Reformpädagogischer Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2
Eine Betrachtung der montessori- und waldorfpädagogischen Konzeptionen und deren Umsetzungen, sowie die Relevanz von Reformpädagogik für den Regelunterricht
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Naturwissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz
vorgelegt von Teresa Maria NIEDERL am Institut für Mathematik und Wissenschaftliches Rechnen
Begutachter: Ao.Univ.-Prof.Dr.phil. Thaller, Bernd
Graz 2013
Eidesstattliche Erklärung
Ich, Teresa Maria Niederl, versichere hiermit an Eides Statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht be- nutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen in- ländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffent- licht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.
Datum / Unterschrift
Zusammenfassung
Es mangelt der pädagogischen Realität nicht an vielen verschiedenen reformpädagogischen Ideen und konkreten Konzepten. Doch für die Sekundarstufe 2 sind nur wenige davon ausge- reift umsetzbar. In Österreich findet man die Waldorfpädagogik, die Montessoripädagogik und vereinzelt auch den Daltonplan in der praktischen Umsetzung, in Deutschland beispiels- weise auch solche zum Jenaplan. Die Vermittlung von Mathematik in der Sekundarstufe 2 wird speziell aus der Sicht der Waldorfpädagogik und der Montessoripädagogik betrachtet. Wobei die theoretischen Hintergründe, die Umsetzungsvorschläge und die Vergleiche mit dem Regelschulsystem durch Beispiele von Schulen untermalt werden, die Waldorf- oder Montessoripädagogik in der Sekundarstufe einsetzten. Daraus werden Ideen, wie Hand- lungsorientierung im Unterricht, die Öffnung des Unterrichts und Selbstständigkeitsförde- rung im Mathematikunterricht aufgegriffen. Darunter fallen Unterrichtsmethoden, die auch für den Regelunterricht in Mathematik der Sekundarstufe 2 brauchbar sein können. Die Be- schäftigung mit einem oft polarisierenden Thema wird durch eine kritische Würdigung, so- wie einer persönlichen Reflexion abgerundet.
Abstract
When it comes to pedagogy, there is no lack of progressive educational ideas and concrete concepts. But when considering secondary level II, only a few of them are fully developed and ready to implement. In Austria one can find such progressive concepts in the form of Waldorf pedagogy, Montessori education, and in certain cases also as Dalton plan, whereas in Germany, for example, there are also Jenaplan schools.
In this thesis, teaching mathematics in secondary level II is considered from the perspective of Waldorf and Montessori education. The provided theoretical background with the innova- tive proposals for realisation and the comparison of the Montessori and the Waldorf schools with the regular Austrian school system is reinforced with examples taken from interviews. Educational ideas such as the orientation towards action, open learning, and the promotion of the pupils’ autonomy are transferred to mathematics classes. This includes teaching me- thods, which may also be useful for the mathematics classes of the secondary level II in regu- lar schools. Finally, this polarizing issue is concluded with a critical appraisal and a personal reflection.
Danksagung
ES GIBT DICH
Dein Ort ist wo Augen dich ansehn Wo sich die Augen treffen entstehst du
Von einem Ruf gehalten immer die gleiche Stimme, es scheint nur eine zu geben mit der alle rufen
Du fielest aber du fällst nicht Augen fangen dich auf
Es gibt dich weil Augen dich wollen dich ansehn und sagen dass es dich gibt
(Hilde Domin)
Die Realität bettet den Menschen ein unter seines gleichen, so auch mich. Sieht man es als Abhängigkeit oder willkommene Gabe, es ist einerlei. Hier möchte ich die Gelegenheit er- greifen, mich bei den Menschen, deren Augen mich ansehen, mich auffangen und existieren machen, zu bedanken.
Stellvertretend für jegliche Hilfestellung von Seiten meiner Verwandtschaft während meines Studiums, möchte ich meinen Eltern Agnes und Josef Niederl besonders meine Dankbarkeit ausdrücken. Auch den vielen inspirierenden Menschen, Freundinnen und Freunden, sowie meinem Partner, bin ich für die Unterstützung verschiedenster Art auf meinem Weg dank- bar.
Speziell in Bezug auf die vorliegende Diplomarbeit möchte ich mich bei Herrn Professor Thal- ler bedanken, der es mir ermöglicht hat, mich mit einem mir am Herzen liegenden Thema zu beschäftigen. Auch den vielen freundlichen Menschen, die mir Zugang zu Informationen und Einblicke in ihre Tätigkeit gewährt haben, möchte ich meinen Dank aussprechen, insbeson- dere Herrn Holger Finke und Herrn Andreas Bernhofer.
Zu guter Letzt möchte ich meine Achtung vor all den Menschen ausdrücken, die sich im Lau- fe der Zeit mit der Vermittlung von Inhalten, Schule und Unterrichtsformen beschäftigt ha- ben. Im Grunde kann man als interessierte junge Lehrperson aus dem Vollen schöpfen und an gut dokumentierte pädagogische Erfahrungen anknüpfen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ...... 1
2. Reformpädagogik - Einführung und Überblick ...... 4
2.1 Versuch einer Definition ...... 4
2.2 Wichtige reformpädagogische Strömungen und ihre Vertreter ...... 8
2.2.1 Montessoripädagogik ...... 8
2.2.2 Waldorfpädagogik ...... 12
2.2.3 Jenaplan-Pädagogik ...... 14
2.2.4 Daltonplan-Pädagogik ...... 16
2.2.5 Freinet-Pädagogik...... 18
2.2.6 Neue Reformpädagogik ...... 20
3. Reformpädagogischer Mathematikunterricht in der Sekundarstufe2 ...... 23
3.1 Reformpädagogik in der Sekundarstufe 2 ...... 23
3.1.1 Waldorfpädagogik ...... 23
3.1.2 Montessoripädagogik ...... 33
3.1.3 Situation in Österreich ...... 48
3.2 Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2 ...... 50
3.2.1 Grundmuster des mathematischen Arbeitens ...... 50
3.2.2 Ziele und Inhalte des Mathematikunterrichts ...... 55
3.2.3 Didaktische Prinzipien für den Mathematikunterricht ...... 58
3.2.4 Bildungsstandards, standardisierte Reife- und Diplomprüfung und kompetenz- orientierter Unterricht ...... 62
3.3 Reformpädagogischer Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2 ...... 66
3.3.1 Mathematikunterricht in der Waldorfpädagogik...... 66
3.3.2 Praxisbericht – Rudolf Steiner-Schule Mauer ...... 79
3.3.3 Mathematikunterricht in der Montessoripädagogik ...... 85
3.3.4 Praxisbericht ...... 89
4. Schließende Betrachtungen ...... 97
4.1 Umsetzung von reformpädagogischen Impulsen im Regelschulmathematikunterricht der Sekundarstufe 2 ...... 97
4.1.1 Handlungsorientierung im Unterricht ...... 98
4.1.2 Öffnung des Unterricht ...... 99
4.1.3 Selbstständigkeitsförderung im Mathematikunterricht ...... 106
4.2 Kritische Würdigung der Reformpädagogik ...... 107
4.2.2 Kritik an der Waldorfpädagogik ...... 110
4.2.3 Kritik an der Montessoripädagogik ...... 112
5. Reflexion ...... 114
6. Abbildungsverzeichnis ...... 119
7. Literaturverzeichnis ...... 119
8. Anhang ...... 129
1. Einleitung
„Die Schulen, so wie sie heute sind, sind weder den Bedürfnissen des jungen Menschen noch denen unserer jetzigen Epoche angepasst.“
(Maria Montessori)
Auch heute hat diese Aussage ihre Berechtigung. Das Schulsystem ist ständig im Wandel und wird durch Reformen und neue Ideen verändert, doch hinkt es immer der Gegenwart hin- terher. Natürlich gibt es im Bildungs- und Erziehungswesen sich über die Jahre bewährte Inhalte und Methoden. Doch die Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen verändert sich und diese jungen Menschen sollen unter anderem auch durch die Schulbildung auf ein erfüll- tes Leben in der Welt vorbereitet und in ihrer Entwicklung zu selbstbewussten, verantwortli- chen Menschen unterstützt werden. Nun stellt sich mir die Frage, wie man dies in der Unter- richtspraxis unterstützen kann.
Durch die eigene Erfahrung der Schulzeit, durch Praktika und auch durch die pädagogische und fachdidaktische Ausbildung an der Universität habe ich Ideen gesammelt, wie man Un- terricht entwicklungsunterstützend gestalten kann. Durch die Beschäftigung mit reformpä- dagogischen Zugängen kann man, so denke ich, weitere Ideen entwickeln. Dies ist einer der Gründe, warum ich mich für die Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik in meiner Diplomarbeit entschieden habe.
Ein weiterer Grund dafür sind sicher die Hospitation in einer Alternativschule, im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Universität, und der Besuch in einem Montessorikindergar- ten. Auch meine Eltern sind mit dem montessoripädaogischen Konzept vertraut. Diese Erfah- rungen haben mich neugierig gemacht und dazu veranlasst mich genauer mit diesem Thema zu beschäftigen. Das reformpädagogische Gedankengut mit dem Mathematikunterricht zu verbinden, reizte mich besonders.
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Stellt man eine etymologische Betrachtung des Wortes Mathematik an, kommt man zu fol- gendem Resultat:
Mit dem Wort ‚Mathematik‘ ist im Griechischen das Wort ‚Mathema‘ eng verbunden. Es be- deutet Lehrsatz. [...] Auch das Lernen hängt mit dem Wort ‚Mathematik‘ zusammen. So heißt der ‚Schüler‘ Mathetes und manthano bedeutet ‚ich lerne‘. (Vollrath 2012, S.44)
Wissen, Lehren und Lernen sind daher eng mit der Grundvorstellung der Mathematik ver- bunden. Auch wenn das Wort ‚Mathematik‘ mit dem Wort ‚Lehren‘ verwandt ist, stellt Ma- thematik in der Realität zu Lehren immer wieder eine große Herausforderung dar.
Durch den hohen Stellenwert von Computer, Medien und modernen Kommunikationsmittel haben angewandte mathematische Inhalte immer mehr Präsenz im gesellschaftlichen Alltag erlangt. Statistiken begleiten uns beispielsweise fast täglich. Dies wird auch in der aktuellen Bildungsdiskussion beachtet und beeinflusst den Unterricht durch Lehrplanentwicklungen, Bildungsstandards, bis hin zur Beispielfindung bei der standardisierten Reifeprüfung.
Deshalb gilt es nach wie vor, Mathematik allgemeinbildend zu vermitteln. Wie die Vermitt- lung umgesetzt werden kann, ist eine Frage, die das riesige Gebiet der fachdidaktischen und pädagogischen Konzepte einschließt.
Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch die folgenden Fragen zu beantworten:
• Welche Ansätze des reformpädagogischen Mathematikunterrichts in der Sekundar- stufe 2 gibt es? • Wie werden diese konkret umgesetzt? • Welche Ideen davon kann man im Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2 ei- ner Regelschule umsetzen?
Zuerst erwartet die/den LeserIn ein Versuch den Begriff Reformpädagogik, der eine lange Tradition aufweist, zu definieren und ein kurzer Überblick zu einigen reformpädagogischen Konzeptionen. Darauf folgt eine Heranführung an den reformpädagogischen Mathematikun- terricht in der Sekundarstufe 2. Die Montessori- und die Waldorfpädagogik mit ihren Kon- zepten zur Sekundarstufe 2 werden dabei herausgegriffen. In weiterer Folge wird der Ma- thematikunterricht in der Sekundarstufe 2 allgemein behandelt, die letzen beiden Punkte zusammengeführt und mit Beispielen illustriert. Die schließenden Betrachtungen beinhalten
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Möglichkeiten, wie reformpädagogische Impulse im Regelunterricht eingesetzt werden kön- nen, und eine kritische Würdigung der Reformpädagogik. In der abschließenden Reflexion finden meine Erfahrungen, Eindrücke und Gedanken über den Arbeitsprozess und die Inhalte Platz.
In der vorliegenden Diplomarbeit wird versucht durchwegs eine gendergerechte Sprache zu gebrauchen.
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2. Reformpädagogik - Einführung und Überblick
2.1 Versuch einer Definition Der Begriff ‚ Reformpädagogik‘ ist ein in den Erziehungswissenschaften gern verwendeter, oft mit Vorurteilen behafteter Überbegriff für verschiedene Ansätze in der Pädagogik und Didaktik. Im Duden Fremdwörterbuch wird folgende problematische Definition angeboten: Reformpädagogik ist eine pädagogische Bewegung, welche die Aktivität und Kreativität des Kindes fördern will und sich gegen eine Schule wendet, in der hauptsächlich auf das Lernen Wert gelegt wird (vgl. Duden 2001, S.850). Dieser Definition ist jedoch mit Vorbehalten zu genießen. Egal welches pädagogische Konzept in einer Schule umgesetzt wird, liegt ihr Fokus nicht immer auf dem Lernen der SchülerInnen?
Der Begriff ist leichter zu verstehen, wenn man sich mit der Geschichte und Entwicklung je- ner Denkströmungen in der Pädagogik und Didaktik auseinandersetzt. Heiner Ullrich leitet seinen Artikel ‚Zur Aktualität der klassischen Reformpädagogik‘ mit der folgenden Definition ein:
Gemeinhin bezeichnet man als ‚Reformpädagogik‘ (Neue Erziehung, Education Nouvelle, Nuo- va Educazione, Progressive Education etc.) die von kultur- und gesellschaftskritischen Motiven inspirierten, gegen die Schwächen des verstaatlichten Bildungssystems und die Zwänge der bürgerlichen Erziehungspraxis protestierenden pädagogischen Reformgruppen, Programme und Initiativen in Europa und Nordamerika im Zeitraum von etwa 1890 bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. (Ullrich 2008, S. 73)
Ehrenhard Skiera versucht in seiner Abhandlung ‚Reformpädagogik in Geschichte und Ge- genwart‘ eines der Hauptmotive reformpädagogischer Ansätze herauszuarbeiten. Die Re- formpädagogik
[…] stellt den Versuch dar, gegen die überlieferte, Angst generierende ‚alte‘ Erziehung einer demgegenüber ‚neuen‘ zum Durchbruch zu verhelfen, die das Glück des Kindes im Auge hat und die Zustimmung des Kindes sucht. Das trifft in etwa einen zentralen psychologischen As- pekt des heutigen Verständnis des Begriffs, insoweit er im Rahmen eines auf die Reform der Schule und des Unterrichts gerichteten Diskurses verwendet wird. (Skiera 2010, S.1)
Skiera widmet ein ganzes Kapitel dem Begriff und der Begriffsbildung der Reformpädagogik. Er übernimmt die Einteilung der Sichtweisen auf den Begriff der Reformpädagogik von Ull-
4 rich, die 1990 unter dem Titel ‚Die Reformpädagogik. Modernisierung der Erziehung oder Weg aus der Moderne?‘ in der ‚Zeitschrift für Pädagogik‘ erschienen ist. Ullrich versucht die enorme Vielzahl an Positionen, verschiedensten AutorInnen, zur Reformpädagogik zu fassen. Ullrichs vier Sichtweisen werden hier inhaltlich diskutiert, und um eine fünfte Position von Skiera ergänzt, nur um einen kleinen Einblick in die wissenschaftliche Rezeption dieses Beg- riffes zu geben.
