spierling, a.a.O., S.205ff. Zwar hält auch der alte Schopenhauer an 6 Zum Hedonismus als Voraussetzung von Scho- seinen Grundthesen vom Leben als Lei- penhauers Pessimismus vgl.: Ernst Cassirer, Das den und von der Negativität des Glücks Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen- fest, doch tritt seine pessimistische Grund- schaft der neueren Zeit, Dritter Band: Die nachkanti- ansicht in vielen Zusammenhängen zurück. schen Systeme, Darmstadt 1974, S.442ff. 7 Seine Ausführungen über Kunst, Persön- Zum Unterschied zwischen apriorischem und em- pirischem Pessimismus vgl.: Georg Simmel, Scho- lichkeit, Temperament und Heiterkeit zei- penhauer und Nietzsche, in: Gesamtausgabe Band gen, dass er positive Glückserfahrungen 10, hrsg. von Michael Behr, Volkhard Krech und faktisch anerkennt. Indem der alte Scho- Gert Schmidt, Frankfurt am Main 1995, S.242f. penhauer damit seinen Blick für positive 8 Zum Begriff des „unvorbedachten“ Glücks vgl.: Glückserfahrungen öffnet, erfährt auch Dieter Birnbacher, Glück – Lustempfindung, Wunsch- das Gesamtbild, das er den Lesern prä- erfüllung oder Zufriedenheit? Der wechselvolle Um- gang mit dem Glück im Utilitarismus, in diesem Band. sentiert, eine gewisse Veränderung: Die 9 Dies ist die psychologische Kritik, die Simmel an Züge des harten Pessimisten, die vor al- Schopenhauers Negativitätsthese übt. Vgl.: Georg lem den jungen Schopenhauer kennzeich- Simmel, a.a.O., S.244, 248f.

134 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 10 Die Unverträglichkeit beider Auffassungen be- Zum Autor: hauptet: Barbara Neymeyr, a.a.O., S.148f. Dr. Martin Morgenstern lebt in St. Wen- 11 Schopenhauer nähert sich hier dem Gedanken del/Saar. Neben einer Arbeit über „Scho- eines „periodischen“ Glücks, wie ihn Birnbacher formuliert hat. Im Gegensatz zum „episodischen“ penhauers Philosophie der Naturwissen- Glück des Augenblicks, das durch Emotionen be- schaft“ (Bonn 1985) hat er mehrere Auf- stimmt ist, besteht „periodisches“ Glück in einer sätze zu Schopenhauer veröffentlicht, rückblickenden Betrachtung und Bewertung der zuletzt „Die metaphysischen Wurzeln der Gesamtqualität einer Lebensphase, also in einem Moral bei Schopenhauer“( in: „Scho- Urteil. Vgl. Dieter Birnbacher, Philosophie des penhauer im Kontext“, Würzburg 2002). Glücks, in: Information Philosophie, Nr. 1/2006, S.9ff. Er ist u.a. Autor zweier Monographien 12 Den Einfluss der Vernunft auf Erwartungen und über Nicolai Hartmann („Nicolai Hart- Ansprüche hat Schopenhauer klar herausgestellt. mann. Grundlinien einer wissenschaft- Nicht gesehen hat er jedoch, dass auch die Erfah- lich orientierten Philosophie“, Bern rungen von Lust und Schmerz einer Bewertung un- 1992. „Nicolai Hartmann zur Einfüh- terliegen können. So kann z.B. auch ein Mensch, rung“, Hamburg 1997), einer Biogra- der krank ist und Schmerzen hat, glücklich sein, wenn er die Schmerzen als vorübergehend oder als phie über Karl Popper (München 2002, Zeichen der Besserung betrachtet. Vgl. D. Birn- zus. mit R. Zimmer) und Mitherausge- bacher, Philosophie des Glücks, a.a.O., S. 13. ber des Briefwechsels zwischen Hans 13 Zum Widerspruch zwischen Schopenhauers Pes- Albert und Karl Popper (Frankfurt simismus und seiner Ästhetik vgl: Barbara Neymeyr, 2005). a.a.O., S.152f; Georg Simmel, a.a.O., S.295ff. 14 Zum angeblich rein negativen, de facto aber po- sitiven Charakter des Kunsterlebens bei Schopen- hauer vgl.: Georg Simmel, a.a.O., S.285, 302f. 15 Der Ausdruck „erworbener Charakter“ ist frei- lich etwas irreführend, da Schopenhauer darunter nur die zunehmende Erkenntnis des vererbten, un- veränderlichen Charakters versteht. Vgl. WI 359. 16 Zu Schopenhauers „Ideal vom einsamen, geistig hoch stehenden Menschen“ vgl.: Robert Zimmer, Die europäischen Moralisten, a.a.O., S.136f. 17 Vgl. die analogen Bemerkungen Birnbachers über Mill: D. Birnbacher, Philosophie des Glücks, a.a.O., S.21f.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 135 Helmut Walther (Nürnberg) Nietzsche und das Glück

Dem Individuum, sofern es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, Jedermann unbekann- ten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von Aussen her nur verhindert, gehemmt werden. Morgenröte, KSA 4, 95 Den Mann muss man nicht groß vorstellen1 . meinem ganzen Leib und Leben geschrie- Täglich begegnet er etwa in Pressemeldungen ben: ich weiß nicht, was ‚rein geistige‘ Pro- als einer der häufigst zitierten Autoren deut- bleme sind.“5 , notiert er denn auch konse- scher Sprache. Und doch ist er schwer greif- quent 1880. bar, obwohl es kaum einen deutschen Le- benslauf gibt, der so gut belegt und erforscht Um uns hier nicht sogleich heillos im Laby- ist, von dem Goethes vielleicht abgesehen. rinth der Wege zum Glück zu verirren, müs- Denn Nietzsche spielt nach eigener Aussage sen wir den Ariadne-Faden der Lebenskunst gerne und häufig mit Masken, behände zunächst objektiv zu entwirren versuchen, schlüpft er von einer in die andere: „Alles, um dann zu sehen, ob überhaupt und wel- was tief ist, liebt die Maske.“2 che Bestandteile der Nietzscheschen Philo- Er tritt uns entgegen als Wagner-Herold, Im- sophie ins Zentrum führen. moralist, Kolumbus, Freigeist, Denker, Psy- Werfen wir einen unverstellten Blick auf die chologe, Fugitivus errans, Philoktet, als Phi- Menschen vor, neben und nach uns, fällt losoph mit dem Hammer, Dionysos, der Ge- sogleich ins Auge, dass sich „das Glück“ kreuzigte, Narr, und zuletzt sind gar alle welt- und eine einzige zu ihm hinführende Lebens- geschichtlich bedeutenden Individuen Rein- kunst nicht festmachen lassen – so unter- karnationen seiner Person ...3 schiedlich der Glücksbegriff der Individuen Ganz offensichtlich gehört dieses Rollenspiel zu verschiedenen Zeiten und Orten, ebenso zu seiner Lebenskunst, zu der er uns mit den die Wege dorthin. Und darüber hinaus gilt: beredetsten Worten, die in deutscher Zunge Selbst das einzelne Individuum findet sein geschrieben wurden4, überreden möchte, Glück in den unterschiedlichen Stadien sei- aber sollten, ja können wir desillusionierten ner Entwicklung von der Kindheit über die (und vielleicht gerade deshalb sehr illusions- Jugend, als Zwanziger oder als reifer Mann, bedürftigen) Menschen des 21. Jahrhunderts als lebensgesättigter Senior oder als nurmehr den Rezepten seiner „Lebenskunst“ folgen? rückblickender Greis in ganz unterschiedli- Müssten wir dann nicht zuerst darauf sehen, chen Werten und Mitteln. wie es ihm selbst, für sein eigenes Leben, Anders ausgedrückt: Der Versuch, das damit gelungen ist? Oder sollen wir auch in Glück oder die Lebenskunst allgemein zu dieser Frage zwischen Werk und Leben tren- bestimmen, ist auf Grund seiner Abstrakti- nen? Das allerdings wäre wiederum ganz un- on vom real lebenden Menschen und des- nietzschisch, galt ihm ein Philosoph doch sen individuellen inneren und äußeren Be- immer gerade soviel, wie sich dessen Philo- dingungen a priori zum Scheitern verurteilt. sophie im eigenen Leben wirksam widerspie- Nietzsche selbst hat auf Grund seiner Para- gelte. „Ich habe meine Schriften jederzeit mit lyse lediglich das Alter von 44 Jahren bei

136 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 klarem Verstand erreicht6 – was er uns wohl schengeschlechts“ wie Peter Sloterdijk bis zu sagen gehabt hätte, wenn er wie sein Ba- zu New-Age-Anhängern, für jeden fällt et- seler Kollege Jacob Burckhardt knapp acht- was ab. zigjährig geworden wäre und so den Ersten Warum ist das so? Nun, was Nietzsche auf Weltkrieg und die Weimarer Republik miter- seinem Grabegang durch die vielen Stollen lebt hätte? Jedenfalls konnten ihm so die ver- des Bergwerks menschliche Psyche ent- schiedenen Lebensperspektiven zwischen 45 deckt und aufdeckt, und vor allem als dem und 80 Jahren ebenso wenig in den Blick Individuum vorgängige Entscheidungen des geraten wie wir erahnen können, wie sich „Leibes“ auf der Grundlage des genetischen die europäische „Urkatastrophe“ 1914-1918 „Sammelns“ der jeweils vorlaufenden Ge- auf sein Denken ausgewirkt haben würde. nerationen beschreibt, sollte sich auch mit Seine Schwester allerdings verfälschte ihn den Mitteln moderner Wissenschaft, insbe- zum Propagandisten der Macht und des sondere der Neurobiologie, aufzeigen las- deutschen Kaiserreichs (wie später des Drit- sen, also nicht nur psychologisch, sondern ten Reiches), und unzählige gefallener Sol- vor allem auch physiologisch. (Daraufhin daten des Ersten Weltkriegs trugen den „Za- zielte auch Nietzsche im Grunde, aber der rathustra“ im Tornister, der ungeahnte Auf- Stand der Forschung ließ nur eine spekulati- lagenhöhen erlebte. ve Psychologie zu, mit der er aber überra- schend oft ins Schwarze traf.) Die Hauptgesichtspunkte der Nietzscheschen Es ist ja heute nachgerade banal, den Status Philosophie, also der Wille zur Macht, der eines jeden Individuums als Entwicklungs- Übermensch und die Ewige Wiederkunft des gang aus dem Zusammenspiel von Veranla- Gleichen, werden von den verschiedenen In- gung und Umweltkonditionierung aufzufas- terpreten gänzlich unterschiedlich ausgelegt; sen – meist allerdings unter Vernachlässigung dies liegt neben der Voreinstellung der Inter- der Eigenaktivität des Individuums, wie be- preten vor allem am Nietzscheschen Polyper- reits Nietzsche zu Recht bemängelt –, so spektivismus – einfacher ausgedrückt, dass dass man sowohl zu einer Verneinung von sich zu jeder These in seinen Schriften (nicht Willensfreiheit (wie etwa Nietzsche selbst) nur) eine Gegenthese findet. So lassen sich gelangt als auch zu einer angeblichen „Auto- seine Aussagen auf Grund dieser experimen- matik“ dieses Prozesses, die dem Individu- tellen Weise zu philosophieren nicht auf ei- um selbst verborgen bleibe, das (mit Freud nen bestimmten Begriff bringen, und eben- gesagt) keineswegs Herr im eigenen Hause so ist Nietzsche ausdrücklich jedes „System- sei. Weniger banal wäre es vielleicht, hier zu denken“ fremd7 , vielmehr behandelt er die hinterfragen, was denn damit physiologisch Probleme der menschlichen Werte und Le- (und nicht nur psychologisch) eigentlich ge- bensführung stets in umkreisender Bewe- sagt sein soll. Wie kommt es zur Ausbildung gung, und so kommt es, dass sich jede be- so unterschiedlicher Glücksperspektiven der liebige Denkrichtung bei ihm eklektisch be- Individuen ganz konkret auf funktioneller dienen kann, von den Anhängern Epikurs, Ebene?8 Heraklits bis zu denen Spinozas und Scho- Uns Heutigen ist es selbstverständlich, von penhauers, von den Vegetariern bis zu den einer phylogenetischen Entwicklung aller Nazis, von Neuentdeckern des „Seins“ wie Lebewesen auszugehen, in der sich die In- Heidegger, von den „Züchtern des Men- formationssysteme vom Vegetativum über

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 137 den Instinkt, die Empfindung und die Ge- Handlungen erfolgen: Der Genuss wohl- fühle, den Verstand und die Vernunft aufein- schmeckender Speisen, das Wiedersehen ander aufbauend geschichtet haben; und wir geliebter Mitmenschen, das sich Auszeich- wissen, dass uns nur ein ganz kleiner Teil nen vor anderen oder das Ausüben von dieser auf elektrischen und chemischen Pro- Macht über diese, die wissenschaftliche Ent- zessen aufbauenden Tätigkeiten unseres Ge- deckung oder die ethische Bewährung, und hirns bewusst wird. Zu Nietzsches Zeit hat- nicht zuletzt sicherlich auch „religiöse Erleb- te man aber im Gefolge von Kant und Hegel nisse“ sind in negativer wie positiver Hin- jedenfalls in Deutschland noch ein ganz an- sicht an diese bewertende Empfindung deres Bild, „der Geist schwebte über den wechselwirksam gekoppelt; auf dem Hinter- Wassern“, um es im Bilde zu sagen, als alles grund der genetischen und individuell kon- beherrschender Wagenlenker des Individu- ditionierten Vorerfahrungen werden die ak- ums. Feuerbachs Projektionstheorie und tuellen Ereignisse für das Individuum bewertet Schopenhauers Lehre vom blinden Willen und entsprechend zugeordnet. Jede mit dem willensgeschaffenen Anhängsel „Glücks“-Erfahrung hat so entsprechend „Geist“ waren in Nietzsches Jugend noch ihrer kategoriellen Herkunft auch ihre eigene keineswegs entsprechend gesellschaftlich Nuance: Instinktbefriedigung und leibliches rezipiert – wohl aber von ihm selbst. Wohlempfinden, angenehme Empfindungen Die sich aus dem phylo- und ontogeneti- und Gefühle aus sinnlicher Wahrnehmung, schen Ineinander der verschiedenen Syste- Lusterleben im Erfolg, Freude an geistiger me sowie der ständigen (unbewussten und Betätigung und ethischer Bestrebung. Und bewussten) Epigenetik auf und zwischen all je nach Veranlagung, Konditionierung und diesen Ebenen ergebende unterschiedliche Selbstreflexion wird bei den unterschiedli- Kategorialität der Individuen ist natürlich auch chen Individuen sowohl die Stärke der dem Psychologen Nietzsche nicht verbor- Glücksempfindung und vor allem die bevor- gen geblieben: „Hauptfrage bei jedem Men- zugte Glückskategorie unterschiedlich sein; schen einzeln zu beantworten: sind deine wir sind in der glücklichen Lage, Nietzsches Gefühle mehr werth oder deine Gründe (Ver- eigene Rangfolge unterschiedlicher starker nunft)? Dies hängt von der Vererbung und Glücksmomente zu kennen, hat er dies doch Übung ab.“9 Wir haben es hier also so- in seinen Nachlassaufzeichnungen selbst fest- wohl zwischen den verschiedenen Individu- gehalten: „Wenn ich die Dinge nach dem en wie auch innerhalb des einzelnen Indivi- Grade der Lust ordne, welche sie erregen, duums selbst mit einer dynamischen Gemen- so steht obenan: die musikalische Improvi- gelage der aufeinander aufbauenden und sation in guter Stunde, dann das Anhören wechselwirksam und rückgekoppelt ineinan- einzelner Sachen Wagner’s und Beethovens, dergreifenden Informationssysteme zu tun; dann vor Mittag gute Einfälle im Spazieren- wie wissen wir uns dabei glücklich? Als gehen, dann die Wollust usw.“10 „Glück“ empfunden wird grundsätzlich ein Auch ihm ist offensichtlich bereits die Betei- positiver Ausschlag der Emotio, also die ligung der Emotion an aller positiver Be- Schüttung entsprechender Botenstoffe durch wertung klar, vom Instinkt bis zur höchsten das Limbische System, das bei allem Geistestätigkeit – und ebenso die Tatsache, Glückserleben beteiligt ist, gleichgültig, auf dass sich die Rangfolge der Lustzustände welcher Kategorieebene die auslösenden durch reflexive Eigenaktivität individuell be-

138 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 einflussen lässt. Sonst könnte wohl kaum menschliches, Morgenröte, Die Fröhliche die „Wollust“, die für so viele Individuen an Wissenschaft erster Stelle steht11 , bei ihm auf Platz 4 „ge- – der Versuch der „Umwertung aller Werte“ rutscht“ sein ... Weiter verweist der Um- von 1882 an mit Zarathustra I-IV, Jenseits stand, dass an erster und zweiter Stelle mu- von Gut und Böse sowie der Genealogie sikalische Erlebnisse stehen, zuallerst die der Moral und dem Antichrist (die letzten eigenaktive Musikgestaltung, zu zweit das Spätschriften, mit denen sich der „Umwer- passive Musikhören, auf die starke ästheti- ter“ Nietzsche selbst vorstellt und gegen Ver- sche „Begabung“12 Nietzsches, die sich in wechslungen abgrenzen will, siehe Anm. 6). seiner virtuosen Sprachgestaltung auswirken wird. „Das Leben ohne Musik ist einfach Es ist hier nicht die Stelle, die Gesamt- ein Irrthum, eine Strapatze, ein Exil.“13 philosophie Nietzsches zu würdigen, dazu existiert im Übrigen eine längst unüberschau- Zu der sich aus dem komplexen Aufbau bar gewordene Literatur; aber es ist für das objektiv ergebenden Schwierigkeit, heraus- Verständnis der Nietzscheschen Auffassung zufinden, welche unter den verschiedenen von Glück und Lebenskunst unerlässlich, die möglichen Perspektiven für das jeweilige In- wichtigsten Punkte seiner Philosophie kurz dividuum die richtige sei, tritt neben dem vorzustellen: Problem, dass Nietzsche stets behauptet, a) Am Beginn seiner geistigen Entwicklung sich nicht nur im realen Leben, sondern auch steht die Beschäftigung mit der griechischen in seinen Schriften hinter einer Maske zu ver- Antike, die ihn bereits in der Jugend die Enge bergen, eine weitere hinzu: Im Entwicklungs- des christlichen Einflusses seiner Umgebung gang der Nietzscheschen Persönlichkeit hat überwinden lässt; vertieft wird dies durch sich naturgemäß sein Philosophieren verän- Religionskritik mit David Friedrich Strauss dert – auch wenn sich bestimmte Grundge- und mit der „anthropologischen“ Philoso- danken zeit seines Lebens durchhalten und phie Ludwig Feuerbachs und Ralph Waldo bereits in seinen Jugendschriften nachzuwei- Emersons, die Nietzsche bereits mit 17 Jah- sen sind. So unterscheidet man allgemein drei ren aufnimmt und daraus seine eigenen er- Phasen in seinem Denken (von den Jugend- sten philosophischen Texte formt14 . Unter schriften abgesehen, die vor der Beschäfti- dem Einfluss von Schopenhauer und Wag- gung mit Schopenhauer auch einen großen ner kritisiert er die nichtswürdige Oberfläch- Einfluss Ludwig Feuerbachs aufzeigen): lichkeit der eigenen Zeit („Bildungsphilister“), die durch eine Rückwendung auf die Alten – die frühen Schriften mit der Geburt der mittels der „tragischen Kunst“ durch den Tragödie, den Basler Vorträgen über Die neuen „Genius“ (Wagner) überwunden wer- Zukunft unserer Bildungsanstalten und den den soll. vier Unzeitgemäßen Betrachtungen, zum b) In seiner „immoralistischen“ (man könn- Teil unter dem Einfluss Richard Wagners, te auch sagen: kritischen) Phase wird vor die auf eine „Hebung der Kultur“ und eine allem die Herkunft der Moral untersucht und „wirkliche Bildung“ abzielen. die Erkenntnis Freuds samt deren Bestäti- – die „mittleren“, „positivistischen“ Schrif- gung durch die moderne Neurobiologie vor- ten des „Psychologen, Immoralisten und weggenommen, dass der Mensch nicht Herr Freigeistes“ mit Menschliches Allzu- im eigenen Hause sei: Der „Leib“ ist es, der

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 139 denkt, im Bewusstsein auftauchende Erklä- – Die Annahme des Gedankens der „Ewi- rungen und Begründungen eigenen und frem- gen Wiederkunft des Gleichen“; obwohl den Handelns ruhen samt und sonders auf Nietzsche auch die rein physikalische Rich- „Lüge“, vor allem auf derjenigen von der tigkeit des Prinzips für das gesamte Univer- Willensfreiheit. Unter dem Einfluss der im sum nachzuweisen sucht, liegt die Bedeu- Eigeninteresse moralisierenden Religionen sei tung auch für ihn selbst vor allem auf ethi- die wahre Natur des Menschen völlig ver- schem Gebiet: Das „Schwergewicht“ die- kehrt worden und drohe zu degenerieren. Die ses Gedankens, „wenn er als wahr geglaubt Moral des Mitleidens ebenso wie die Beto- wird“, ergibt sich aus der genau gleichen nung der Seele des Einzelindividuums („die Wiederkunft jeden gelebten Augenblicks; Gleichheit aller“) führe zur Verweichlichung durch sein eigenes Handeln als identisch wie- der Menschheit und zur Angleichung auf nied- derkehrendes wird der Mensch zu seinem rigstem Niveau, statt den natürlichen Auf- eigenen Richter anstelle Gottes für alle Ver- trag der Steigerung der eigenen Art anzuneh- gangenheit und Zukunft! men und solche hohen Typen hervorzubrin- – „Züchtung“ dieses höheren Typus durch gen, wie sie im alten Griechenland bereits die Bereitstellung entsprechender gesell- einmal existiert hätten. schaftlicher Bedingungen, insbesondere des c) Seine eigentliche Philosophie entwickelt Rangunterschiedes zwischen der neuen Nietzsche aus der Verbindung des Tragi- „(über)menschlichen Aristokratie“ (auch schen („Dionysos“) und des „Genius“ mit unter dem Namen der „prachtvollen blon- seiner Einsicht in die Notwendigkeit einer den Bestie“ auftretend) sowie den dazu un- Moralumkehr. Aus der Erkenntnis, dass fähigen „letzten Menschen“ als deren „Skla- „Gott tot sei“ (was ja nur ein Bild für die ven“ (auch als der Typus der décadence Aufdeckung dieser Religionslüge ist), folgt bzw. des Ressentiments bezeichnet). zwingend, dass sich die Menschheit in einer dadurch sinnlos gewordenen Welt diesen Die Eigenart dieser Philosophie bringt es mit Sinn selbst schaffen müsse. Dies könne aber sich, dass die Werke der ersten und zweiten nur gelingen durch das starke und höhere Phase seines Denkens für eine zum Glück Individuum, den „Übermenschen“. Der Sinn führende Lebenskunst konkret mehr herge- des heutigen Menschen besteht dann darin, ben werden als seine Umwertungsschriften, die Bedingungen für die Hervorbringung die- deren Zweck ja gerade die Verneinung des ses über sie selbst hinaus weisenden Typs heutigen Menschen ist – und die uns dabei bereit zu stellen. Die Richtigkeit dieses An- (ebenso wie Marx über den vollendeten So- satzes wird begründet mit der (angeblichen) zialismus) über die konkrete Ausgestaltung Erkenntnis, dass alles Seiende in der Welt des angestrebten Ideals des Übermenschen „Wille zur Macht“ sei, und sonst nichts – ganz im Unklaren lassen; Nietzsche treibt hier was für den Menschen bedeute, dass sein denn auch eine Art „negative Anthropolo- natürlicher Auftrag in dieser Steigerung über gie“, indem er am lebenden „letzten Men- sich selbst hinaus liege, den er sich mithin schen“ zeigt, was der Übermensch alles nun bewusst und selbst vorzusetzen habe. nicht sein solle. Natürlich legt er dabei man- Zwei Mittel sollen den Menschen dazu in chen Finger in die richtige Wunde, und so die Lage versetzen: lässt sich die eigene innere Unentschlossen- heit durch sein existentielles Pathos aufsta-

140 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 cheln, von der Reflexion endlich in wirkli- schen zu kurieren? Seine Sehnsucht nach ches Handeln überzugehen, ja dies ist viel- „hellem Himmel“ und dem „richtigen Kli- leicht die bedeutsamste Wirkung von Nietz- ma“ versteht gerade der Deutsche mit sei- sches Schriften bis heute: dem Individuum ner Italienliebe seit Jahrhunderten sehr gut. die Leidenschaft zu vermitteln, sich auf den Weg zu sich selbst zu begeben.15 Dies wird Fassen wir dies hier allgemein zu Nietzsches vor allem auch unterstützt von dem litera- Einstellung zu Lebenskunst und Glück ein- risch-ästhetischen Genuss der Lektüre die- leitend Gesagte zusammen, so lässt sich ser späteren Schriften – erst von etwa 1882 konstatieren, dass er in zweifacher Hinsicht an gewinnt er die volle Höhe seiner glänzen- eine Ausnahme bildet: erstens in seiner ge- den Sprachvirtuosität. Man sehe dazu den nialen Verfasstheit und seinem denk-würdi- Unterschied zwischen den ersten vier und gen Lebenslauf, zweitens in seinen eigenen dem fünften Buch der Fröhlichen Wissen- Zielsetzungen und den daraus notwendig schaft, das ebenso wie die diversen Vorre- wieder hervorgehenden Mitteln. Das elitäre den zu seinen Werken erst 1887 hinzugefügt Ideal des „Übermenschen“ ist eben nur als wurde.16 die „Ausnahme der Ausnahmen“ zu denken, Ein anderer Zweig der Lebenskunstratschlä- wenn wir ihn mit dem realen und „norma- ge Nietzsches wächst aus seinen eigenen kör- len“ Leben konfrontieren, das zukünftige perlichen und geistigen Leiden an der Welt „Glück“ der Erde wird mit dem gewollten heraus: Zeit seines Lebens ist Nietzsche krank Untergang des gegenwärtigen Menschen – „Congestionen nach dem Kopf“17 , mo- bezahlt. Wie wäre es da möglich, von Nietz- dern gesprochen sicherlich Migräne-Anfälle sche Auskünfte zur Lebenskunst zu erlan- in Verbindung mit seiner starken Kurzsich- gen, mit welchen Dir und mir, Nietzsche tigkeit, werfen ihn schon in der Internatszeit würde vielleicht sagen, Creti und Pleti ge- zu Schulpforta aufs Krankenlager und zwin- dient wäre? Schreibt er doch in der Götzen- gen zur Beurlaubung vom Unterricht bis hin Dämmerung: „Hat man sein Warum? des zum Abbruch seiner Philologie-Professur in Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Basel als 34-jähriger; die Berichte über seine Wie? Der Mensch strebt nicht nach Glück, Kopf- und Magenleiden an seine Briefpart- wie die Engländer glauben.“ 19 Und deutli- ner (vor allem an Mutter und Schwester so- cher im Nachlass: „Das Ziel, welches die wie an den Freund Franz Overbeck) sind Engländer sehen, macht jede höhere Natur ohne Zahl. Seine Leiden hält er nur in der lachen! Es ist nicht begehrenswerth – viel Einsamkeit aus, sie treiben ihn aus der Ge- Glückliche geringsten Ranges ist beinahe sellschaft, die er (sicherlich auch deshalb) ein widerlicher Gedanke.“20 als „dekadent“ abwertet ebenso wie seine Was Nietzsche angreift, ist allerdings nicht eigene Sehnsucht nach Teilnahme18 . Sein das Streben nach Glück an sich, sondern Streben nach der „großen Gesundheit“ ist das Glück als Zufriedenheit zu definieren, vor allem der Versuch, die eigenen Leiden wie dies in einem breiten Strom der Philoso- zu überwinden, gerade auch durch deren Ver- phiegeschichte von Epikur21 über die Stoa allgemeinerung. Aber natürlich fallen dabei bis heute etwa zu Bernulf Kanitscheider ge- scharfsinnige Beobachtungen ab – denn wer schieht. Nicht nur lehnt Nietzsche dies „klei- hätte nicht selbst das eine oder andere Lei- ne Glück“ ab, sondern er kehrt auch hier den an sich selbst und an den anderen Men- den Standpunkt wie so oft ins Gegenteil. Sein

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 141 Glück liegt in der bewegten Leidenschaft, len und die dafür notwendigen Mittel ausfin- im steten Vorwärts, im Erleben der individu- dig zu machen. ellen Selbstbestätigung und des Zuwachses. Dazu gilt es sich erst einmal selbst Platz und Und wie noch alle Philosophen – denen er Bewegungsfreiheit gegenüber der Tradition nicht müde wird, dies vorzuhalten ... – legt zu schaffen: „[Der Mensch] muss die Kraft auch er seine persönlichen Erfahrungen von haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine „Glück“ als Ziel der gesamten Menschheit Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulö- unter: „Ob Hedonismus, ob Pessimismus, sen, um leben zu können: dies erreicht er ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle die- dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, pein- se Denkweisen, welche nach Lust und Leid, lich inquirirt, und endlich verurtheilt; jede das heisst nach Begleitzuständen und Ne- Vergangenheit aber ist werth verurtheilt zu bensachen den Werth der Dinge messen, werden – denn so steht es nun einmal mit sind Vordergrunds-Denkweisen und Naive- den menschlichen Dingen: immer ist in ih- täten ... Die Zucht des Leidens, des grossen nen menschliche Gewalt und Schwäche Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerech- Zucht alle Erhöhungen des Menschen bis- tigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch her geschaffen hat?“22 Und 1888 heißt es weniger die Gnade, die hier das Urtheil ver- dann: „Was ist gut? – Alles, was das Gefühl kündet: sondern das Leben allein, jene dunk- der Macht, den Willen zur Macht, die Macht le, treibende, unersättlich sich selbst begeh- selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? rende Macht.“24 Diese „dionysische Spur“, – Alles, was aus der Schwäche stammt. Was die bereits mit der „Geburt der Tragödie“ ist Glück? – Das Gefühl davon, daß die und deren Widerspiel zwischen dem Apolli- Macht wächst, daß ein Widerstand über- nischen und dem Dionysischen begonnen wunden wird. hatte, zieht sich durch das gesamte Werk Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; Nietzsches hindurch, und zuletzt wird er sich nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht (nicht nur) im Wahn mit dem Gott Diony- Tugend, sondern Tüchtigkeit ... Die Schwa- sos identifizieren. chen und Mißrathnen sollen zu Grunde ge- Hat man auf diese Weise die Tradition hinter hen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und und unter sich gebracht, fällt der Blick auf man soll ihnen noch dazu helfen. die eigene Zeit – und die zeigt sich im Hin- Was ist schädlicher als irgend ein Laster? – blick auf die Bildung und deren Ziele (da- Das Mitleiden der That mit allen Mißrathnen mals wie heute ...) wenig auf der Höhe: und Schwachen – das Christenthum ...“23 „Der ‚Bund von Intelligenz und Besitz‘ ... gilt geradezu als eine sittliche Anforderung. Wie in jeder Philosophie ist es Sinn und Jede Bildung ist hier verhaßt, die einsam Zweck auch der Philosophie Nietzsches in macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele all ihren Untersuchungsgängen von der Phi- steckt, die viel Zeit verbraucht: man pflegt losophiegeschichte bis zur Moral- und Er- wohl solche aridere Bildungstendenzen als kenntniskritik – welche sich denn auch bei ‚höheren Egoismus‘ als ‚unsittlichen Bil- ihm verstreut über das Werk wiederfinden dungsepikureismus‘ abzuthun. Nach der hier –, die sich für die daraus gewonnenen Grund- geltenden Sittlichkeit wird freilich etwas Um- einstellungen ergebenden richtigen Lebens- gekehrtes verlangt, nämlich eine rasche Bil- bedingungen für den Menschen festzustel- dung, um schnell ein geldverdienendes We-

142 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 sen werden zu können und doch eine so In Menschliches Allzumenschliches konkreti- gründliche Bildung, um ein sehr vie1 Geld siert er für das Individuum: „... wer von sei- verdienendes Wesen werden zu können. nem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist Dem Menschen wird nur so viel Kultur ge- ein Sclave.“28 Diese Forderung, dass jeder stattet als im Interesse des Erwerbs ist, aber Mensch zwei Drittel seines Tages für sich so viel wird auch von ihm gefordert. Kurz: haben sollte, ist ein auch heute in ernsthaften die Menschheit hat einen nothwendigen An- Überlegungen zur Auffassung der Arbeit an- spruch auf Erdenglück – darum ist die Bil- zutreffender Gedanke – und sicherlich eine dung nothwendig – aber auch nur darum!“25 nicht unwichtige Voraussetzung für ein glück- Im Nachlass notiert er dazu bereits 1870/1: lich gelingendes und erfülltes Leben (wenn „Über die Arbeit denken die Hellenen wie auch die heutige Nutzenmaximierung, ge- wir über die Zeugung. Beides gilt als schmäh- nannt Globalisierung, eher wieder in die ge- lich, doch wird keiner deshalb das Resultat genteilige Richtung des Versklavung jeden- für schmachvoll erklären. Die ‚Würde der falls eines Teiles der arbeitenden Menschen Arbeit‘ ist eine moderne Wahnvorstellung der zu drängen scheint: Wie anders sollte man dümmsten Art. Sie ist ein Traum von Skla- es nennen, wenn eine Vollerwerbstätigkeit ven. Alles quält sich um elend weiter zu ve- Mann/Frau nicht einmal den Lebensunter- getieren. Und die verzehrende Lebensnoth, halt gewährleistet?). die Arbeit heißt, soll ‚würdevoll‘ sein? Dann Nietzsche selbst jedenfalls will nicht Sklave, müßte das Dasein selbst etwas Würdiges er will frei sein, und dazu muss er sich selbst sein. Nur die Arbeit, die vom willefreien zunächst frei machen: Subjekt gethan wird, ist würdevoll. Somit „Wenn der große Denker die Menschen ver- gehört zu wahrer Kulturarbeit ein begründe- achtet, so verachtet er ihre Faulheit: denn tes sorgenbefreites Dasein. Umgekehrt: zum ihrethalben erscheinen sie als Fabrikware, als Wesen einer Kultur gehört das Sklaven- gleichgültig, des Verkehrs und der Belehrung thum.“26 Ein Gedanke, den er blind gegen- unwürdig. Der Mensch, welcher nicht zur über allen realen sozialen und gesellschaftli- Masse gehören will, braucht nur aufzuhö- chen Fragestellungen, in verschiedenen Va- ren, gegen sich bequem zu sein; er folge sei- riationen bis zuletzt beibehalten wird: „Die nem Gewissen, welches ihm zuruft: ‚sei du Arbeiter-Frage. – Die Dummheit, im Grun- selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt de die Instinkt-Entartung, welche heute die tust, meinst, begehrst.‘“29 Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, „Niemand kann dir die Brücke bauen, auf dass es eine Arbeiter-Frage giebt. Über ge- der gerade du über den Fluß des Lebens wisse Dinge fragt man nicht: erster Impe- schreiten mußt, niemand außer dir allein. rativ des Instinktes. – Ich sehe durchaus Zwar gibt es zahllose Pfade und Brücken nicht ab, was man mit dem europäischen und Halbgötter, die dich durch den Fluß tra- Arbeiter machen will, nachdem man erst eine gen wollen; aber nur um den Preis deiner Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich selbst: du würdest dich verpfänden und ver- viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr lieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, zu fragen, unbescheidner zu fragen. ... Will auf welchem niemand gehen kann außer dir: man einen Zweck, muss man auch die Mit- wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn. ... tel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Aber wie finden wir uns selbst wieder? Wie Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht. –“ 27 kann sich der Mensch kennen? Er ist eine

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 143 dunkle und verhüllte Sache; und wenn der öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich ge- Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch zwungen, sich bald darauf öffentlich zu wi- sich sieben mal siebzig abziehn und wird dersprechen.“32 An anderer Stelle entschul- noch nicht sagen können: ‚das bist du nun digt er sich gar, dass er „früher einer gefähr- wirklich, das ist nicht mehr Schale‘. Zudem lichen Ästhetik Vorschub leistete“!33 ist es ein quälerisches, gefährliches Begin- Es ist leicht nachvollziehbar, dass er einen nen, sich selbst derartig anzugraben und in so grundsätzlichen Widerruf dann doch nicht den Schacht seines Wesens auf dem näch- veröffentlichte, und er tat auf Grund der in- sten Wege gewaltsam hinabzusteigen.“30 neren Kohärenz seiner Gedanken auch durch Das Glück liegt hier also für Nietzsche in diese „positivistische“ Phase seiner „Frei- der Selbstfindung und Selbstverwirklichung, geisterei“ hindurch Recht daran. Denn alle aber er ist erst noch auf der Suche nach dem Phasen seines Denkens prägt und verbindet Sinn und Ziel für dieses Selbst. vor allem eine Forderung: „Mir scheint da- gegen die wichtigste Frage aller Philosophi- Aus den frühen kulturkritischen Schriften las- en zu sein, wie weit die Dinge einen unabän- sen sich somit nur eher allgemeine Finger- derlichen Charakter haben: um dann, wenn zeige für die glückende Lebensgestaltung diese Frage beantwortet ist, mit der rück- entnehmen, aber dies wird mit einem Schlag sichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesse- nun ganz anders. Nietzsche rückt jetzt von rung der als veränderlich erkannten Seite seinen noch idealistischen Vorstellungen zur der Welt los zu gehen.“34 Veränderung der Gesellschaft durch das 1888, bei der Abfassung des Ecce homo, Genie und die Kunst, vor allem derjenigen sieht er seine eigene damalige Entwicklung Wagners, bewusst ab. Hatte er sich im Nach- selbst klarer: „Jetzt, wo ich aus einiger Ferne lass dieser Zeit noch notiert: „Meine Religi- auf jene Zustände zurückblicke, deren Zeug- on, wenn ich irgendetwas noch so nennen niss diese Schriften sind, möchte ich nicht darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung verleugnen, dass sie im Grunde bloss von des Genius; Erziehung ist alles zu Hoffende, mir reden. Die Schrift ‚Wagner in Bayreuth‘ alles Tröstende heisst Kunst. Erziehung ist ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist Liebe zum Erzeugten, ein Überschuss von in ‚Schopenhauer als Erzieher‘ meine inner- Liebe über die Selbstliebe hinaus. Religion ste Geschichte, mein Werden eingeschrie- ist ‚Lieben über uns hinaus’. Das Kunst- ben. Vor Allem mein Gelöbniss! ... Was ich werk ist das Abbild einer solchen Liebe heute bin, wo ich heute bin – in einer Höhe, über sich hinaus und ein volkommnes.“31 wo ich nicht mehr mit Worten, sondern mit – so wendet er sich nun ins Gegenteil und Blitzen rede –, oh wie fern davon war ich wollte dies eigentlich auch seinen Lesern in damals noch! – Aber ich sah das Land, – der Vorrede zum nun anstehenden Werk ich betrog mich nicht einen Augenblick über Menschliches Allzumenschliches (1876- Weg, Meer, Gefahr – und Erfolg! ... hier 1878) mitteilen: „Lesern meiner früheren [kommt] im Grunde nicht ‚Schopenhauer als Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß Erzieher‘, sondern sein Gegensatz, ‚Nietz- ich die metaphysisch-künstlerischen Ansich- sche als Erzieher‘, zu Worte.“35 ten, welche jene im Wesentlichen beherr- Aus diesen sich eigentlich diametral wider- schen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, sprechenden Äußerungen – dies ist, wie be- aber unhaltbar. Wer sich frühzeitig erlaubte, reits gesagt, bei Nietzsche der Normalfall –

144 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 wird deutlich, wie sich selbst bei ihm, die- Man sieht, die Nietzschesche Psychologie sem „Selbstkenner“ und „Selbsthenker“36 , der Umkehrung funktioniert auch auf ihn das Bewusstsein von sich selbst verändert. selbst angewandt: Zwar betreibt er eine wirk- Aber Nietzsche wäre nicht Nietzsche, wenn liche Abkehr, distanziert sich vom Früheren; er nicht auch noch aus diesem Widerspruch späterhin aber wird dieser Vorgang im eige- ein Stück psychologischer Lebenskunst her- nen Bewusstsein, in der eigenen Erinnerung ausschlüge: „An dieser Stelle ist nicht mehr umgefärbt – und die Verantwortung einer fast zu umgehn die eigentliche Antwort auf die schon metaphysisch zu nennenden Instanz Frage, wie man wird, was man ist, zu ge- zugeschoben, es ist die „oberste Klugheit“ ben. Und damit berühre ich das Meisterstück eines unbewussten Instinktes des Leibes, die in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbst- quasi absichtlich ein Selbstmissverständnis sucht ... Angenommen nämlich, dass die herbeiführt, und so wird die ehemalige Ab- Aufgabe, die Bestimmung, das Schicksal der kehr zu einem „Nebenweg“ umformuliert Aufgabe über ein durchschnittliches Maass und in den „Hauptstrom“, der die eigentli- bedeutend hinausliegt, so würde keine Ge- che „Aufgabe“ ausmacht, eingebettet ... fahr grösser als sich selbst mit dieser Auf- Zunächst aber analysiert er als „Freigeist“ gabe zu Gesicht zu bekommen. Dass man und „Immoralist“ eigene Irrtümer wie die wird, was man ist, setzt voraus, dass man seiner Zeit, alle Metaphysik und Moral wer- nicht im Entferntesten ahnt, was man ist. Aus den unter dem Aspekt einer rein immanen- diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehl- ten Entwicklung unter Ablehnung jeglicher griffe des Lebens ihren eignen Sinn und „Hinterwelt“ auf den Prüfstand gestellt. Werth, die zeitweiligen Nebenwege und Ab- Wie dies schon Ludwig Feuerbach vor al- wege, die Verzögerungen, die ‚Bescheiden- lem in seiner Religionskritik vorführte, wer- heiten‘, der Ernst, auf Aufgaben verschwen- den die fehlerhaften Übertragungen mensch- det, die jenseits der Aufgabe liegen. Darin licher Sehweisen und Wunschvorstellungen kann eine grosse Klugheit, sogar die oberste entlarvt und zunächst die Selbstliebe wieder Klugheit zum Ausdruck : wo in den ihr gebührenden Rang erhoben: nosce te ipsum das Recept zum Untergang „Aus sich eine ganze Person machen und in wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Missver- Allem, was man thut, deren höchstes Wohl stehn, Sich-Verkleinern, -Verengern, -Ver- in’s Auge fassen – das bringt weiter, als jene mittelmässigen zur Vernunft selber. Mora- mitleidigen Regungen und Handlungen zu lisch ausgedrückt: Nächstenliebe, Leben für Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich Andere und Anderes kann die Schutzmass- noch immer an der allzugeringen Beachtung regel zur Erhaltung der härtesten Selbstigkeit des Persönlichen an uns, es ist schlecht aus- sein. Dies ist der Ausnahmefall, in welchem gebildet, – gestehen wir es uns ein: man hat ich, gegen meine Regel und Überzeugung, vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm die Partei der ‚selbstlosen‘ Triebe nehme: abgezogen und dem Staate, der Wissen- sie arbeiten hier im Dienste der Selbstsucht, schaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer Selbstzucht. – Man muss die ganze Ober- angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, fläche des Bewusstseins – Bewusstsein ist das geopfert werden müsste. Auch jetzt eine Oberfläche – rein erhalten von irgend wollen wir für unsere Mitmenschen arbei- einem der grossen Imperative.“37 ten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden,

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 145 nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur dar- „mich“ und „dich“ hinaus! Kosmisch auf an, was man als seinen Vorthei1 ver- empfinden!39 steht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Es sind immer noch die gleichen Motive, Individuum wird ihn auch am rohesten ver- die ihn schon in seiner jetzt abgelehnten stehen.“38 Kunstmetaphysik angetrieben hatten, und die Im Nachlass formuliert er dies wenig später ihn nun den Blick auf die eigene reale Ge- so: genwart richten lassen, wie sie Nietzsche er- Hauptgedanke! Nicht die Natur täuscht uns, scheint: die Individuen und fördert ihre Zwecke durch Was macht heute unsern Widerwillen gegen unsre Hintergehung: sondern die Individuen „den Menschen“? – denn wir leiden am legen sich alles Dasein nach individuellen d. Menschen, es ist kein Zweifel. – Nicht die h. falschen Maaßen zurecht; wir wollen da- Furcht; eher, dass wir Nichts mehr am Men- mit Recht haben und folglich muß „die Na- schen zu fürchten haben; dass das Gewürm tur“ als Betrügerin erscheinen. In Wahrheit „Mensch“ im Vordergrunde ist und wim- giebt es keine individuellen Wahrheiten, melt; dass der „zahme Mensch“, der Heil- sondern lauter individuelle Irrthümer – das los-Mittelmässige und Unerquickliche bereits Individuum selber ist ein Irrthum. Alles was sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Ge- in uns vorgeht, ist an sich etwas Anderes, schichte, als „höheren Menschen“ zu fühlen was wir nicht wissen: wir legen die Absicht gelernt hat; – ja dass er ein gewisses Recht und die Hintergehung und die Moral erst in darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich die Natur hinein. – Ich unterscheide aber: im Abstande von der Überfülle des Miss- die eingebildeten Individuen und die wahren rathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten „Lebens-systeme,“ deren jeder von uns eins fühlt, nach dem heute Europa zu stinken be- ist – man wirft beides in eins, während „das ginnt, somit als etwas wenigstens relativ Ge- Individuum“ nur eine Summe von bewuß- rathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, ten Empfindungen und Urtheilen und wenigstens zum Leben Ja-sagendes... 40 Und: Irrthümern ist, ein Glaube, ein Stückchen Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht vom wahren Lebenssystem oder viele Stück- mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus chen zusammengedacht und zusammenge- denen Zukunft wächst: seinem „modernen fabelt, eine „Einheit,“ die nicht Stand hält. Geiste“ geht vielleicht Nichts so sehr wider Wir sind Knospen an Einem Baume – was den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr wissen wir von dem, was im Interesse des geschwind, – man lebt sehr unverantwort- Baumes aus uns werden kann! Aber wir ha- lich: dies gerade nennt man „Freiheit.“ Was ben ein Bewußtsein, als ob wir Alles sein aus Institutionen Institutionen macht, wird wollten und sollten, eine Phantasterei von verachtet, gehasst, abgelehnt: man glaubt sich „Ich“ und allem „Nicht-Ich.“ Aufhören, sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das als solches phantastisches ego zu fühlen! Wort „Autorität“ auch nur laut wird. So weit Schrittweise lernen, das vermeintliche Indi- geht die décadence im Werth-Instinkte uns- viduum abzuwerfen! Die Irrthümer des ego rer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie entdecken! Den Egoismus als Irrthum ein- ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das sehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu Ende beschleunigt.41 verstehen! Das wäre die Liebe zu den ande- ren vermeintlichen Individuen! Nein! Über

146 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Trotz all seiner Ablehnung jeglicher Dialek- Ist diese strikte Antithetik zwischen Emotio tik, sei es in der Weise Platons oder Hegels, und Ratio einerseits höchst problematisch denkt Nietzsche selbst offensichtlich anti- – Nietzsche wird später der Vernunft viel podisch, zieht „Vermittlungen“ nicht in Be- weniger zutrauen als hier noch –, so erlaubt tracht, sondern beharrt wie schon anfangs ihm sein Ansatz doch weit vorgreifende psy- in seinem Erstling auf Entgegensetzungen, chologische Einsichten gegenüber idealisti- und so parallelisiert er seine Anschauung von schen Anschauungen etwa bei Kant und Gesellschaft und Individuum. Angesichts der Hegel, die vom Primat des Geistes ausge- oben geschilderten Kategorialität aus Emp- hen. Im Gegensatz zu jenen ist das leiden- findung und Ratio – die in Wirklichkeit rück- schaftliche Streben nach Lust für Nietzsche gekoppelt und wechselwirksam aufeinander das Prinzip alles Lebendigen, denn die Er- aufbauen (was denn genauso im Gesell- fahrung von Zuwachs (später „Wille zur schaftsaufbau für „Herren und Sklaven“ Macht“ genannt) in irgendeiner Form der gilt)! – soll das Individuum auf dem Weg kategoriellen Möglichkeiten von der Trieb- seiner Selbstwerdung nicht einseitig auf ei- erfüllung bis zur höchsten geistigen Erfah- nes der beiden Vermögen setzen, vielmehr rung43 wird – modern gesprochen: vom Lim- bedarf es bei gleichzeitiger strikter Trennung bischen System, dem emotionalen Zentrum des geschickten und bewussten Zusammen- – positiv bewertet: „Wesshalb ist das Erken- spiels beider: „Wenn nun die Wissenschaft nen, das Element des Forschers und Philo- immer weniger Freude durch sich macht und sophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor immer mehr Freude, durch Verdächtigung Allem, weil man sich dabei seiner Kraft der tröstlichen Metaphysik, Religion und bewusst wird, also aus dem selben Grunde, Kunst, nimmt: so verarmt jene grösste Quel- aus dem gymnastische Uebungen auch ohne le der Lust, welcher die Menschheit fast ihr Zuschauer lustvoll sind. Zweitens, weil man, gesammtes Menschenthum verdankt. Dess- im Verlauf der Erkenntniss, über ältere Vor- halb muss eine höhere Cultur dem Menschen stellungen und deren Vertreter, hinauskommt, ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirn- Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. kammern geben, einmal um Wissenschaft, Drittens, weil wir uns durch eine noch so sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfin- kleine neue Erkenntniss über A1le erhaben den: neben einander liegend, ohne Verwir- und uns als die Einzigen fühlen, welche hier- rung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine in das Richtige wissen. Diese drei Gründe Forderung der Gesundheit. Im einen Berei- zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, che liegt die Kraftquelle, im anderen der Re- je nach der Natur des Erkennenden, noch gulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Lei- viele Nebengründe.“44 denschaften muss geheizt werden, mit Hül- Etwas später (1880) legt er sich diese Frage fe der erkennenden Wissenschaft muss den nochmals vor: „Wie kommt es nur, daß wir bösartigen und gefährlichen Folgen einer gegen die gründliche Verlogen- und Ver- Ueberheizung vorgebeugt werden.“42 Nietz- stelltheit ankämpfen? Ein Gefühl der Macht, sche versucht hier also, sein mythisches welche in der Entwicklung und im Wirken Doppelprinzip des Dionysischen und Apol- unseres Intellekts frei wird, treibt uns: Es linischen aus der Geburt der Tragödie ra- macht Appetit.“45 Setzen wir anstelle von tional zu begründen und physiologisch für „Macht“ wieder Zuwachs an Selbstmäch- das Individuum zu konkretisieren. tigkeit ein, in dem gleichzeitig auch ein Stück

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 147 Zuwachs an Freiheit liegt – so deckt sich logenheit vor dem Nothwendigen – , son- dies genau mit dem phylogenetischen Pro- dern es lieben...“48 zess des Zugewinns an Eigenaktivität mittels Neben der Untersuchung der großen Linien Informationsverarbeitung, als den man den richtet Nietzsche sein Augenmerk auch auf Werdeprozess alles Seienden auffassen kann. einzelne psychologische Beobachtungen im Es ist die bewusste Annahme des Evolutions- Sinne einer „freigeistigen“ Lebenskunst – hier auftrags im kulturellen Werdegang des Men- einige Beispiele: schen, die sich im agierenden Individuum „Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen positiv ausspricht. versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Als Platon-Leser schätzte Nietzsche beson- Streites begeben.“49 ders dessen Symposion, und so greift er die „Der Mensch beträgt sich unwillkürlich vor- Schilderung der Stufenleiter des Eros, wel- nehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den che Sokrates von Diotima46 erzählt wird, auf: Menschen Nichts zu wollen und ihnen im- „Und damit vorwärts auf der Bahn der Weis- mer zu geben.“ ... heit, guten Schrittes, guten Vertrauens! Wie Zwischendurch ein Wort (nicht nur) für Le- du auch bist, so diene dir selber als Quell ser, das sicherlich jedem Autor aus dem der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über Herzen gesprochen ist: „Wer etwas Neues dein Wesen ab, verzeihe dir dein eignes Ich, wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leiter ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Neue mit aller möglichen Liebe aufzuneh- Erkenntniss steigen kannst. ... Missachte es men, von Allem, was ihm daran feindlich, nicht, noch religiös gewesen zu sein; ergrün- anstössig, falsch vorkommt, schnell das de es völlig, wie du noch einen ächten Zu- Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so gang zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht dass man zum Beispiel dem Autor eines gerade mit Hülfe dieser Erfahrungen unge- Buches den grössten Vorsprung giebt und heuren Wegstrecken der früheren Mensch- geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit heit verständnisvoller nachgehen? Sind nicht klopfendem Herzen danach begehrt, dass gerade auf dem Boden, welcher dir mitunter er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren so missfällt, auf dem Boden des unreinen dringt man nähmlich der neuen Sache bis an Denkens, viele der herrlichsten Früchte älte- ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct: rer Cultur aufgewachsen? Man muss Religi- und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist on und Kunst wie Mutter und Amme geliebt man soweit, so macht der Verstand hinter- haben, – sonst kann man nicht weise wer- drein seine Restrictionen; jene Ueberschät- den. Aber man muss über sie hinaus sehen, zung, jenes zeitweilige Aushängen des kriti- ihnen entwachsen können; bleibt man in ih- schen Pendels war eben nur der Kunstgriff, rem Banne, so versteht man sie nicht.“47 die Seele einer Sache herauszulocken.“50 Seine nun gewonnene Einstellung zum Le- „Lebe im Verborgenen, damit du dir leben ben fasst er so zusammen: „Meine Formel kannst! Lebe unwissend über Das, was dei- für die Grösse am Menschen ist amor fati: nem Zeitalter das Wichtigste dünkt! Lege dass man Nichts anders haben will, vorwärts zwischen dich und heute wenigstens die Haut nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. von drei Jahrhunderten! Und das Geschrei Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch von heute, der Lärm der Kriege und Revo- weniger verhehlen – aller Idealismus ist Ver- lutionen, soll dir ein Gemurmel sein! Du wirst

148 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 auch helfen wollen: aber nur Denen, deren Nicht eine Philosophie als Dogma, sondern Noth du ganz verstehst, weil sie mit dir Ein als vorläufige Regulative der Forschung.“56 Leid und Eine Hoffnung haben – deinen Denn: „Alles Abweisen und Negieren zeigt Freunden: und nur auf die Weise, wie du dir einen Mangel an Fruchtbarkeit an: im Grun- selber hilfst: – ich will sie muthiger, aushal- de, wenn wir nur gutes Ackerland wären, tender, einfacher, fröhlicher machen! Ich will dürften wir nichts unbenutzt umkommen las- sie Das lehren, was jetzt so Wenige verste- sen und in jedem Dinge, Ereignisse und hen und jene Prediger des Mitleidens am we- Menschen willkommenen Dünger, Regen nigsten: – die Mitfreude!“51 oder Sonnenschein sehen.“57 Die Immunisierung von Behauptungen wird Für Befürworter einer Philosophie des Kriti- bereits folgendermaßen kritisiert: „Zum Bei- schen Rationalismus – der selbst durchaus spiele man bekräftigt eine Meinung vor sich auch eine Anleitung zu einem gelingenden dadurch, dass man sie als Offenbarung Leben sein will!52 – mag es interessant sein, empfindet, man streicht damit das Hypothe- dass Nietzsche in dieser seiner „mittleren Pha- tische weg, man entzieht sie der Kritik, ja se“ so manchen Grundgedanken Poppers dem Zweifel, man macht sie heilig.“58 vorwegnimmt, insbesondere dessen wich- Im Gegenteil – alles für die Kritisierbarkeit tigsten: eigener Thesen tun: „Nie Etwas zurückhal- „... Jetzt aber giebt man Niemandem so leicht ten oder dir verschweigen, was gegen dei- mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die stren- nen Gedanken gedacht werden kann! Gelo- gen Methoden der Forschung haben genug be es dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass des Denkens.“59 Jeder, welcher gewaltthätig in Wort und Werk Denn Wissenschaft und Leben sind grund- Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jet- sätzlich experimentell: „Ich lobe mir eine jede zigen Cultur, mindestens als ein zurückge- Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu ant- bliebener empfunden wird. In der That: das worten: ‚Versuchen wir’s!‘ Aber ich mag von Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt allen Dingen und allen Fragen, welche das sehr wenig im Verhältniss zu jenem freilich Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hö- milderen und klanglosen Pathos des Wahr- ren. Diess ist die Grenze meines ‚Wahrheits- heit-Suchens, welches nicht müde wird, um- sinnes‘: denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht zulernen und neu zu prüfen.“53 verloren.“60 Im Nachlass heißt es: „es giebt so wenig Denn: „Skepticismus! Ja, aber ein Scepticis- ‚Ding an sich‘ als es ‚absolute Erkenntniß‘ mus der Experimente! nicht die Trägheit der geben kann. An Stelle der Grundwahrheiten Verzweiflung“61. stelle ich Grundwahrscheinlichkeiten – vor- läufig angenommene Richtschnuren, nach Wollte man allerdings aus diesen Sätzen denen gelebt und gedacht wird ...“54 schließen, dass Nietzsche einer Vereinigung „Sieg der antiteleologischen mechanistischen von Philosophie und Wissenschaft das Wort Denkweise als regulativer Hypothese 1) weil reden würde, wie dies heute so sehr im mit ihr allein Wissenschaft möglich ist 2) weil Schwange ist, belehrt er uns wenig später sie am wenigsten voraussetzt und unter al- eines Anderen – ob Besseren oder Schlech- len Umständen erst ausprobirt werden muß: teren, möchte ich hier einmal dahingestellt – was ein paar Jahrhunderte braucht ...“55 sein lassen:

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 149 „Ich will Niemanden zur Philosophie über- Wenn von „Nietzsche und das Glück“ die reden: es ist nothwendig, es ist vielleicht auch Rede ist, sollte dieser wohl glücklichste Zeit- wünschenswerth, daß der Philosoph eine raum seines Lebens in der zweiten Hälfte seltene Pflanze ist. Nichts ist mir widerlicher des Jahres 1882 nicht fehlen, in welchem ihm als die lehrhafte Anpreisung der Philosophie, zum wohl einzigen Male „die ganze Nacht wie bei Seneca oder gar Cicero. Philoso- die Nachtigallen vor seinem Fenster singen“: phie hat wenig mit Tugend zu thun. Es sei „Monte sacro – den entzückendsten Traum mir erlaubt zu sagen: daß auch der wissen- meines Lebens danke ich Ihnen.“, schreibt schaftliche Mensch etwas Grundverschiede- er an Lou, bevor ihm auch hier nur der nes vom Philosophen ist.“62 Schmerz bleibt.65

In der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft fühlt Das „eigentliche Glück“ der Menschheit sich Nietzsche – vielleicht hat da ja auch die überfällt Nietzsche am Silvaplaner See und Hochstimmung durch die Bekanntschaft mit in Genua in Gestalt des Gedankens der „Ewi- Lou Salomé (und seine Verliebtheit!) dazu gen Wiederkunft des Gleichen“ und seines beigetragen, bekanntlich neigen verliebte „Sohnes Zarathustra“ – er glaubt seine Auf- Männer zum Gedichtemachen ... – auch wie- gabe gefunden zu haben, und so verwandelt der zum Reimeschmieden aufgelegt, sein sich ihm sein Denken in die „Fröhliche Wis- Glück formuliert er jetzt so: senschaft“, an deren Ende Zarathustra be- reits aufmarschiert. Unter dem Titel „Incipit Mein Glück tragoedia“ beginnt letzterer bereits am Ende des 4. Buches seinen „Untergang“, und das Seit ich des Suchens müde ward, 5. Buch weist auf den „Übermenschen“ vor- Erlernte ich das Finden. aus: Seit mir ein Wind hielt Widerpart, „Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wun- Segl ich mit allen Winden.63 derliches, versucherisches, gefahrenreiches Und eines seiner schönsten Gedichte, zu Ideal, zu dem wir Niemanden überreden dem er in diesem Sinnzusammenhang viele möchten, weil wir Niemandem so leicht das Anläufe unternahm, schenkt er Lou zum Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Abschied aus Tautenburg, wo sich die bei- Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und den drei Wochen „förmlich todt sprechen“: aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, un- Freundin! – sprach Columbus – traue berührbar, göttlich hiess; für den das Höch- keinem Genueser mehr! ste, woran das Volk billigerweise sein Immer starrt er in das Blaue – Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Fernstes lockt ihn allzusehr! Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie * * * Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstver- Wen er liebt, den lockt er gerne gessen bedeuten würde; das Ideal eines Weit hinaus in Raum und Zeit menschlich-übermenschlichen Wohlseins Über uns glänzt Stern bei Sterne und Wohlwollens, das oft genug unmensch- Um uns braust die Ewigkeit!64 lich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es * * * sich neben den ganzen bisherigen Erden- Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebär-

150 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 de, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wicklung des Menschen nicht beendet sein wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie könne und er sich diesem Faktum aktiv stel- hinstellt – und mit dem, trotzalledem, viel- len müsse – das Werden ist das Bedeutsa- leicht der grosse Ernst erst anhebt, das ei- me, nicht das Sein, wie es bislang alle meta- gentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das physische Philosophie in den Vordergrund Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger stellte. Hierin lassen sich denn auch Überle- rückt, die Tragödie beginnt ... “66 gungen finden, die für uns Heutigen am „Ende der Metaphysik“70 , das Nietzsche mit dem Dieses vorausliegende Symbol des Nietz- Eintritt der Menschheit in den Nihilismus fest- scheschen Glücks, der anzustrebende Über- stellte, durchaus von Wert sein können, um mensch, zu dem er uns selbst natürlich nichts den lebendigen Anteil des Menschseins an- eigentlich Konkretes zu sagen vermag, und aufzunehmen und die Zukunft zu ge- schwankt zwischen den zwei Möglichkeiten, stalten und nicht nur zu erleiden – dies zu- diesen entweder real-natürlich aufzufassen, letzt wohl das Hauptmotiv der Nietzsche- oder ihn lediglich als richtungsweisendes schen Philosophie und Leidenschaft: Ideal hinzustellen. Daraus resultieren dann „Oh meine Brüder, was ich lieben kann am zwei verschiedene Argumentationsstränge: Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist – Erstens darüber nachzudenken, wie etwa und ein Untergang. ... Überwindet mir, ihr durch Züchtung und die dazu notwendigen höheren Menschen, die kleinen Tugenden, Bedingungen auf den Übermenschen hinzu- die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rück- wirken sei; aus diesem Gedankenkreis stam- sichten, den Ameisen-Kribbelkram, das er- men sowohl seine Unethik gegenüber den bärmliche Behagen, das „Glück der Meisten“ „Viel-zu-Vielen“, die man auch noch in den – ! ... „Der Mensch muss besser und böser Untergang stoßen solle, die berühmte „blon- werden“ – so lehre ich. Das Böseste ist nö- de Bestie“ und jene von ihm nicht benutz- thig zu des Übermenschen Bestem.“71 ten, aber von seiner Schwester im „Willen „Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte zur Macht“ und von Bäumler in der „Un- nach meinem Werke!“72 schuld des Werdens“ veröffentlichten Nach- lassaufzeichnungen, die sich insbesondere Diese Sachlage bringt es mit sich, dass Nietz- im Dritten Reich propagandistisch einsetzen sches Aussagen im Hinblick auf Glück und ließen.67 Aber auch Nietzsche selbst äußert Lebenskunst nunmehr meist in Kritik – sich im von ihm selbst veröffentlichten Werk insonderheit auch in Religionskritik wie im bereits durchaus selbst in dieser Richtung68 Antichrist und dem Gesetz wider das Chri- – und im Nachlass spricht er gar, als sei er stentum – bestehen, indem er aufzeigt, wie Himmlers Ghostwriter: „– jene ungeheure der Mensch sich jedenfalls nicht verhalten Energie der Größe zu gewinnen, um, durch dürfte, wenn er denn diesen Auftrag des Vor- Züchtung und anderseits durch Vernichtung wärtsstrebens seiner eigenen Entwicklung von Millionen Mißrathener, den zukünftigen wirklich betreiben will. Wie Kierkegaard73 als Menschen zu gestalten und nicht zu Grun- Kritiker des „bestehenden Christentums“ de zu gehen an dem Leid, das man schafft, parallel dazu aufweist, dass es offenbar kei- und dessen Gleichen noch nie da war! –“69 nen einzigen wirklichen Christen gebe, so – Zweitens die Überlegung, dass mit dem meint Nietzsche aufzeigen zu können, dass heutigen Menschen die evolutionäre Ent- seit Sokrates und Platon jedenfalls die