(1) Reformpädagogik als die Wiederkehr und Fortsetzung einer schon dagewesenen Idee
Als ‚Trivialisierung der Reformpädagogik zum déjà vu‘ wird die erste Sichtweise von Ullrich betitelt und geht auf die These ein, Reformpädagogik nicht als eine Epoche in der Erzie- hungswissenschaftsgeschichte, zwischen 1890 und 1932, anzusehen (vgl. Skiera 2010, S.2). Ullrich bezieht sich bei dieser ersten Position auf Jürgen Oelkers Buch ‚Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte.‘. Ullrich fasst Oelkers Hauptthese folgendermaßen zu- sammen:
Was die Geschichtsschreibung ,Reformpädagogik‘ nennt, ist keine neue Epoche mit einer origi- nären und originellen Theorie und Praxis der Erziehung, sondern lediglich die Fortsetzung des
1 Projekts der neuzeitlichen Pädagogik. Für OELKERS ist seit COMENIUS und erst recht seit ROUSSEAU 2 Pädagogik immer ,Reformpädagogik‘ gewesen in dem Sinne, dass an die richtige Erziehung die Verbesserung der Welt geknüpft ist. (Ullrich 1990, S.895f)
(2) Reformpädagogik als ‚Welterziehungsbewegung‘ im Sinne des Anstoßes zu zahlreichen Veränderungen im Bildungsbereich
Aus dieser zweiten Position heraus wird die Reformpädagogik als eigenständige, einflußrei- che Bewegung betrachtet und von Ullrich auch mit ‚Monumentalisierung der Reformpäda- gogik zur epochalen Welterziehung‘ benannt. Die internationale Bedeutung der Reformpä- dagogik wird betont und trotz der Schwierigkeit, eine Definition des Begriffs ‚Reformpädago-
1 „Johann Amos Comenius (1592-1670) – Die Schule als Werkstätte der Menschlichkeit und als Ort freudigen Lernens“ (Skiera 2010, S. 36) Er wollte das Lernen und Lehren nach ihren Ursachen, Prinzipien und Ziele unter- suchen. Dies beinhaltete Schulkritik, Überlegungen zur Gestaltung des Unterrichts und der Räumlichkeiten, den Aufbau von Schulbüchern und vieles mehr. (vgl. Skiera 201, S.36f) 2 „Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist einer der tiefsten Denker der modernen Geschichte und eine Schlüs- selfigur der europäischen Aufklärung. Er war auch ihr gewaltigster Kritiker, der die politische, wirtschaftliche, theologische und sexuelle Extravaganz der Zivilisation verurteilt und damit auf begeisterte Zustimmung sowohl von Individualisten als auch von radikalen Revolutionären stieß.“ (Wolker 1999, S.2)
5 gik‘ zu fassen, versuchen die VertreterInnen eine adäquate Definition zu formulieren. (Vgl. Skiera 2010, S.4f)
(3) Reformpädagogik als rückschrittliche Vorstellung
Der dritte Ansatz den Ullrich in seinem Artikel nennt, ist die Sichtweise der ‚Auflösung der Reformpädagogik zur Fiktion und Regression‘. Als wichtigsten Vertreter wird Klaus Prange genannt, der die reformpädagogische Bewegung als eine rückschrittliche Reaktion auf eine „lebensgeschichtlichen Sinn- und gesellschaftlichen Kulturkrise“ (Skiera 2010, S.6) ansieht und die ‚Pädagogik vom Kinde aus‘ aufs Schärfste als eine Rückentwicklung kritisiert. (Vgl. Skiera 2010, S.5f)
(4) Reformpädagogik als Krisenbearbeitungsmuster
Die Reformpädagogik, als Reaktion auf eine soziokulturelle Krise, entsteht in der vierten Po- sition, im Gegensatz zur Vorherigen, aus der Frage heraus, was Reformpädagogik leisten kann um Lösungen für soziale Fragen in der modernen Welt zu finden. Sie war als Krisenbe- arbeitungsmuster dienlich, so die Antwort dieser Position. Als Vertreter dieser Sichtweise wird Heinz-Elmar Tenorth genannt, der meint, dass die reformpädagogische Bewegung eine Änderung in den Schulen herbeigerufen hat, jedoch insgesamt nicht erfolgreich war. (Vgl. Skiera 2010, S.6ff)
(5) Reformpädagogik als Möglichkeit zur Reflexion und Handlungsanleitung
Skiera ergänzt eine weitere Sichtweise, in der Reformpädagogik „eine pädagogische Reflexi- ons- und Handlungsform, die gegen unreflektierte einschränkende Zwänge der Institution ein Konzept des Lernens entwickeln und durchsetzen will, das angstfreies Lernen ermög- licht.“ (Skiera 2010, S.10)
Skieras Vorschlag ist einer mehrperspektivischen komplexen Arbeitshypothese zur Definition des Begriffs ‚Reformpädagogik‘. Obwohl er auf die Erziehung, das Rettungsmotiv der Re- formpädagogik und die Geschichte eingeht, liegt seiner Meinung nach der Schwerpunkt der Reformpädagogik im Bereich der Unterrichts- und Schulreform. (Vgl. Skiera 2010, S. 20ff) Hierbei findet er folgende Gestaltungsprinzipien, die alle Reformlinien gemeinsam haben:
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− Orientierung an den kindlichen Bedürfnissen und Interessen;
− Ein Lernen, das die einseitige intellektuelle Orientierung überwindet und die Aspekte der Aktivität, Kreativität und Lebensnähe einschließt;
− Schule als Lebensgemeinschaft, als ein Ort kooperativen, selbst- und mitverantwortli- chen Lernens und Lebens;
− Erziehung des ganzen Menschen. (Skiera 2010, S.22)
Auch bestimmte didaktisch-methodische und organisatorische Momente findet Skiera in nahezu allen reformpädagogischen Schulen:
− Gestaltung eines ästhetisch und intellektuell anregenden Lernmilieus;
− Aufnahme fächerübergreifender Lernbereiche und Unterrichtsprojekte;
− Möglichkeit der Mitbestimmung des Kindes bei der Wahl von Lernaktivitäten (mehr oder weniger weitgehend);
− Selbstbildungsmittel zur individuellen Arbeit, Partner- und Gruppenarbeit;
− Sprachlich differenzierte und informell-persönliche Leistungsberatung und - beurteilung (entweder prinzipiell oder zusätzlich);
− Bildung von Lerngruppen nach anderen Gesichtspunkten als Leistungs- und Altersho- mogenität (entweder prinzipiell oder zusätzlich);
− Öffnung der Schule gegenüber dem räumlichen und sozialen Umfeld als wichtigem Lern- und Erfahrungsraum;
− Betonung der kindlichen Eigenaktivität.(Skiera 2010, S.23)
In einschlägiger Literatur sind zahlreiche weitere Definitionsversuche zu finden, die sich zum Großteil den oben genannten Zugängen (1-5) zuteilen lassen. Die weitere Vertiefung der Analyse des Begriffs ist hier nicht notwendig, da die praktischen Umsetzungen in dieser Ar- beit im Vordergrund stehen. Um ein besseres Bild der Thematik zu erhalten werden im fol- genden Abschnitt einige reformpädagogische Konzeptionen vorgestellt.
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2.2 Wichtige reformpädagogische Strömungen und ihre Vertreter Einige wichtige reformpädagogische Ansätze werden im folgenden Kapitel kurz erklärt. Hier- bei geht es nicht um eine detaillierte, vollständige Wiedergabe aller Strömungen, sondern um einen kurzen Überblick. Der Anspruch alle Konzeptionen aufzulisten ist schon dahinge- hend schwer möglich, weil eine ständige Weiter- und Neuentwicklung im Gange ist. Beson- ders auf die Montessoripädagogik und die Waldorfpädagogik wird in den späteren Kapiteln vertiefend eingegangen und ein Bezug zum Mathematikunterricht hergestellt.
2.2.1 Montessoripädagogik Die italienische Ärztin, Pädagogin und Pionieren der Friedensbewegung Maria Montessori (1870-1952), trat für die Rechte des Kindes ein und stellte das Kind in den Mittelpunkt ihres Reformkonzeptes. Sie war eine der faszinierendsten Gründergestalten der internationalen reformpädagogischen Bewegung. 1907 übernahm sie die Leitung eines Kinderhauses (Casa dei bambini) in Rom, in dem Volksschulkinder unterrichtet wurden. Von dort aus entwickelte sich eine weltweit bekannte Bewegung zur Erneuerung der Erziehung in Montessoris Sinne. (Vgl. Skiera 2010, S.195f)
Entsprechend ihrer Entwicklungstheorie ist das Kind von Natur aus zu einer spontanen Ent- wicklung seiner motorischen, kognitiven und sozialen Funktionen fähig und verfügt sowohl über einen immanenten konstruktiven Aufbauplan als auch über eine innere schöpferische Entwicklungskraft […], welche die Aktivität des Kindes in periodisch auftretenden Phasen ge- steigerter innerer Sensibilität zielgerichtet steuert und zur aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt drängt. (Fuchs 2003, S.53)
Der oben genannte immanente konstruktive Aufbauplan des Kindes wird in der Literatur auch als innerer Bauplan bezeichnet. Er ist „Erklärungsschema für jeglichen Entwicklungs- prozess auf physischem, psychischem und sozialem Bereich“. (Fuchs 2003, S.55) Die Norma- lisation gemäß diesem inneren Bauplans, das heißt eine dem Kinde naturgemäße Entwick- lung, ist das Ziel der Erziehung (vgl. Skiera 2010, S.215).
Montessori erkennt in der Persönlichkeitsentwicklung drei klar abgrenzbare Abschnitte. […] Ihnen lassen sich jeweils mehrere elementare Empfänglichkeiten (Sensibilitäten) zuordnen, de- ren angemessene Förderung das Fundament für die optimale Entfaltung aller Potentialitäten bildet. (Klein-Landeck 2009, S.17) 8
Die elementaren Empfänglichkeiten auch sensitive Perioden (in Skiera 2010) oder sensible Phasen (in Frey 2007) genannt, verlaufen zeitlich individuell verschieden, jedoch nach einem für alle einheitlichen Phasenplan. Unter einer sensiblen Phase versteht man eine Zeit, in der „das Kind für die Ausbildung bestimmter körperlicher, geistiger und moralischer Vermögen in besonderer Weise disponiert ist.“(Skiera 2010, S.215) Die Entwicklung des Kindes wird in der Montessoripädagogik in den folgenden drei Abschnitten betrachtet:
Erster Entwicklungsabschnitt (0-6 Jahre): In diesem Abschnitt liegen die sensiblen Phasen für die Entwicklung der Bewegung, der Absorption von Sprache und die Bildung eines inne- ren Ordnungssystems (vgl. Frey 2007, S.31).
Die Zeit von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr wird als psychische- oder geistige Embryo- nalphase bezeichnet. Das Kind kann sich in dieser Zeit noch nicht bewusst mit der Umwelt aus- einandersetzten und bedarf ihrer Aktivität. (Frey 2007, S.31)
In den darauffolgenden drei Jahren, der sogenannten sozialen Embryonalzeit, beginnt das Kind die Welt bewusster wahrzunehmen, doch sehr viele Dinge werden noch rezeptiv aufge- nommen (vgl. Frey 2007, S.31).
Zweiter Entwicklungsabschnitt (6-12 Jahre): Diese Zeit beinhaltet die sensiblen Phasen des Kindes, die mit den Bedürfnissen „nach einer Erweiterung des Aktionsradius, die Entwicklung von Abstraktionsvermögen und Vorstellungskraft sowie die Sensibilität für moralische Fra- gen“ (Klein Landeck 2009, S.23), verbunden sind. In diesem harmonischen Abschnitt sollen dem Kind viele verschiedenen Lerngelegenheiten und ein weiteres soziales Umfeld in größe- rer Unabhängigkeit von der Familie geboten werden. Auch der Keim für das wissenschaftli- che Interesse ist, nach Montessori, in dieser Zeit zu legen. (Vgl. Klein Landeck 2009, S.23)
Dritter Entwicklungsabschnitt (12-18 Jahre) 1: In dieser labilen Zeit voller Unsicherheiten, Ängste, Zweifel und Distanz zu den Erwachsenen konzentriert sich die/der Jugendliche wie- der mehr auf sich selbst. Ein starkes Bedürfnis nach Verständnis, Geborgenheit und Sicher- heit entwickelt sich. Die Sensibilität für Selbstwert und Menschenwürde steht im Mittel- punkt. (Vgl. Klein Landeck 2009, S.24f)
1Auf diese Phase wird im Kapitel 3.1.2 ausführlicher eingegangen. 9
Um die Entwicklung des Kindes positiv zu beeinflussen, soll man eine entwicklungsfördern- de, adäquate Umgebung schaffen. Diese Umgebung soll frei von Hindernissen für die Ent- wicklung und dem Entwicklungsstand angepasst sein. Genügend neue Reize sowohl auf phy- sischer als auch auf geistiger Ebene werden in solch einer Idealen Umgebung für das Kind geboten. (Vgl. Frey 2007, S.32) Diese Umgebung ist für jeden Entwicklungsabschnitt eine andere. Montessori schlägt für die drei- bis sechsjährigen die Umsetzung in einem sogenann- ten Kinderhaus vor. Dieses soll wie ein wohlgeordnetes Haus eingerichtet sein, und die Kin- der können darin Aufgaben des praktischen/täglichen Lebens, Übungen zur Entwicklung der Bewegung und Sinnesübungen mittels der Entwicklungsmaterialien ausführen. (Vgl. Skiera 2010, S.220f)
In der Schule des Kindes, für die sechs- bis zwölfjährigen, sollte streng genommen der ge- samte Bildungskanon in Form von Materialien vorliegen. Montessorimaterialien gibt es für die Bereiche Sprache, Mathematik, Geometrie, Zeichnen, Musik und Poesie. Die Kinder ha- ben sowohl im Kinderhaus, als auch in der Schule viel Bewegungsspielraum, jedoch soll die Ordnung gewahrt werden. (Vgl. Skiera 2010, S.222) Wie eine passende Umgebung für die Kinder/Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und achtzehn aussieht, wird im Kapitel 3.1.2 genauer erklärt.
Doch nur die der Entwicklung angepassten Umgebung und die ansprechenden Materialien alleine führen noch zu keinem Lernprozess bei den Kindern. Hier spielt die Polarisation der Aufmerksamkeit eine große Rolle.
Die genaue Beobachtung von Kindern führte Montessori zur Entdeckung des von ihr so be- zeichneten Schlüsselphänomens ihrer Pädagogik, der Polarisation der Aufmerksamkeit. Damit ist die intensive Hingabe des Kindes an die Sache gemeint, in der es sich zeitweise von der Au- ßenwelt isoliert und sich nicht ablenken lässt. Kinder sind in der Lage, sich mit einer ungeheu- ren Intensität mit einem Gegenstand auseinander zu setzen, Tätigkeiten dabei immer wieder zu wiederholen und hoch konzentriert zu arbeiten. (Meisterjahn-Knebel 2003, S.18)
Gerade auch das Prinzip der freien Wahl der Tätigkeit in einer vorbereiteten Umgebung soll diese Bündelung der Aufmerksamkeit begünstigen (vgl. Klein-Landeck 2009, S.31).
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Dies ist auch der Grund, warum in der Montessoripädagogik der Unterrichtsform der Freiar- beit eine so große Bedeutung zukommt. Unter Freiarbeit im Sinne Montessoris wird eine Unterrichtsform verstanden,
in welcher der Schüler aus einem differenzierten Lernangebot den Gegenstand seiner Tätig- keit, die Ziele, die Sozialform sowie die Zeit, die er auf den gewählten Aufgabenbereich ver- wenden will, im Rahmen allgemeiner Vorstrukturierungen selbst bestimmen kann. Für den Ab- lauf der selbstgewählten Arbeit gilt, dass der Schüler sich frei im Raum bewegen und auch Kon- takt mit Mitschülern aufnehmen darf, […], sofern und soweit die Arbeit der anderen Schüler dadurch nicht gestört wird. Mit der Wahl der Arbeit ist die Verpflichtung verbunden, sie mög- lichst auch zu Ende zu führen. (Ludwig 1996, S.247)
Inhaltlich orientieren sich Montessori-Schulen am traditionellen Bildungskanon mit dem Schwerpunkt im intellektuellen Bereich. Als Besonderheit gilt die ‚Kosmische Erziehung‘, die als Aufbau eines Bewusstseins allumfassender Zusammengehörigkeit zur Entwicklung einer globalen Verantwortung und Friedenserziehung erklärt werden kann. Die Rolle der Lehrper- son in der Montessoripädagogik ist nicht mit der traditionellen LehrerInnenrolle vergleich- bar. Die Lehrperson hat die Aufgaben, eine vorbereitete Umgebung zu schaffen und das Entwicklungsgeschehen behutsam zu begleiten. Durch das Mitwirken im Unterrichtsgesche- hen wird der rechte Gebrauch des Materials vermittelt und bei Abweichungen ihres Verhal- tens werden die SchülerInnen wieder sanft und konsequent auf den richtigen Weg geführt. Voraussetzung für das Arbeiten als LehrerIn ist die Gabe der Beobachtung von individuellen Entwicklungsverläufen. Grundsätzlich passiert das erzieherische Handeln nach dem Motto: Hilf mir, es selbst zu tun. (Vgl. Skiera 2010, S.232)
Zusammenfassend werden hier noch didaktische Prinzipien für Montessori-Schulen ange- führt, die von Gudula Meisterjahn-Knebel formuliert wurden um einen Maßstab für die Qua- lität von Montessori-Schulen vorzulegen (vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.24):
− Prinzip der Vorbereitung: Eine vorbereitete Umgebung entspricht der Grundüberzeu- gung des Selbstaufbaus des Menschen und orientiert sich am Alter des Kindes. − Prinzip der Entsprechung: Eine angemessenen Anpassung von Entwicklungsstand und gezielter Herausforderung führt zur Polarisation der Aufmerksamkeit/Konzentration. − Prinzip der Individualisierung des Lernens
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− Prinzip der freien Wahl der Tätigkeit: Die Arbeit, die Partner und die Zeit darf gewählt werden. − Prinzip der Jahrgangsmischung − Prinzip der Heterogenität und Inklusion − Prinzip der Nichteinmischung: Dazu gehört eine veränderte Haltung und Rolle der Lehrperson, die ein Zurücktreten hinter die Selbsttätigkeit des Lernenden fordert. − Lehrplan: Inhalte werden in einen allgemeinen Rahmenplan mit Bereichen wie Na- tur, Kultur und Gesellschaft eingeteilt. Zum Bereich Kultur gehören beispielsweise die Muttersprache, Fremdsprachen, Mathematik, Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde, Philosophie und neue Medien. Das Interesse der Lernenden ist der inhaltliche Lehr- plan, die Methode ist der Weg, den der/die SchülerIn zur Erarbeitung der Inhalte wählt (z.B. Freiarbeit, Kursen, Epochen, Projekte,…). − Leistungsnachweise: Statt Notenzeugnisse gibt es Informationen zum Entwicklungs- und Lernprozess, nach ausgearbeiteten Dokumentationsformen in einem kategori- sierten System.
Im 3. Kapitel wird vertiefend auf die Montessoripädagogik eingegangen und besonders ihre Anwendung in der Sekundarstufe 2, sowie ihre Rolle in der Mathematikvermittlung disku- tiert. Kritikpunkte zum hier beschriebenen Konzept werden unter 4.2.2 angeführt.
2.2.2 Waldorfpädagogik Rudolf Steiner 1 (1861-1925) ist der geistige Vater der Waldorfpädagogik und schulte auch das Lehrpersonal der ersten Waldorfschule, die 1919 in Stuttgart gegründet wurde (vgl. Skie- ra 2010, S.233). Von Deutschland aus, wo sich die Waldorfschul-Bewegung mit Ausnahme der Zeit des Nationalsozialismus kontinuierlich entfalten konnte, wurden diese Gedanken in europäische und außereuropäische Länder weitergetragen (vgl. Skiera 2010, S.234).
Skiera beschreibt im Buch ‚Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart‘ aus neutraler Sicht, unter anderem auch die Weltanschauung, die hinter der Waldorfpädagogik steht. Die- se beinhaltet auch den Glauben an ‚Karma‘ (Schicksalsgesetz) und ‚Reinkarnation‘ (Wieder- geburt) (vgl. Skiera 2010, S. 266). Der „Mensch ist Spiegelbild des Kosmos und entwickelt sich gleichgerichtet mit diesem in einer vorherbestimmten Stufenfolge in Richtung Vergeisti-
1 Kompakt zusammengefasste Informationen zu Rudolf Steiner und der umstrittenen Anthroposophie findet man im Buch ‚Anthroposophie – Kurz und Bündig‘ (Kuberski 2010). 12 gung.“ (Skiera 2010, S. 266) Weiters bestehe der Mensch, im Sinne der Waldorfpädagogik, aus vier Leibern, die sich im Rhythmus von sieben Jahren entfalten. In dieser Vorstellung entwickelt sich zuerst der physische Leib, der sein Gegenüber im Kosmos durch die minerali- sche Welt hat. Danach der Ätherleib (Lebensleib), dessen kosmische Entsprechung die pflanzliche Welt wäre. Weiters entwickle der Mensch den Astralleib (Seelen- und Empfin- dungsleib), der auch der Tierwelt eigen sei, und in der letzten Stufe entfalte sich der Ich- Leib, der Geist. Je nach Entwicklungsstufe ändere sich auch der Lernbegriff. In der ersten Stufe werde durch Nachahmung, in der Zweiten durch Nachfolge, in der Dritten durch sachli- ches Prüfen und Denken und in der letzten durch Selbsterziehung gelernt. (Vgl. Skiera 2010, S.267)
Neben dieser Stufenlehre sei es für die Lehrpersonen auch wichtig, über die Vorstellung der Persönlichkeit des Menschen Bescheid zu wissen. „Die Individualität des Kindes ergibt sich aus der Mischung der vier Temperamente: cholerisches, sanguinisches, melancholisches, phlegmatisches.“ (Skiera 2010, S.267)1 Es sei die Aufgabe von Erziehung und Unterricht, zwi- schen den Temperamenten einen Ausgleich anzustreben (vgl. Skiera 2010, S.247).
Unterrichtet werden alle üblichen Fächer mit einer durchgehend anthroposophischen 2 Ori- entierung. Besonders hervorgehoben werden in der Waldorfpädagogik die künstlerische Ausgestaltung jedes Unterrichts, die Handarbeit und praktisches Lernen. Schon sehr früh wird Fremdsprachen- und Instrumentalunterricht eingeführt. Ein spezielles Unterrichtsfach, welches in allen Klassen unterrichtet wird, ist die Eurythmie 3. (Vgl. Skiera 2010, S.267)
Der Unterricht in den Hauptfächern wird in Form von ca. vierwöchigen Epochen geblockt abgehalten. Dabei werden fast keine Lehrbücher verwendet, sondern selbst ‚Epochenhefte‘
1 Man findet diese schon bei Hippokrates (460-377 v. Chr.). Sie sind ein Versuch das Temperament des Men- schen analog zu den vier Elementen und den vorherrschenden Körpersäften zu gruppieren. In der frühen Psy- chologie (z.B. Wundt 1903) wurde dieses System übernommen und weiterentwickelt. Jedoch ist man zu faktor- analytisch begründeten Modellen der Persönlichkeit übergegangen, wie beispielsweise das Big Five-Modell. (Vgl. Neubauer 2009, S. 91-95)
2 Die Anthroposophie, ist die Lehre nach der der Mensch höhere seelische Fähigkeiten entwickeln und dadurch übersinnliche Erkenntnisse erlangen kann. Sie wurde von Rudolf Steiner begründet. (vgl. Duden 2001, S. 71) 3 Eurythmie ist eine in der Anthroposophie gepflegte Bewegungskunst und Bewegungstherapie, bei der Ge- sprochenes, Vokal- und Instrumentalmusik in Ausdrucksbewegungen umgesetzt werden. (vgl. Duden 2001, S.286) 13 angelegt. Das organisch-genetische Lernen 1, sowie die rhythmische Gestaltung des Schulall- tags, sind von besonderer Bedeutung. (Vgl. Skiera 2010, S.267) Jede Unterrichtsstunde hat vier Teile: den rhythmischen Teil, den Wiederholungsteil, die Erarbeitung neuer Inhalte und eine Übungsphase (siehe Kapitel 3.3.2). In der Waldorfschule gibt es keine Noten, kein No- tenzeugnis und kein Sitzenbleiben (vgl. Skiera 2010, S.261).
Die Lehrpersonen wirken durch die Gestaltung der Umgebung, durch die individuelle Persön- lichkeit selbst und weiters durch eine künstlerisch-souveräne Handhabung der Tempera- mente. Je nach Entwicklungsstufe sind die LehrerInnen Vorbilder, Autoritäten, bieten einen sachlichen Unterricht oder unterstützen die Berufsbildung. (Vgl. Skiera 2010, S. 267)
Die Umsetzung der Waldorfpädagogik in der Oberstufe und auch die Vermittlung der ma- thematischen Inhalte, werden im 3. Kapitel noch genauer besprochen. Im Kapitel 4.2.1 ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik zu finden.
2.2.3 Jenaplan-Pädagogik Als Peter Peterson 2 1924 seinen Schulversuch an der Universität Jena einrichtete, war er vertraut mit den pädagogischen Reformbestrebungen seiner Zeit. Die Reformlinien von John Dewey 3, Helen Parkhurst (siehe 2.2.4 Daltonplan), Maria Montessori (siehe 2.2.1 Montesso- ripädagogik), Rudolf Steiner (siehe 2.2.2 Waldorfpädagogik) und viele andere waren ihm inhaltlich bekannt. In seinem wissenschaftlichen Versuch wollte Peter Peterson die tragen- den Einsichten dieser reformpädagogischen Ansätze zusammenführen. (Vgl. Skiera 2010, S.289)
Ausgehend von den Ansätzen Petersens geht es in den heutigen Jenaplanschulen um die Aus- arbeitung einer Didaktik, die den Prinzipien der Lebensnähe, des vernetzten, fächerübergrei- fenden Lernens sowie der Selbsttätigkeit genügen. (Skiera 2010, S.300)
„Wer sich auf das Schulmodell Jena-Plan einlässt, begibt sich in den Rahmen einer Gemein- schaftsschule und damit verbunden einer speziellen Art der Gesellschaftskritik.“ (Koerrenz 2012, S.27) Die Gemeinschaft ist das Fundament einer Jenaplanschule im praktischen und
1 Z.B. vom Korn zum Brot, vom Baum zum Werkstück aus Holz (vgl. Skiera 2010, S. 267), sowie über das geneti- sche Lernprinzip unter Punkt 3.2.3. 2 Geboren 1884, verstorben 1952 (Skriera 2010, S. 309) Weitere Anmerkung zur Person: Peterson war nicht Mitglied in der NSDAP, doch passte er sich an nationalsozialistische Denkweisen an. Dies führt zu einer kontro- versen Diskussion um seine Person. (vgl. Skiera 2010, S.293) 3 John Dewey(1859-1952): amerikanischer „Philosoph und Pädagoge der Demokratie“ (Bohnsack 2005, S. 119) 14 theoretischen Sinne. Die Gemeinschaft hat Funktionen im Inneren, dabei geht es um eine bestimmte Art der Kommunikation und einen normativen Rahmen mit einer identitätsstif- tenden Appellfunktion. Nach außen hin entsteht durch die Gemeinschaft eine Differenzie- rung und markiert somit eine kulturkritische Abgrenzung. Diese beiden Aspekte tragen die Vorstellung der Schule als eine Gegenöffentlichkeit. (Vgl. Koerrenz 2012, S.27)
In Schulen, die nach dem Jenaplan unterrichten, werden die Jahrgangsklassen abgelöst von Stammgruppen, die jeweils mehrere Jahrgänge zusammenfassen. Dadurch soll das Gemein- schaftsleben gefördert und eine Kontinuität im Sozialen gegeben werden. So ist beispiels- weise auch das ,Sitzenbleiben‘ für SchülerInnen in dieser Struktur weniger schwierig zu be- wältigen. Doch die SchülerInnen verbringen nicht die ganze Unterrichtszeit in den jeweiligen Stammgruppen. Es werden beispielsweise auch Lerngruppen nach Leistungsniveaus und Sachinteressen gebildet. Eine weitere methodisch-didaktische Besonderheit ist der Wochen- arbeitsplan. Diese Pläne sehen in jeder schulischen Umsetzung anders aus, beinhalten die vier Bildungsgrundformen Gespräch, Spiel, Arbeit, Feier und dienen der Organisation der Zeit. (Vgl. Skiera 2010, S.303f)
Der Unterricht findet nicht in traditionellen Klassenzimmern, sondern in sogenannten Schulwohnstuben statt. Obwohl Peterson die Pflege der Aufmerksamkeit befürworte, so lehnt er doch die Fixierung der Konzentration auf den Lehrer/die Lehrerin ab. (Vgl. Klein- Landeck 2009, S.131) „Petersen reflektiert die Gestaltungsmöglichkeiten des Schulraums daher vor allem im Hinblick auf die Förderung eines freien Gemeinschafts- und Arbeitsle- bens.“ (Klein-Landeck 2009, S.131) Das Mobiliar soll einfach und leicht beweglich sein, um schnell neue pädagogische Situationen schaffen zu können. Die SchülerInnen dürfen den Raum intensiv mitgestalten und auch Dinge von zu Hause mitbringen, so dass sie den Raum als den Ihrigen wahrnehmen. Der Raum soll beispielsweise mit Bildern und Blumen ge- schmückt werden. (Vgl. Skiera 2010, S.305)
Petersen lehnt Zensuren-, Prüfungen- und Versetzungssysteme ab und schlägt stattdessen eine verbale Charakteristik der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes vor (vgl. Skiera 2010, S.305). Konkret sieht die Beurteilung folgendermaßen aus:
In den heutigen Jenaplanschulen wird häufig eine selbstentwickelte formalisierte Form verba- ler Beurteilung verwendet. In den einzelnen Lernbereichen ist im ,Informationsbogen‘ eine An-
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zahl an Teilleistungen formuliert, die entsprechend angekreuzt werden. Der ,Informationsbogen‘ wird Kindern und Eltern am Ende eines Jahres oder Halbjahres ausgehän- digt und mit dem Kind (und evt. den Eltern) besprochen. (Skiera 2010, S.305)
Die heutigen Jenaplanschulen orientieren sich an den verbindlichen Lehrplänen. Im Allge- meinen wird das fächerübergreifende Lernen betont, dies zeigt sich auch in projektorientier- tem Unterricht. Die Lehrpersonen sind im Kontext der Jenaplanschule Organisatoren, die eine Ordnung schaffen und kindliche Lernprozesse leiten. Wichtig ist die persönliche päda- gogische Haltung zur Begeisterungsfähigkeit. (Vgl. Skiera 2010, S.309f)
2.2.4 Daltonplan-Pädagogik Beeinflusst von der Zusammenarbeit mit Maria Montessori (vgl. Popp 1999, S.27-30) und der eigenen Erfahrung als Lehrerin, entwickelte Helen Parkhurst 1 den ‚Laboratory Plan‘, der in seiner Weiterentwicklung Daltonplan heißt (vgl. Skiera 2010, S. 277f).