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 151 abendländische Menschheit (der er die kul- in corpore weiter, sondern setzt auf die turelle Führung der Welt zuweist) vom mit Durchsetzung seiner Ideen durch Literatur, den vorsokratischen Griechen erschienenen also auf die kulturelle Evolution mittels Tra- höchsten Ideal des Humanen abgewichen sei; dition, auf die „Meme“ statt auf die Gene. der aus der Reflexion geborenen Vernunft Wie die Wirkungsgeschichte seiner Werke stellt er die „Vernunft des Leibes“ und des- beweist (und in Übereinstimmung damit, sen „gesunde Instinkte“ gegenüber, die bei dass sich die Evolution des Menschen längst jenen älteren Hellenen noch intakt gewesen in seine geistigen Fähigkeiten und deren kul- und nun durch eben diese Vernunft verschüt- turelle Tradierung hinein verlagert hat), hat er tet seien. Nietzsches Kritik ist mithin vor al- damit tatsächlich recht – aber seine „Lehre“ lem Vernunftkritik und eine Aufwertung des spiegelt dies in keiner Weise wieder, son- Instinkts gegenüber der Ratio. Die Umwer- dern geht von einem kruden genetischen Re- tung, welche als Zeitenwende durch die Phi- duktionismus aus, aus dem heraus sich denn losophie der Griechen und das Christentum auch viele rückwärtsgewandte Vorstellungen eingetreten ist, soll in einer erneuten Umkeh- Zarathustras nähren. An diesen ist für uns rung aufgehoben werden74: „Sokrates war Heutige also nicht unbedingt das damit an- ein Missverständniss; die ganze Besserungs- gestrebte Ziel von Bedeutung, aber wert- Moral, auch die christliche, war ein Miss- voll bleibt die darin geäußerte Kritik an den verständniss ... Das grellste Tageslicht, die modernen Zuständen, die in vielen Fällen Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben auch noch für unsere Zeit zutrifft. hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, Nietzsche selbst sieht sein „Zarathustra- im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur Evangelium ... [als] ein Ereignis ohne Vor- eine Krankheit, eine andre Krankheit – und bild, Beispiel, Gleichniß in aller Litteratur durchaus kein Rückweg zur „Tugend“, zur ...“76 Und wenn wir seinen eigenen Worten „Gesundheit“, zum Glück ... Die Instinkte und denen Zarathustras Glauben schenken bekämpfen müssen – das ist die Formel für dürfen, so ist ihm dieses „Evangelium“ aus décadence: so lange das Leben aufsteigt, einem mystischen Untergrund erwachsen: ist Glück gleich Instinkt.– “75 „Begriff des Mystikers: der an seinem eige- nen Glück genug und zuviel hat und sich Geben wir daher nun Nietzsches „Sohn“ eine Sprache für sein Glück sucht, – er Zarathustra das Wort, nicht ohne jedoch möchte davon wegschenken!“77 ; „das neue vorher darauf hinzuweisen, dass Nietzsche Macht-Gefühl: der mystische Zustand, und sich mit dieser Verfahrensweise selbst wi- die hellste kühnste Vernünftigkeit als ein Weg derspricht: Seit Menschliches Allzumensch- dahin“78 Wie Meister Eckhart bringt er hier liches bis in die spätesten Werke wird er nicht Vernunft und Mystik zusammen ... müde, die Vorzüge des Leibes und die Und so nimmt es nicht wunder, dass er zum Wichtigkeit des genetischen Sammelns und neutestamentlich inspirierten „Propheten- Weitergebens von „hohen“ Eigenschaften Ton“ greift, seine sich ins „Schaffende“ des Menschen zu betonen (daher denn auch wendende Lehre seinem „Sohn Zarathustra“ seine diversen Überlegungen zur „Züch- in den Mund legt, um seine Leser auf den tung“!) – er selbst aber bleibt ohne Weib Weg zu sich selbst und auf den Weg zum und Kind, gibt das in ihm „durch Generatio- „Übermenschen“ zu bringen. In diesem nen erworbene“ genetische Potenzial nicht „und“ liegt ein Widerspruch beschlossen,

152 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 den bei der Lektüre des Zarathustra loszu- Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Un- werden schwer fällt; denn wenn uns dieser terhaltung. Aber man sorgt dass die Unter- sagt: „Man vergilt einem Lehrer schlecht, haltung nicht angreife. wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und Man wird nicht mehr arm und reich: Beides warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rup- ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? fen?“79 – so ist man gerne geneigt, mit ihm Wer noch gehorchen? Beides ist zu be- auf dem Wege zur eigenen Selbsterkenntnis schwerlich. vorzuschreiten. Doch andererseits schlägt Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Nietzsche seinem Leser gerade diese „Ei- Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, genheit“ sogleich wieder aus der Hand, in- geht freiwillig in’s Irrenhaus. dem er den „Übermenschen“ als verbindli- „Ehemals war alle Welt irre“ – sagen die ches Ziel aufstellt, demgegenüber gerade die- Feinsten und blinzeln. se „Eigenheit“ des „letzten Menschen“ als Man ist klug und weiss Alles, was geschehn „Vorstufe“ des „Übermenschen“ nicht in Be- ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man tracht kommt. Und dies auf dem Hintergrund, zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald dass dieser „Übermensch“ eben nicht das – sonst verdirbt es den Magen. Ergebnis individueller kultureller Bildung, Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein sondern eines Rücklaufs in instinktiv-sinnli- Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die che Leiblichkeit und genetischer Züchtung Gesundheit. sein soll – 2.500 Jahre geistesgeschichtliche „Wir haben das Glück erfunden“ – sagen Tradition des Abendlandes sollen vielmehr die letzten Menschen und blinzeln. – 80 auf diesem Wege zurück zum vorsokrati- schen Griechentum „überwunden“ werden. Gut gesagt, nicht wahr? Wer möchte sich So verbindet sich beim Leser mit jedem zu- mit einem solchen „letzten Menschen“ iden- stimmenden Ja zur Kritik am modernen Men- tifizieren? Er hat ja so recht, dieser Zarathu- schentum im Zeitalter des Nihilismus so- stra, sagt der Idealist in uns: Lasst uns nach gleich ein Nein an den Verheißungen Zara- Höherem streben! Und so werden wir dazu thustras ... denn auch aufgerufen: „Eure Liebe zum Leben sei Liebe zu eurer Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. höchsten Hoffnung: und eure höchste Hoff- „Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was nung sei der höchste Gedanke des Lebens! ist Sehnsucht? Was ist Stern“ – so fragt der Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch letzte Mensch und blinzelt. von mir befehlen lassen – und er lautet: der Die Erde ist dann klein geworden, und auf Mensch ist Etwas, das überwunden werden ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein soll.“81 macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie Wie aber reimt sich dies „befehlen lassen“ der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am läng- auf die soeben noch empfohlene Abkehr sten. vom Lehrer? Und wenn wir an das Ein- „Wir haben das Glück erfunden“ – sagen leitungszitat denken: Woher nimmt sich Za- die letzten Menschen und blinzeln. ... rathustra das Recht, das Glück anderer In- Ein wenig Gift ab und zu: das macht ange- dividuen zu beurteilen? Und dies umso mehr, nehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu ei- wenn er doch davon ausgeht, dass der nem angenehmen Sterben. Mensch determiniert, es mit der Willensfrei-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 153 heit nichts sei? Und weiter: Werden hier nicht Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur die Glücksperspektiven normaler Menschen Erde zurück – ja, zurück zu Leib und Le- denunziert zugunsten eines elitären und zu- ben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, ei- künftigen Glücks der Menschheit? Handelt nen Menschen-Sinn! ... es sich nicht auch hier um Idealismus, der Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit sich nur scheinbar „immanent“ gibt, ähnlich dem Riesen Zufall, und über der ganzen den Zukunftsversprechen bei Marx im Na- Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, men des „Kommunismus“? der Ohne-Sinn. Auch Nietzsche will den Menschen erlösen, Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn hierin zuletzt seinem alten „Meister“ Wagner der Erde, meine Brüder: und aller Dinge nicht unähnlich, seine „Umwertung der Wer- Werth werde neu von euch gesetzt! Darum te“ ähnelt bei Licht betrachtet durchaus ei- sollt ihr Kämpfende sein! Darum sollt ihr ner „Götterdämmerung“, und wie Parsifal Schaffende sein!“83 die Karfreitagswiese so hält auch Zarathu- stra eine Art Paradies für uns bereit, wir müs- Offenbar will Nietzsche dazu übergehen, die sen uns seinem „Befehl“ nur anvertrauen: „Unsichtbare Hand“ zu steuern – mit Adam Smith sollte man diese aber lediglich korri- Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch gieren! Und Goethes Zauberlehrling führt die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Ein- es uns im Bilde vor, wie es ausgeht, wenn same und Zweisame, um die der Geruch stil- wir Prozesse in Gang setzen, die wir nicht ler Meere weht. überschauen. Nietzsche hat seinen „Scepti- Frei steht noch grossen Seelen ein freies Le- cismus der Experimente“ aus der Fröhli- ben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um chen Wissenschaft fallen lassen, er glaubt so weniger besessen: gelobt sei die kleine das Wesen der Welt als Wille zur Macht er- Armuth! kannt zu haben, und so zeigt er uns wie Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst Moses mit Zarathustra ein „Gelobtes Land“ der Mensch, der nicht überflüssig ist: da be- in der Ferne. Da das Auge aber nichts wirk- ginnt das Lied des Nothwendigen, die ein- lich davon zu sehen bekommt, muss er sich malige und unersetzliche Weise. anderer Mittel bedienen, um die „höheren Dort, wo der Staat aufhört, – so seht mir Menschen“, auf die er seine Hoffnung setzt, doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, zu motivieren: „Je abstrakter die Wahrheit den Regenbogen und die Brücken des Über- ist, die du lehren willst, um so mehr musst menschen? – du noch die Sinne zu ihr verführen.“84 Nun, Also sprach Zarathustra.“82 genau dies ist es, was er in seinen Spät- „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit schriften Wagner vorwirft ... – was dem der Macht eurer Tugend! Eure schenkende Künstler gestattet sein mag, ist jedenfalls ei- Liebe und eure Erkenntniss diene dem Sinn nes Philosophen unwürdig; und er kann dies der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch. auch nur, weil er in Wirklichkeit die Funkti- Lasst sie nicht davon fliegen vom Irdischen on der Wahrheit als Richterin über den Wert und mit den Flügeln gegen ewige Wände eines Experiments aufgegeben hat und die schlagen! Ach, es gab immer so viel verflo- „Wahrheit“ in die Verfügbarkeit des Subjekts gene Tugend! verlegt: „Wahr“ ist, was sich als überlegen erweist – und so setzt er alles auf die Karte

154 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 des „Übermenschen“: „Ziel: auf einen Au- eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu genblick den Übermenschen zu erreichen. mir. –“86 Dafür leide ich alles!“85 Dies ist – um es mit H.J. Schmidt auszu- drücken87 – natürlich eine adressatenorien- Wie ist Nietzsche diese Art von „Lebens- tierte Selbstdarstellung. Aber wie sieht es in kunst“ selbst bekommen, wie steht es um ihm wirklich aus, wenn er mit sich allein ist, sein „Glück“ in der Realität? Kaum ein Le- zu sich selbst spricht? benslauf ist so gut dokumentiert wie der sei- „Nach Glück suchen? Das kann ich nicht. ne, hervorheben möchte ich hier nur die drei- Glücklich machen? Aber es giebt für mich bändige Biografie von Curt Janz und die so viel Wichtigeres.“88 Chronik in Bildern und Texten der Stiftung Zum 37. Geburtstag gratuliert er sich selbst Weimarer Klassik, und so kann sich jeder folgendermaßen: „Was habe ich gelernt, bis Leser selbst ein Bild machen. Hier soll uns heute (15. Oktober 1881)? Mir selber aus Nietzsche in einigen eigenen Worten sagen, allen Lagen heraus wohlzuthun und Ande- wie er dies selbst erlebt hat. Hören wir erst rer nicht zu bedürfen.“89 seine Selbstcharakteristik, wie er sie Ende Er steht quer zu seiner eigenen Realität, hat Juli 1888 in einem Brief an Carl Fuchs aus sich mit (fast) allen überworfen, Familie und Sils Maria gibt: Freunden; auch in sich selbst bringt er es Wenn Sie je daran kommen sollten ... über nicht zu einem harmonischen Zusammen- mich etwas zu schreiben, so haben Sie die spiel von Emotion und Ratio, und so stehen Klugheit, die leider noch Niemand gehabt Maske und Mitleid bei Nietzsche in einem hat, mich zu charakterisiren, zu „beschrei- engen inneren Zusammenhang: ben“, – nicht aber „abzuwerthen“. Es giebt „Wir kehren uns ab von den traurigen Schau- dies eine angenehme Neutralität: es scheint spielen, wir verstopfen das Ohr gegen das mir, daß man sein Pathos dabei bei Seite Leidende; das Mitleiden würde uns sofort lassen darf und die feinere Geistigkeit um zerbrechen, wenn wir nicht uns (zu) verhär- so mehr in die Hände bekommt. Ich bin noch ten wüßten. Bleib uns tapfer zur Seite, spöt- nie charakterisirt – weder als Psychologe, tischer Leichtsinn: kühle uns, Wind, der über noch als Schriftsteller („Dichter“ eingerech- Gletscher gelaufen ist: wir wollen nichts mehr net), noch als Erfinder einer neuen Art Pes- ans Herz nehmen, wir wollen zur Maske be- simismus (eines dionysischen, aus der Stär- ten.“90 ke geborenen, der sich das Vergnügen In einem Brief an seine Schwester macht er macht, das Problem des Daseins an seinen sein Grundmotiv kenntlich: Hörnern zu packen), noch als Immoralist Was mich an dieser Zeit anekelt, ist die un- (– die bisher höchsterreichte Form der „in- sägliche Schwächlichkeit Unmännlichkeit tellektuellen Rechtschaffenheit“, welche die Unpersönlichkeit Veränderlichkeit Gutmü- Moral als Illusion behandeln darf, nachdem thigkeit, kurz die Schwäche der „Selbst“- sie selbst Instinkt und Unvermeidlichkeit sucht, die sich gar noch als „Tugend“ dra- geworden ist –) Es ist durchaus nicht nöthig, piren möchte. Was mir bisher wohlgethan nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich hat, war der Anblick von Menschen eines zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neu- 1angen Willens – die Jahrzehnde lang schwei- gierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit gen können und sich nicht einmal deshalb einem ironischen Widerstande, schiene mir mit moralischen Prunkworten aufputzen,

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 155 etwa als „Helden“ oder „Edle“, sondern die Nun, wir wissen, zuletzt überschritt Nietz- ehrlich sind, an Nichts besser zu glauben als sche seinen Rubicon, verwandelte sich in an ihr Selbst und ihren Willen, dasselbe den Dionysos – Krankheit (Paralyse), Einsam- Menschen einzudrücken für alle, alle Zeit. keit und euphorisch befeuerte innere Leiden- Pardon! Was mich an R W schaft sprengen in ihrer unheimlichen Ver- anzog, war dies; insgleichen lebte Scho- bindung die zuletzt nur mühsam gehaltene penh nur in einem solchen Gefühle.91 Balance von Ratio und Emotio zugunsten des unbewussten Urgrunds, von dem Nietz- Obwohl er in der Jugend, in Schulpforta, in sche bereits in seinem ersten Werk, der Ge- Leipzig und in Basel enge Freunde gewin- burt der Tragödie ausging – die apollinische nen konnte, erlebte er sich selbst offenbar Hirnkammer kann der dionysischen „Ueber- stets als „einsam“, als Einzelgänger. Zwar hitzung“ nicht mehr vorbeugen. gibt er sich im Werk selbst tapfer: „Auch an Und so ist er in gewisser Weise an sein Ziel der Einsamkeit leiden ist ein Einwand, – ich gekommen: Hatte er in der geschilderten Ge- habe immer nur an der ‚Vielsamkeit‘ gelitten genbewegung gegen die Metaphysik des ... In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Dionysischen in seiner mittleren Phase noch Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein 1877 alles auf die Rationalität gesetzt („Zum menschliches Wort erreichen würde: hat man Schluß: Vernunft und Wissenschaft, ‚des mich je darüber betrübt gesehn? –“92 Menschen allerhöchste Kraft!‘“97 ), so ent- Doch im Nachlass klingt es etwas anders: schloß er sich seit Zarathustra in neuerlicher „Allzuviel auf mir, seit wann?, fast von Kin- Umkehr zum Glauben an die „große Ver- desbeinen an. Meine Philologie war nur eine nunft des Leibes“, mithin zur Leitung durch begierig ergriffene Echappade ... Und keine die Instinkte, also durch die Irrationalität. Gefährten! – Leichtfertig im Vertrauen? Aber ein Einsiedler hat immer zu viel Vorrath da- Aber können und sollen wir wirklich quasi von aufgehäuft, ebenso freilich auch von aus Vernunft in Selbstabdankung der Ratio- Mißtrauen.“93 nalität auf diese „Vernunft des Leibes“98 set- So bleibt nur die Flucht ins Wunschdenken: zen, wie Nietzsche will, weil die rationale „Es ist Ehren-Sache meiner Freunde, für Vernunft seit Sokrates in die Irre gegangen meinen Namen, Ruf und weltliche Sicher- sei, oder halten wir nicht doch lieber an letz- heit thätig zu sein und mir eine Burg zu bau- terer fest, ganz einfach, weil wir nichts bes- en, wo ich gegen die grobe Verkennung be- seres haben? Vielleicht sollten wir insoweit wahrt bin: ich selbst will keinen Finger mehr auch die Frage stellen, wie denn Nietzsche dafür rühren.“94 ... oder fast schon tragisch diese „Vernunft des Leibes“ beschreiben ins Emotionale gewendet: „Ich suche mir ein und aussagen will – braucht nicht auch er Thier, das mir nach tanzt und ein ganz klein dazu zunächst einmal die rationale Vernunft? Bischen mich – liebt ...“95 Wie, wenn sie ihn auch und vielleicht gerade Und abschließend im Juli 1888 dazu, auf dem diesmal getäuscht hat? Wie, wenn sein Weg Höhepunkt seines Schaffensrausches im letz- zum Herren- und Übermenschen ein noch ten Jahr: „Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut viel größerer Irrweg wäre als derjenige des mehr erreicht mich – ein Land ohne Regen. Sokrates? Man muß viel Menschlichkeit übrig haben, um Wie erweckt er überhaupt den Anschein, in der Dürre nicht zu verschmachten.“96 dass seine Umkehrung der „moralischen

156 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Werte“ wenigstens einigermaßen plausibel lich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist erscheinen kann? Nun, wie so mancher mo- immer noch die hyperbolische Naivetät des derne Philosoph auch heute noch unterschei- Menschen, sich selbst als Sinn und Werth- det er nicht zwischen Moral und Ethik99, maß der Dinge {anzusetzen)...“102 vielmehr verdammt er die eine Ethik der Ver- Bleibt die Frage, warum Nietzsche solche nunft, um sich damit auf das Vorhandensein Grundeinsichten nicht auch auf die eigene verschiedener Moralen zurückziehen zu Perspektive anwendet, vielmehr glaubt, mit können – so schafft er sich freie Bahn für seiner „Umwertung“ im Jahre 1888 eine neue seine „Umwertung aller Werte“, für seine Zeitenwende ansetzen zu sollen. angebliche „Moral des Lebens selbst“, zu Sein eigenes Lebensziel, sein „Glück“ hat welcher die herrschende christlich-abendlän- Nietzsche wohl in seinem Schaffen gefun- dische Moral der „lebensfeindliche Gegen- den, und so kann er am Ende seines Weges satz“ sei. Hingegen versteht sich Ethik tat- in den Dionysos-Dithyramben, die er An- sächlich als Metaebene zu allen Moralen, fang Januar 1889, im Übergang zum Wahn- entstanden aus der Reflexion über (sic!) die sinn, fertigstellt, zu sich selbst sagen: Moralen, mit dem Ergebnis der „Wesen- gleichheit“ der Menschen und den daraus Heiterkeit, güldene, komm! folgenden „allgemeinen Menschenrech- du des Todes ten“100 – ein völlig anderes Resultat, als es heimlichster süssester Vorgenuss! uns Nietzsche nahe bringen möchte. Mithin – Lief ich zu rasch meines Wegs? haben wir es bei letzterem mit einer Form Jetzt erst, wo der Fuss müde ward, von „kosmischer Naturmoral“101 zu tun, in- holt dein Blick mich noch ein, dem Nietzsche vorgibt, „das Leben“ als sol- holt dein Glück mich noch ein. ches (nämlich als Wille zur Macht) erkannt Rings nur Welle und Spiel. zu haben, und einseitig auf die beobachtbare Was je schwer war, (quantitative und qualitative) Steigerung setzt sank in blaue Vergessenheit, und deswegen auch die Darwinsche Lehre müssig steht nun mein Kahn. vom „Kampf ums Dasein“ als Lebenser- Sturm und Fahrt – wie verlernt er das! haltung zurückweist. Wunsch und Hoffen ertrank, glatt liegt Seele und Meer. Am Ende ist er wieder zurück bei ... Feuer- bach und dem Ausgangsgedanken seiner Siebente Einsamkeit! Schrift von 1873 Über Wahrheit und Lüge Nie empfand ich im außermoralischen Sinne: näher mir süsse Sicherheit, „Schluß-Resultat: alle Werthe, mit denen wir wärmer der Sonne Blick. bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu – Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch? machen gesucht haben und endlich ebenda- Silbern, leicht, ein Fisch mit entwerthet haben, als sie sich als unan- schwimmt nun mein Nachen hinaus ...“103 legbar erwiesen – alle diese Werthe sind, psy- chologisch nachgerechnet, Resultate be- „Letzte Erwägung stimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Könnten wir der Kriege entrathen, um so Aufrechterhaltung und Steigerung mensch- besser. Ich wüßte einen nützlicheren Ge- licher Herrschafts-Gebilde: und nur fälsch- brauch von den zwölf Milliarden zu machen,

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 157 welche jährlich der bewaffnete Friede Euro- Anmerkungen: pa kostet; es giebt noch andre Mittel, die 1 Wer dennoch weitere Fakten zu seiner Vita Physiologie zu Ehren zu bringen, als durch wünscht, sei auf das Sonderheft Friedrich Nietzsche Lazarethe ... Kurz und gut, sehr gut sogar: von Aufklärung & Kritik verwiesen, das zu seinem 100. Todestag im Jahr 2000 herausgekommen ist nachdem der alte Gott abgeschafft ist, bin (teilweise im Internet unter www.gkpn.de publiziert), 104 ich bereit, die Welt zu regieren ...“ ebenso wie auf meine Website www.f-nietzsche.de, die aus dem gleichen Anlass begründet wurde. Der Wille zur Überwindung des Nihilismus 2 JGB, KSA 5, S. 57 am Ende der Metaphysik hat seine eigene 3 Überhaupt wäre es – am Rande gesagt – sehr Basis, die rationale Vernunft, aufgelöst – und interessant, die ausführlichen Untersuchungen und Folgerungen, die Nietzsche aus der „Schauspieler- so zwingt „Zarathustras Untergang“ auch Natur“ Wagners gewinnt, auf ihn selbst anzuwen- ganz zuletzt noch zu einem Ja und einem den, ist es doch nicht die einzige Parallele zu seinem Nein: Aktiv am Schaffen über die Vernunft Meister: Denken Sie an die Kritik der „kleinsten hinaus tätig zu sein in der Annahme des Vor- Motive“ in Wagners „Zukunftsmusik“, die sich eben- antreibens der kulturellen Evolution unter so auf den Nietzscheschen Aphorismus anwenden Beibehaltung dieser Vernunft als stets ge- lässt, und wer wäre nach dem Genuss einer seiner späteren Schriften, wenn sich die künstl(eris)che wärtiger Basis, ebenso, wie die Ergebnisse Blendung durch seinen stilistischen Glanz gelegt hat, der Vernunft immer an Hand der Daten des nicht ebenso irritiert und ratlos wie nach dem Rausch Verstandes überprüft werden müssen. Le- einer Wagner-Oper? Zarathustras Untergang führt benskunst und darauf gründendes „Glück“ uns sowenig hinan wie Siegfrieds Tod, auch hier ist erfordern bei aller individuellen Verschieden- Nietzsche, was er sich stets gewünscht hat: der heit stets diese Austarierung zwischen inner- wahre Erbe Wagners. 4 Nietzsche selbst lässt neben sich als Stilisten deut- licher Lebendigkeit und funktioneller Kon- scher Sprache lediglich Goethe und Heine gelten – trolle, Dionysos und Apollo. und hat dabei vielleicht nicht einmal Unrecht. Nicht für das Ziel also, wohl aber für den 5 KSA 9, 170 Weg zum Glück hat uns Nietzsche Gültiges 6 Es spricht viel dafür, dass seine letzten Schriften zu sagen: Der dazu notwendige Bruch mit aus dem „Schreibrausch“ (sic) des Jahres 1888 – dem Herkommen als Voraussetzung der also Der Fall Wagner, Der Antichrist, Götzen- dämmerung, Ecce homo, Nietzsche contra Wag- Suche nach dem eigenen Weg – die existen- ner – bereits unter dem (euphorisierenden) Einfluss tielle Reflexion der Tradition (Moralkritik) wie der Krankheit stehen. der eigenen Konditionierungen (Erkenntnis- 7 „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen kritik) – daraus erwachsend eine aktive und aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel experimentelle Einstellung zum Leben in an Rechtschaffenheit.“ KSA 6, 63 8 skeptischer Grundhaltung (amor fati des Und zwar trotz des soeben in Anm. 7 zitierten Wortes – Nietzsche selbst wäre zu den zentralen „Freigeistes“) – Glück als das Gewahrwerden Aussagen seiner Philosophie: der Ewigen Wieder- der Zunahme der Selbstmächtigkeit auf die- kunft des Gleichen, dem Willen zur Macht und dem sem Wege – dazu jenen Mut des Philoso- Übermenschen niemals ohne systematisches Den- phen, der ihn zeit seines Lebens auszeich- ken gelangt; und so hat er bekanntlich in seinen letz- nete: „mit der rücksichtslosesten Tapferkeit ten Jahren auch versucht, seine Gedanken als „wis- auf die Verbesserung der als veränderlich senschaftliches System“ darzustellen, ist daran aber aus verschiedenen Gründen gescheitert. erkannten Seite der Welt los zu gehen.“ 9 KSA 8, 601 10 KSA 8, 423 (1876/77) 11 Man denke nur daran, welche Art von Websites

158 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 im Internet die meistbesuchten sind. der Epicureismus und eine gewisse fürderhin zur 12 Dies umschreibt einen konkreten Vernetzungs- Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, wel- bestand, der durch genetische und epigenetische che das Leiden leichtfertig nimmt und sich gegen al- Faktoren zustande gekommen ist, insbesondere eine les Traurige und Tiefe zur Wehre setzt. Es giebt ‚hei- mehr als normale Verbindung zwischen emotionaler tere Menschen’, welche sich der Heiterkeit bedie- Empfänglichkeit und rationaler Bewertung – noch nen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden: funktioneller ausgedrückt: etwa eine stärker als nor- – sie wollen missverstanden sein.“ JGB, KSA 5, male Ausbildung des corpus callosum (des rechte 225-226 und linke Gehirnhälfte verbindenden Balkens). So 22 JGB, KSA 5, 160-161 haben manche genaue Beobachter wie z.B. Lou 23 DA, KSA 6, 170 Salomé an Nietzsche auch ein „weibliches Moment“ 24 UZB II, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie („Bisexualität“: KSA 15, 125) festgestellt, was die- für das Leben; KSA 1, 296 sen Sachverhalt genau trifft. 25 ZBA I, KSA 1, 668 13 An Köselitz, Nizza Januar 1888, KSB 8, 231 f. 26 KSA 7, 140 Diese für Nietzsche so bezeichnende Aussage fin- 27 GD, KSA 6, 142/143 det sich gleich mehrfach in seinen Schriften, so auch 28 MA, KSA 2, 231 f. in KSA 6, 64, KSA 13, 478, KSA 13, 488. 29 UZB III, Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, 338 14 s. dazu www.f-nietzsche.de unter „Werke“: 30 UZB III, Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, 340 „Fatum und Geschichte“ sowie „Willensfreiheit und 31 KSA 8, 46 Fatum“ aus dem Jahr 1862 32 KSA 8, 463 15 Dies ist nicht nur eine subjektive Einschätzung, 33 KSA 8, 531 sondern ein weithin übereinstimmender Tenor vieler 34 KSA 8, 230 Internet-Rückmeldungen, die mich im Zusammen- 35 Eine Besprechung dieser Dritten Unzeitgemä- hang mit meinem Nietzsche-Projekt (s. Anm.1) er- ßen Betrachtung findet sich auf meiner Website reicht haben. Einen Leitfaden zur Nietzsche-Lektü- www.f-nietzsche.de re gibt H.J. Schmidt in Aufklärung & Kritik 2/2007 36 DD, Zwischen Raubvögeln, KSA 6, 389 ff. S. XXX: „Warum es sich lohnt, Nietzsche zu le- 37 EH, KSA 6, 293-294 sen...“ 38 MA, KSA 2, 91 16 Nietzsche hat diesen Umstand auch selbst be- 39 KSA 9, 442 f. und vermerkt; an Peter Gast schreibt er am 9. De- 40 GdM, KSA 5, 277 zember 1888: „Ich habe Alles sehr gut gemacht, aber 41 GD, KSA 6, 141/142. Weiter heißt es damm: nie einen Begriff davon gehabt, – in Gegentheil! ... „Zeugniss die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe Zum Beispiel die diversen Vorreden, das fünfte ist ersichtlich alle Vernunft abhanden gekommen: das Buch ‚gaya scienza –‘“ KSA 15, 195 giebt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, son- 17 Die Fehlzeiten Nietzsches während seiner dern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe – Gymnasialzeit in Schulpforta, die zugrundeliegenden sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Krankheiten und aufschlussreiche Anmerkungen ins- Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, wäh- besondere zu seinen häufigen Kopfbeschwerden rend sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft stelle ich im Internet unter www.f-nietzsche.de auf der Ehe – sie lag in ihrer principiellen Unlösbarkeit: der Seite „Werke“ zur Verfügung. damit bekam sie einen Accent, der, dem Zufall von 18 1880 notiert er sich, diesmal selbstehrlich im Hin- Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, blick auf seine starke Myopie: „Ich mag nicht mit sich Gehör zu schaffen wusste. Sie lag insgleichen Menschen verkehren, weil ich ihr Gesicht nicht se- in der Verantwortlichkeit der Familien für die Aus- hen kann, und ohne das ist ihr Reden mir verdächtig wahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden In- oder unverständlich, oder – ich rede allein, was mir dulgenz zu Gunsten der Liebes-Heirath geradezu die hinterdrein Scham einflößt.“ KSA 9, 344 Grundlage der Ehe, Das, was erst aus ihr eine Insti- 19 GD KSA 6, 61 tution macht, eliminirt. Man gründet eine Institution 20 KSA 11, 210 nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man 21 Allenfalls ist der Epukureismus für Nietzsche eine gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die „Liebe,“ Maske: „Eine der feinsten Verkleidungs-Formen ist – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 159 Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf 58 MR KSA 3, 62 den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das klein- 59 MR, KSA 3, 244 ste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisirt, 60 FW, KSA 3, 415/16 der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes 61 KSA 9, 287 Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch phy- 62 KSA 11, 271 siologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um In- 63 FW, KSA 3, 353 stinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzube- 64 Abgedruckt in Friedrich Nietzsche, Paul Rée, reiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Lou Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung, Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organi- Hg. Ernst Pfeiffer, Insel Verlag, Frankfurt 1970, S. sationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht 241 als Ganzes für sich gutsagen kann bis in die fernsten 65 Die ausführliche Darstellung dieser für Nietzsche Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt kei- so bedeutsamen Episode mit vielen Dokumenten und nen Sinn. – Die moderne Ehe verlor ihren Sinn, – Bildern im Internet unter www.f-nietzsche.de. folglich schafft man sie ab. –“ 66 FW, KSA 3, 571 u. 636/637 42 MA, KSA 2, 209 67 Ausführliche Besprechung dieser Zusammenhänge 43 So gewährt ja die „unio mystica“ des Mystikers auf meiner Nietzsche-Seite www.f-nietzsche.de un- als die „größtmögliche“ Erfüllung in der „Alleinung“ ter „Philosophie/Der Wille zur Macht: Nietzsche- auch die größtmögliche Lusterfahrung, übrigens sehr Rezeption 1939“ parallel zur Ich-Auslöschung im Orgasmus ... – auch 68 JGB, KSA 5, 126-128: „... wir, denen die de- diese „Alleinung“ besteht vor allem in einem „Ich- mokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls- Verlust“, der allerdings positiv gewertet wird. Im Form der politischen Organisation, sondern als Ver- Gegensatz dazu wird der Orgasmus bei den mei- falls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen sten Denkern negativ gesehen, und daher haben es gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Ernied- auch die Religionen, weil diese den registrierten Ich- rigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen Verlust und damit des Rationalen stark negativ be- greifen? – Nach neuen Philosophen, es bleibt kei- werten. ne Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich ge- 44 MA, KSA 2, 209 f. nug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werth- 45 KSA 9, 269 schätzungen zu geben und ‚ewige Werthe’ umzuwer- 46 Platon, Symposion 211 c – 212 a then, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach 47 MA, KSA 2, 235 f. Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart 48 EH, KSA 6, 291-297 den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen 49 MA, KSA 2, 243 von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem 50 MA, KSA 2, 350 Menschen die Zukunft des Menschen als seinen 51 FW, KSA 3, 568 Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen 52 „Kaum eine andere Philosophie, Religion oder zu lehren und grosse Wagnisse und Ge-sammt-Ver- Weltanschauung dürfte heute ein ähnlich umfangrei- suche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um ches Angebot von Methoden und Argumenten zur damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns Verfügung stellen wie der Kritische Rationalismus. und Zufalls, die bisher ‚Geschichte’ hiess, ein Ende Er beansprucht, in allen Gebieten des Wissens und zu machen – der Unsinn der ‚grössten Zahl’ ist nur Handelns etwas zu sagen zu haben: in der Natur-, seine letzte Form –: dazu wird irgendwann einmal Sozial- und Geisteswissenschaften, in der Moral und eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern in der Politik, in der Metaphysik, im Alltagsdenken nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Er- und sogar noch in der Kunst.“ (Hans-Joachim Nie- den an verborgenen, furchtbaren und wohlwollen- mann in Lexikon des Kritischen Rationalismus, den Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt Mohr Siebeck, Tübingen 2004, S. VII ausnehmen möchte.“ 53 MA, KSA 2, 359 69 KSA 11, 98 54 KSA 10, 644 70 „Kurz: Die Kategorien „Zweck“, „Einheit“, 55 KSA 11, 252 „Sein“, mit denen wir der Welt einen Werth einge- 56 KSA 11, 266 legt haben, werden wieder von uns herausgezogen 57 MA, KSA 2, 515 – und nun sieht die Welt werthlos aus ...“, KSA

160 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 13, 48 oft gefundenen Anähnlichung sein mußte und jene 71 Z, KSA 4, 357-359 gute Miene zum bösen Spiele aus allzulanger Erfah- 72 Z, KSA 4, 408 rung kennt, welche ‚Leutseligkeit‘ heißt, – mitunter 73 Es ist schade, dass Nietzsche erst im Jahr 1888 freilich auch jene gefährlichen herzzerreißenden Aus- von G. Brandes auf Kierkegaard aufmerksam ge- brüche aller verhehlten Unseligkeit, aller nicht er- macht wurde; er antwortet ihm: „Ich habe mir für stickten Begierde, aller aufgestauten und wild ge- meine nächste Reise nach Deutschland vorgenom- wordenen Ströme der Liebe, – den plötzlichen men, mich mit dem psychologischen Problem Kier- Wahnsinn jener Stunde, wo der Einsame einen Be- kegaard zu beschäftigen ... Dies wird für mich, im liebigen umarmt und als Freund und Zuwurf des besten Sinn des Wortes, von Nutzen sein, – und Himmels und kostbarstes Geschenk behandelt, um wird dazu dienen, mir meine eigne Härte und ihn eine Stunde später mit Ekel von sich zu stoßen, Anmaaßung im Urtheil ‚zu Gemüthe zu führen‘.– – mit Ekel nunmehr vor sich selber, wie beschmutzt, (KSB 8, 259) wie erniedrigt, wie sich selbst entfremdet, wie an 74 Im Gefolge Nietzsches setzt auch Heidegger ge- seiner eignen Gesellschaft krank – .“ KSA 12, 71 nau an diesem Punkt neu an, wenn er behauptet, 94 KSA 12, 169 die Griechen hätten die Frage nach dem Sein falsch 95 KSA 13, 503 gestellt ... 96 KSA 13, 531 75 GD, KSA 6, 73 97 KSA 8, 434 76 KSA 12, 234 98 „Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in dei- 77 KSA 11, 79 ner Vernunft. Und auch das, was du deine Weisheit 78 KSA 11, 212 nennst, – wer weiß wozu dein Leib gerade diese 79 Z, KSA 4, 101 Weisheit nöthig hat.“ KSA 10, 179 80 Z, KSA 4, 19-20 99 Dass Nietzsche der Zusammenhang von Moral 81 Z, KSA 4, 59-60 und Ethik unklar ist, zeigt sich gut im folgenden 82 Z, KSA 4, 61-64 Nachlassfragment: „Was ist der Charakter dieser 83 Z, KSA 4, 99 f. Moralität? Sind die Europäer wirklich vermöge die- 84 JBG, KSA 5, 95 ses moralischen Charakters die ersten und herr- 85 KSA 10, 167 schenden Menschen des Erdballs? Aber wonach 86 KSB 8, 375 f. bemißt man den Rang der verschiedenen Moralitä- 87 siehe H.J. Schmidt, Wider weitere Entnietz- ten? Zudem wollen es die Nicht-Europäer wie die schung Nietzsches, Alibri Verlag, Aschaffenburg Chinesen gar nicht Wort haben, daß die Europäer 2000, S. 144 sich durch Moralität vor ihnen auszeichneten. Es 88 KSA 11, 280 gehört vielleicht mit zum Wesen der jüdischen Mo- 89 KSA 9, 621 ralität, daß sie sich für die erste und höchste hält: es 90 KSA 12, 80 ist vielleicht eine Einbildung. Ja man kann fragen: 91 An die Schwester aus Genua November 1885, giebt es überhaupt eine Rangordnung der Morali- KSB 6, 451. Allerdings kann von einem „Jahrzehn- tät[en?] Giebt es einen Kanon, der über allen wal- te schweigenden Wagner“ wohl kaum die Rede sein tet, das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf Volk, ... – es gibt keinen anderen Komponisten, der über Zeit, Umstände, Erkenntnißgrad? Oder ist eine In- seine gesamte Schaffenszeit hinweg sich stets laut- gredienz aller Moralen, der Grad von Anpassung stark öffentlich geäußert hat. an die Erkenntniß, vielleicht das, was eine Rang- 92 EH, KSA 6, 297 ordnung der Moralen ermöglicht?“ KSA 9,23 93 KSA 12, 57. Wenig später notiert er sich zur 100 Nietzsche akzeptiert bereits 1877 solche Men- gleichen Problematik: „Inter pares: ein Wort, das schenrechte nicht. „Im Naturzustande gilt der Satz trunken macht, – so viel Glück und Unglück schließt nicht: ‚was dem Einen recht ist, ist dem Andern bil- es für den ein, welcher ein ganzes Leben allein war; lig‘, sondern da entscheidet die Macht. ... Menschen- der Niemandem begegnet ist, welcher zu ihm ge- rechte giebt es nicht.“ KSA 8, 482 hörte, ob er schon auf vielerlei Wegen gesucht hat; 101 Ersatz ... des kategorischen Imperativs durch der im Verkehre immer der Mensch der wohlwol- den Natur-Imperativ – KSA 12, 348 lenden und heiteren Verstellung, der gesuchten und 102 KSA 13, 49 (Ende 1887 in Nizza)

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 161 103 DD, KSA 6, 396 104 Aus dem Nachlass von Anfang 1889, KSA 13, 646, drittletzte Aufzeichnung.

Siglen der Werke Nietzsches, zitiert nach der Kriti- schen Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, de Gruyter/dtv (ab- gekürzt KSA)

ZBA Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten I-V UZB Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV MA Menschliches Allzumenschliches MR Morgenröthe FW Die Fröhliche Wissenschaft Z Also sprach Zarathustra JBG Jenseits von Gut und Böse GdM Genealogie der Moral GD Götzen-Dämmerung EH Ecce homo DD Dionysos-Dithyramben DA Der Antichrist

162 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Dr. Günter Gödde (Berlin) Askese als Lebensform, therapeutisches Prinzip und Axiom der Lebenskunst bei Freud

In der Gründungsphase der Psychoana- auch des Therapeuten – zumeist nur noch lyse hatte Freud keine Scheu, eine expli- implizit behandelt. zite Verbindung zwischen Psychotherapie Man kann aber von einer eigenen „impli- und antiker Lebens- und Heilkunst herzu- ziten“ Philosophie Freuds3 sprechen, die stellen. So betonte er in einem 1904 vor vor allem in drei Bereichen als relevant und dem Wiener medizinischen Doktoren- vertiefenswert erscheint: im Spannungs- kollegium gehaltenen Vortrag, dass die feld von Romantik und Aufklärung, in Psychotherapie „kein modernes Heilver- weltanschaulicher Hinsicht und im Hin- fahren“ sei. „Im Gegenteil, sie ist die älte- blick auf therapeutische Hintergrundan- ste Therapie, deren sich die Medizin be- nahmen. dient hat.“1 Ausgehend von Freuds Lebensentwurf Gerade Freud hat dann aber maßgeblich und Lebensform möchte ich an der Ein- zur Verleugnung der Tradition der Lebens- stellung zur Askese zeigen, dass seine am kunst beigetragen, da er die Psychothera- Abstinenz- und Versagungsprinzip orien- pie – einseitig – der Wissenschaft zuord- tierte Therapeutik der Tradition der anti- nete und diese strikt von der Philosophie ken Lebens- und Heilkunst nahe steht und und der Kunst abgrenzte. Den tieferen dass er sich mit seiner Skepsis gegenüber Grund für diese Verleugnung kann man den menschlichen Glücksmöglichkeiten in darin sehen, dass die Psychoanalyse in den Bahnen der Lebenskunstlehren Scho- ihrer Entwicklung zunehmend unter Legi- penhauers und Nietzsches bewegt hat. timationsdruck geriet und sich aus Grün- den der Selbstbehauptung dem Diktat der I. Aspekte einer asketischen Lebens- Wissenschaftlichkeit unterwarf. form Je weiter die Professionalisierung der Psy- Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 im chotherapie im 20. Jahrhundert voran- mährischen Freiberg geboren. Als Erstge- schritt, desto mehr traten die Bezugnah- borener einer 21jährigen Mutter nahm er men auf die Tradition der Lebenskunst in eine bevorzugte Stellung unter den acht den Hintergrund. „Wertungen“ aller Art, Geschwistern ein. Das bei sich selbst kon- seien es ethische, ästhetische, pädagogi- statierte „Eroberergefühl, eine Zuversicht sche oder lebenspraktische, wurden weit- des Erfolges, welche nicht selten den Er- gehend aus der als wissenschaftlich und folg nach sich zieht“, führte er darauf zu- wertfrei verstandenen Psychoanalyse und rück, dass er „der unbestrittene Liebling Psychotherapie ausgegrenzt.2 Demgemäß der Mutter“ gewesen sei.4 Allerdings war wurden die philosophische Wert- und Le- Amalia Freud in den ersten Jahren nach bensorientierung und die damit eng zusam- Sigmunds Geburt erheblichen Belastun- menhängende Thematik der praktischen gen ausgesetzt. 11 Monate später gebar Lebenskunst – sowohl des Patienten als sie den zweiten Sohn Julius, der Tb-krank

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 163 war und bereits im ersten Lebensjahr starb. tes literarisches Zeugnis: „Gold bläht den Zu diesem Zeitpunkt war sie schon wie- Menschen auf, wie Luft eine Schweins- der schwanger und kam noch im selben blase“. Ein zweiter Aphorismus lautet: Jahr – 1858 – mit ihrer Tochter Anna nie- „Der ist der schlimmste Egoist, dem es der. Als „Ersatzmutter“ für Sigmund fun- nie eingefallen, sich für einen zu halten“.6 gierte in dieser Zeit eine tschechische Kin- Der junge Freud scheint damals – im Jah- derfrau, zu der er eine intensive Bindung re 1871 – schon etwas von der Korrupti- einging, bis sie wegen eines (angeblichen) on der Geldkreise in der liberalen Ära mit- Diebstahls aus der Familie verstoßen wur- bekommen zu haben. Von dieser sittlichen de. Man darf wohl annehmen, dass „der Verwerfung des Geldes kann man eine Verlust der Kinderfrau für den präödipalen Linie zu jener Negation des Geldes als Jungen womöglich traumatischer Natur Glücksquelle ziehen, die Freud in einem war“ und „seine Erfahrungen mit der zeit- Jahrzehnte später geschriebenen Brief an weise abwesenden oder überforderten seinen Berliner Freund Wilhelm Fließ äu- Mutter nicht minder“.5 ßerte: „Glück ist die nachträgliche Erfül- Sigmunds Vater Jakob war bei der Ehe- lung eines prähistorischen Wunsches. Da- schließung 40 Jahre alt. Für ihn war es die rum macht Reichtum so wenig glücklich; dritte Ehe. Bis 1855 scheint er ein erfolg- Geld ist kein Kinderwunsch gewesen“.7 reicher Kaufmann gewesen zu sein. In den Auf dem Leopoldstädter Realgymnasium, folgenden Jahren bis 1859 blieb ihm aber das Freud von 1865 bis 1872 besuchte, der geschäftliche Erfolg versagt, so dass war er ein sehr guter Schüler. „Man wür- er sich zu einem Umzug zunächst nach de es mir kaum ansehen“, schrieb er rück- Leipzig, dann nach Wien veranlasst sah. blickend, „und doch war ich schon in der Auch in Wien gelang es ihm offenbar nicht, Schule immer ein kühner Oppositions- an seine früheren beruflichen Erfolge an- mann, war immer dort, wo es ein Extrem zuknüpfen. Wie sehr Sigmund mit den ma- zu bekennen und in der Regel dafür zu teriellen Nöten seines Vaters beschäftigt büßen galt. Als ich dann eine bevorzugte war, lässt sich einem Brief aus dem Jahre Stellung als langjähriger Primus bekam, als 1884 entnehmen: „Gestern traf ich den man mir allgemein Vertrauen schenkte, Vater auf der Straße, noch immer von Pro- hatte man sich auch nicht mehr über mich jekten erfüllt, noch immer hoffend. Ich zu beklagen“.8 übernahm es, Emanuel und Philipp [den Hinsichtlich seiner Erotik hat Freud strenge beiden älteren Halbbrüdern] zu schreiben, Diskretion gewahrt. Es dauerte bis 1946, um ihm aus einer gegenwärtigen dringen- als einer seiner Biographen erkannte, dass den Verlegenheit zu helfen. Er will es nicht es sich bei dem Fallbeispiel in Freuds tun, weil er sich für schlecht behandelt Aufsatz „Über Deckerinnerungen“ um eine hält“.10 versteckte Selbstdarstellung handelte.9 In diesem Zusammenhang ist auch Freuds Was Freud den Patienten sagen ließ, hatte Einstellung zum Geld aufschlussreich. Als er selbst bei einem Ferienaufenthalt in sei- 15jähriger veröffentlichte er in der Schüler- ner mährischen Heimat erlebt: „Ich war zeitschrift Musarion einige „Zerstreute Ge- siebzehn Jahre alt, und in der gastlichen danken“ und darunter einen bezeichnen- Familie war eine fünfzehnjährige Tochter, den Aphorismus – übrigens sein frühes- in die ich mich sofort verliebte. Es war

164 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 meine erste Schwärmerei, intensiv genug, des erotisch-sexuellen Elementes“.12 Of- aber vollkommen geheim gehalten. Das fenbar hat dieser erste Ausbruch von Ver- Mädchen reiste nach wenigen Tagen ab liebtheitsgefühlen den jungen Freud zu ei- […] und diese Trennung nach so kurzer nem erotischen Rückzug veranlasst, der Bekanntschaft brachte die Sehnsucht erst immerhin zehn Jahre dauerte. Eissler be- recht in die Höhe. Ich erging mich viele trachtet das Gisela-Erlebnis als „das tra- Stunden lang in einsamen Spaziergängen gende Trauma“, das Freud in der Puber- durch die wiedergefundenen herrlichen tätszeit erlebt hat. Ein Brief an seine Ver- Wälder mit dem Aufbau von Luftschlös- lobte Martha Bernays gebe „die Stimmung sern beschäftigt [und] zweifelte natürlich jener Jahre wieder, die in strengster geisti- keinen Augenblick, dass ich sie unter den ger Askese unter der Aufsicht des streng- Umständen, welche meine Phantasie schuf, sten Lehrers mit der Anwendung der ‚tat- ebenso heiß geliebt hätte, wie ich es da- sächlichsten’ Methode, nämlich der mi- mals wirklich empfand“.10 Das Objekt sei- kroskopischen, verbracht werden“.13 In ner ersten Verliebtheit war Gisela Fluß, die dem hier angesprochenen Brief heißt es: Schwester seines Jugendfreundes Emil. „Denke ich mir aber, wie ich jetzt gewe- Was die Biographen aufhorchen ließ, war sen wäre, wenn ich Dich nicht gefunden das Geheimnis, das er zeitlebens aus die- hätte, ohne Ehrgeiz, ohne viel Freude an ser zarten Romanze machte. So suchte er den leichteren Genüssen der Welt, ohne eine weitere Veröffentlichung seines Auf- im Banne des Goldzaubers zu stehen und satzes lange hinauszuschieben und nahm dabei mit ganz mäßigen geistigen und ganz eine Korrektur vor, um nicht mit dem „Pa- ohne materielle Mittel, ich wäre so elend tienten“ identifiziert zu werden.11 umhergeirrt und verfallen. Du gibst mir Um den inneren Konflikt des jungen Freud jetzt nicht nur Ziel und Richtung, auch zu rekonstruieren, hat Kurt Eissler eine soviel Glück, dass ich mit der sonst arm- Parallele zu Goethes besser dokumentier- seligen Gegenwart nicht unzufrieden bin, ten Pubertätskrisen gezogen. Für fast je- Du gibst mir Hoffnung und Sicherheit des den Pubertierenden des Goethe-Freud- Erfolgs“.14 Typus gelte, dass er in eine Hilflosigkeit In Freuds Braut-Briefen enthüllt sich wie- verfalle, „wenn er zum ersten Male in eine der jene Leidenschaftlichkeit, wie er sie in erotisch-sexuelle Objektbeziehung gewor- seiner Verliebtheit in Gisela Fluß erstmals fen wird und die Frustration der an ein erfahren hat. Er zeigt sich darin als eifer- Objekt gebundenen Sexualwünsche ertra- süchtiger Liebhaber, der geradezu von gen muß“. Eine solche Hilflosigkeit und Hass auf zwei vermeintliche Rivalen er- Sexualhemmung sei bei Freud auf ein zeit- füllt ist.15 liches Voraneilen der Ich-Entwicklung vor Aufschlussreich sind auch die Briefe, in der Libidoentwicklung zurückzuführen. denen Freud seinem Jugendfreund Edu- Dafür spreche, dass bei ihm schon im ard Silberstein die Beziehung zu einem 16- Gymnasium Ich-Fähigkeiten wie Intelli- jährigen Mädchen auszureden sucht. Als genz, Witz, Sarkasmus, Wissen und Bil- Mann sei er fähig, „in wilde Gefühle zu dung stark ins Auge fallen und zu „Haupt- versinken“ und dennoch die Zügel der waffen werden im Rivalitätskampf mit dem Moral nicht zu verlieren. Anders sei es bei gleichen Geschlecht bei Vernachlässigung der Frau und erst recht bei einem kaum

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 165 den Kinderschuhen entwachsenen Mäd- fähigkeit, unseren Erregungen, wir heben chen, das „zum ersten Male das – berech- uns für etwas auf, wissen selbst nicht für tigte – Gebot der Sitte übertritt, Zusam- was – und diese Gewohnheit der bestän- menkünfte gegen den Willen ihrer Eltern digen Unterdrückung natürlicher Triebe und Briefwechsel mit einem Fremden hat. gibt uns den Charakter der Verfeine- [...] Ich wäre hoch erfreut, wenn Du an- rung“.18 statt über meinen Predigerton – den ich Bei seiner Entscheidung für das Medizin- leider nicht vermeiden kann – zu lachen, Studium habe er keine „besondere Vor- mir folgtest und weder Rendez-vous noch liebe für die Stellung und Tätigkeit des heimlichen Briefwechsel führen wür- Arztes“, sondern eher eine „Art von Wiss- dest“.16 begierde“ verspürt.19 Seine Hoffnungen In einem weiteren Brief ermahnt er Silber- richteten sich darauf, „Forscher im Fach stein, die Freiheit, die ihm das Studenten- Biologie“ zu werden.20 1876 trat er als leben biete, für sich selbst und seine Bil- 20jähriger in das physiologische Labor dung ernst zu nehmen: „Ich begreife die von Ernst Brücke ein, wo er sich histolo- fieberhafte Hast nicht, mit der Du der Ju- gischen Forschungen an niedrigsten Fi- gend entfliehen willst. Bedenke, daß Du, schen und Flusskrebsen widmete und wenn einmal erwachsen und ausgebildet, „endlich Ruhe und volle Befriedigung“ den tausend Anforderungen unterworfen fand.21 Am liebsten wäre er am physiolo- sein wirst, die Deine eigene und die noch gischen Institut geblieben, um dort eine zu erwerbende Familie, das bürgerliche Universitätskarriere zu machen. Erst nach und das öffentliche Leben, vielleicht auch der Verlobung mit Martha Bernays und noch die wissenschaftliche Arbeit an Dich einer ernsten Unterredung mit Brücke stellen werden. Findest Du Vergnügen vollzog er einen Sinneswandel. Er sprach daran, im Stilleben der eigenen Gedanken von einer „Wendung“, als „mein über al- und Gefühle für Deine Ausbildung zu sor- les verehrter Lehrer den Leichtsinn mei- gen und an Dir selbst die ungestörte Freu- nes Vaters korrigierte, indem er mich mit de zu haben, die die Verteilung des Inter- Rücksicht auf meine schlechte materielle esses und die Vermehrung der Sorgen im Lage dringend mahnte, die theoretische späten Alter Dir nie mehr gönnen werden, Laufbahn aufzugeben. Ich folgte seinem so benütze die Zeit dazu, die von Deinen Rate, verließ das physiologische Labora- Eltern und allen andern dazu bestimmt ist; torium und trat als Aspirant in das Allge- denn ist die Jugend vorbei, so kann man meine Krankenhaus ein“.22 Dir jeden Moment übelnehmen, in dem Du In den folgenden drei Jahren unterzog er bloß Dich im Auge hast. […] die Jugend sich einer praktischen Ausbildung in ver- ist nur die Schonzeit, die das Schicksal schiedenen Abteilungen des Wiener Allge- unserer Kräftigung gönnt...“17 meinen Krankenhauses, um die nötige Wie in den Jugendbriefen, kommt Freud Fachkompetenz zur Eröffnung einer Pri- auch in den Braut-Briefen auf seine Aske- vatpraxis und damit die materiellen Vor- se zu sprechen: „Das Gesindel lebt sich aussetzungen für eine Familiengründung aus und wir entbehren. Wir entbehren, um zu schaffen. unsere Integrität zu erhalten, wir sparen An Freuds beruflichem Werdegang springt mit unserer Gesundheit, unserer Genuß- ins Auge, dass er alles andere als ein ziel-

166 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 strebiger Karrierist war. Den „Schlüssel“ Dieser andere Plan kommt auch in einem zu seinem Leben sah er selbst in einem Brief an Martha zur Sprache: „Es gab eine visionärem Drang. An Martha Bernays Zeit, in der ich nichts anderes als wißbe- schreibt er am 19. Juni 1884: „Du kennst gierig und ehrgeizig war und mich Tag für doch den Schlüssel zu meinem Leben, daß Tag gekränkt habe, daß mir die Natur nicht ich nur von großen Hoffnungen gestachelt in gütiger Laune den Gesichtsstempel des für Dinge, die mich ganz erfüllen, arbeiten Genies […] aufgedrückt hat. Seitdem weiß kann. Ich war ganz lebensunlustig, ehe ich ich längst, daß ich kein Genie bin […], Dich hatte, und jetzt, da Du mein bist ‚im meine ganze Befähigung zur Arbeit liegt Prinzip’, ist, Dich ganz zu bekommen, wahrscheinlich in meinen Charaktereigen- überhaupt eine Bedingung, die ich dem schaften und in dem Mangel hervorragen- Leben stelle, an dem mir sonst wenig ge- der intellektueller Schwächen. Ich weiß legen ist. Ich bin sehr trotzig und sehr wag- aber, daß diese Mischung eine für den Er- halsig und brauche große Anreizungen, folg sehr günstige ist, […]. Weißt Du, was habe eine Menge von Dingen getan, die mir Breuer eines Abends gesagt hat? […] alle besonnenen Menschen für sehr un- Er sagte, er hätte herausgefunden, daß in vernünftig halten müssen. Zum Beispiel als mir unter der Hülle der Schüchternheit ein ein ganz armer Mensch Wissenschaft zu maßlos kühner und furchtloser Mensch treiben, dann als ein ganz armer Mann ein stecke. Ich habe es immer geglaubt, und armes Mädchen einzufangen, ich muß in mich nur nie getraut, es wem zu sagen. dem Stil weiterleben, viel zu wagen, viel Mir war so, als hätte ich den ganzen Trotz zu hoffen, viel zu arbeiten. Für die gewöhn- und die ganze Leidenschaft unserer Ah- liche bürgerliche Besonnenheit bin ich lang nen, als sie ihren Tempel verteidigten, ge- verloren“.23 erbt […]“.25 In einem wenige Tage später geschriebe- Von dieser biographischen Skizze möch- nen Brief an Breuer äußert er sich zu dem te ich nun weitergehen zu Freuds Konzep- Konflikt, ob er nach einer langen Zeit der tualisierung der psychoanalytischen The- Entsagung „zu meinem Mädchen reisen rapie, in der die Handhabung der Askese oder mit leichter Mühe tausend Gulden einen hohen Stellenwert erlangt hat. erwerben soll“. Charakteristisch für ihn ist die Begründung, mit der er sich für die II. Handhabung der Askese als thera- Erfüllung seiner Liebesbedürfnisse ent- peutisches Prinzip scheidet: „Die Reise zu meiner Martha ge- Während der Ausbildung am Wiener All- hört in einen gewissen verwegenen, leicht- gemeinen Krankenhaus spezialisierte sich sinnigen, gegen andere – Sie darunter – Freud auf Neuropathologie. 1885 habili- rücksichtslosen Lebensplan hinein. Den tierte er sich auf diesem Gebiet und wur- wollte ich eine Zeitlang aufgeben, um nach de neurologischer Facharzt. Nach einem bürgerlicher Ängstlichkeit und Besonnen- Studienaufenthalt an der Pariser Salpêtrière heit zu leben. Davon bin ich aus Mangel bei dem berühmten Neurologen Charcot an Talent für diese Bekehrung zurückge- eröffnete er 1886 eine neurologische Pri- kommen und will nun nichts tun, was dem vatpraxis. Von seiner theoretischen und Plan widerspricht. Die tausend Gulden bei praktischen Ausbildung her war er noch P. gehören in einen anderen Plan hinein“.24 typischer Körpermediziner. Aber in sei-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 167 ner neuen Praxis sah er sich nun tagtäg- Im Rahmen der freien Assoziation trat die lich vor die Aufgabe gestellt, nervöse Er- Analyse unbewusster Konflikte im Span- krankungen zu therapieren. Mit der Psy- nungsfeld von Wunsch und Abwehr in den chotherapie begann er in den späten Brennpunkt der Therapie. Hinzu kamen 1880er Jahren und entwickelte seine Be- das Erinnern und die Rekonstruktion der handlungsmethode in den 1890er Jahren frühen Kindheitsgeschichte. In vier Schrif- sukzessiv weiter. ten unter dem Obertitel „Ratschläge für Den Ausgangspunkt bildete das hypnoti- den Arzt bei der psychoanalytischen Be- sche Suggestionsverfahren à la Bernheim, handlung“ setzte Freud den Hauptakzent das sich von den rationalen Methoden der auf das „Wiederholen“ als Übertragung Organmedizin dadurch abhob, dass es in der vergessenen Vergangenheit und das der Hypnose einen wesentlich besseren „Durcharbeiten“ der Widerstände. Sein The- Zugang zu den Erinnerungen und oft trau- rapiekonzept wandelte sich damit „von matischen Erfahrungen der Patienten er- einer kathartischen Wunscherfüllung zu möglichte. Der Übergang zur „katharti- einer Unternehmung, bei der der Ariadne- schen Methode“ beruhte auf Erkenntnis- faden im Labyrinth der Neurose wieder sen, die Freuds älterer Kollege Josef Breu- aufzuwickeln ist“. Die Ekstase wich „der er im Fall Anna O. gewonnen hatte. Dessen Askese einer therapeutischen Aufgabe, in ursprünglicher Krankenbericht von 1881 die Arzt und Patient gleichermaßen ver- zeigt, dass er sich, relativ frei von theo- woben sind“.28 retischen Vormeinungen, die den Blick auf Hervorzuheben ist hier die Verwendung die Sache selbst verstellt hätten, dem Mit- des Begriffs „Askese“. Das griechische teilungsstrom der Patientin überließ, ohne Verb „askein“ bedeutet „etwas intensiv ihn in vorgegebene Bahnen zu lenken.26 bearbeiten“; es bringt also den Aspekt ei- Je mehr Freud dem Patienten die Subjekt- ner regelmäßigen und überlegten Praxis rolle in der therapeutischen Situation zu- zum Ausdruck.29 Im Freudschen Praxis- gestand, desto mehr musste er seine the- modell werden sowohl die Erinnerungen rapeutische Technik abwandeln. Schließ- und Phantasien als auch die Übertragun- lich entschloss er sich, ganz auf die Hilfs- gen und Widerstände in einem kontinu- mittel der Hypnose und Suggestion zu ierlichen und sorgfältigen Prozess bearbei- verzichten und den Patienten im Wachzu- tet. Askese bedeutet auch „geistige Übung“. stand „frei assoziieren“ zu lassen, um an Die antike Philosophie der Lebenskunst unbewusste Motivationen und Konflikte hat ein großes Repertoire an solchen as- des Patienten heranzukommen. Von einer ketischen Übungen entwickelt, wie Lehr- durchgehenden Determinierung alles psy- gespräche zwischen Meistern und Schü- chischen Geschehens überzeugt, nahm er lern, philosophische Selbstgespräche, an, dass mit dem Aufgeben der bewussten imaginative Übungen (z.B. die Technik Zielvorstellungen die Herrschaft über den der Antizipation künftigen Übels), morali- Vorstellungsablauf an verborgene Zielvor- sche Übungen wie die Gewissenserfor- stellungen übergehe und oberflächliche schung und im engeren Sinne „therapeu- Assoziationen nur ein Verschiebungser- tische Übungen“, deren Ziel in der Über- satz für tiefer gehende psychische Vor- windung von falschen Einstellungen, un- gänge seien.27 sinnigen Begierden und fehlgeleiteten Af-

168 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 fekten besteht.30 Der Begriff der Askese te. Als Begründung führte er an, dass man hat darüber hinaus noch die Bedeutung „Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit von „Enthaltsamkeit“ und „Selbstüberwin- und Veränderung treibende Kräfte bei den dung“. Kranken bestehen lassen und sich hüten Wenn Freud den Leitsatz aufstellt: „Die muß, dieselben durch Surrogate zu be- analytische Kur soll, soweit es möglich schwichtigen“.34 ist, in der Entbehrung – Abstinenz – durch- Den Sinn des von Freud initiierten Zusam- geführt werden“,31 dann kommt diese menspiels kann man darin sehen, den Pa- Doppelbedeutung der Askese zum Tra- tienten aus der Herrschaft des „Lustprin- gen: „Das Aufwickeln des Ariadnefadens zips“ zu befreien. Die Askese erwies sich vollzieht sich als fortgesetzte Übung der damit als „ein therapeutisches Mittel, um analytischen Therapie; und diese Übung das menschliche Verhältnis zur Realität zu ist ihrerseits nur möglich durch zu üben- gestalten, wobei der Zweck in der Errei- de Enthaltsamkeit – nämlich als Enthal- chung der größtmöglichen Lust unter den tung von der neurotischen Weise der Bedingungen der Realität besteht“.35 Wunscherfüllung“.32 Freuds Begrifflichkeit lässt sich auf ein Freud fährt fort: „Sie erinnern sich daran, Hintergrundmodell zurückführen, in dem daß es eine Versagung war, die den Pati- der Therapeut dem Patienten bestimmte enten krank gemacht hat, daß seine Sym- Formen der Askese abverlangt: An die ptome ihm den Dienst von Ersatzbefrie- Stelle der bloßen Wunscherfüllung und der digungen leisten. […] Er bedient sich der Abwehr soll der „Triebverzicht“ treten. Es großartigen Verschiebbarkeit der zum Teil kann kaum zweifelhaft sein, dass sich freigewordenen Libido, um die mannig- Freud mit diesem therapeutischen Prinzip fachsten Tätigkeiten, Vorlieben, Gewohn- in den Bahnen der asketisch orientierten heiten, auch solche, die bereits früher be- Stoa bewegt hat, die das Heil in der Mäßi- standen haben, mit Libido zu besetzen und gung, Hemmung oder Brechung der für sie zu Ersatzbefriedigungen zu erheben. krankmachend gehaltenen Triebe und Af- […] Man hat die Aufgabe, alle diese Ab- fekte suchte.36 wege aufzuspüren und jedesmal von ihm Zu bedenken ist allerdings, dass Freud den Verzicht zu verlangen, so harmlos die selbst seine an Askese-Vorstellungen ori- zur Befriedigung führende Tätigkeit auch entierten Behandlungsregeln 1928 in einem an sich erscheinen mag“.33 Brief an Ferenczi relativiert hat: „meine Dass Freud in seiner veränderten Behand- seinerzeit gegebenen Ratschläge zur Tech- lungskonzeption nunmehr Begriffe wie nik waren wesentlich negativ. Ich hielt es „Versagung“, „Abstinenz“, „Entbehrung“, für das Wichtigste herauszuheben, was „Anonymität“ und „Neutralität“ eingeführt man nicht tun soll, die der Analyse wider- hat, ist aufschlussreich. Hatte er das „Absti- strebenden Versuchungen aufzuzeigen. nenzprinzip“ aus der konkreten Erfahrung Fast alles, was man positiv tun soll, habe mit der „Übertragungsliebe“ abgeleitet, so ich dem von Ihnen eingeführten ‚Takt’ entwickelte er daraus im weiteren ein Prin- überlassen. Dabei erzielte ich aber, daß die zip, das den Therapeuten zu einer versa- Gehorsamen die Elastizität dieser Abma- genden Haltung gegenüber den Triebbe- chungen nicht bemerkten und sich ihnen, dürfnissen des Analysanden verpflichte- als ob es Tabuverordnungen wären, un-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 169 terwarfen. Das müßte einmal revidiert wer- als implizite Philosophie auch seine Theo- den, allerdings ohne die Verpflichtungen riebildung beeinflusst. Obwohl er seine aufzuheben“.37 Lehre vom Unbewussten als Wissenschaft Den Berichten von 20 Patienten und Lehr- und gerade nicht als Philosophie verstan- analysanden über ihre Analyse bei Freud den hat, steht sie in der Tradition sowohl kann man entnehmen, dass er sich als The- der „Philosophie des Unbewussten“42 als rapeut weder konsequent abstinent noch auch der Moralistik43 und der Lebens- einseitig versagend verhalten hat.38 kunstlehren.44 Erwähnt sei noch, dass Sándor Ferenczi Max Horkheimer hat eine enge konzep- 1929 ein „Prinzip der Gewährung“ sta- tionelle Verwandtschaft zwischen Schopen- tuierte. Da seine zwangsneurotischen Pa- hauers „Willen zum Leben“ und Freuds tienten das Versagungsprinzip als „schier „Unbewußtem“ gesehen und betont, dass unerschöpfliche Fundgrube von Wider- „bei beiden das Unbewußte moralisch et- standssituationen“ benützten, entschloss was Problematisches ist: bei Schopenhau- er sich, ihnen diese Waffe „durch Nach- er der ‚schlechte Wille zu Wohlsein und giebigkeit“ aus der Hand zu schlagen. Dasein‘, bei Freud das ‚Verdrängte‘, das Demnach arbeite die Psychoanalyse mit ‚ins Unbewußte Verdrängte‘“.45 zwei einander entgegen gesetzten Mitteln: In seiner Metaphysik des Willens hat uns einerseits mit „Spannungssteigerung durch Schopenhauer das menschliche Leben als die Versagung“, andererseits mit „Relaxa- Zirkel des Leidens vor Augen geführt, aber tion durch Gewährung von Freiheiten“.39 auch unermüdlich nach Auswegen ge- In seinem „Klinischen Tagebuch“ aus dem sucht, die er in der Überwindung des Ego- Jahre 1932 hielt Ferenczi fest, dass sich ismus durch Mitleid und in der Lehre von das streng gehandhabte Versagungsprinzip der „Verneinung“ des Willens – Kontem- traumatisierend auf die Patienten auswir- plation und Kunst als Vorstufen, Askese ken und alte Traumen dadurch erneuert bis hin zur Heiligkeit als konsequente und verstärkt werden können. Empirische Durchführung – gefunden hat. Schopen- Untersuchungen erhärteten diese Hypothe- hauers Erlösungs- und Glückslehre zielt se, wonach der Patient in der Therapie auf eine Lebensform ab, die der asketi- nicht primär Übertragungsbefriedigungen schen und stoischen Tradition der Lebens- suche und zur Auflösung der Übertragung kunst nahe steht. Er verkörpert einen Grund- nicht in erster Linie auf die Deutungen sei- typ der Lebenskunst, bei dem die Erlö- nes Therapeuten angewiesen sei.40 Die- sung durch Aufhebung des Selbstzustands sem Befund wird im Kontext der Trauma- kommt. Die von ihm empfohlene Willens- forschung seither erhebliche Bedeutung verneinung berührt sich mit dem Anliegen beigemessen. Das folgenreichste Ergeb- des Buddhismus und unterscheidet sich nis sieht Fürstenau „in einer differenzier- von der Selbstaufhebung durch Willens- teren Ausgestaltung des supportiven An- und Wesensvereinigung mit dem Urgrund teils der Therapeutenaktivität“.41 aller Dinge (Weltsubstanz, Gott, Natur), wie er für die Mystik charakteristisch ist. III. Askese als Axiom der Lebenskunst Freuds Eintreten für den Wert der Askese Nietzsche verkörpert einen anderen Grund- als Triebverzicht bzw. Sublimierung hat typ der philosophischen Lebenskunst, die

170 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 er im antiken Sinne auch als Heilkunst ver- Auch im weiteren ist die Nähe zu Scho- standen hat. In seiner Frühphilosophie be- penhauers Skeptizismus erkennbar: Was wegte er sich noch weitgehend in den Bah- man im strengsten Sinne Glück heiße, ent- nen seines „Erziehers“ Schopenhauer,46 springe der eher plötzlichen Befriedigung distanzierte sich dann aber von der Wil- hoch aufgestauter Bedürfnisse und sei sei- lens- und Leidenschaftslosigkeit als anzu- ner Natur nach nur als episodisches Phä- strebendem Seelenzustand und gab der nomen möglich. Jede Fortdauer einer vom vergeistigten Sichtweise Schopenhauers Lustprinzip ersehnten Situation ergebe nur eine Wendung zum Leiblich-Vitalen und ein Gefühl von lauem Behagen. Wir seien zum „Willen zur Macht“. Nicht Verneinung so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast eines Teiles der Menschennatur oder gar intensiv genießen können, den Zustand nur des Ganzen, nicht Trieb-Abtötung, son- sehr wenig. Somit seien unsere Glücks- dern Trieb-Gestaltung ist seine Vision der möglichkeiten schon durch unserer Konsti- Befreiung. Das ihm für die menschliche tution beschränkt. „Weit weniger Schwie- Entwicklung vorschwebende Ziel kann ge- rigkeiten hat es, Unglück zu erfahren. Von rade nicht durch Selbstverneinung und drei Seiten droht das Leiden, vom eige- Selbstlosigkeit, sondern nur durch ein ho- nen Körper her, der, zu Verfall und Auflö- hes Maß an Selbstbejahung („amor fati“) sung bestimmt, sogar Schmerz und Angst und Selbstgestaltung erreicht werden.47 als Warnungssignale nicht entbehren kann, Lassen sich Schopenhauer und Nietzsche von der Außenwelt, die mit übermächti- zwei entgegen gesetzten Strategien im Um- gen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gang mit der Askese zuordnen, so kann gegen uns wüten kann, und endlich aus man sich fragen, wie Freuds Ausführun- den Beziehungen zu anderen Menschen“. gen in Das Unbehagen in der Kultur ein- Unter dem Druck dieser Leidensmöglich- zuordnen sind. In dieser kulturtheoreti- keiten würden die Menschen ihren Glücks- schen Abhandlung von 1930 gibt es im 2. anspruch zu ermäßigen pflegen. Das Lust- Kapitel48 deutliche Anklänge an Schopen- prinzip bilde sich unter dem Einfluss der hauers Betonung des menschlichen Lei- Außenwelt zum bescheideneren Realitäts- dens: „Das Leben, wie es uns auferlegt prinzip um, besonders wenn „die Aufga- ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns be der Leidvermeidung die der Lustgewin- zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlös- nung in den Hintergrund drängt“. bare Aufgaben“. Das Glück, wonach die Nach diesen Reflexionen über das Leiden Menschen streben, habe zwei Seiten: Ei- und die beschränkten Glücksmöglich- nerseits gehe es um die „Abwesenheit von keiten wendet sich Freud der Frage nach Schmerz und Unlust“ (der Ansatzpunkt der Möglichkeit der Befreiung vom Lei- Schopenhauers), andererseits um das „Er- den zu. Dabei lassen sich Strategien der leben starker Lustgefühle“ (der Ansatz- Unglücksvermeidung und der Glückssu- punkt Nietzsches). Das Programm des che unterscheiden. Lustprinzips setze den Lebenszweck, sei Explizit spricht Freud die Möglichkeit an, aber letztlich überhaupt nicht durchführ- das Lebensglück vorwiegend im Genusse bar: „Man möchte sagen, die Absicht, dass der Schönheit zu suchen, wo immer sie der Mensch ‚glücklich’ sei, ist im Plan der sich unseren Sinnen und unserem Urteil ‚Schöpfung’ nicht enthalten“. zeige. Diese ästhetische Strategie biete je-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 171 doch wenig Schutz gegen drohende Lei- Glück, das man auf diesem Weg erreichen den, auch wenn sie für vieles zu entschä- kann, sei das der „Ruhe“. – Gegen die digen vermöge. Freuds Fazit lautet: „Der gefürchtete Außenwelt könne man sich Genuß an der Schönheit hat einen beson- nicht anders als durch „irgendeine Art der deren, milde berauschenden Empfindungs- Abwendung“ verteidigen, wenn man die- charakter“ – mehr aber auch nicht. Hier se Aufgabe für sich allein lösen wolle. – zeigt sich eine deutliche Diskrepanz so- Wenn Triebbefriedigung Glück sei, sei die wohl zu Schopenhauers als auch zu Nietz- Nichtbefriedigung unserer Bedürfnisse sches Enthusiasmus für die Ästhetik, leidvoll. Die „Einwirkung auf diese Trieb- insbesondere die Musik. Der Kunst als Be- regungen“ sei ein Mittel, sich von einem freiungsstrategie begegnet Freud mit Skep- Teil des Leidens zu befreien. Diese Art sis, da bei ihr der Zusammenhang mit der der Leidabwehr sucht der inneren Quel- Realität gelockert und die Befriedigung aus len der Bedürfnisse Herr zu werden. Wenn Illusionen gewonnen werde. Die „milde man die Triebe „ertötet“, besteht aber die Narkose“, in die uns die Kunst versetze, Gefahr, dass man damit „auch alle andere vermöge nicht mehr als eine flüchtige Ent- Tätigkeit aufgegeben (das Leben geop- rückung aus den Nöten des Lebens her- fert)“ habe. – Wenn man die Quelle alles beizuführen und sei nicht stark genug, Leids in der Realität erblickt, müsste man um reales Elend vergessen zu machen. konsequenterweise „alle Beziehungen ab- Mitleid und Altruismus, auf deren Wirkung brechen“. Der Eremit kehre der Welt den Schopenhauer große Hoffnungen gesetzt Rücken, er will nichts mit ihr zu schaffen hat, finden in Freuds Überlegungen kaum haben. Aber man könne mehr tun, die Welt Berücksichtigung. Der Liebe als Technik „umschaffen wollen, anstatt ihrer eine an- der Lebenskunst steht Freud mit einigen dere aufbauen, in der die unerträglichen Vorbehalten gegenüber: Die geschlechtli- Züge ausgetilgt und durch andere im Sin- che Liebe habe uns die Erfahrung einer ne der eigenen Wünsche ersetzt sind“. überwältigenden Lustempfindung vermit- Das Wort „Umschaffen“ als aktivere Stra- telt und sich so als Vorbild für unser tegie könnte hier auf Nietzsche hindeuten, Glücksstreben angeboten. Die schwache dem man andere der von Freud genann- Seite dieser Lebenstechnik liege aber klar ten Glücksstrategien zuordnen kann: Setzt zutage: „Niemals sind wir ungeschützter man sich die „Beherrschung des Trieble- gegen das Leiden, als wenn wir lieben, nie- bens“ zum Ziel, dann wird „die Absicht mals hilfloser unglücklich, als wenn wir der Befriedigung keineswegs aufgegeben“, das geliebte Objekt oder seine Liebe ver- wird „die Unbefriedigung der in Abhän- loren haben“. gigkeit gehaltenen Triebe nicht so schmerz- Auch wenn nicht direkt auf Schopenhau- lich empfunden“. Dem stehe aber eine un- er Bezug genommen wird, kommen Freuds leugbare Herabsetzung der Genussmög- Ausführungen dessen quietistischer Erlö- lichkeiten gegenüber: „Das Glücksgefühl sungslehre an verschiedenen Stellen nahe: bei Befriedigung einer wilden, vom Ich un- „Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von gebändigten Triebregung ist unvergleich- den anderen“ sei der nächstliegende Schutz lich intensiver als das bei Sättigung eines gegen das Leid, das einem aus menschli- gezähmten Triebes“. – Eine andere Tech- chen Beziehungen erwachsen kann. Das nik der Leidabwehr sei die „Sublimierung“

172 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 der Triebe. Freud denkt hier in erster Li- In seinen Kulturschriften betont Freud nie an die Freude des Künstlers am Schaf- immer wieder, dass Kultur zu ihrem Auf- fen, an der Verkörperung seiner Phanta- bau und ihrer Aufrechterhaltung auf die siegebilde und die des Forschers an der Askese angewiesen sei: „Kultur ist durch Lösung von Problemen und am Erken- Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen nen der Wahrheit. Allerdings sei diese worden und fordert von jedem neu An- Methode nur den Gebildeten zugänglich.– kommenden, daß er denselben Triebver- Herausragende Bedeutung schreibt Freud zicht leiste. Während des individuellen Le- der „Betonung der Arbeit“ zu: „Die Mög- bens findet eine beständige Umsetzung lichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser von äußerem Zwange in inneren Zwang Komponenten, narzisstische, aggressive und statt. Die Kultureinflüsse leiten dazu an, selbst erotische, auf die Berufsarbeit und die daß immer mehr von den eigensüchtigen mit ihr verknüpften menschlichen Beziehun- Strebungen durch erotische Zusätze in al- gen zu verschieben, leiht ihr einen Wert, der truistische, soziale verwandelt werden“.49 hinter ihrer Unerlässlichkeit zur Behauptung Die Forderung nach möglichst weitgehen- und Rechtfertigung der Existenz in der Ge- der Triebbeherrschung wird als Mittel der sellschaft nicht zurücksteht“. Selbsterziehung legitimiert. Wenn dem Ein- Angesichts der zuletzt genannten Stellung- zelnen zu viel Verzicht auf Triebbefriedi- nahmen kann man zu dem Schluss kom- gung zugemutet werde – wie in der christ- men, dass Freud in seiner Anthropologie lichen Moral und auch in Schopenhauers letztlich doch Nietzsche näher steht als Ethik – so komme es zu psychischen „Er- Schopenhauer. Die Triebabtötung hat für scheinungen, die wir infolge ihrer Funk- ihn den großen Nachteil, dass man damit tionsschädlichkeit und ihres subjektiven „auch alle andere Tätigkeit aufgegeben Unlustcharakters zum Kranksein rechnen (das Leben geopfert)“ habe. Demgegen- müssen“.50 Auch wenn man nicht hoffen über hält er die „Beherrschung des Trieb- dürfe, den Antagonismus zwischen Indi- lebens“ für das weitaus bessere Mittel zur viduum und Kultur, triebhafter Natur und Bewältigung der eigenen Triebkonflikte. verdrängender Moral, Egoismus und Al- Am meisten erreiche man, wenn man „den truismus je zu überwinden, so sei es Lustgewinn aus den Quellen psychischer doch eine wesentliche Aufgabe, „einen und intellektueller Arbeit genügend zu er- zweckmäßigen, d.h. beglückenden Aus- höhen versteht“. Im Unterschied zu Nietz- gleich zwischen diesen individuellen und sche, der stets vom Standpunkt des Ide- den kulturellen Massenansprüchen zu fin- als aus philosophiert, betont Freud aller- den, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, dings, dass die Sublimierung „nicht allge- ob dieser Ausgleich durch eine bestimm- mein verwendbar, sondern nur wenigen te Gestaltung der Kultur erreichbar oder Menschen zugänglich ist. […] Auch die- ob der Konflikt unversöhnlich ist“.51 sen Wenigen kann sie nicht vollkomme- Damit dürfte deutlich geworden sein, wel- nen Leidensschutz gewähren, sie schafft chen Stellenwert die Askese in Freuds ihnen keinen für die Pfeile des Schicksals Leben und Werk gehabt hat. Schon lange undurchdringlichen Panzer und sie pflegt vor der Abfassung seines Essays über das zu versagen, wenn der eigene Leib die Unbehagen in der Kultur hat er eine im- Quelle des Leidens wird“. plizite Lebenskunstlehre vertreten, die sich

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 173 aus seiner persönlichen Entwicklung und leszenz und einer historischen Bemerkung über der von ihm gewählten Lebensform ge- Freuds Jugendstil, in: Aus Freuds Sprachwelt und speist, seine Behandlungstechnik und -kunst andere Beiträge. Jahrbuch der Psychoanalyse, Beiheft 2, Bern 1974, S. 66 u. 71. geprägt und die Vorannahmen seiner An- 13 Ebda. S. 81 u.89. thropologie und seiner Kulturtheorie durch- 14 Freud (1988), S. 48; Brief v. 9.9.1883. drungen hat. 15 Vgl. Freud, Briefe 1873-1939, hrsg. v. E. u. L. Freud, 3. korrigierte Aufl., Frankfurt/M. 1980, S. Anmerkungen: 24 f., 39 f. u. 163. 1 S. Freud, Über Psychotherapie [1905], Gesam- 16 Freud (1989), S. 107; Brief v. 27.2.1875. melte Werke (G. W.), Frankfurt/M. 1952, Bd. V, 17 Ebda. S. 72; Brief v. 18.9.1874. S. 14 f. 18 Freud (1988), S. 42; Brief v. 29.8.1883. 2 Die ‚Spaltung’ zwischen Wissenschaft und Philo- 19 Freud, „Selbstdarstellung“ [1925], G. W., Bd. sophie hat zu einem Jahrzehnte währenden „gegen- XIV, S. 34. seitigen Berührungstabu“ und einer damit verbun- 20 Vgl. Bernfeld, Freuds wissenschaftliche Anfänge denen „Reflexionsblockade“ geführt (vgl. N. Schmidt, [1949], in: Bernfeld/Cassirer Bernfeld (1981), S. Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschich- 115 ff. te, Dogmen und Perspektiven, Reinbek 1995, S. 21 Freud (1925), S. 35. 9). 22 Ebda. S. 35. 3 Vgl. G. Gödde, Freud und seine Epoche. Philo- 23 Freud (1988), S. 84, Brief v. 19.6.1884. sophischer Kontext, in: H.-M. Lohmann u. J. Pfeiffer 24 Freud (1980), S. 121, Brief v. 23.6.1884. (Hrsg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wir- 25 Freud (1988), S. 136 f., Brief v. 2.2.1886. kung, Stuttgart 2006, S. 10-25. 26 Vgl. J. Breuer, Krankengeschichte Bertha Pap- 4 Freud, Eine Kindheitserinnerung aus ‚Dichtung penheim (Anna O.) [1881], in: A. Hirschmüller, und Wahrheit’ [1917], G. W., Bd. XII, S. 26. Physiologie und Psychoanalyse in Leben und 5 H.-M. Lohmann, Sigmund Freud, Reinbek 1998, Werk Josef Breuers, Bern 1978, S. 348-362. S. 9. 27 Freud, Die Traumdeutung [1900], G. W., Bd. 6 Freud, Zerstreute Gedanken [1871], in: Aus II/III, S. 536 f. Freuds Sprachwelt und andere Beiträge. Jahr- 28 M. Düe, Askese und Ekstase bei Freud, in: Psy- buch der Psychoanalyse, Beiheft 2, Bern 1974, che 47, 1993, S. 413. S. 101. 29 Vgl. Ch. Wulf/J. Zirfas (Hrsg.), Askese, in: Pa- 7 Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, un- ragrana. Internationale Zeitschrift für Historische gekürzte Ausgabe, hrsg. v. J. M. Masson, Bearb. Anthropologie 8, 1999, H. 1. d. deutschen Fassung v. M. Schröter, Frankfurt/M. 30 Vgl. Ch. Horn, Antike Lebenskunst. Glück und 1986, S. 320, Brief v. 16.1.1898. Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, 8 Freud, Brautbriefe, Briefe an Martha Bernays München 1998, S. 34 ff.; W. Schmid, Philosophie aus den Jahren 1882-1886, hrsg. v. E. Freud, der Lebenskunst: eine Grundlegung, Frankfurt/ Frankfurt/M. 1988, S. 136; Brief v. 2.2.1886. M. 1998, S. 325 ff. 9 S. Bernfeld, Ein unbekanntes autobiographisches 31 Freud, Wege der psychoanalytischen Thera- Fragment von Freud [1946], in: S. Bernfeld/S. Cas- pie [1919], G. W., Bd. XII, S. 187. sirer Bernfeld, Bausteine der Freud-Biographik, 32 Düe (1993), S. 417. hrsg. v. I. Grubrich-Simitis, Frankfurt/M. 1981, S. 33 Freud (1919), S. 188. 104 ff. 34 Freud, Bemerkungen über die Übertragungs- 10 Freud, Über Deckerinnerungen [1899], G. W., liebe [1915a], G. W., Bd. X, S. 313. Bd. I, S. 543. 35 Düe (1993), S. 418. 11 Vgl. Gödde, Freuds Adoleszenz im Lichte seiner 36 Vgl. P. Rabbow, Seelenführung. Methodik der Briefe an Eduard Silberstein, in: Luzifer Amor 3, Exerzitien in der Antike, München 1954, S. 289 1990, H. 6, S. 10 f. ff. 12 K. R. Eissler Über Freuds Freundschaft mit Wil- 37 S. Freud/S. Ferenczi, Briefwechsel, Bd. III/2, helm Fließ nebst einem Anhang über Freuds Ado- 1925-1933, hrsg. v. E. Falzeder u. E. Brabant,

174 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Wien-Köln-Weimar 2005, S. 170; Brief v. (2003), S. 231-253; G. Gödde/J. Zirfas, Das Un- 4.1.1928. bewußte in Psychotherapie und Lebenskunst – ein 38 Hilda Doolittle schilderte z.B., Freud habe ihr in Brückenschlag, in: Buchholz/Gödde (Hrsg.), Das einer Sitzung einen Goldorangenzweig überreicht, Unbewußte in der Praxis – Erfahrungen ver- um symbolisch wiedergutzumachen, was ihr in der schiedener Professionen. Das Unbewußte, Bd. Kindheit an Unrecht widerfahren war. Mehrere III., Gießen 2006, S. 746-782. Analysanden berichteten, Freud habe ihnen über 45 M. Horkheimer, „Das Schlimme erwarten und Familiäres, über seine Reisen, seine Lieblings- doch das Gute tun“ (Gespräch mit Gerhard Rein) schriftsteller und seine Antikensammlung erzählt. [1972], in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frank- Auch vor pädagogischen Hinweisen machte er nicht furt/M. 1976, S. 456. Halt, indem er direkte Ratschläge gab oder Ermah- 46 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III: nungen aussprach. Auffällig ist, dass Freuds thera- Schopenhauer als Erzieher [1874], Kritische Stu- peutische Haltung von seinen Analysanden sehr un- dienausgabe (KSA) 1, München – Berlin 1980, S. terschiedlich beschrieben wurde. Die einen erleb- 335-427. ten ihn als wohlwollend, zugewandt und durchaus 47 Vgl. Gödde, Schopenhauer und Nietzsche – zwei persönlich, andere hingegen als distanziert und ent- gegensätzliche Entwürfe der Lebenskunst, in: Buch- larvend. Tatsächlich scheint er sich je nach Patient holz/Gödde (2003), S.254-271. und Situation recht unterschiedlich verhalten zu ha- 48 Freud, Das Unbehagen in der Kultur [1930], ben: teilweise passiv und lange schweigend oder G. W., Bd. XIV, S. 432 ff. aber aktiv und ungeduldig; teilweise heiter, humor- 49 Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod voll und charmant oder aber intolerant und emp- [1915b], G. W., Bd. X, S. 333. findlich. Dieser Widerspruch war offenbar für ihn 50 Freud, Die „kulturelle“ Sexualmoral und die selbst kein Problem, da er von zwei verschiedenen moderne Nervosität [1908], G. W., Bd. VII, S. 151. Beziehungsformen ausging: der neurotischen Über- 51 tragung, die zum Übertragungswiderstand führt und Freud (1930), S. 456. daher als Störfaktor der Therapie überwunden wer- den muss, und der bewusstseinsfähigen, unanstößi- Zum Autor: gen Übertragung, die er als Trägerin des Erfolges Günter Gödde, Dr. phil., Dipl. Psych., betrachtete (vgl. J. Cremerius, Vom Handwerk des psychol. Psychotherapeut in eigener Pra- Psychoanalytikers. Das Werkzeug der psycho- xis, Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut analytischen Technik, Bd. 2, Stuttgart – Bad an der Berliner Akademie für Psycho- Cannstatt 1981, S. 326 ff.). therapie, Mitglied der Akademieleitung. 39 S. Ferenczi, Relaxationsprinzip und Neokatharsis [1929], in: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. III., Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Frankfurt/M.; Berlin; Wien 1984, S. 476 ff. Psychoanalyse und Freud-Biographik, 40 Vgl. J. Weiss, H. Sampson et al., The Psychoana- Verhältnis von Psychoanalyse und Philo- lytic Process. Theory, Clinical Observations and sophie, von Therapeutik und Lebenskunst, Empirical Research, New York, London 1986. Kulturtheorie. Letzte Buchveröffentlichun- 41 P. Fürstenau, Entwicklungsförderung durch gen: Traditionslinien des Unbewußten – Psychotherapie, München 1992, S. 82. 42 Vgl. G. Gödde, Traditionslinien des „Unbewuß- Schopenhauer, Nietzsche, Freud (1999); ten“. Schopenhauer – Nietzsche – Freud, Tübin- Mathilde Freud, die älteste Tochter Sigmund gen 1999. Freuds in Briefen und Selbstzeugnissen 43 Vgl. R. Zimmer, Die europäischen Moralisten (2003, TB-Ausg. 2005); Tiefenpsycholo- zur Einführung, Hamburg 1999. gie lehren – Tiefenpsychologie lernen (mit 44 Vgl. J. Zirfas, Präsenz und Ewigkeit. Eine An- E. Jaeggi, W. Hegener u. H. Möller, 2003); thropologie des Glücks, Berlin 1993, S. 129-236; M. B. Buchholz, Psychoanalyse als „weltliche Seel- mit M.B. Buchholz gemeinsame Heraus- sorge“ (Freud), in: Buchholz/Gödde (Hrsg.), Le- gabe des dreibändigen Werks Das Unbe- benskunst. Journal für Psychologie 11, Heft 3 wusste (2005/2006).

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 175 Pravu Mazumdar (München) Die Glücksmaschinen Anmerkungen zur Industrialisierung des Glücks1

1. des Glücks aufweisen, ist bekannt. Er- „Wenn wir dem Glück nachstellen, flieht staunlich ist allerdings, dass die Variati- es. Wenn wir das Glück als etwas Flie- onsbreite dieser Glücksphilosophien nicht hendes ansehen, stellen wir ihm nach. Das so groß ist, wie es der Anschein will. Sie ist beinahe die Reaktion auf einen Reiz. scheinen in der Tat einem einzigen aber Die Katze rennt der Maus hinterher und zweigliedrigen Imperativ unterworfen zu der Hund kann nicht anders, als der Kat- sein, der jedes zulässige Sprechen über ze nachzurennen. das Glück dazu verpflichtet, (a) das We- Voraussetzung der Glücksjagd ist also, sen des Glücks und (b) den idealen Weg dass das Glück flieht. Und dass wir noch zum Glück aufzuschlüsseln.4 So lassen schneller sein wollen als das Glück, um sich die glücksphilosophischen Fragen, die es einzuholen. Dazu brauchen wir Reittie- im Zuge der Geschichte des westlichen re und Wagen. Dazu brauchen wir Vor- Denkens aufgetaucht sind, in zwei eng richtungen zum Zielen, Treffen, Fangen. zusammenhängende Fragetypen einteilen: Wir brauchen also Maschinen, die uns (a) „Was ist das Glück?“ und (b) „Wie ist schneller machen. Wir brauchen aber auch das Glück am besten zu erlangen?“ Maschinen, die das Glück langsamer ma- Im Horizont der ersten Frage wird das chen, bis wir es angehalten und uns ange- Glück mit der Seele in Verbindung ge- eignet haben. bracht und, noch spezifischer, als eine aus- ‚Doch wird das Glück immer schneller und gezeichnete Tätigkeit der Seele vorgestellt. ausweichender. Kaum haben wir es gefan- Im Horizont der zweiten Frage bringt man gen, schon rutscht es uns aus der Hand. das Glück in Verbindung mit dem Begriff Vielleicht ist es überhaupt besser, wenn der Tugend.5 Allein ein tugendhaftes Le- wir dem Glück nicht mehr nachrennen, ben befähigt zur Erlangung des Glücks, sondern es gleich selbst herstellen. Erset- verstanden als eine bestimmte Art seeli- zen wir also die Jagdmaschinen mit Ma- scher Tätigkeit. Diese beiden Motive fin- schinen, die das Glück herstellen. Bauen den sich in der bekannten Glücksdefinition wir uns doch gleich Glücksmaschinen! von Aristoteles vereinigt, die bis Kant als Hören wir also auf, Jäger und Sammler Ausgangspunkt oder Kontrastfolie für die des Glücks zu sein. Werden wir zu Glücks- abendländischen Glücksdiskurse gedient bauern! Werden wir zu Glücksmaschinen- hat: Das Glück, als das höchste Ziel mensch- bauern!’ So könnte der Aufruf zur indu- licher Handlungen wie heilen, Krieg füh- striellen Revolution des Glücks lauten.“2 ren, Schiffe bauen, einen Haushalt führen usw.6; das Glück also, als das Ziel aller 2. Ziele, ist eine „der besten und vollkom- Dass die abendländischen Philosophien menen Tugend gemäße Tätigkeit“ der See- von Aristoteles bis Christian Wolff3 ei- le7, die überdies ein ganzes Leben dauern nen konstanten Bezug auf das Problem muss, „denn wie eine Schwalbe und ein 176 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Tag noch keinen Sommer macht, so macht darüber hinaus, über das Wesen des Ziels. auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch Vielfach wird das Wesen des höchsten niemanden glücklich und selig“8. Ziels dem Wesen des Menschen gleich- Demnach ist das Wesen des Glücks eine gesetzt, das in der Folge als eine Art te- Tätigkeit der Seele; und der ideale Weg leologischer Steuerung des schicksalhaf- zum Glück die Tugend, die somit als eine ten Werdens des einzelnen menschlichen Art Glücksversprechen erscheinen muss. Lebens vorgestellt wird. Vor dem Hinter- Mit dieser Verknüpfung zwischen Glück grund solcher glücksphilosophischen und Tugend hat bekanntlich Kant aufge- Auseinandersetzungen mit dem Problem räumt, indem er die „Glückseligkeit“ auf des guten Lebens erscheint das Wesen des die Empirik der „Selbstliebe“ zurückge- höchsten Ziels als eine Vorgabe, der das führt9 und eine damit inkommensurable gelingende Leben zu entsprechen hat. Was transzendentalphilosophische Dimension dabei unter den Tisch fällt, ist die Frage des Moralischen freigelegt hat.10 nach der Herkunft des Ziels. Denn eine solche Frage würde ein Werden auch der 3. höchsten Ziele voraussetzen. Das Nachdenken über das Glück ist in der Regel eine Reaktion auf das alltägli- 4. che Lebensgefühl, von dem eine Gesell- Mit dem Fragwürdigwerden der Metaphy- schaft, eine Politik, eine bestimmte histo- siken im Rahmen der aufklärerischen Dis- rische Epoche getragen und durchdrun- kurse im achtzehnten Jahrhundert verlie- gen ist. Von alters her ist die abendländi- ren die Ziele des menschlichen Lebens im sche Reflexion über das Glück getragen philosophisch-ethischen Diskurs ihre tra- von einer alltäglichen Kultur der Unzufrie- ditionsgemäß ontologische Grundlage. denheit mit dem gewöhnlichen Leben und Denn in jedem postmetaphysischen Kon- der Problematisierung desselben. So ist text erscheinen die Ziele, gerade auch die im ethischen Diskurs der Antike die Fra- letzten, von einer irreduziblen Kontingenz ge nach dem Glück untrennbar von der behaftet, mit der sich sogleich die Frage Frage nach dem guten Leben. Diese letz- nach ihrer Herkunft stellt. Sind die Ziele tere Frage wird in der antiken Gesellschaft wirklich immer da, werden sie nicht viel- nicht erst von der Philosophie aufgewor- mehr produziert? Wer produziert sie, wie fen, sie geht vielmehr aus dem täglichen werden sie produziert? Mit solchen Fra- Leben eines jeden hervor. Die Philosophie gen verschiebt sich der Blick auf das reagiert nur auf diese Frage, die keines- Glück. Die Frage ist nicht mehr: „Was ist wegs ihre eigene ist, greift sie auf, präzi- das Glück?“ oder: „Wie erlangt man das siert sie, begibt sich in die Haltung des Glück?“ Anstelle dieser metaphysischen Beratens und formuliert eine kundige Ant- und glückspraktischen Fragen treten die wort, die sie dann mit ihrer Autorität als kritischen Fragen: „Wie werden glück- Liebe zur Weisheit besiegelt.11 artige Ziele produziert, um den Prozess Demnach hängt die eine Frage: „Was ist des Glücks auszulösen?“ oder „Welche Glück?“ eng zusammen mit der anderen: Ziele müssen produziert werden, um die „Wie soll man leben?“ Beide Fragen im- Menschen auf Trab zu halten und sie auf plizieren eine Reflexion über Ziele und, die Jagd nach ihnen zu schicken?“ oder

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 177 „Wie wird die Glückssuche moderner lichen Elementen wie Diskursen und In- Menschenmassen organisiert und was stitutionen, die im Sinne einer einzigen glücks- macht die Glückssuche dieser Menschen politischen Funktion verkettet sind.14 Sie mit ihnen selbst?“12 Die alten glücksme- haben den Charakter strategischer Netze, taphysischen Fragen nach Wesen und Er- die im Verlauf des neunzehnten Jahrhun- reichbarkeit der Ziele verwandeln sich in derts allmählich die modernen Gesell- neuartige glückspolitische Fragen nach schaften umspannen und zu den Selbst- Herkunft und Wirkung der Ziele. verständlichkeiten des zwanzigsten Jahr- Derlei Fragen sind durchaus dem aufklä- hunderts zählen. Es sollen hier drei sol- rerischen Lebensgefühl der industriellen cher Glücksmaschinen exemplarisch her- und postindustriellen Gesellschaften ge- ausgegriffen werden, die zu Beginn des mäß. Denn die aufgeklärte Haltung, die industriellen Zeitalters entstanden und einer Kultur des Verdachts entspringt, lässt nicht mehr aus dem modernen Leben weg alle herkömmlichen Evidenzen als fragwür- zu denken sind: die Glücksmaschine Wer- dig und die den Individuen aufgegebenen bung, die Glücksmaschine Tourismus Ziele als gesellschaftlich, kulturell, diskur- und die Glücksmaschine Sexualität. Der siv, politisch bedingt und somit als kontin- Gesamtzusammenhang aller Glücksma- gent erscheinen. Die Ziele, vor allem das schinen – denn es sind deren weitaus mehr Glück selbst, das in aristotelischer Sicht als die drei genannten – entfaltet eine un- das Endziel schlechthin war13, scheinen geheure Wirkung auf die einzelnen Teil- nicht mehr voraussetzungslos und schei- nehmer am modernen Alltag. Und was nen damit der Zeit unterworfen zu sein. durch alle Glücksmaschinen hindurch fühl- Wie die käuflichen Hilfsmittel des moder- bar wird, ist die Macht des Glücks in mo- nen Alltags sind auch die Ziele zu Arte- dernen Gesellschaften, die – im Sog ei- fakten geworden: zu Produkten einer ei- nes „absolut gewordenen Komparativs“ gentümlichen neuen Produktivität. In axio- – zur fortgesetzten Steigerung der pro- logischer Sicht scheint deshalb die Indu- duktartigen Ziele antreibt: strielle Revolution mehr zu sein als die „Denn die Macht des Glücks offenbart Einrichtung neuartiger Maschinen und Al- sich erst anhand der Macht der konkreten gorithmen zur Massenherstellung moder- Glücksbringer, etwa der Macht der neuen ner Konsumgüter. Sie erscheint zudem Produkte, die regelmäßig an die Strände noch als die Aufstellung von Vorrichtun- des Konsums geschwemmt werden; oder gen, die konsumierbare Ziele herstellen und der Macht der fremdartigen Geographien, Wege zur Erreichung solcher Ziele bereit- von der jedes Jahr Massen von Menschen stellen. Damit erscheint die industrielle Re- in die Ferne gejagt werden; oder der Macht volution als die Anzeige eines tieferen Vor- der sexualisierten Körper, an der die Mo- gangs: des Vorgangs der Industrialisie- de, die Medien und die Politik der Perso- rung des Glücks. nalabteilungen partizipieren. In der Welt dieser Glücksbringer gibt es keinen Super- 5. lativ: Es gibt nicht das beste Produkt, den Diese Vorrichtungen, die der Einfachheit sexuellsten Körper, die fremdartigste Land- halber „Glücksmaschinen“ genannt wer- schaft. Die endlose Beweglichkeit dieser den sollen, bestehen aus ganz unterschied- Welt verdankt sich einem absolut gewor-

178 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 denen Komparativ: Das Neue wird von selbst müssen erst produziert werden, im- einem immer Neueren abgedrängt und das mer neue Ziele, die jeweils als das Glück alt gewordene Neue landet auf einem im- an sich identifiziert werden müssen, da- mer höher wachsenden Müllberg, der sei- mit die Maschinen des Glücks in Bewe- nerseits eine eigene Betriebsamkeit der gung geraten. Im Kontext des modernen Wiederverwertung stimuliert. Die rastlose Lebens handelt es sich dabei insgesamt Dynamik des Komparativs und die mit ihr um die Ziele des unbegrenzten Konsums. gekoppelten Glückseffekte werden mit Das Glück des unbegrenzten Konsums der Hilfe einzelner Maschinen des Glücks ge- Produkte bewegt die Werbungsmaschine. schürt, kontrolliert und in Grenzen gehal- Das Glück des unbegrenzten Konsums ten. Solche Maschinen sind für den Be- der Fremdheit bewegt die Tourismusma- reich der Produkte die Werbung, für den schine, das Glück des unbegrenzten Kon- der Körper die Sexualität und für den Be- sums der Körper bewegt die Sexualitäts- reich der Exotik der Tourismus. Es gibt maschine. Jedes Mal wird das Glück mit zahlreiche andere Maschinen des Glücks, der Möglichkeit eines unbegrenzten Kon- wie das Star-System, das Lottospiel, das sums identifiziert. Die moderne Seligkeit Internet, die Börse. Letztlich aber laufen entzündet sich nicht an der Unbegrenzt- in der Welt des entfesselten Komparativs heit Gottes, sondern an der unerschöpfli- alle Bewegungs- und Kraftlinien auf das chen Konsumtiefe der Produkte, der frem- Glück selbst hinaus, das wie eine Vernet- den Räume, der Körper. An die Stelle der zung und Koordinierung der einzelnen Ma- Unendlichkeit Gottes ist die endlose Kon- schinen des Glücks funktioniert. In den sumierbarkeit der Dinge getreten.“16 weniger als 250 Jahren seit der Industriel- len Revolution hat sich nicht nur die Welt 6. der Produktions- und Dienstleistungsmittel Nietzsches Diagnose vom „Tod Gottes“ in eine große Maschine verwandelt, son- meint bekanntlich nicht etwa die Unmög- dern die Macht selbst, einschließlich der lichkeit von Religion in modernen Gesell- Macht des Glücks.“15 schaften, sondern den bestaunenswerten Untergang der ehemals selbstverständli- Die Macht des Glücks, die als der Zu- chen Verbindungen aus Macht und Tran- sammenhang einer offenen Vielzahl von szendenz. Modernität besagt also nicht Glücksmaschinen funktioniert, reduziert das Verschwinden einer wie auch gearte- und sichert die Bandbreite moderner Glücks- ten spirituellen Essenz von Transzendenz, möglichkeiten durch die Konstruktion und sondern eher den Zusammenbruch der den Einsatz von Zielen, die anhand des politischen Funktion von Transzendenz allgemeinen Äquivalents des Geldes mess- in traditionellen Gesellschaften. Der Gott, bar, tauschbar und konsumierbar werden: der an der Schwelle zur Moderne sterben „Alle diese Glücksmaschinen, angefangen musste, war also nicht der liturgisch ab- mit dem schlichten Glücksrad bis hin zum rufbare Gott der Konfessionen, sondern Räderwerk des Glücks, brauchen Ziele, jene für die Integration und Organisation um überhaupt in Gang zu kommen. Sie vormoderner Öffentlichkeiten unumgäng- stellen zwar Schleifen und Prozeduren zur liche Dimension der Transzendenz. Nach Erlangung von Zielen bereit. Aber die Ziele Michel Foucault ist im Zuge dieses archäo-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 179 logisch-genealogischen Vorgangs zur Zeit Das persönliche Glück, das nicht bloß auf der Französischen Revolution einerseits die Lebenswelt, sondern in erster Linie auf der „Mensch“ an die Stelle Gottes getre- den singulären Lebenslauf der Einzelnen ten: als eine empirisch-transzendentale bezogen ist, wird also tendenziell von der Doppelinstanz, die den modernen human- Betriebsamkeit der Glücksmaschinen zu- wissenschaftlichen Diskursen ihre Regeln gedeckt, die im Gegenzug ein anderes gibt. Andererseits sind aber an die Stelle Glück zum Vorschein bringen: das ge- der traditionellen Souveränitätsmacht des normte Konsumglück, womit die Einzel- Königs, mit ihrem Bedarf an theologischer nen, die ein solches Glück anstreben und Legitimation, moderne Machtformen ge- erreichen sollen, ihrerseits auch genormt treten, die sich auf die Disziplinierung von werden. Körpern und die biopolitische Kontrolle von Bevölkerungen stützen. 7. Auch die Rede von den modernen Glücks- Die Normung gehört zu den vornehmsten maschinen besagt keineswegs etwa, dass Effekten der Glücksmaschinen. So unter- das autonome Streben nach Glück – in nimmt beispielsweise die Glücksmaschine Analogie zum Streben nach Gott – nicht Werbung einerseits eine Normung der mehr funktioniert, dass also die Freiheit Welt, bis diese die Form eines universel- des persönlichen Glücksstrebens im mo- len Supermarktes annimmt, und anderer- dernen Leben unmöglich geworden sei, seits eine Abrichtung des Konsumwillens, sondern nur, dass das Glücksstreben mo- bis sich dieser zum Begehren des Super- derner Menschenmassen anhand maschi- marktes zusammensetzt und als solches nenartiger Organisationen produziert und funktioniert. reguliert wird. Was dabei zum Vorschein Denn die Werbung präsentiert eine Welt, kommt, ist nicht das alte ethische Glück die des gelingenden Lebens, sondern das nie „durch unser eigenes Wollen genormt ist. zuvor da gewesene Konsumglück. Dabei In dieser Welt ist alles jung, stark, gleich- beherrschen die Glücksmaschinen das mäßig. Niemand schwitzt, niemand schei- moderne Leben in einem Maße, dass auch tert. Auf einem Plakat der Versicherungs- das persönliche Glückstreben in ihrem kammer Bayern steht: „Rente gut, alles Sog steht, so dass eine eigentümliche kri- gut.“ Zu sehen sind: blaues Wasser, wei- tische und „asketische“ Grenzziehung er- ßer Sand, bunte Strandsessel. Ende fin- forderlich wird, mit der erst das singulä- det sich durch Rente ersetzt. Das Ende re, „nichtnormalisierte“ Glück des Einzel- ist nicht: sinkende Kraft, Infusionsröhre, nen – als Möglichkeit überhaupt – sicht- kein Besuch. Das Ende ist vielmehr die bar und auch begehrenswert werden kann. abgesicherte Rente, eingerahmt in Himmel, Die Freiheit des persönlichen Glücks be- Wasser, Strand. Und wem haben wir die- inhaltet also eine wohldosierte Nutzung se Wohltat zu verdanken, wenn nicht der sowie Abwehr der Angebote der Glücks- bayerischen Versicherungskammer?“17 maschinen, womit aber nur erst das ne- gative Moment einer wesentlich positiven So präsentiert die Glücksmaschine Wer- Praxis der Glückskunst gekennzeichnet bung die Welt als eine klassifizierte An- wäre. sammlung konsumierbarer Objekte, die sie

180 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 hervorhebt und dadurch erst zu Zielen des 8. Begehrens werden lässt. Im Wesentlichen Ebenfalls bietet die Glücksmaschine Tou- funktioniert die Glücksmaschine Werbung rismus das Glück der Ferne als das ge- als ein Diskurs, der dem Produkt als sol- normte Ferienglück eines Urlaubsparadie- chem zur Existenz verhilft: Sie identifiziert ses. In traditionellen Gesellschaften ori- es mit Hilfe von Markennamen, unterschei- entierte man sich bei der ‚nicht nützlichen’ det es – gemäß der Logik des Kompara- Reise anhand einer mythisch-sakralen Po- tivs – von anderen konkurrierenden Pro- larisierung von Raum und Zeit. Diese zeigt dukten und verleiht ihm – anhand einer sich als die Markierung gewisser Orte etwa Rhetorik des Lobs – eine Aura der Ein- als Wallfahrtsorte und gewisser Tage etwa maligkeit. Damit holt sie das industrielle als Feiertage. Die Wallfahrtsorte markier- Serienprodukt aus seiner seriellen Anony- ten transzendente und heilige Orte. Die mität heraus und macht es für das Auge Feiertage markierten heilige Augenblicke des Begehrens sichtbar. Während sie aber und Akte, wie etwa den Akt der Welt- auf diese Weise die Welt in einen globalen schöpfung, der an diesen Tagen anhand Supermarkt verwandelt, passt sie den Kon- heiliger Handlungen zu wiederholen war.19 sumwillen des Einzelnen der Form des Su- In dieser polarisierten Raum-Zeit-Ordnung, permarktes an. Denn sie als einer Ordnung fühlbarer Spannungs- „zerlegt … den Konsumentenwillen, den unterschiede, durfte nun die heilige Reise sie auf immer andere, neuere, ‚bessere’ als eine Bewegung der Entladung stattfin- Produkte lenkt. Sie zerstört zwar den Wil- den. len des Einzelnen, aber keineswegs etwa An der Schwelle des Verschwindens die- um diesen in ein Nichts zu verwandeln, ser Ordnung meldet sich erneut Nietzsches sondern um ihn vielmehr in die allgemeine „Tod Gottes“ als die Geburt moderner Form des ‚Supermarkts’ zu gießen. Der Normung. Denn der Zusammenbruch der Wille des Einzelnen wird dem Diktat des traditionellen Funktion der Transzendenz Komparativs unterworfen und damit ge- und ihres Glücksversprechens löst zu- zwungen, immer wieder sein Ziel zu än- nächst den Prozess der Homogeniserung dern. Im Laufe der Zeit bezieht er sich des vormodernen Raumzeitgefüges aus, nicht mehr auf ein einziges Objekt, son- so dass die traditionelle Reise ihren Bo- dern eine Vielzahl von Objekten, deren Ge- den in der alten polarisierten Raumzeit- samtzusammenhang erst den Supermarkt lichkeit verliert. Damit meldet sich das Be- bildet. Der ständige Wechsel des Produkts dürfnis nach einer neuartigen Polarisierung wird als „Steigerung“ verkauft, während von Raumzeitlichkeit, womit neuartige der Wille seine Einheit und Zieltreue ver- Reiseformen auftreten können. Mit dem liert und sich allmählich der Form des Su- Ausbau der Eisenbahnnetze im neunzehn- permarktes anpasst. Während also die Wer- ten Jahrhundert, mit dem Aufkommen des bung die Aura der Produkte konstruiert modernen Gastronomiegewerbes, mit den und in ihrer Gesamtheit den Supermarkt sozialpolitischen Kämpfen um das Recht präsentiert, zerfällt der Wille in viele Teil- auf Urlaub usw. verschwinden die Wall- intentionen, die sich dann über die Wer- fahrtsorte und Feiertage in ihrer herkömm- bung erneut zum Begehren des Super- lichen religiösen Bedeutung. Stattdessen marktes zusammensetzen.“18 treten die neuen Urlaubsparadiese und die

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 181 geregelte Freizeit als neuartige Markierun- rechtlichen Regelung der Urlaubs- und gen von Raum und Zeit in Erscheinung. Ferienzeiten; der Reiseunterkunft in Ge- An der Schwelle dieser radikalen Transfor- stalt der genormten Angebote der moder- mation der traditionellen Raumzeitlichkeit nen Gastronomie, usw. Im Wirkungsfeld wurde die Glücksmaschine Tourismus dieses Dispositivs rutscht nunmehr der aufgestellt: Kunde als zahlungskräftiger König hin „Die moderne Reisemaschine entstand und her. Er bewegt sich zwischen der Fer- schrittweise, als die ersten Reiseführer und ne des Urlaubsparadieses und der Nähe die großen Reiseunternehmen wie Thomas seines heimatlichen Arbeitsalltags im Ge- Cook zum rein „technischen Ensemble“20 fühl seiner Einmaligkeit und Freiheit, wäh- aus Lokomotive und Schiene hinzukamen rend er dabei selbst zu einem touristischen und alte Barockschlösser, die von der Serienprodukt wird: großen Revolution nicht vernichtet wer- „Der Massentourist, der sich der digita- den konnten, zu Hotels umfunktioniert len Bandbreite der touristischen Angebo- wurden: zu zeitgemäßen Palästen, in de- te bedient, setzt sich dem Zugriff der nen der Tourist zugleich Kunde und Kö- Glücksmaschine Tourismus aus. Je regel- nig war und einige königliche Tage im Jahr mäßiger er auf den Fließbändern des Welt- verbringen durfte. Während sich also der tourismus hin und her gleitet, umso ent- Dandy in strenger Arbeit an sich selbst in schiedener wird sein Reiseempfinden, sein die aristokratische Haltung einübt, darf Raum- und Zeitgefühl, sein Umgang mit sich der Tourist am Urlaubsziel einige Ta- Fremdheit diszipliniert. Er ist ein Soldat ge lang als Aristokrat wähnen. Um die neu der Reise, gänzlich dem Diktat der touri- entstehenden Hotelketten organisierte sich stischen Reise ergeben. … Der Soldat der eine ganze ‚Animationsindustrie’, die das Reise trägt die Uniform des Touristen, be- Urlaubsparadies mit Unterhaltungs-, Ge- vorzugt die gleichen Speisen wie seine im sundheits- und Bildungsangeboten be- touristischen Marsch befindlichen Reise- stückte. Alle diese Elemente sollten drei genossen und seine Paradiesvorstellungen distinkte Leistungen erbringen, die zur In- und Partnerwahl im Urlaubsliebesparadies dustrialisierung der Reise und zum Funk- sind durch den anhaltenden Anschlag der tionieren der Glücksmaschine Tourismus Werbung im allgemeinen und der Touris- beitrugen: (a) Sie sollten die Anziehungs- muswerbung im besonderen genormt. Er kraft des Reiseziels als Glücksbringer stei- genießt es, wie die Sardinen in der Büch- gern; (b) sie sollten die Reisebewegung se neben den anderen Reisesoldaten am beschleunigen; (c) sie sollten den Reise- Strand zu liegen, und sucht die gleichen weg technisch-organisatorisch ausglätten, Abenteuer in den von der Glücksmaschine das heißt: von allen Hindernissen und Ge- Tourismus sorgfältig konstruierten Ereig- fahren befreien.“21 nislandschaften. Vor allem fühlt er sich als Die Aufstellung der Glücksmaschine Tou- ein ausgesuchtes und privilegiertes Exem- rismus führte zur Normung und Ausglät- plar der Menschheit, mit seiner Visa-Card tung der Reise, das heißt: zur Entdifferen- und seinem urlaubsbedingten Ausnahme- zierung der Reisewege in Gestalt von Ei- zustand, in dem er nicht arbeiten muss wie senbahnschienen, Autobahnen, Flugrou- die um ihn herumschwänzelnden Fab- ten; der Reisezeit in Gestalt der arbeits- rikarbeiter der Gastronomie- und Anima-

182 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 tionsindustrie. Zusammen mit seinen Rei- – erneut Differenzen erzeugt: sexuell auf- segenossen bildet er so etwas wie eine geladene Differenzen, die sich dem Sog der Herde aus lauter Individuen.“22 Uniformität im modernen Arbeitsalltag ent- gegenstellen: 9. „In einer permissiven modernen Gesell- Auch die Glücksmaschine Sexualität, die schaft lässt sie [die Differenz, Verf.] sich so unterschiedliche Dinge wie Modeindu- durch Exhibitionismus jeder Art wieder- strie, Starsystem, klinisch-psychoanalyti- herstellen: durch die Aura der Originalität scher Diskurs, Sexindustrie, Liebesroma- einer neuen Mode, einer abweichenden ne und -Filme, Orte der Nacktheit wie Frisur, einer abweichenden Kleidung oder Strand und Sauna, usw. strategisch ver- der Gewaltsamkeit konkreter sexueller bindet, zeitigt einen Effekt der Normung. Handlungen wie der SM-Praktiken und so Auch sie ist bedingt durch die „Tod Got- weiter. Auch die Nacktheit dient der Pro- tes“ genannte gesamtkulturelle Situation duktion von Differenz. Der Hang, immer der Entdifferenzierung an der Schwelle zur mehr Körper zu zeigen, läuft der tenden- Moderne. Denn: mit dem Tod Gottes und ziellen Gleichschaltung von Männer- und der Reduktion der Rangordnung zwi- Frauenkleidung in Beruf und Freizeit zu- schen dem Heiligen und dem Profanen wider. Die Nacktheit erscheint beinahe als wird die Möglichkeit der traditionellen die letzte Anzeige der anatomischen Dif- Sexualität als Überschreitung in ihrem Kern ferenz zwischen Mann und Frau und als getroffen: Ausgleich für den gleichschaltenden und „In vormodernen Kulturen wurde das We- uniformierten Jeans- und T-Shirt-All- sen der Sexualität öffentlich und rituell ge- tag.“24 lebt, in Form großer kollektiver Paroxys- Doch bildet die Erzeugung von Differen- men wie der dionysischen Orgien der grie- zen nur den ersten Schritt zur Wiederher- chischen Antike oder der späteren Karne- stellung der sexuellen Überschreitung in valszüge. Bei diesen periodisch entfessel- modernen Gesellschaften. In einem zwei- ten Massenereignissen ging es wesentlich ten Schritt wird die Loslösung der Lust um die Einebnung der Differenz zwischen von der Tyrannei der Beziehung durch- dem Heiligen und dem Profanen in Form geführt. Die Glücksmaschine Sexualität rituell gelenkter Überschreitungen. Die ent- isoliert die sexuelle Lust als reine Lust, scheidende Geste dieser Feste war der aus der tendenziell die Kontingenz von Akt der Profanierung. Seit dem Tod Got- Beziehungen ausgeschlossen bleibt. Das tes jedoch findet sich die Differenz zwi- zeigte sich an der Schwelle zur sexuellen schen dem Heiligen und dem Profanen Moderne in Marquis de Sades’ Visionen bereits im Voraus aufgehoben und muss einer von jeglicher Bilateralität gesäuber- deshalb erneut produziert oder simuliert ten, durch und durch logisierten reinen se- werden, damit die sexuelle Überschreitung xuellen Lust. Der Ausschluss der Bezie- überhaupt noch stattfinden kann.“23 hung aus der Lust führt einerseits zur Nor- Dieser Krise ist anhand der Glücksma- mung der sexuellen Handlungen, die nun schine Sexualität abzuhelfen, die – unter den Charakter der Abweichung annehmen Zuhilfenahme der Mode, der Nacktheit, müssen, um als sexuelle Handlungen wahr- der Vielfalt sexueller Abweichungen usw. genommen werden zu können; und ande-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 183 rerseits der sexuellen Partner, die sich ei- le Transformation des zieltheoretischen nem Regime sexualpolitischer Korrektheit Blicks. Erstens erscheinen die Ziele des unterwerfen müssen, so dass sich die rei- Glücksstrebens nicht mehr als metaphy- ne Lust, ohne jegliche Störung durch die sisch vorgegeben, sondern als Artefakte, Kontingenz der Beziehung, entfalten kann. die einer neuartigen industriellen Produk- Dies geschieht nicht ohne eine prinzipielle tivität entsprechen. Sie erscheinen zwei- Anbindung der Sexualität an das System tens nicht mehr im Element einer transzen- des Geldes: denten Ruhe, sondern mit einer eigenen „Man kann insgesamt festhalten, dass die und eigentümlichen Bewegung ausgestat- Glücksmaschine Sexualität zugleich gleich- tet. Generell lässt sich in der Bewegung schaltend und differenzierend vorgeht. Sie zwischen uns und unseren Glückszielen schaltet gleich, indem sie tendenziell alle nicht eindeutig feststellen, was sich da be- sexuellen Werte dem allgemeinen Äquiva- wegt: wir oder unsere Ziele? Bewegen wir lent des Geldes und alle sexuellen Bezie- uns dem Ziel zu? Oder bewegt sich das hungen der Prostitution angleicht und in- Ziel auf uns zu? Diese Zweideutigkeit ent- dem sie die sexuellen Partner an die von spricht der kosmologischen Zweideutig- der Mode und dem Starsystem produzier- keit, aus der die kopernikanische Revolu- ten Normen anpasst. Sie differenziert, in- tion hervorging: Bewegen sich Sterne oder dem sie die Körper mit Nacktheit und Mo- bewegen wir uns? Oder, transzendental- de auflädt, wobei uns die Mode weniger philosophisch gewendet: Bewegen sich einkleidet als entkleidet, da sie unsere die erkannten Objekte oder bewegt sich Nacktheit nicht aufhebt, sondern sie eher das erkennende Subjekt? hervorhebt, konturiert, stilisiert und auf- Die Glücksmaschinen setzen voraus, dass fällig macht. Die Glücksmaschine Sexua- wir, die Glückssubjekte, bewegbar sind lität bietet uns also Differenzen, um sie und auf den Weg zu unserem Glück ge- sofort, anhand des allgemeinen Äquiva- bracht werden müssen. Deshalb erscheint lents, gleichzuschalten. Denn sie will uns es in dieser Perspektive erstens sinnvoll, natürlich nicht wirklich etwas bieten. Eher das Glück nicht mehr dem Zufall zu über- will sie uns etwas verkaufen. Wie die Wer- lassen, sondern es selbst herzustellen, was bung reizt sie uns deshalb an, zu kaufen auch darauf hinausläuft, dass es genormt, und zu konsumieren, über die Sexualität parzelliert, dem Äquivalent des Geldes an- zu sprechen und dabei stets die reibungs- geglichen werden muss. Das so hergestell- lose absolute Sexualität zu suchen. „Ab- te und genormte Glück ist für das beweg- solut“ aber bedeutet „nicht relativ“ oder bare Glückssubjekt leichter erreichbar. „ohne Relation“. Die absolute Sexualität Zweitens aber ist es in dieser Perspektive bedeutet eine Sexualität ohne Relation. notwendig, dass die Wege zum Glücks- Das Ziel der Glücksmaschine Sexualität ziel für die bewegbaren Subjekte bereit- ist die Herstellung einer absoluten Sexuali- gestellt werden müssen. Auf den genorm- tät durch den Ausschluss der Beziehung.“25 ten Wegen zu den genormten Glückszielen werden die bewegten Glückssubjekte ih- 10. rerseits genormt. In diesem Sinne erschei- Der Einsatz und die Feststellbarkeit der nen die Glücksmaschinen als kopernika- Glücksmaschinen implizieren eine radika- nische Vorrichtungen.26

184 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Doch die bloße Sichtbarkeit der Glücks- Clemens, Das Problem des Glücks im Denken maschinen und ihres „Logos“ impliziert Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und ent- eine Wiederkehr der vorkopernikanischen wicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbe- griffen seiner Ethik, Stuttgart, Bad Cannstatt, Perspektive des bewegten Glücks. Denn 1995. Siehe auch Renault, Laurence, Descartes ou erst der Blick aus der Warte des unbeweg- la félicité volontaire. L’idéal aristotélicien de la ten und abhängigen Glückssubjekts ver- sagesse et la réforme de l’admiration, Paris, 2000; mag die eigentümliche Bewegtheit des und Potkay, Adam (2000), The Passion for Hap- Glücks zu sichten: ihr Bewegtsein durch piness. Samuel Johnson and David Hume, Ithaka, die Glücksmaschinen, aber auch ihre irre- 2000.] 4 Kant, der dies als erster gesehen hat, fasst das duzible Zufallsbewegung, die sich in den ganze antike Glücksdenken zusammen, indem er die unfreiwilligen und höchst persönlichen Epikuräer und Stoiker nicht als bloße Gegner, son- Wendungen des Lebens diesseits und jen- dern als gegnerische Teilnehmer an der gleichen seits des Glücksmarktes melden. Überbewertung der eudaimonistischen Glückspro- Die Ausgestaltung dieser vorkopernikani- blematik betrachtet: „Denn Epikur sowohl, als die schen Ruhe kann allerdings nur als eine Stoiker, erhoben die Glückseligkeit, die aus dem Be- wußtsein der Tugend im Leben entspringe, über al- Praxis stattfinden, die sich einerseits der les …“ [Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Betriebsamkeit der Glücksmaschinen ent- Vernunft in „Schriften zur Ethik und Religionsphi- gegenstellt und andererseits dem persön- losophie: Erster Teil“, Bd. 6, „Werke in zehn Bän- lichen Glück als Glückssache stellt. Die- den“, hg. v. Wilhelm Wieschedel, Darmstadt, 1975, se doppelte Praxis hat den Charakter ei- 103-302 (im Folgenden: KpV): 244 (A 209)] 5 ner Glückskunst, deren Eigenart und Gren- Man sollte sich allerdings – im Eifer des Bekennt- nisses zur wissenspolitischen Aktualität – nicht allzu zen zu erkunden allerdings den Rahmen eilig von Begriffen wie „Seele“/„Tugend“ irritieren dieser eher kursorischen Darstellung spren- lassen. Sie sind lediglich die traditionelle Reaktion gen würde. auf die noch heute wirksame Doppelfrage nach We- sen und Erreichbarkeit des Glücks, die zwar Jahr- hunderte lang die vertrauten metaphysischen Ant- Anmerkungen: worten hervorgerufen hat, die aber deshalb lange 1 Im Folgenden wird die Idee der Glücksmaschinen nicht in die Mottenkiste vormoderner Wissensge- vorgestellt, die in dem längeren Essay, Die Macht schichte einzuordnen ist. Denn sie ist mit schöner des Glücks, entwickelt worden ist. Ein zweites Regelmäßigkeit in den glückstheoretischen und -uto- Motiv dieses Buchs, das hier aus Platzgründen nicht pistischen Entwürfen der nachkantischen Moderne vertieft werden kann, ist die Idee einer Glückskunst, wiedergekehrt, gleich, ob diese mit marxistischer, mit der man sich gegen die Herrschaft der Glücks- positivistischer oder utilitaristischer Stimme verkün- maschinen zur Wehr setzt und sich im Umgang mit det wurden. Gerade aber auch in der aktuellen psy- dem persönlichen Zufallsglück übt. [Siehe Mazum- chologisch-biologisch-ökonomischen Erforschung dar, Pravu, Die Macht des Glücks, München, 2003 des Glücks scheint die gleiche alte, unverwüstliche (im Folgenden: MG).] Sehnsucht am Werk zu sein, die sich in Fragen nach 2 Ibid.: 35. Wesen und Erreichbarkeit des Glücks entlädt. Das 3 Die Literatur zur neuzeitlichen Glücksauffassung ist umso bemerkenswerter, als diese sehr hektischen ist recht spärlich, im Unterschied vor allem zur tra- und trendbewussten Forschungsrichtungen die Be- ditionsreichen Rezeption antiker Glückstheorien. griffe „Seele“ und „Tugend“ zu meiden suchen wie Umso bemerkenswert ist daher die Monographie der Teufel das Weihwasser. Gerade in ihren öffent- von Clemens Schwaiger über die Glücksproblematik lichen Stellungnahmen finden sich dafür, ganz nach bei Christian Wolff, die u.a. auf die feineren Unter- alter metaphysischer Manier, ihre Theorien und Tipps schiede zwischen den Glücksauffassungen bei Des- vermischt: ihre Theorien, die ein genetisches, neuro- cartes, Leibniz und Wolff eingeht. [Siehe Schwaiger, biologisches, hormonologisches, flowpsychologi-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 185 sches oder sonstiges Wesen des Glücks aufdecken das Glück und nichts formt sie so sehr wie ihre ei- wollen; und ihre auf solche Theorien gestützten Hin- gene Glückssuche.“ [Mazumdar, MG: 87.] weise zur Erlangung des Glücks. Auffällig ist dabei 13 „Da der Ziele zweifellos viele sind und wir derer vor allem der (verzweifelte) Optimismus dieser ak- manche nur wegen anderer Ziele wollen, z.B. Reich- tuellen glückswissenschaftlichen Theorien, der sich tum, Flöten und überhaupt Werkzeuge, so leuchtet in ihrer gemeinsamen Tendenz zur Stigmatisierung ein, daß sie nicht alle Endziele sind, während doch des Unglücks kundtut. Dass es von da aus bis zur das höchste Gut ein Endziel und etwas Vollendetes Stigmatisierung der Unglücklichen selbst nur ein sein muß. Wenn es daher nur ein Endziel gibt, so kleiner Schritt wäre, liegt auf der Hand. muß dieses das Gesuchte sein, und wenn mehrere, 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. v. Gün- dasjenige unter ihnen, welches im höchsten Sinne ther Bien auf d. Grundlage der Übersetzung v. Eu- Endziel ist. Als Endziel in höherem Sinne gilt uns das gen Rolfes, Hamburg, 1985 (im Folgenden: NE): 1 seiner selbst wegen Erstrebte gegenüber dem eines (1094 a). andern wegen Erstrebten und das, was niemals 7 Ibid.: 12 (1098 a). wegen eines anderen gewollt wird, gegenüber dem, 8 Ibid. was ebenso wohl deswegen wie wegen seiner selbst 9 „Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen gewollt wird, mithin als Endziel schlechthin und als Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die schlechthin vollendet, was allezeit seinetwegen und ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet, die niemals eines anderen wegen gewollt wird. Eine Glückseligkeit, und das Prinzip, diese sich zum solche Beschaffenheit scheint aber vor allem die höchsten Bestimmungsgrunde der Willkür zu ma- Glückseligkeit zu besitzen. Sie wollen wir immer chen, das Prinzip der Selbstliebe.“ [Kant, KpV: 129 wegen ihrer selbst, nie wegen eines anderen …“ (A 40).] [Aristoteles, NE: 10 (1097a -1097b)] 10 Allerdings ist die Frage, ob Kant wirklich ver- 14 Die Glücksmaschinen sind von der Eigenart der mocht hat, die Bahn der aristotelischen Glücksre- Dispositive der Macht, so wie diese von Michel flexion zu verlassen, schwer zu beantworten. Ihre Foucault gekennzeichnet worden sind: „Was ich unter Bejahung setzt gewissermaßen voraus, dass man diesem Titel festzumachen versuche ist … ein ent- Kants Aristoteles-Lektüre übernimmt. [Siehe dazu schieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, In- Pleines, Jürgen-Eckhardt, zwischen stitutionen, architekturale Einrichtungen, reglemen- Kant und Aristoteles. Glückseligkeit als höch- tierende Entscheidungen, Gesetze, administrative stes gut menschliches Handelns, Würzburg, 1984.] Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philoso- 11 So schreibt Julia Annas: „In ancient ethics the fun- phische, moralische oder philanthropische Lehrsät- damental question is, How ought I to live? or What ze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes um- should my life be like? This is not taken to be in faßt. Soweit die Elemente des Dispositives. Das origin a philospher’s question; it is a question which Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen an ordinary person will at some point put to herself. Elementen geknüpft werden kann.“ [Foucault, Mi- … And it is widely assumed that, while there are chel, Dispositive der Macht. Michel Foucault plenty of people around with ready answers, the über Sexualität, Wissen und Macht, Berlin, 1978: only answers which will satisfy an intelligent and 119-120.] Sofern also das Glück als ein machtartiges reflective person will come from ethical philosophy. Phänomen angesehen wird, von dem die einzelnen In … [antiquity, Verf.] there are many philosophical Akteure in ihrem Glückstreben durchdrungen und schools offering competing philosophies of ethics: bearbeitet werden, sind die Glücksmaschinen als the question is answered by Aristoteles and by later Dispositive im Foucaultschen Sinne zu betrachten. Peripatetic followers, by , by the Stoics and 15 Mazumdar, MG: 11-12. by the Sceptics, and their answers are very diffe- 16 Ibid.: 12-13. rent. But there is no serious disagreement as to this 17 Ibid.: 39. being the right question to ask, and as to its being 18 Ibid.: 59. philosophy which provides the answer.“ [Annas, 19 Siehe dazu etwa Eliade, Mircea, Das Heilige und Julia, The Morality of Happiness, New York, Ox- das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frank- ford, 1993: 27.] furt/M. u. Leipzig, 1984; und Usener, Hermann, 12 „Denn nichts suchen die Menschen so sehr wie Götternamen, Bonn, 1920.