Helen Parkhursts Daltonplan wurde nach der Stadt Dalton in Massachusetts benannt, wo ihn die britische Fachwelt im Jahre 1920 entdeckte, und englische (Reform-) Pädagogen waren es vor allem, die dieses Reformkonzept für die Sekundarschule international bekannt machten, so dass in den zwanziger und dreißiger Jahren eine weltweite Rezeption mit eindrucksvollen Ex- perimenten und Ergebnissen einsetzte. Die größte Kontinuität erreichte der Daltonplan in den Niederlanden, wo er von den zwanziger Jahren an bis in die Gegenwart praktiziert wird. (Popp 1999, S.13)
Der Grundansatz des Daltonplans ist Folgender: „Über die Befreiung von (unnötigen) Zwang sollen die Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Schule insgesamt grundlegend erneuert werden.“ (Skiera 2010, S.269) Dies passiert durch „eine Individualisierung des Lernganges bei gleichzeitiger Berücksichtigung der sozialen Komponente schulischer Erziehung.“ (Skiera 2010, S.270)
Der Vorzug des Planes besteht vor allem darin, dass er das Kernproblem der Schularbeit her- ausarbeitet und pragmatische Lösungen anbietet, die vollständig im Rahmen empirischer Er- fahrung und rationaler Argumente diskutiert werden können. Sie fußen auch nicht auf einer ausgearbeiteten Entwicklungslehre oder einer speziellen inhaltsorientierten Didaktik, die es zunächst zu akzeptieren gelte. (Skiera 2010, S. 271)
1 Helen Parkhurst lebte von 1886-1973. (vgl. Popp 1999, S. 13) 16
Es geht beim Daltonplan rein um die Art des Unterrichtens, um die methodischen Ansätze.
Im Allgemeinen orientiert sich der Unterricht nach dem Daltonplan an dem vorgegebenen Lehrplan und ist auch in einer Regelschule umsetzbar. Es gibt in der Klasse sogenannte Facharbeitsecken (Subject corner) oder auch ganze Klassenräume (Laboratory), die nur für ein Schulfach reserviert sind. In Phasen der Freiarbeit können die SchülerInnen individuell im eigenen Lerntempo und eigener Herangehensweise die Inhalte erarbeiten. (Vgl. Skiera 2010, S.287) Jedes Kind hat ein eigenes Pensum (assignment) an Inhalten zu bewältigen, das je nach Alter der Kinder für einen Tag, mehrere Tage, für eine Woche oder gar ein Jahr im Vor- hinein festgelegt wird. Das Pensum ist klar formuliert, beinhaltet zielorientierte Lernaufga- ben, ist an die individuellen Voraussetzungen der SchülerInnen angepasst, klar in Stufenfol- gen strukturiert, gibt Hinweise zu Studienmaterial und Anregungen zu Querverbindungen in andere Schulfächer. Dieses schriftlich festgehaltene Lernpensum ist eine vertragsähnliche Verpflichtung des Schülers, dessen Einhaltung von der Lehrperson überprüft wird. (Vgl. Skie- ra 2010, S.273 u. S.281f)
Lernfortschritte der einzelnen SchülerInnen werden fächerbezogen als Graphen auf den Kontrollkarten dargestellt. Diese Methode beinhaltet nicht nur eine Kontrollfunktion, son- dern soll auch die Arbeitsmoral und die Leistungsbereitschaft der SchülerInnen unterstützen. (Vgl. Skiera 2010, S. 282f)
Die Rolle der Lehrperson ist in diesem Zusammenhang die eines Gestalters der erzieheri- schen Umgebung. LehrerInnen sollen ermutigen und Anerkennung erteilen. Sie sind Beglei- terInnen, BeraterInnen und in den Fachräumen auch SpezialistInnen. (Vgl. Skiera 2010, S.287)
Als aktuelles praktisches Beispiel möchte ich hier das Cooperative Offenes Lernen – COOL 1 nennen. Dieses startete als Pionierprojekt eines LehrerInnenteams an der BHAK/BHAS Steyr und basiert auf dem Daltonplan. Als Grundprinzipien werden Wahlfreiheit und Eigenverant- wortung für den Lernfortschritt, Zusammenarbeit, Teamfähigkeit und selbstständiges Planen und Organisieren angeführt. Die Initiative COOL war eine Reaktion auf die zunehmende He- terogenität in den Klassen und die Forderungen der Arbeitswelt nach selbständigen, verant-
1 Genaue Informationen wie Qualitätskriterien, Netzwerkpartner und gesammelte Medienberichte findet man auf der Hompage des Impulszentrum für COOL, unter http://www.cooltrainers.at/. 17 wortlichen und kommunikativen AbsolventInnen. (Vgl. cool – cooperatives offenes lernen, Was ist COOL?)
2.2.5 Freinet-Pädagogik Der französische, von kommunistischem Gedankengut beeinflusste Reformpädagoge Célestin Freinet (1896-1966) entwickelte in der Zeit nach seinem Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg, als Volksschullehrer eine neue Art zu Unterrichten. Auch weil es ihm durch eine Kriegsverletzung nicht möglich war seine Stimme zu strapazieren und weil er von der Idee einer anderen Schule beseelt war.(Vgl. Skiera 2010, S.311ff)
Sein ganzes Leben lang ist Freinet darum bemüht, eine Natur nahe Erziehung mit natürlichen Methoden in einer entsprechend vorbereiteten Umgebung zu verwirklichen. […] Ein Schulgar- ten, Kleintiergehege und Werkstätten gehören nach seiner Auffassung ebenso zu einer den Er- fordernissen unserer Zeit entsprechenden Erziehung wie das Vorhandensein einer umfangrei- chen Schulbücherei, der Einsatz moderner technischer Medien und das Arbeiten nach indivi- duellen Arbeitsplänen, die auf die Fähigkeiten und Interessen der Schüler abgestimmt sind. (Jörg 1992, S.98)
Ziele der Freinet-Pädagogik sind (vgl. Jörg 1992, S.98-101):
• Die Bedürfnisse und Rechte des Kindes werden geachtet, das heißt die SchülerInnen können den schulischen Alltag mitgestalten. • Die Eigenart und Identität des Kindes wird zugelassen, im Gegensatz zu manchen meist politischen Ideologien, die verbindliche Normen anstreben. • Die erzieherische Wirkung der Arbeit, des Experimentierens und Erlebens wird be- achtet. • Die erzieherische Wirkungskraft des Erfolges wird eingesetzt. • Der freie kindliche Ausdruck wird gefördert. • Die SchülerInnen werden zur Kooperation, Mitverantwortung und Kritikfähigkeit er- zogen.
Diese Ziele sollen in einer Schule, die nach Freinet-Pädagogik geführt wird, Einfluss haben. Dahingehend sollen „praktikable und verantwortbare neue Unterrichtsformen“ (Skiera 2010, S. 324) entwickelt werden. Freinet schlägt als Lehrmethode beispielsweise Ateliers für die Bereiche Landwirtschaft, Handwerke, Haushalt, Handel, Naturwissenschaften, Kunst, Gestal-
18 tung und Kommunikation vor. Diese können innerhalb oder außerhalb des Klassenraums eingerichtet werden und sollen für die jeweiligen manuellen, geistigen oder künstlerischen Aktivitäten ausgestattet sein. Weitere wichtige Arbeitsmittel und Techniken, die auch im Rahmen von Ateliers eingesetzt werden können, sind: die Arbeitsbücherei, Versuchskarten, Nachschlagekarteien, Arbeitskarten mit Lösungen, akustische Lernprogramme, die Schuldru- ckerei, das Arbeiten mit Projektor/Tonband/Film, Studium des lokalen Milieus, die Korres- pondenz mit anderen Klassen und Schulen, der freie Ausdruck und Vorträge von SchülerIn- nen und ExpertInnen. Diesem Reservoir an pädagogischen Techniken sind prinzipiell keine Grenzen gesetzt. Auch der Einsatz von Computern und modernen technischen Medien jeder Art ist willkommen. (Vgl. Skiera 2010, S.324ff u.329)
Um die Arbeit und das soziale Leben in der Schule zu organisieren, werden die folgenden drei methodischen Instrumente eingesetzt (vgl. Skiera 2010, S.325):
Klassenrat: Dadurch können sich die SchülerInnen selbst verwalten, d.h. Regeln aufstellen, Reflektieren, Diskutieren und Lösungen finden.
Individueller Arbeitsplan: Dieser wird am Anfang der Woche in persönlicher Absprache zwi- schen SchülerIn und LehrerIn erstellt und umfasst verschiedene Lernbereiche mit Aufgaben. Mit der Wochenplanarbeit sind individuelle Leistungskurven der SchülerInnen verbunden. Alle im Laufe der Woche gemeisterten Aufgaben, Ergebnisse und Beurteilungen werden dar- in festgehalten. „Außerdem wirken die Schüler bei den meisten Leistungsbeurteilungen durch Abstimmungen mit und bekommen so sehr schnell ein natürliches und untrügliches Urteil für eine Leistung.“ (Jörg 1992, S.104)
Wandzeitung: In ihr werden Kritik, Lob, Wünsche und Arbeitsergebnisse präsentiert.
Der Lehrperson kommt eine organisatorische, begleitende Rolle zu. Die frontale Position vor der Klasse wird aufgegeben und durch eine „pädagogische Haltung, die Kinder bei ihrem eigenen Lernprozess in vielfältiger Weise anregend, korrigierend, beratend, ermutigend zu begleiten sucht“ (Skiera 2010, S.326), ersetzt.
„Ohne die Einflüsse im einzelnen immer nachzeichnen zu können, ist die Freinet-Pädagogik zweifellos zu einer bedeutsamen Bewegung geworden, die weit über den Kreis ihrer internati- onal verbreiteten Anhängerschaft hinaus Wirkungen auf das Bild und die Praxis der Schule all- gemein entfaltet hat.“ (Skiera 2010, S. 327) 19
2.2.6 Neue Reformpädagogik Unter dem Namen ‚Neue Reformpädagogik‘ versteht man Schul- und Unterrichtskonzeptio- nen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vlg. Skiera 2010, S.355). Zu diesen Konzep- tionen gehören zum Beispiel die Community Education, die Alternativschulpädagogik, die Storyline-Methode, der Offene Unterricht, die Reggiopädagogik und viele weitere. Die drei erstgenannten Strömungen werden hier zusammenfassend dargestellt. 1
2.2.6.1 Community Education – Gemeinwesenorientierte Erziehung Community Education geschieht am besten in der ‚Community School‘, die in sich die beiden zentralen Bildungsbereiche aufnimmt, nämlich den schulischen Pflichtbereich und den nach Neigung und Bedürfnis genutzten Bereich für alle Mitglieder der Gemeinde, auch der Kinder und Jugendlichen. Die innere Vernetzung der beiden Bereiche kann in sehr verschiedenen Gra- den gedacht und entwickelt werden. (Skiera 2010, S.362)
Das heißt, die Schule wird für die Gemeinschaft geöffnet. Skiera verweist auf die folgenden sieben Merkmale, die Reinhardt Klaus in seinem Buch ‚Öffnung der Schule‘ (vgl. Klaus 1992, S.167-199) aufzeigt:
• Eine Entwicklung und aktive Gestaltung der Wechselwirkung zwischen Schule und sozialem Umfeld findet statt. In dem Sinne, dass sich die Gemeinde der Schule ge- genüber öffnet und Engagement zeigt und, dass sich die Schule für die Nachbarschaft öffnet. • Der Ausbau der Schule zu einem multifunktionalen soziokulturellen Zentrum, als Ort vielfältiger sozialer Beziehungen durch gemeinsame Aktivität, wird gefördert. • Es werden Curricula entwickelt, die verstärkt die lebensgeschichtlichen Hintergrün- de, Interessen, aktuelle Ereignisse und die jeweilige Umwelt berücksichtigen. • Elternhaus und Schule kooperieren eng miteinander. • Es passiert eine Verknüpfung von außerschulischen und innerschulischen Lernorten. • LaienpädagogInnen werden in den Unterricht einbezogen. Es werden ExpertInnen aus dem Kreis der Freunde, der Familie, der Bekannten und Nachbarn angeworben. • Die Schule kooperiert mit Sozialpädagogik, sowie der Jugend- und Sozialarbeit, damit die Öffnung der Schule gegenüber der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen mit alle ihren Problemen gelingt.
1 Bei Interesse an den zwei weiteren Strömungen verweise ich auf Göhlich 1997. 20
2.2.6.2 Alternativschulpädagogik Im Gegensatz etwa zu Montessori oder Steiner berufen sich Alternativschulen nicht auf eine bestimmte Entwicklungslehre. Ihr Bild des Kindes kann am ehesten in einem allgemeinen Sinn als ein interaktionistisches bezeichnet werden. Das heißt: Kinder entwickeln sich in einem of- fenen Prozess selbst in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Jeder Bezug auf eine explizite Entwicklungslehre könnte diesen Prozess determinieren und das Prinzip der Freiheit untergra- ben. (Skiera 2010, S.347)
Beeinflusst von Anarchismus und basisdemokratischen politischen Vorstellungen, sowie der antiautoritären Erziehung, wird dem Kind in der Alternativschulpädagogik ein Anspruch auf Glück, Selbstbestimmung, Geborgenheit und das Respektieren seiner Bedürfnisse zugespro- chen. Als Erziehungsziel gilt der autonome Mensch mit seinen Fähigkeiten zur Mitbestim- mung, zur Verantwortungsübernahme und zum vernetzten Denken. Einen spezifischen Lehrplan gibt es nicht, die Betonung liegt beim fächerübergreifenden, sozialen und ökologi- schen Lernen. Die Lehrperson ist ein zurückhaltender Prozessbeobachter, Berater und Mit- organisator auf gleicher Ebene wie die SchülerInnen. (Vgl. Skiera 2010, S.352f)
2.2.6.3 Storyline-Methode Diese Methode ist auch unter anderen Namen wie Scottish Method, Glasgow Method oder Topic studies bekannt (vgl. Skiera 2010, S. 369).
Im Wesentlichen geht es darum, gegen die Zersplitterung in schulische Einzelfächer und Ein- zelstunden (und die damit häufig einhergehende Demotivation der Schülerinnen und Schüler) ein projektartiges Lernen zu entwickeln, in dem über die ,story‘ ein motivierender Zusammen- hang zwischen einzelnen Lernbereichen und Lerninhalten hergestellt wird, und zwar in der Weise eines dynamischen, in den Einzelheiten unter Beteiligung von Lehrern und Schülern sich entwickelnden Geschehens. (Skiera 2010, S. 369)
Die Lerninhalte gruppieren sich um die Geschichte, der Klassenraum wird zur Bühne, die Lernzeit ist nicht in inhaltlich getrennte Stunden geteilt und die SchülerInnen gestalten die Geschichten selbst mit. Dabei werden die SchülerInnen mit Fragen und Problemen anstatt mit Antworten konfrontiert und sie müssen auf ihr Wissen zurückgreifen. Die SchülerInnen und LehrerInnen erforschen gemeinsam Ideen in experimentellen Situationen. So entstehen Ausstellungen in der Klasse und individuelle Arbeitsergebnisse die schriftlich oder visuell dokumentiert werden. Dieser neue Ansatz (außerhalb Schottlands erst etwa in den letzten
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20 Jahren praktiziert) ist eine spezielle Art des Projektunterrichts, der auch viele verschiede- ne reformpädagogische Motive beinhaltet. (Vgl. Skiera 2010, S.369f)
In der deutschen Zeitung ‚Die Zeit‘ erschien im Jänner 2013 ein Artikel, indem eine Schule, die nach dieser Methode arbeitet, porträtiert wurde. Dabei handelt es sich um die Østerskov Efterskole 1 im dänischen Hobro. Diese Schule ist ein Internat für Acht- bis Zehntklässler, in der alle Inhalte durch Rollenspiele vermittelt werden. Hier passiert es auch, dass der Ma- thematiklehrer sich als Archimedes verkleidet. (Vgl. Arndts 2013)
1 Hompage der Schule: http://osterskov.dk/ 22
3. Reformpädagogischer Mathematikunterricht in der Sekundarstufe2
3.1 Reformpädagogik in der Sekundarstufe 2 Nicht jede reformpädagogische Strömung beinhaltet ein Konzept für die Umsetzung in allen Altersstufen. Gerade inhaltliche und praktische Ausarbeitungen für die Sekundarstufe 2 feh- len oft. Nach dem allgemeinen Überblick zur Reformpädagogik im letzten Kapitel versuchen die folgenden Seiten jene reformpädagogischen Denkrichtungen hervorzuheben, die auch im Unterricht der Sekundarstufe 2 in Österreich umgesetzt werden.