186 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 20 Dieser Ausdruck stammt von Wolfgang Schivel- busch. [Siehe Schivelbusch, Wolfgang, Geschich- te der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München u. a., 1977.] 21 Mazumdar, MG: 97-98. 22 Ibid.: 107-108. 23 Ibid.: 116. 24 Ibid.: 116-117. 25 Ibid.: 125-126. 26 Siehe Sloterdijk, Peter, Kopernikanische Mo- bilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frank- furt/M., 1987.

Zum Autor: Pravu Mazumdar, geboren 1952 in In- dien, studierte Physik und Philosophie und arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Dozent in München. Zahlreiche Auf- sätze insbesondere zu Foucault und Be- treuung mehrerer Bände der Reihe „Phi- losophie Jetzt!“. – Arbeitsgebiete: Theo- rien der Moderne, Ereignisphilosophien, Kunstinterpretationen. – Publikationen: Foucault (hrsg. und eingeleitet), Philo- sophie Jetzt! 18, München, 1998; Die Macht des Glücks, München, 2003. Im Frühjahr 2008 erscheint bei transcript eine Monographie über Foucaults Ar- chäologie des Wissens.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 187 Dr. Edgar Dahl (Gießen) Glück kann man kaufen

Wer sagt, Glück könne man nicht kaufen, der gibt sein Geld nicht richtig aus. Werbung für die Automarke „Lexus“

Von all den Märchen, die ich als Kind vor- Dass Geld allein nicht glücklich macht, ist gelesen bekam, hat mich keines so beein- inzwischen auch von der so genannten druckt wie das „Vom Fischer und seiner „Glücksforschung“ bestätigt worden – Frau“ oder, wie es bei uns Fischköppen jenem neuen empirisch orientierten und in- hieß: „Von dem Fischer un syner Fru“. terdisziplinär ausgerichteten Wissenschafts- Ohne zu sehr aus dem Nähkästchen plau- zweig, der Biologen, Psychologen, Sozio- dern zu wollen, glaube ich, dass es mich logen, Politologen und Ökonomen mitein- schon damals an meine Eltern erinnerte. ander vereint. Der vielleicht wichtigste Be- Wie sehr sich mein Vater auch mühte, mei- fund der Glücksforschung lautet: Obgleich ner Mutter jeden Wunsch von den Lip- sich das Pro-Kopf-Einkommen der west- pen abzulesen, es war nie genug. Ob er lichen Industrienationen in den vergange- ihr persische Teppiche zu Füßen legte, nen 50 Jahren mehr als verdoppelt hat, indische Vasen oder tschechisches Kri- hat sich unser Glück doch um keinen Deut stall – das Glück, das er ihr bescherte, erhöht. Dass wir heute weit mehr zu es- währte stets nur wenige Tage und jeder sen haben, über bessere Kleidung verfü- Traum, den er ihr erfüllte, gebar hundert gen, in schöneren Wohnungen leben, kom- neue. Was Wunder also, dass ich den be- fortablere Autos fahren, über eine besse- rühmten Ruf des Fischers an den Butt re Gesundheit verfügen und eine höhere stets mit der verzweifelten Stimme mei- Lebenserwartung haben – nichts von al- nes armen Vaters las: ledem hat unser Glück vermehrt.2

Mantje, Mantje, Timpe Te Wie eine kürzliche Umfrage des Meinungs- Buttje, Buttje in der See. forschungsinstituts TNS Emnid gezeigt myne Fru, de Ilsebill hat, scheint es eine Grenze dafür zu ge- will nich so, as ik wol will.* ben, bis zu der Wohlstand das Wohlerge- hen zu erhöhen vermag. Für Deutschland Ich weiß nicht, ob Arthur Schopenhauer liegt diese Grenze offenbar bei einem mo- von der Geschichte vom Fischer und sei- natlichen Nettoeinkommen von 2000 Eu- ner Frau ähnlich stark beeindruckt war. In ro. Wer pro Monat lediglich 1000 Euro jedem Falle hat er die Moral von der Ge- verdient, bewertet sein Glück auf einer schicht’ in seinen „Aphorismen zur Le- Punkteskala von 1 bis 10 (also von „ganz bensweisheit“ mit unübertroffener Anschau- und gar unzufrieden“ bis zu „ganz und lichkeit zusammengefasst: „Der Reichthum gar zufrieden“) bei 6,6 Punkten. „Wer gleicht dem Seewasser: je mehr man davon mehr als 2000 Euro verdient, hat mit ei- trinkt, desto durstiger wird man.“1 nem Wert von 7,9 eine Grenze erreicht und

188 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 wird nicht zufriedener – ob er nun 2050 menhang von Geld und Glück ist jedoch oder mehr als 2500 Euro im Monat ver- weit differenzierter, als er zunächst schei- dient.“3 nen mag. Es gibt gute Gründe, den Ein- fluss des Wohlstands auf unser Wohler- Vielleicht noch eindrucksvoller ist eine gehen nicht zu sehr zu unterschätzen. Untersuchung von der Universität Prince- ton, die im vergangenen Jahr von dem Bevor ich näher auf diese Gründe einge- Nobelpreisträger für Wirtschaftswissen- he, möchte ich aber kurz noch einige Fak- schaften Daniel Kahnemann geleitet wur- ten auflisten, die die Glücksforschung in- de. Unter dem Titel „Würden Sie glückli- zwischen zutage gefördert hat: Männer cher sein, wenn Sie reicher wären?“ ver- sind nicht glücklicher als Frauen. Weiße glich seine Arbeitsgruppe das subjektive sind nicht glücklicher als Schwarze. Schö- Wohlbefinden von Menschen, die ein ne sind nicht glücklicher als Hässliche. durchschnittliches Einkommen haben, mit Kluge sind nicht glücklicher als Dumme. denen, die ein überdurchschnittliches Ein- Verheiratete sind dagegen etwas glückli- kommen haben. Obgleich die Durch- cher als Ledige. Ältere sind überraschen- schnittsverdiener fest davon überzeugt wa- derweise glücklicher als Jüngere. Und – ren, dass diejenigen, die überdurchschnitt- vielleicht am erstaunlichsten – körperlich lich viel Geld verdienen, weit glücklicher behinderte Menschen sind im Mittel einen als sie selbst seien, war das keineswegs Tick glücklicher als körperlich nicht be- der Fall. Statt, wie weithin angenommen, hinderte Menschen. bei Tiffany zu shoppen oder auf dem Golf- platz zu stehen, verbringen die überdurch- Menschen, die bewusst dem Ruhm, der schnittlich gut Verdienenden den größten Schönheit oder dem Geld nachjagen, sind Teil ihrer Zeit mit Arbeit und Dienstreisen nachweislich unglücklicher als Menschen, und fühlen sich zumeist angespannt und die weniger materielle Ziele verfolgen. gestresst: „Die Annahme, dass ein hohes Menschen, die ihrem Leben einen Sinn zu Einkommen mit guter Stimmung verbun- verleihen verstehen, sind in der Tat glück- den sei, ist eine Illusion. Leute mit einem licher als solche, die lediglich von einer überdurchschnittlichen Einkommen sind Zerstreuung zur nächsten eilen. Religiöse mit ihrem Leben relativ zufrieden, aber Menschen sind dementsprechend auch et- kaum glücklicher als andere.“4 was glücklicher als areligiöse. Interessan- terweise hat sich gezeigt, dass je funda- Obgleich ich die Lektion, dass Geld al- mentalistischer eine Religion ist, desto lein nicht glücklich macht, bereits früh in glücklicher sind ihre Anhänger. So sind meinem Leben verinnerlicht zu haben mei- etwa orthodoxe Juden, konservative Chri- ne, erweckt diese Art der Darstellung des sten und fundamentalistische Muslime Zusammenhangs von Wohlstand und Wohl- glücklicher als ihre nur moderat religiösen ergehen bei mir doch den Verdacht eines Glaubensbrüder.5 „Saure-Trauben-Effekts“: Es scheint, als wolle man den Armen vorzugaukeln ver- Im internationalen Vergleich liegen die suchen, dass es den Reichen letztlich auch Deutschen in Sachen Glück etwa in der nicht besser gehe. Der tatsächliche Zusam- Mitte zwischen den nahezu seligen Iren

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 189 und den offenbar eher schwermütigen bemerkenswert. Russen. Tabelle 1, die auf Daten des In- Befragt, in wessen Anwesenheit sie sich ternational Social Survey Programmme am glücklichsten fühlen, zeigte sich erneut, (ISSP) von 2001 beruht, zeigt, dass die dass Frauen lieber Zeit mit ihren Freun- Deutschen erwartungsgemäß weit trübsin- den als mit ihren Kindern verbringen. Al- niger als Holländer oder Amerikaner sind, leine zu sein, ist ihnen dagegen einer grö- aber unerwarteterweise etwas unbeküm- ßerer Graus als mit Kunden zusammen zu merter als Franzosen oder Italiener. sein (siehe Tabelle 3).

Recht überraschend sind auch die Ergeb- Um nun aber zum lieben Geld zurückzu- nisse einer Umfrage unter 900 berufstäti- kehren: Wie der Glaube, dass es einen ge- gen Frauen, die gefragt wurden, wann sie rechten Gott gibt, der die Guten eines Ta- im Verlaufe des Tages am glücklichsten ges belohnen und die Bösen eines Tages sind (siehe Tabelle 2). Gewiss ist es nicht bestrafen werde, so gehört sicher auch der weiter verwunderlich, dass ihnen Sex mehr Glaube, dass Geld nicht glücklich mache, Spaß bereitet als Hausarbeit; doch dass zum „Opium des Volkes“, mit dem es sich sie lieber Fernsehen oder Telefonieren als über die Lasten und Mühen des Alltags auf ihre Kinder aufzupassen, ist schon hinwegzutrösten sucht. Bei der Interpre-

190 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 tation der Daten zum Zusammenhang von nicht so sehr einem Punkt, als vielmehr Geld und Glück ist daher zumindest Vor- einer Bandbreite entspricht, ließe sich das sicht geboten – jene Vorsicht, die uns Da- durchschnittliche Wohlbefinden eines vid Hume anempfahl, als er schrieb: „Alle Menschen mit einem Soll-Wert von 65 im Theorien, die von unseren Wünschen be- günstigsten Falle auf 70 erhöhen oder im günstigt werden, sind verdächtig.“6 ungünstigsten Falle auf 60 verringern. Wie erwähnt, spreche ich hier von dem durch- Um die eingangs zitierten Untersuchungen schnittlichen Wohlbefinden eines Men- zum Verhältnis von Wohlstand und Wohl- schen über seine gesamte Lebensdauer ergehen richtig einzuordnen, muss man sie hinweg – nicht von den recht seltenen vor dem Hintergrund der beiden Säulen Momenten, in denen jemand himmelhoch- der Glücksforschung betrachten. Die bei- jauchzend oder zu Tode betrübt ist. den Säulen, auf denen die gesamte Glücks- forschung ruht, sind die so genannte Set Die Erkenntnis, dass der Grad unseres Point Theory oder „Soll-Wert-Theorie“ subjektiven Wohlbefindens weitgehend und das Adaptation Principle oder „An- genetisch determiniert ist, beruht auf den passungsprinzip“. Hinter der Soll-Wert- Ergebnissen der Zwillingsforschung. Da- Theorie verbirgt sich die Beobachtung, vid Lykken, der gemeinsam mit Thomas dass wir offenbar über eine genetisch fi- Bouchard das MISTRA-Projekt (die „Min- xierte Bandbreite subjektiven Wohlempfin- nesota Study of Twins Reared Apart“) lei- dens verfügen. Wie die Intelligenz, so ist tet, hat rund 1500 erwachsene Zwillings- auch unser Glücksempfinden zum weit- paare auf ihr durchschnittliches Wohlbe- aus überwiegenden Teil erblich festgelegt. finden untersucht. Unter diesen 1500 Paa- Ähnlich wie sich ein Intelligenzquotient ren befanden sich 663 eineiige Zwillings- ermitteln lässt, könnte man daher für je- paare, die gemeinsam aufgewachsen sind, den Menschen im Prinzip auch einen und 69 eineiige Zwillingspaare, die getrennt „Glücksquotienten“ errechnen. Wenn wir voneinander aufgewachsen sind. Obgleich etwa eine Skala von 1 – 100 zu Grunde die eineiigen Zwillinge, die nach der Ge- legen, könnte jemand beispielsweise einen burt getrennt wurden, unter ganz verschie- „Soll-Wert“ (oder „Set Point“) von, sa- denen Adoptiveltern aufgewachsen sind, gen wir, 65 haben. Insofern der Soll-Wert verfügten sie doch über nahezu densel-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 191 ben Grad subjektiven Wohlbefindens. Da Die Natur hat, in ihren Tagen, seltsame die genetische Determiniertheit des Glücks Käuze hervorgebracht, sogar die genetische Determiniertheit der Einige, die stets aus ihren Äuglein vergnügt Körpergröße zu übertreffen scheint, schrieb hervorgucken und Lykken einmal treffend: „Möglicherweise Wie Papageien über einen Dudelsackspie- sind alle Versuche, glücklicher zu werden, ler lachen, genauso zum Scheitern verurteilt wie der Und andere von so sauertöpfischem An- Versuch, größer zu werden.“7 sehn, Daß sie ihre Zähne nicht bloß legen, Dass uns unser Glück oder Unglück ge- Wenn auch Nestor selbst meinte, der Spaß wissermaßen in die Wiege gelegt ist, ist sei lachenswert.8 freilich alles andere als eine revolutionäre Entdeckung. Menschen hatten schon im- Wohl mehr noch als jeder andere ging Ar- mer den Eindruck, dass einige das Glück thur Schopenhauer fest davon aus, dass haben, auf der Sonnenseite des Lebens es eine angeborene Heiterkeit des Gemüts geboren zu sein, und andere das Pech ha- gibt, von der er sagte, dass sie ein unmit- ben, auf der Schattenseite des Lebens ge- telbarer Gewinn sei und sich selber be- boren zu sein. Bereits hatte vermu- lohne: „Sie allein ist gleichsam die baare tet, dass Glück sozusagen Glückssache Münze des Glücks und nicht, wie Alles ist. Am besten hat es aber sicher Shake- andere, bloß der Bankzettel. […] Einer sei speare in seiner Komödie „Der Kaufmann jung, schön, reich und geehrt; so frägt von Venedig“ ausgedrückt, in der es heißt: sich, wenn man sein Glück beurtheilen

192 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 will, ob er dabei heiter sei: ist er hingegen schend schnell an ihr neues Leben an und heiter; so ist es einerlei, ob er jung oder kehren in etwa zu ihrem genetisch fixier- alt, gerade oder pucklich, arm oder reich ten Soll-Wert zurück. Wie erwähnt, muss sei; er ist glücklich.“9 man sich den Soll-Wert eher als Bandbreite denn als Punkt denken. So gesehen, kön- Die zweite Säule, auf der die Glücks- nen wir uns beispielsweise gut vorstellen, forschung ruht, ist, wie bereits erwähnt, dass das subjektive Wohlbefinden eines das „Anpassungsprinzip“. Auch hinter Menschen mit einem „Glücksquotienten“ dem Anpassungsprinzip verbirgt sich kei- von 65 nach einer Querschnittslähmung ne wirklich revolutionäre Idee; doch sie vielleicht für immer auf 60 abfällt und nach setzt die Soll-Wert-Theorie voraus. Das einem Lotteriegewinn für immer auf 70 Anpassungsprinzip lässt sich, wie der ansteigt. Psychologe Jonathan Haidt gezeigt hat, wunderbar an einem einfachen Beispiel Wie schon angedeutet, ist die Tatsache, veranschaulichen. Angenommen, schrieb dass sich Menschen recht schnell an neue er, ich würde Ihnen 10 Sekunden geben, Lebensbedingungen anpassen können, al- um mir das Beste und das Schrecklichste les andere als neu. Wenn uns die Glücks- zu nennen, das Ihnen widerfahren könn- forschung überhaupt irgendetwas Neues te. Die wahrscheinlichste Antwort, die Sie gezeigt hat, dann, dass unsere Anpas- mir geben werden, ist, Millionen in der sungsfähigkeit noch weit größer ist, als wir Lotterie zu gewinnen und vom Hals ab- bisher ahnten. Obgleich sich Menschen wärts gelähmt zu sein. Millionen in der an nahezu alles gewöhnen können, gibt es Lotterie zu gewinnen, würde bedeuten, jedoch auch einige Umstände, an die wir nahezu alle Sorgen auf einen Schlag los uns nachweislich nicht anpassen können. zu sein und uns so gut wie jeden Traum Hierzu gehören beispielsweise nervtöten- erfüllen zu können. Vom Kopf abwärts der Lärm, chronische Schmerzen, eheli- gelähmt zu sein, würde dagegen bedeu- che Konflikte und der Verlust einer ge- ten, nahezu all unsere Träume begraben liebten Person. Auf der Plusseite gibt es zu müssen und für den Rest unseres Le- aber auch Dinge, derer wir nie überdrüs- bens von anderen abhängig zu sein. Viele sig werden – Essen, Sex und Freunde ge- Menschen meinen, dass es besser wäre, hören beispielsweise dazu. tot als querschnittsgelähmt zu sein. Doch sie irren sich. Obwohl es zweifellos bes- Wenn man die eingangs zitierten Untersu- ser ist, Millionen in der Lotterie zu gewin- chungen zum Verhältnis von Geld und nen als sich das Genick zu brechen, ist Glück jetzt noch einmal vor dem Hinter- der Unterschied doch bei weitem nicht so grund der Soll-Wert-Theorie und des An- groß, wie die Mehrheit von uns annehmen passungsprinzips betrachtet, erscheinen würde. Denn nach nur etwa einem Jahr sie sicher weit weniger überraschend. Dass kehren sowohl Lotteriegewinner als auch sich unser subjektives Wohlbefinden trotz Querschnittsgelähmte nahezu wieder zu einer Verdopplung des Durchschnittsein- demselben Maß an Glück und Zufrieden- kommens kaum erhöht hat, ist sicher al- heit zurück, das sie vorher besaßen.10 Mit les andere als verwunderlich, wenn Men- anderen Worten: Sie passen sich überra- schen über ein genetisch fixiertes Maß an

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 193 Glück verfügen und sich relativ rasch an anderer zu messen. Wenn alle um uns her- neue Lebensumstände anpassen. Würde um ärmer sind, fühlen wir uns reich; wenn irgend jemand, der erfährt, dass sich das alle um uns herum reicher sind, fühlen wir Jahreseinkommen der Japaner zwischen uns arm. Da sich unser Lebensstandard 1958 und 1987 verfünffacht hat, allen Ern- in den vergangenen 50 Jahren mehr oder stes annehmen, dass sie nun auch fünf- weniger gleichmäßig verteilt hat und vor mal so glücklich seien? allem bundesweit angestiegen ist, haben wir nicht das Gefühl, reicher zu sein, ob- Wer gewohnt ist, evolutionär zu denken, gleich wir es im Vergleich zu früher durch- wird von den Ergebnissen der Glücks- aus sind. forschung vielleicht noch weniger über- rascht sein. Evolutionsbiologisch macht Wie groß die Rolle des relativen Einkom- es schließlich durchaus Sinn, dass wah- mens ist, hat ein Experiment gezeigt, bei res Glück und Unglück nur von relativ dem Studenten der Harvard Universität kurzer Dauer sind und wir rasch wieder die Wahl zwischen „zwei Welten“ hatten. zu einer Art Mittelwert zurückkehren. Sie sind gefragt worden, ob sie lieber in Wenn unsere Vorfahren nach jeder miss- einer Welt leben wollten, in der sie 50.000 glückten Jagd so deprimiert und nach je- Dollar im Jahr verdienten und alle ande- der geglückten Jagd so euphorisch gewor- ren nur 25.000 Dollar; oder in einer Welt, den wären, dass sie tagelang ihre Hände in der sie 100.000 Dollar im Jahr erhiel- einfach in den Schoß gelegt hätten, wären ten, alle anderen aber 250.000 Dollar. sie sicher eine leichte Beute für ihre Fress- Obgleich es schwer zu glauben ist, soll feinde gewesen. Mutter Natur, der es ge- sich die Mehrheit der Studenten für ein fällt, mit Zuckerbrot und Peitsche zu ar- Leben in der ersten Welt entschieden ha- beiten, belohnt und bestraft daher nur mit ben. Das heisst, sie verzichteten auf ein vorübergehendem Glück und Unglück. doppelt so hohes Einkommen, nur um Wenn wir etwas biologisch Sinnvolles tun, nicht das Gefühl zu haben, ärmer als die wie etwa unseren Hunger stillen, unseren anderen zu sein. Durst löschen oder unsere Begierde befrie- digen, belohnt sie uns mit Momenten des Obgleich es durchaus sinnvoll sein mag, Glücks, die groß genug sind, damit wir immer auch das relative Einkommen zu das Verhalten gern wiederholen, aber eben berücksichtigen, glaube ich doch nicht, nicht so groß sind, dass wir darüber un- dass wir hierauf angewiesen sind, um das sere „biologischen Pflichten“ vergessen Wohlstands-Paradoxon aufzulösen. Die würden. Soll-Wert-Theorie und das Anpassungs- prinzip erklären hinreichend, warum wir Zur Erklärung des „Wohlstands-Parado- trotz doppelt so hohen Durchschnittsein- xons“ – also der Tatsache, dass wir trotz kommens nicht doppelt so glücklich sind. eines weit höheren Lebensstandards kaum Die Soll-Wert Theorie und das Anpas- glücklicher geworden sind – wird oft das sungsprinzip erklären auch die Beobach- Konzept des „relativen Einkommens“ her- tung besser, dass Menschen, die mehrere angezogen. Danach neigen wir dazu, un- Millionen in der Lotterie gewonnen haben, seren eigenen Wohlstand am Wohlstand nach etwa einem Jahr nur noch leicht

194 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 glücklicher sind als zuvor. Dem Maß an Glücksforscher haben zwei Arten der Be- Glück, das wir empfinden können, sind fragung, mit denen sie das subjektive durch unsere Gene nun einmal enge Gren- Wohlbefinden der Menschen zu ermitteln zen gezogen. Nach der Hypothese vom suchen. Die erste Form der Befragung zielt relativen Einkommen würde man dagegen auf die generelle Zufriedenheit und die erwarten, dass ein Lotteriegewinner (un- zweite Form der Befragung zielt auf die ter der Voraussetzung, dass er in Buxte- momentane Zufriedenheit. Bei der ersten hude leben bleibt und nicht gleich nach Form fragt man: „Wenn Sie Ihr Leben ein- Monaco zieht) für den Rest seines Lebens mal betrachten, was würden Sie sagen, wie auf einer rosa Wolke schweben sollte, weil glücklich oder unglücklich sind Sie alles er in dem durchaus berechtigten Gefühl in allem: ‚sehr glücklich’, ‚ziemlich glück- leben könnte, weit wohlhabender als die lich’, ‚nicht sehr glücklich’ oder ‚über- meisten anderen zu sein. haupt nicht glücklich’?“ Bei der zweiten Form fragt man in regelmäßigen Abstän- Neben der Soll-Wert-Theorie und dem den und über einen gewissen Zeitraum hin- Anpassungsprinzip mag jedoch noch ein weg: „Wie geht es Ihnen im Moment: Sind zusätzliches Konzept der Glücksfor- Sie augenblicklich ‚sehr glücklich’, ‚ziem- schung für das vermeintliche Wohlstands- lich glücklich’, ‚nicht sehr glücklich’ oder Paradoxon verantwortlich sein, ein Kon- ‚überhaupt nicht glücklich’?“ Um diese zept, das seinerseits auf dem Anpassungs- zweite und weit aufwendigere Form der prinzip beruht – die so genannte „hedonis- Befragung durchzuführen, bekommen die tische Tretmühle“. Da sich Menschen Probanden einen Beeper, mit dem sie je- rasch an einen höheren Lebensstandard derzeit angefunkt und befragt werden kön- gewöhnen, verblasst das Glück, das ih- nen. nen materieller Wohlstand bringt, schnell. Um wieder so glücklich zu sein, wie sie Wie sich leicht denken lässt, hat die erste es beim Kauf einer teuren Uhr waren, be- Form der Befragung ihre Probleme. Kann darf es jetzt eines teuren Anzugs, dann ei- man aus dem Stegreif überhaupt eine so nes teuren Autos, dann eines teuren Hau- bedeutungsschwere Frage wie die nach ses und schließlich einer teuren Yacht. der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben Kurz, es ist wie bei einer Sucht. Es be- beantworten? Kann eine Antwort, die je- darf ständig eines neuen und höheren Rei- mand innerhalb von, sagen wir, ein oder zes, um dieselbe Wirkung zu erzielen. So zwei Minuten gibt, wirklich verlässlich rennen und rennen sie in ihrem Hamster- sein? Und: Kann es nicht sein, dass die rad, ohne einen einzigen Schritt voranzu- Antwort, die wir erhalten, jeweils davon kommen. Einer der Gründe, weshalb ich abhängt, was jemanden zum Zeitpunkt der diesen kurzen Artikel mit dem Märchen Befragung gerade beschäftigt – eine be- vom Fischer und seiner Frau begonnen willigte Gehaltserhöhung, ein soeben ge- habe, ist denn auch der, dass es die hedo- buchter Urlaub, eine anstehende Operati- nistische Tretmühle auf wundervolle Art on oder eine drohende Scheidung? Tat- und Weise illustriert. sächlich haben Untersuchungen gezeigt, dass die Antworten auf die Frage nach der generellen Zufriedenheit zumindest teil-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 195 weise davon abhängen, was jemandem ten Leben“ und einem „sinnvollen Leben“. gerade durch den Kopf geht. Wenn man Ein angenehmes Leben führt man, wenn Studenten zunächst nach ihrer Zufrieden- man viel Freude hat. Ein gutes Leben führt heit und danach nach ihrer letzten Verab- man, wenn man sich die Achtung und redung befragte, erhielt man ein anderes Wertschätzung anderer erworben hat. Und Ergebnis, als wenn man Studenten zu- ein sinnvolles Leben führt man, wenn man nächst nach ihrer letzten Verabredung und sich einer nützlichen Aufgabe verschrie- anschließend nach der Zufriedenheit mit ben hat.11 Die Befragung nach der momen- ihrem Leben befragte. Bei denjenigen Stu- tanen Zufriedenheit ist mehr oder weniger denten, die zunächst nach ihrer letzten Ver- auf das angenehme Leben beschränkt. Die abredung befragt worden sind, hing die Befragung nach der generellen Zufrieden- Bewertung ihres Lebens ganz entschei- heit nimmt dagegen nicht nur das ange- dend davon ab, wann sie das letzte Mal nehme, sondern auch das gute und sinn- ein Rendezvous hatten. volle Leben in den Blick.

Viele Glücksforscher betrachten die zweite Lediglich das momentane Glück abzufra- Form der Befragung denn auch für weit gen, erscheint mir daher irreführend. Nach zuverlässiger. Die von Daniel Kahneman Seligmans Einteilung ist es schließlich sehr durchgeführte Befragung der überdurch- wohl möglich, dass jemand zwar ein an- schnittlich gut Verdienenden beruhte auf genehmes Leben, aber dennoch kein wirk- diesem Verfahren und zeigte, wie gesagt, lich glückliches Leben führt. So mag ein dass Leute mit einem überdurchschnittli- gut betuchter Salonlöwe, der zeitlebens chen Einkommen mit ihrem Leben relativ nur von einer Eroberung zur nächsten eil- zufrieden, „aber kaum glücklicher als an- te, auf seinem Sterbebett durchaus sagen: dere“ sind. Doch ist die Frage nach der „Gewiss, ich habe in Saus und Braus ge- momentanen Zufriedenheit wirklich zuver- lebt. Dennoch war mein Leben leer. Das lässiger als die nach der generellen Zu- einzige, was ich dieser Welt hinterlasse, friedenheit? Ich meine, ja und nein. Die sind verletzte Gefühle, gebrochene Her- Antworten zur momentanen Zufriedenheit zen und betrogene Freunde.“ sind sicher authentischer. Ich fürchte je- doch, dass die Frage nach der momenta- Ist es auch vorstellbar, dass jemand, der nen Zufriedenheit zugleich zu kurz greift zeitlebens ein spartanisches Leben geführt und Aspekte des Glücks ausblendet, die hat, dennoch ein glückliches Leben hat- erst in den Blick geraten, wenn man nach te? Dass also jemand ein gutes und sinn- der generellen Zufriedenheit fragt. volles, aber kein wirklich angenehmes Le- ben hatte? Wenn ja, welche Bedeutung Glück, so scheint mir, ist weit mehr als kommt dann dem angenehmen Leben die Summe der Momente, in denen es uns noch zu? Und welchen Sinn macht die Be- „großartig“ zu gehen scheint. Wie der Psy- fragung nach der momentanen Zufrieden- chologe Martin E. P. Seligman argumen- heit dann überhaupt noch? Soweit ich se- tiert hat, setzt sich ein glückliches Leben he, besteht die größte Herausforderung der aus dreierlei zusammen: Es besteht aus Glücksforschung tatsächlich darin, zu klä- einem „angenehmen Leben“, einem „gu- ren, welches Gewicht wir dem angeneh-

196 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 men Leben, dem guten Leben und dem Glück beitragen. Dies ist jedoch schlicht- sinnvollen Leben beizumessen haben. weg falsch.

Wenn die Frage der Gewichtung auch of- Tatsache ist, dass die Menschen reicher fen sein mag, ist doch klar, dass Geld nicht Nationen glücklicher sind als die Men- nur ein angenehmes Leben, sondern auch schen armer Nationen. Tatsache ist auch, ein gutes Leben und ein sinnvolles Leben dass die reichen Menschen innerhalb ei- zu befördern vermag. Sicher bedarf es ner Nation glücklicher sind als die armen nicht unbedingt des Geldes, um ein gutes Menschen derselben Nation. In Großbri- und sinnvolles Leben zu führen. Wäre es tannien betrachten sich beispielsweise 41 nicht aber schön, wenn man Freunden in Prozent des reichsten Viertels der Bevöl- Not helfen und Projekte seiner Wahl för- kerung, aber nur 29 Prozent des ärmsten dern könnte – sei es die Jugendarbeit sei- Viertels der Bevölkerung als glücklich. nes örtlichen Fußballvereins, die Produk- Und Tatsache ist schließlich auch, dass tionskosten für die Aufführung einer Oper Millionäre glücklicher sind als Nicht-Mil- oder die Finanzierung eines wissenschaft- lionäre. Dass die Unterschiede zwischen lichen Projekts? Wenn ich mit dieser Fra- Menschen, die einhunderttausend Dollar ge zu Tagträumen einzuladen scheine, er- und eine Million Dollar im Jahr verdienen, weckt es den Eindruck, als hätte ich die bei weitem nicht so groß sind, wie viele wichtigste Lektion der Glücksforschung erwartet hätten, sollte uns nicht dazu ver- bereits wieder vergessen. Daher rasch zu- leiten, die Unterschiede einfach zu leug- rück zum eigentlichen Thema. nen. Es ist also sicher falsch zu behaup- ten, dass es eine feste Grenze dafür gibt, Wenn die Soll-Wert-Theorie und das An- sich Glück durch Geld erkaufen zu kön- passungsprinzip wahr sind, sollten wir vom nen. Wenn man erst einmal über einen ge- Geld keine Wunder erwarten. Wer über wissen Wohlstand verfügt, wird es nur teu- einen Kontostand verfügt, der ihn aller rer, sich zusätzliches Glück zu erkaufen. Sorge um die Zukunft enthebt, wird viel- Genauso falsch ist es auch, zu suggerie- leicht um fünf Prozentpunkte auf seiner ren, dass die Verdopplung des Durch- persönlichen Glückskala nach oben klet- schnittseinkommens, die in den vergan- tern, doch sicher nicht einem Zustand genen 50 Jahren zumindest in den westli- dauerhafter Euphorie verfallen. Wenn das chen Industrieländern stattgefunden hat, so ist, sollten wir meines Erachtens aber unser Glück überhaupt nicht erhöht hätte. auch von den Umfrageergebnissen zum In Dänemark, Italien und Deutschland hat Zusammenhang von Geld und Glück nicht sich das subjektive Wohlbefinden bei- zu viel verlangen. Da ein höheres Einkom- spielsweise durchaus erhöht, aber selbst- men letztlich nur einen relativ kleinen Un- verständlich nicht verdoppelt.12 terschied ausmacht, sollten wir vor allem auf diese kleinen Unterschiede achten. Geschäftsmänner sagen bekanntlich gern Genau dies scheint man mir in der Glücks- „Zeit ist Geld!“ Wer seinen Unterhalt mit forschung jedoch oft zu vergessen. Die einer so brotlosen Kunst wie der Philoso- Daten werden zumeist so präsentiert, als phie verdient, ist dagegen eher geneigt zu würde Geld überhaupt nicht zu unserem sagen „Geld ist Zeit!“ Und dies bringt

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 197 mich zu dem Aspekt, der mir in der Glücks- die Freiheit, das zu tun, was er wirklich forschung am meisten zu kurz zu kom- tun will. Und wer kann sich glücklicher men scheint. Nicht nur, dass der Beitrag schätzen als der, dem es vergönnt ist, un- des Geldes zu unserem Glück gern ver- behelligt von finanziellen Sorgen seiner schwiegen wird, auch der wahre Wert des Passion zu leben? Geldes13 wird zumeist einfach übersehen: Geld bedeutet Freiheit! Es befreit uns von Anmerkungen: der Last, einer unliebsamen Tätigkeit nach- *Sonderdrucke dieses Artikels gibt es freilich nur zugehen, um unser täglich Brot zu verdie- unter der ausdrücklichen Bedingung, dass niemand nen. Befreit von der Sorge um das schie- meiner Mutter eine Kopie zuspielt. 1 A. Schopenhauer Aphorismen zur Lebensweis- re Überleben, können wir uns denjenigen heit. Diogenes, Zürich 1987, S. 43. Dingen widmen, die unser Leben wirklich 2 R. Layard Die glückliche Gesellschaft. Cam- lebenswert machen – seien dies nun die pus, Frankfurt 2005. Kunst, der Sport oder die Wissenschaft. 3 S. Schäfer, P. Wolff Der Fluch des Goldes. SZ Wissen 12: 18-29, 2006. 4 Wieder einmal war es Arthur Schopenhau- D. Kahnemann et al. Would You Be Happier If You Were Richer? Science 312: 1908-1910, 2006. er, der dies ebenso klar gesehen wie ge- 5 M. Seligman Der Glücks-Faktor. Bastei, Ber- schrieben hat: „Ich glaube keineswegs et- gisch-Gladbach 2005. was meiner Feder Unwürdiges zu thun, 6 D. Hume, zit. n. N. Hoerster Religionskritik, Re- indem ich hier die Sorge für die Erhaltung clam 1984, S. 4. eines erworbenen oder ererbten Vermö- 7 T. Lykken Happiness: The Nature and Nurture gens anempfehle. Denn von Hause aus so of Joy and Contentment. Griffin, New York 1999. 8 W. Shakespeare, zit. n. Schopenhauers Aphoris- viel zu besitzen, daß man, ohne zu arbei- men, S. 21. ten, bequem leben kann, ist ein unschätz- 9 A. Schopenhauer Aphorismen, S. 18 barer Vorzug: denn es ist die Exemption 10 J. Haidt The Happiness Hypothesis. Basic und die Immunität von der dem mensch- Books, New York 2006. lichen Leben anhängenden Bedürftigkeit 11 M. Seligman Der Glücks-Faktor. Bastei, Ber- und Plage, also die Emancipation vom all- gisch-Gladbach 2005. 12 D Steele You Can Buy Happiness. Liberty 2005. gemeinen Frohndienst, diesem naturgemä- 13 T. Smith Money Can Buy Happiness. Reason ßen Loose des Erdensohns. Nur unter die- 26: 7-19, 2000. ser Begünstigung des Schicksals ist man 14 A. Schopenhauer Aphorismen, S. 46f. als ein wahrer Freier geboren: denn nur so ist man eigentlich sein eigener Herr, Herr seiner Zeit und seiner Kräfte, und darf je- den Morgen sagen: ‚Der Tag ist mein’.“14

Wer also etwas hat, wofür sein Herz schlägt, eine Leidenschaft, die ihn erfüllt, eine Pas- sion, die ihn treibt, kurz, wer – wie Goe- the sagte – „mit einem Talente zu einem Talente geboren ist“, wird den nahezu un- schätzbaren Wert des Geldes gewiss zu würdigen wissen. Denn es gewährt ihm

198 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Dr. Kurt F. Schobert (Augsburg) Suche nach Glück – auch im Sterbeprozess? Lebenslange Lernprozesse mit vorsorgender Verantwortung

Die Glücks-Spirale des Lebens dreht sich che Formen der Glückseligkeit erstrebens- selten stets in einer Richtung – nach oben, wert seien, auch, weshalb es sich biswei- gar die Himmelsleitern hinauf bis ins Nir- len schicke, in Gleichmut die Mühselig- wana jauchzender Hosianna-Gesänge. keiten und Lasten des Alltags und Alters Aufklärung und Kritik bleiben angesagt, zu tragen. wo in naiver Zuversicht ein gelingendes Leben als selbstverständlich unterstellt Weil der Mensch, sofern er zu denken und wird, gar von den Jungendjahren aufwärts zu erkennen vermag, um den eigenen Tod, die nachfolgenden Tage und Jahre mit dem der untrüglich kommen wird, weiß, war, vierblättrigen, gepressten Kleeblatt in der ist und bleibt er auf der Suche nach dem Westentasche und dem Glückscent im Glück bis in den Sterbeprozess hinein. Das Geldbeutel als Voraussetzung dafür gehal- altgriechische „Eu“ als Vorsilbe spricht ten werden, wenn nicht die Götter, so zu- dies noch heute aus, trotz des fremdbe- mindest das Schicksal gewogen zu hal- stimmenden Missbrauchs, der, verschlei- ten, gar Fortuna erzwingen zu können. ert, auch hinter diesen Begriffen zu schlum- mern droht. Klassisches Beispiel ist der „Glück“ als gesteigertes Lebensgefühl Begriff der „Euthanasie“, der in der Anti- ohne innere Unstimmigkeiten lässt sich ke einen „guten, schönen, leichten Tod“ nicht erzwingen, nicht kaufen. Es ist kei- bezeichnete, der, wenn er schon unerbitt- ne Frage der Macht, des Einflusses, der liches Final des Lebens sein sollte, dann mathematisch berechnenden Intelligenz. schon erlösend und angenehm sein möge. Die Tragik, die das menschliche Leben Als „Erleichterung des Sterbens, beson- und Sterben (das zum Leben gehört) Stun- ders durch Schmerzlinderung mit Narko- de für Stunde im individuell unverschul- tika“1 sollte der Tod leicht wie auf den deten Kriegsgeschehen rund um den Glo- Schwingen der Nacht die Betroffenen bus offenbart, die Tragik, die sich in Un- gleichsam im Schlaf ereilen. fällen, Krankheiten und Missverständnis- sen zeigt, die Tragik, die sich nicht auflö- Spätestens mit den menschenverachtenden sen lässt, wie immer sich der betroffene Verbrechen während der nationalsoziali- Mensch dann fürderhin entscheidet, ist uns stischen Diktatur, die auf demokratischem allen aus Medienberichten und meist auch Wege zur Macht kam, wurde das Wort Beispielen des sozialen Umfelds bekannt. von der „Euthanasie“ auch Inbegriff der fremdbestimmten Vernichtung menschli- Gleichwohl suchen wir Menschen das chen Lebens. In der „Eubiotik“, der Leh- Glück – und die Philosophen der Antike, re vom gesunden Leben, in der „Eudämo- der unterschiedlichsten Kulturen, bis in die nie“, der Glückseligkeit, in der „Eudoxie“, Neuzeit hinein haben nach Erkenntnissen dem guten Ruf, der „Euergie“, der unver- gerungen, wo, wie, wann und warum wel- minderten Leistungsfähigkeit, der „Euko-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 199 lie“, der heiteren, zufriedenen Gemütsver- die schillerndsten Vorstellungen entwickelt fassung, in der „Euphorie“, der heiter-zu- hatten oder noch heute ausmalen. Das ver- versichtlichen Stimmung, der „Eupraxie“, lorene oder nie gewonnene Lebensglück im dem sittlich richtigen Handeln, oder in der Diesseits wird zum MYTHOLOGEM DER „Euthymie“, also Heiterkeit und Frohsinn, VERKEHRTEN WELT eines Jenseits, auf spiegelt sich diese „EU“-Sehnsucht, de- das sich die Hoffnungen projizieren. ren Fesseln auch das Glück an EU-ropa und im Finanziellen an den EU-ro binden Wenn hier von einer Suche nach Glück – wollen. Es sind dies die Fesseln des HA- auch im Sterbeprozess – die Rede ist, so BENWOLLENS, des Glücks, das im Be- beschränkt sich der Beitrag auf das Dies- sitzen des für positiv Gehaltenen gesucht seits, das Hier und Jetzt, nicht auf Ver- wird, nicht das Glück, das in der Enthalt- nünfteleien, ob oder welche religiösen Vor- samkeit künftigen Lebens, in der , im NICHTS Hoffnun- benswürdig oder eines Gottesbildes fä- gen findet. hig seien. Es geht mir hier um die Frage, ob wir Menschen mit den Möglichkeiten, Die Suche nach dem Glück auch im Ster- die uns üblicherweise gegeben sind, ver- beprozess ist bei lebensgeschichtlichen antwortlich und vorsorgend etwas dafür Entwicklungen, die vom Pech, von Un- tun können, damit es nicht bei der Suche glücksfällen, belastenden Krankheiten und nach einem nebulösen Glück bleibe, son- sozialer Isolation gezeichnet sind, mitun- dern gute Chancen bestehen, das eigene ter so markant, dass in der Vernichtung des Leben abzurunden, auch dann, wenn, wie Lebensträgers, in der Tötung des ICHs, bekannt, der Tod droht. Es geht mir zu- eine Stimmung laut wird, die als DEPRES- erst um die Suche nach Antworten und SION die Lehrbücher der Psychiatrie be- praktischen Hinweisen, was in möglichst schäftigt und in „Heilanstalten“, Bezirks- jungen und gesunden Tagen bereits getan krankenhäusern oder Arztpraxen den Ruf werden kann, um vorsorgend der Verant- nach einer SUIZIDPROPHYLAXE laut wortung gerecht zu werden, die wir uns werden ließ. „Der gesuchte Tod“2 wird selbst und unseren Mitmenschen gegen- dann zum Befreiungsschlag, der im Wort über empfinden sollten – ohne dass hier vom FREITOD ein Synonym gefunden ein Nachweis geführt wird, warum diese hat, nicht stets aber das ist, in dessen Kleid Verantwortung bestünde. Selbst wenn sie er auftritt. nicht bestünde, macht sie Sinn, aus den verschiedensten Gründen. Einige wenige Mehr noch: Wenn bei allen Hiobsbotschaf- seien genannt: ten im Leben, bei allen Tälern der Tränen und bei aller vergeblichen Sisyphos-Ar- – Sich selbst Antwort zu geben (im Wort beit die Steine, die im Wege lagen, wieder Ver-antwort-en zeigt sich das Antwort- vom Abhang zurückrollen, einer Steinigung Suchen), was vorsorgend möglich ist, för- gleich, sehnt sich der Mensch nach Aus- dert die Gelassenheit im Leben wie im gleich in einem wie immer gearteten „Jen- Sterben. seits“, für das die unterschiedlichsten Re- – Erst dann, wenn Unglück, Krankheit ligionen und ihre oder Sterbeprozess offenkundig sind, et-

200 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 was zu tun, gibt den Betroffenen meist ges Sterben“ einzustellen. Denn biologi- nicht mehr Gelegenheiten oder Kraft, dies sche Abbauprozesse beginnen in jungen zu regeln, was den eigenen Interessen ent- Jahren, ohne stets durch neue Zellen tau- spricht oder, wenn gewollt, anderen In- frisch ersetzt zu werden. teressen dienlich ist. – Wer lernt, das Leben vom Ende her zu Dieser Gedanke erscheint einer Gesell- begreifen, schärft das Bewusstsein für die schaft, die vom Jugendkult in Wirtschaft Reichtümer des Lebens, für die Chancen und Werbung angetan ist, abwegig. Eine innerer Dankbarkeit, für ein intensiveres Gesellschaft, die das Sterben hinter Alten- Zeitgefühl und für die Präferenzen, deret- heimmauern verbirgt, die Ärzten noch heu- willen es sich zu leben lohnt. te kaum Ausbildungschancen gewährt, das Sterben zu begleiten, die das Sterben in Deshalb sei hier auch vom Sterben als eigenen Organisationen wie Hospizen oder LERNPROZESS die Rede. Wir Menschen Sterbehilfegesellschaften separiert, die den sind Wesen, die wie kaum andere zu ler- Tod verdrängt3, das früher übliche „Trau- nen in weit größerem Umfang fähig und erjahr“ verpönt, die schwarze Armbinde gezwungen sind. Der Mensch ist, im bio- nach Todesfällen nicht mehr kennt und die logischen Sinne, „Nesthocker“, der jah- Toten professionell mittels wirtschaftlich relang von Eltern, Erziehern, sozialer Ge- geführter Bestattungsunternehmen ent- meinschaft und den „heimlichen Miterzie- fernt, schafft eine Atmosphäre, die es hern“ in formellen (Kindergarten, Schu- schwierig werden lässt, diese unaufhaltsa- len, Lehrstelle) und informellen Kreisen men Prozesse in das Leben zu integrieren4. abhängig bleibt, bis er auch juristisch in die Mündigkeit entlassen werden kann. Die soziale und kulturelle INTEGRATI- Von Fällen selbstverschuldeter Unmündig- ON der Sterbenden macht uns auch nach keit abgesehen, die bei manchen Exem- dem Zeitalter der AUFKLÄRUNG, viel- plaren unserer Spezies lebenslang gepflegt leicht gerade deshalb, immens Probleme. wird, benötigt ein menschliches Lebewe- Obwohl die HOSPIZBEWEGUNG ange- sen zwanzig, gar dreißig Jahre, um das ei- treten war, Sterbende zu integrieren, sind gene Leben finanzieren und meistern zu Hospize häufig doch separat von Kranken- können. Je arbeitsteiliger eine Gesellschaft häusern und Altenheimen zu eigenen Häu- organisiert ist, umso länger dauert erfah- sern herangewachsen, die mit eigenen auch rungsgemäß dieser Entwicklungsprozess. finanziellen Interessen neue Begehrlichkei- Seit Jahren schon macht das Schlagwort ten geweckt haben, um beispielsweise aus vom „lebenslangen Lernen“ die Runde, der Sicht der Kirchen neue Oasen für kirch- nicht nur auf arbeitstechnische Prozesse lich vermittelte Dogmen zu instrumentali- bezogen. sieren. Dazu gehört das Dogma, Gott habe das Leben gegeben, nur er dürfe es neh- Deshalb liegt es nahe, auch den Sterbe- men – und daraus gefolgerte Einseitigkei- prozess als Lernprozess zu interpretieren, ten für Optionen, die ein Sterbender habe. gar verstehen zu lernen und mit diesem Ärztlich begleiteter Suizid oder die aktive Verständnis Energien bereits in jungen Jah- direkte Sterbehilfe, die Sterbende wün- ren zu nutzen, um sich auf ein „lebenslan- schen, werden aus diesen Optionen aus-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 201 geklammert. Sterbende werden dadurch MACHT. Patientenschutzorganisationen in ihren authentischen Wünschen isoliert, bieten ein breites Spektrum an ergänzen- dieses Wollen wird gar uminterpretiert als den Hilfen an, die für geringes Geld im Schrei nach mehr Zuwendung und inten- Rahmen einer Mitgliedschaft erhältlich sind siverer Betreuung mit dadurch begründe- und ausgebaut werden können. Dazu ge- ten Kostenfaktoren, die es letztlich zum hören Patientenschutzbriefe (auch, wenn Wohle dieser oft kirchlichen Hospiz-Trä- gewünscht, zur lebenserhaltenden Thera- gerschaften zu stillen gälte. pie), Organspende-Zertifikate (mit detail- lierten Regelungsoptionen), eine Freitod- Ein lebenslanger Lernprozess, der im Wis- verfügung, ein Notfallausweis und Zeit- sen um die Endlichkeit irdischen Lebens schriften wie „Humanes Leben – Huma- ansetzt, bleibt deshalb gut beraten, über nes Sterben“ (HLS), in der beispielswei- den Tellerrand des Alltags aktueller Inter- se über aktuelle Entwicklungen der Ge- essen hinauszublicken und das Ich zu be- setzgebung berichtet wird, auf die sich ein- fragen, wie zu leben und zu sterben auch zustellen angeraten ist. Wer sich zeitig mit dann gewünscht werde, wenn dieses Ich diesen Themen auseinandersetzt, den ei- später einmal nicht mehr fähig sein sollte, genen Willen formt, ihn vernünftig doku- sich kompetent zu äußern. Wer, aus wel- mentiert und im Notfall eine Organisation chen Gründen oder Schicksalsschlägen im Rücken hat, die diesen Willen dann auch immer, in einen späteren Siechtums- sogar mit Rechtsanwalt und Gericht Prozess verfällt, wer durch plötzlichen Un- durchzusetzen bereit ist, wird gelassener fall nicht mehr Herr seiner Sinne ist, wer zu leben fähig sein als der Menschentyp, aufgrund schwerer, schnell voranschreiten- der sich ein Gespräch über das Sterben der Erkrankung nicht mehr fähig bleibt, verbittet oder lieber zum Fußballspiel im Arme und Beine zu bewegen, gar aus ei- Stadion grölt, von dessen Ergebnis er im gener Kraft zu schlucken und zu atmen, Ernstfall des eigenen Sterbens keine Hilfe wird ohne entsprechende rechtzeitige Vor- erwarten kann. bereitung bestenfalls den wohlwollenden Mutmaßungen der behandelnden Ärzte Die Suche nach Glück im Sterbeprozess und Mitmenschen ausgesetzt sein, nicht ist also ein lebenslanger Lernprozess mit selten anderen Interessen. vorsorgender Verantwortung, auf die es keine flotten Antworten gibt, die für im- Unser Sozial-, Wirtschafts- und Rechts- mer gelten müssten. So, wie sich Vorstel- system bietet bereits heute eine Fülle an lungen vom eigenen Leben ändern kön- Möglichkeiten, sich auf diese denkbaren nen, können sich auch Vorstellungen vom Belastungen einzustellen, vorsorgend den eigenen Sterben ändern und es im Fort- eigenen Willen zu bekunden und auch fi- schreiten des Lebens für sinnvoll erschei- nanziell einen Rahmen zu schaffen oder nen lassen, veränderte Vorkehrungen zu vorzugeben. treffen. Daraus die Schlussfolgerung zu Geeignete Instrumente sind, um nur eini- ziehen, es würde sich erübrigen, überhaupt ge zu nennen, die BETREUUNGSVER- vorzusorgen, ist ein Trugschluss, auch FÜGUNG, die PATIENTENVERFÜ- wenn er nicht selten in der veröffentlich- GUNG und die VORSORGEVOLL- ten Diskussion verbreitet wird. Gegner der

202 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Patientenverfügung vermeinen nämlich, ein weis und der darauf bezogene Wille unbe- späterer Patient könne in jungen Tagen achtlich. Nicht das Glück des Arztes, am schwerlich ermessen und erfühlen, wie er Patienten verdienen zu können, darf hier behandelt werden möchte, wenn er spä- maßgeblich sein, sondern die Vorstellun- ter von schwerer Erkrankung heimgesucht gen und der Wille des (später) Leidenden, werde. Freilich: Möglich ist alles, auch eine der, wenn er schon leiden muss, seinen Änderung der eigenen Einstellung zur Be- Willen z.B. dahingehend ausgeprägt hat- handlung und zum Sterben; anmaßend te, dieses Leiden dann möglichst abzu- aber bleibt es, wenn z.B. Ärzte vermei- kürzen. Bereits die Hoffnung auf Durch- nen, es statt des späteren Patienten bes- setzung dieses eigenen Willens kann ser zu wissen, ob dieser in früheren Zei- glückserhellend wirken. ten die Folgen seiner Entscheidung und Willensbildung zutreffend eingeschätzt hat; Sowohl verfassungsrechtlich als auch sei- oder es statt des Patienten besser zu wis- tens des Bundesgerichtshofs spinnt sich sen, wie er zu leben und zu sterben habe. ein Roter Faden zum SELBSTBESTIM- Bei noch so guter medizinischer Ausbil- MUNGSRECHT DES PATIENTEN, das dung rechtfertigt es diese nicht, mit dem auch dann fortwirkt, wenn er nicht mehr Diktat des Experten den Willensbildungs- denk- und handlungsfähig ist. So formu- prozess eines Patienten und Betroffenen lierte beispielsweise das Oberlandesge- zu knechten. Was des einen Glück, ist des richt München bereits 1987: anderen Schaden, was des einen Patien- ten Vorstellung vom wünschenswerten „Hinsichtlich lebensverlängernder Maß- Sterben, mag des anderen Albtraum sein. nahmen bindet der vom urteilsfähigen Patienten ausgesprochene Verzicht den Wünscht der Patient in einer schriftlichen Arzt auch dann, wenn der Patient im Verfügung für bestimmte Fälle, in denen voraussehbaren Verlauf der Krankheit er sich selbst nicht mehr äußern kann, dann das Bewusstsein verliert und keine we- nicht künstlich ernährt zu werden oder lie- sentliche Veränderung der seiner Erklä- ber an einer interkurrent auftretenden Lun- rung zugrunde liegenden tatsächlichen genentzündung sterben zu können als an Umstände erkennbar ist (…), weil die den Folgen der Haupterkrankung einer Entscheidung gerade auch für dieses Multiplen Sklerose oder Krebserkrankung, Stadium getroffen wurde, wie auch um- soll er so sterben dürfen, in Sonderheit dann, gekehrt die Einwilligung zum Heilein- wenn er ein Fortleben mit Unglück asso- griff nicht ihre rechtfertigende Wirkung mit ziiert und dies nicht mehr mit dem eigenen Eintritt der Bewusstlosigkeit verliert.“5 Würdeempfinden in Einklang zu bringen vermag. Sein früher bei klarem Geiste ge- Das GLÜCK haben Patienten, die in ei- äußerter Wille hat dann auch noch zu gel- nem Staat leben, dessen Gerichte in die- ten. Wie auch wollte ein Arzt besser wis- sem Sinne entscheiden. Das Glück haben sen, was ein Patient dann zu entscheiden Patienten, die diese Entscheidungen nut- wünschen würde, wenn er nicht mehr an- zen, um rechtzeitig Erklärungen abzuge- sprechbar ist? – Wäre der Arzt Herr des ben, die im urteilsfähigen Zustand schrift- Patienten, wäre auch ein Organspendeaus- lich dokumentiert werden und im Notfall

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 203 abgerufen werden können – beispielswei- zesse und Ereignisse oft einfühlsamer be- se aus der BUNDESZENTRALE FÜR schrieben als das nackte medizinische PATIENTENSCHUTZ (BPS). Lehrbuch. Es bedarf auch der Fähigkeit der EMPATHIE sich selbst gegenüber, um Die „Suche nach Glück“ ist allerdings nicht ausreichend tief in sich hineinzuhorchen, nur eine Suche nach den richtigen Adres- damit diese Entwicklungen verinnerlicht sen von Organisationen oder Rechtsan- gelebt und verstanden werden. wälten, sondern die Suche nach Stunden des inneren Rückzugs, in denen sich das Geläufigerweise ist die Vielzahl an Publi- Individuum ausreichend Zeit nimmt, über kationen, die sich im 20. und nun 21. Jahr- diese Fragen nachzudenken, sich einen hundert den Lesern anbietet, auf das Glück eigenen Willen zu prägen und diesen mit des „sterberesistenten“ Lebens ausgerich- beratender Unterstützung zu dokumentie- tet. Sterben und Tod bleiben ausgeklam- ren. Die „Suche nach Glück“ ist auch die mert, Tabu. „Glück“ erscheint lediglich als Suche nach einem Verständnis des eige- Glück der lebensfrohen Jugend oder Jung- nen Wesens und Willens. Dieser Wille reift gebliebenen. „Forever young“ ist das erfahrungsgemäß nicht in einer halbstün- Schlagwort, immer jung, jugendlich, vol- digen Diskussion, die man zu diesen Fra- ler Elan und Tatkraft. Es sind die Mana- gen im Rundfunk hört. Vielmehr sollten ger des tätigen Tuns, die dieses Glück wir Menschen zu verschiedenen Zeiten, sucht und suchen. In ihnen soll sich das in verschiedenen Stimmungslagen und im Glück des Lebens spiegeln, sie werden Wissen um unterschiedliche Lebenserfah- zum Vorzeigeobjekt eines lustbetonten Ak- rungen diesen Willen herauszuschälen be- tivismus, in dessen Armen kein Sterben- müht sein. So, wie echte Liebe zu einem der ruht. Psychologische Lexika benen- Menschen nur über Jahre in mitunter be- nen die Glücksforschung eines Mihaly lastenden Zeiten wachsen kann, so kann Csikszentmihalyi und seinen „Flow“.6 Das der recht verstandene Wille zum Sterben, gute Leben und wie man das Beste dar- wenn er im Willen zum Leben integriert aus machen könne, steht im Vordergrund.7 sein möchte, keine Sonntagsentscheidung nach der Kaffeepause sein. Die Mitglied- Doch dass das Glück auch darin begrün- schaft in so genannten „Sterbehilfegesell- det sein kann, sich des Lebens und Lei- schaften“, Patientenschutzorganisationen dens zu entsagen, sich der Künstlichkeit und Bürgerrechtsbewegungen schärft den einer Magensonde zu versagen, in der Ma- Blick für ein lebenslanges Lernen, das im nipulation durch Antibiotika ab gewissen lebenslangen Sterben mündet. Krankheitsstadien eine Diktatur der phar- mazeutischen Industrie zu erblicken, wird Dass wir „lebenslang sterben“, ist eine kaum thematisiert. Dass das Lebensglück biologische Notwendigkeit. Unmerklich auch darin begründet sein kann, sich recht- für viele, verlassen uns die Kräfte nach zeitig damit abzufinden, nicht mehr zu sein, und nach, unmerklich für viele, werden die mag in einer Gesellschaft, die im Hospiz- Widerstandskräfte geringer, die in vielen gedanken das Sterben zelebriert und in Fällen dann dem Tod die Türen öffnen. schönsten Worten euphemisiert, gerade- Philosophen und Dichter haben diese Pro- zu abstrus wirken.

204 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Damit sei nicht gesagt, dass es nicht för- werksmäßig umsetze.11 Das Glück im derlich sein kann, letzte Lebensabschnitte Wissen um ein Ende des Lebens wird hier im Hospiz zu verbringen. Damit sei nicht nicht erwähnt. Das Glück im Wissen um gesagt, dass es auch dem Willen eines Pa- ein Ende des Leidens ebensowenig. Im tienten entsprechen kann, es als Glück zu Ende und Abschluss eines Lebens einen empfinden, einen der verhältnismäßig sel- SINN zu sehen, auch wenn keine Vernunft tenen Plätze eines stationären Hospizes in ein Vermuten oder Glauben um die religi- Deutschland zu ergattern. Damit sei ledig- ös verstandene Fortsetzung im „Leben lich gesagt: In der Literatur und Fachlite- nach dem Tod“ bestünde, kommt den ratur, aber auch in öffentlich gemachten modernen Glücksformel-Suchern nicht in Diskussionen wird zu wenig darüber nach- den Sinn. Diesen Autoren gerät die Glücks- gedacht, warum es ebenfalls Sinn machen suche zur Gefahr der Lebens- und damit kann, sich darüber klar zu werden, wann Sterbens- oder gar Todes-Lüge.12 Sie ha- es Zeit sei, aus dem Leben zu scheiden.8 ben nicht mit Montaigne erkannt, dass das Leben aufzugeben kein Übel sei.13 In dieser Sichtweise wird der Tod zum Freund, zum „Freund Hein“, der nicht Die Auseinandersetzung mit dem NICHTS, mehr lange tanzen solle, sich nicht mehr das als Erwartung ein Glücksempfinden dem Todeskampf verschreiben möge, in fördern kann, ist den menschlichen Kul- dessen langem Vorspiel des Leidens sich turen abhold, wirkt gar als „horror vacui“, keine Sinngebung des Lebens erblicken als Angst vor dem Nichts, in uns fort. lassen müsse. Der Tod als Feind des Arz- Glück wird gesucht in den drei Welten des tes verliert in dieser Sichtweise an Glaub- Jenseits, im Diesseits und in der Innen- würdigkeit. Und nur wenige Ärzte haben welt.14 Dabei läge es sogar nahe, dieses dies wie der südafrikanische Pionier und NICHTS und „nihil“ als Urquelle des Seins Herzchirurg Christiaan Barnard bereits vor und für religiös Denkende als Urquelle ih- Jahren erkannt: res Gottes zu interpretieren, in das ein ICH „Im Laufe meiner ärztlichen Praxis habe zurückfällt, wenn es sich auflöst.15 ich gelernt, dass der Tod nicht immer ein Feind sein muss. Oft ist er auch die ein- Dies könnte die „Suche nach einer besse- zig wirksame Therapie, mit der erreicht ren Welt“ der ganz anderen Art sein, be- wird, was die Medizin nicht zustande weisbar ebensowenig wie die sich wider- bringt – das Ende der Leiden.“9 sprechenden Jenseitsvorstellungen der Re- ligionen, aber humaner im Konzept als die Der Tod wird aus dieser Sicht eher ein Höllen-Konstruktionen des Mittelalters. Problem der (Über-)Lebenden, weil sie ihn „Alles Lebendige sucht nach einer besse- nicht als Geschenk für die Leidenden be- ren Welt“ formulierte Karl R. Popper.16 greifen wollen.10 Er unterschied Welt Eins mit Gläsern, In- strumenten, Personen, Tischen etc. als Das „Glück der Moderne“ präsentiert sich physikalische Welt, Welt Zwei als Welt als „Glücksformel“, die für jeden Tag zu unserer Erlebnisse und Welt Drei als Welt berechnen, zu gestalten, zu erzwingen sei, der Produkte unseres Geistes.17 wenn man nur die richtige Literatur hand-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 205 Doch es gibt noch eine Vierte Welt, die lence“21, sondern zum Hoffnungsspender Welt des Glücks des NICHTS, in der uns auf ein erkennbares ENDE, dessen sich Menschen weder die physikalische Welt wir Menschen bewusst sein können, so- oder die Welt der Erlebnisse noch die Welt fern wir uns dessen bewusst werden wol- der Produkte unseres Geistes belasten. Es len. Wenn Jean Améry den Freitod als ist die Welt des NICHTS, das NIHIL, in „Privileg des HUMANUM“ bezeichnete22, dem das Glück der Zeitlosigkeit, der Be- so ließe sich umfassender der TOD ALS freiung von Dingen, Erlebnissen und Ge- PRIVILEG DES HUMANUM bezeich- danken, auch der Befreiung von religiö- nen, präziser: Die Erwartungshaltung auf sen Zwangsvorstellungen wohnt. Im „Sein das NICHTS im Tode, die zu entwickeln zum Tode“, wie dies Heidegger formu- dem Menschen möglich ist, da er sich sei- lierte18, eröffnet sich für die Lebenden eine nes Endes bewusst werden kann. Das HOFFNUNG auf ein absehbares, zu er- Wissen um die Vergänglichkeit des Le- wartendes ENDE DES SEINS, auf ein bens wird so zum Hoffnungsträger des Ende von Zeit und Zukunft, ein Ende der denkenden Individuums, das sich nicht in Angst vor dem Vorgestellten, dem Er- der Situation alter Götter- und Heldensa- träumten, dem Erdachten, dem Anerzo- gen empfinden muss, die noch in Schul- genen, Sozialisierten, Enkulturierten, Ak- büchern und Gedichten von Sisyphos, kulturierten – um in der Sprache der So- Sohn des Aiolos, künden, der den Tod zialwissenschaften zu sprechen. Hier hört zwar überlistet haben soll, für seine Ver- die „Geworfenheit“ des Menschen in die- schlagenheit jedoch in der Unterwelt ein se Welt auf. Hier findet sich die Grenze Felsstück ohne Erfolg und Ende stets er- des Erschütterbaren. Im NICHTS kann neut einen Berg hinaufzuwälzen hatte. sich für Christen der Urgrund des Göttli- chen, bei Nichtchristen die Rückwendung Wenn das Leben gelingen soll23, bedür- zum Unglaublichen, Entmythologisierten fen wir des Seins und eigener Seins- offenbaren. Das „Leiden am sinnlosen mächtigkeit. Wenn das Sterben gelingen Leben“ (Viktor E. Frankl19) findet hier ein soll, vermögen Wille und Wünsche, die Ende. Dieses GLÜCK, das als Glücks- sich am Ende und Nichts orientieren, Kraft empfinden vorbedachten Endes frohe Er- zu geben, um die Paradoxien und Exaltiert- wartungshaltung zu sein vermag, stößt eine heiten menschlichen Lebens im positiven Aristotelische Ethik weit von sich, da die- Sinne zu überwinden. Fast ein wenig Hu- se in ihrer Glücks-Suche nur drei Pfade mor schleicht sich da ein und das eine kannte: Den Pfad der Lust, den des Poli- Auge zwinkert dem Tode zu, während das tischen und den des Betrachtenden.20 andere sich bereits zu schließen beginnt.

Diese Erwartungshaltung im lebenslangen Das Wissen um das Glück des Endes, das Lernen und sterbenslangen Leben auf ein kann auch dem NICHTS hin, übersteigt auch Sartres Be- schwer Leidenden Hoffnung machen, ihm wusstseinsphänomenologie und pessimi- sogar Stärke geben, um in den existenzi- stische Existenzphilosophie. Der Tod wird ellen Nöten der letzten Lebensspanne der im Unterschied zu Sartres Denkansatz Dornenkrone zu trotzen. nicht mehr „das Unmenschliche par excel-

206 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Anmerkungen: Fuchs-Heinritz, Werner (Hrsg.): Der Tod ist ein Pro- 1 Duden, Fremdwörterbuch. Mannheim u. a. 1997 bleme der Lebenden. Beiträge zur Soziologie des 2 Schobert, Kurt F.: Der gesuchte Tod. Warum Todes. Frankfurt/M. 1995. Menschen sich töten. Frankfurt/M. 1989 11 Vgl. Klein, Stefan: Einfach glücklich. Die Glücks- 3 Vgl. „Verneinung und Verdrängung des Todes“ in formel für jeden Tag. 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg Feldmann, Klaus: Sterben und Tod. Sozialwissen- 2005. schaftliche Theorien und Forschungsergebnisse. Op- 12 Zur Psychologie der Selbsttäuschung vgl. Gole- laden 1997, S. 32 ff., auch „Verdrängung des To- man, Daniel: Lebenslügen. Die Psychologie der des“, ders.: Tod und Gesellschaft. Sozialwissen- Selbsttäuschung. 3. Aufl. München 1999; doch auch schaftliche Thanatologie im Überblick. Wiesbaden diesem Buch fehlen die Registerbezüge zu Sterben 2004, S. 62 ff. und Tod. 4 Ariès, Philippe: Der Beginn der Lüge und das Ver- 13 Montaigne, Michel de: Essais. Hier: „Philosophie- bot des Todes. In: Beck, Rainer (Hrsg.): Der Tod. ren heißt Sterben lernen“. Frankfurt/M. 1976, S. 7 Ein Lesebuch von den letzten Dingen. München - 31, hier S. 16. 1995, S. 240 - 245, darin S. 242: „Der Ort des 14 Diese Kategorisierung nimmt Michael Mary vor, Todes verschiebt sich. Man stirbt nicht mehr zu Beitrag „Eine Religion des 21. Jahrhunderts“ in Hause, im Kreise der Seinen. Man stirbt im Kran- Jänicke, Julika (Hrsg.): Denkanstöße für Glücks- kenhaus, allein.“ sucher. München 2006, S. 38 - 47, hier S. 38. 5 Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 15 „Die christliche und islamische Theologie lehrten 31.07.1987, Aktenzeichen 1 Ws 23/87. die Schöpfung der Welt durch Gott aus dem Nichts 6 Lexikonredaktion des Verlages F. A. Brockhaus (lateinisch creatio ex nihilo)“, Stichwort „Nichts“, (Hrsg.): Der Brockhaus. Psychologie. Mannheim u. dtv-Lexikon in 20 Bänden. Mannheim 1999, Bd. Leipzig 2001, S. 224; manche Lexika haben das 13, S. 51. „Glück“ gänzlich ausgespart, vgl. Arnold, Wilhelm/ 16 Popper, Karl R.: Auf der Suche nach einer bes- Eysenck, Hans Jürgen/ Meili, Richard: Lexikon der seren Welt. 3. Aufl. München u. Zürich 1988, S. Psychologie. Erster Band. Augsburg 1997, S. 790. VII. 7 Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: Lebe gut! Wie Sie 17 Popper, Karl R. / Lorenz, Konrad: Die Zukunft das Beste aus Ihrem Leben machen. München 2001. ist offen. Das Altenberger Gespräch. 3. Aufl. Mün- 8 In der Antike war ein solches Denken noch eher chen u. Zürich , S. 75. geläufig:„Nicht nur das muss man bedenken, dass 18 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 16. Aufl. Tü- mit jedem Tage das Leben verrinnt und ein immer bingen 1986, ab S. 235 mit § 46. kleinerer Teil von ihm übrig bleibt, sondern auch 19 Frankl, Viktor E.: Das Leiden am sinnlosen Le- darüber muss man nachdenken, dass es, für den Fall, ben. Psychotherapie für heute. 15. Aufl. Freiburg, dass jemand länger leben sollte, doch unsicher ist, Basel u. Wien 1977. ob seine Denkkraft auch in Zukunft die gleiche blei- 20 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. 2. Aufl. ben und ausreichen wird zum Begreifen der Dinge München 1975, S. 59. und zu der Betrachtung, die auf die Erkenntnis der 21 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Ver- göttlichen und menschlichen Dinge gerichtet ist. (…) such einer phänomenologischen Ontologie. 7. Aufl. Dagegen erlischt vor der Zeit seine Fähigkeit, über Reinbek bei Hamburg 2001, S. 914. die eigene Person zu verfügen, die Forderungen der 22 Vgl. Pohlmeier, Hermann (Hrsg.): Selbstmord- Pflicht scharf zu erkennen und die in seinen Gesichts- verhütung. Anmaßung oder Verpflichtung. Schriften kreis tretenden Dinge kritisch zu durchdenken und der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben gerade darüber sich klar zu werden, ob es schon e.V., Bd. 1, 2. Aufl. Bonn 1994, S. 22. Zeit ist, aus dem Leben zu scheiden (…).“ Beginn 23 Bühler, Charlotte: Wenn das Leben gelingen soll. des Dritten Buches des römischen Kaisers Marc Psychologische Studien über Lebenserwartungen Aurel in seinen „Selbstbetrachtungen“. Stuttgart und Lebensergebnisse. München u. Zürich 1969. 1973, S. 21. 9 Barnard, Christiaan: Glückliches Leben – würdi- ger Tod. Bayreuth 1981, S. 44. 10 Vgl. zur Soziologie des Todes Feldmann, Klaus/

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 207 Zum Autor: Jg. 1954, Promotion zum Dr. phil. (So- zialwissenschaftler) 1982; Tätigkeiten in Forschung und Lehre; Projektforschung und -Leitung zu Fragen sozialer und kul- tureller Integration, zu indigenen Kultu- ren, zur Förderung kleinerer und mittle- rer Betriebe sowie zur Alltagskultur. Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) e.V. ab 1990 (Assistent, dann Wissenschaftlicher Leiter); ab 1993 Geschäftsführer der DGHS und Chefredakteur der Verbands- zeitschrift „Humanes Leben – Humanes Sterben“ (HLS). Publikationen vornehmlich in den Berei- chen indigene Kulturen, Integrationsfor- schung, Lern- und Arbeitstechniken, Ma- nagement, Minderheiten, Motivanalysen, Sterbebegleitung und -hilfe sowie Suizid- forschung und Thanatologie.

E-Mail: [email protected] Internet: www.dghs.de und www. humanesleben-humanessterben.de

208 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Prof. Dr. Wilhelm Schmid (Berlin) Mit sich selbst befreundet sein Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst

1. Das Problem des Umgangs mit sich nichts anderes ist als eine globale Moder- in moderner Zeit nisierung. Was ist eine „Beziehung zu sich selbst“? Auf jeden Fall ein merkwürdiges Phäno- Unter Lebenskunst ist hier nicht das leich- men, so faszinierend wie beunruhigend: te, unbekümmerte Leben zu verstehen, faszinierend, dass eine solche Beziehung sondern die bewusste, überlegte Lebens- überhaupt möglich ist; beunruhigend, führung. Sie ist, wenn sie gewählt wird, dass sie den Beziehungen zu anderen vor- mühevoll und doch auch eine Quelle der gezogen werden kann. In der Sicht vieler Erfüllung ohnegleichen. Lange Zeit im Menschen gibt es Grund zur Beunruhi- Laufe der abendländischen Geschichte gung über dieses Phänomen der Gegen- war sie in der Philosophie beheimatet, die wart: Verlust der Beziehungen zueinander, diesen Begriff schon in antiker Zeit präg- Fragmentierung, ja Auflösung von Ge- te: téchne tou bíou, téchne perì bíon im meinschaft in allen Bereichen und auf al- Griechischen, ars vitae, ars vivendi im len Ebenen. Wie lässt sich angesichts des- Lateinischen. Erst die institutionelle Phi- sen die Betonung der Selbstbeziehung losophie des 19. und 20. Jahrhunderts lei- rechtfertigen? Aber es erscheint schwie- stete Verzicht darauf, zu Gunsten einer rig, anders anzusetzen, wenn doch in der Moderne, die mithilfe von Wissenschaft, Epoche, die man „die Moderne“ nennt, Technik und freier Wirtschaft alle Lebens- Menschen in anderem Maße als jemals auf probleme zu lösen versprach; auch in der sich selbst verwiesen sind. Sie sehen sich Hoffnung auf „Systeme“, die eine indivi- vor die Aufgabe gestellt, selbst nach Ori- duelle Lebensführung überflüssig machen entierung zu suchen und ihr Leben selbst würden: Wozu also noch Lebenskunst! zu führen, ohne sich dafür gerüstet zu füh- Die mit der Moderne gemachten Erfah- len. Verschiedene theoretische und prak- rungen haben jedoch gezeigt, dass diese tische Ansätze, auch die philosophische Zeit zwar einige Probleme gelöst, neue Lebenskunst, werden daran gemessen, ob aber geschaffen hat, und dass wohl kein sie in der Lage sind, Antworten auf die „System“ einem Menschen Antworten auf moderne Grundsituation zu finden. Sich seine Lebensfragen geben oder ihm gar damit zu befassen, soll nicht heißen, die die Lebensbewältigung abnehmen kann. Moderne für die einzige Kultur, ihre Pro- bleme für die einzigen auf dem Planeten Keineswegs kann die Philosophie verbind- zu halten. Aber überall dort, wo Moderni- lich sagen, wie das Leben zu leben sei, sierung Platz greift, werden wohl ähnliche und doch kann sie Hilfestellung leisten Probleme zu erwarten sein, deren Lösung beim Bemühen um eine bewusste Lebens- nicht anderen Kulturen zuzumuten ist, son- führung: mit der Klärung und Aufklärung dern der Kultur der Moderne selbst, erst einer Lebenssituation, einer Angst etwa, recht in der Zeit der „Globalisierung“, die einer Beunruhigung oder einer Enttäu-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 209 schung. Als philosophisch gilt seit jeher, Sie erscheint als eine Denkweise, die die in jedem Fall seit Sokrates, die „Was ist“- verschiedensten Erscheinungsweisen des Frage zu stellen, griechisch ti éstin, ti Lebens durchzieht, nicht als Produkt ei- pot’éstin: Was ist das, was ist das eigent- nes Zufalls, sondern einer absichtsvollen lich? Was ist Leben, was ist diese Zeit, Konzeption, modernen Menschen oft was ist Leben in dieser Zeit, was könnte kaum mehr bewusst. Dynamisch bewegt es noch sein, was ist schön, was ist klug, wird die Moderne, wie sie von den Auf- was ist richtig, was ist wichtig, was ist klärern, darunter vielen Philosophen, im Glück, was ist der Sinn des Lebens? Von 17. und 18. Jahrhundert konzipiert wor- der Frage nach Sinn sind alle diese Fra- den ist, um elenden Verhältnissen zu ent- gen durchdrungen, und es gehört zu den kommen, vom Begriff der Freiheit. Frei- Aufgaben der Philosophie, diese Frage heit wird dabei von vornherein und bis aufzunehmen und ernst zu nehmen. Die ins 21. Jahrhundert hinein im Wesentlichen Frage nach Sinn ist die Frage nach Zu- als „Befreiung“ verstanden und als Frei- sammenhängen: Was liegt zugrunde, was werden von Gebundenheit erfahren. Nichts steckt dahinter, wozu dient etwas, in wel- daran ist zurückzunehmen, die Tragik der chen Beziehungen ist es zu sehen, welche Freiheit als Befreiung besteht jedoch dar- Bedeutung haben die Worte, die gebraucht in, ein Individuum freizusetzen, das in sei- werden, welche Gründe lassen sich für ein ner Bindungs- und Beziehungslosigkeit Tun oder Lassen finden? Entscheidend kaum zu leben vermag. Wie ein erratischer sind Fragestellungen wie diese, nicht etwa Block steht es in der Landschaft der Mo- definitive Antworten; schon die sokrati- derne, versteht sich selbst nicht mehr und schen Dialoge enden aus guten Gründen weiß mit sich nicht umzugehen. offen und stoßen dennoch wertvolle Klä- rungsprozesse an. Mit den Fragen sind Die Freiheit als Befreiung macht eine ei- Spielräume des Denkens und Lebens zu gene Lebensführung erst zur Notwendig- eröffnen und Möglichkeiten der Lebens- keit. Denn das ist die Situation des mo- gestaltung zu gewinnen, nach denen die dernen Individuums: Frei zu sein von re- moderne Philosophie lange, allzu lange ligiöser Bindung, denn es ist auf keine nicht fragte, gänzlich den Bedingungen Religion mehr festgelegt, auf kein Jenseits menschlichen Wissens und der normati- mehr vertröstet – mit der Folge, auf klei- ven Begründung menschlichen Handelns ne und große Lebens- und Sinnfragen nun zugewandt, als verstünde sich damit das selbst Antworten finden zu müssen. Frei gelebte Leben von selbst. zu sein von politischer Bindung, denn auf- grund der Befreiung von jedweder Bevor- Als grundlegend erscheint vor allem, dass mundung vermag es eigene Würde und das Leben an die Bedingungen und Mög- Rechte gegen Fremdbestimmung geltend lichkeiten einer bestimmten Zeit und eines zu machen – mit der Konsequenz, dass Kulturraumes gebunden ist. Die Lebens- die individuelle wie gesellschaftliche kunst, wie sie hier entfaltet wird, versucht Selbstgesetzgebung („Autonomie“ im auf die Herausforderungen der Zeit der Wortsinne) zur ebenso mühsamen wie Moderne zu antworten. Was aber ist Mo- unumgänglichen Aufgabe wird. Frei zu derne, woher kommt sie, wohin geht sie? sein von ökologischer Bindung, denn auf-

210 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 grund technischer Befreiung von Vorga- im Nichts nicht leben lässt, beginnt die ben der Natur sind neue Lebensmöglich- Arbeit an einer Wiederherstellung von keiten entstanden – mit der schmerzlichen Zusammenhängen. Das ist zugleich die Ar- Erfahrung, dabei die eigenen Lebens- beit an einer anderen Moderne, beginnend grundlagen verletzen zu können und aus jedoch mit der Arbeit an sich selbst, an Eigeninteresse (sofern da noch eines ist, den Zusammenhängen in sich selbst. Es das so weit reicht) eine ökologische Hal- handelt sich um das Bemühen um eine tung neu begründen zu müssen. Frei zu Selbstkultur, um noch einen anderen Weg sein von ökonomischer Bindung, die zu- zu finden als den von Selbstkult und nächst noch darin bestand, die freigesetzte Selbstverlust, wie sie die Moderne präg- wirtschaftliche Tätigkeit einiger auf die ten. Aber was heißt hier „Selbst“? Hebung des Wohlstands aller zu verpflich- ten – die Befreiung davon sorgt für sozia- 2. Was ist „Selbst“? le und ökologische Kosten, deren Bewäl- Was das Selbst „eigentlich“ ist: Diese Fra- tigung größte Mühe macht. Frei zu sein ge muss offen bleiben. Die historische schließlich von sozialer Bindung: Das vor Abfolge von Erkenntnissen in Bezug auf allem ist der Befreiungsprozess, der das das Selbst belegt vor allem dies: dass es moderne Individuum erst hervorgetrieben sich um ein wenig fassbares Etwas han- hat, losgelöst aus seinem Eingebundensein delt. Dem trägt die provisorische, operable in Gemeinschaften, befreit („emanzipiert“) Selbstkenntnis Rechnung, die den Krite- von erzwungenen Rollenverteilungen, se- rien von Plausibilität und Evidenz genügt, xuell befreit von überkommenen Moral- als Resultat einer reichhaltigen Erfahrung vorstellungen, befreit überhaupt von Mo- und kritischen Betrachtung seiner selbst, ral und Werten, die als „überholt“ ange- um sich über sich klarer zu werden. Alle sehen werden. Anstelle von Gemeinschaft Selbstaufmerksamkeit und Selbstbesin- entsteht die Gesellschaft als Zusammen- nung, alle Aufrichtigkeit gegenüber sich kunft freier Individuen. Alle Formen so- selbst zielt auf ein Kennenlernen dessen, zialer Gemeinschaft werden fragmentiert: was als gegebenes „Selbst“ vorgefunden Die Großfamilie schrumpft zur Kleinfami- wird. Das Selbst prüft sich im Denken, lie, deren Bruchstücke führen zur Patch- im Fühlen und im Vollzug der Existenz, workfamilie und zum Singledasein, bis um auf der Basis seiner Erfahrung mit re- schließlich nicht nur der „Individualis- lativer Gewissheit von sich sagen zu kön- mus“, sondern auch die Selbsteliminierung nen: „Ich kenne mich.“ Es achtet auf die des Individuums möglich ist und wirklich Grenzen der möglichen Klärung und Auf- wird: die letzte „Befreiung“. klärung des Selbst und respektiert sie, statt immer weiter „in sich zu dringen“, mit dem Moderne ist eine Auflösung von Zusam- Risiko der Selbstverletzung und Selbst- menhängen und somit von Sinn. Die Be- zerstörung. So ist die Selbstkenntnis die freiung von inneren und äußeren Bindun- moderate und pragmatische Form der gen und Beziehungen führt zur Erfahrung Selbsterkenntnis, ihr lebbares Maß, getreu des „Nihilismus“. Aber die Bedeutsam- der anderen Forderung des delphischen keit von Zusammenhängen ist in ihrer Ab- Tempels: „Nichts im Übermaß.“ wesenheit am besten zu erkennen. Da sich

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 211 Der Strittigkeit des Begriffs des Selbst zu entsagen, aber auch die Selbstentsa- geht das Bemühen um Selbstkenntnis aus gung obliegt einer Wahl, und zumindest dem Weg, indem es auf das zugehörige um diese Wahl treffen zu können, wird es Phänomen rekurriert, nämlich die phäno- nötig sein, das Selbst zu konstituieren, das menale Erfahrung, dass so etwas wie ein fähig ist, sich von sich wieder zu lösen. Selbst sich ängstigt, Bedürfnisse nach Es- Dieses operable Selbst zu gewinnen, kann sen, Trinken, Liebe kennt, „Stoffwechsel“ nicht aufgeschoben werden, bis definitiv vollzieht, Lust und Schmerz empfindet. geklärt ist, ob es ontologisch ein Selbst So etwas wie ein Selbst bedarf eines Be- überhaupt gibt. wusstseins, mit dessen Hilfe sich das Le- ben führen lässt. Dieses So etwas wie lässt Auf der Basis der phänomenalen Erfah- sich der Einfachheit halber „Selbst“ nen- rung erst wird das Selbst zum Begriff, der nen, um anzuzeigen, dass es in irgendei- konzipiert wird; ein hermeneutischer Akt ner Weise sich zu sich verhalten und mit der Deutung und Interpretation, keine sich umgehen muss. Selbst ist das, was Feststellung einer Wahrheit. Unter dem Be- unweigerlich nicht Sache eines anderen ist; griff soll hier zweierlei verstanden werden: das, was einzig und allein dieses Leben Zunächst das impulsive, initiale Selbst als lebt und zu Ende bringt. Auch wenn jeder derjenige Impuls eines gegebenen Ich, der Ist-Satz in Bezug auf das Selbst proble- sich spontan, etwa aufgrund einer Beäng- matisch erscheint, so ist dieser Befund stigung, um das Ganze des Ich sorgt. doch schwerlich zu bestreiten. Das Selbst Daraus geht sodann, mit dem Übergang bringt Gegebenheiten mit sich, hat Vor- von der ängstlichen zur klugen Sorge, das stellungen von sich, entwickelt eine Auf- bewusste, integrale Selbst hervor: eine fassung vom Leben und eine Sicht auf die Angelegenheit des vorgestellten Ich, ein Welt, die sich nirgendwo sonst finden. Es Begriff für das Ganze des Ich, eine „ganz- macht Erfahrungen, die anderen mitgeteilt heitliche“ Instanz, die auch Unbewusstes und für einen Moment mit ihnen geteilt mit einbezieht; eine urteilende Instanz, die werden können, ihre Gebundenheit an das auf umsichtige Weise die Erhaltung und Selbst aber nie verlieren. Niemand kann Steigerung des gesamten Ich im Blick hat; ihm irgendwelche Arbeit an sich selbst ein innerer Moderator, der die diversen abnehmen, niemand sonst lebt dieses Le- Stimmen zu Wort kommen lässt, die alle- ben als nur dieses Selbst, dem es in sei- samt „Ich“ sagen, sie in Bezug zueinan- nem Leben um sich selbst geht, selbst der setzt, ihr Gespräch vermittelt, ihren wenn es ganz von sich absieht, auch dann, Streit schlichtet, im Zweifelsfall jedoch wenn es diesen Umgang mit sich negiert, auch entscheidet. selbst dann, wenn es „das Selbst“ als Il- lusion erkennt, sogar dann, wenn es selbst Die Hermeneutik des Selbst hält das Be- dieses Selbst wieder aufhebt oder gar aus- wusstsein wach für das Perspektivische löscht. Mag das Selbst eine Illusion sein, allen Wissens vom Selbst und für den her- so ist es doch eine, die entstanden ist, um meneutischen Zirkel gerade in Bezug auf leben zu können, und die zu pflegen ist, das Selbst. Gegen dessen völlige Durch- solange dies sinnvoll erscheint. Durchaus schaubarkeit und Ausrechenbarkeit bringt kann Lebenskunst heißen, jeglichem Selbst sie das Prinzip der hermeneutischen Fülle

212 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 in Anschlag, wonach die Wirklichkeit, Eckpunkte, die diesen Kern bestimmen, auch die des Selbst, stets umfassender ist, immer wieder überdacht in einer Selbst- als die aktuelle Erkenntnis von ihr wissen besinnung. An ihnen festzuhalten, auch kann. Es gibt Zeiten, in denen dies der wenn sie grundsätzlich veränderbar sind, einzig tröstliche Gedanke ist: dass es noch heißt sich selbst treu zu sein: 1. Die wich- Anderes gibt, dass die Wirklichkeit eine tigsten Beziehungen der Liebe und der andere sein kann als die, die sich dem mo- Freundschaft. 2. Die wenigen Erfahrun- mentanen Wissen als einzige darbietet. gen, die fester Bestandteil des Selbst blei- Hermeneutik heißt, immer aufs Neue nach ben sollen. 3. Die Idee, der Traum, der dem Anderen zu suchen, Zusammenhän- Glaube, der besondere Weg und vielleicht ge ins Licht zu rücken, die bisher nicht in das bestimmte Ziel des Lebens; die Sehn- den Blick gekommen waren, unerwartete sucht, aus der das Selbst fast allein be- Aspekte zu erschließen durch den Prozess stehen kann. 4. Die bestimmten Werte, die der Deutung und Interpretation. So lässt besonders geschätzt werden sollen. 5. Die sich Sinn für die Vieldeutigkeit von Selbst bestimmten Charakterzüge und Gewohn- und Welt gewinnen, die auf keine Eindeu- heiten, die sorgsam zu pflegen sind. 6. tigkeit zu reduzieren ist. Aus demselben Auch die spezifische Angst, die Verlet- Grund gibt die Hermeneutik dem Selbst zung, das Trauma, wodurch das Selbst auch seine Seele wieder, ein möglicher Akt sich im Kern definiert. der Deutung und Interpretation, nicht weil 7. Vor allem aber „das Schöne“, an dem die Rede von einer „Seele“ sehr genau, das Selbst sich orientieren kann: Wie im- sondern hinreichend ungenau bestimmt ist. mer es individuell und inhaltlich definiert Sie ist somit hermeneutisch ergiebiger und wird, allgemein und formal kann es als Be- evoziert ein Mehr an kreativen Vorstellun- jahenswertes gelten, als das, wozu das gen als das nüchterne Konzept der Psy- Selbst „Ja“ sagen kann, auch bezogen auf che in den Psychowissenschaften. Der sich und die eigene Gestalt. Schön ist et- Verzicht auf die Rede von der Seele hat was, das Sinn macht, eine Arbeit, eine sich nicht bewährt – spätestens im Ver- Lust, ein Schmerz, ein Gedanke – all das, zicht ist zu bemerken, wie sehr sie fehlt, was besonders bejaht wird und somit zur auch wenn niemand genau zu sagen weiß, Quelle des Lebens wird, die mühelos auch was sie denn sei. Womöglich bleibt alle größte Schwierigkeiten zu bewältigen er- Rede vom Selbst und seiner Seele provi- möglicht. Eine Übung auf dem Weg zum sorisch und „unterdeterminiert“, aber ge- Kern-Selbst würde darin bestehen, sich rade der Begriff der Seele hat noch nie selbst oder anderen die eigenen Eckpunkte beansprucht, zu einer definitiven Erkennt- zu vergegenwärtigen, bewusst ihre Defi- nis zu führen. nition vorzunehmen und sie gegebenen- falls zu modifizieren. Die Kenntnis des gegebenen Selbst ist die Voraussetzung für die Selbstgestaltung, Neben der Definition des Kerns bedarf eine Arbeit am Selbst, die ihm einen defi- das Selbst einer Festlegung seiner inne- nierten Kern gibt, eine innere Festigkeit, ren und äußeren Peripherie. Peripher eine „Integrität“. Es sind, aus Gründen der sind flüchtige Begegnungen und Aufge- Überschaubarkeit, kaum mehr als sieben regtheiten des Alltags: Sie tangieren das

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 213 Selbst, ohne den Kern zu berühren. „Kan- oder Lustfreundschaft, sondern die wah- didaten“ für den Kern lassen sich an der re Freundschaft, die auf der wechselseiti- Peripherie erst erproben, bevor sie nach gen Zuwendung der Beteiligten um ihrer innen wandern. Mit wachsender Entfer- selbst willen beruht: Sie erscheint als wert- nung vom Kern haben wechselnde Bezie- vollste und tragfähigste Beziehung zwi- hungen und Meinungen, „Neuigkeiten“, schen Menschen. Die Grundlage dafür schöne Dinge, Moden und Haarfarben ih- aber ist die Freundschaft mit sich selbst. ren Platz: Das Selbst definiert sich nicht Sie ist, analog zur Freundschaft, vorstell- über sie, sondern probiert einiges davon bar als ein Verhältnis zwischen gleichen aus und hält sich für vieles offen. Im Kern Interessen und Wünschen oder auch zwi- kann es beständig und widerständig, in der schen Gegensätzen und Widersprüchen Peripherie variabel und flexibel, offen für im Inneren des Selbst. In ihr kommt über Neues sein. So kommt es zum inneren Ge- die bloße Kooperation hinaus ein Verhält- sellschaftsbau der Gedanken, Gefühle, Be- nis der Vertrautheit zwischen den inneren ziehungen, Haltungen und Verhaltenswei- Ichs zustande. Voraussetzung dafür ist die sen, bis sich ein austariertes Selbst her- Selbstaufmerksamkeit, Selbstbesinnung ausbildet, ein Selbst, das im Körperlichen, und das Selbstgespräch, um sich der Dif- Seelischen und Geistigen ein definiertes ferenzen und Divergenzen in sich selbst Verhältnis zu sich selbst unterhält und ge- klarer zu werden, Argumente zwischen rade aus diesem Grund auch zu definier- ihnen auszutauschen und gegeneinander ten Verhältnissen zu anderen in der Lage abzuwägen, Kompromisse zu suchen und ist. Ist dies das „authentische“ Selbst? Ein Verabredungen zu treffen. Zur Selbstbe- Selbst, das „kongruent“ ist? Kommt es so freundung kommt es, wie in der Freund- zur „Selbstverwirklichung“? Aber Selbst- schaft, wenn die Beteiligten dauerhaft mit- gestaltung heißt nicht, ein verborgenes einander leben wollen und sich gemein- wahres Selbst ans Licht zu heben, folg- sam auf ein integrales Ganzes ausrichten. lich auch nicht, ihm zu entsprechen, erst recht nicht, es bedingungslos „auszule- Gegensätzliche Seiten können sich trotz ben“, um letztlich vor den Trümmern sei- allem miteinander befreunden und eine ner selbst und der Beziehungen zu ande- kreative Spannung aus dem Verhältnis zu- ren zu stehen. einander beziehen: etwa das Denken und das Fühlen, sich widerstreitende Gedan- 3. Selbstfreundschaft und Selbstliebe ken und Gefühle wie Furcht und Neugier- Die Arbeit an der Integrität des Selbst hat de, Hoffnung und Enttäuschung, Liebe letztlich zum Ziel, ein schönes, bejahens- und Hass, Zärtlichkeit und Zorn, Souve- wertes Selbst zu gestalten, das mit sich ränität und Ängstlichkeit, der Freiheits- befreundet sein kann. Von Selbstfreund- drang und das Bedürfnis nach Bindung, schaft ist die Rede in Anlehnung an Ari- die männliche und die weibliche Seite in stoteles, der in der Nikomachischen Ethik ein und demselben Selbst. Selbstfreund- (Buch 8 und 9) im 4. Jahrhundert v. Chr. schaft heißt auch, mit den eigenen Lau- vor Augen geführt hat, dass Freundschaft nen sich zu befreunden, die nicht über- zu den vortrefflichsten seelischen Gütern gangen werden können: In ihnen kommen zu zählen ist; nicht so sehr die Nutzen- momentane Gedanken, Gefühle, Wünsche

214 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 und Ängste zum Ausdruck, die, jeweils Freud und Leid in der Gemeinschaft mit ein Ich für sich, das gesamte Selbst für sich, vielmehr freut, wenn ein Teil ihrer sich allein in Anspruch nehmen wollen, Seele leidet, ein anderer Teil sich darüber, ganz wie die Kinder, die die ungeteilte und die verschiedenen Teile reißen das Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erzwingen Selbst schier in Stücke, nur um gleich wie- versuchen. Sinnlos, nach den Gründen da- der Reue darüber zu empfinden. Ganz für zu fahnden, denn es geht nur um eine anders verhält sich dies bei denen, die ihr Stunde, einen Tag. Das innere Machtspiel Selbstverhältnis klären, Einigkeit in sich mit einem Machtwort zu beenden, ist wir- selbst herstellen und, so Aristoteles, „das kungslos, eine konstante innere Verfassung verwirklichen, worin sie für sich das Be- über alle Tage hinweg wird es nicht ge- ste erblicken“. Eine Selbstberührung see- ben. Wirksamer erscheint, den Launen den lischer Art ist darin zu sehen; nicht etwa, Raum zu geben, den sie brauchen, und um die Selbstfremdheit gänzlich zu über- mit ihrem täglichen Wechsel zu leben. Ein winden, sondern um ein lebbares Verhält- Hin- und Herfluten des Selbst kann dar- nis auch noch zum Fremden in sich zu aus hervorgehen, das sich mal von die- gewinnen, sich zu befreunden, wenn schon sem Gedanken, mal von jenem Gefühl be- nicht mit dem Anderen und Fremden in stimmen lässt, wenn dies ein verabrede- sich, so doch mit dem Gedanken, dass tes Element der Gemeinsamkeit ist. Zu- es dieses Andere eben gibt und dass es gleich erscheint es klug, nicht allzu viel trotz allem Teil des Selbst ist. Die Selbst- davon nach außen dringen zu lassen, um freundschaft zielt darauf, eine ruinöse die Launen nicht in der Spiegelung durch Feindschaft in sich zu vermeiden, die zur andere, die mit ihrem raschen Wechsel Selbstauslöschung führen würde – vor- nicht leben wollen, noch zu verstärken. ausgesetzt, das Selbst hält es für vorzie- henswert und bejahenswert, nicht vorzei- Sich mit sich selbst zu befreunden erfor- tig zugrunde zu gehen, schon gar nicht an dert, die widerstreitenden Teile in ein ge- sich selbst. deihliches Verhältnis zueinander zu setzen, sie im Idealfall zur spannungsvollen Har- Auf die Frage, welchen Gewinn ihm die monie zusammen zu spannen. Immer geht Philosophie gebracht habe, antwortete es dabei, wie in der Freundschaft, um , der Begründer des Kynismus, Wechselseitigkeit statt Einseitigkeit, wech- einst: „Die Fähigkeit, mit mir selbst um- selseitiges Wohlwollen statt Übelwollen zugehen“ (to dynasthai heauto homilein, und Offensichtlichkeit des Wohlwollens Diogenes Laertios VI, 6). Überlegungen anstelle seiner Verborgenheit in einem in- zur Selbstfreundschaft haben die Ge- neren Schweigen. Selbstfreundschaft gibt schichte der philosophischen Lebenskunst es nicht bei denen, die „mit sich uneins nachhaltig geprägt. Sie sind im 1. Jahr- sind“, sich selbst fliehen, des Lebens über- hundert n. Chr. Seneca geläufig, wenn es drüssig sind und bei anderen nur Verges- in seinen Augen darauf ankommt, „Freund sen suchen: „Nichts Liebenswertes“ ha- zu sein für mich selbst“ (amicus esse mi- ben sie an sich, meint Aristoteles, also kön- hi), wie es im sechsten seiner Briefe an nen sie auch „kein freundliches Gefühl“ Lucilius über Ethik heißt. Alle wesentli- für sich selbst empfinden; sie teilen nicht chen Bestimmungen für das freundschaft-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 215 liche Verhältnis zu anderen treffen seiner gang mit Deinem Ich der einzige tröstli- Ansicht nach auch auf das Verhältnis zu che ist“. Das Ziel ist Selbstfreundschaft, sich selbst zu: Selbstbefreundet zu sein um „ebenso vorsichtig, redlich, fein und bedeutet, nicht gleichgültig gegen sich zu gerecht mit Dir selber um(zu)gehn, wie mit sein, sondern sich um sich zu kümmern, andern“, und wie einem guten Freund ge- für sich da zu sein, sich der Sorge für genüber auch in unangenehmen Dingen sich zu befleißigen und auf diese Weise aufrichtig gegen sich selbst zu sein, „fern nie allein zu sein, da das Selbst mit sich von Schmeichelei“. Da die Beziehung zu zusammenleben kann. Zum Wesen dieser sich selbst die Grundlage für die Beziehung Freundschaft gehört, sich mit sich zu be- zu anderen ist, darf es zu keiner Selbst- raten und sich selbst gegenüber derma- vernachlässigung kommen; daher kennt ßen aufrichtig zu sein, dass Seneca den Knigge „Pflichten gegen uns selbst“, die Rat geben kann, in der Beziehung zum sogar die „wichtigsten und ersten“ sind. Freund so freimütig mit ihm zu sprechen Sie finden ihren Ausdruck in der leiblichen wie mit sich selbst; das Verhältnis sollte und seelischen Sorge für sich. Die Sorge so vertraut sein wie dasjenige mit sich besteht vor allem darin, sich selbst ein „an- selbst. Zweifellos sind die Beziehungs- genehmer Gesellschafter“ zu sein: „Ma- formen von Freundschaft und Selbst- che Dir keine Langeweile!“ freundschaft ineinander verwoben, aber wenn danach gesucht wird, wo im Zwei- Die Selbstfreundschaft ist gleichwohl noch felsfall der Anfang zu machen ist: immer steigerungsfähig und kann zur Selbstliebe bei sich selbst. werden, die als die intimere, wenngleich aus diesem Grund wohl auch weniger freie Aus demselben Grund stattet viele Jahr- Selbstbeziehung verstanden werden kann. hunderte später ein viel Verkannter sein Der zugrunde liegende griechische Begriff auf Anhieb berühmt gewordenes, 1788 philautía steht außer für Selbstfreund- erstmals erschienenes Buch Über den schaft auch für die Selbstliebe. Die aber Umgang mit Menschen mit einem klei- ist umstritten von Anfang an: Sie sei das nen Kapitel „Über den Umgang mit sich größte Übel, meint Platon im fünften Buch selber“ aus. Es geht Adolph Freiherr Knig- seiner Gesetze; sie halte die Menschen da- ge dabei um die Organisation und Reor- von ab, gut und gerecht zu sein. Sich ganisation der inneren Gesellschaft, die selbst nicht zu lieben, könnte allerdings jeder Einzelne selbst ist. Es lässt sich ge- ein noch größeres Übel sein, denn es ver- radezu von einer Kultivierung des eige- hindert, sich anderen zuwenden zu kön- nen Ich sprechen – wehe dem, der „sein nen. Das wendet jedenfalls Aristoteles ge- eignes Ich nicht kultiviert“, stattdessen gen Platon ein: Selbstliebe und Selbst- sich zu viel um fremde Dinge bekümmert freundschaft seien die Grundlage für die und „fremd in seinem eignen Hause“ wird: Zuwendung zu anderen; das Verhalten ge- Er hat nichts mehr, wohin er sich zurück- genüber anderen stamme „aus dem Ver- ziehen kann, er verletzt die Freundschaft hältnis des Menschen zu sich selbst“. Wer mit sich selbst („Deinen treuesten Freund“), zu sich selbst kein Verhältnis hat, kann und das könnte sich bitter rächen, denn auch zu anderen keines gewinnen. Aristo- es gibt „Augenblicke, in welchen der Um- teles ist davon überzeugt, dass dies die

216 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 wichtigste Voraussetzung für jede Bezie- Selbstliebe in all dieser Zeit der Egoismus hung zu anderen, insbesondere für die nicht besiegt? Wohl weil es vergeblich ist, Beziehung der Freundschaft und der Lie- sich dem Nächsten zuzuwenden, wenn die be ist, denn wer mit sich selbst nicht be- Selbstliebe nicht die Kräfte dafür zur Ver- freundet ist, soll heißen: wer sich selbst fügung stellt, die verausgabt und ver- nicht mag, der kann auch andere nicht mö- schenkt werden können. Es mangelt an gen, geschweige denn ihr Freund sein. Das der Ethik im Umgang mit anderen im sel- leuchtet durchaus ein, denn wer „mit sich ben Maße, wie es an der Ethik im Um- selbst nicht im Reinen“ ist, das heißt, wer gang mit sich fehlt. Wo also, wenn nicht die inneren Verhältnisse seiner selbst nicht in der Freundschaft mit sich selbst und geklärt hat, der ist viel zu sehr mit sich „Selbstliebe“, wäre die Ethik besser zu beschäftigt, als dass er sich anderen zu- erlernen und einzuüben? wenden könnte. In der Beziehung zu sich wird das Selbst zur Beziehung zu ande- Noch im 17./18. Jahrhundert scheiterte der ren erst fähig. Versuch einiger Moralisten und Aufklärer, die Selbstliebe zu rehabilitieren (amour de Gibt es nicht sogar im Christentum, der soi im Unterschied zu amour-propre bei Religion der Liebe, diesen Satz, den alle Malebranche, Vauvenargues, Jean-Jacques kennen und doch wenige ernst nehmen: Rousseau). Auszulöschen aber ist sie nicht, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ wie sich zeigt, als Bettine von Arnim sich (agapeseis ton plesíon sou hos seautón, selbst zum ersten Mal im Spiegel sieht und Matthäus 19, 19 und 22, 39; Lukas 10, dabei erlebt, wie ihr Herz unwillkürlich die- 27; zurückgehend auf 3. Mose 19, 18)? ser Gestalt entgegenschlägt: Selbstliebe „Wie dich selbst“ und eben nicht „anstel- auf den ersten Blick, denn „ein solches le deiner selbst“: Die Selbstliebe gilt of- Gesicht hab’ ich schon im Traum geliebt, fenkundig als Grundlage für die Nächsten- in diesem Blick liegt etwas, was mich zu liebe, auch wenn das theologisch nicht im- Tränen bewegt, diesem Wesen muss ich mer so erklärt wird. Wann ist das hos nachgehen, ich muss ihr Treue und Glau- seautón von diesem Satz abgetrennt wor- ben zusagen; wenn sie weint, will ich still den? Eine historische Zäsur lässt sich spä- trauern, wenn sie freudig ist, will ich ihr testens um 370 n. Chr. konstatieren, als still dienen“ (Goethes Briefwechsel mit Basilius der Große die Längeren Regeln einem Kinde, 1835). Es ist Selbstliebe, für das Mönchtum formuliert: Kaum ist sich sagen zu können: Ich werde dir treu das vollständige Liebesgebot, Gott zu lie- sein und immer bei dir sein, alle Schwie- ben sowie den Nächsten wie sich selbst, rigkeiten stehe ich mit dir durch, du kannst korrekt zitiert, fällt die vorausgesetzte dich auf mich verlassen. So kommt es zur Selbstliebe in der darauf folgenden Inter- Gründung einer starken Beziehung zu sich, pretation schon weg, bevor sogar aus- die „Sinn macht“, während Beziehungs- drücklich vor ihr gewarnt wird. Dieses losigkeit Sinnlosigkeit heißt. Die Liebe zu Grundmuster sollte über viele Jahrhunderte sich lässt sich bis zur Intimität steigern, christlicher Geschichte hinweg erhalten die lange währt: „Sich selbst zu lieben“, bleiben. Warum aber wurde trotz instän- so Oscar Wilde in An Ideal Husband diger Verkündung der Nächstenliebe ohne (1895), „ist der Anfang einer lebenslan-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 217 gen Romanze.“ In der prosaischen Reali- darf ihrer nicht nur als Mittel zur Selbst- tät des romanhaften Lebens mit sich sind findung und Bedürfnisbefriedigung. Im freilich, wie bei jeder Liebe, Schwankun- selben Maße gewinnen die Beziehungen gen zu gewärtigen: Die Selbstliebe lässt zu anderen an Reichtum, wenn sie von an Intensität nach, bleibt zuweilen aus, unmittelbaren Eigeninteressen des Selbst verkehrt sich auch mal in ihr Gegenteil, frei sind. Mittelbar kommt dies dem Selbst den Selbsthass. Das sind die Zeiten, die wieder zugute, denn innerlich reich wird nur zu überstehen sind, wenn die Roman- es im Leben letztlich nicht durch sich tik um eine Pragmatik ergänzt wird: sich selbst, sondern durch andere. Die Zuwen- einer Sache zu widmen, einem Ziel, der dung zu anderen darf daher als ein Akt Erfüllung selbst auferlegter oder übernom- der Selbsterfüllung erscheinen und muß mener Pflichten, dem Anliegen eines an- nicht als Selbstverzicht verbrämt werden. deren Menschen, der Pflege von Gewohn- Der Kern der Sorge für andere ist die Sor- heiten und Ritualen, von denen das Selbst ge für sich selbst, die Selbstfreundschaft im Zweifelsfall verlässlicher und kontinu- und Selbstliebe. Man sollte sich davon ierlicher getragen wird als von der wan- lösen, dies für unverantwortlichen Egois- kelmütigen Liebe. mus zu halten.

Bleibt nur die Frage, wie die Selbstfreund- schaft oder gar Selbstliebe von Selbst- Zum Autor: sucht, Egozentrik und Narzissmus zu un- Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt in Ber- terscheiden ist. Ist der Übergang nicht flie- lin und lehrt Philosophie als außerplan- ßend? In Anlehnung an Aristoteles lässt mäßiger Professor an der Universität sich jedoch ein klares Unterscheidungs- Erfurt und als Gastdozent an der Staat- merkmal benennen: die Zwecksetzung. Ist lichen Universität Tiflis (Georgien). Re- die Selbstliebe nur Selbstzweck, so han- gelmäßige Tätigkeit als „philosophi- delt es sich um Egozentrik, eine narzissti- scher Seelsorger“ am Spital Affoltern am sche Selbstliebe. Sie kann problematisch Albis bei Zürich. Homepage: www. sein, nicht so sehr aus moralischen Grün- lebenskunstphilosophie.de den, sondern aus Gründen des Selbstver- hältnisses, denn sie befördert den Ein- Buchpublikationen: schluss des Selbst in sich und führt zur Glück – Alles was Sie darüber wissen Selbstbeziehung im Modus der Selbst- müssen und warum es nicht das Wich- bezogenheit. Ermöglicht die Selbstliebe tigste im Leben ist, Insel Verlag, Frank- aber die Beziehung zu anderen, erst recht furt a.M. 2007. die Beziehung der Freundschaft und der Die Fülle des Lebens. 100 Fragmente Liebe, so handelt es sich um eine altrui- des Glücks, Insel Taschenbuch, Frankfurt stische Selbstliebe. Sie vermittelt die Res- a.M. 2006. sourcen, auf andere zuzugehen und für sie Die Kunst der Balance. 100 Facetten der da zu sein, eine Selbstbeziehung im Mo- Lebenskunst, Insel Taschenbuch, Frank- dus der Zuwendung zu anderen. Wer sich furt a.M. 2005, 3. Auflage 2006. Überset- auf diese Weise liebt, ist zu freien Bezie- zungen: Niederländisch (2005), Lettisch hungen zu anderen in der Lage und be- (2006).

218 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Suhrkamp Verlag, Reihe Bibliothek der Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2004, 3. Auflage 2004. Übersetzungen: Niederlän- disch (2004). Schönes Leben? Einführung in die Le- benskunst, Suhrkamp Verlag, Reihe Bi- bliothek der Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2000, 6. Auflage 2004, Taschenbuchaus- gabe 2005. Übersetzungen: Lettisch (2001), Niederländisch (2001), Serbisch (2001), Italienisch (2006). Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1998, 9. Auflage 2006.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 219 Dr. Robert Zimmer (Berlin) Was heißt „einstimmig leben“?

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie „Every bird must grow its own feathers.“ D.H.Lawrence, Democracy I. „Ðmologoumšnoj zÁn“ – „einstimmig“ schlagen wird also eine Neuinterpretation oder „in Übereinstimmung leben“, war die des Begriffs „Einstimmigkeit“, der nun be- Formel, die Zenon, der Begründer der stoi- inhaltet, dass der Einzelne sich nicht nur schen Schule, für ein gelingendes Leben mit den verschiedensten Formen der Fremd- ausgegeben hatte. Sie fordert von uns die bestimmung arrangieren, sondern sich auch Einordnung in eine kosmische Vernunft- in seinem Selbst- und Identitätsverständ- ordnung, von der wir uns nur um den Preis nis als offen und veränderbar begreifen einer pathologischen Verwirrung unserer muss. Was „einstimmig“ jeweils heißt, ist intellektuellen und seelischen Verfasstheit also nicht nur für jeden Einzelnen, son- entfernen können. Die stoische Weltan- dern auch für jede Lebensphase inhaltlich schauung ging, wie der ganz überwiegen- neu zu justieren. Die Idee der Einstimmig- de Teil des antiken Denkens, davon aus, keit wird somit zur Stimulanz von hypo- dass Mikrokosmos und Makrokosmos, thetischen Lebensentwürfen, die sich an die Vernunftbestimmtheit des Menschen der Erfahrungswelt jedes Einzelnen bewäh- und die Vernunftordnung der Welt, in Ein- ren müssen und ständigen Veränderungen klang gebracht werden müssen. unterliegen. Sie kann die aus der philoso- Kann dieses Konzept eines „einstimmigen phischen Tradition vertraute Vorstellung Lebens“ noch fruchtbar sein, wenn wir von Glück als eines Zustandes ablösen, unsere Lebensführung nicht mehr als Kon- über den hinaus nichts weiter zu wünschen sequenz einer metaphysischen Weltdeu- übrig bleibt. Befreit von metaphysischen, tung begreifen, sondern, in der Tradition theologischen und anthropologischen Vor- aufklärerischen und kritisch-rationalen entscheidungen kann die alte stoische For- Denkens, von der Eigenverantwortung des mel in diesem Sinn Wegweiser für eine Le- Individuums für sein Leben ausgehen, in benskunst sein, die Selbstverwirklichung dem Lebenskonzepte einer stetigen kriti- und gelingendes Leben als nie endenden schen Prüfung unterliegen? Erfahrungsprozess begreift. Der folgende kleine Essay bejaht diese Frage und schlägt vor, die Idee der Ein- II. stimmigkeit als pragmatische Lebensorien- Zenons Forderung nach „Einstimmigkeit“ tierung zu begreifen, als eine Art „regula- wurde, ihrer scheinbaren Einfachheit zum tive Idee“ im Sinne Kants, die uns anlei- Trotz, bereits von seinen Nachfolgern als tet, unsere Lebenswünsche, Bedürfnisse klärungsbedürftig empfunden und löste und Anlagen mit den Bedingungen unse- zahlreiche Diskussionen aus. „Überein- rer sozialen Umwelt zu vermitteln. Vorge- stimmung mit der Natur“ oder „nach ei-

220 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 nem mit sich im Einklang stehenden Grund- zwischen Äußerlichkeiten und Wesentli- satz leben“ sind nur zwei der Deutungen, chem zu unterscheiden. Sie ist die ratio- die Zenons Nachfolger seiner Formel ge- nale Fähigkeit des Gewichtens, die Instanz, geben haben.1 Diskutiert wurde über den die die Leidenschaften unter Kontrolle hält Maßstab der „Einstimmigkeit“, der nicht und verhindert, dass sie als „Affekte“ pa- von der willkürlichen Entscheidung des thologische Gestalt annehmen. Einstim- Einzelnen abhängen konnte, sondern sich migkeit ist demnach eine durch die Ver- an objektiven Gesetzmäßigkeiten ausrich- nunft im Gleichgewicht gehaltene „Apa- ten musste. Gemeinsam ist der gesamten thie“, die sich negativ als Abwehr und Aus- stoischen Tradition, dass „Einstimmig- schaltung des Unverfügbaren durch ratio- keit“ nicht als Verwirklichung eines Selbst- nale Affektkontrolle definiert. Entwurfs, sondern als eine Anpassungs- Weil in der stoischen Lehrmeinung das leistung verstanden wird. Die stoische Le- Unveränderliche allen Menschen in struk- benskunstlehre ist im Kern eine Vermei- turell gleicher Form begegnet, kann auch dungslehre, die unnatürliche, d.h. im stoi- der Weg zum Glück, zur „Apathie“, all- schen Kontext, „pathologische“, d.h. Lei- gemein charakterisiert und durch entspre- den erzeugende Einflüsse auf das Leben chende Lebensregeln, durch asketische ausschalten soll. Sie fordert dazu auf, das Übungen, eingeübt werden. Es ist ein Wollen am Können auszurichten, sich also Weg, den alle in gleicher Weise zu gehen in seinen Wünschen und Zielsetzungen, haben. So entsteht die Beschreibung ei- wie wir heute sagen würden, auf das Mach- ner gemeinsamen Lebensform, die weit bare zu beschränken2 . Eine der zentralen über die Stoa hinaus das Bild des antiken stoischen Unterscheidungen ist die zwi- Weisen mitgeprägt hat. schen dem „Verfügbaren“, das also, das Die stoische Lehre von der „Einstimmig- unserem Handlungseinfluss unterliegt, und keit“, die als eine Religion der Gebildeten dem „Unverfügbaren“, das, was unserem die Spätantike beherrschte, war eine rein Einfluss entzogen ist. „In unserer Gewalt diesseitige Lebenskunstlehre. Als eine steht“, so schreibt Epiktet, „unser Den- Lehre vom Einklang zwischen Mensch ken, unser Tun, unser Begehren, unser und Weltordnung wirkte sie jedoch auch Meiden – alles, was von uns selber kommt. in das frühe Christentum hinein. So stützt Nicht in unserer Gewalt steht unser Leib, sich noch Augustinus auf die stoische Be- unsere Habe, unser Ansehen, unsere äu- grifflichkeit und die Annahme, Glück ver- ßere Stellung – alles, was nicht von uns wirkliche sich durch die Einbindung in ei- selber kommt.“3 Naturgesetzlichkeiten und nen überpersönlichen Zusammenhang. In äußere Umstände sind unserem Einfluss seiner Frühschrift De beata vita (Über entzogen. „Einstimmigkeit“ als „Überein- das Glück), die nicht nur von neuplatoni- stimmung mit der Natur“ ist eine Form schen, sondern auch von stoischen An- der Selbstbeschränkung, ein Sich-Einfü- sätzen beeinflusst ist, ist er noch davon gen in das Unveränderliche. überzeugt, dass menschliches Glück Kon- Kompass dieser Selbstbeschränkung ist sequenz einer vernunftgesteuerten An- die Vernunft in Form der Phrónesis, also passungsleistung ist, durch die sich der der abwägenden Klugheit, der Fähigkeit, Mensch in einen Zustand des geistigen zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Gleichgewichts bringt. Weisheit, so schreibt

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 221 er, sei „nichts anderes als Maß des Gei- gelegten Möglichkeit, seine zeitliche Exi- stes, das heißt das, womit sich der Geist stenz mit einer Ausrichtung auf das Ewi- im Gleichgewicht hält, um weder ins Über- ge, d.h. auf Gott, zu verknüpfen. Macht maß auszuschweifen noch in die Unzu- Augustinus noch von dem antiken Weis- länglichkeit hinabgedrückt zu werden.“4 heitsbegriff, wenn auch in veränderter Doch das Einvernehmen, in das sich der Form, Gebrauch, so weist der Kierke- Mensch mit sich und dem Kosmos setzt, gaardsche Gott keinerlei Spuren kosmi- richtet sich nun auf die Transzendenz des scher Vernunft mehr auf und dient nicht christlichen Gottes. Ein diesseitiges Glück mehr als „Maßstab“ für Weisheit und gibt es für Augustinus nicht mehr. Glück Glück. Kierkegaards Gott ist rational un- geht in der Glaubensgewissheit auf. Aus zugänglich und fordert Selbstverwirkli- einem Sich-Einfügen in einen kosmischen chung in Form einer Glaubensentschei- Naturzusammenhang wird ein Einrücken dung, die von einem rationalen Gesichts- in ein Heilsgeschehen. punkt den Charakter des Paradoxen hat. Wie Pascal sieht Kierkegaard den Men- III. schen orientierungslos mäandernd in der Was in der Antike und im Mittelalter noch Mitte zwischen Gott und Natur, zwischen als eine Anpassungsleistung formuliert Freiheit und Notwendigkeit, zwischen wurde, wird in der Neuzeit zu einer schöp- Zeitbestimmtheit und Ewigkeit. ferischen Leistung der Selbstmächtigkeit. Die Modernität der Kierkegaardschen Die Revolution im neuzeitlichen Selbstver- Theorie liegt darin, dass unter der theolo- ständnis des Menschen drückt sich im Au- gischen Decke das Konzept der Einstim- tonomiebegriff aus. Das autonome Selbst migkeit als Ergebnis eines individuellen ist nun aufgefordert, seine Lebensform in Entscheidungsprozesses begriffen wird. freier Selbstbestimmung zu gestalten. Jeder Mensch ist für Kierkegaard „als ein Als Theorie der Freiheit hat auch noch Selbst angelegt, mit der Bestimmung, er Kierkegaard, an der Schwelle der Moder- selbst zu werden.“5 Der Mensch als Selbst- ne, seine Theorie der Selbstverwirklichung verhältnis ist eine Synthese, die individu- verstanden. In vieler Hinsicht ist sie das ell, durch eine „Wahl“ vollzogen werden Kontrastprogramm zur Lebenskunstlehre muss. Kierkegaards Krankheit zum Tode der Stoiker. Weder Klugheitsgrundsätze thematisiert das Scheitern dieser Selbst- noch eine rationale Kontrolle der Lebens- verwirklichung, das Verfehlen der Synthe- führung spielen in ihr eine Rolle. Ein prag- se. In der quälenden Auseinandersetzung matisches, kluges, den Verhältnissen ange- mit sich selbst kann dieses Verfehlen vie- passtes Leben gilt Kierkegaard als Ver- le Gesichter annehmen: als mangelndes fehlen der Selbstverwirklichung, als eine Bewusstsein, überhaupt ein Selbst zu ha- jener Formen der Verzweiflung, die er als ben, als Schwachheit, die Möglichkeit des „Krankheit zum Tode“ bezeichnet. eigenen Selbst nicht zu ergreifen oder als Dennoch hat auch bei Kierkegaard das Selbsttäuschung, die darin besteht, etwas Konzept der Einstimmigkeit in modifizier- sein zu wollen, was man nicht ist. ter Form überlebt. Es wird nun als ein Denn Kierkegaards Gott ist keine Instanz Selbstverhältnis verstanden, als Überein- mehr, an die sich alle wenden können. stimmung eines Selbst mit der in ihm an- „Gott“, so Kierkegaard, „ist nicht etwas

222 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Äußeres in dem Sinne wie ein Polizeibe- zen muss, ist jedoch in der Philosophie amter“6 , er ist für Kierkegaard vielmehr spätestens seit dem 19. Jahrhundert mas- Ausdruck der individuellen Freiheit, von siv geltend gemacht worden: so durch der das Selbst eine „Vorstellung“, also ein Marx, der die gesellschaftliche Bedingt- Bewusstsein hat, die es aber noch ver- heit menschlichen Handelns behauptet, wirklichen muss. Radikal wie kaum jemand durch die Willensmetaphysik Schopen- vor ihm wendet sich Kierkegaard an den hauers und die Theorie des Unbewussten „Einzelnen“, der sein jeweils eigenes Le- bei Freud, die auf die Heteronomie des ben führen muss. Das Selbst, das verwirk- Rationalen hinwiesen, bis schließlich zur licht werden soll, kann deshalb auch nicht Philosophie der Gegenwart, die, mit Be- als ein „nachlebbare“ Lebensform – in der zug auf die kognitive Neuropsychiatrie, Art des vernunftgemäßen Lebens der An- vom Selbst als einem Modell spricht, das tike – beschrieben werden. Das Gleich- auf einer „Ich-Illusion“ beruht8 . Mit der gewicht, in das sich der einzelne Mensch Ablehnung eines „authentischen Selbst“ versetzen soll, ist ein jeweils individuelles wird nun aber auch die Ablehnung einer und von niemandem nachvollziehbares „Lebenskunst der Selbstfindung“ verbun- Gleichgewicht. Es kann deshalb auch keine den9 , mit der Schlussfolgerung, unser Le- allgemeinen Regeln oder Empfehlungen für ben als ein „lebenslanges Anpassungs- ein selbstverwirklichtes Leben geben. und Aneignungsprogramm“10 zu verste- Deshalb ist bei Kierkegaard Selbstverwirk- hen. Das Unverfügbare der Stoiker hat lichung auch immer mit Selbsterkenntnis sich in der zeitgenössischen Lebenskunst- gekoppelt. Wer über die Ausrichtung sei- diskussion unüberhörbar zurückgemeldet. nes Lebens entscheiden soll, wer also sei- Damit einher gehen aber auch Versuche, ne individuelle Form des gelingenden Le- das Konzept der „Einstimmigkeit“ in der bens wählen soll, muss wissen, wer er ist: Tradition der Stoa unter veränderten Be- „Das Gesetz für die Entwicklung des dingungen wiederzubeleben, ausgehend Selbst in Hinblick auf Erkenntnis, soweit von einer eingeschränkten Autonomie, die es wahr werden soll, dass das Selbst es die sozialen und psychischen Bedingt- selbst wird, ist, dass der steigende Grad heiten menschlichen Lebens anerkennt und der Erkenntnis dem Grad der Selbster- ebenso auf die Vorstellung eines Selbst kenntnis entspricht, dass das Selbst, je verzichtet, das sich als durchgehend mit mehr es erkennt, desto mehr sich selbst sich identisch begreift. So spricht Wilhelm erkennt.“7 Damit wird „Einstimmigkeit“ Schmid von einer „Kohärenz des Selbst“ zum Ziel eines Selbstfindungsprozesses. im Sinne eines Netzes, mit dem die Bezie- hung zu sich selbst und zur Außenwelt IV. immer neu geknüpft wird11. Dieses Selbst Kierkegaards radikales Verständnis von befindet sich, abgesehen von einem har- Freiheit und Autonomie hatte das stoische ten Kern, dem „Eigensten des Selbst“12, Konzept des „Unverfügbaren“ völlig aus- in ständiger Fluktuation: „Wie beim stoi- geklammert. Dass jeder Versuch eines schen Verständnis des Selbst“, so Schmid, selbstbestimmten Lebens sich mit den ver- „geht es darum, sich eine gewisse Festig- schiedensten Formen der Fremdbestim- keit und Stabilität zu verleihen, im Unter- mung notwendigerweise auseinanderset- schied zum stoischen Konzept ist diese

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 223 Selbstorganisation jedoch weniger rigide ergibt und die die Einschränkungen der und das Selbst weitaus poröser, ein stän- Lebenswirklichkeit miteinbezieht. diger Balanceakt.“13 V. Während Schmid den Begriff des Selbst Deutlich geworden ist, dass das Streben in Richtung auf ein „multiples Subjekt“ nach Einstimmigkeit ein zweifacher Pro- erweitert, geht es Ludger Heidbrink vor zess ist: zum einen ein Prozess der Selbst- allem darum, ein gelingendes Leben da- erkenntnis, des Sich-Selbst-Kennenler- von abhängig zu machen, dass man die nens und zum anderen der Prozess, sich Einschränkungen und Folgen des eigenen mit der Welt in Übereinstimmung zu brin- Handelns als selbst verantwortet akzep- gen, also das eigene Selbstbild mit den tieren kann. Gefordert ist eine Güterab- Lebensmöglichkeiten und den Lebensum- wägung, in der ich mir klar mache, was ständen zu vermitteln. Mit anderen Wor- die Umsetzung meiner Wünsche in mei- ten: Ich muss erfahren, was meinen jewei- ner besonderen Lebenssituation bedeutet. ligen Bedürfnissen entspricht und wie sich Wenn meine Lebensvorstellungen auf die dies in meiner Lebensumwelt umsetzen Realität treffen, entstehen Reibungen und lässt. Widerstände, z.T. auch Lebenseinschrän- Dabei wird, im Zuge einer sich ständig kungen. Nur wenn ich mich mit den neu- verändernden Lebenswirklichkeit und ei- en Verhältnissen identifizieren, wenn ich ner fortschreitenden, nie abgeschlossenen mich selbst in ihnen wiederfinden kann, Persönlichkeitsentwicklung, Einstimmig- kann man nach Heidbrink von „gelingen- keit nie endgültig erreicht werden. Der Weg der Autonomie“ sprechen. Konsequenter- zur Einstimmigkeit ist ein unabgeschlos- weise greift er deshalb mit dem Begriff sener Prozess, der in einer ständigen, fort- der „Selbstübereinstimmung“ auf das stoi- laufenden Auseinandersetzung mit der sche Konzept der Einstimmigkeit zurück: Realität besteht. „Das Gelingen autonomen Handelns be- Das Bild, das ich von mir selbst habe, die ruht somit nicht allein auf der Selbstbe- Art, wie ich mein Selbst „verstehe“, ist stimmung und Selbstverantwortung, son- im Alter von 20 Jahren ganz anders als dern auch auf der Selbstübereinstimmung mit dreißig oder fünfzig. Zum einen des- einer Person mit den Gründen und Aus- wegen, weil ich mit fünfzig mehr über mich wirkungen ihrer Handlungen, die mit ihrer weiß und mich besser einzuschätzen ge- Autonomie zusammenhängen.“14 lernt habe. Was häufig als Desillusionie- Damit sind zwei weitere wichtige Baustei- rung erlebt wird, als das „Platzen von ne eines neuen Konzepts von „Einstim- Träumen“, kann also auch positiv als Er- migkeit“ gewonnen: ein veränderbares kenntnisgewinn gesehen werden, als Ab- Selbst, das seine Kohärenz immer wieder schied von falschen Selbstbildern, der es neu herstellt, und eine Form der Selbst- dem Einzelnen erlaubt, eine Lebensform übereinstimmung, die weder auf einer rei- anzustreben, die den eigenen Anlagen und nen Wahl noch auf einer reinen Anpas- Fähigkeiten eher entsprechen. Vielleicht sungsleistung beruht, sondern auf der Ak- erkenne ich erst spät im Leben kreative zeptanz der gesamten Lebenssituation, die Potentiale in mir – und entdecke z.B. die sich aus meinen eigenen Entscheidungen Kunst als Ausdrucksmöglichkeit. Dass