3.1.1 Waldorfpädagogik Die Waldorfpädagogik besitzt ein theoretisches Konzept zum Schulalltag im Jugendalter und kann auch mit zahlreichen praktischen Erfahrungen in diesem Bereich aufwarten. Vom Wal- dorfbund Österreich wurde auch ein Lehrplan für Waldorfschulen entwickelt, gültig ab dem Schuljahr 2010/2011, der auch die Oberstufenklassen berücksichtigt.
3.1.1.1 Grundlagen Schon „[…] Rudolf Steiner hat wesentliche Anregungen für die Erkenntnis der Charakteristika des Jugendalters seit 1907 und vor allem nach der Gründung der Waldorfschule 1919 gege- ben, insbesondere als die ersten Klassen in die Oberstufe hinauf wuchsen.“ (Waldorfbund Österreich Lehrplan 2010 1, S.155) Diese Ansichten sind grundlegend und wurden bzw. wer- den durch die Reflexion der praktischen Umsetzung stets weiterentwickelt.
„Die körperlichen Entwicklungserscheinungen sind Basis für die Möglichkeiten künftiger Entwicklung seelischer und geistiger Fähigkeiten und bieten damit Dispositionen, die reali- siert werden können – oder nicht.“ (LW 2010, S.155) Deshalb sei für Bildung und Erziehung eine umfassende Kenntnis dieser körperlichen Vorgänge und der auszubauenden Fähigkei- ten während dem Jugendalter notwendig, um die Möglichkeiten der Förderung in der Schule wahrzunehmen (vgl. LW 2010, S.155). Neben der Wichtigkeit der Körperentwicklung in der Waldorfpädagogik, wird hier noch ein weiterer Punkt aufgezeigt. Wie schon im Kapitel 2.2.2 erwähnt wurde, entwickelt sich während dem dritten ‚Jahrsiebt‘ (14.-20. Lebensjahr), in wel-
1 Im weiteren Text wird der Lehrplan für Waldorfschulen des österreichischen Waldorfbundes von 2010 mit LW 2010 abgekürzt. Weiters möchte ich erwähnen, dass im Lehrplan für Waldorfschulen daraufhingewiesen wird, dass dieser hauptsächlich auf Inhalten des folgenden Buches aufgebaut ist: Entwicklungsaufgaben und Kompe- tenzen – zum Bildungsplan der Waldorfschule, herausgegeben von Götte, Loebell und Maurer 2009. 23 ches die Sekundarstufe 2 fällt, nach Steiners Lehre, der ‚Astralleib‘. Dieser wird auch Seelen- oder Empfindungsleib genannt und neben dem Menschen besäßen ihn, nach dieser Weltan- schauung, auch Tiere. (Vgl. Skiera 2010, S.243) „Er sei der Träger von Empfindungen, Lust, Schmer, Trieben, Begierden usw.“ ( Skiera 2010, S.234)
Die zu fördernden Potentiale werden als Entwicklungsaufgaben, darunter versteht man je- weils einem biografischen Abschnitt zugeteilte körperliche, seelische und geistige Entwick- lungspotentiale, und als Kompetenzen formuliert. Als Kompetenzen werden hier kleinere Schritte innerhalb dieser biografischen Abschnitte genannt, die auf schul- und fachbezogene Fertigkeiten und Fähigkeiten abzielen. (Vgl. LW 2010, S.155)
3.1.1.2 Entwicklungsaufgaben Für das Jugendalter (hier bezogen auf die 9.-12. Klassenstufe) übergreifende Entwicklungs- aufgaben sind die Folgenden:
− „Freie Entfaltung der Individualität
− eigenen Urteilskraft entwickeln, eigene Auffassungsvermögen gebrauchen
− Initiativkraft entwickeln
− Humanität entwickeln
− Kraft zu einem selbst bestimmten Leben entwickeln
− Ich-Identität entwickeln“ (LW 2010, S.171)
Neben diesen, für das Jugendalter im Allgemeinen formulierten, Entwicklungsaufgaben fin- det man im Lehrplan der Waldorfschulen Österreichs auch spezielle Entwicklungsziele, die bis zum Ende der 10. bzw. bis zum Ende der 12. Klasse verwirklicht werden sollten. Die Be- schreibung der Entwicklungsaufgaben ist inhaltlich wenig konkret und sprachlich im Original nur stichwortartig ausgeführt, trotzdem möchte ich diese hier wiedergeben um zu zeigen, dass die Vorstellungen hinter der Waldorfpädagogik schwer logisch zu fassen sind. Bis zum Ende der 10. Klasse zu verwirklichende Entwicklungsaufgaben sind (vgl. LW 2010, S.172):
− Die „Wiedereroberung und Durchdringung des Leibes als Instrument der Seele“ (LW 2010, S.172) soll erkannt werden. − Die „geführte und geschickte Beherrschung des Leibes und die Orientierung im Raum“(LW 2010, S.172), sind weitere Ziele. − Durch diese Integration soll ein neues konstituierendes Identitätsgefühls gewonnen werden.
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− Kraft und Mut soll entwickelt werden, um in angemessener Weise ‚das Innere‘, die eigenen Auffassungen und Einstellungen selbstidentisch nach außen zu zeigen. − Verantwortung für die eigenen Leistungen heißt es zu übernehmen. − Das Weltinteresse soll gefördert werden. − Den Trieb nach Erkenntnis und die Suche nach der Wahrheit sollen entfaltet werden. Dabei soll von dem/der Jugendlichen die Welt mit dem Rüstzeug der intellektuellen Fähigkeiten zu verstehen versucht werden. − Die „kritische Urteilskraft zu differenzierter Betrachtung und umfassender Aufnahme der Tatsachen und möglichst vieler ihrer Aspekte“ (LW 2010, S.172) sollen entwickelt werden. − Die „Fähigkeit logisch-kausale, stringente Zusammenhänge, insbesondere in der Na- tur und in der Mathematik“ (LW 2010, S.172), sollen erfasst werden können. − Die Entwicklung eines vernetzten, beweglichen Denkens soll auch gefördert werden. − Eine „ökologisch-humane Naturerkenntnis“ (LW 2010, S.172) gilt es zu gewinnen. − Einer neuen, auch „durch Erkenntnis getragenen Weltbeziehung“ (LW 2010, S.172) soll entstehen. − Einer ‚(moralisch-sinnhaften)‘ Beziehung zu allen Mitmenschen soll entwickelt wer- den. − Die Beziehung zur Umwelt, die durch eigener Erkenntnis und durch die eigenen Ge- fühle entsteht, soll bewusster gestaltet werden können und Handeln aus den Impul- sen des ‚einen Inneren‘ möglich sein. − Die Kreativität soll weiterentwickelt werden.
Weiters sollen bis zum Ende der 12.Klasse, dies ist die Abschlussklasse an einer Waldorfschu- le, folgende Entwicklungsaufgaben bewältigt werden (vgl. LW 2010, S.172):
− „Denken, Fühlen und Wollen soll in der Weise entwickelt werden, dass sie der Indivi- dualität bei der Gewinnung der neuen Weltbeziehung in sozialer Hinsicht, in Bezug auf Erkenntnis, im Hinblick auf Umwelthandeln produktiv dienen können.“(LW 2010, S.172) Dies soll in der Weise passieren, dass sie als Instrumente der Individualität fungieren können. − Die „Ausbildung von ‚Selbst-Identität‘ und die Überwindung der dadurch aufbre- chenden Ich-Welt-Spaltung“ (LW 2010, S.172) soll unterstützt werden. D. h. die ‚Ge- winnung von Sinn‘ und Orientierung aus eigener Kraft durch die Verbindung des Sub- jektiven mit dem Objektiven wird gefördert. − Der ‚Gewinnung von Sinn‘ soll unterstützt werden durch… … die Eingliederung in einen Zusammenhang, in ‚ein Größeres‘. … den Aufbau von Richtung und Orientierung. … das Verstehen von sich selbst und der Welt als ständige Entwicklung. … die moralische Selbstbestimmung. − Ein selbst gestaltetes inneres, ethisches, handlungsleitendes System soll herausgebil- det werden. Dazu gehört es, moralische Impulse aus dem eigenen Wesen zu entwi- ckeln und diese in realen Handlungen umzusetzen, durch Entwicklung und Schulung der Willenskräfte. − Die Fähigkeit zur ‚Überschau‘ soll entwickelt werden.
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− Ein ‚sinn‘-getragenes Verhältnis zur Sexualität soll gefördert werden, die ‚Seelenkräf- te‘ des erkennenden Denkens, des mitfühlenden Erlebens und des Handelns, welches auch die Bedingungen und Bedürfnisse der Welt einbezieht, sollen ausgebaut wer- den. − Der Aufbau einer ‚ökologisch-humanen Beziehung zur Natur‘ soll entfaltet werden. − ‚Kompetentes Urteilen und Handeln aus Ich-Kompetenz‘ sind weitere Ziele, die durch den Aufbau von Selbstbewusstsein der jungen Menschen und dem sicheren Stehen in der Welt, gefördert werden können. − Lernen soll ein selbstorganisierter Prozess sein.
Manche dieser, oder auch ähnlich formulierte Entwicklungsziele für das Jugendalter findet man in grundlegenden pädagogischen Konzepten und in der Entwicklungspsychologie (vgl. Hobmair 2003). Die oben genannten sind eben jene, die in den Lehrplan des Waldorfbundes Österreichs Eingang gefunden haben oder aus der anthroposophischen Tradition heraus formuliert wurden.
3.1.1.3 Kompetenzen Nach dieser Auflistung der allgemeinen Entwicklungsaufgaben dieses Lebensalters werden nun, für den Schulalltag besonders relevante Kompetenzen die sich im Rahmen der Entwick- lungsaufgaben aufdrängen, beschrieben. Im Lehrplan des Waldorfbundes wird von Metho- den-, Sozial-, Selbst- und Fachkompetenzen gesprochen. Auf die ersten drei wird hier näher eingegangen, die Ausführung zur Fachkompetenz mit speziellen Blick auf die Mathematik findet man im Kapitel 3.3.1.2. Wieder werden die konkret angestrebten Fähigkeiten für das 9. und 10. Schuljahr, sowie jene für die beiden letzten Schuljahre, der 11. und 12. Klasse, zusammengefasst betrachtet.
Zu entwickelnde Kompetenzen der 9. und 10. Schulstufe:
Methodenkompetenz: „[…]die Schärfung der Wahrnehmung an den konkreten Phänomenen und die logisch und sachgemäße denkende Durchdringung sind als Methodenkompetenz zu entwickeln.“ (LW 2010, S. 175) Fächerübergreifend steht in dieser Zeit das selbstständige Lernen und Arbeiten im methodischen Mittelpunkt. Dazu gehört das selbstständige Recher- chieren, Exzerpieren und Strukturieren von Material. Weiters die Nutzung von Büchern, Kar- ten, statistischen Daten und Quellen aller Art. Methodenansätze sollten auch formuliert und reflektiert werden können, sowie eine fachgerechte Zitierweise ist einzuführen. Auch unter- schiedliche Arten des Präsentierens sollen geübt werden. Fächerübergreifende Aspekte sol- len aufgegriffen, verknüpft und verglichen werden. Durch exakte Beobachtungen und die 26
Fähigkeit sich in etwas hineindenken zu können, sollen objektive Prozessbeschreibungen möglich werden, die ihre Anwendungen in inhaltlichen Zusammenfassungen und dem Do- kumentieren durch die Mitschrift findet. Auch gegenstandspezifische Methoden 1 sollen in dieser Zeit erlernt werden. (Vgl. LW 2010, S.175ff)
Sozialkompetenz: „Wie im persönlichen Bereich sind im Bereich des Lernens und Arbeitens Beziehungen zu anderen bewusst zu ergreifen und zu gestalten […] auf der Grundlage einer Wertschätzung des anderen.“ (LW 2010, S. 180) Um solche Beziehungen einzugehen braucht man Begegnungsfähigkeit, Empathie, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit, Höflichkeit und Achtung. Eine gute Wahrnehmung seiner eigenen Individualität ist förderlich um seine Persönlichkeit ins Gruppengeschehen einzubringen und dadurch aktiv an Prozessen beteiligt zu sein, sowie Kritikfähigkeit zu erlernen. Das gemeinsame Arbeiten in Gruppen kann zu To- leranz und Teamfähigkeit beitragen. Die Entwicklung dieser sozialen und kommunikativen Kompetenzen kann eine innere Beweglichkeit erschaffen, die es möglich macht verschiede- ne Standpunkte einzunehmen, begründetet Urteile zu formulieren und die Sprache als ge- stalterische Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeit zu erfahren und bewusst einzuset- zen. (Vgl. LW 2010, S.179ff)
Selbstkompetenz: „Über das Interesse an den realen Erscheinungen der Welt und der syste- matischeren Beschäftigung mit diesen, sich der eigenen Kräfte bewusst werden und diese bewusst und stabil einsetzten.“ (LW 2010, S. 181) Durch das Zusammenspiel von Erkenntnis, Empfindung, Motivation und Verstehensprozesse wird in dieser Phase versucht ein Ich-Wir- Verhältnis aufzubauen. Eine gewisse Sicherheit im eigenen Urteilen entsteht und die Jugend- lichen beginnen sich von Autoritäten zu lösen. Dies äußert sich auch im Verbalisieren von Haltungen, Absichten und Standpunkten. Durch geistige Reflexion kann zielgerichtetes Ar- beiten, selbstständiges Problemlösen und Eigenkorrektur passieren. (Vgl. LW 2010, S. 181f)
1 Im Lehrplan sind zu den einzelnen Schulfächern, angefangen bei den Sprachen, über die künstlerischen Fä- cher, bis hin zu den naturwissenschaftlichen Fächern, Methodenkompetenzen aufgelistet. (siehe LW 2010 ab S. 190) 27
Zu entwickelnde Kompetenzen bis ans Ende der Schulzeit (12. Klasse):
Methodenkompetenz: Die bis zur 10. Klasse erlernten Methodenkompetenzen, die oben an- geführt sind, werden angewandt und vertieft. Zum selbstständigen Umgang mit Arbeitsma- terialien kommt auch das Beschäftigen mit wissenschaftlichen Texten und Fachartikeln, das Studium und die Bearbeitung von Fallbeispielen und die kritische Einordnung und Interpreta- tion jeder Art von Quellen hinzu. Dabei handelt es sich nicht nur um den Umgang mit fach- bezogenen Informationen, sondern auch um den Umgang mit Materialien zur Erstellung von musischen oder bildnerischen Kunstwerken und Projekten. Aus der Beschäftigung mit einem Thema oder aus Beobachtungen sollen weiterführende Fragestellungen abgeleitet und In- formationen sollen sinnvoll aufbereitet und präsentiert werden können. Eine im Ansatz wis- senschaftliche Herangehensweise an die menschliche Wirklichkeit sollte nach der Waldorf- Schulzeit möglich sein. (Vgl. LW 2010, S.184ff)
Sozialkompetenz:
Die zu erwerbenden Sozialkompetenzen sollen am Ende der Schulzeit an den Punkt gelangt sein, an dem der junge Erwachsene mindestens im Ansatz über einen Überblick über die eige- ne Situation in Bezug auf die anderen und die Welt verfügen kann. Dies bringt mit sich die Be- reitschaft, Verantwortung gegenüber der Welt, der Gesellschaft und sich selbst zu überneh- men. (LW 2010, S.189)
Dies kann nur durch ein vernetztes Denken möglich sein wie zum Beispiel, dass politische Ereignisse aus anderen Ländern unter Berücksichtigung des jeweiligen historischen kulturel- len Hintergrundes und der Globalisierung verstanden werden. Auch das Erleben von Krisen als Entwicklungschancen, das Zurückstecken von persönlichen Vorlieben, das Ruhigbleiben in chaotischen Situationen unter der Hilfe von Kunst als Mittel zum Ausdruck seiner Empfin- dungen, sind Wege um Verantwortung für das Leben auf der Erde zu übernehmen. Um sich an Diskussionen beteiligen zu können und seine Haltung vertreten zu können, wird eine ge- wisse Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und die Wahrnehmung des Gruppen- prozesses gefordert. (Vgl. LW 2010, S.189f)
Selbstkompetenz: Autonomie und eine gefestigte Persönlichkeit bilden den Zielpunkt des Erwerbs von Selbstkompetenz. Dieses Ziel zu erreichen ist ein lebenslanger ständiger Prozess und kann nicht nur Ziel dieser Lebensphase sein. (Vgl. LW 2010, S. 190)
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Für die Waldorfpädagogik ist das Motto ‚Lernen – ein Leben lang‘ nicht neu. Es gehört ebenso zum Grundbild der Pädagogik wie die Aufforderung an die tätigen Pädagogen, im jungen Men- schen vor sich immer auch ein zukünftigen ‚Meister‘ zu sehen. Beides hat erhebliche Auswir- kungen auf den Unterricht und auf den inneren Ansatz des Unterrichtes, dem der Gedanke des Kompetenzerwerbs vollkommen entspricht. (LW 2010, S. 182)
Ich möchte darauf hinweisen, dass dieser Kompetenzbegriff im Lehrplan des Waldorfbundes Österreichs zu unterscheiden ist vom Kompetenzbegriff im Zusammenhang mit der aktuellen Bildungsdiskussion und der standardisierten Reifeprüfung, welcher im folgenden Kapitel 3.2 eine große Rolle spielt. Im Lehrplan der Waldorfschulen sind die formulierten Kompetenzen aus der Theorie von Rudolf Steiners weiterentwickelt und als Teilschritte der Entwicklungs- aufgaben formuliert worden.