224 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 man sich mit zunehmendem Alter besser chen, wohlhabenden Weltgegend hinein- kennen lernt, hat Folgen für die Möglich- geboren werde, groß sein. Aber auch die keit „einstimmig“ zu leben. Entgegen den Formen der Fremdbestimmung können Slogans der Medienindustrie sind deshalb zahllos sein: Ich kann in ärmlichen Ver- die Chancen für ein gelingendes Leben bei hältnissen in einer abgelegenen Weltgegend älteren Menschen größer als in der Jugend, aufwachsen, von Krankheit, mangelnden weil wir unsere Potenziale sehr viel bes- Bildungschancen und politisch repressi- ser einschätzen können. ven Verhältnissen behindert werden. Man- Aber ich lerne mich nicht nur besser ken- ches daran ist veränderbar, z.B. durch nen, sondern verändere mich auch. Auch soziales oder politisches Engagement, daraus ergibt sich die Notwendigkeit, das manches andere dagegen wird sich als eigene Selbstbild immer wieder zu korri- kaum veränderbar und unverfügbar her- gieren. Selbst wenn ich mir von Anfang ausstellen. Einstimmigkeit erzielen heißt an im Klaren darüber wäre, wer ich bin, auch, sich mit diesem „Unverfügbaren“ wären meine Vorstellungen von einem ge- ins Reine zu setzen. Auch dies kann im lingendem Leben mit zwanzig andere als fortgeschrittenen Alter, mit zunehmender mit fünfzig. Vielleicht fühle ich mich mit Menschenkenntnis und Fähigkeit zum zwanzig in einem Patchwork-Leben zu Pragmatismus, besser gelingen. Die Be- Hause, in dem Beziehungen und Bindun- herrschung sozialer Klugheitstechniken, gen bewusst fragmentarisch und zeitlich wie sie in der antiken Ethik und später in begrenzt angelegt sind. Mit fünfzig dage- der Tradition der Moralistik von Mon- gen strebe ich vielleicht eher feste Bindun- taigne bis Schopenhauer thematisiert wur- gen und einen langsameren und geregel- den, kann dabei eine große Hilfe sein. Sie teren Lebensrhythmus an. Der Prozess sind Mittel zu einem Zweck, den jeder Ein- des Sich-Selbst-Kennenlernens ist also zelne inhaltlich für sich formulieren muss. selbst ein zweifacher: Ich lerne das an mir Es ist nämlich immer der Einzelne, der seine kennen, was sich im Laufe des Lebens eigene Form der Einstimmigkeit finden und als stabil erhält, muss aber immer wieder seine Individualität mit den Gegebenhei- das integrieren, was sich in meiner Per- ten, unter denen er lebt, vermitteln muss. sönlichkeit verändert. Einstimmigkeit bedeutet, eine Lebensform Dieses sich verändernde Selbstbild, die Ein- zu ermitteln, in der meine Möglichkeiten schätzung der eigenen Persönlichkeit also, und meine Bedürfnisse mit den Bedingun- muss sich nun auf jeder Stufe neu mit den gen, die mir die Welt bietet, in ein Verhält- Möglichkeiten und Einschränkungen der nis gesetzt sind, mit dem ich übereinstim- Welt auseinandersetzen. Beide Prozesse men und in dem ich die Vorstellung mei- sind miteinander verschachtelt und laufen nes Selbst wiederfinden kann. Dieses Ver- nicht nacheinander, sondern nebeneinan- hältnis ist aber nicht nur individuell ver- der ab. Selbsterkenntnis und Weltbewäl- schieden, sondern verändert sich auch in tigung durchdringen sich ständig. verschiedenen Lebensphasen des Einzel- Jeder Einzelne steht dabei vor seiner eige- nen. Deshalb kann Einstimmigkeit auch nen Form der Weltbewältigung. Die ge- weder als Lebensform beschrieben noch botenen Lebenschancen können dabei, durch ein Arsenal von „Tugenden“ einge- wenn ich Glück habe und in einer friedli- übt werden.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 225 So gehen Versuche, aus der Antike be- chen kennzeichnet. Auch die Lebenskunst kannte Lebenshaltungen wie „Heiterkeit“ bedient sich „tentativer Lösungsversuche“ zu rehabilitieren15 ebenso an der indivi- und der „Methode des Versuchs und Irr- duellen Verschiedenheit einstimmigen Le- tums“, wie Popper dies für die wissen- bens vorbei wie die Versuche, den Hedo- schaftliche Erkenntnissuche reklamiert nismus als einzig adäquate Lebenseinstel- hatte17. „Einstimmigkeit“ als Ziel einer kri- lung zu propagieren. „Gelassenheit“ oder tisch-rationalen Lebenskunst ist ein unab- „Heiterkeit“ können bei vielen Menschen geschlossener Prozess der Irrtumsverrin- Ausdruck eines einstimmigen Lebens sein. gerung: Jedes Selbstbild, das ich entwer- Sie können aber auch für andere, die ihre fe, ist hypothetisch, ebenso wie jeder Ent- Selbstverwirklichung in einer Existenz se- wurf einer Existenz, mit dem ich Selbst- hen, die Grenzen austestet und überschrei- bild und Weltbild zu vermitteln suche. Ich tet, zum Hindernis werden. Und die Tat- entwerfe versuchsweise Lebensformen, sache, dass der Mensch ein sinnliches We- die sich auf meine Lebenserfahrung stüt- sen ist, bedeutet noch nicht, dass er Sinn- zen, konfrontiere sie mit der Realität und lichkeit zum Lebenssinn machen soll. Ein verändere sie, wenn sie meine Existenz- solcher Schluss ist nichts anderes als ein möglichkeiten verfehlen. klassischer naturalistischer Fehlschluss, Dieses versuchsweise Entwerfen eines ein- der Schluss von einem Sein auf ein Sol- stimmigen Selbst stützt sich dabei aber len.16 Auch in einer asketischen, mönchi- nicht nur auf Erkenntnisse meiner selbst schen Existenz kann ein einstimmiges Le- und der Umwelt, sondern auch auf die ben, zumindest zeitweise gefunden wer- strategische Fähigkeit, die eigenen Hand- den, sofern es sich um eine selbst gewähl- lungsspielräume richtig einschätzen zu te, mit den eigenen Anlagen und den Le- können, zu erkennen, welche Ziele ich mit bensumständen in Einklang gebrachte Le- welchen Mitteln in einer bestimmten Si- bensform handelt. „Einstimmig leben“ tuation erreichen kann und welche nicht. muss jeder auf seine eigene, individuelle Diese strategische Fähigkeit der Situations- Art. einschätzung ist das, was in den antiken Klugheitslehren und der neuzeitlichen Mo- VI. ralistik als praktisch-intuitive Urteilsfähig- Wenngleich eine Philosophie der Lebens- keit diskutiert wurde – sei es als Phrónesis kunst weder das Ziel der Einstimmigkeit bei Aristoteles bis zum „ingenio“ Gra- topographisch beschreiben noch eine cians. Es ist eine Fähigkeit, die ich nicht Wegbeschreibung liefern kann, kann sie durch intellektuelle Einsicht, sondern durch auf Instrumente verweisen, mit denen man den praktischen gesellschaftlichen Um- die Reise antreten kann. Gelingendes Le- gang erwerbe. ben als Einstimmigkeit ist zum einen ab- Wir sind, im existenziellen Sinne, Noma- hängig von Erkenntnissen, und zwar von den, immer unterwegs von einem falschen solchen, die ich über mich und solchen, Selbstbild zu einem weniger falschen die ich über meine Lebensverhältnisse er- Selbstbild, von einer weniger realistischen werbe. Sie stehen von daher unter den zu einer realistischeren Welteinschätzung, gleichen methodischen Vorgaben, die den von einem weniger gelingenden zu einem Erkenntniserwerb auch in anderen Berei- mehr gelingenden oder zu einem anders

226 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 gelingenden Leben. Wir erreichen nie oder Kann man eine naturalistische Perspektive auf die nur sehr selten völlige Einstimmigkeit, kön- Subjektivität des Mentalen einnehmen?“. In: S. Krä- nen uns aber auf sie zubewegen und uns mer (Hrsg.), Bewußtsein. Philosophische Beiträ- ge, Frankfurt/M. 1996, S. 130-154. ihr annähern. Schrittweise Irrtumsverrin- 9 Wolfgang Kersting, „Einleitung: Die Gegenwart der gerung meines Selbst- und Weltbildes Lebenskunst“, in: Wolfgang Kersting/Claus Lang- nach dem Prinzip von „Versuch und Irr- behn (Hrsg.), Kritik der Lebenskunst, Frankfurt/ tum“ und soziale Klugheit sind die beiden M. 2007, S. 36 Instrumente, mit denen ich mich auf den 10 Ebda, S. 37 11 Weg zu einem einstimmigen Leben ma- W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt/M. 1998, S.252ff. che. Da dieses Leben selbst immer wie- 12 Ebda. S. 254 der Veränderungen unterworfen ist, muss 13 Ebda., S. 256 sich auch unsere Vorstellung vom gelin- 14 Ludger Heidbrink, „Autonomie und Lebenskunst. genden Leben an der Art der Lebensver- Über die Grenzen der Selbstbestimmung“, in: änderung und nicht an einem bleibenden W.Kersting/C.Langbehn (2007), S. 278 f. 15 Lebenszustand orientieren. An die Stelle Siehe W. Schmid, „Heiterkeit. Rehabilitierung eines philosophischen Begriffs“, in: DIE ZEIT, Nr. des Glücks als eines ultimativen Genuss- 41, 7.10.1999, S. 51. und Wohlfühlzustands tritt die Erfahrung 16 Einen solchen begeht z.B. Michael Schmidt-Sa- einer nie unterbrochenen Lebensbewe- lomon, wenn er schreibt: „Wer nach dem Sinn sucht, gung, die Erfahrung, auf dem Weg zu ei- muss vor allem in den Sinnen suchen, denn Sinn er- nem Leben voranzuschreiten, in dem ich wächst aus Sinnlichkeit.“ In: M. Schmidt-Salomon, mein Selbst und die Welt, mein Wollen Manifest des evolutionären Humanismus. Plä- doyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffen- und Können immer besser miteinander burg 2005, S. 26. verknüpfen kann. „Einstimmig leben“ heißt 17 Siehe Karl R. Popper, Auf der Suche nach ei- der Wegweiser, der jeden in seine eigene ner besseren Welt, München 1987, S. 82. Siehe Richtung führt. auch R. Zimmer, „Leben als Versuch und Irrtum“, in: Aufklärung und Kritik, Bd. 2/2005, S. 80-92. Anmerkungen: 1 Vgl. M. Hossenfelder, Antike Glückslehren, Stuttgart 1996, S. 76. 2 Vgl. M. Hossenfelder, Die Philosophie der An- tike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 1985, S. 46: „Diese Einstimmigkeit von Wollen und Können ist es, die Zeno meint, wenn er sagt, das Ziel sei, ‚einstimmig zu leben.’“ 3 Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterre- dungen, Stuttgart 1973, S. 21. 4 Augustinus, De beata vita/Über das Glück, La- teinisch/Deutsch, Stuttgart 1982, S. 59f. 5 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode und anderes. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest, München 1976, S. 55. 6 Kierkegaard (1976), S. 113 7 Ebda, S. 53 8 Siehe z.B. Thomas Metzinger, „Niemand sein. Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 227 Prof. Dr. Heiko Schulz (Essen) Das Beanspruchte und das Verdankte. Zur Idee der Selbstverwirklichung im Anschluss an Sören Kierkegaard

Ich lebe, als hätte ich das Recht zu leben. Imre Kertész

I. Vorbemerkung gen lauten, erstens: Das Selbst ist zunächst 1. Selbstverwirklichung ist nicht nur bin- und abstrakt, d.h. diesseits seiner variie- nenphilosophisch ein vielfach diskreditier- renden Realisierungsformen, ein mögli- ter Begriff. Gemessen an seiner beinahe ches oder als bloße Möglichkeit. Zwei- inflationären Verwendung im Kontext ei- tens: Dasjenige, was verwirklicht werden ner psychologisch, esoterisch und/oder soll, ist mit dem Subjekt oder der Voll- pseudoreligiös motivierten Lebenshilfe- zugsinstanz identisch, die (sich bzw. et- literatur von oftmals zweifelhaftem diagno- was als sich selbst) verwirklicht. Drittens: stischen und therapeutischen Wert er- Das Subjekt der Verwirklichung verfügt scheint diese Diskreditierung sicher we- de facto über die Fähigkeit, diese, und nig überraschend – und prima facie wohl zwar aus eigener Kraft, zu vollziehen. Vier- auch legitim. Dennoch darf nicht überse- tens: Ein Selbst kann nur als solches ver- hen werden, dass die enorme Verbreitung wirklicht werden – dadurch nämlich, dass des Begriffs durchaus mehr und anderes die verwirklichende Instanz sich reflexiv indiziert als eine bloß transitorische, wenn (deutend und verstehend) auf etwas als auch individuell und sozial immerhin eini- diejenige Möglichkeit bezieht, die bzw. als germaßen präzise lokalisierbare Bedürfnis- die es selber wirklich werden soll. Damit lage. Unabhängig davon verweist das Wort wird ein spezifisch hermeneutischer Grund- nämlich auf eine grundlegende philosophi- zug1 von Selbstverwirklichung unterstellt: sche Idee – eine Idee, die bei wechselnder Selbst-Sein ist nur als Sich-selbst-Verste- Terminologie in der Sache zweifellos älte- hen bzw. als Deuten und Verstehen von et- ren Datums ist als jenes Wort, in dessen Ge- was als (Ausdruck eines) Selbst explizier- stalt sie gegenwärtig ebenso breitenwirk- bar. Fünftens: Dasjenige, was hier jeweils sam wie profitabel kolportiert wird. als Idee oder Repräsentant des Selbst vor- Freilich ist die Rede vom Sinn der Forde- gestellt und gedeutet wird, ist eine zu ver- rung, sich selbst zu verwirklichen, eben- wirklichend vorgestellte Verhaltens- oder so wie die darin implizierte Unterstellung Daseinsmöglichkeit. Als Element von der Möglichkeit, eben dies zu tun, durch- Selbstverwirklichung ist Selbstdeutung i.S. aus voraussetzungsreich, und zwar auch des Sich-selbst-Verstehens daher Element und gerade dann, wenn sie wie im Fol- genuin praktischer Rationalität: Sich selbst genden ausschließlich auf den Menschen im Horizont der Verwirklichung des eige- als Adressat jener Forderung bzw. als nen Selbst zu verstehen heißt, sich in und Subjekt von Selbstverwirklichung bezo- aus denjenigen Verhaltens- oder Daseins- gen wird. Die entsprechenden Voraussetzun- möglichkeiten zu verstehen, deren (als

228 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 möglich und wünschbar avisierter) Voll- debatte setzt, vorab durch vier Thesen zug die Verwirklichung des eigenen Selbst, markiert werden, die zugleich erkennen als eines solchen, gewährleisten würde. lassen, dass und in welchem Maße sein Sechstens: Dasjenige, was verwirklicht Standpunkt auf dezidiert christlichen Prä- wird, indem ein menschliches Subjekt sich missen fußt und daher streng genommen selbst verwirklicht, ist nicht nur ein in be- auch nur dann als plausibel einleuchten stimmter Weise gedeuteter Lebensvollzug kann, wenn man diese Prämissen – als des Subjektes; vielmehr hat dieser Lebens- solche und in der Sache – zu akzeptieren vollzug auch für die Verwirklichung des- bereit ist:3 (1) Jedes menschliche Indivi- sen, was jenes Subjekt an sich selber bzw. duum ist seiner ursprünglichen, d.h. durch seiner (hier: personalen) Identität nach ist, Gott gesetzten Wesensmöglichkeit nach konstitutive Funktion.2 Das Subjekt der ein Selbst, das zur Wirklichkeit kommen, Selbstverwirklichung wird m.a.W. durch sich als Selbst verwirklichen soll. (2) Fak- Faktum und Art des sich selbst deuten- tisch, obschon anfänglich implizit bzw. un- den und verstehenden Lebensvollzugs on- eingestanden, verbindet ein Individuum mit tologisch spezifiziert: Gehört der Mensch dem Versuch, dieser Möglichkeit zu ent- zur Klasse derjenigen Lebewesen, denen sprechen, den unbedingten Anspruch auf das Sich-Verstehen in und aus bestimm- Daseinserfüllung. (3) Diesem Anspruch ten Daseinsmöglichkeiten ontologisch ei- vermag recht verstanden jeder, aber auch gentümlich ist; und werden diese Daseins- nur derjenige zu genügen, der auf ihn zu möglichkeiten i.S. von Lebensvollzügen verzichten bereit ist. (4) Diesen Verzicht als zu verwirklichende bzw. das eigene kann jeder und nur der Christ, als solcher, Selbst verwirklichende vorgestellt, dann leisten. gehört der Mensch in die Klasse derjeni- gen Lebewesen, denen die Selbstverwirk- II. Die Grundfrage: Gibt es eine unbe- lichung i.S. der Verwirklichung von (et- dingte Gültigkeit des Faktischen? was als) Daseinsmöglichkeiten im konkre- Kierkegaards Gesamtwerk umfasst ca. 40 ten Lebensvollzug ontologisch eigentüm- Titel, hinzu kommt die gleiche Anzahl von lich ist. Zeitungsartikeln. Von seinem Nachlass sind ca. 30.000 handgeschriebene Seiten 2. Ohne den Terminus Selbstverwirkli- erhalten, die aus Manuskripten zu den ver- chung (dän. selfrealisering; selfudfoldelse) öffentlichten wie den zu seinen Lebzeiten explizit zu verwenden, hat Søren Kierke- unveröffentlichten Werken sowie aus 46 gaard (1813-55) dem durch ihn bezeich- Journalen, ferner 15 Notizbüchern, einer neten Sachverhalt ebenso wie dessen zu- großen Anzahl loser Blätter mit Einzelbe- vor skizzierten Leitvoraussetzungen nicht merkungen, schließlich einer Reihe von nur eine wirkungsgeschichtlich weitrei- Briefen und persönlichen Dokumenten be- chende, sondern auch sachlich eigentüm- stehen. Trotz des enormen Umfangs und liche Wendung gegeben, die im Folgen- seiner literarischen Vielschichtigkeit wird den vom Grundgedanken seines Werkes das gesamte Werk im Grunde nur durch her erläutert werden soll. Dabei kann der ein einziges, unermüdlich variiertes The- besondere Akzent, den Kierkegaard im ma bestimmt: die Frage nämlich, „wie es Zusammenhang der Selbstverwirklichungs- möglich sei, als Mensch das gegebene Le-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 229 ben in Gültigkeit zu leben“4 – modern aus- zum anderen den Verdacht, dass dieses gedrückt: ob und wenn ja wie es möglich Wissen bei den meisten seiner Zeitgenos- sei, sich selbst zu verwirklichen. sen entweder noch nicht oder nicht mehr Im Unterschied hierzu heißt es in einer klei- bzw. nur dem Schein nach, d.h. im Medi- nen Schrift von 1851, in der Kierkegaard um des Irrtums oder der Selbsttäuschung Rechenschaft über sein Selbstverständnis vorliegt. als Schriftsteller ablegt: „Dies ist ... die Im Blick auf den zweiten Gesichtspunkt Kategorie meines gesamten schriftstelle- ist Kierkegaards literarisches Projekt in der rischen Werks: aufmerksam zu machen Tat von Anfang an polemischer Natur. auf das Religiöse, das Christliche“ (33, Denn er erhebt darin den provozierenden S. 4).5 Um die Richtigkeit der zuerst an- Anspruch, das Christentum in die ‚beste- geführten Behauptung wäre es schlecht hende Christenheit’, als einer Form von bestellt, wenn sie Kierkegaards Selbstver- Heidentum nämlich, die sich zu Unrecht ständnis widerspräche oder dieser zumin- für christlich hält, aller erst bzw. erneut ein- dest beziehungslos gegenüberstünde. Tat- zuführen. Kierkegaard verteidigt den christ- sächlich ist dies aber nicht der Fall. Kierke- lichen Glauben daher nicht wie Schleier- gaard will vielmehr einzig und allein des- macher gegen die Gebildeten unter seinen halb auf das Christliche (in einer noch nä- Verächtern, sondern eher gegen die unter her zu kennzeichnenden Weise) ,aufmerk- seinen Verteidigern (wobei der permanent sam machen’, weil es seiner Auffassung induzierte Zweifel daran, ob und inwie- nach die Möglichkeit, das gegebene Le- weit hier überhaupt von Verteidigung mit ben in Gültigkeit zu leben, hinreichend, ja Recht gesprochen werden kann, als inte- sogar notwendig bedingt.6 Demnach löst graler Bestandteil jenes Projektes und sei- der Einzelne die damit bezeichnete Auf- ner Mitteilungsstrategie selber fungiert). gabe immer und nur dann, wenn er Christ Analog zu Marx und Feuerbach insistiert wird – und umgekehrt. Die beiden genann- Kierkegaard darauf, dass mit der als schein- ten Aspekte (authentisches Existieren qua haft erkannten Versöhnung von Denken Selbstverwirklichung / Christwerden) ste- und Glauben bzw. von Christentum und hen einander also nicht etwa beziehungs- Vernunft, der die Philosophie Hegels und los oder gar unversöhnlich gegenüber; sie seiner rechtshegelianischen Adepten im können vielmehr ineinander überführt wer- ‚Zeitalter der Reflexion’ zum Sieg verhol- den. Die Frage ,wie kann ich das gegebe- fen hat, die genuin menschliche Lebens- ne Leben in Gültigkeit leben?’ ist recht wirklichkeit – und d.h. für ihn primär: die verstanden nichts anderes als die Frage ethisch-religiöse Wirklichkeit, im Unter- ,wie kann ich Christ werden?’7 schied zur bloß gesellschaftlich-ökonomi- Dass Kierkegaard zudem auf die Idealität schen (Marx) oder natürlich-sinnlichen dessen, was es heißt, ein Christ zu sein, (Feuerbach) – auf die Seite gebracht, de- eigens aufmerksam machen zu müssen ren Idee unter Preis verkauft, ja ausver- glaubt, indiziert wiederum zweierlei: zum kauft worden ist: „Was die Philosophen einen, dass gläubiger Christ aus seiner über die Wirklichkeit sagen, ist oft eben- Sicht nur sein und als solcher wahrhaft so irreführend, wie wenn man bei einem menschlich nur derjenige leben kann, der Trödler auf einem Schilde liest: Hier wird weiß, was Christentum idealiter bedeutet; gerollt [sc. gemangelt]. Würde man mit

230 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 seinem Zeug kommen, um es rollen zu las- (d) eine allem Offenbaren und Äußerlichen sen, so wäre man genasführt; denn das gegenüber legitime verborgene Innerlich- Schild steht bloß zum Verkaufe aus.“ (1, keit; S. 34 / SKS 2, S. 41) (e) ein relatives Verhältnis zum Relativen neben und mit einem absoluten Verhältnis III. Kierkegaards Leitthese: Christlicher zum Absoluten; Glaube als Antwort auf die in der Exi- (f) ein poetisches Leben bzw. ein Leben stenz des Menschen liegende Frage nach in der Einheit von Stoff und Form denk- deren unbedingter Gültigkeit bar und real möglich? 1. Sowohl die Grund- und Leitfrage nach Während in Furcht und Zittern bzw. Die den Gültigkeitsbedingungen faktischen Wiederholung vor allem die Fassungen Existierens wie deren christliche Beant- (a)-(d) diskutiert werden, spielt in der Nach- wortung soll im Folgenden am Leitfaden schrift die fünfte und in beiden Bänden dreier pseudonymer Hauptschriften rekon- von Entweder/Oder (neben a-d) auch die struiert werden. Dabei werde ich die zu- sechste Variante eine hervorgehobene Rol- grunde liegende Frage über weite Stre- le.8 Zwecks einleitender Erläuterungen wer- cken im Rekurs auf Kategorien wie Reali- fe ich hier lediglich einen knappen Seiten- tät und Idealität (vgl. dazu 10, S. 155-159) blick auf Furcht und Zittern. Dieser ist bzw. Faktizität und Geltung erörtern. Sie deshalb unumgänglich, weil der Sinn der lautet dann: Ist, und wenn ja wie, die un- Frage des Menschen nach sich selbst, bedingte Gültigkeit faktischen Existierens nach den Möglichkeitsbedingungen von in jedem Augenblick logisch und real mög- Selbstverwirklichung und der Gültigkeit lich? Dass es sich hier in der Tat um eine, des eigenen Daseins – bzw. der Sinn des wenn nicht die Leit- und Kardinalfrage darin immer schon erhobenen Anspruchs Kierkegaards handelt, wird unter anderem ihrer möglichen und faktischen Beantwor- dadurch belegt, dass diese, obschon ter- tung – deutlich geworden sein muss, be- minologisch variierend, auch in anderen vor die anthropologisch und theologisch pseudonymen Werken eine zentrale Rolle explizierbaren Möglichkeitsbedingungen spielt. So tauchen etwa in Entweder/Oder eben dieser Antwort sachgemäß erörtert I-II, Furcht und Zittern, Die Wiederho- werden können. lung sowie Abschließende unwissen- „Es ist“, so schreibt Johannes de Silentio, schaftliche Nachschrift eine Reihe alter- der pseudonyme Autor von Furcht und nativer Fassungen derselben bzw. einer Zittern, „im Leben das Glückliche, ... analogen Gedankenfigur auf. Die entspre- wenn mein Wunsch meine Pflicht ist und chenden Formulierungen lauten sinnge- umgekehrt, und die Aufgabe der meisten mäß: Ist Menschen ist eben, bei ihrer Pflicht zu blei- (a) eine Wiederholung der Unmittelbarkeit ben und sie mit ihrer Begeisterung in ih- nach und jenseits der Reflexion; ren Wunsch zu verwandeln“ (4, S. 96f / (b) eine im Religiösen und/oder Ethischen SKS 4, S. 169). Ethisch verstanden be- aufgehobene Form des Ästhetischen; steht die Pflicht Abrahams – dessen Bei- (c) ein nach dem und jenseits des Allge- nahe-Opferung seines Sohnes Isaak (vgl. meinen als Ausnahme berechtigtes Einzel- Gen 22, 1-19) im Zentrum des Buches steht nes; – darin, seinen Sohn zu lieben. ‚Glücklicher-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 231 weise’ ist diese Pflicht zugleich sein innig- menleben mit seinem Sohn sowie ferner ster Wunsch: sie nötigt ihn also nicht erst, aufgrund des Glaubens an Recht und prin- ihr zu entsprechen. Indes, ob genötigt oder zipielle Erfüllbarkeit seines Wunsches er- nicht, Abraham vermittelt jedenfalls in der hebt Abraham einen weitreichenden An- Erfüllung seiner Vaterpflichten die ästhe- spruch, und zwar den Anspruch auf un- tische, d.h. im Prinzip sinnlichen Genus- bedingte Gültigkeit seines durch die ge- ses wurzelnde Unmittelbarkeit seines nannten Voraussetzungen in seiner Fakti- Wunsches, damit zugleich aber sich selbst zität bestimmten Daseins. Und er erhebt als bloß Einzelner reflexiv, nämlich kraft diesen Anspruch trotz und im Angesicht des Pflichtbegriffs, mit dem Ethisch-All- der ihm gegenüber ‚unendlich resignieren- gemeinen – wobei de Silentio das Allge- den’ (vgl. ebd., S. 43 u. passim / SKS 4, meine über dessen kantischen Kern hin- S. 130 u. passim) Bereitschaft, das zu tun, aus gut hegelianisch, d.h. als soziologisch was dessen Erfüllungsmöglichkeit ethisch fassbare Instanz bürgerlicher Sittlichkeit geurteilt gerade zu widersprechen scheint. (hier: qua Familie) interpretiert (vgl. ebd., Die entscheidende Frage lautet dann: Lässt S. 67f / SKS 4, S. 148f). Anders gesagt: sich dieser Anspruch rechtfertigen, und Abraham ist der in der uneröffneten In- zwar auch und gerade angesichts seiner nerlichkeit bloßen Wünschens sich selbst Verknüpfung mit jenem Moment verbor- wie seiner Mitwelt Verborgene, der sich gen resignierender Innerlichkeit, dessen kraft jener Vermittlung, d.h. in Erfüllung handelnde Umsetzung ethisch gesprochen seiner Vaterrolle, entäußert und auf diese als Verbrechen bezeichnet werden muss? Weise sich selbst und dem Allgemeinen De Silentio bejaht die Frage, freilich mit gegenüber offenbar wird (vgl. ebd., S. einem charakteristischen Vorbehalt: Die 84ff / SKS 4, S. 160ff). Im Hinblick auf Erfüllung des abrahamitischen Anspruchs den göttlichen Befehl, den eigenen Sohn ist immer, aber auch nur dann gewährlei- zu opfern, schließt Abrahams verborgene stet, wenn und insoweit paradoxe Sach- Innerlichkeit aber ein zusätzliches Moment verhalte denkbar und real möglich sind – ein – ein Moment, das schlechterdings kei- und das besagt im vorliegenden Fall zwei- nen ethischen Ausdruck im äußeren Han- erlei. Erstens: Es muss möglich sein, dass deln finden und daher mit dem Allgemei- derselbe Gott, der den Opferbefehl gege- nen unter keinen Umständen vermittelt ben hat, nicht nur imstande, sondern auch werden kann: nämlich den unerschütterli- willens ist, die Folgen zunichte zu machen, chen Glauben, dass hier in der Tat ein die mit dem Versuch einhergehen, ihm zu göttlicher Befehl, mithin eine Gehorsams- entsprechen (Gott erweckt Isaak zum Le- prüfung (und nicht etwa eine Tötung aus ben oder erschafft einen neuen Isaak). niederen Motiven) vorliegt, verbunden mit Zweitens: Es muss eine „teleologische der ebenso unumstößlichen Bereitschaft, Suspension des Ethischen“ (4, S. 67 / jenem Befehl nachzukommen, bzw. dem SKS 4, S. 148), d.h. eine zeitweilige Auf- Willen, die darin manifeste Prüfung zu be- hebung seiner unbedingten Gültigkeit zu- stehen. Kraft des Wunsches nach einem gunsten eines höheren Zieles denkbar und ungetrübten, durch den universalen Pflicht- real möglich sein. Abrahams Tötungsab- maßstab und die entsprechende sittliche sicht wäre demnach nicht als Mordversuch, Instanz der Familie vermittelten Zusam- sondern als unbedingter Gehorsamsakt im

232 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Verhältnis zu einer göttlichen Prüfung zu 2. Nach den Gültigkeitsbedingungen der deuten, d.h. als Erfüllung einer durch kei- eigenen Existenz fragen zu können setzt ne Instanz des Ethisch-Allgemeinen ver- mindestens zweierlei voraus. Es setzt er- mittelten und als solchen „absolute[n] stens voraus, dass die Faktizität dieser Pflicht“ (4, S. 84 u. passim; Hervorh. H.S. Existenz den Anspruch auf deren Gültig- / SKS 4, S. 160) Gott gegenüber. Dass bei- keit ursprünglich einschließt, sowie zwei- des faktisch der Fall ist, entzieht sich je- tens das Erwachen des Zweifels daran, der objektiv und intersubjektiv ausweis- ob dieser Anspruch zu Recht besteht. Wie baren Einsicht, es lässt sich – mit ‚Furcht muss Kierkegaard zufolge unter diesen und Zittern’ – nur in der Perspektive der Voraussetzungen die menschliche Existenz ersten Person behaupten. Und das besagt beschaffen sein, wenn (a) aus ihr selbst für de Silentio: Die Rechtfertigung von die Frage nach ihrer eigenen Gültigkeit Abrahams Geltungsanspruch ist denkbar hervorgehen und diese bzw. die nach der genau dann, wenn ein Glaube möglich ist, Ermöglichung jener Frage (b) im christli- der ‚in Kraft des Absurden’ (vgl. ebd. S. chen Glauben eine mindestens hinrei- 44 u. passim / SKS 4, S. 131 u. passim) chend, wenn nicht notwendig bestimmte daran festhält, dass (a) für Gott das Be- Antwort finden können soll? Die sachlich zeichnete realisierbar und beabsichtigt und ergiebigsten Anhaltspunkte zur Beantwor- (b) eine teleologische Suspension des Ethi- tung der ersten Teilfrage bietet die Krank- schen real möglich bzw. im Falle Abra- heit zum Tode von 1849. Die auf dezidiert hams Wirklichkeit ist. christlichen Prämissen fußenden Überlegun- Eben dieses eine gedankliche Grundmotiv gen ihres Autors Anticlimacus (vgl. Pap. sowie die ihm eigenen Voraussetzungen X 1A 517; III, S. 257) sind von der Über- prägen und durchziehen, terminologisch zeugung geleitet, dass die menschliche Exis- variierend, strukturell aber weitgehend tenz als solche ethisch strukturiert ist, ihr identisch, Kierkegaards gesamtes schrift- Vollzug mithin als Ausdruck des unbeding- stellerisches Werk: Das menschliche Da- ten Interesses daran interpretiert werden sein schließt als integrales Moment erstens muss, eine mit ihr selbst gegebene und die Frage nach seiner eigenen unbeding- als solche vom Existierenden zumindest ten Berechtigung bzw. nach dessen Gültig- unterschwellig immer schon anerkannte keitsbedingungen von sich her ein. In der Aufgabe zu lösen. Diese Deutung legt ja Art und Weise, diese Frage zu stellen, ver- auch die eingangs im Anschluss an J. Sløk birgt sich zweitens faktisch immer schon der reformulierte Leitfrage Kierkegaards nahe. Anspruch auf eine bestimmte und in ihrer Zumindest dann nämlich, wenn die Frage Rechtmäßigkeit bis auf weiteres zweifel- nach den Möglichkeitsbedingungen au- hafte Art und Weise ihrer Beantwortung.9 thentischen Existierens diesem selber nicht Dieser Anspruch kann drittens mit Recht äußerlich, sondern im Gegenteil immanent nur im Medium des Glaubens erhoben und ist, muss die in jener Frage vorausgesetz- auch nur so erfüllt werden. Die reale Mög- te Interesse- oder Aufgabenstruktur des lichkeit des Glaubens und mit ihr die der Existierens jenem Existieren von sich her Erfüllung jenes Anspruchs basiert schließ- zukommen. Anticlimacus trägt diesem lich und viertens auf der realen Möglich- Sachverhalt mit der These Rechnung, dass keit paradoxer Sachverhalte. der Mensch ontologisch gesprochen nicht

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 233 als beharrende Substanz mit wechselnden ebene: Jeder Synthetisierungsvollzug dia- Eigenschaften, sondern als Subjekt rela- lektisch mit- und durcheinander vermittel- tionaler Vollzüge, genauer als Vollzugs- ter Relate wird seinerseits durch den min- subjekt einer Synthetisierung polar verbun- destens latenten Selbstbezug des Voll- dener Relate oder Strukturmomente (End- zugssubjekts vermittelt. Auch dies ist phä- lichkeit/ Unendlichkeit, Notwendigkeit/ nomenologisch bereits am Wunschver- Möglichkeit, Zeitlichkeit/ Ewigkeit) sach- halten des Kindes ablesbar: Unterschwel- gemäß beschrieben werden kann (vgl. 24/ lig spiegelt das Kind sich selber bzw. die 25, S. 8 u. 25). Menschlich zu existieren (Bedingungen der) eigene(n) Daseinser- heißt mithin zunächst und vor allem, Be- füllung in der imaginativ vorweggenom- dingtes oder Begrenztes zu überschreiten menen Erfüllung des Spielzeugwunsches. bzw. Gegebenes zu transzendieren. Als Insofern ist dessen finales Objekt – und einschlägiges Beispiel mag das Phänomen so im Grunde das Objekt eines jeden Wun- des Wunsches dienen: Ein Kind, das sich sches – mit seinem Subjekt, wenn auch ein Spielzeug wünscht, überschreitet sei- zunächst nur unterschwellig, identisch. ne faktisch gegebene und vielfach bedingte Umgekehrt kann die Transzendierung des Situation, indem es vermittelt durch Ima- Gegebenen im Medium des Wunsches gination etwas als ein Begehrenswertes, sowie dessen imaginativ vorweggenom- d.h. als ein solches vorstellt, dessen Be- mener Erfüllung als ein erster Ausdruck sitz die Idealisierung jenes Faktischen zu- des Versuchs betrachtet werden, dem vor- mindest näherungsweise in Aussicht stellt. findbaren Dasein, und zwar in seiner un- Freilich muss hierbei das Gegebene, ge- mittelbaren Faktizität und Bedingtheit, Sinn rade um es überschreiten zu können, be- bzw. Gültigkeit zu verleihen. reits in Anspruch genommen werden: nicht Freilich handelt es sich um einen ersten nur in subjektiver (kein Wunsch ohne Ein- und uneigentlichen Ausdruck, insofern hier bildungskraft), sondern auch in objekti- jener bewusste Vollzug noch aussteht, der ver Hinsicht (kein Wunsch als Wunsch laut Anticlimacus die Verwirklichung des überhaupt und kein Wunsch nach Spiel- Menschseins notwendig und hinreichend zeug ohne dessen mindestens mögliche bedingt: Denn der Mensch ist existieren- Verfügbarkeit). So gesehen nimmt das der (wenn auch nicht göttlicher, d.h. ewi- Kind ‚Endliches’ (d.h. Begrenztes) bzw. ger) Geist und als solcher ein Selbst; das ‚Notwendiges’ (d.h. Vorgegebenes) immer Selbst aber „ist ein Verhältnis, das sich zu schon in Anspruch, freilich nur, um bei- sich selbst verhält, oder ist das an dem des durch imaginative ‚Verunendlichung’ Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu oder Entgrenzung in Richtung auf eine als sich selbst verhält“ (24/25, S. 8; Hervorh. Erfüllung imaginierte ‚Möglichkeit’ hin zu H.S.). Ein Kind kann demnach auch dann überschreiten; umgekehrt überschreitet es noch nicht als Selbst im strengen Sinne, Endliches und Notwendiges nur, freilich mithin nicht als „wirklicher Mensch“ (5/ auch immer schon im Medium seiner In- 6, S. 28 / SKS 4, S. 30) gelten, wenn es anspruchnahme. explizit sich selbst zum Gegenstand des Diese Dialektik trifft aber noch nicht den Wunsches macht – z.B. wünschend ima- Kern der Sache. Entscheidend ist für An- giniert, Gespenst, Seeräuber oder Pilot zu ticlimacus eine zweite Beschreibungs- sein. Denn in dieser momentanen, willkür-

234 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 lich abwechselnden und im Blick auf das erläutern helfen: Wenn alles Wünschen wahre Verhältnis von Notwendigkeit und zuletzt, obschon latent, auf den Wün- Möglichkeit gänzlich „phantastischen schenden selbst gerichtet ist; und wenn Selbstanschauung ist das Individuum ... mit der imaginativ vorweggenommenen bloß ein Schatten, oder richtiger, ... das Erfüllung des Wunsches ein Zustand avi- Individuum hat eine Vielfalt von Schatten, siert wird, der (bzw. in dem der Wün- die sämtlich ihm gleichen, und für Augen- schende) sich von der gegebenen Situati- blicke gleiches Recht haben es selber zu on wie das Ideale vom Realen, das Gel- sein“ (ebd., S. 27f / SKS 4, S. 30). Zwar tende vom bloß Faktischen, die Erfüllung reflektiert das Kind in den Grenzen der eines Rechtsanspruchs von diesem selbst ihm eigentümlichen Gestalt des Verhält- unterscheidet, dann folgt daraus, dass der nisses von Notwendigkeit und Möglich- Wunsch auf ein ursprüngliches Nicht-man- keit auf ‚sich selbst’, wenn und indem es selbst- bzw. Ein-anderer-sein-Wollen des Notwendigkeit für avisierte Möglichkeiten Wünschenden, folglich auf einen unein- in Anspruch nimmt und umgekehrt jene gestandenen inneren Zwiespalt, ein verbor- durch diese reflektierend transzendiert. genes Nichteinverstandensein mit sich sel- Aber es reflektiert nicht eigens auf sich ber deutet. Im Falle des wünschenden als ein so bestimmtes, nämlich in sich Kindes besteht dieser unterschwellige Ver- spannungsvoll strukturiertes Verhältnis. zweiflungszustand dabei nicht primär in Damit ignoriert es zugleich die gleicher- der dunklen Ahnung, dass ihm die Erfül- maßen dringliche wie undelegierbare Auf- lung des Wunsches als solche nicht zu gabe jener Synthetisierung beider Momen- Gebote steht – dass diese bzw. ihr Erle- te im Kontext der eigenen, unverwechsel- ben als Erfüllung m.a.W. ausbleiben kann; baren Lebenssituation, durch die allein es sondern sie besteht darin, dass ihm unter Klarheit über sein „ewiges“ (24/25, S. 39) allen Umständen eben daran bzw. an ei- und d.h. eben als Aufgabe im ethischen nem Leben nach Maßgabe der Wunscher- Sinne spezifiziertes Selbst erlangen könn- füllung gelegen ist, es folglich weder von te. der Erfüllung noch vom Wünschen als der Wie tritt nun das Selbst als solches für es primären Art und Weise, sich zur mögli- selber hervor? Die Antwort der Krank- chen Gültigkeit des eigenen Daseins zu heit zum Tode lautet: im Modus der Ver- verhalten, abzulassen vermag.10 zweiflung. Diese Auskunft wirkt nur auf Aus dieser Tatsache erhellt zugleich, dass den ersten Blick befremdlich. Verzweif- die offene oder bewusste Verzweiflung lung ist eine „Krankheit im Geist“ (ebd., sich zwangsläufig als solche entdeckt, die, S. 8) und indiziert als solche ein Miss- obschon bislang vor sich selber verbor- verhältnis in bzw. im Vollzug der mensch- gen, dennoch bereits zuvor bestand (vgl. lichen Synthesestruktur. Dessen erste und ebd., S. 20). Bewusste Verzweiflung kommt, ursprüngliche Form besteht in der Abwe- auch ihrem eigenen Urteil nach, gewisser- senheit des Bewusstseins, überhaupt ein maßen immer schon zu spät – insofern ist Selbst zu haben (vgl. ebd. S. 8 u. 39-44). der Ausdruck ‚rechtzeitige Verzweiflung’ Dass dieser Zustand tatsächlich auf ein eine contradictio in adjecto. In diesem Um- Missverhältnis verweist, kann noch ein- stand liegt ein zusätzliches Potenzierungs- mal das Paradigma des Kinderwunsches motiv ihrer bewussten Formen und Ge-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 235 stalten, ein psychologisches Inzitament, Kurzum: Zwischen den Relaten der mensch- das mit erklären hilft, dass und weshalb lichen Synthesis besteht ein wechselseiti- die Selbstreflexion aus dem Latenzstadium ges Bedingungsverhältnis. der bloßen Einbildungskraft in deren ent- Dieser Sachverhalt liefert zugleich wichti- scheidende, nämlich willentlich potenzierte ge Anhaltspunkte für die Beantwortung der Gestalt übergeht (vgl. 26, S. 177; 24/25, Frage, wie ein konkreter Bewusstseinsin- S. 25). In diesem Stadium spaltet sie sich, halt überhaupt zum Platzhalter von Not- wie Kierkegaards Morphologie der Ver- wendigkeit oder Möglichkeit etc. wird: Die zweiflung im ersten Teil der Krankheit Tatsache, dass Kierkegaard z.B. einer Fa- zum Tode en détail ausführt, in zwei Grund- milie angehört, auf der laut Aussage sei- typen: Schwäche oder verzweifeltes Nicht- nes Vaters ein Fluch lastet, für den zu bü- man-selbst- sowie Trotz oder verzweifel- ßen sein jüngster Sohn von Gott auserse- tes Man-selbst-sein-Wollen (vgl. 24/25, S. hen ist, gehört nicht a priori zur Dimensi- 8 u. S. 39-77). Beide Formen können Aus- on der Notwendigkeit in Kierkegaards druck eines Missverhältnisses sein, bei Selbst. Es gehört erst dann und dadurch dem jeweils der Notwendigkeits- bzw. hinzu, dass er diese Idee erstens als min- Endlichkeits- oder aber der Möglichkeits- destens möglicherweise wahr und zwei- bzw. Unendlichkeitspol im Vollzug der tens als etwas vorstellt, das seiner Frei- Synthese dominiert. Dabei ist freilich zu heit i.S. des Entwurfs eigener Lebens- beachten, dass keines der Syntheserelate möglichkeiten widerspricht. Erst dann und gänzlich aufgehoben, keines umgekehrt dadurch wird jener zum ausdrücklichen dem anderen gegenüber absolut gesetzt Bestandteil der Aufgabe, beides – ihn werden kann; denn um ein Relat in dieser selbst ebenso wie die als gegensätzlich Weise aufheben zu wollen bzw. wollen zu projektierten Lebensmöglichkeiten – als können, muss es, wie wir bereits gesehen integrierende Momente seines Selbst zu haben, seinerseits in Anspruch genommen synthetisieren. Weicht Kierkegaard ihrer werden. In der offenen oder latenten Ein- Lösung aus oder beharrt er im Gegenteil sicht, dass sich dies so verhält, besteht ja trotzig auf ihrer Unlösbarkeit, dann – und im Grunde alle Verzweiflung, zumindest erst dann – wird sein vermeintliches aber deren Potenzierung im Bewusst- Pönitenzschicksal zum Bestandteil einer sein.11 Das verzweifelte Subjekt macht so Verzweiflung stiftenden Notwendigkeit, nolens volens Gebrauch von den unab- unter die er sich um den Preis einer fun- änderlich vorgegebenen und begrenzen- damentalen Begrenzung eigener Lebens- den Aspekten der eigenen Situation, um möglichkeiten demütigen muss, um ein in sich in vermeintlich unbegrenzte Lebens- dieser besonderen Konstellation gültiges möglichkeiten flüchten zu können; umge- und mit sich selbst übereinstimmendes kehrt muss es sein eigenes Dasein begeh- Leben führen zu können – kurzum: um rend und imaginierend ausweiten oder ver- sich selbst zu verwirklichen.12 unendlichen, um die eigenen Begrenzun- gen, wenn auch irrtümlich, für absolut bzw. 3. Der Behauptung, dass von zwei Ver- die Dimension des Notwendigen im eige- zweiflungsformen auszugehen ist, kommt nen Selbst zur einzigen, trotzig behaupte- überdies eine wichtige begründungslogi- ten Lebensmöglichkeit erklären zu können. sche Funktion im Hinblick auf eine zen-

236 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 trale These des Christen Anticlimacus zu: wort auf die in der Existenz des Menschen der These nämlich, dass das menschliche liegende Frage bereit? In den vorangegan- Selbst ein „abgeleitetes, gesetztes Verhält- genen Überlegungen kam ja einerseits spe- nis ist ..., ein Verhältnis, das ..., indem es zifisch Christliches noch gar nicht zur sich zu sich selbst verhält, zu einem An- Sprache; aufgezeigt wurde mit der schritt- dern sich verhält“ (ebd., S. 9). Dies An- weisen Entfaltung der Synthesestruktur der dere ist Gott – hier freilich noch ganz un- menschlichen Existenz lediglich, dass und spezifisch i.S. des in jedem Daseinsvollzug wie sich hierbei „die Gottesvorstellung aus mindestens implizit mit gesetzten Grun- dem menschlichen Geist entwickelt durch des jener komplexen Relationsstruktur, die dessen Verhältnis zu sich selbst“ (SKS 18, der menschlichen Existenz ihr eigentümli- S. 201 / I, S. 322). Andererseits entstand ches Gepräge verleiht. Ein Mensch kann im Anschluss an Kierkegaards Morpho- sich demnach nicht zu sich selbst verhal- logie der Verzweiflung bislang der Ein- ten, ohne darin, ob offen oder latent, zu- druck, als trage der Gottesgedanke eher, gleich zu etwas als demjenigen sich zu ja im Grunde ausschließlich zu einer kom- verhalten, das oder der ihn in ein so be- plexeren Fassung jener Frage bei – und stimmtes Verhältnis aller erst versetzt hat weniger zu ihrer Beantwortung. Dieser – und d.h. ohne zugleich die Frage da- Schein trügt jedoch. Kierkegaards dies- nach zu stellen, was der eigenen, durch bezügliche Überlegungen münden im Ge- jene eigentümliche Verhältnisstruktur be- genteil in das Ergebnis, dass die (durch stimmten Existenz sowie dem darin immer Gott ermöglichte) Antwort mit dem Stel- schon erhobenen Anspruch auf Daseins- lenkönnen der Frage streng genommen zu- und Sinnerfüllung letzte, unüberholbare sammenfällt. Gültigkeit verleihen würde. Argumenta- Um diese zunächst überraschende Wen- tionslogisch bedeutsam ist dieser Umstand dung einsichtig machen zu können, müs- deswegen, weil laut Anticlimacus nur un- sen wir zunächst die Voraussetzungen prü- ter der Voraussetzung seines tatsächlichen fen, unter denen die (als faktisch verzwei- Gegebenseins verständlich wird, dass und felt behauptete) Frage nach der Gültigkeit wie die Verzweiflungsform des Trotzes – des eigenen Daseins zustande kommt. als ein Man-selbst-sein-Wollen, das sich Welches sind m.a.W. die transzendenta- von der ursprünglichen Abhängigkeit je- len und/oder genetischen Möglichkeitsbe- ner setzenden Instanz gegenüber losrei- dingungen der Verzweiflung? Anticlimacus ßen will – möglich ist. Umgekehrt bedingt erklärt diesbezüglich, dass „Gott, der den das Faktum dieser Verzweiflungsform das Menschen zu dem Verhältnis gemacht hat, Vorliegen jener Voraussetzung hinrei- ihn gleichsam aus seiner Hand losläßt“, chend.13 so dass „das Verhältnis sich zu sich selbst Mit diesem Zwischenschritt befinden wir verhält“ (24/25, S. 9). Diese Auskunft ist uns bereits im Übergang zur zweiten Teil- alles andere als befriedigend, geschweige frage, die zu Beginn dieses Abschnitts denn erschöpfend. Am Beispiel des Trot- formuliert wurde: Inwiefern stellt aus der zes hat sich zwar gezeigt, dass das Sich- Sicht Kierkegaards das Christentum min- Verhalten zu etwas als dem setzenden destens hinreichende Realisierungs- und/ Grund des Verhältnisses die Möglichkeit oder Erkenntnisbedingungen für eine Ant- der Verzweiflung mindestens notwendig

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 237 bedingt. Da die Verzweiflungsform der 4, S. 338). Den Sündenfall erklären heißt Schwäche dieser Einschränkung aber of- daher die Erbsünde erklären und umge- fenbar nicht unterliegt, fehlen (unter an- kehrt. Als ‚dialektischem’ korrespondiert derem!) Aufschlüsse über die hinreichen- dieser Sprung dem Erfordernis eines ‚pa- de Möglichkeitsbedingung von Verzweif- thetischen’: Sein bewusster Vollzug ist lung – und zwar in formübergreifender undelegierbar, das mit ihm einhergehende Hinsicht. Was genau besagt also die The- Setzen der Qualität ‚Sünde’ nur in der se, der Mensch falle eben dadurch der Perspektive der ersten Person möglich Verzweiflung anheim, dass er – ‚gleichsam’, und verständlich (vgl. ebd., S. 48f / SKS d.h. vermeintlich aus der Hand Gottes ent- 4, S. 335). Vorbereitet und psychologisch lassen – sich zu sich selbst verhält? motiviert wird dieser Sprung, und eben Die Krankheit zum Tode geht dieser Fra- dies ist in genetischer Hinsicht entschei- ge nicht eigens nach, wohl aber das erste dend, durch eine charakteristische Ge- anthropologische Hauptwerk Kierke- stimmtheit – die der Angst (vgl. ebd., 39- gaards, Der Begriff Angst von 1844. Hier 50 / SKS 4, S. 347-356): zunächst und steht zwar thematisch der Begriff der Erb- ursprünglich diejenige Adams, analog dazu sünde sowie die alttestamentliche Erzäh- aber und in menschheitsgeschichtlich wach- lung vom Sündenfall Adams (vgl. Gen 3) sender Quantität die eines jeden postada- im Zentrum; da aber laut Anticlimacus mitischen Individuums. Dabei kommt im Sünde und Verzweiflung koextensive Be- Falle des mythischen Urvaters jene latent griffe sind (keine Sünde ohne Verzweif- immer schon vorhandene Angst durch das lung und umgekehrt), können die Überle- göttliche Verbot, vom Baum der Erkennt- gungen der Angstabhandlung für die Be- nis des Guten und Bösen zu essen, zum antwortung der vorliegenden Frage genutzt Ausbruch (vgl. ebd., S. 42 / SKS 4, S. werden, ohne Kontext und Absicht der 350, sowie Gen 2, 17). Sie ist als solche Verzweiflungsschrift Gewalt anzutun. Die freilich nicht primär auf Gott oder das Ver- Möglichkeitsbedingungen der Erbsünde bot bzw. dessen Inhalt an sich gerichtet, bzw. des Sündenfalls zu klären heißt dem- sondern auf etwas anderes, tiefer Liegen- nach zugleich die Möglichkeitsbedingun- des: nämlich das einstweilen unverstande- gen der Verzweiflung zu klären.14 Freilich ne, weil gänzlich unbestimmte „Nichts“ zeigt auch Vigilius Haufniensis, der pseu- (11/12, S. 39 / SKS 4, S. 347) der eigenen donyme Autor des Begriffs Angst, wenig Freiheit i.S. der „Möglichkeit zu können“ Neigung, die Frage nach den metaphysi- (ebd., S. 43 / SKS 4, S. 350; Hervorh. schen oder transzendentalen Möglichkeits- nach SKS). Was Adam, i.S. des Vermö- bedingungen der Sünde zu beantworten. gens zum Guten wie zum Bösen, ‚kann’, Er begründet diese Zurückhaltung mit dem davon hat er keinen klaren Begriff. Mit Hinweis, dass die im Sündenfall Adams dieser, vor dem Sündenfall um Willen der wurzelnde Erbsünde – und damit die Sün- Vermeidung einer zirkulären Erklärung zu de überhaupt – durch einen im Laufe der postulierenden Unfähigkeit, den Sinn der Menschheitsgeschichte unaufhörlich wie- genannten Begriffe zu erfassen, geht da- derholten und dabei genetisch wie gel- her zugleich die Unfähigkeit, die eigene tungstheoretisch unableitbaren Sprung in Freiheit – und damit letztlich auch sich die Welt kommt (vgl. 11/12, S. 29 / SKS selber – zu verstehen, notwendig einher.

238 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Schon rein psychologisch zeigt die Angst Beantwortung einhergehenden Anspruch dabei ein Janusgesicht: Sie bzw. das dar- als unberechtigt entlarvt. in projektierte Nichts der eigenen Freiheit wirkt ebenso faszinierend wie abschre- 4. Damit ist umrisshaft skizziert, in wel- ckend. Dialektisch konsequent bestimmt cher Weise das Christentum bzw. die Vigilius sie daher als Einheit von „sympa- christliche Dogmatik, im Rückgriff vor thetische[r] Antipathie und ... antipatheti- allem auf Psychologie und Ethik, zumin- sche[r] Sympathie“ (ebd., S. 40; SKS 4, dest hinreichende Verständnisbedingungen S. 348; hier kursiv). Obschon kategorial für Eigenart und Genese jener Frage des im Gebiet der Psychologie beheimatet er- Menschen nach sich selbst bereitzustel- möglicht der Angstbegriff auf diese Wei- len vermag, die Kierkegaard als integrales se einen Brückenschlag zur Ethik: Der Moment der menschlichen Existenz als Geängstigte ist als solcher einerseits un- solcher begreift. Wie steht es mit der spe- schuldig, denn die Angst überkommt ihn zifisch christlichen Antwort auf diese Fra- ‚ohne sein Zutun’; andererseits erscheint ge – und zwar im Blick sowohl auf deren er – für sich selbst freilich erst im Rück- Erkenntnis- wie deren Realisierungsbedin- blick der Reue – als schuldig, insofern er gungen? Anders als beim Übergang vom sich ihr als einer ihn fesselnden Macht be- ursprünglichen zum faktischen qua sün- reitwillig hingab. Kraft dieser intrinsischen, digen Selbst betrifft diese Frage christ- sowohl binnenpsychologisch (sympathe- lich gesprochen den Sprung vom fakti- tische Antipathie) wie kategorial (Psycho- schen zu dem, was man das eschatologi- logie / Ethik) spezifizierbaren Ambivalenz sche oder das Selbst des Glaubens nen- trägt die Existenzkategorie der Angst zu nen kann.16 Dieser Sprung sowie dessen einer Erklärung dessen bei, was streng ge- christologische und hamartiologische Vor- nommen jeder rein metaphysischen, ethi- aussetzungen stehen im Zentrum der Phi- schen oder dogmatischen Erklärung ver- losophischen Brocken von 1844. Ihr Au- schlossen bleiben muss: die Genese des tor Johannes Climacus, selber kein Christ Sünders, und d.h. hier zugleich, die Ge- (vgl. Pap. X 1A 517; III, S. 257), profi- nese des Menschen als eines solchen. liert den Standpunkt des christlichen Glau- Mensch sein heißt danach (nicht notwen- bens bzw. dessen Voraussetzungen rein dig, aber) faktisch, die eigene Freiheit i.S. philosophisch, und zwar in Auseinander- des Vermögens zum Guten und Bösen setzung mit der griechischen Anamnesis- immer schon mit der Konsequenz ver- lehre, wie sie – laut Climacus: in ethischer wirklicht und vollzogen zu haben, dass Absicht – durch den platonischen Sokra- man ihrer in eben diesem Vollzug – durch tes vorgetragen wird. Ausgangspunkt ist die Wahl des Bösen nämlich – bereits ver- dabei die Frage nach den Lehr- und Lern- lustig ging (vgl. 10, S. 14f / SKS 4, S. barkeitsbedingungen der Wahrheit (vgl. 10, 224f).15 Und das besagt in der Konse- S. 7-11 / SKS 4, S. 218-221). Diese Be- quenz: Die seinskonstitutive Frage des dingungen kommen hier inhaltlich gese- Menschen nach sich selbst geht (nicht hen allein in ethischer Hinsicht, nämlich notwendig, aber) faktisch mit derjenigen als Inbegriff des guten Lebens, sowie im Art und Weise, sie zu beantworten, ein- Blick auf die metaphysisch-anthropologi- her, die den mit jener Frage samt ihrer schen Voraussetzungen seiner Erkenntnis

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 239 und Verwirklichung in den Blick. Der Unter dieser Voraussetzung kann der Vor- durch die Mitteilung des Lehrenden ver- gang eines mit jenem Augenblick verknüpf- anlasste Lernprozess kann im Kontext des ten Lernens nicht länger als bloße Erinne- sokratischen Modells nur als Sicherinnern rung an eine im Schüler selbst liegende an ein unwissentlich immer schon Ge- Wahrheit verstanden werden, die zu ent- wusstes gedacht werden, wobei der Leh- binden lediglich der mäeutischen Veran- rer das Wahre im Schüler nicht eigens ‚ge- lassung bedarf. Es muss sich vielmehr um bärend’ hervorbringt, sondern diesen gleich- eine (göttliche bzw. gottmenschliche) Of- sam als Hebamme zur ‚Entbindung’ des- fenbarung handeln, die auf Seiten des sen lediglich veranlasst, was als verbor- Schülers im Medium des Glaubens ‚ge- gene Wissensfrucht immer schon in ihm lernt’, d.h. als wahr und für ihn selber heil- selber bereit lag. Die Plausibilität dieses sam angeeignet wird. Als Offenbarung teilt Modells basiert auf vier Prämissen. Er- diese inhaltlich mit, wozu der Lernende stens: Der Schüler ‚ist in der Wahrheit’, von sich her, d.h. kraft eigenen Erinne- insofern er sich dieser als in ihm bereits rungsvermögens, keinen Zugang hat. Hier- verborgen vorhandene lediglich erinnern bei ist christlich gesprochen zunächst und muss. Zweitens: Der Lehrer ist ein prinzi- vor allem an den Tatbestand der eigenen piell austauschbares Medium der Wahr- Unwahrheit qua Sünde zu denken. Erster heitsaneignung; als solches kann er nicht Ausdruck des Glaubens bzw. dessen in- selbst zum Bestandteil des als Wahrheit tegrales Moment ist folglich das Sünden- Erinnerten werden. Drittens: Lernen ist im bewusstsein – als Bewusstsein der Wahr- Kern bloßes Sicherinnern, Lehren nichts heit über die eigene Unwahrheit. Da es fer- weiter als die mäeutische Veranlassung ner „ein Widerspruch“ (ebd., S. 13 / SKS dazu. Viertens: Der zeitliche Moment der 4, S. 223) wäre anzunehmen, dass der Wahrheitsaneignung ist ein zufälliger und göttliche Lehrer seinen Schüler der nöti- transitorischer, er verschwindet in der Ewig- gen Lern- und Verständnisbedingungen keit des Immer-schon-Gewussten. Clima- hätte berauben sollen, muss dieser, da hier cus zielt nun auf den (in der Folge deduk- auch der Zufall ausscheidet, ihrer Mög- tiv durchgeführten) Nachweis, dass die lichkeit durch eigenes Verschulden verlu- Abwandlung von Prämisse vier die ent- stig gegangen sein.17 Und dieser Verlust sprechende Umformung der anderen drei muss, wenn denn Augenblicks- und Of- Prämissen mit Notwendigkeit nach sich fenbarungsprämisse ex hypothesi gültig zieht; er zeigt dabei ferner, dass der dog- sind, so tief greifend sein, dass er mit der matische Kernbestand des christlichen Konsequenz einer völligen Unfähigkeit auf Glaubens in der Tat auf nichts anderes Seiten des Lernenden einhergeht, von sich zurückzuführen ist als die (etwa an Gal 4, aus Zugang zur Wahrheit einer göttlichen 4 belegbare) Behauptung eines mit der Mitteilung zu gewinnen, ja diesen auch nur Menschwerdung Gottes sinnfällig werden- zu wollen: Weder Sündenbewusstsein (vgl. den Augenblicks in der Zeit, dem welt- 16/2, S. 297 / SKS 7, S. 531) noch Glau- und individualgeschichtlich nicht nur zu- be (vgl. 10, S. 59 / SKS 4, S. 264) stehen fällige bzw. transitorische, sondern ewig- mithin in der Macht bzw. der willentlichen bzw. seligkeitsentscheidende Bedeutung Verfügungsgewalt des Lernenden. Eben zukommt (vgl. 10, S. 106 / SKS, S. 305). weil sich dies so verhält, geschieht bezo-

240 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 gen auf die über das Sündenbewusstsein erkennt darin erstens die unbedingte Gül- hinausgehenden Inhalte des Glaubens im tigkeit seines eigenen, jetzt und hier durch Augenblick der Offenbarung eine entschei- einzigartige und unwiederholbare Bedin- dende Transformation im Selbst- und gungen bestimmten und begrenzten Le- Gottesverständnis ihres Rezipienten: Er- bens; und er erkennt zweitens, worauf der stens erscheint der Mitteilende18 darin als Ausdruck ‚unbedingte Gültigkeit der ei- einmalig und unersetzbar – er entbindet genen Existenz’ an sich referiert – nur auf im Adressaten die Wahrheit nicht nur, son- die und jede Existenz nämlich, die im Glau- dern gebiert sie in ihm. Gott ist, gut pro- ben des erlösten und versöhnten Sünders testantisch gesprochen, zunächst und vor aus der Hand Gottes dankbar empfangen allem (wenn auch selbstverständlich nicht werden kann. Und das trifft aus Kierke- allein) als Grund des Glaubens dessen Ge- gaards Sicht faktisch für jede Existenz zu, genstand. Mit der von Gott gewirkten Of- mit Ausnahme der sündigen, von der als fenbarung des Sünders als eines solchen einer solchen gilt, dass sie sich selber nicht geht zweitens dessen faktische Befreiung kennt bzw. vor Gott leugnet.20 Von daher aus seiner selbstverschuldeten Blindheit, sind Glaube und selbstdurchsichtige Exi- drittens die Restituierung des gestörten stenz koextensive Bestimmungen.21 Exi- Verhältnisses zu seinem göttlichen Gegen- stieren kann, qua Selbstverwirklichung, über und viertens die Verpflichtung ein- nur als sich selbst verstehendes gelingen, her, dessen befreiender und versöhnen- und dieses Verstehen ist im Glauben mög- der Initiative „niemals [zu] vergessen“ (10, lich – freilich nur hier. Der Glaube erkennt S. 16 / SKS 4, S. 226), diesem mithin nicht aber nicht nur die Wahrheit bzw. sich selbst nur Dank schuldig, sondern ihm gegen- als deren Inhalt und epistemische Ermög- über auch auf ewig verantwortlich zu sein. lichungsbedingung; sondern er ist zugleich Kurzum: In der Gewissheit des durch Gott Medium der Verwirklichung des Erkann- zum Glauben befähigten Sünders erkennt ten und auch als solches sein eigener Ge- dieser sich zugleich als befreit, versöhnt genstand: In der und durch die offenba- und verpflichtet, Gott selber aber als Er- rungsvermittelte(n) Einsicht in die nunmehr löser, Versöhner und Richter (vgl. ebd., als realisiert vorgestellten Gültigkeitsbe- S. 15f / SKS 4, S. 226). dingungen der eigenen Existenz vollzieht er kraft göttlicher Initiative selber die Rea- 5. Kernpunkt der christlichen Antwort auf lisierung eben dieser Bedingungen. die in der menschlichen Existenz liegende Kierkegaards Theorie des Glaubens als Frage nach deren ewiger Gültigkeit ist also einer transreflexiven Form von Unmittel- der Glaube an und durch den Mensch ge- barkeit (vgl. Pap. VIII 1A 649; II, S. 229f) wordenen Gott. Dieser Glaube, von dem zeigt freilich auch, dass zum einen nur Climacus hinzufügt, er – und er allein – derjenige die Frage nach der Gültigkeit des könne aller dazwischen liegenden Jahrhun- eigenen Daseins beantworten kann, der sie derte zum Trotz mit Jesus Christus als sei- auf sachgemäße Weise zu stellen vermag: nem Gegenstand ‚gleichzeitig’ werden19, nämlich als Frage nach der Sünde als der- verlangt seiner Funktion nach zugleich jenigen Entität, die ihre Beantwortung zu- epistemisch und ontologisch expliziert zu gleich motiviert wie unmöglich macht. Und werden: Der mit Gott versöhnte Sünder da zweitens der (nur durch Gottes Han-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 241 deln generierbare) Glaube jene Frage als schen qua Geburt einschließen soll (vgl. eine immer schon beantwortete stellt, ver- 16/2, S. 296f / SKS 7, S. 531f). Nichtsdes- mag folglich nur der sie richtig zu stellen, toweniger treibt jenes Nichtverstehbare der sie, vermittelt durch einen anderen, be- unablässig zum Versuch des Verstehens reits beantwortet hat.22 In stadientheoreti- – wohlgemerkt: von etwas als demjenigen, scher23 Perspektive besagt das: Der Ästhe- worin es selber seinen eigenen Untergang tiker übersieht bzw. leugnet die mit dem findet. Nicht nur der äußerste und höch- Faktum seiner Existenz gegebene Aufga- ste Gegenstand leidenschaftlichen Verste- be; der Ethiker missversteht sie, indem er henwollens enthüllt sich mithin als para- sie irrtümlich als ein durch ihn selbst her- dox, sondern auch dieses selber, und mit zustellendes Gleichgewicht des Ästheti- ihm alle Leidenschaft als solche (vgl. 10, schen und Ethischen (paradigmatisch im S. 34-44 / SKS 4, S. 242-250).24 Medium der Ehe) deutet; die Religiosität Da nun einerseits Kierkegaards ‚theologi- A scheitert an der autonomen Realisierung sches’ Denken insgesamt auf das Para- absoluter Selbstvernichtung vor Gott als dox einer durch Gottes Handeln ermög- der notwendigen Vorbedingung zu ihrer lichten sowie im Glauben verwirklichten Lösung; erst und allein der Christ sieht und seiner selbst gewissen Teilhabe des und löst die Aufgabe, auf der Basis des menschlichen Daseins am ‚Ewigen im Sündenbewusstseins, und bewegt sich da- Augenblick’ der unbedingten Legitimität mit sowohl epistemisch wie ethisch wie des eigenen Daseins zielt; und da diese ontologisch in der „Sphäre der Erfüllung“ Gedankenfigur zweitens genuin eschatolo- (15, S. 507 / SKS 6, S. 439). Allein, er gischer Art ist25, erscheint der Schluss we- sieht und löst sie nicht aus eigener Kraft. der abwegig noch überraschend, dass Kier- kegaards existenzdialektisch profilierte 6. Kierkegaard schärft freilich unermüd- Theologie in toto wenig mehr bietet als lich ein, dass die Wahrheit dieser Dialek- die Entfaltung des Grundgedankens einer tik auf der realen Möglichkeit paradoxer – wohlgemerkt: individuellen und realisier- Sachverhalte, und d.h. hier auf der Wahr- ten – Eschatologie. Diese erörtert als sol- heit einer nicht nur unbegründeten oder un- che in dezidiert christlicher Perspektive die begründbaren, sondern rational schlecht- Bedingungen, unter denen menschliche hin abgründigen Ausgangsprämisse be- Selbstverwirklichung ‚im Augenblick’, ruht: Der Grund der Möglichkeit, dass d.h. in einer vom Gehalt des Ewigen er- Ewiges zeitlich oder Göttliches mensch- füllten Gegenwart möglich, und zwar je- lich wird – kurz: dass Ewiges oder Göttli- derzeit möglich ist.26 ches wird –, entzieht sich menschlichem Verstehenwollen als ein prinzipiell Nicht- IV. Das Beanspruchte und das Verdankte verstehbares. Dasselbe gilt in Analogie vom 1. Ich schließe mit einigen weiterführen- ‚Wunder’ des Glaubens und der Wieder- den Überlegungen, die die voran stehen- geburt des Sünders (vgl. 10, S. 17ff u. S. de Rekonstruktion des Kierkegaardschen 62 / SKS 4, S. 227ff u. S. 267), ebenso Grundgedankens mit Blick auf das Pro- auch von der Erbsünde als einer Form des blem der Selbstverwirklichung nicht nur Werdens, die zugleich und paradoxerwei- systematisch zuspitzen, sondern auch in se ein radikales Anderswerden des Men- Umrissen deutlich machen sollen, ob und

242 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 mit welchen Einschränkungen ich Kier- durch das unbedingte Interesse an deren kegaards Position für plausibel halte. Die Verwirklichung bestimmtes Verhalten zu Zuspitzung ist mit dem Versuch verknüpft, etwas als einer solchen Daseinsmöglich- den bisher referierten Gedankengang auf keit. Selbstsein ist Vollzug, und zwar Voll- die Gegenläufigkeit zweier Grundhaltun- zug von etwas als Ausdruck des Selbst- gen zurückzuführen, die sich an den Stich- seins. worten Anspruch und Dank festmachen Dieser Vollzug lebt von einem nicht ohne lassen. weiteres als berechtigt gegebenen An- Menschliche Existenz, so kann im An- spruch. Menschen sind nicht taub, trau- schluss an Kierkegaard festgehalten wer- rig oder talentiert, sondern sie sind bzw. den, hat die Struktur einer Transzendenz- vollziehen – in je spezifischer Weise – die- bewegung. Wir transzendieren, z.B. im ses ihr Taub-, Traurig- oder Talentiertsein, Modus des Wünschens, das Endliche und zwar im Horizont eines, sit venia ver- durch (bzw. etwas als) das und im (bzw. bo, existentiellen Letztbegründungsan- in etwas als dem) Unendliche(n), entspre- spruchs. Sie vollziehen m.a.W. Trauer, chend das Notwendige im Möglichen etc. Taubheit oder Talent o.ä. im Vorgriff auf Existieren ist demnach keine, im einzel- einen Totalentwurf ihres Daseins, in dem nen Subjekt zudem mehr oder weniger jene Eigenschaften, Anlagen oder Vermö- ausgeprägte Eigenschaft; sie ist auch kei- gen eine (im Einzelnen jeweils unterschied- ne bloße Disposition zu einem bestimm- lich bestimmbare) Rolle spielen sollen. ten Verhalten und auch kein faktisches Auch in dieser Hinsicht ist die Bewegung Sich-Verhalten simpliciter. Existieren heißt des Wunsches erhellend: Jeder Wunsch vielmehr (zumindest mit Blick auf eine wird aktualisiert im und als mindestens la- seiner notwendigen strukturellen und for- tenter Vorgriff auf eine vom Wünschen- malen Ermöglichungsbedingungen) Sich- den selbst entworfene Ganzheit oder letzt- Verhalten bzw. Handeln qua Transzendie- hin gültige Gestalt seiner selbst, als eines ren oder Vollziehen. Vollzug meint dabei solchen. Natürlich weiß der Betreffende, Aktualisierung von etwas (z.B. eines Wun- dass die Erfüllung eines Wunsches nicht sches) als Ausdruck einer Daseinsmöglich- von ihm (allein) abhängt; und er mag sich keit oder einer im (z.B. wünschenden) zuweilen auch dessen bewusst sein, dass Vorgriff entworfenen Möglichkeit letzt- diese Erfüllung auch in dem Sinne aus- gültigen und im Ganzen sinnvollen Lebens. bleiben kann, dass das Erwünschte zwar Genau genommen wird menschliches eintrifft – aber nicht als das Erwünschte, Handeln oder Sich-Verhalten erst dadurch d.h. anders als im Modus des erwarteten und dann zum (Lebens-)Vollzug, wenn der Zufriedenheits-, Glücks- oder Wunscher- Handelnde es im begleitenden, obschon füllungserlebnisses. Desungeachtet glaubt zunächst und zumeist latenten Bewusst- er im Vorgriff des Wunsches einen dreifa- sein dieses Handelns als einer gültigen, chen, wenn auch zumeist unausdrückli- Ganzheit und Sinn verbürgenden und darin chen Anspruch geltend machen zu kön- unbedingt berechtigten Gestalt menschli- nen: erstens, dass das Selbst, das durch cher Existenz ‚vollzieht’. Das Verhalten die Erfüllung jenes Wunsches zumindest des handelnden Subjektes zu sich selbst mit konstituiert würde, mit der letztgültigen kann mithin zurückgeführt werden auf ein Gestalt des eigenen, ‚idealen’ Selbst iden-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 243 tisch und auch nur als solches akzeptierbar men werden. Unser Anspruch mag ent- wäre; zweitens, dass es Aufgabe des Wün- weder berechtigt sein, aber faktisch nicht schenden und dieser im Übrigen auch dazu erfüllt werden (können); oder er kann zu fähig sei, dieses im wünschenden Vorgriff Unrecht erhoben worden sein – wobei ers- latent als sein eigenes projektierte Selbst teres, zumindest phänomenologisch, auf Wirklichkeit werden zu lassen; schließlich letzteres reduzierbar ist.28 Dasjenige aber, und drittens, dass der Vorgriff des Wun- was uns, als ein Beanspruchtes, im Blick sches an der Wirklichkeit dessen bereits auf die Realisierung unserer Daseinsent- partizipiert, worauf als einer zu verwirkli- würfe genommen werden kann, macht uns chenden Möglichkeit er allererst vorgreift i.S. der Unverfügbarkeit der Gelingens- – d.h. an seiner eigenen Erfüllung.27 bedingungen dieses Daseins in einem be- Ansprüche werden ferner nicht nur auf grenzten, präzise bestimmbaren Sinne un- und im Namen von bzw. unter Berufung frei. Den Entwurf, den Versuch und das auf etwas erhoben, sondern auch gegen- Gelingen der Umsetzung dessen, was das über von jemandem oder etwas, der oder Selbst zu sein und sein zu sollen bean- das für ihre Erfüllung entweder einstehen sprucht, vollzieht es in Kraft und Bean- oder aber ihr Recht im Einzelfall bestrei- spruchung von etwas, das nicht es selbst ten könnte. Sie sind mithin wesenhaft und nicht durch es selbst ist noch sein zweideutig – nicht nur deshalb, weil ihre kann: kontingente Impulse seines eigenen, Erfüllung ausbleiben, sondern auch und ihm selber undurchsichtigen Innern (i.S. vor allem deshalb, weil ihr Recht bestrit- bestimmter Anlagen, Fähigkeiten, Bedürf- ten werden kann. Die Rechtmäßigkeit von nisse, Stimmungen, Ideen, Antriebe etc.), Ansprüchen sowie das prinzipielle Vor- verknüpft mit nicht minder kontingenten handensein-Können und -Sollen dessen, und daher gleichermaßen unverfügbaren worauf sie sich richten, wird dabei ihren äußerlichen Daseinsbedingungen. Voll- (wie immer spezifizierten) Adressaten ge- zugsinstanz, Vollzug und Vollzugsresultat genüber als ein vermeintlich Selbstver- fallen daher selbst dann auseinander, wenn ständliches behauptet, jenes Recht mit- die Daseinsansprüche des Subjektes die- hin als unmittelbar evident in Anspruch ge- sem deswegen als berechtigt erscheinen, nommen. Wir gehen ‚wie selbstverständ- weil und insofern es sie kontingenterma- lich’ davon aus, nicht nur die Wahrheits- ßen als erfüllt erlebt. Wer seine eigene fähigkeit unserer Erkenntnis bezüglich der Selbstverwirklichung z.B. damit stehen ‚wahren’ Gestalt unseres Selbst sowie auf und fallen sieht, als Bühnenstar gefeiert unsere eigene Integrität im Blick auf das zu werden, und wer dies Ziel, nach eige- zugrunde liegende Realisierungsvermögen, nem Ermessen, nicht erreicht, der ist nicht dessen Teil jene Erkenntnis ist, beanspru- primär deshalb unfrei, weil sein Ziel schlicht chen zu können, sondern auch das Gege- unerreicht blieb; und er zieht sich dieses bensein der für jene Realisierung erforder- Urteil auch nicht bloß deshalb zu, weil er lichen bzw. förderlichen Daseinsbedingun- über die (inneren und äußeren) Bedingun- gen. gen nicht zu verfügen vermag, die ihn aus All das (und wohl auch nur das), was wir seiner Sicht das ersehnte Ziel hätten errei- auf diese Weise beanspruchen, kann uns chen lassen. Seine Unfreiheit wird vielmehr überdies, als ein solches nämlich, genom- dadurch konstituiert, dass er durch die Art

244 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 und Weise seines Strebens (als einem auf den zu lassen, das ihr unter keinen Um- spezifischen Ansprüchen beruhenden) die ständen genommen werden und sie inso- Möglichkeit zunichte macht, dessen Be- fern nicht der eigenen Freiheit – in einem dingungen in den Vollzug des Strebens mit positiv noch zu kennzeichnenden Sinne – aufzunehmen. Und diese Voraussetzung berauben könnte. Und da ihr ex hypothesi wäre ihrerseits nur dann erfüllt, wenn sich nur und all das genommen werden kann, der Strebende dem möglichen Gewährt- worauf sie i.S. einer als gleichermaßen sein wie dem möglichen Vorenthalt der für selbstverständlich wie unbedingt gültig prä- die Verwirklichung seines Strebens erfor- tendierten Daseinsmöglichkeit Anspruch derlichen (inneren und äußeren) Bedingun- erhebt, müsste es sich um etwas handeln, gen als etwas bewusst werden und bei- in dem zu gründen mit dem Verzicht auf des als etwas akzeptieren könnte, das sei- jeden entsprechenden Anspruch einher- nerseits gänzlich frei, unter keinen Um- ginge. In Korrespondenz zum Sich-Ver- ständen aber als Resultat der geschulde- halten des Anspruchs müsste es sich also ten Erfüllung eines Anspruchs – oder aber um eine existenzbestimmende Grundhal- als dessen Erfüllungsverweigerung – zu- tung handeln. stande kommt. Im Falle des verfehlten Nach meiner Auffassung ist Dankbarkeit Strebens nach Selbstverwirklichung ist es ein diesbezüglich aussichtsreicher Kandi- folglich die Art und Weise des Strebens dat, und zwar i.S. der mindestens hinrei- selber, die die Möglichkeit vereitelt, das chenden (wenn auch vermutlich nicht not- Erstrebte zu erreichen. wendigen) Bedingung zur möglichen Vermei- All das, was dem nach Selbstverwirkli- dung jener Probleme, die mit der Grundhal- chung Strebenden im bezeichneten Sinne tung des Anspruchs sowie denjenigen For- genommen werden und ihn daher partiell men vergeblich erstrebter Selbstverwirk- unfrei machen kann, besiegelt dabei auch lichung einhergehen, die mit ihr verknüpft im Falle seines kontingenten Gewährtseins sind. Zu dieser Hoffnung berechtigt eine das prinzipielle Scheitern des jeweiligen Phänomenologie des Dankes bzw. der Existenzentwurfs.29 Scheitern kann der Be- Dankbarkeit, die ich hier allerdings nur in treffende ausschließlich an Ansprüchen, Umrissen, nämlich in weitest möglicher und zwar nur an solchen, die er selber er- Entsprechung zu den o.g. Aufbaumomen- hoben, mindestens aber sich unmittelbar ten der Anspruchshaltung skizzieren kann. zu eigen gemacht hat – ja dies Scheitern ist streng genommen nichts anderes als Zunächst: Beide Grundhaltungen, die des die (oder nicht anders als im Modus der) Anspruchs und die der Dankbarkeit, schlie- Ent-täuschung über jene Ansprüche als ßen einander aus; kein Beanspruchtes kann faktisch – und als faktisch zu Unrecht – als solches ein mit Dank Empfangenes erhobener. bzw. empfangen werden Könnendes, um- gekehrt kein mit Dank Empfangenes ein 2. ‚Sich selbst verwirklichen’, und zwar faktisch oder möglicherweise Beanspruch- i.S. der aufgehobenen Möglichkeit sol- tes sein. Zweitens: Danken heißt ent- chen Scheiterns, würde eine Person in- selbstverständlichen – denn es ist offen- folgedessen genau dann, wenn sie imstan- sichtlich semantisch wie pragmatisch in- de wäre, das eigene Dasein in etwas grün- konsistent, für etwas als ein Selbstver-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 245 ständliches bzw. selbstverständlich Ge- Gründen bestritten werden, dass der Dank, währtes oder als ein unmittelbar in An- in dessen Medium die betreffende Sache spruch zu Nehmendes danken zu wollen. als ein Geschenk und d.h. zugleich als ein Dankbarkeit ist oder enthält mithin eine jener Person Bestimmtes und Gewährtes Reflexionsbestimmung: Mit Dank empfan- empfängt, unangemessen bzw. grund- und gen wird ein – oder genauer: etwas als ein sinnlos sei.31 Derselbe Sachverhalt lässt – Geschenk; Geschenke aber können nur sich auch sprachphilosophisch pointieren, als solche bzw. als ein frei und ungenötigt nämlich mit dem Hinweis darauf, dass ‚dan- Gewährtes empfangen werden.30 ken’ zu den sog. illokutionären Sprech- Drittens: Im Danken ist die Zweideutig- akten gehört: „Indem ich sprechend dan- keit des Beanspruchten aufgehoben. An- ke, wird das wirklich, was mit dem Wort sprüche können, wie wir gesehen haben, gemeint ist.“32 Das heißt aber: Grund und etwas oder jemandem gegenüber erhoben Sinn dessen, wofür jemand dankt, wer- werden, das oder der sie erfüllen oder aber den im Sprachvollzug des Dankes selber bestreiten und als bestrittene unerfüllt las- wirklich – als ein de facto Dankenswertes sen kann. Diese Ambivalenz ist im Medi- nämlich bzw. als Geschenk. um des Dankes überwunden, und zwar Schließlich und viertens: Der Dankbare ist auf rein subjektiver Grundlage überwun- (nicht zwangsläufig metaphysisch, wohl den. Grund und Sinn der Dankbarkeit sind aber im phänomenologischen Sinne) frei daher in gewissem Sinne unbestreitbar – – und zwar frei aus mindestens vier Grün- nicht deshalb, weil beides für jedermann ein- den. Erstens und trivialerweise deshalb, sichtig zu machen wäre, sondern schlicht weil er freiwillig und d.h. ungenötigt dankt. deswegen, weil es zur Ontologie (oder Zweitens insofern, als sein Dank nicht nur wenn man lieber will: zur Grammatik) der dem Glauben, sondern auch der diesem Dankbarkeit gehört, dass deren Grund und zugrunde liegenden Tatsache korrespon- Sinn zwar nicht zwangsläufig nur, wohl diert, dass ihm, dem Dankenden, das Ver- aber für jeden faktisch Dankenden selber dankte – als ein solches – nicht genom- unabweisbar ist. Es scheint müßig, den men werden kann. Wenn uns, wie wir ge- Dankbaren von der Unsinnigkeit seines sehen haben, etwas nur als Beanspruch- Dankes überzeugen zu wollen, nicht aber, tes genommen oder aber mit dem An- den Rechtsansprüche Usurpierenden eben spruch, von ihm verschont zu bleiben, zu- dieser Usurpierung zu überführen. Und gefügt werden kann, so dass wir umge- dies hängt weniger an der Reflexivität als kehrt im Blick auf all das, was uns ge- an der Perspektivität des Dankes: Wir dan- nommen oder zugefügt werden kann, ei- ken für etwas als Geschenk; ein Geschenk nen Anspruch geltend gemacht haben müs- aber muss der Beschenkte nicht nur als sen (entweder den, es zu besitzen, oder solches, sondern auch als ein ihm gewähr- den, von ihm verschont zu bleiben); und tes, bestimmtes und zugeeignetes anneh- wenn ferner kein Beanspruchtes ein Ver- men. Wenn aber feststeht, dass sich et- danktes und umgekehrt kein Verdanktes was als Geschenk Empfangenes de facto ein Beanspruchtes sein kann, dann kann im Besitz der dankenden Person befindet uns nichts von dem, was wir mit Dank oder diese es zumindest als ein solches empfangen, genommen oder aber sein erfährt und aneignet, dann kann nicht mit Vorenthalt (i.S. eines Leidensanlasses)

246 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 zugefügt werden. Wir sind dann frei nach windung und Aufhebung derjenigen Be- dem Maß und der Reichweite dessen, dingungen ausweisen lässt, die der Mög- wofür wir – jedenfalls im Blick auf unsere lichkeit existentiellen Scheiterns zugrunde eigene Person – zu danken vermögen. liegen. Ebenso wenig wird hier der An- Drittens erscheint der Dankende auch im spruch der Nachweisbarkeit, erst recht Blick auf die Eigenart des Dankes als nicht der des faktischen Nachweises er- Handlungs- oder Entscheidungsvollzug als hoben, dass diese Haltung nur möglich frei. Denn dieses Attribut verdient jeder, und sinnvoll ist, wenn und insofern sie als freilich auch nur derjenige Handlungs- eine auf ein personales Gegenüber gerich- oder Entscheidungsvollzug, durch den die tete gedacht wird.33 Bewusst offen gelas- Gewährung der Möglichkeit aufrechterhal- sen wird drittens die Frage, ob sinnvoller ten wird, ihn weiterhin zu vollziehen. Und Weise nur (ein theistisch-personal gedach- diese Bedingung ist ihrerseits immer (und ter) Gott Adressat des Dankes, zumindest möglicherweise auch nur) dann erfüllt, aber jener besonderen Form von Dank- wenn der betreffende Akt als Dank, d.h. barkeit sein könne, kraft derer sich des- im Bewusstsein eines – seinerseits freien sen Subjekt auf das Gegeben- und und ungeschuldeten – Gewährtseins sei- Bewahrtsein, die Zielbestimmung sowie ner Ermöglichungsbedingungen durch ein das eschatologische Gelingen des eigenen anderes vollzogen wird. Der Dankende ist Daseins im ganzen richtet. Schließlich und frei, wenn und insofern er die Bedingun- viertens ist die Richtigkeit meiner Überle- gen seines Vollzuges, als eines seinerseits gungen unabhängig von einer Antwort auf freien, in diesen mit aufnehmen kann. die sicherlich nahe liegende Frage, ob, in- Schließlich und viertens gelangt ein Ge- wieweit und unter welchen Bedingungen schenk, als solches nämlich, allein durch die Haltung des ‚Existenz bestimmenden’ den Dank des Beschenkten selbst in des- Dankes überhaupt eingenommen bzw. sen ‚Besitz’ und behält auch nur kraft die- realisiert werden kann. ser Bedingung die Eigenschaft, ihm zu ‚ge- Tatsächlich behauptet wird dem gegen- hören’. Auch hier kann in einem phäno- über: erstens, dass sich die Grundhaltung menologisch präzisen Sinne von Freiheit der Dankbarkeit Gott gegenüber als die gesprochen werden: Der Dank steht voll- reale Möglichkeit der Überwindung und ständig in der Macht des Dankenden; denn Aufhebung der Bedingungen existentiel- er richtet sich auf etwas als Geschenk, und len Scheiterns hinreichend, wenn auch nicht einzig und allein kraft seines Empfangen- eo ipso notwendig bedingend aufweisen werdens als eines solchen, und d.h. eben lässt; zweitens, dass der Gottesglaube, je- im Medium des Dankes, kann etwas Ge- denfalls in seiner spezifisch christlichen schenk sein. Form, seinerseits hinreichende Bedingun- gen für die Möglichkeit, jene Haltung einzu- V. Ausblick und Schluss nehmen, bereit stellt; drittens, dass Kier- 1. Die voran stehenden Überlegungen sind kegaard beiden zuletzt genannten Behaup- weder von der Behauptung logisch abhän- tungen zustimmen würde, diese bzw. ihre gig noch mit dieser faktisch verbunden, Erläuterung mithin umgekehrt als Inter- dass sich Dankbarkeit als einzig real mög- pretament der durch ihn vertretenen liche und / oder denkbare Form der Über- Selbstverwirklichungsidee dienen können

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 247 (jedenfalls insoweit diese sich im Horizont gelten. Selbstverständlich liegt mit dieser jener beiden Aussagen explizieren lässt34 ); Differenz kein unüberwindbarer Dissens schließlich und viertens, dass die genann- vor, insofern der genannte Zusatz erstens ten Behauptungen, jedenfalls in diesem mit der von mir behaupteten These logisch begrenzten Sinn und Umfang, plausibel kompatibel ist und ich Kierkegaard zwei- sind. tens darin zustimmen würde, dass sich Kierkegaard selbst geht freilich über die dieser Zusatz allein als dezidiert (christ- zwei von mir zur Diskussion gestellten lich-)dogmatische Behauptung aufrecht Thesen hinaus. Dies lässt sich am syllo- erhalten, nicht aber auf rein argumentati- gistisch komprimierten Duktus seiner im vem Wege plausibel machen lässt. Ent- Voranstehenden en détail rekonstruierten sprechendes gilt für die Verknüpfung von Argumentation deutlich machen, deren Gottesglaube, Selbstverwirklichung und Plausibilität bezüglich der Selbstverwirk- Dankbarkeit. Folgt man meiner Argumen- lichungsproblematik auf mindestens fünf tation, so ergibt sich: Prämissen beruht: (7) Dankbarkeit für das Gegeben-, Be- (1) Keine mögliche Selbstverwirklichung wahrt- und Bestimmtsein der eigenen Exi- und kein mögliches Gelingen menschli- stenz im Ganzen bedingt die mögliche chen Existierens ohne Sich-Verstehen in Selbstverwirklichung des Dankenden hin- Existenz. reichend. (2) Kein mögliches Sich-Verstehen in Exi- (8) Der Gottesglaube bedingt die mögli- stenz im Medium der Sünde. che Dankbarkeit für das Gegeben-, Be- (3) Kein Mensch ohne (Möglichkeit und wahrt- und Bestimmtsein der eigenen Exi- Wirklichkeit der) Sünde. stenz im Ganzen hinreichend. (4) Keine mögliche Aufhebung der Sünde (9) Ergo bedingt der Gottesglaube die ohne Glaube. mögliche Selbstverwirklichung des Dan- (5) Kein möglicher Glaube ohne Gott.35 kenden hinreichend. (6) Ergo keine mögliche Selbstverwirkli- chung, kein mögliches Sich-Verstehen in Auch dieses Ergebnis radikalisiert Kierke- Existenz und kein mögliches Gelingen gaard, wenn ich recht sehe, durch eine menschlichen Existierens ohne Gott. Doppelspezifizierung, wobei im Blick auf Art und Ausmaß der faktischen Differenz 2. Während ich meinen eigenen Beweis- zu der von mir vertretenen Auffassung das anspruch im vorliegenden Argumentati- zuvor Gesagte gilt: onszusammenhang auf die Behauptung be- schränke, dass der Gottesglaube die Mög- (10) Dankbarkeit für das Gegeben-, Be- lichkeit menschlicher Selbstverwirklichung wahrt- und Bestimmtsein der eigenen Exi- hinreichend bedingt und in dieser Funkti- stenz im Ganzen bedingt die mögliche on auch auf bloßem Vernunftwege einsich- Selbstverwirklichung des Dankenden (hin- tig gemacht werden kann, geht Kierke- reichend und) notwendig. gaard einen Schritt weiter, indem er er- (11) Der Gottesglaube bedingt die mögli- klärt, jener müsse diesbezüglich als (hin- che Dankbarkeit für das Gegeben-, Be- reichende und) notwendige Bedingung wahrt- und Bestimmtsein der eigenen Exi-

248 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 stenz im Ganzen (hinreichend und) not- quenz, dass X nur als gute Gabe ein von wendig. Gott im Medium der Dankbarkeit Emp- (12) Ergo bedingt der Gottesglaube die fangenes sein kann. Umgekehrt kommt mögliche Selbstverwirklichung des Dan- alle gute Gabe, als ein im Medium der kenden (hinreichend und) notwendig. Dankbarkeit Empfangenes, von Gott – mit der Konsequenz, dass X nur als ein von Erweitert man in diesem Sinne die in den Gott Kommendes gute Gabe, mithin ein Sätzen (1) – (6) komprimierte Argumen- im Medium der Dankbarkeit Empfange- tation Kierkegaards, so ergibt sich: nes sein kann.

(13) Keine mögliche Selbstverwirklichung 3. Dankbarkeit für das Gegeben-, Bewahrt- und kein mögliches Gelingen menschli- und Bestimmtsein der eigenen Existenz im chen Existierens ohne Sich-Verstehen in Ganzen bedingt die Möglichkeit mensch- Existenz. licher Selbstverwirklichung mindestens (14) Kein mögliches Sich-Verstehen in hinreichend; die Ermöglichung von Dank- Existenz ohne Dankbarkeit für das Gege- barkeit in diesem Sinne wird ihrerseits hin- ben-, Bewahrt- und Bestimmtsein der ei- reichend durch den (christlich konnotier- genen Existenz im Ganzen. ten) Gottesglauben bedingt. Wer dazu (15) Keine mögliche Dankbarkeit für das neigt, dieser schwachen Variante einer Gegeben-, Bewahrt- und Bestimmtsein der Kierkegaard-inspirierten Lesart der Idee eigenen Existenz im Ganzen im Medium von Selbstverwirklichung zuzustimmen, der Sünde. sollte um willen einer realistischen Ein- (16) Kein Mensch ohne (Möglichkeit und schätzung ihrer philosophischen Tragwei- Wirklichkeit der) Sünde. te und Tragfähigkeit nicht übersehen, dass (17) Keine mögliche Aufhebung der Sün- drei erkenntnistheoretisch, ethisch und de ohne Glaube. religionsphilosophisch zentrale Fragen mit (18) Kein möglicher Glaube ohne Gott. dieser noch nicht gar nicht berührt, ge- (19) Ergo keine mögliche Selbstverwirkli- schweige denn befriedigend beantwortet chung, kein mögliches Sich-Verstehen in sind. Erstens: Reicht Dankbarkeit hin, um Existenz, keine mögliche Dankbarkeit für menschliche Selbstverwirklichung nicht das Gegeben-, Bewahrt- und Bestimmts- nur möglich, sondern auch wahrschein- ein der eigenen Existenz im Ganzen und lich zu machen – wahrscheinlicher jeden- kein mögliches Gelingen menschlichen falls als konkurrierende Bestimmungs- Existierens ohne Gott. gründe der Praxis humaner Selbstverwirk- lichung? Zweitens: Wird die Annahme der Würde man das Resultat dieses Argumen- Existenz eines (theistisch vor verstande- tationszusammenhangs auf die Quintes- nen) Gottes unter Berufung auf die Fakti- senz der Kierkegaardschen Auslegungs- zität jener Dankbarkeit, deren Möglichkeit varianten zu Jak 1, 1736 übertragen, so er zumindest hinreichend bedingt, gleich- ergäbe sich in abbreviatorischer Zuspit- falls wahrscheinlicher als ohne diese – zung folgendes Ergebnis: Als ein von Gott oder wahrscheinlicher als im Rekurs auf im Medium der Dankbarkeit Empfange- einen konkurrierenden Beweis- und Be- nes ist alles gute Gabe – mit der Konse- weggrund? Schließlich und drittens: Lässt

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 249 sich, ob unabhängig oder abhängig von chenden Einträge der Papirer (z.B. Pap. VII 1A der Beantwortung dieser beiden Fragen, 134). Sind deutsche Parallelstellen in der von H. die Forderung als theoretisch und/oder Gerdes veranstalteten Auswahlausgabe (Sören Kierkegaard Die Tagebücher, Bd. 1-5, Düsseldorf praktisch rational rechtfertigen, an Gott 1962-1974) vorhanden, werden diese in Klammern zu glauben und / oder für das Gegeben-, mit angegeben (z.B. IV, S. 134). Bewahrt- und Bestimmtsein der eigenen 6 Die stärkere Lesart favorisiert, wohl zu Recht, J. Existenz im Ganzen dankbar zu sein? Wie Sløk: Danach hat Kierkegaards Anthropologie ihr sich im Einzelnen zeigen ließe, geht Kier- Zentrum „in der These, daß Mensch zu sein eine kegaard auch in der Beantwortung dieser Aufgabe“ und „die einzige Möglichkeit diese Auf- gabe zu lösen mit dem Christentum gegeben ist“ (J. Fragen eigenständige, ja streckenweise Sløk, Die Anthropologie Kierkegaards, a.a.O., S. höchst eigenwillige Wege. Diese abzu- 89; Hervorh. H.S.). schreiten ist hier indessen weder Raum 7 Aus Kierkegaards Sicht verbirgt sich hinter der noch Anlass. unauffälligen Formulierung ‚recht verstanden’ frei- lich jener Abgrund existenzdialektischer Konflikte und Komplikationen, deren Analyse und Therapie Anmerkungen: ein Großteil seines Oeuvres gewidmet ist. Denn die 1 Mit jeweils veränderter, aber m.E. durchaus kom- Schwierigkeiten, die beim Versuch entstehen, die patibler Akzentsetzung könnte man auch von einem Frage nach den Möglichkeitsbedingungen authenti- intrinsisch propositionalen (vgl. dazu R. Swinburne, schen Existierens zu beantworten, wurzeln aus sei- The Evolution of the Soul, Oxford 1986, S. 136f, ner Sicht zuletzt ausnahmslos in der Schwierigkeit, 285, 293) oder symbolisch-semiotischen Grundzug erkennen und anerkennen zu können, dass diese sprechen. Frage mit der nach den Bedingungen des Christwer- 2 Damit ist noch keine Verhältnisbestimmung von dens de facto zusammenfällt. Dabei stellt sich, wie Selbstverwirklichung und Identität (i.S. von A = A, im Folgenden en détail zu zeigen sein wird, heraus, im Unterschied zu A = B) gewonnen, die eine ge- dass streng genommen nur derjenige die zuerst ge- sonderte Analyse erfordern würde. Soviel scheint nannte Frage zu stellen vermag, der sie bereits be- immerhin unbestreitbar: Jede Form von Selbstver- antwortet hat: indem er Christ wurde. Umgekehrt wirklichung schließt die (Aufrechterhaltung und/oder kann genau genommen nur derjenige die Frage be- Genese der) Identität dessen mit sich selber ein, der antworten, der sie (noch nicht oder) nicht mehr stellt. sich selbst verwirklicht, aber nicht jede – vielmehr 8 Vgl: dazu H. Schulz, Art. Søren Aabye Kierke- einzig und allein die personale – Form von Identität gaard, in: Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der setzt (den gelingenden Vollzug von) Selbstverwirk- Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, lichung voraus. hrsg. v. J. Nida-Rümelin u. M. Betzler, Stuttgart 3 Ich komme auf diesen Punkt gegen Ende meines 1998, S. 460-469 (hier: S. 463ff). Textes noch einmal zurück. 9 Anders gesagt: Mit der als Streben nach Selbst- 4 J. Sløk, Die Anthropologie Kierkegaards, Ko- verwirklichung reformulierbaren Frage ‚wie kann ich penhagen 1954, S. 144 (Hervorh. H.S). dem/meinem gegebenen Leben unbedingte Gültig- 5 Kierkegaards Werke werden im Folgenden nach keit verleihen?’ unterstellt X erstens, dass er fak- der Hirsch-Ausgabe (Sören Kierkegaard Gesam- tisch imstande ist, dies zu tun; zweitens, dass er ein melte Werke, hg. v. E. Hirsch, Abt. 1-36, Düssel- Interesse an diesem Tun hat, so dass im Streben dorf 1950-1969) zitiert, und zwar nach Abteilungs- nach einer Antwort sowie im Versuch, diese in die und Seitenzahl (z.B. 2/3, S. 134). Hinzugefügt wer- Tat umzusetzen, eine ebenso dringliche wie undele- den, soweit vorhanden, die entsprechenden Belege gierbare Aufgabe liegt; schließlich und drittens, dass aus Søren Kierkegaards Skrifter, hg. v. Søren Kier- seinem faktischen Lebensvollzug ohne jenen Rechts- kegaard Forskningscenteret Kopenhagen, Kopen- anspruchs bzw. dessen eigenhändig realisierte hagen 1997ff (z.B. SKS 4, S. 113). Journalbelege Durchsetzung die gesuchte Gültigkeit fehlt. beziehen sich nach Möglichkeit ebenfalls auf die 10 Keineswegs deckungsgleiche, aber in der Sache Seitenzahlen der Skrifter, ansonsten auf die entspre- durchaus kompatible und weiterführende Überle-

250 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 gungen zum Verhältnis von Selbstverwirklichung und des Sündenfalls in Anspruch nimmt (vgl. 11/12, S. Wunsch finden sich in H.G. Frankfurt, Freiheit und 39-50 / SKS 4, S. 347-356). Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hg. v. M. 15 Dass alle Menschen faktisch erst als Sünder Betzler u. B. Guckes, Berlin 2001, S. 203-210 u. Mensch werden, ist laut Vigilius eine, und zwar un- S. 230f. verzichtbare Verallgemeinerung aus der Sicht der 11 Dass man, zugespitzt formuliert, nicht, zumindest christlichen Dogmatik. Diese erklärt (im Unterschied aber nicht bewusst verzweifeln kann, ohne zu hof- zu Metaphysik, Ethik und Psychologie) die Sünde fen, ist selber Element und Inzitament jener Verzweif- bzw. Erbsünde damit, „daß sie sie voraussetzt“ (11/ lung. Der Stachel der Verzweiflung ist die Hoffnung, 12, S. 17 / SKS 4, S. 327) – als allgemeine nämlich. der sie nicht entraten kann – schon im Versuch zu 16 Vgl. zur Unterscheidung und Verhältnisbestim- leugnen, dass sich dies so verhält. Und möglicher- mung dieser drei Stufen des Selbst: H. Schulz, weise gilt Entsprechende auch umgekehrt – für den Eschatologische Identität. Eine Untersuchung über Hoffenden. das Verhältnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall 12 Damit ist einstweilen noch keine bestimmte Lö- bei Sören Kierkegaard, Berlin/New York 1994, S. sung des Problems präjudiziert: Diese kann im Ein- 519f u. S. 522-528. zelfall sowohl in der demütigen Übernahme des 17 Climacus verzichtet auf eine Erläuterung des be- Pönitenzgeschicks bestehen wie in dessen freimüti- haupteten Widerspruches. Ich denke, es steckt fol- ger Leugnung. Beide Lösungen sind nach Kierke- gende Überlegung dahinter: Wenn die Augenblicks- gaard möglich und legitim – freilich nur im und kraft prämisse das Offenbarungspostulat tatsächlich ein- des Glauben(s). schließt, dann muss deren Adressat nicht nur als 13 Vgl. 24/25, S. 9. Diese Verknüpfung von Gottes- kommunikationsunfähig, sondern auch als -unwillig hypothese und Verzweiflungsform sollte nicht als gedacht werden (vgl. 10, S. 11f / SKS 4, S. 222). anthropologischer Gottesbeweis missverstanden, Die Mitteilungsinitiative kann folglich nur vom Mit- vielmehr rein phänomenologisch interpretiert wer- teilenden selbst, d.h. von Gott ausgegangen sein. den: Behauptet wird danach lediglich, dass das Mit- Unter dieser Voraussetzung aber muss die Annah- setzen des setzenden Grundes ein integrales, dabei me, dass derselbe Gott, der nun, nachdem durch fraglos nur widerstrebend eingestandenes Moment das Verschulden seines Gegenübers die Beziehung in der Selbsterfahrung des (trotzig) verzweifelten bereits radikal gestört ist, aus völlig freien Stücken Bewusstseins darstellt. Mehr noch: Dass der trotzi- (und d.h. aus Liebe, vgl. ebd., S. 22 / SKS 4, S. ge Versuch, sich von der Macht des setzenden Grun- 232) die Initiative zur Rückgewinnung des gegen- des los zu reißen, an diese bzw. die nolens volens seitigen Einverständnisses ergreift, ursprünglich, d.h. eingestandene Voraussetzung ihrer Realität im Ge- vor und unabhängig von jener Verschuldung, die genteil gebunden bleibt, bildet geradezu den Sta- Möglichkeit eines Einverständnisses gerade verhin- chel jener Verzweiflungsform, ja im Falle der rück- dert hätte bzw. hätte verhindern wollen, als wider- haltlosen Anerkennung dieses Sachverhalts auf Sei- sprüchlich gelten. ten des verzweifelten Bewusstseins dessen fakti- 18 Denn von einem Lehrer kann hier streng genom- schen Kulminationspunkt. In diesem Sinne zitiert der men nicht mehr gesprochen werden: vgl. 10, S. 13 / Ästhetiker A in Entweder/Oder I eine Passage aus SKS 4, S. 223. den Rittern des Aristophanes – hier freilich mit ‚Be- 19 Vgl. zu Begriff und Funktion des Gleichzeitigkeits- weis’-Absicht: „Demosthenes. Idole! glaubst du in begriffs im Kontext der Brocken: 10, Kap. 4 u. 5 / allem Ernst an Götter noch?/ Nikias. Ei freilich!/ SKS 4, S. 258-271 u. S. 287-306. Zum Vergleich: Demosthenes. Was für Beweise hast du denn da- 26, S. 61-66. für?/ Nikias. Weil mich die Götter hassen! Ist das 20 Wenn der Ethiker in Entweder/Oder II erklärt, nicht genug?/ Demosthenes. Ich bin besiegt.“ (1, S. sein Freund, der Ästhetiker A, könne seiner Ver- 39f / SKS 2, S. 45f) zweiflung nur so Herr werden, dass er diese, als 14 Vgl. 24/25, 21, wo Anticlimacus von der „Angst, solche nämlich, wählt (vgl. 2/3, S. 224 / SKS 3, S. welche die Verzweiflung ist“, spricht, letzterer mit- 203), dann folgt daraus, dass die Leugnung der hin diejenige Stimmung zugrundelegt, die Vigilius Verzweiflung deren Möglichkeit notwendig bedingt. Haufniensis im Begriff Angst als Übergangskate- In diesem Sinne ist umgekehrt der Glaube christlich gorie für die psychologisch-approximative Erklärung gesprochen mit der Fähigkeit koextensiv, die eige-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 251 ne Verzweiflung Sünde zu nennen – er schließt 28 Auch die faktisch unerfüllt gebliebene (oder sich m.a.W. diese Fähigkeit i.S. einer notwendigen als unerfüllbar erweisende) Daseinsmöglichkeit er- Ermöglichungsbedingung seiner selbst mit ein. scheint uns, im Medium der Reue nämlich, als eine 21 Vgl. dazu 24/25, 10 u. 134. Demnach liegt Glau- illusionär bzw. zu Unrecht beanspruchte. be genau dann vor, wenn das Selbst, „indem es sich 29 Demnach kann streng genommen erst diejenige zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein Daseinsform als gelungen gelten, in dessen Vollzug will, ... durchsichtig in der Macht [gründet], welche die Möglichkeit des Scheiterns aufgehoben ist. es gesetzt hat“ (ebd., S. 10). 30 Gesetzt also, die Bestimmung unseres Daseins 22 Dass die Selbstwahltheorie des Ethikers in Ent- bestünde i.S. vollkommener Selbstverwirklichung weder/Oder II auf einer strukturell analogen Gedan- darin, es als ganzes mit Dankbarkeit empfangen zu kenfigur basiert, habe ich zu zeigen versucht in: H. können; gesetzt ferner und in Übereinstimmung mit Schulz, Eschatologische Identität, a.a.O., S. 253- dem bisher Gesagten, dass nichts Selbstverständli- 257. ches ein mit Dank Empfangenes sein kann (und 23 Kierkegaard unterscheidet bekanntlich „drei Exis- umgekehrt!), dann folgt daraus, dass die Bestim- tenzsphären: die ästhetische, die ethische und die mung unseres Daseins i.S. vollkommener Selbstver- religiöse. Diesen entsprechen zwei Grenzgebiete wirklichung jedenfalls immer auch darin bestünde, (Confinien): die Ironie ist das Grenzgebiet zwischen es vollständig zu ent-selbstverständlichen, ihm jede dem Ästhetischen und dem Ethischen; der Humor Selbstverständlichkeit im Blick auf dasjenige zu rau- ist das Grenzgebiet zwischen dem Ethischen und ben, worauf wir i.S. je individueller Selbstverwirkli- dem Religiösen“ (16/2, S. 211 / SKS 7, S. 455; chung immer schon unmittelbar Anspruch erheben vgl. 15, S. 507 / SKS 6, S. 439). Zur Unterschei- und erheben zu dürfen glauben. Dankbarkeit wäre dung zwischen Religiosität A und B vgl. 16/2, S. danach diejenige Grundhaltung oder Daseinsform, 266-271 / SKS 7, S. 505-509. in der mit der Aufhebung jeglicher Selbstverwirkli- 24 Eben deshalb kann aus Kierkegaards Sicht das chungsansprüche auch die der Möglichkeit des Christentum auch nicht ‚geradewegs’, nämlich als Scheiterns eben dieser Ansprüche notwendig ein- vernunftgemäß empfohlen bzw. zum Gegenstand herginge. Nur scheinbar paradox, könnte Selbst- einer philosophischen Apologie werden. Als Para- verwirklichung erst da gelingen, wo sie nicht länger dox ist und bleibt der Gottmensch für alle Zeiten ein beansprucht, dieser Anspruch umgekehrt erst da zu „Zeichen des Widerspruchs“ (26, S. 119); als sol- Recht bestehen, wo auf ihn verzichtet wird. ches macht er ‚Herz und Sinn’ derer offenbar, die 31 Diese Restriktion auf die Perspektive der ersten mit seiner bzw. mit der in ihrer Paradoxalität eo ipso Person geht freilich mit einer irreduziblen Intransiti- Ärgernis erregenden Botschaft des christlichen Glau- vität des Dankes einher: Dankbar sein kann ich recht bens konfrontiert werden, dass er der Inkarnierte, verstanden nur für mein eigenes Dasein (oder ge- mithin derjenige ist, in dem Gott Mensch bzw. das nauer: für ein mir Geschenktes). Für das eines an- Ewige zur Rettung des Menschen zeitlich wurde. deren kann ich allenfalls im Verhältnis zu meinem 25 Vgl. dazu vor allem: K. Schäfer, Hermeneutische eigenen dankbar sein. Nicht dankbar sein kann ich Ontologie in den Climacus-Schriften Sören Kierke- für dessen Dasein an sich bzw. in seiner speziellen gaards, München 1968, S. 44ff; H. Schulz, Eschato- Beschaffenheit (die unter anderem das Selbstver- logische Identität, a.a.O., S. 477-492. hältnis des anderen einschließt). Und ebenso wenig 26 Vgl. Pap. X 3A 371 (IV, S. 85): „Die Bedingung kann und darf ich für die Welt im Ganzen (bzw. für die Rettung eines Menschen ist der Glaube dar- deren Beschaffenheit im Einzelnen) dankbar sein. an, daß es überall und in jedem Augenblick unbe- Vgl. dazu D. Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, dingten Beginn gibt.“ in: Ders., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum 27 Vgl. zu dieser dritten Anspruchsdimension H. Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stutt- Schulz, Der Traum des wahren Bewusstseins. Zur gart 1999, S. 152-193 (hier: S. 187f). Aktualität der Religionskritik Ludwig Feuerbachs, 32 D. Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, a.a.O., in: I.U. Dalferth / H.-P. Grosshans (Hg.), Kritik der S. 185. Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philoso- 33 Ich neige dazu, Ernst Tugendhat in diesem Punkt phischen und theologischen Aufgabe, Tübingen Recht zu geben, der im Gegenzug zur Auffassung 2006, S. 117-144 (hier: S. 130f). Dieter Henrichs dafür votiert, dass die Idee der

252 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Dankbarkeit semantisch, phänomenologisch, ethisch Zum Autor: und religiös nur unter der Voraussetzung sinnvoll sein Prof. Dr. Heiko Schulz lehrt evangelische kann, dass die entsprechende Haltung als auf ein Theologie in Essen und ist Mitherausge- personales Gegenüber gerichtet gedacht wird: vgl. E. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, ber der neuen Deutschen Sören Kierke- München 2007, S. 195-198. Dass damit freilich gaard Edition. Neben seinem fundamen- (auch und gerade aus der Sicht Tugendhats) über taltheologischen Werk Theorie des Glau- Möglichkeit, Sinn und Rationalität dieser Haltung bens (2001) hat er zahlreiche Aufsätze insbesondere dann noch nichts entschieden ist, wenn zum Werk Sören Kierkegaards veröffent- sie sich auf Gott richten soll, versteht sich von selbst. licht. 34 Hinweise zur (primär ethisch-religiösen) Funkti- on und Bedeutung der Dankbarkeit finden sich vor allem in Kierkegaards erbaulichen Reden zu Jak 1, 17-22: vgl. 2/3, S. 407-424 / SKS 5, S. 41-56; 7-9, 22-56 / SKS 5, S. 129-158; vgl. ferner SKS 19, S. 206; SKS 19, S. 219 (I, S. 261) sowie Pap. X 5A 81, S. 93. Auf das Strukturmodell des Selbst in der Krank- heit zum Tode hat den Begriff der Dankbarkeit in er- hellender Weise bezogen: P.S. Minear, Thanksgiving as a Synthesis of the Temporal and the Eternal; in: H.A. Johnson / N. Thulstrup (Hg.), A Kierkegaard Critique. An International Selection of Essays Interpreting Kierkegaard, New York 1962, S. 297-307. 35 Gemeint ist hier der christliche Glaube, und zwar in seiner spezifisch protestantischen Selbstausle- gung als unbedingtes Vertrauen in die jedem Glau- benden als einem solchen geltende Heilszusage Gottes (wobei diese sich auf die an Tod und Aufer- stehung Jesu manifest gewordene Möglichkeit der Teilhabe an Sündenvergebung und ewigem Lebens bezieht). Vgl. in diesem Sinne z.B. Luthers einschlä- gige Aussagen im Großen Katechismus, in: Die Be- kenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kir- che, Göttingen 19798, S. 560-572 u. S. 647-653. Argumentationslogisch entscheidend ist dabei, dass der Sünder, als solcher, die Haltung unbedingten Vertrauens nach protestantischem Verständnis nicht aus eigener Kraft zu generieren vermag – und zwar vor allem deshalb nicht, weil er sie de facto gar nicht generieren will bzw. wollen kann (vgl. dazu noch- mals die Bekenntnisschriften, a.a.O., S. 73 (hier = CA XVIII)). Gott ist nach protestantischem Selbst- verständnis immer auch (wenn auch nicht ausschließ- lich) als Grund des Glaubens dessen Gegenstand, und in diesem sowohl logisch wie genetisch akzentu- ierbaren Sinn gilt eben: Kein möglicher Glaube ohne Gott. Dies entspricht aber in der Sache durchaus auch Kierkegaards Auffassung; vgl. z.B. 10, S. 56-60 / SKS 4, S. 261-264; außerdem oben Abschn. III / 4. 36 Vgl. Fußn. 33.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 253 Dr. Jürgen August Alt (Wachtberg) Selbstverwirklichung ohne Illusionen

1 Vorbemerkungen und andere Disziplinen beträchtliche Fort- In einer repräsentativen ALLBUS-Studie schritte erzielt, denen weitere folgen wer- aus dem Jahre 2002 wurden die Deutschen den. danach gefragt, wie sie sich eine lebens- werte Gesellschaft vorstellen. Die Antwor- 2 Selbstverwirklichung ohne Illusionen ten zeigen, dass wir eine wohlhabende Ge- – eine Illusion? sellschaft wollen, in der selbstbewusste, Die meisten Leser dieser Zeitschrift und kritische Menschen leben, die füreinander auch viele andere Zeitgenossen erheben Sorge tragen, fleißig sind, Regeln befol- den Anspruch, Illusionen zu vermeiden gen – und sich selbst verwirklichen. Eine oder möglichst wenige zu hegen. Doch Erhebung des Jahres 2004 präsentiert ei- sind wir Menschen dazu überhaupt in der nen Zusammenhang zwischen Alter, Bil- Lage? Vielleicht benötigen wir Illusionen, dungslaufbahn und dem Ziel „Selbstver- weil sie uns helfen, die Wirklichkeit leich- wirklichung“. Je jünger und gebildeter die ter zu ertragen. Es erscheint vernünftig, Befragten sind, desto wichtiger erscheint hierbei keine Entweder-Oder-Position zu ihnen die Selbstverwirklichung. Etwa 90% beziehen: Entweder hängt jemand an sei- der Schüler bzw. Studenten und 76% der nen Illusionen, oder er ist eine aufgeklärte Erwerbstätigen halten sie für erstrebens- Person. Vielmehr sollten wir mit der mensch- wert (Statistisches Bundesamt 20052/ lichen Neigung rechnen, sich selbst zu täu- 2006). Wie wichtig uns Selbstverwirkli- schen und Illusionen für bare Münze zu chung ist, belegen auch die vielen Publi- halten. Außerdem können Fehler auftre- kationen, die das Thema in der einen oder ten, wenn wir Illusionen aufdecken wol- anderen Weise behandeln. Offenbar kau- len. Was illusionär erscheint, kann sich fen wir gerne Bücher, die uns dabei hel- vielleicht als eine fruchtbare Spekulation fen wollen, die eigenen Möglichkeiten zu erweisen. entdecken und zu entfalten. Wer sich selbst Die Selbstverwirklichung ohne Illusionen verwirklicht, so die verbreitete Überzeu- ist also kein prinzipielles Projekt, sondern gung, führt ein Leben, das zufrieden und ein aufgeklärtes, das die menschlichen zuweilen sogar glücklich macht. Möglichkeiten und Schwächen berück- Darüber nachzudenken, wie das Leben sichtigt und Illusionen über die Neigung gelingen kann, ist schon lange keine Auf- zur Illusion vermeidet. gabe mehr, für die Philosophen allein zu- Aber womöglich sind diejenigen Men- ständig wären, sondern ein transdiszipli- schen glücklicher, die ihre Illusionen „zu- näres Problem. Was den Menschen Freu- lassen“ und sie „ausleben“? Zum Glück de bereitet, wie subjektives Wohlbefinden hilft uns die Wissenschaft, diese Frage zu entsteht, warum Einstellungen und Über- beantworten. Es gibt harmlose, weniger zeugungen dem Glück im Wege stehen harmlose und riskante Illusionen. Manche können – bei der Suche nach Antworten davon sind in ausgeklügelten Experimen- auf diese Fragen haben Neurowissen- ten untersucht worden, etwa die „Kontroll- schaften, Endokrinologie, Psychologie illusion“, die feste, aber dennoch falsche

254 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Überzeugung, bestimmte Ereignisse und ändern, dass das Leben besser gelingt? Abläufe unter Kontrolle zu haben. Wir nei- Die Antwort darauf lautet: Ja, im Prinzip gen dazu, die eigenen Kontrollmöglichkei- geht das; allerdings existieren hierbei gro- ten zu überschätzen (Bierhoff 20066; Hell ße individuelle Unterschiede. Die Möglich- u.a. 1993; Müsseler/Prinz 2004). Außer- keiten, das eigene Leben zu optimieren, dem entscheiden und handeln wir weni- sind ungleich verteilt. Häufig kommt es ger vernünftig, als wir gerne glauben. Das darauf an, Hindernisse zu beseitigen, die ist aber kein Grund, die Vernunft zu ver- das Leben beeinträchtigen: Krankheiten, abschieden, sondern eher ein Anlass, die psychische Störungen, finanzielle Sorgen, Vernunft zu pflegen. Denn vernünftig zu Angewohnheiten, Einstellungen und Über- denken, hilft uns bei der Selbstverwirkli- zeugungen. Nicht alle Hindernisse lassen chung. In einem populären (wissenschafts- sich beiseite schaffen, doch manche kön- nahen) Ratgeber steht, die gesündeste Art nen wir teilweise, andere sogar ganz aus zu denken sei eindeutig das rationale Den- dem Weg räumen. So gelingt es den mei- ken (Lazarus u. a. 2006). Diejenigen, die sten Betroffenen, irrationale Überzeugun- rational denken, haben bessere Aussich- gen und unbegründete Ängste mit Hilfe ten, realistische Ziele zu formulieren und von Verhaltenstherapien aufzudecken und diese auch zu erreichen. So vermeiden sie loszuwerden. Dann öffnen sich neue Spiel- Enttäuschungen und verbessern ihr Selbst- räume für die Gestaltung des Lebens. wertgefühl. Doch ein paar Einschränkun- gen sind hier durchaus geboten. Es scheint 3 Wege der Selbstverwirklichung nämlich auch „positive Illusionen“ zu ge- 3.1 „Erkenne Dich selbst!“ ben. So können diejenigen ihrem Bezie- Wenn wir von dem schillernden Begriff der hungsglück auf die Sprünge helfen, die Selbstverwirklichung1 ausgehen, scheint es ihren Partner bzw. ihre Partnerin ein wenig so zu sein, dass wir bei diesem Vorhaben schön färben, beispielsweise die Schwä- zwei Aufgaben lösen müssen: chen des anderen umdeuten. Auch maß- Erstens sollten wir das „Selbst“ kennen, voll illusionäre Kontrollüberzeugungen und also über uns, unsere Bedürfnisse und ein vorsichtig dosierter Optimismus ge- Fähigkeiten Bescheid wissen. Zweitens hen mit positiven Gefühlen einher und benötigen wir Strategien zur Verwirkli- motivieren in manchen Situationen dazu, chung, Strategien, die wir erlernen oder nicht zu früh aufzugeben. Unabhängig von erfinden müssen. den subjektiven Einschätzungen der Kon- Eine populäre Empfehlung lautet: Trete die trollmöglichkeiten trifft aber auch zu, dass Reise nach innen an, höre in Dich rein! objektive Gestaltungschancen zum Wohl- Diesen Ratschlag finden viele Leute plau- befinden beitragen, während objektive sibel, haben wir doch alle den unabweis- Kontrollverluste und Zwänge pathogen baren Eindruck, uns selbst nahe zu sein. wirken. Unsere Intuition sagt uns: Jeder kennt sich Eine wichtige Frage lautet, ob wir in ei- selbst am besten. Darüber hinaus sind vie- nem gewissen Umfang lernen können, ein le Menschen davon überzeugt, auf der besseres Leben zu führen, ein Leben, das Reise nach innen nicht nur Selbsterkennt- uns selbst zufriedener macht. Ist es mög- nis zu gewinnen, sondern der Wahrheit lich, sich (mit oder ohne Hilfe) so zu ver- überhaupt näher zu kommen. Eine altehr-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 255 würdige Position, Augustinus formuliert stellen, verweisen sie oft auf Erlebnisse sie so: oder Erfahrungen. Außerdem liefern die „Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein Erfahrungen und Befindlichkeiten Anhalts- bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt punkte dafür, was uns gut tut, was uns die Wahrheit“(Augustinus 1983, S. 123). Angst macht, erregt und begeistert (vgl. Doch die unabweisbare Erfahrung, sich Thorhauer 2006). Zum Beispiel machen selbst nahe zu sein, ist, zumindest teil- viele Menschen eine wunderbare Natur- weise, eine Täuschung. Die Hirnforschung erfahrung, wenn sie beobachten, wie die hat gezeigt, dass wir die allermeisten Vor- Sonne im Meer versinkt. Aber den Hypo- gänge, die unser bewusstes Leben, unse- thesen, die solche Erfahrungen – Erfah- re Gefühle und Erfahrungen ausmachen, rungen überhaupt – nahe legen, können überhaupt nicht bemerken. Und jene Aspekte wir nicht blind vertrauen. Diese Unter- unserer Existenz, die wir bemerken, wenn scheidung zwischen der bunten Welt der wir in uns hineinhören, sind uns nicht ein- Gefühle, Erfahrungen und Stimmungen fach gegeben. Vielmehr erkunden wir uns einerseits und den daran geknüpften Ver- selbst hypothesengeleitet. Und gerne fin- mutungen andererseits, ist eine wichtige den wir, was wir finden wollen, beispiels- Voraussetzung dafür, dass einigermaßen weise edle Antriebe und uneigennützige gelingt, was dieser kleine Aufsatz zum Motive. Kein Wunder also, dass Esoteri- Thema hat: die Selbstverwirklichung ohne ker, Calvinisten, Mystiker und Naturalisten Illusionen. auf jeweils ihre Weise fündig werden. So mag ein Esoteriker kosmische Energien 3.2 Bedingungen der Selbstverwirkli- entdecken, die ihm ein tiefes Vertrauen ein- chung flößen, während sich ein Mystiker Gott Bevor wir einige Wege der Selbstverwirk- nahe wähnt. Sicher gibt es zahlreiche Er- lichung diskutieren, werfen wir einen flüch- fahrungen, die wir mit allen Menschen tei- tigen Blick auf die Bedingungen, von de- len: Schmerzen, Ängste, optische Täu- nen das Projekt abhängt: schungen, sexuelle Empfindungen. Aber 1) materielle Bedingungen auch die lassen sich unterschiedlich deu- Dazu gehören etwa ökologische Gegeben- ten und bewerten. Falls wir mehr über uns heiten, die Infrastruktur, die sozioökono- (und andere Teile der Welt) wissen wol- mische Lage. len, dürfen wir nicht bei den Selbst- und 2) oganismische Bedingungen anderen Erfahrungen stehen bleiben. Wir Relevante organismische Bedingungen müssen vielmehr auf die Erkenntnisse zu- sind u.a. die Gesundheit, das Alter und rückgreifen, die Natur-, Sozial- und Gei- das Geschlecht. steswissenschaften über den Menschen 3) soziale Bedingungen gewonnen haben. Trotzdem tun wir gut Menschen verwirklichen sich als soziale daran, die Erfahrungen mit uns selbst, auf- Lebewesen, eine wichtige Rolle spielt die tauchende Gefühle und Stimmungen wahr- Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und zunehmen und wenn möglich zu genießen. die Qualität persönlicher Beziehungen. Erfahrungen können unser Leben bunt und 4) mentale Bedingungen reich machen. Wenn Menschen berichten, Das sind insbesondere Einstellungen, wie sie sich ihre Selbstverwirklichung vor- Werthaltungen und Weltbilder.

256 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Viele dieser Faktoren kann ein einzelner che der Ansichten zutreffen. Schädlich ist Mensch nicht oder nur unwesentlich be- es, eine der Theorien in eine persönliche einflussen. Um die Selbstverwirklichung Überzeugung zu verwandeln, an der wir zu realisieren, liegt es daher nahe, sich mit hängen. Damit geben wir unsere Gelas- denjenigen Bedingungen zu befassen, die senheit, unsere Ruhe auf, weil wir die wir verändern können. Genau dies war Theorie gegen Kritik verteidigen und mit der Ausgangspunkt antiker, hellenistischer der Angst leben müssen, sie könne eines Philosophen, die über das Glück nach- Tages widerlegt werden. Wir üben uns in dachten. Während die Welt sich nicht ent- Distanz, die souverän und gelassen macht. scheidend verändern lässt, so die These Diese Distanz hielt die Skeptiker nicht da- der Stoiker, unterliegen die Einstellungen von ab, kritische Argumente vorzutragen. und die Ansichten über die Welt unserer Gegen die Ideen der Stoiker erhoben sie Kontrolle. Dieser Befund eröffnet einen den Einwand, die Unbillen des Lebens Weg zum glücklichen Leben: könnten wir niemals völlig gelassen hin- Das Unverfügbare, das uns schicksalshaft nehmen, weil wir als sinnlich empfinden- widerfährt, müssen wir gelassen hinneh- de Wesen zwangsläufig darunter leiden. men. Das schaffen wir nach Ansicht der Unnötiges Leid lässt sich allerdings ver- Stoiker, wenn wir realistische Annahmen meiden, indem wir darauf verzichten, den wählen, keine unerfüllbaren Wünsche he- Schicksalsschlägen eine metaphysische gen und auf Hoffnungen verzichten. Dann Bedeutung, einen verborgenen Sinn zuzu- können wir niemals enttäuscht werden. schreiben. Beispielsweise werden Krank- Die Annehmlichkeiten des Lebens, Wohl- heiten bedeutungsvoller, wichtiger und be- stand und Zuwendung sollten wir maß- drohlicher, sobald wir sie als eine Strafe voll genießen, ohne uns von ihnen abhän- der Götter deuten. gig zu machen, sodass wir nicht leiden Anders als die antiken Glückslehren be- müssen, wenn wir sie verlieren. tont der Gedanke der Selbstverwirkli- Epikur betont den Wert sinnlicher Freu- chung die Machbarkeit des eigenen Le- den und empfiehlt, Furcht und Unlust zu bens und die Chance, die Voraussetzun- vermeiden, etwa die Furcht vor dem Tode. gen für Glück herzustellen. Dennoch wir- So sollten wir uns klarmachen, dass der ken die Thesen der hellenistischen Philo- Tod keine große Bedeutung für uns hat; sophie bis in unsere Gegenwart hinein. sobald er eintritt, existieren wir ja nicht Viele Philosophen haben sie aufgegriffen, mehr. wie z.B. Bertrand Russell in seinem Buch Die Philosophen der skeptischen Schule, „Die Eroberung des Glücks“. Die Erkennt- von (365-275) gegründet, brach- nis, dass irrationale Überzeugungen das ten weitere Ideen ins Spiel. Sie bezweifel- Leben beeinträchtigen können, wird heut- ten, dass wir unsere Einstellungen und zutage auch therapeutisch genutzt. Beispie- Ansichten frei wählen können, hängen sie le für schädliche Ideen sind die folgen- doch vom Zeitpunkt der Geburt und den den: Einflüssen der Erziehung ab. Weil das Versuche stets, perfekt zu sein! Wissen unsicher zu sein scheint und wi- Es ist wichtig, dass alle mich mögen. dersprüchliche Theorien kursieren, emp- Wenn mich jemand wirklich liebt, spürt fehlen die Skeptiker, offen zu lassen, wel- er, was ich brauche.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 257 Auf Gemeinheiten kann man nur mit Em- nung einschließen. Religionen stehen „in pörung reagieren. einem engen Zusammenhang mit dem Fehler muss man verbergen – es kommt menschlichen Glücksstreben“ (Albert darauf an, immer im Recht zu sein. 2000, S. 186). Geh nach Deinem Gefühl, dann kann Dir Zu diesen Überlegungen passt, wenn Men- nichts passieren! (vgl. Lazarus u.a. 1996) schen zum Beispiel behaupten, für ihre Zwar ist es schwierig, Meinungen zu än- Familie da zu sein, an den Freuden und dern. Aber die hier aufgeführten Ideen und Sorgen ihrer Kinder teilzuhaben oder in zahlreiche andere, die unsere Selbstver- der Freiwilligen Feuerwehr Dienst zu tun, wirklichung beeinträchtigen, lassen sich um Schäden in ihrer Gemeinde abzuwen- nachweislich (mehr oder weniger) korri- den. Andere schaffen Kunstwerke mit der gieren. Wie das möglich ist, formuliere ich Hoffnung, dass die Werke über das eige- hier in Form einer schlichten Anleitung: ne Leben hinaus Bestand haben2. 1) Prüfe die Konsequenzen, die Deine Wie Thomas Nagel gezeigt hat, pflanzt Überzeugung hat, finde heraus, wie sie sich sich die Sinnfrage fort. Wenn jemand den auswirkt. Wie reagieren Deine Freunde, Sinn seines Lebens an die Familie bindet, Kollegen usw. auf Dein Verhalten, das mit kann man weiterfragen: Welchen Sinn hat der Überzeugung einhergeht? Welche Be- die Familie? Um ihr wiederum einen Sinn findlichkeiten tauchen dabei in Dir auf? zu verleihen, müssen wir die Familie ir- 2) Probiere eine konkurrierende Idee, die gendwo einbetten, vielleicht in die Mensch- Dir ein anderes Verhalten nahe legt! Was heit, was prompt die Frage nach dem Sinn geschieht dann? der Menschheit aufwirft. Die Menschen 3) Ersetze die ursprüngliche Überzeugung könnte man im Strom des Lebens aufge- durch eine andere, die besser funktioniert, hen lassen. Und schon stellt sich die Fra- die Konsequenzen hat, die Du positiv be- ge: Welchen Sinn hat das Leben überhaupt, wertest! das Leben auf dem Planeten Erde? Schädliche Ideen zu korrigieren, garantiert Die (monotheistischen) Religionen versu- nicht die Selbstverwirklichung, aber die chen, dem Ganzen, der gesamten Wirk- Bedingungen hierfür werden verbessert. lichkeit, einen Sinn zu geben – durch Ein- bettung im Absoluten. Auch Kritiker ei- 3.3 Sinn finden ner religiösen Weltdeutung dürfen einräu- „Hat mein Leben einen Sinn?“ Alle Ant- men, dass religiöse Menschen „es mitun- worten, die man üblicherweise auf diese ter leichter haben“ (Albert 2000, S.186), Frage erhält, haben eines gemeinsam: Sie ihr Leben als sinnvoll zu empfinden (Se- verweisen auf etwas, das über das Indivi- ligman 2003, S. 106-110). Odo Marquard duum hinausreicht. Der subjektive Ein- warnt vor allzu hohen Sinnansprüchen, druck, ein sinnvolles Leben zu führen, die leicht Enttäuschungen nach sich zie- entsteht durch Teilhabe oder Einbettung. hen, weswegen er „eine Diät in Sachen Das gilt auch für Glückserfahrungen, die Sinnerwartung“ vorschlägt. Wie Bertrand ebenfalls in Situationen der Teilhabe oder Russell kommt auch Marquard zu dem der Einbettung auftreten. Und die religiö- Ergebnis, dass es töricht wäre, die klei- sen Sinnangebote verheißen Glück, indem nen Sinn-Antworten zu verachten und die sie den Menschen in eine sinnvolle Ord- Lebensbejahung an einen – wie immer

258 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 konstruierten – absoluten Sinn zu binden. ge zu wandern. Manche Wissenschaftler, Anstatt zu überlegen, wonach Menschen wie der Soziobiologe Edward Wilson streben sollten, lassen wir sie noch ein- (1995), vermuten hierbei eine im Verlauf mal zu Wort kommen, diesmal die Jugend- der Evolution entstandene Neigung, die lichen. Was halten sie selbst für erstrebens- Nähe von Naturräumen zu suchen, die wert, woran wollen sie teilhaben, worin unseren Vorfahren günstige Lebensbedin- wollen sie sich einbetten? Die 14 bis 29jäh- gungen boten: Anhöhen, von denen sie rigen, die in einer Allensbach-Studie da- hinabblicken konnten, oder Gewässer und nach gefragt wurden, antworten so: Für fruchtbare Täler. 92 % sind die Freunde, für 66 % ist die Unsere Erlebnisse in der Natur hängen mit Familie wichtig. 75 % wollen Spaß haben, kulturellen Gepflogenheiten zusammen. 69 % streben nach Erfolg im Beruf. 68% Wir erschließen, gestalten, inszenieren und schätzen die Unabhängigkeit, 56 % halten zerstören Teile der Natur. Als Touristen viel von Bildung, ebenfalls 56% wollen zum Beispiel dringen wir in Landschaften Neues lernen. 54 % wünschen sich sozia- vor, die vor einigen Jahrzehnten noch un- le Gerechtigkeit, 49 % Hilfen für andere. zugänglich waren. Auch unsere Erkennt- Für 11 % ist die Religion, für 7 % die po- nisse über die Natur können sich auf die litische Aktivität wichtig (FAS, 11. 6. 06). Erfahrungen und Stimmungen auswirken. Vergleichbare Daten liefert die Shell-Stu- Einerseits genießen wir Naturgegebenhei- die 2006. Auf einer Skala von 1 bis 7 (7 = ten heute unbeschwerter, weil wir hinter „außerordentlich wichtig“) erreicht „Freund- ihnen keine verborgenen Botschaften – schaft“ den höchsten Durchschnittswert, zum Beispiel Anzeichen für ein bevorste- nämlich 6,6 – gefolgt u.a. von „Partner- hendes Unglück – und keine geheimnis- schaft“( 6,4), „Eigenverantwortung“ (5,8), vollen Mächte vermuten. In Zeiten, in de- „Unabhängigkeit“ (5,7), „Sicherheit“ (5,5), nen die Wälder noch von bösen Geistern „Lebensgenuss“ (5,3). Links von der Ska- bewohnt wurden, empfanden die Men- lenmitte (= 4) liegen beispielsweise „Macht/ schen Furcht vor deren Treiben. Ande- Einfluss“ (3,9), „Gottesglauben“ (3,7), rerseits hat die Natur einen Teil ihres Zau- „Konformität“ (2,8). Unabhängig sein zu bers eingebüßt. Sie birgt keine tieferen – wollen, widerspricht nicht dem Streben für das Heil der Menschen bedeutsamen nach Teilhabe und Einbettung, weil Selbst- – Geheimnisse mehr.3 Mit den bösen Geis- verwirklichung die Unabhängigkeit ein- tern sind auch die guten verschwunden. schließt, nämlich als eine Chance, Teilha- Darüber hinaus zeigt uns die Wissenschaft, be und Einbettungen zu wählen, etwa dass Darwin Recht hatte, als er feststellte: Freunde, sinnliche Vergnügungen oder „Wir sehen das Antlitz der Natur heiter Bildungsangebote. erstrahlen“(Darwin 1995, S. 101) – doch in Wirklichkeit konkurrieren und kämpfen 3.4 Naturerlebnisse die Artgenossen untereinander um Res- Viele Menschen sind der Überzeugung, sourcen und zwischen den Arten gibt es Wohlbefinden und auch Glück in der Na- Räuber-Beute-Beziehungen, Parasitismus, tur zu gewinnen. Sie genießen es, aufs Super- und Hyperparasitismus. Eindrucks- Meer zu schauen, an einem verwunsche- volle Beispiele für diese Seite der Natur nen Fluss entlang zu radeln und im Gebir- findet man bei Dettner und Peters (20042).