3.1.1.4 Zum Unterrichtsverlauf Im Unterschied zu den ersten bis achten Klassen, in denen der Unterricht meist von ei- ner/einem KlassenlehrerIn erteilt wird, unterrichten in der neunte bis zwölfte Klasse aus- schließlich FachlehrerInnen. In der Oberstufe gibt es zusätzlich zu den FachlehrerInnen für jede Klasse eine/einen BetreuungslehrerIn. (Vgl. LW 2010, S.16)
Eine deutschlandweite Studie, die 2012 unter dem Buchtitel ‚Bildungserfahrungen an Wal- dorfschulen‘ (siehe Liebenwein 2012) publiziert wurde, und die Daten von 800 Waldorfschü- lerInnen mit einbezieht, widmet sich neben vielen anderen Aspekten diesem Übergang von Klassenlehrsystem zum Fachlehrsystem. Im Zuge der Studie wurde beispielsweise herausge- funden, dass die SchülerInnen eine starke Zunahme der Leistungsansprüche durch den Wechsel und während der ganzen Oberstufenzeit empfinden. Weiters wird der Wechsel so- wohl von SchülerInnen als auch von Eltern überwiegend als abrupt und einschneidend er- lebt. Ein Teil der Eltern bemängelt die nachlassende Professionalität der LehrerInnen am Ende der Klassenlehrzeit (bis zur 8. Klasse) und sehen ihre Kinder dadurch schlecht auf die Oberstufe vorbereitet. An den FachlehrerInnen wird oft eine fehlende fundierte Waldorfpä- dagogik-Ausbildung kritisiert. (Vgl. Liebenwein 2012, S.139-142)
Im Vergleich zur Regelschule in Österreich passiert die Umstellung auf FachleherInnen in den Waldorfschulen relativ spät, dort wird in Hauptschulen, neuen Mittelschulen und Gym- nasien schon ab dem fünften Schuljahr im FachlehrerInnensystem unterrichtet.
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Vergleicht man die Stundentafeln der Sekundarstufe 2 im Lehrplan vom Waldorfbund für Österreich (siehe Abb.1) mit den Plänen der Regelschulen (vgl. BMUKK 2004b), wobei es hier fünf verschiedene spezifische gibt 1, dann sieht man, dass die meisten Fächer übereinstim- men.
Abb.1 Stundentafel der Waldorfschule Sekundarstufe 2
Nur das Fach Eurythmie und eine Tutorstunde pro Woche werden zusätzlich an der Waldorf- schule abgehalten. Bei genauer Betrachtung kann an der Stundentafel das besondere Ge- wicht der kreativen Fächer Musikerziehung, Bildnerische Erziehung, Bildnerisches Gestalten
1 Die fünf Unterscheidungen sind: Gymnasium; Realgymnasium; Wirtschaftskundliches Realgymnasium; Ober- stufenrealgymnasium mit Darstellender Geometrie oder ergänzendem Unterricht in Biologie und Umweltkun- de, Physik sowie Chemie; Oberstufenrealgymnasium mit Instrumentalmusik oder bildnerischem Gestalten und Werken. (vgl. AHS Oberstufe 2004) 30 und Werken sowie Eurythmie erkannt werden. Diese Fächer werden jedes Schuljahr, die ganze Oberstufenzeit lang unterrichtet. An Regelschulen fallen die kreativen Fächer entwe- der mit der Höhe der Klassen weg, oder es kommt zu einer Spezialisierung auf ein Gebiet. Die Wochenstundenzahl aller vier Jahre in einem Fach wird in der Stundentafel für Waldorf- schulen mit einer Mindest- und Höchstanzahl variabel angegeben. An der Spitze stehen da- bei die Fächer Deutsch und Mathematik, gefolgt von den Fremdsprachen, wie dies auch in der Regelschule üblich ist.
Als ein weiteres Merkmal einer Waldorfschuloberstufe gelten Projektarbeiten und Praktika, die im Rahmen der Schulbildung in einem gewissen Alter durchgeführt werden. In der neun- ten Schulstufe hat das Landwirtschaftspraktikum seinen Platz. Es
[…] erscheint für Neuntklässler ein intensives Eintauchen in das Leben eines Bauernhofes nahe- liegend und dem Alter entsprechend. In diesem Alter können ja im Menschen besonders stark die Fragen nach allen Lebensvorgängen erwachen: Wie steht der Mensch zur Erde, zur Pflan- zenwelt und zu den Tieren, welche Probleme erwachsen dem Menschen durch die Technik und durch die modernen sozialen Verhältnisse? (Richter 1995, S.242)
Ganz anders ist das Feldmessen, oder auch Vermessungspraktikum, in der zehnten Schulstu- fe motiviert. Bei der exakten Herstellung einer Landkarte geht es um die Tätigkeit des Ver- messens und eine Anwendung der Mathematik. Dadurch kann ein anderer praktischer Zu- gang zu diesem Fach eröffnet werden. (Vgl. Richter 1995, S.244f) Weitere Informationen zur Umsetzung des Vermessungspraktikums findet man unter Punkt 3.3.2, im Praxisteil zur Wal- dorfpädagogik.
Während der letzen beiden Klasse (11. und 12. Schuljahr) können ein Sozialpraktikum und ein Industriepraktikum/Betriebspraktikum durchgeführt werden. Durch das Praktikum im sozialen Feld, beispielsweise in Einrichtungen wie Hort, Heim, Kindergarten, Behindertenbe- reich, Krankenhaus und Pflegebereich, können Jugendliche ein neues Bewusstsein für die menschliche Gesellschaft entwickeln. Sie können in einem geschützten Rahmen und mit vorbereitender, begleitender Betreuung soziale Verantwortung und Integration kennen ler- nen. Eine ganz andere Seite der Gesellschaft und Arbeitswelt entdecken die SchülerInnen durch ein Industriepraktikum. Hier geht es um das Erleben von industrieller Fertigung, die Belastung von einseitiger Arbeit, die soziale Situation der Beschäftigten zu sehen und Einbli- cke in Zusammenhänge und Betriebsführung zu erlangen. (Vgl. Richter 1995, S.249-252) An 31 der Rudolf-Steiner Schule Wien Mauer, an der ich hospitiert habe, geht es bei diesem Prakti- kum sehr stark um den wirtschaftlichen Aspekt. Im Gespräch mit Herrn Holger Finke habe ich erfahren, dass an dieser Schule ein Sozialpraktikum in der elften Klasse und ein Wirtschafts- praktikum in der zwölften Klasse stattfindet.
Weitere mögliche Projekte und Praktika sind das Forstpraktikum, Erste-Hilfe-Kurse, Kunstrei- sen, im Rahmen des Abschlusses eine Theaterwoche und eine Jahresarbeit. Die oben ge- nannten Projekte und Praktika sind nicht verbindlich für Waldorfschulen, doch sie werden an etlichen Schulen praktiziert. (Vgl. Richter, S.244-256)
Die eigentliche Waldorfschulzeit endet nach der 12. Klasse mit dem Waldorfabschluss. Danach können sich Schüler an einigen Waldorfschulen in einem 13. Schuljahr auf die Matura vorberei- ten oder sie besuchen die 8. Klasse einer AHS und legen dort die Matura ab. (Waldorfbund Ös- terreich o.J.)
An vielen Waldorfschulen ist es üblich als SchülerIn zum Abschluss der Schulzeit eine Jah- resarbeit zu erarbeiten und ein Klassenspiel aufzuführen.
Mit der Jahresarbeit stellen sie ein selbständig über einen längeren Zeitraum erarbeitetes Thema wissenschaftlicher, künstlerischer oder praktischer Art einem interessierten Publikum vor. Dies wird begleitet von einer schriftlichen Ausarbeitung und kann im Rahmen eines Kollo- quiums als Teil einer Prüfung zum Abschluss beitragen. (LW 2010, S.188)
Das Klassenspiel ist eine Theateraufführung, welche selbstständig von der Klassengemein- schaft organisiert und umgesetzt wird. Dazu gehört die Wahl des Themas, das Schreiben oder Auswählen eines Stückes, die Inszenierung, die Darstellung, das Anfertigen von Kostü- men und vieles mehr. Alles passiert in einem gruppendynamischen Prozess und kann daher ein sehr prägendes Erlebnis für die SchülerInnen sein. (Vgl. LW 2010, S.188)
Über alle Schuljahre hinweg bekommen die SchülerInnen am Ende des Schuljahres immer eine verbale Beurteilung, welche die Mitarbeit, den Leistungstand und die Entwicklung all- gemein und in den einzelnen Fächern beschreibt. Am Ende des 12. Schuljahres erhalten die SchülerInnen zusätzlich ein Abschlusszeugnis mit Noten. (Vlg. LW 2010, S.18)
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3.1.2 Montessoripädagogik In Sinne der Montessoripädagogik findet man für die Schulstufen 9.-12. Klasse weniger theo- retischen Hintergrund als bei der zuvor genannten Waldorfpädagogik. Die Literatur bezieht sich zumeist auf den von Maria Montessori so benannten Erdkinderplan. Praktische Umset- zungen dieses Plans von Maria Montessori selbst gab es nicht. Heute gibt es solche Schulen, aber nur wenige. Doch obwohl sie sich auf die gleiche Theorie beziehen, unterscheiden sie sich unter einander sehr.
3.1.2.1 Sensibilitäten im Jugendalter Die Lebensphase der Jugend, das dritte Entwicklungsalter von ca. 12-18 Jahren (vgl. Kapitel 2.2.1), ist jene Phase, in die der Besuch der Sekundarstufe 2 fallen kann.
Weil der Einschnitt beim Übergang von der Kindheit zur Jugend gravierend ist, spricht Mon- tessori von einer radikalen Umwandlung der Person sowohl physischer als auch psychischer Art, die eine radikale Umwandlung der Erziehung zur Folge haben muss. (Meisterjahn-Knebel 2013, S.28f)
Die ersten zwölf Lebensjahre werden von der Montessoripädagogik als ein erster Lebensab- schnitt gesehen, in dem die Bildung der Individualität passiert. Im Jugendalter wendet sich das allgemeine Interesse des Menschen von der Natur weg, hin zur Gesellschaft. Es kommt zu einer Loslösung vom egoistischen Selbstgefühl, welches in der Kindheit vorherrscht. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.29)
Die Akzentuierung erfolgt im Jugendalter klar im Bereich des Sozialbezugs und der Sozialver- pflichtung des Menschen, denn erst die Anwendung individueller Aktivitäten auf das soziale Leben ist für Montessori die Voraussetzung zur Bildung einer Gesellschaft im Sinne einer ech- ten Gemeinschaft. Darin besteht das Erziehungsziel der weiterführenden Schule. (Meisterjahn- Kenbel 2013, S.29)
Deshalb wird von Maria Montessori eine andere Art der Erziehung und Bildung von Jugendli- chen, im Gegensatz zum Grundschulalter, als notwendig erachtet.
Durch die physischen und psychologischen Veränderungen im Jugendalter ergeben sich für Montessori zwei wesentliche Sensibilitäten in dieser Zeit. Die erste Sensibilität ist das Be- dürfnis beschützt zu werden in der Periode der großen körperlichen Veränderungen. Dies kann durch die Unterstützung der Entwicklung und Festigung des Selbstwertgefühls in einem
33 geschützten Rahmen gegeben werden. Die zweite Sensibilität ist die Aufgabe, die Rolle des Menschen in der Gesellschaft zu begreifen. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.29f)
Der Jugendliche soll die Stellung des Menschen in der Welt begreifen und beurteilen lernen. Sein Bedürfnis, in sozialen Beziehungen zu leben, sozial verantwortlich zu handeln und als un- abhängiges Wesen zusammen mit anderen zu leben, soll unterstützt werden. Da bloßes Zuhö- ren den Menschen nicht wirklich beeinflussen kann, fordert Montessori für den Jugendlichen praktische Arbeit und Erfahrung. (Meisterjahn-Knebel 2013, S.30)
„Drei große Bereiche kennzeichnet damit das Curriculum der Sekundarstufe: Beruf, Sozial- verhalten im Hinblick auf funktionierende Gemeinschaft (Soziale Dienste) sowie der klassi- sche Bereich der Bildung durch intellektuelle Studien.“ (Meisterjahn-Knebel 2013, S.32) Auf diesen Grundgedanken baut die Idee des Erdkinderplans auf, der sowohl die praktische, handwerkliche Ebene, die soziale und die intellektuellen Ebene der Bildung und Erziehung verbinden will.