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 259 Wenn wir uns an den Schönheiten der zwischen, dass Darwins Behauptung über Natur erfreuen, nehmen wir also das „Ant- das Antlitz der Natur zutrifft, aber wir litz“ wahr bzw. den schönen Schein. Aber müssen uns nicht ständig daran erinnern, deswegen brauchen wir auf Naturerlebnis- wenn wir in dieses Antlitz schauen. se nicht zu verzichten. Vergleichbar mit Kunstwerken ermöglichen uns bestimmte 3.5 Teilhabe an kulturellen Leistungen Aspekte der Natur ganz besondere Erfah- Obwohl auch Naturerlebnisse an kulturel- rungen. Sobald uns einschlägige Erkennt- le Voraussetzungen gebunden bleiben und nisse über die Natur in den Sinn kommen, wir Teile der Natur gestalten, ist es doch können die Naturerlebnisse möglicherweise sinnvoll, Naturvorgänge von kulturellen einen Teil ihres Zaubers verlieren. Doch Leistungen zu unterscheiden. Der Sternen- vielleicht ist das nicht zwangsläufig der himmel, eine Sonnenfinsternis, das Licht Fall, denn: „Die ‘Entzauberung’ findet auf des Vollmondes sind Naturphänomene, der Erklärungsebene statt, sie stiftet auf die unabhängig von der menschlichen Kul- der unmittelbaren Erlebnisebene keinen er- tur existieren. Und die Glühwürmchen, de- kennbaren Schaden. Erklären heißt nicht ren Flüge wir in lauen Sommernächten ver- wegerklären“ (Kanitscheider 2007, S. 28 folgen, sind Ergebnisse der Evolution. Das f). Allerdings trifft diese Behauptung am Wissen darüber, wie Sonnenfinsternisse ehesten auf körperliche Genüsse zu, etwa zustande kommen ist eine kulturelle Er- sexuelle Erlebnisse. Dagegen sind Erleb- rungenschaft. Wenn uns der Anblick der nisse in der Natur stärker durch unsere Glühwürmchen dazu anregt, in einem Annahmen bzw. Erwartungen beeinflusst Lehrbuch der Biologie das Kapitel über – und Naturerfahrungen können uns auch die Biolumineszenz bei Leuchtkäfern zu bestimmte Thesen nahe legen. Denken wir lesen, nutzen wir kulturelle Leistungen. An nur an den Eindruck der Erhabenheit beim Kultur teilzuhaben, erschließt Potenziale Anblick einer Gebirgslandschaft. Manche der Selbstverwirklichung. Personen berichten über religiöse Stim- Eine wichtige Quelle von intensiven Er- mungen und Erfahrungen der Geborgen- fahrungen bilden die Kunstwerke. Sie be- heit oder der Harmonie der Natur. Die An- rühren und irritieren uns, versetzen uns in nahmen, die mit derartigen Erlebnissen Stimmungen und rufen manchmal Glücks- korrespondieren, werden sehr wohl von gefühle hervor. Ein Bild, eine Kathedrale, der Entzauberung betroffen. Erklären eine Sinfonie erzeugen, so Gernot Böh- heißt in solchen Fällen eben doch weger- me (1995), Atmosphären, in die wir hin- klären4. Darwin, der während seiner frü- eingeraten können. Wie wir Kunst erleben, hen Reisen die Natur noch genießen konn- hängt aber auch von uns selbst ab, von te5, scheint mit zunehmendem Alter diese unseren Einstellungen, Vorerfahrungen Fähigkeit verloren zu haben. Dabei spiel- und momentanen Befindlichkeiten und von ten seine eigenen Theorien und Erkennt- unserem Wissen über die Künste. Die Be- nisse eine Rolle, die er selbst als enttäu- gegnung mit Kunstwerken kann dazu füh- schend einstufte. Bestimmt gab es hierfür ren, dass wir Naturgegebenheiten anders noch andere Gründe, insbesondere der wahrnehmen. Impressionistische Gemäl- Tod seiner Tochter sowie seine gesund- de mit Sonnenflecken veranlassen uns, die heitlichen Probleme. Zwar wissen wir in- Sonnenflecken in einer Landschaft be-

260 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 wusst anzuschauen, wir erkennen wieder, 2005). Selektionen sind unvermeidlich. was uns die Maler gezeigt haben. Die Be- Eine Lebensweise, so Popper, „kann mit schäftigung mit Bildern weckt vielleicht einer anderen fast in dem gleichen Sinne auch das Interesse an der Wahrnehmungs- unvereinbar sein, wie eine Theorie mit ei- psychologie – und führt uns so zu einem ner anderen logisch unvereinbar ist“ (Pop- weiteren Bereich der Kultur, nämlich der per 1979, S. 285 f)6. wissenschaftlichen Erkenntnis. Für viele Philosophen ist sie der Königsweg zu ei- 3.6 Selbstverwirklichung – einige ab- nem erfüllten Leben. „Das Leben der Er- schließende Thesen kenntnis ist das Leben, welches glücklich 1) Sich selbst zu verwirklichen, heißt nicht, ist, der Not der Welt zum Trotz“, behaup- das Selbst in den Vordergrund zu rücken. tet Wittgenstein (1984, S. 176). Das Glück Obwohl es vernünftig ist, die eigenen Be- der Erkenntnis hat viele Facetten. Gefüh- findlichkeiten und Bedürfnisse wahrzuneh- le der Zufriedenheit und Stolz stellen sich men, ist die Selbstverwirklichung keine Be- ein, wenn jemand zur Erkenntnis beiträgt, schäftigung mit dem Selbst. Vielmehr führt etwa in der Forschung erfolgreich ist. Der sie weg vom Selbst, über das Selbst hin- Nobelpreisträger Wolfgang Ketteler nimmt aus. Naturerlebnisse, Teilhabe an kulturel- in einem Interview dazu Stellung: len Errungenschaften und Vergnügungen „...man sieht etwas, was man nicht erwar- haben gemeinsam, dass wir uns dabei tet hat, und dann muss man es verstehen. selbst vergessen können. „Er lebt für sei- Das ist das höchste Gefühl, das ein Phy- ne Kunst.“ Oder: „Sie geht in ihrer Arbeit siker haben kann. Tiefe Einblicke in die auf“. Das sind Formulierungen, die die Natur, die Natur fordert einen heraus und Sache treffen. Wir gehen in etwas auf, das man findet vielleicht die Erklärung“ (Süd- wir für interessanter, bedeutsamer, reicher deutsche Zeitung 16.10.01, S. V2/9). halten als uns selbst. Wenn wir sinnliche Aber nicht nur denjenigen, die als Wis- Freuden erleben, gehen wir, meistens nur senschaftler tätig sind, winkt das Glück einige Momente lang, in den körperlichen der Erkenntnis – inzwischen gibt es sehr Empfindungen auf. Auch Sport und di- viele ehrenamtlicher Helfer, die für die verse Entspannungsübungen führen dazu, Wissenschaft unterwegs sind, die z.B. als dass wir nicht über uns grübeln, sondern Hobby-Ornithologen die Spuren seltener uns selbst vergessen. Vögel verfolgen. Alle, die wissenschaftli- 2) Wir sollten die Selbstverwirklichung che Arbeiten schreiben, Vorträge hören nicht an eine einzige Instanz binden, also und Bücher lesen, nehmen am Abenteuer ausschließlich daran, sexuelle Freuden zu der Erkenntnis teil. genießen oder mathematische Probleme zu Unsere Versuche, das eigene Leben zu lösen. Besser ist, mehrere Eisen im Feuer meistern, sind in mehrfacher Hinsicht be- zu haben, nicht alles auf eine Karte zu set- grenzt. Keinem Menschen stehen – aus zen. Selbstverwirklichung ist mehrdimen- den verschiedensten Gründen – die vie- sional. „Wer sich für vieles interessiert, len Möglichkeiten gleichermaßen offen. wird besser in der Welt zurechtkommen“ Außerdem lassen sich nicht alle Glücks-, (Russell 1980, S. 111). Sinn- und Tröstungsangebote in einer Le- 3) Selbstvergessenheit, Glücksgefühle und bensweise zusammenbringen (Zimmer Spaß treten häufig unerwartet auf – als er-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 261 freuliche Nebenwirkungen unseres Tuns. zogen, das besaß eine mysteriöse Erhabenheit“ Sie lassen sich kaum planen und schon (Darwin 2006, S. 288). 6 gar nicht erzwingen. Aber einige der Vor- In diesem Sinne meint Kanitscheider (2007, 29), der Hedonismus sei eine Lebensphilosophie für in- aussetzungen dafür, dass sie überhaupt tellektuelle Skeptiker und werde daher keine „hohe auftauchen, können wir beeinflussen. Gefolgschaft erreichen“. Marquard (2004) themati- 4) Obwohl wir viele Wege der Selbstver- siert „Skepsis als Philosophie der Endlichkeit“ (Vgl. wirklichung gehen sollten, ist es keines- Wetz 2000; Alt 20013, Kap. 4. 3). wegs ratsam, von Option zu Option zu hetzen, um möglichst wenig zu versäumen. Wer ein Buch liest, kann nicht zur selben Literaturhinweise: Zeit in einem See schwimmen. Selbstver- Albert, Hans (2000): Kritischer Rationa- wirklichung ist selektiv. lismus, Tübingen 5) Zwar können wir einige Voraussetzun- Alt, Jürgen August (1997): Wenn Sinn gen der Selbstverwirklichung schaffen und knapp wird – Über das gelingende Leben lernen, den Prozess besser zu gestalten, in einer entzauberten Welt, Frankfurt/New aber die meisten Ereignisse und Abläufe York in dieser Welt entziehen sich unserer Kon- Alt, Jürgen August (20013): Karl R. Pop- trolle. Wir müssen sie einfach hinnehmen per, Frankfurt/New York oder uns geschickt mit ihnen arrangieren. Augustinus, Aurelius (1983): Über die Frei nach Schopenhauer: Das Schicksal wahre Religion, Stuttgart mischt die Karten, und wir spielen. Also Birbaumer, Niels/Schmidt, Robert (20066): bemühen wir uns darum, gut zu spielen, Biologische Psychologie, Heidelberg um dem Leben etwas abzugewinnen. Bierhoff, Hans W. (20066): Sozialpsycho- logie. Ein Lehrbuch, Stuttgart Anmerkungen: Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre, 1 Zur Geschichte und den Deutungen dieser Idee Frankfurt vgl. Menke (2005), s. a. auch Sommer (2007). Darwin, Charles (1995): Die Entstehung 2 „Das größte Glück kommt aus der Vertiefung in der Arten, Stuttgart Beschäftigungen, die uns über uns selbst hinausfüh- Darwin, Charles (2006): Die Fahrt der ren“ (Layard 2005, S. 89). 3 Zur Debatte über Evolution und Sinn s. Wuketits Beagle, Hamburg (2005). Dettner, Konrad/Peters, Werner (Hrsg.), 4 In Lelords (20073) populärem Buch lautet eine 20032: Lehrbuch der Entomologie, Hei- Lektion: „Manchmal bedeutet Glück, etwas nicht delberg/Berlin zu begreifen.“ Hell, Wolfgang/Fiedler, Klaus/Gigerenzer, 5 Viele Naturerfahrungen während seiner legendä- Gert (1993): Kognitive Täuschungen, Hei- ren Seereise machten auf den jungen Darwin einen tiefen Eindruck, weckten „große Gefühle“ in ihm, delberg/Berlin/Oxford die er uns in literarisch glänzenden Formulierungen Kanitscheider, Bernulf (2007): „Der Kör- mitzuteilen versucht. Ein Beispiel: „Wir erhielten ei- per ist wie eine biologische Stradivari“, nen weiten Blick über das umliegende Land: Nach Gespräch mit Michael Schmidt-Salomon, Norden hin erstreckte sich ein sumpfiges Moorland, in: Psychologie heute 34/5/2007, S. 28- nach Süden hin bot sich uns dagegen eine Szenerie 29 wilder Schönheit, die Feuerland gut anstand. Berg auf Berg, die dazwischenliegenden tiefen Täler und Lazarus, Arnold u. a. (1996): Fallstricke alles von einer dichten, dunklen Waldmasse über- des Lebens, Stuttgart

262 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Lazarus, Arnold/Lazarus, Clifford (2006): Gehirn und seine Freiheit, S. 67-81, Göt- Der kleine Taschentherapeut, München tingen Lelord, Francois (20073): Hectors Reise Wetz, Franz Josef (2000): Die Kunst der oder die Suche nach dem Glück, Mün- Resignation, Stuttgart chen Wittgenstein, Ludwig (1984): Tagebücher Lyotard, Richard (2005): Die glückliche 1914-1916, Werkausgabe, Band 1, Frank- Gesellschaft, Frankfurt/New York furt Marquard, Odo (1986): Apologie des Zu- Wilson, Edward (1995): Der Wert der Viel- fälligen, Stuttgart falt, München Marquard, Odo (2000): Philosophie des Wuketits, Franz M. (2005): (Un-)Intelli- Stattdessen, Stuttgart gent Design?, in: Aufklärung und Kritik 12/ Marquard, Odo (2004): Individuum und 2/2005, S. 7-17 Gewaltenteilung, Stuttgart Zimmer, Robert (2005): Leben als Versuch Mayring, Philipp (2000): Freude und und Irrtum, in: Aufklärung und Kritik 12/ Glück, in: Otto, Jürgen/Euler, Harald/ 2/2005, S. 80-92 Mandl, Heinz (Hrsg.), Emotionspsycho- logie, Weinheim, S. 221-230 Zum Autor: Menke, Christoph (2005): Innere Natur Jürgen August Alt, Dr. phil., ist freier und soziale Normativität. Die Idee der Schriftsteller und Zauberkünstler. Seine Selbstverwirklichung, in: Joas, Hans/Wie- Interessenschwerpunkte sind Wissen- gandt, Klaus (Hg.), Die kulturellen Werte schaftsgeschichte und Evolutionsbiolo- Europas, Frankfurt 2005, S. 304-352 gie. Müsseler, Jochen/Prinz, Wolfgang (Hrsg.), 2002: Allgemeine Psychologie, Darmstadt Nagel, Thomas (1990): Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Stuttgart Popper, Karl R. (1979): Ausgangspunk- te, Hamburg Russell, Bertrand (1980): Die Eroberung des Glücks, Frankfurt Seligman, Martin E. P. (2003): Der Glücks- Faktor, Bergisch Gladbach Shell Deutschland Holding (Hrsg.), 2006: Jugend 2006, Frankfurt Sommer, Andreas Urs (2007): Coolness. Zur Geschichte der Distanz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2007, S. 30-44 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), 20052/ 2006: Datenreport 2004 und 2006, Bonn Thorhauer, Yvonne (2006): Ethische Im- plikationen der Hirnforschung, in: Roth, Gerhard/Grün, Klaus-Jürgen (Hrsg.), Das

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 263 Fürst de Ligne Mein Besuch bei Voltaire Übersetzt von Dr. Michael Rumpf

Die folgenden Aufzeichnungen verfasste de Ligne* nach einem Besuch, den er im Sommer 1763 auf Voltaires Landsitz Ferney abstattete. Als er sich anmeldete, kann- te ihn Voltaire nicht persönlich.

Das Beste, was ich bei Herrn von Voltaire schreckliche Stadt, erwiderte ich ihm, ob- tun konnte, war, mich nicht geistreich zu wohl das meines Erachtens nicht stimm- zeigen. Ich sprach zu ihm nur, um ihn zum te. Ich erzählte Herrn von Voltaire in Ge- Reden zu bringen. Acht Tage habe ich in genwart von Frau Denys3 – allerdings in seinem Hause verbracht, und gerne wür- dem Glauben, dass es sich um Frau von de ich mich all der erhebenden, einfachen, Graffigny4 handele –, eine Anekdote, die fröhlichen, liebenswürdigen Bemerkungen er erlebt hatte. Herr von Ximenes5 hatte erinnern, die er unablässig machte; aber ihn herausgefordert, indem er einzelne Ver- das ist unmöglich. Ich lachte oder bewun- se zitierte, ohne ihren Autor sofort zu nen- derte, ständig war ich wie trunken. Sogar nen. Er erkannte alle. Frau Denys, die ihn seine Irrtümer, seine unzulänglichen Kennt- bei einem Fehler ertappen wollte, formu- nisse, seine Vorurteile, sein fehlender Sinn lierte vier aus dem Stegreif. Nun, Herr für die schönen Künste, seine Marotten, Marquis, von wem stammen sie? Von je- seine Eingebildetheit, das, was er nicht sein mandem, der meinen Geist in Versuchung konnte wie das, was er war, alles war char- führen will, Madame. Wunderbar! bravo! mant, neuartig, reizvoll und überraschend. bravo! sagte Herr von Voltaire: Allerdings Er wollte als tiefsinniger Staatsmann gel- glaube ich, dass sie sich töricht verhalten ten, oder als Weiser, und nahm dafür so- hat. – Lachen Sie doch darüber, meine gar in Kauf zu langweilen. Damals bewun- Nichte. derte er die englische Verfassung. Ich er- Er war damals damit beschäftigt, die Kir- innere mich, dass ich zu ihm sagte: Herr chengeschichte des langweiligen Abbé de von Voltaire, die Verfassung gilt für eine Fleury6 zu kritisieren und zu kommentie- Insel, ohne das Meer als Schutz würde ren. Es handelt sich nicht um Geschichte, sie nicht lange bestehen. Das Meer, erwi- sagte er, als er davon erzählte, es sind Ge- derte er, Sie bringen mich auf ein Thema, schichtchen. Nur Bossuet7 und Fléchier8 das mein Denken beschäftigen wird. glaube ich ihr ehrliches Christsein – Ah, Man kündigte ihm einen Herrn aus Genf Herr von Voltaire, sagte ich, ihm, und ei- an, der ihn langweilte: Schnell, schnell, nigen verehrungswürdigen Patres, deren sagte er, ruft Tronchin1 – denn er wollte Kinder Euch so erfolgreich aufgezogen ha- sich krank stellen. Der Genfer entfernte ben. Er sprach sehr positiv über sie. Kom- sich. Was haltet Ihr von Genf, fragte er men Sie aus Venedig? Haben Sie den Pro- mich eines Tages, da er wusste, dass ich kurator Prococurante9 getroffen? Nein, morgens dort gewesen war. Ich wusste, erwiderte ich, ich kann mich seiner nicht dass er Genf zu dieser Zeit hasste.2 Eine erinnern. Habt Ihr Candide nicht gelesen?

264 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 fragte er mich wütend, denn zu bestimm- unverständlich ist. Diese Leute behaup- ten Zeiten liebte er eines seiner Werke be- ten, ich wäre neidisch. Es sei ihnen ge- sonders. – Entschuldigung, Entschuldi- gönnt. Man glaubt, ich sei ein Ränke- gung, Herr von Voltaire, ich war zerstreut, schmied, ein Ohrenbläser bei Hofe; in der ich musste soeben an mein Erstaunen den- Stadt markierte ich den Philosophen, an ken, als ich hörte, wie die venezianischen der Akademie den Philosophenfeind; in Gondoliere Das befreite Jerusalem von Rom den Anti-Christen, man sagt das we- Tasso10 sangen. – Wann war das? Erzählt gen einiger Scherze über die dortigen mir davon, ich bitte Euch. – Sie versuch- Missstände und wegen einiger Witze über ten – so wie seinerzeit Menelaos11 und den Prunk; im Parlament den Verteidiger Melibeus12 , die Stimme und das Gedächt- der Despotie; man hält mich für einen nis ihrer Kameraden zu prüfen, auf dem schlechten Franzosen, weil ich die Englän- Canal grande, während der schönen Som- der gelobt habe; für den Schädiger und mernächte. Einer beginnt in der Art und gleichzeitig für den Wohltäter der Buch- Weise eines Rezitativs, der andere erwi- händler; für einen Libertin wegen einer dert ihm und fährt fort. Ich nehme nicht Jeanne17, die nur in den Augen meiner an, dass die Kutscher von Paris Die Hen- Feinde schuldig ist; für einen Freigeist und riade13 auswendig können, und wenn, wür- Verehrer der Geistvollen und für intole- den sie die schönen Verse äußerst schlecht rant, weil ich die Toleranz predige. intonieren, wegen ihres groben Tonfalls, Haben Sie jemals ein Epigramm oder ein ihres gemeinen und harten Akzents, ihres Spottlied gehört, das meinen Stil imitiert? rauhen Halses und ihrer Schnapsstimme. Sie sind das Siegel der Bosheit. Die Rous- – Das kommt daher, weil die Welschen seaus18 haben dafür gesorgt, dass ich ver- Barbaren sind, Feinde der Harmonie, Leu- teufelt werde. Anfangs habe ich mich mit te, die euch die Kehle durchschneiden, ihnen gut verstanden. Mit einem von ih- mein Herr. So ist das Volk, während un- nen habe ich bei Ihrem Vater Wein aus sere geistreichen Menschen so viel Geist der Champagne getrunken und bei Ihrem haben, dass sie ihn sogar im Titel ihrer Verwandten, dem Herzog von Arenberg, wo Werke erwähnen. Ein lichtvolles Buch, ein er beim Souper eingeschlafen ist. Mit dem Buch als Irrlicht. Es nennt sich Der Geist anderen habe ich Artigkeiten ausgetauscht; der Gesetze, es müsste heißen: der Geist und nur, weil ich gesagt habe, ich verspürte über den Gesetzen. Ich habe nicht das Lust, auf allen Vieren zu laufen, bin ich Vergnügen, das Buch zu verstehen.14 Hin- aus Genf verjagt worden, wo er verab- gegen sagen mir die Persische Briefe zu15 scheut wird. – ein Meisterwerk. – Einige Schriftsteller Er konnte über eine überraschende Tor- schätzen Sie wohl doch. – In der Tat, heit oder ein schlechtes Wortspiel lachen, manch einen muss man schätzen. Zum und gestattete sich ebenfalls manche Dumm- Beispiel d‘Alembert, der sich fälschlicher- heit. Besonders freute es ihn, mir einen weise als Mathematiker bezeichnet; oder Brief des Chevalier Delille19 zeigen zu kön- Diderot, der sich so sehr bemüht hat, als nen, der ihm geschrieben hatte, um ihm Trottel und Aufschneider aufzutreten, dass vorzuwerfen, wie ungeschickt er einen er von beidem etwas hat; oder Marmon- Auftrag besorgt habe, in dem es um Uh- tel16 , dessen Dichtung, unter uns gesagt, ren ging: Sie müssen sehr dumm sein,

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 265 mein Herr usw. Mir gegenüber äußerte er, – Meine Nichte, führen wir ihm etwas von wenn ich mich recht erinnere, das seither Molière vor, sagte er zu Frau Denys. Lasst oft wiederholte Scherzwort über die Cor- uns in den Salon gehen und ihm aus dem neille.20 Ich gab ihm Gelegenheit dazu, als Stegreif „Die gelehrten Frauen“ vorspie- er mich fragte, wie ich sie fände: nigra, len, die wir gerade einüben. – Er über- erwiderte ich ihm, ohne formosa zu sein. nahm die Rolle von Trissotin24 , spielte Er schonte seinen Pater Adam21 nicht und denkbar schlecht, amüsierte sich aber bedankte sich bei mir dafür, dass ich dem köstlich dabei. Frau Dupuis, Schwägerin Pater Griffet22 Asyl gewährt habe, den er der Corneille, spielte die Martine und ge- sehr schätzte, ebenso wie Pater La Neuvil- fiel mir in dieser Rolle ausgezeichnet. Das le23, den er mir empfahl. unterhielt mich, während ich den großen Eines Tages sagte er zu mir: Man behaup- Mann aushalten musste. Er mochte so et- tet, Kritiken brächten mich um. Nun, ken- was aber nicht. Ich erinnere mich, dass nen Sie diese? Ich habe keine Ahnung, wie seine schönen Schweizer Dienerinnen, we- dieser teuflische Mensch (Friedrich II.), gen der Hitze mit stark entblößtem Ober- der die Rechtschreibung nicht beherrscht körper, einmal nahe an mir vorbeigingen, und die Poesie bezwingt wie ein militäri- vielleicht brachten sie etwas Sahne. Er hielt sches Lager, es fertig gebracht hat, diese im Reden inne, nahm wutentbrannt beide gelungenen vier Verse über mich zu ver- beim schönen Nacken und rief: Überall fassen. Brüste, zum Teufel damit!25 Gegen das Christentum wandte er sich nie, Candide ist ein kleines Luder auch nicht gegen Fréron.26 Ich mag sie ohne Hirn und ohne Scham, nicht, sagte er, die Unaufrichtigen, die sich man erkennt in ihm den Bruder widersprechen. Gegen oder für alle Reli- der Jungfrau von Orléans. gionen schreiben, zeugt von Dummheit. Nie hat dieser Mann Dankbarkeit empfun- Was soll beispielsweise das Glaubensbe- den. Dankbar war er einzig seinem Pferd, kenntnis des savoyischen Vikars von Jean- das ihn bei Mollwitz rettete: Ihm gewährte Jacques?27 Zu dieser Zeit war er stark ge- er früh das Gnadenbrot, mein Herr; wäh- gen ihn eingenommen und nannte ihn ein rend der Bote, der ihm den Sieg meldete, Ungeheuer, obwohl er meinte, einen Mann noch heute seine niedrige Stellung beklei- wie ihn dürfe man nicht ins Exil treiben, det. – Ihr scheint mir zur Zeit schlecht auf statt dessen wäre der Kirchenbann die ihn zu sprechen zu sein, sagte ich ihm. richtige Strafe. Zu dieser Zeit meldete man Sprache als Rache. – Er lächelte über das ihm: Ich glaube, Rousseau tritt in Ihren dümmliche Wortspiel: Dergleichen formu- Hof. – Wo ist der Unglückliche? rief er, lierte er oft und hörte dergleichen gerne. er soll kommen, ich empfange ihn mit of- Man hätte meinen können, dass er manch- fenen Armen. Vielleicht wurde er aus mal in ähnlicher Weise mit den Toten ha- Neuchatel und seinem Umland28 verjagt. derte, wie andere mit den Lebenden. In Man suche ihn. Man bringe ihn zu mir, seiner Unbeständigkeit mochte er sie mal alles, was ich besitze, gehört ihm. M. von mehr, mal weniger. Zum Beispiel standen Constant fragte ihn in meiner Gegenwart damals Fénelon, La Fontaine und Molière nach seiner Geschichte Russlands. 29 – am höchsten in seiner Gunst. Ihr seid töricht, sagte er. Wenn ihr etwas

266 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 über sie lernen wollte, nehmt die von La sein Kabinett zurück.) Mein Herr, mein Combe30 . Sie hat weder Auszeichnungen Herr, das muss Euch eine Menge geko- noch Rauchwaren eingebracht. stet haben! Welch reizender Garten! – Nun, sagte Voltaire (zurückkehrend), mein Damals war er mit dem Parlament unzu- Gärtner ist ein Esel, ich allein, mein Herr, frieden: Und wenn er seinen Esel an der habe dies alles geschaffen. – Ich glaube Gartenpforte traf, sagte er: Bitte sehr, Sie es sofort. Dieser Haller, mein Herr, ist ein haben den Vortritt, Herr Präsident. Sein bedeutender Kopf. (Herr von Voltaire zog lebhafter Geist verführte ihn oft zu ver- sich zurück.) Wieviel Zeit braucht man, gnüglichen Verwechslungen. Einen Kla- mein Herr, um ein Schloss zu bauen, das vierstimmer seiner Nichte hielt er für sei- Ihrem vergleichbar wäre? (Herr von Vol- nen Schuster und rief, als die Verwechs- taire kam in den Salon zurück.) – Ohne lung endlich aufgeklärt war: Du meine Absicht spielten sie mir die schönste Sze- Güte, mein Herr, Sie sind also Künstler! ne der Welt vor; und Herr von Voltaire Ich sah Sie zu meinen Füßen und liege spielte dabei die komischere Rolle, we- nun vor ihren. gen seiner Lebhaftigkeit, seinen Launen, Einmal betrat ein Händler, Hut, graue seiner Reue. Manchmal gab er den Schön- Schuhe, unerwartet den Salon; Herr Vol- geist, manchmal den Hofmann Ludwig des taire (der sich vor Besuchen so fürchtete, XIV., manchmal den reizenden Gesell- dass er, wie er mir gestand, aus Angst, schafter. meiner könne ihn langweilen, irgendwel- che Arznei genommen hatte, um sich krank Besonders komisch wirkte er, wenn er den melden zu können) rettet sich in sein Ka- Landedelmann spielte. Seine Dörfler be- binett. Der Händler folgt ihm mit den Wor- handelte er dann wie römische Botschaf- ten: Mein Herr, mein Herr, ich bin der Sohn ter oder Prinzen aus dem trojanischen einer Frau, für die Sie Verse gedichtet ha- Krieg. Alles umgab er mit dem Schein des ben! – Oh, das glaube ich sofort, ich habe Adels. Wenn er nachfragte, warum man für sehr viele Frauen sehr viel gedichtet! ihm mittags nie Hasenbraten servierte, sag- Guten Tag, mein Herr. – Es handelt sich te er zu einem alten Wildhüter, statt sich um Frau von Fontaine-Martel.31 Ah, ah, einfach zu informieren: Mein Freund, sie war sehr schön, mein Herr. Ganz Ihr wechselt kein Wild mehr von meinem Be- Diener. (und schon wollte er sich in sein sitz in Tourney auf meinen Besitz in Fer- Kabinett zurückziehen.) – Mein Herr, wo- ney?33 her der gute Geschmack, den Ihr Salon Immer trug er graue Schuhe, eisengraue verrät? Auch Ihr Schloss ist bewunderns- Stümpfe, eine große Weste aus Barchent, wert. Ließen Sie es erbauen? (Voltaire die bis zu den Knien reichte, eine große kommt sofort zurück.) – Oh ja, mein Herr, und lange Perücke und ein kleines Käpp- ich habe alle Entwürfe gestaltet. Beachten chen aus schwarzem Samt. Sonntags klei- Sie diesen Flur und dieses Treppenhaus, dete er sich manchmal mit einem gold- nun denn! – Mein Herr, was mich in die braunen Frack, einer gleichfarbigen We- Schweiz gezogen hat, ist das Vergnügen ste und Hose, wobei die Weste große der Bekanntschaft mit Herrn von Haller.32 Rockschöße zeigte und goldene, betresste (Herr Voltaire zog sich sofort wieder in Rockaufschläge, dazu große Manschet-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 267 ten, deren Spitzen bis zu den Fingerkup- Anmerkungen: pen reichten, denn das wirkte seiner Mei- * Siehe dazu den Beitrag von Dr. Michael Rumpf: nung nach vornehm. „Der Fürst de Ligne als Moralist“ in diesem Heft 1 Tronchin, Théodore (1709 – 1781) Voltaires aus der Schweiz stammender Arzt. Herr von Voltaire war zu allen gut, die bei 2 Voltaire veranlasste einen Artikel über Genf in der ihm lebten, und brachte alle oft zum La- Enzyclopädie, der 1757 einen Skandal verursachte. chen. Er konnte, was immer er sah oder 3 Voltaires Nichte, ihr Name wird auch Denis ge- hörte, in ein freundliches Licht rücken. schrieben. Einem Offizier meines Regiments, dessen 4 Madame de Graffigny war ständiger Gast auf Antworten er hoch schätzte, stellte er ger- Voltaires Gut Cirey. Zu ihrer Person vgl. Jean Orieux, Voltaire, Frankfurt 1985, S. 256-268. ne Fragen. Welcher Religion gehören Sie 5 Marquis des Ximénès, Liebhaber von Voltaires an, mein Herr? fragte er ihn. – Meine El- Nichte, Frau Denis. Vgl. Orieux, a.a.O. S. 552. tern haben mich in der katholischen Re- 6 Abbé de Fleury, André-Hercule, (1653-1743), ligion aufwachsen lassen. – Eine sehr gute Bischof, Erzieher Ludwigs XV., Minister seiner Re- Antwort, lobte Herr von Voltaire. Er sagt gierung. 7 nicht, dass er katholisch sei. Bossuet, Jacques-Bénigne (1627-1704), Bischof, Erzieher des Dauphin, Mitglied der Académie Fran- All das scheint eher belanglos und dazu çaise, berühmter Kanzelredner, Verfasser einer angetan, Voltaire lächerlich erscheinen zu einflussreichen Geschichtsdarstellung. lassen. Man muss ihn persönlich gekannt 8 Valentin Esprit Fléchier (1632 bis 1710), Bischof haben: von einer wunderbaren, einer bril- von Nimes, einer der großen französischen Kanzel- lanten Vorstellungskraft beflügelt, sprüh- redner des 17. Jahrhunderts, 1673 in die Académie te er vor Geist und gab seine Einfälle mit Française gewählt 9 Fiktive Person aus Voltaires Roman „Candide“. vollen Händen aus, alle daran teilhaben 10 Tasso, Torquato ( 1544-1595), italienischer Dich- lassend; geneigt, das Schöne und das ter, Autor des die europäische Literatur prägenden Gute zu sehen und daran zu glauben, gin- Schäferspiels „Aminta“. gen ihm die Sinne über und er teilte sei- 11 Menelaos, mythischer König von Sparta, spielte nen Überfluss mit anderen. Er setzte alles eine wesentliche Rolle im Kampf um Troja. 12 in Beziehung zu dem, was er schrieb und Figur aus Chaucers „Canterbury Tales“ 13 Epos von Voltaire, entstanden 1713-1718, be- dachte; und lehrte diejenigen, die dazu fä- gründete sein europäisches Ansehen, stellt die Aus- hig waren, sprechen und denken. Er half einandersetzung zwischen Heinrich IV und der ka- allen, die unglücklich waren, baute Häu- tholischen Liga dar. ser für arme Familien und sorgte sich um 14 Anspielung auf und Wortspiel zu Montesquieus die eigene; er war in seinem Dorf ein Men- Schrift „Der Geist der Gesetze“ von 1748. 15 schenfreund und gleichzeitig ein großer Weiteres Werk von Montesquieu, ein 1721 in Köln in anonymer Erstausgabe erschienener Brief- Mann, eine Verbindung, ohne welche man roman, der die europäische und die orientalische niemals das eine oder das andere in Voll- Kultur kontrastiert. kommenheit ist; denn Genie erhöht die 16 Marmmontel Jean-Francois (1723-1799), Au- Wirkung der Güte und Güte die Natür- tor von Tragödien, Mitarbeiter an der Encyclopédie. lichkeit des Genies. 1763 in die Académie Française gewählt. 17 Gemeint ist Voltaires Epos über die Jungfrau von Orléans, Jeanne d’Arc. 18 Gemeint sind Jean-Jacques Rousseau und Jean Baptiste Rousseau (1670-1741), ein bedeutender Lyriker.

268 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 19 Vermutlich Jacques Delille (1738-1813), franzö- sischer Dichter. 20 Entfernte Verwandte von Pierre Corneille. Vol- taire nahm sie 1760 in sein Haus in Ferney auf, ver- heiratete sie mit einem Herrn Dupuis. 21 Jesuitenpater, Professor aus Dijon, den Voltaire 1764 aufnahm. Vgl. Orieux, S. 707-709 22 Griffet, Henri (1698-1771), Jesuit, Beichtvater an der Bastille, Geschichtsschreiber, spielte mit Vol- taire Schach. 23 Konnte nicht ermittelt werden. 24 In Molières Verskomödie erweist sich Trissotin, ein die gelehrten Frauen in ihren Ambitionen för- dernder Schöngeist, schließlich als Mitgiftjäger. 25 Orieux schildert, Voltaire habe es nicht leiden können, dass von Ligne sich durch weibliche Reize davon abhielten ließ, ihm zuzuhören. Vgl. a.a.O. S. 715/716 26 Fréron, Élie-Catherine (1718-1776), Lehrer am berühmten Loius-le-Grand in Paris, Vertreter der klassischen Trägodientheorie, Gegenstand einer Polemik Voltaires. 27 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, übers. v. Ludwig Schmidt, Paderborn 1972, 4. Buch (S.275-443). Der Vikar glaubt an einen kosmischen Willen, er vertritt eine gegen die christliche Offenbarungslehre gerichtete Naturreli- gion. 28 Rousseau lebte in der Verbannung in der Schweiz, da er in Frankreich mit Haftbefehl gesucht wurde. 29 1758 veröffentlichte Voltaire eine Geschichte Russlands, die er auf Bitten des russischen Botschaf- ters in Frankreich schrieb. 30 Gemeint ist die „Histoire des Révolutions de l’Empire de Russie“, Paris 1760. Jacques Lacombe lebte von 1724 und 1811 und war u.a. Advokat. 31 Comtesse de Fontaine-Martel, Gastgeberin Vol- taires 1731 im Pariser Palais-Royale. Vgl. Orieux, a.a.O. S. 190. 32 Haller, Albrecht von (1708-1777), Arzt, Natur- forscher und Dichter, bekannt durch sein großes Naturgedicht „Die Alpen“. 33 Besitztümer Voltaires in der Nähe Genfs, 1758 erworben. Tourney, ein Schloss mit Ländereien, liegt in der Nähe von Ferney. Vgl. Orieux S. 601.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 269 Dr. Dr. Joachim Kahl (Marburg) Zwei Rezensionen zum Thema Lebenskunst

Andreas Brenner/Jörg Zirfas, Lexikon der Lebenskunst, Reclam Bibliothek Leip- zig, Band 20015, 375 Seiten, 2002 Wolfgang Kersting/Claus Langbehn (Hg.), Kritik der Lebenskunst, (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1815), 381 Seiten, Frankfurt/M., 2007

Aus der Fülle der Literatur zum Thema der Auswahl der philosophischen Rich- „Lebenskunst“ ragen zwei Werke heraus, tungen und Autoren, die zitiert und disku- deren Lektüre, ja deren Studium denen tiert werden. Die großen Namen der euro- empfohlen werden soll, die sich ernsthaft päischen Moralistik – etwa La Rochefou- dem Gegenstand und seiner akademischen cauld, Montaigne, Knigge, Schopenhau- Erörterung widmen wollen. Das Lexikon er – sind ebenso selbstverständlich prä- ist das eingängigere der beiden Bücher, sent wie die Namen antiker Autoren, etwa leichter zu verstehen und unmittelbar für Cicero, Seneca, Ovid, Aristoteles. Kaum die eigene Lebensführung zu nutzen. Das ein relevanter Name aus dem zeitgenössi- liegt vornehmlich am alphabetischen Auf- schen Diskurs, der fehlen würde. Der un- bau anhand von Stichworten und an de- erschrockene Eklektizismus, den die bei- ren ungewöhnlicher Auswahl. Neben den Verfasser praktizieren, beweist durch- klassischen Begriffen, die in einem Lexi- gängig seine erkenntnisfördernde Stärke. kon der Lebenskunst nicht fehlen dürfen, etwa „Älter werden“, „Einsam und al- An einem Beispiel sei freilich auch Kritik lein bleiben“ oder „Feste feiern“ finden geäußert. So leidet bedauerlicherweise der sich dort auch Überraschungen wie „Den schöne und dankenswerte Artikel über das Klüngel pflegen“ oder „Maschinen besit- „Danken“ an einer theoretischen Unklar- zen“ oder „Müll“. Die originelle Herange- heit religionsphilosophischer Art. Einer- hensweise der beiden Autoren spiegelt sich seits wird eingeräumt, dass jemand „Dank nicht zuletzt in den Empfehlungen am En- gegenüber dem eigenen Dasein empfin- de jedes Artikels. Neben den üblichen Li- den“ kann, „wenn er den Blick auf die teraturangaben stehen auch Video- und schönen Seiten des Lebens sich über die Audio-Empfehlungen. In welchem philo- Zeit hat bewahren können“ (59). Ande- sophischen Werk wird sonst unbefangen rerseits wird aber – angelehnt an Dieter auf Marilyn Monroe, Frank Sinatra, Orson Henrich – behauptet, „der Atheist“ blei- Welles, Roman Polanski verwiesen? Es be „mit seinem Dank allein“ (ib.), fehle zeugt von Lebenskunst, sie als Helfer zu ihm doch der eigentliche Adressat seiner benennen und als Freudenspender aufzu- Dankbarkeit. Mitnichten! Weshalb versagt rufen. sich der Atheist die religiöse Imagination eines göttlichen Urhebers seiner erfreuli- Der erfrischend undogmatische Ansatz chen Lebensumstände? Auch aus Respekt des Lexikons dokumentiert sich auch in und Mitgefühl gegenüber jenen, die weni-

270 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 ger günstig davon gekommen sind als er. merhin hat derselbe Suhrkamp Verlag, in Die Einsicht in die Kontingenz der mensch- dem die Werke Schmids erscheinen, ihm lichen Existenz und die reflektierte Theo- zusätzlich eine eigene Reihe „Bibliothek dizeeproblematik bewahren vor der reli- der Lebenskunst“ eingerichtet. Kluge giösen Überhöhung der Dankbarkeit ge- Verlagspolitik. genüber dem Leben insgesamt. Schade, dass Brenner und Zirfas trotz aller Bele- Dabei sind die beiden erwähnten Sätze senheit Pablo Nerudas „Ode an das Dan- noch nicht einmal das Schärfste, was ke“ nicht zu kennen scheinen (in „See- Kersting gegen Wilhelm Schmid einwen- fahrt und Rückkehr“, 1959). Sonst hät- det. Seine Polemik versteigt sich wenige ten sie hier wohl differenzierter geurteilt. Zeilen zuvor zu der ungerechten, weil pau- schalen Behauptung, Schmids Lebens- Theoretisch anspruchsvoller, aber auch er- kunst sei „eher philosophische Lebens- heblich schwieriger zu lesen ist der ande- verfehlung als philosophische Lebenser- re hier anzuzeigende Band „Kritik der schließung“. Ja, mit einem Wort Dieter Lebenskunst“, herausgegeben von Wolf- Henrichs aus seinem „Epilog“ im selben gang Kersting und Claus Langbehn. Er Band, das Kersting in diesem Zusammen- enthält nach einer langen Einleitung Kers- hang zitiert: sie sei „Wellness-Service für tings mit dem Titel „Die Gegenwart der das Lebensgefühl“(367). Solche Pau- Lebenskunst (10ff) – historisch und sys- schalurteile sind doppelt schädlich. Sie tematisch sorgfältig gegliedert – breit ge- verkennen Schmids tatsächliche Verdien- fächerte Einzelanalysen verschiedener Au- ste um die Revitalisierung der Lebenskunst toren zu den wesentlichen Aspekten einer als einer unverzichtbaren Dimension von Philosophie der Lebenskunst. Sie sind so Philosophie. Und sie beeinträchtigen die reichhaltig, dass sie hier keineswegs ad- Akzeptanz des Richtigen, was Kersting äquat gewürdigt oder auch nur aufgezählt und Langbehn zur Kritik an Schmid vor- werden können. Im Kern bemühen sich bringen – unbeschadet ihres Hanges zur die beiden Herausgeber in ihren eigenen falschen Verallgemeinerung. Dieses Rich- Beiträgen, der Einleitung von achtzig Sei- tige besteht darin, dass Schmid tatsäch- ten Umfang, sowie dem Aufsatz „Grund- lich eine Tendenz hat, das Leben „zum legungsambitionen, oder der Mythos vom verfügbaren Material eines autonomie- gelingenden Leben Über Selbstbewusst- stolzen Individuums“ zu erklären, „ob- sein und Selbstgestaltung in der Ethik“ wohl uns doch naturwissenschaftliche, (201ff) von Claus Langbehn um eine Ent- soziologische und sozialphilosophische zauberung der Arbeit Wilhelm Schmids, Thesen über die vielfältige Bedingtheit mit dessen Namen die gegenwärtige Blüte unseres Handelns dringend empfehlen, der Lebenskunstphilosophie untrennbar von alten Selbstmächtigkeitsillusionen verbunden ist. Kersting schließt seine Ein- Abschied zu nehmen“ (8). Diese unbe- leitung mit zwei provokativen Sätzen, die streitbare Neigung Schmids zur „Über- der Verlag auch programmatisch auf den schätzung der Selbstmacht“ (63) des Rückumschlag gesetzt hat: „Der Lebens- modernen Subjektes, die eine fatale Über- kunstlehre fehlt der nötige Ernst. Sie ist forderung impliziert, darf freilich nicht die dem Leben nicht gewachsen.“ (88) Im- Fülle geistreicher Beobachtungen und hilf-

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 271 reicher Analysen ignorieren, die Schmids genau das Gegenteil von dem, was Arbeiten auch enthalten. Und dies in ei- Schmid als Doppelunternehmen einer nem eleganten, verständlichen Deutsch! Rettung der Philosophie durch Lebens- kunst und Rettung der Lebenskunst Kerstings Text dagegen stellt weithin eine durch Philosophie ins Auge fasst.“(52) Zumutung dar auch für den geübten und Und an anderer Stelle heißt es erläuternd: gutwilligen Leser philosophischer Ab- „Lebenskunst muss vielmehr stete End- handlungen. Viele Seiten sind durch kei- lichkeitserinnerung sein, nicht zur Flucht nen einzigen Absatz untergliedert. Rätsel- in inhumane Konzeptwelten anleiten, hafte Sätze wie der folgende finden sich sondern helfen, mit Zufall, Schicksal und nicht selten: „Es ist nicht im mindesten Endlichkeit auf würdige und anmutige erforderlich, den hypoleptischen Charak- Weise fertig zu werden.“ (36f.) Dem ist ter menschlicher Existenz ontologisch zu ohne weiteres zuzustimmen, und Kersting unterlaufen und dem an die Hypolepsis muss sich fragen lassen, warum Schmid gebundenen empirischen Menschen eine sich dem nicht anschließen können sollte. erfahrungsentrückte freiheitskausale Wil- lensmitte einzureden.“ (80f.). Gehöre ich Nicht alle Beiträge des Bandes kreisen kri- etwa bereits, weil sich mir der Sinn dieses tisch um die von Wilhelm Schmid besetz- sprachlichen Ungetüms nicht erschließt, ten Leitideen der Selbstsorge, Selbstver- zu jenen, die Kersting „als kulturelle Dys- wirklichung, Selbstbestimmung und ihre lektiker und Asoziale ohne Lebenserfah- mögliche demiurgische Übersteigerung zur rung und Menschenkenntnis“ (61 A.95) Selbsterschaffung. Michael Pauen bei- schmäht? Ein derartig gespreizter, abge- spielsweise steuert unter dem Titel „Kei- hobener Stil, der Gelehrsamkeit dokumen- ne Kränkung, kein Dilemma: Warum man tieren soll, findet sich in den Arbeiten Wil- mit dem Fortschritt der Neurowissen- helm Schmids allerdings nicht. schaften leben kann“ (287ff) Überlegun- gen bei, die einen ganz allgemeinen anthro- Ein weiteres Verständnisproblem entsteht pologischen Rahmen abstecken und ideo- dadurch, dass Kersting den Begriff Le- logische Fehldeutungen der Neurowissen- benskunst durchaus zweideutig, genauer schaften umsichtig zurückweisen, etwa: sie zweiwertig verwendet. Nur die „geläufi- untergrüben die Willensfreiheit. Der Es- ge Lebenskunst“ (88), die mit dem Na- say von Otfried Höffe „Macht Tugend men Wilhelm Schmid verbundene Spiel- glücklich?“ (342ff), ein unwesentlich ver- art, verfällt seinem heftigen Verdikt, wie ändertes Kapitel seines Buches „Lebens- wir sahen. Ihr steht gegenüber ein positiv kunst und Moral oder Macht Tugend aufgeladener Begriff, den er die „herme- glücklich?“ (2007), greift auf die klassisch neutische Lebenskunst“ nennt: „eine Le- aristotelische Tradition der Tugendethik benskunst, die dem Menschen angemes- zurück und demonstriert souverän ihre sen ist und nicht der Illusion unbeding- Vorzüge. Die Antwort auf die Titelfrage ter Selbstmächtigkeit verfallen ist, die lautet pfiffig: „Meistens“(342), keineswegs weiß, dass Leben vor allem geschieht und immer. Denn: „Die Tugend ist weder ein nur gelegentlich gestaltet wird. Diese Amulett noch ein Impfstoff, um vor Kum- Philosophie der Lebenskunst wäre also mer und Leid zu schützen.“ (348)

272 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Gleichwohl ist sie für Höffe – auf der Li- nie des Aristoteles und Kants – „das Be- ste, was der Mensch für das Gelingen seines Lebens in der Hand hat, sie reicht aber für das runde Gelingen nicht aus.“ (353) Es gibt keine Garantie für ein glück- liches, gelingendes Leben, denn vor „bö- sen Widerfahrnissen“ (347) ist niemand gefeit. Aber eine „Widerfahrnisbewälti- gungskompetenz“ (351), die Höffe auch „eudaimonistische Gelassenheit“ (352) nennt, ist erlernbar. Lebensklugheit gebie- tet, von vorneherein auf eine „uneinge- schränkte Glücksfähigkeit“ (352) zu ver- zichten. Angesichts des „Wagnischarak- ters“ (354) des Lebens ist zwar Lebens- kunst erforderlich. Aber dass das Leben selbst zum Kunstwerk erblühen könnte, diese optimistische Illusion liegt Höffe fern – eine Einsicht, die ihn mit den beiden Herausgebern verbindet.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 273 Internet-Aktivitäten der GKP und ihrer Mitglieder:

Seit Dezember 1996 stellt die GKP eine Neu: Einrichtung eines Internet-Fo- eigene Website im Internet vor; diese ent- rums für Mitglieder und an der Dis- hält die aktuellen Termine aller Vortrags- kussion philosophischer Themen inter- reihen ebenso wie ständig aktualisierte Ar- essierte Internetuser tikel aus der GKP-Zeitschrift „Aufklärung Unter http://gkp.communityhost.de/ und Kritik”. Daneben bietet die Homepage steht von nun an ein Forum für Mitglieder Links zu denjenigen der Mitglieder, die der Gesellschaft für Kritische Philosophie selbst im Internet mit einer Homepage ver- Nürnberg und interessierte Dritte bereit. treten sind wie auch Links zu diversen Wir laden Sie ein, hier im Internet insbe- Servern, die philosophische Inhalte anbie- sondere Themen zu diskutieren, die auf ten. Außerdem können Sie uns im Gä- unserer Website bzw. in Artikeln unserer stebuch Ihre Meinung zur Homepage und Zeitschrift Aufklärung & Kritik bespro- den Inhalten der Artikel oder auch gerne chen werden. Lassen Sie sich registrieren neue Anregungen übermitteln. Die Adres- – wir freuen uns auf Ihre Teilnahme. se im WWW lautet: Ferner sollen zukünftig in einem etwa zwei- http://www.gkpn.de mal jährlichen erscheinenden Newsletter die aktuellen Geschehnisse innerhalb un- Sie können die GKP sowie unseren 1. Vor- serer Gesellschaft für kritische Philosophie sitzenden, Herrn Georg Batz, auch über sowie insbesondere die Ergebnisse der jähr- E-Mail erreichen, um Kritik oder Anregun- lich stattfindenden Mitgliederversammlung gen zu äußern, und zwar unter dargestellt werden. Sollten Sie als Mitglied [email protected] am Erhalt dieses Newsletters interessiert [email protected] sein, wenden Sie sich bitte an unser Mit- Für Fragen in Sachen Mitgliedsbeiträgen glied Bernhard Wieser unter der Email- ist unser Kassier Bernd Schwappach zu- Adresse [email protected]. Des weiteren ständig, Email: soll in unregelmäßigen Abständen eine Mailing List mit interessanten Beiträgen, [email protected] Aufsätzen, Artikeln etc. sowohl an ange- Für unsere Autoren möchten wir darauf meldete Mitglieder und Nichtmitglieder hinweisen, daß über E-Mail die Möglich- versandt werden. Dazu bitten wir, alle an keit besteht, Textdateien zur Veröffentli- dieser Mailing List Interessierten, sich bei chung in A&K an eine E-Mail anzuhän- [email protected] mit Name, Anschrift und gen und so den Text elektronisch und di- Telefonnummer per e-Mail anzumelden, rekt weiterverarbeitbar zu übermitteln. sowie ihm solche Materialien zu senden, Den Dateiversand bitten wir direkt über von denen Sie meinen, daß sie für einen unser Mitglied Helmut Walther vorzuneh- größeren Kreis interessant sein könnten. men ([email protected]), der als Bernhard Wieser wird dann die eingegan- zuständiger Redakteur den Satz durch- genen Materialien an alle angemeldeten führt und auch unsere Homepage im In- Teilnehmer über die Mailing List weiter- ternet betreut. senden.

274 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Im folgenden nennen wir Ihnen die Inter- Ingo-Wolf Kittel, Augsburg net- und E-Mail-Adressen unserer Mitglie- Email: [email protected] der; hier noch nicht aufgeführte Mitglie- Peter Kopf, Altdorf b. Nbg. der bitten wir, uns ihre Adressen zukom- E-Mail: [email protected] men zu lassen, falls sie hier genannt wer- Hermann Kraus, Fürth den wollen. E-Mail: [email protected] Bernd A. Laska, LSR-Verlag, Nürnberg Georg Batz, Nürnberg E-Mail: [email protected] Email: [email protected] Internet: www.lsr-projekt.de Internet: www.georg-batz.de Prof. Peter Mulacz, Wien Holger Behrendt, Bonn [email protected] Email: [email protected] Internet: http://parapsychologie.info/ Dr. Gerhard Czermak, Friedberg Dr. Michael Murauer, Deggendorf Email: [email protected] [email protected] Wolf Doleys, Odenthal b. Köln Prof. Dr. Hubertus Mynarek, Odernheim Email: [email protected] Internet: www.hubertusmynarek.de Internet: www.doleys.de Manfred Neuhaus, Dortmund Dr. med. Wolfgang Eirund, Wiesbaden E-Mail: [email protected] Email: [email protected] Internet: www.stickes.de Frans-Joris Fabri, Kisslegg Dr. Wilfried Noetzel, Bielefeld E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Helmut Fink, Erlangen Franz Pöpperl, Brohl/Eifel E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Dr. Jochen Freede, Höxter Dr. Wolf Pohl, Konstanz Email: [email protected] E-Mail: [email protected] Internet: www.dr-freede.de Christian Pohlenz, München Joachim Goetz, Nürnberg E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Norbert Rodenbach, M. A., Dinslaken Prof. Dr. Dietrich Grille, Erlangen E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Internet: www.norbert-rodenbach.de Andreas Hipler, Mainz Norbert Rohde, Erlangen Email: [email protected] E-Mail: [email protected] Internet: http://rz-home.de/~ahipler/kritik/ Prof. Dr. Hans Schauer, Marburg Joachim Hofmann, Donauwörth E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Internet: www.hansschauer.de Dr. Klaus Hofmann, Kulmbach Dr. Michael Schmidt-Salomon, Butzweiler E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] Mag. Dr. Gerhard M. Holy, Zistersdorf/Austria Internet: www.schmidt-salomon.de E-Mail: [email protected] Frank Rudolf Schulze, Nürnberg Internet: www.holy.or.at Internet: www.frank-rudolf-schulze.de Herbert Huber, Wasserburg/Inn Anton Schumann, München Email: [email protected] E-Mail: [email protected] Internet: http://www.gavagai.de

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 275 Bernd Schwappach, Seligenporten Wir möchten Mitglieder und Freunde auch Kasssier der GKP, Kto.-Nr.: 9695 bei der auf die mit der GKP eng verbundene Lud- Raiffeisenbank Freystadt BLZ: 76069449 wig-Feuerbach-Gesellschaft Nürnberg Email: [email protected] e.V. und deren Internetpräsenz aufmerk- Hartmut Stielow, Erkrath sam machen: Email: [email protected] Rolf Strathewerd, Lüdenscheid http://www.ludwig-feuerbach.de E-Mail: [email protected] Internet: www.scaldra.net/de/etext.php Motto aus der LF-Internetseite: Auf dieser Homepage wollen wir Ihnen ne- Adam Stupp, Erlangen ben Werk und Leben vor allem auch wenig E-Mail: [email protected] gedruckte Originaltexte Feuerbachs vorstel- Prof. Dr. Anton Szanya, Wien len wie auch oft nicht mehr greifbare Veröf- E-Mail: [email protected] fentlichungen zu seiner Biographie; dazu Helmut Walther, Nürnberg haben wir unter anderem einen Stamm- E-Mail: [email protected] baum vorbereitet und stellen Ihnen die ein- Internet: www.hwalther.de zelnen Familienmitglieder vor. Des weite- sowie www.f-nietzsche.de ren können Sie seine Lebensstationen in Bruckberg und Nürnberg einsehen. Eben- Bernhard Wieser, Nürnberg so versuchen wir Stellungnahmen zu seiner E-Mail: [email protected] Philosophie einem breiten Publikum bekannt Internet: www.bernhard-wieser.de zu machen, Beiträge zu einer menschen- Kurt Wörl, Feucht b. Nürnberg freundlichen Philosophie, die heutzutage zu Internet: www.kurt-woerl.de Unrecht weniger Beachtung in breiten Krei- E-Mail: [email protected] sen findet, als ihr eigentlich gebührt. helder yurén, Wettringen Email: [email protected] Schauen Sie auch dort mal vorbei, Kom- Internet: www.weltwissen.com mentare, Anregungen und Kritik sind je- www.wortplus.com derzeit willkommen. Dr. Robert Zimmer, Berlin Email: [email protected] Internet: www.robert-zimmer-phil.de

276 Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 Impressum Aufklärung und Kritik Jahrgänge 1996 - 2006 Herausgeber und Verlag: Von diesen Ausgaben sind noch Restbe- Gesellschaft für kritische Philosophie stände vorhanden. Diese können einzeln (GKP) Nürnberg, Erster Vorsitzender: bei der Redaktion bestellt werden; je Heft Georg Batz, M.A., Gustav-Adolf-Straße der Jahrgänge bis 2002 wird dafür eine 31, 90439 Nürnberg Schutzgebühr von EUR 5,00 , und für die Erscheinungsweise: Jahrgänge ab 2003 (doppelter Umfang) »Aufklärung und Kritik« erscheint eine Schutzgebühr von EUR 10,00 (für zweimal jährlich regulär und einmal jähr- Mitglieder: 7,50 EUR) zuzügl. Versand- lich als Sonderheft mit Schwerpunktthema kosten erhoben. Bezug: Bestelladresse: Georg Batz M.A. »Aufklärung und Kritik« erscheint als Mit- Gustav-Adolf-Straße 31, 90439 Nürnberg gliederzeitschrift der GKP (Einladung am Telefon: 0911 / 437937 Ende des Hefts). In Ausnahmefällen kön- E-Mail: [email protected] nen Einzelhefte gegen eine Schutzgebühr von 10,- EUR zzgl. 2,- EUR Versandko- sten abgegeben werden. Copyright Redaktion: Georg Batz, M.A., Annemarie Gegner, Alle Texte und seine Teile sind urheber- Joachim Goetz, Prof. Dr. Dietrich Grille, rechtlich geschützt. Jede Verwertung au- Hermann Kraus, Dr. Wolf Pohl, Dennis ßerhalb der Grenzen des Urheber- Schmolk, Heribert Schmitz, Frank Schul- rechtsgesetzes ist unzulässig. Dies gilt ins- ze, M.A., Helmut Walther besondere für Vervielfältigungen, Überset- zungen sowie die Verarbeitung in elektro- Betreuung der Rubrik »Forum«: nischen Systemen. Joachim Goetz Dortmunder Str. 8, 90425 Nürnberg Satz und Layout: Helmut Walther Ob. Schmiedgasse 38, 90403 Nürnberg Druck: KDD GmbH Kompetenzzentrum Digital-Druck Leopoldstraße 68 D-90439 Nürnberg Manuskripte: Richtlinien zur Gestaltung von Texten er- halten Sie gegen Rückporto bei der Re- daktion. Für unverlangt eingesandte Ma- nuskripte keine Haftung.

Aufklärung und Kritik, Sonderheft 14/2008 277 E I N L A D U N G

Aufklärung und Kritik sich um ein weiteres Jahr, wenn ich sie nicht mit Eine Zeitschrift für freies Denken Dreimonatsfrist zum Ende des Kalenderjahres kündige. und humanistische Philosophie Den Mitgliedsbeitrag von EUR 40.-/60.- Herausgegeben von der bitte ich von meinem Konto abzubuchen/ über- Gesellschaft für kritische Philosophie weise ich auf das Konto der Gesellschaft für kri- tische Philosophie – Kto.-Nr.: 9695 bei der Raiff- eisenbank Freystadt BLZ: 76069449 erscheint als Mitgliederzeitschrift zwei- IBAN: DE09760694490000009695 mal im Jahr (Frühjahr und Herbst); ein- BIC: GENODEF1FYS mal im Jahr erscheint eine Sondernum- (Nichtzutreffendes bitte streichen). mer zu einem speziellen Thema. Name: ...... Vorzugsweise werden Texte abgedruckt, die sich darum bemühen, freies Denken Straße: ...... und humanistische Philosophie zu ver- breiten. Der Umfang wird je Nummer PLZ, Ort: ...... zwischen 200 und 300 Seiten liegen. Email: ...... Ja, ich will die Zeitschrift Aufklärung und Kritik unterstützen und deshalb Mitglied Datum: ...... in der Gesellschaft für kritische Philosophie werden. Die Mitgliedschaft gilt jeweils für ein Unterschrift: ...... Jahr, wenn ich sie nicht mit Dreimonatsfrist zum Ende des Kalenderjahres kündige. Den Mit der Abbuchung des Mitgliedsbeitrages vom Mitgliedsbeitrag von zur Zeit EUR 40.- bitte angegebenen Konto bin ich einverstanden. ich von meinem Konto abzubuchen / überwei- se ich gegen Rechnung (Nichtzutreffendes Kto-Nr.: ...... bitte streichen). Die jeweils neue Nummer (zweimal pro Jahr) erhalte ich kostenlos. Als BLZ: ...... Mitglied erhalte ich auch die Sondernummer kostenlos, sowie regelmäßige Einladungen zu Bank: ...... den Veranstaltungen der GKP. Datum: ...... Ja, ich will die Zeitschrift Aufklärung und Kritik über die normale Mitgliedschaft Unterschrift: ...... hinaus unterstützen und deshalb Fördermit- glied in der Gesellschaft für kritische Philo- Bitte ausdrucken und einsenden an: sophie werden. Daher verpflichte ich mich bei Gesellschaft für kritische Philosophie ansonsten gleichen Bedingungen, wie sie für c/o Georg Batz normale Mitgliedschaft gültig sind, den För- Gustav-Adolf-Straße 31, 90439 Nürnberg derbeitrag von EUR 60.- zu zahlen. Die Mit- Tel.: 0911-437937 Fax: 0911-454985 gliedschaft gilt jeweils für ein Jahr und verlängert E-Mail: [email protected]

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