3.1.2.2 Der Erdkinderplan „Die von Montessori geforderte Umkehr bzw. Hinwendung zum Kind ist in vielen Institutio- nen schon gelungen, die zum Jugendlichen steht gesamtgesellschaftlich noch aus.“ (Meister- jahn-Knebel 2003, S.13) So die Meinung von Dr. Gudula Meisterjahn-Knebel 1 zur Umsetzung der Montessori-Pädagogik im Bereich der weiterführenden Schulen. Maria Montessoris Überlegungen zu einer Jugendschule sind unter dem Schlagwort ‚Erdkinderplan‘ bekannt. Darunter versteht sie eine Lebensform auf dem Land mit drei verschiedenen, von den Ju- gendlichen selbstständig geführten Einrichtungen: Bauernhof, Geschäft und Gasthaus. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.13) „Diese sind, neben einem Rahmenprogramm für Studien, Elemente der vorbereiteten Umgebung einer Erfahrungsschule des sozialen Lebens.“ (Meisterjahn-Knebel 2003, S.13)
Im Buch ‚Von der Kindheit zur Jugend‘ betont Maria Montessori die erzieherische Wichtig- keit der Unabhängigkeit des Menschen. Für das Jugendalter schlägt sie hier die wirtschaftli- che Unabhängigkeit durch das Hinführen zur Arbeit vor. Sie weist darauf hin, dass dieser Gedanke auch schon in den Kinderhäusern 2 umgesetzt wird, wo Dreijährige bei Übungen des
1 Sie ist Schulleiterin des Gymnasiums Schloss Hagerhof in Deutschland, welches nach Montessori-Prinzipien geführt wird, und Präsidentin von Montessori Europa. (vgl. Leitung Hagerhof) 2 Diese sind nach Montessoripädagogik geführte Kindergärten. 34 praktischen Lebens beispielsweise Staubwischen, Aufräumen und Tischdecken lernen. (Vgl. Montessori 1966 , S.99-102) Weiters bringt sie folgenden Vorschlag: „Während der schwieri- gen Periode der Reifezeit ist es wünschenswert, das Kind fern von seinem gewohnten Milieu, seiner Familie, auf dem Lande leben zu lassen, in einer ruhigen Umgebung, im Schoße der Natur.“ (Montessori 1966, S.102) Denn die Arbeit auf dem Land und „die Beobachtung der Natur ist nicht nur eine Bereicherung des Geistes in philosophischer und wissenschaftlicher Hinsicht. Sie legt auch den Grundstein für viele soziale Erfahrungen, die das Studium der Zivi- lisation und des menschlichen Lebens hervorbringen.“ (Montessori 1966, S.103)
Neben der inhaltlichen Weiterbildung sollen die SchülerInnen in diesem Alter lernen einen Bauernhof, ein Gasthaus bzw. ein Hotel und ein Geschäft zu führen. Die drei Einrichtungen haben folgende Erfahrungsschwerpunkte:
Bauernhof: „Der Bauernhof dient der Produktion und ermöglicht einen Kontakt mit der Ge- sellschaft durch Handel und Austausch. Er ist Basis für Sozialerfahrungen.“ (Meisterjahn- Knebel 2013, S.32)
Gasthaus: Im Gasthaus, evt. mit angeschlossenem Hotel, hat der/die Jugendliche die Mög- lichkeit Erfahrungen in den Bereichen der Verwaltung, Organisation, Aufsicht und Finanzie- rung eines solchen Betriebes zu sammeln (vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.32).
Geschäft: In Anlehnung an das Mittelalter wird das Geschäft als ein soziales Haus gesehen, in dem es zu Treffen und Geselligkeit kommt. Hier können die Jugendlichen neben der Gele- genheit persönliche Kontakte herzustellen, auch erleben, wie Einkauf, Verkauf, Handel, Um- satz und angewandte Betriebswirtschaft passiert. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.33)
Die konkrete Umsetzung des Erdkinderplanes gibt es sehr selten:
[…] der von Montessori entwickelte Erdkinderplan hat in Deutschland und auch den umgeben- den europäischen Ländern bisher keine vollständige Umsetzung gefunden. Den meisten Men- schen ist dieser Erdenkinderplan überhaupt nicht bekannt, da Montessori-Pädagogik nach wie vor allenfalls mit Kindergarten/Kinderhaus und Grundschulbereich in Verbindung gebracht wird. (Meisterjahn-Knebel 2013, S. 22)
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Schulen, die versuchen den Erdkinderplan in die Tat umzusetzen, werden von Frau Meister- jahn-Knebel in zwei Kategorien eingeteilt. Hier unterscheidet sie eine pragmatische Lösung von Schulen im städtischen Umfeld, von Jugendschulen, die im ländlichen Umfeld organisiert sind. Bei der zweiten Variante kann Landwirtschaft aktiv praktiziert werden. (Vgl. Meister- jahn-Knebel 2013, S. 22)
Da diese praktische Umsetzung einer Erfahrungsschule des sozialen Lernens in vielen Sekun- darstufen wegen ihrer geografischen Standpunkte nicht möglich ist, weist Meisterjahn- Knebel auch auf den Studien- und Arbeitsplan von Montessori für das Jugendalter hin. Dieser beinhaltet Prinzipien, die verschiedene Modelle von weiterführenden Montessori-Schulen als Basis ansehen können. Dieser Studien- und Arbeitsplan wird in drei große Bereiche un- tergliedert: Moralische Pflege, Leibespflege, Programm und Methoden. (Vgl. Meisterjahn- Knebel 2013, S.33 sowie Montessori 1966, S.107-121)
Mit der moralischen Pflege ist die Ausbildung der Beziehungen zwischen den Jugendlichen, ihren Lehrenden und der gesamten Umgebung gemeint. Ein Gerechtigkeitssinn und ein Ge- fühl für die persönliche Würde soll in dieser Zeit ausgebildet werden. Diese beiden Dinge sind die Basis, dass sich der Mensch als soziales Wesen wahrnehmen und verhalten kann. Die Lehrperson ist hier vor besondere Aufgaben gestellt, indem sie Achtung vor den Schüle- rInnen zeigen, und einen gewissen Handlungsspielraum für die Jugendlichen zulassen soll. Die Freiheit zur Eigeninitiative ist in diesem Alter besonders wichtig, da der/die SchülerIn dann das Gefühl hat, seine/ihre Würde wird geachtet. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.33)
„Als Medizinerin schenkt Montessori der Leibespflege besondere Aufmerksamkeit, macht doch der jugendliche Körper während der Pubertät enorme Reifungs- und Entwicklungspro- zesse durch.“ (Meisterjahn-Knebel 2013, S.33) Montessori beschreibt in ihrem Buch ‚Von der Kindheit zur Jugend‘ genaue Ernährungsempfehlungen, warnt vor Alkohol und Tabak und hat genaue Vorstellungen von der Bewegungstätigkeit, die im Jugendalter zu einer optimalen Entwicklung des Menschen führen (vgl. Montessori 1966, S.110f). Die wissenschaftliche Be- urteilung dieser Vorschläge aus heutiger Sicht möchte ich hier nicht genau ausführen. Frau Dr. Meisterjahn-Knebel interpretiert Montessoris Vorschläge als einen Fokus auf die medizi- nische Überwachung des Jugendlichen, da starke körperliche Wachstumsvorgänge passieren (vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S. 33).
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Unter dem Punkt Programm und Methode versteht man das, „was man landläufig unter dem Inhalten schulischer Erziehung und Bildung versteht.“ (Meiserjahn-Knebel 2013, S.34) Die Inhalte werden von Montessori wieder in drei Abschnitte geteilt:
(1) „Den Weg zu den Möglichkeiten eines persönlichen Ausdruckes des Jugendlichen öffnen.“ (Montessori 1966, S. 112) Darunter fallen künstlerische Tätigkeiten, die so- wohl in der Wahl der Art, als auch der Zeit frei wählbar sein sollen (vgl. Meisterjahn- Knebel 2013, 34). (2) „Den Aufbau der Personalität durch Bildung […] mit Hilfe der moralischen Erziehung, der Mathematik und der Sprachen.“ (Meisterjahn-Knebel 2013, S.34) (3) „Den Jugendlichen mit der augenblicklichen Kultur in Beziehung setzen, indem man ihm eine umfassende Bildung vermittelt, und ebenfalls mit dem Mittel der Erfah- rung.“ (Montessori 1966, S.112) Darunter fallen das Studium der Erde und der leben- digen Natur. Das heißt die Fächer Geologie, Biologie, Botanik, Zoologie, Physiologie, Astronomie und Anatomie. Weiters geht es darum, die menschlichen Fortschritte und den Aufbau der Zivilisation, unter anderem durch Physik und Chemie, zu begrei- fen. Wichtig ist auch die Beschäftigung mit der Geschichte der Menschheit. Allen SchülerInnen soll ein geschichtlicher Überblick geboten werden, eine Vertiefung ist in jeder Periode durch eigenständiges Studium möglich. Das kann zum Beispiel durch die Darbietung einer guten Bibliothek passieren. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.34)
Im Anschluss an diesen theoretischen Überlegungen Montessoris zum Jugendalter sei hier noch erwähnt, dass sie auch einige Vorstellungen und Kritikpunkte zu universitären Ausbil- dung formuliert hat. (siehe Montessori 1966, S.122-133)
3.1.2.3 Unterrichtsverlauf – Arbeiten in Freiheit Auch im Hinblick auf die zu wählenden Methoden macht Montessori eine Reihe von Aussagen, wobei die Betonung immer wieder auf der freien Wahl der Arbeit, der individuellen Wahl, der Selbsttätigkeit sowie der Abwechslung von praktischen Erfahrungen (Experimenten, Exkursio- nen etc.) mit Studien liegt. (Meisterjahn-Knebel 2013, S.34)
Wobei eine Übersicht über alle erforderlichen Inhalte für die SchülerInnen jederzeit als Plan einsehbar sein soll und Montessori-Schulen grundsätzlich Schulen sind, die für alle Kinder und Jugendliche offen stehen (vgl. Meisterjahn-Knebel 2013, S.34f). Für Jugendliche sind andere methodische Varianten gefragt als in der Grundschule. Jedoch bleiben die grundle- 37 genden Prinzipien der Montessoripädagogik gleich. Wie solch ein Unterricht aussehen kann, zeigen die folgenden fünf Methoden.
Die freie Wahl der Arbeit: Die freie Wahl der Arbeit, wie Montessori sie versteht, ist abzu- grenzen von der sogenannten ‚Freiarbeit‘, wie sie im Rahmen des offenen Unterrichts in der Regelschule Eingang gefunden hat. In der Montessoripädagogik ist die freie Wahl der Arbeit ein grundlegendes Prinzip, nicht bloß eine Unterrichtsmethode. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, 96ff)
Sie beschreibt damit alle Formen der Selbsttätigkeit, die ungehinderte Ermöglichung der allsei- tigen Entfaltung der Lernenden in einer dem jeweiligen Entwicklungsstand angepaßten vorbe- reiteten Umgebung. Nur so haben die Kinder und Jugendlichen überhaupt die Möglichkeit, zu tiefen Konzentrationsprozessen zu kommen. (Meisterjahn-Knebel 2003, S.98)
Daraus ergibt sich eine Individualisierung und Dezentralisierung des Unterrichts. Die zeit- strukturierenden Stundeneinheiten werden aufgehoben um das Einlassen in den Lernpro- zess zu unterstützen. Freiarbeit bedeutet aber nicht gleich Strukturlosigkeit. Die gut struktu- rierte Umgebung, das bedeutet genügend Material, ein den Interessen der SchülerInnen angepaßtes Angebot und klare Verhaltensregeln, ist eine Voraussetzung für das Funktionie- ren dieser Art zu Lernen. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.98ff)
Projektlernen: Mit dem Prinzip der Freiheit als Grundlage, muss sich die Art des Lernens an das Alter der SchülerInnen anpassen. Die freie Arbeit mit dem Material wird immer mehr vom Lernen in Projekten abgelöst. Dabei wird Projektarbeit als das Lernen an realen Hand- lungsabläufen verstanden. 1 (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.100f)
Durch die Projektarbeit sollen sich die SchülerInnen in die Lage versetzen, methodisch und sys- tematisch in Gegenwart und Zukunft zu handeln, durch eigenständige Problemformulierung und –lösung. Eine solcherart praktizierte Projektarbeit hat auch Auswirkungen auf die Persön- lichkeitsstruktur der SchülerInnen. (Meisterjahn-Knebel 2003, S.101)
Projektarbeiten passiert nach Johannes Bastian und Herbert Gudjons in folgenden Phasen (vgl. Bastian/Gudjon 1990, S. 28-38):
1 Meisterjahn-Knebel verweist bei dieser Definition von Projektarbeit hier auf Dewey und Kilpatrick. 38
• Projektschritt 1: Eine für den Erwerb von Erfahrungen geeignete, problemhaltige Sach- lage auswählen. Bei dieser Auswahl soll der Situationsbezug, im Sinne von aus dem Le- ben der Lernenden gegriffen, eine Orientierung an den Interessen der Beteiligten und die gesellschaftliche Praxisrelevanz als Kriterien helfen. • Projektschritt 2: Gemeinsam einen Plan zur Problemlösung entwickeln. Eine zielgerich- tete Projektplanung, in der die Arbeit gut verteilt und die Zeit gut eingeteilt ist, soll in Selbstorganisation und Selbstverantwortung entstehen. Doch dies bedeutet nicht, dass die SchülerInnen mit ihren Aufgaben alleine gelassen werden. Die Lehrperson setzt die Rahmenbedingungen fest und hat auch eine unterstützende Funktion. • Projektschritt 3: Sich mit dem Problem handlungsorientiert auseinandersetzen, mit Ein- bezug vieler Sinne und Zugangsweisen in einem sozialen Kontext, ist das Ziel dieser Phase. • Projektschritt 4: Die erarbeiteten Problemlösungen sollen an der Wirklichkeit überprüft werden. Diese Überprüfung soll produktorientiert und interdisziplinär vor sich gehen. Dabei können sich auch die Grenzen dieser Unterrichtsform auftun.
Projektarbeit kann also durchaus als berechtigter Teil der Umsetzung von Montessori- Pädagogik in der Sekundarstufe betrachtet werden, sie ist Teil der vorbereiteten Umgebung und eine den entwicklungsspezifischen Bedürfnissen Jugendlicher besonders angemessene Ar- beitsform. (Meisterjahn-Kebel 2003, S.103)
Planspiel: Diese, ursprünglich aus der Erwachsenenbildung stammende, Arbeitsform hat auch in die weiterführenden Schulen Eingang gefunden. Ein Planspiel wird selten realisiert, weil es ein relativ hoher Zeitaufwand ist und sich nur sehr schwer in eine traditionell organi- sierte Schule einbetten lässt. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.103f)
In Planspielen werden relativ komplexe Sachverhalte aus der Wirklichkeit auf ihre wesentli- chen Elemente reduziert. Dabei darf die Wirklichkeit aber nicht verfälscht werden. […] Merk- mal des Planspiels ist die Rollenarbeit in Gruppen, in Gremien, die in einer simulierten Ernstsi- tuation zu Entscheidungen über ein anstehendes Problem kommen müssen. (Meisterjahn- Knebel 2003, S.104)
Ein Planspiel verläuft nach Klippert in den unten angeführten sieben Phasen (vgl. Klippert 2000, S.23-26):
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1. Spieleinführung: Nachdem die Lehrperson das Planspiel kurz vorgestellt hat, werden die SchülerInnen durch ein Zufallsverfahren in Gruppen eingeteilt. 2. Informations-/Lesephase: Informationsmaterial wird ausgeteilt, unterschiedliche Rol- len werden den einzelnen Gruppen zugeteilt und die Arbeitsaufträge geklärt. In Still- arbeit soll sich jeder/jede Beteiligte in die Inhalte einlesen und wenn nötig zusätzliche Informationen suchen, bzw. Fragen in der Gruppe klären. 3. Meinungsbildung und Strategieplanung: Jede Gruppe analysiert ihre Ausgangssituati- on und bereitet sich taktisch auf die Darlegung und Verteidigung ihrer Interessen vor. Eventuelle Handlungsalternativen sollen bedacht werden. 4. Interaktion zwischen den Gruppen: In dieser Phase wird unter den Gruppen über Briefwechsel, Anfragen, Verhandlungen und Delegationen kommuniziert. 5. Vorbereitung der Konferenz: In dieser Zeit haben die Beteiligten die Gelegenheit sich noch mal in der Gruppe zu sammeln und die anstehende offizielle Konferenz vorzu- bereiten. GruppensprecherInnen werden bestimmt, die bei der Konferenz die Positi- on der jeweiligen Gruppe kurz darstellen. 6. Durchführung der Konferenz: Alle Gruppen nehmen daran teil und die Sitzordnung wird so geändert, dass die Gruppen zwar zusammenbleiben, doch ein offenes Ge- spräch möglich ist. Die Lehrperson übernimmt die Inszenierung und die Konferenzlei- tung. Nach den Eingangsstatements der GruppensprecherInnen folgt eine Diskussi- onsphase. Die Konferenz hat einen fixen Zeitrahmen, das heißt es können auch ge- wisse Punkte ohne gegenseitiges Übereinkommen bleiben. 7. Spielauswertung: Im Sesselkreis wird durch Feedback eine Bilanz zum vorangegange- nen Planspiel gezogen. Ein spontanes Feedback, sowie Rückmeldungen über den Spielverlauf und auch die Ergebnisse, sowie aufgetretene inhaltliche Unklarheiten sind während dieser Phase Thema.
Auch diese Lernform stellt die Selbsttätigkeit der SchülerInnen in den Mittelpunkt. Durch die lebensnahe Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen, könnten die Schü- lerInnen wichtige Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Inhalte erlernen. Deshalb passt diese Arbeitsform auch zu der von Montessori beschriebenen Sensibilität des Jugendalters, die Rolle des Menschen in der Gesellschaft zu begreifen. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.107)
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SchülerInnenfirma: Darunter versteht man die Gründung von realen Miniunternehmen mit der Unterstützung von Erwachsenen. Dieses Unterfangen verfolgt die Ziele, das SchülerInnen wirtschaftliche Praxis erleben, Orientierung für das spätere Berufsleben gewinnen, Verant- wortung übernehmen und im Team arbeiten. Die Gründung dieser Miniunternehmen im Rahmen des Schulalltags wird in Deutschland vom Projekt JUNIOR 1 gefördert. (Vgl. Meister- jahn-Knebel 2003, S.107-111) In Österreich gibt es ein ähnliches Konzept, das die Gründung von sogenannten Übungsfirmen während der Schulzeit unterstützt. Eine eigens eingerichtet Service-Stelle verwaltet und vernetzt diese Übungsfirmen, die über ganz Europa verteilt sind. (Vgl. ACT Servicestelle der Österreichischen Übungsfirmen o.J.)
SchülerInnenpraktikum: Nicht nur zur Berufwahlorientierung, sonder auch zur Persönlich- keitsbildung können Praktika in verschiedenen Arbeitsbereichen beitragen. Genannt werden können hier weitere Aspekte wie die Abwechslung von praktischer Arbeit und Schulalltag, das projektorientierte Arbeiten, die räumliche Öffnung der Schule, das Steigern des Selbst- wertgefühls durch die Erfahrung von Anerkennung der erbrachten Leistung, die Erweiterung des Wissenshorizonts und das Gegenwirken der Berufsweltentzogenheit der SchülerInnen, die für ein Praktikum während der Schulzeit sprechen. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.111) Ein Praktikum soll vorbereitet, begleitet und reflektiert werden. Rückmeldungen sowohl von den SchülerInnen als auch von den Praxisstellen sind wichtig um den jeweiligen Bedürfnissen gerecht zu werden. Gerade in Bezug auf Montessoris Idee der Erfahrungsschule des sozialen Lernens, bieten Praktika eine ideale Umsetzung ihres Konzeptes. Um sich mit der eigenen Rolle in der Gesellschaft auseinander zu setzen, bietet sich besonders ein Praktikum im so- zialen Bereich der Arbeitswelt an. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.112ff)
Diese vier Formen selbstständigen Lernens lassen sich grundsätzlich in jeder Schule umset- zen. Es hängt alleine von der Lehrperson ab, ob sie bereit ist die Aktivität im Unterricht, wann immer es sinnvoll ist, auf die SchülerInnen zu verlagern. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S. 116f) „Nur selten gelingt es, die Institutionalität von Schule, das in ihr und mit ihr gegebnen organisierte Lernen zugunsten einer echten Selbsttätigkeit des Schülers in Freiheit zu überwinden.“ (Meisterjahn-Knebel 2003, S.117)
1 Genauere Information findet man unter www.juniorprojekt .de 41
3.1.2.4 Beispiele der Umsetzung von Montessori-Pädagogik in der Sekundarstufe 2 Laut Dr. Meisterjahn-Knebel gibt es Mindestanforderungen, die erfüllt sein sollten, damit sich eine Sekundarschule Montessori-Schule nennen kann :
• Eine sich selbst steuernde Jugendgesellschaft auf dem Land – meint mindestens Ganz- tagsschule, wenn nicht Internat, eben Schulen als wirkliche Lernorte für Jugendliche mit zahlreichen Begegnungsfeldern und Aktivitäten
• Verbindung zu verschiedenen Ausbildungsbereichen
• Betreiben eigener kleiner Geschäftsprojekte
• Soziale Arbeiten/Dienste an der Gemeinschaft
• Studien auf dem Hintergrund eines allgemeinen Rahmenplans – kompetenzorientiert – mit einem besonderen Stellenwert des Faches Geschichte (als Basis für die Erinne- rungs- und Utopiefähigkeit des Menschen)
• Projektlernen, Planspiel
• Eine zeitlich umfassende Präsenz des Erwachsenen (Lehrer – Erzieher) mit Aufbau ei- ner professionellen Beziehungskompetenz. (Meisterjahn-Knebel 2013, S. 37)
Da die Umsetzung der Montessoripädagogik in der Sekundarstufe 2 sehr viele verschiedene Gesichter haben kann, möchte ich hier zwei Beispiele anführen. Die erste Schule, Schloss Hagerhof, ist in Deutschland angesiedelt, die zweite Schule, das MORG Grödig, in Österreich.
Schloss Hagerhof:
Schloss Hagerhof ist ein Gymnasium, eine Realschule und ein Internat in Bad Honnef am Rhein in Deutschland.
Schloss Hagerhof ist das einzige Internat in Deutschland, das nach den pädagogischen Grundsätzen von Maria Montessori geführt wird. Die angegliederte Schule ist eine staatlich anerkannte Ersatzschule 1 mit gebundener Ganztagsschule für Gymnasium und Realschule. (Schloss Hagerhof o.J.a)
1 Das bedeutet, dass die Schule zwar in privater Trägerschaft steht, aber staatliche Vorgaben im Rahmen von Richtlinien, Versetzungs- und Prüfungsordnung greifen. (vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.119) 42
Das Gymnasium Schloss Hagerhof will eine Schule sein, die grundsätzlich allen Kindern offen steht. Zielgruppe sind Eltern, die Wert legen auf eine persönlichkeitsorientierte Bildung in ei- nem überschaubaren pädagogischen Rahmen, in einer landschaftlich anregenden Umgebung sowie Eltern, die beruflich stark engagiert sind und Alleinerziehende. (Meisterjahn-Knebel 2003, S.125)
Zusätzliche Schwerpunkte an der Schule sind die musikalische und die sportliche Ausbildung. Die, in dieser Arbeit oft zitierte, Frau Dr. Meisterjahn-Knebel ist die Schulleiterin dieser Schu- le. Seit 1996 wurde der Unterricht konzeptionell auf die Montessoripädagogik umgestellt. Daraus ergibt sich das Prinzip der Selbsttätigkeit, welches über der ganzen Konzeption der Einrichtung steht. Das fachliche Angebot der Schule, welches den gesetzlichen Bestimmun- gen entspricht, wird ergänzt durch viele außerunterrichtliche Veranstaltungen und Angebote sowie einem Betriebspraktikum in der 9. Klasse und einem Sozialpraktikum in der 11. Klasse. Die Schule ist sowohl in Europa als auch International gut vernetzt, und nimmt an Aus- tauschprogrammen und Projekten teil. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.120-126) Die fol- genden drei Lernformen dominieren das Unterrichtsgeschehen (vgl. Schloss Hagerhof o.J.a):
Individualisierender Unterricht: Dazu zählen Lernzirkel, Stationenlernen, Praktika, Fach- arbeiten und die Freiarbeit. All diese Arbeitsweisen ermöglichen der/dem SchülerIn nach seinen/ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu agieren. Die Sache, der/die PartnerIn und die Zeit dürfen frei gewählt werden. Es besteht jedoch eine Verpflichtung die getane Arbeit zu präsentieren. Auswahlkriterien, Planungsstrategien, Arbeits- und Präsentationstechniken sollen beherrscht werden und jede/jeder SchülerIn muss Bewer- tungskriterien entwickeln und sich auch der Kritik anderer stellen.
Lehrgangsförmiger Unterricht: Fachunterricht, fächerübergreifender Unterricht und Epo- chenunterricht wird für die Systematisierung des Wissens und der Weitergabe von Über- blicks- und Orientierungswissen, eingesetzt.
Moderierter Unterricht: Darunter versteht man themenzentriertes und projektorientier- tes Arbeiten. Dabei werden Arbeitsvorhaben und Lernsituationen geschaffen, in denen sich die einzelnen SchülerInnen mit ihren individuellen Fähigkeiten einbringen können. Beim Prozess kann man kooperative Arbeitsformen, Planung, Durchführung und Auswer- tung gemeinsamer Vorhaben, aktiv lernen. Unter diese Art von Unterricht fallen auch Ex- kursionen, Schulschiwochen, Projektwanderwochen und Arbeitsgemeinschaften. 43
Weiters werden die SchülerInnen in die organisatorische Schulstruktur durch den Klassenrat, der zumindest am Beginn und am Ende der Woche stattfindet, eingebunden.
Um den Unterricht so frei und offen gestalten zu können, brauchen die SchülerInnen einen Grundstock an Methodenkompetenzen. Diese werden durch ein auf das Alter abgestimmtes Methodentraining unterstützend aufgebaut. Beispielsweise beginnen die Fünftklässler/innen ihre ersten Schulwochen mit einem Forschertraining, mit Übungen aus verschiedenen Fä- chern, die in die Arbeitsweise der Freiarbeit einführen und den Umgang mit Materialien vor- bereiten. Es folgen weitere Methodentrainings in den folgenden Jahren, die alle zum Ziel haben die Selbstständigkeit im Arbeiten der SchülerInnen zu erhöhen. Dies beginnt beim Umgang mit Wörterbüchern, gezieltem Kommunikationstraining, Üben von Bewerbungsver- fahren, und geht bis hin zum Lernen von Zitierweisen, Präsentationstechniken, den Aufbau von freien Reden und vielem mehr. (Vgl. Meisterjahn-Knebel 2003, S.128ff)
In der 9. Und 10. Klasse beginnt der Unterricht um 8.30 Uhr und wird in Blockstunden unter- brochen von zwei Pausen abgehalten. Das selbsttätige Lernen findet gebündelt an zwei Ta- gen als Block jeweils von der dritten bis zur sechsten Stunde statt. Einmal in der Woche gibt es einen Projekttag. Unterrichtsschluss ist für diese Klasse immer um 13.45 Uhr, danach gibt es Mittagessen und Mittagspause und ab 14.30 ein Hausaufgabensilentium, Fördereinheiten und die freiwilligen außerunterrichtlichen Angebote und Arbeitsgemeinschaften. Die höhe- ren Klassen haben ihren Kursunterricht zwischen 7.40 und 16.50 Uhr unterbrochen von einer Mittagspause um 13 Uhr. Durch diesen großen Zeitrahmen ist es möglich, dass alle Schüle- rInnen ihre gewünschten Kurskombinationen von Pflicht- und Wahlkursen besuchen können. Die meisten Block- und Kurseinheiten dauern 90 Minuten. In der Schule gibt es keine Glocke, die Zeiteinheiten werden von Lehrpersonen und SchülerInnen gesteuert. (Vgl. Meisterjahn- Knebel 2003, S.131f)
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Montessori Oberstufenrealgymnasium (MORG) Grödig:
„Unser Oberstufenrealgymnasium mit Bildnerischer Gestaltung und Werkerziehung führt in vier Jahren zur Allgemeinen Hochschulreife, basierend auf der Pädagogik nach Maria Mon- tessori.“ (MORG Homepage) Mit diesen Worten stellt sich das MORG Grödig, welches nahe bei Salzburg gelegen ist und von der Diakonie Salzburg geführt wird, vor. Die Schule hat ei- nen musisch-kreativen Schwerpunkt, das heißt die Fächer Bildnerisches Gestalten und Wer- kerziehung, Bildnerische Erziehung und Musikerziehung werden bis in die 8. Klasse/ 12.Schulstufe unterrichtet. Weiters gibt es die Wahlpflichtfächer Kulturgeschichte und Thea- ter. Als Ziel des eigenverantwortlichen und selbstständigen Lernens, verbunden mit den kre- ativen Fächern und der Durchführung von sozialen Projekten, sowie das Leben von Integrati- on, steht ein kreativer und kulturell bewusster Mensch, der mit sich und seiner Umwelt et- was anzufangen weiß. Soziale Projekte werden von allen Klassen einmal im Jahr durchge- führt und die Integration von Jugendlichen mit Beeinträchtigung findet im Klassenverband statt. (Vgl. MORG o.J.a) Diese Schule führt eine Klasse pro Jahrgang und wurde vor fünf Jah- ren gegründet. Im Sommersemester 2012/13 hat die zweite Klasse maturiert. In diesem Zu- sammenhang gibt es auch ein Kinderhaus, eine Volksschule, eine Hauptschule und eine Ori- entierungsstufe, die nach der Montessoripädagogik geführt werden. (Vgl. Inter- viewtranskript im Anhang)
Jedes Schuljahr beginnt mit den Schuljahr-Eröffnungstagen, in denen die SchülerInnen drei Tage an einem Ort außerhalb der Schule verbringen. Für jede Klasse werden dabei Outdoor- Programme angeboten, für die 5. Klasse gibt es dabei eine Kennenlern- und Einführungspha- se. Der gemeinsame Beginn soll die Verbundenheit der SchülerInnen und die Schulgemein- schaft fördern. Am Ende jedes Schuljahres steht eine Projektwoche, bei der die 5. Klasse eine meeresbiologisches Programm in Kroatien hat, die 6. Klasse eine Sprachreise macht und die 7.Klasse eine Kulturreise in ein von den SchülerInnen ausgewähltes Land unternimmt. (Vgl. MORG o.J.b)
Jede Schulwoche beginnt mit einer Stunde sozialen Lernens, wodurch für die SchülerInnen die Möglichkeit eröffnet wird ihren Alltag in der Schule aktiv mitzugestalten und die Klassen- gemeinschaft zu pflegen. Der Unterricht beginnt immer um 8.30 Uhr und dauert bis 17 Uhr, außer freitags nur bis 13.20 Uhr. Es gibt täglich eine einstündige Mittagspause. Der Schultag wird täglich mit einer zehn Minuten langen Ankommphase im gemeinsamen Klassenverband 45 begonnen. In diesen zehn Minuten gestalten, laut der Auskunft von Herrn Bernhofer, die jeweiligen LehrerInnen der ersten Stunde eine Stilleübung. Danach wechseln sich Input- und Freiarbeitsphasen in den Klassen ab. Das selbsttätige, eigenverantwortliche Lernen steht immer im Mittelpunkt. Die Lehrperson übernimmt im Allgemeinen eine unterstützende Rol- le, zusätzlich hat jede/jeder SchülerIn einen eigenen Lerncoach zugeteilt. Auch unter dem Schuljahr gibt es immer wieder Projekttage, an denen der ganze organisierte Unterricht auf- gelöst ist, weiters zahlreiche Lehrausgänge und Exkursionen, um Theorie und aktive Tätigkeit zu verbinden. (Vgl. MORG o.J.b)
Als Kernstück bezeichnet das MORG die Frei Wahl der Arbeit nach dem Prinzip von Maria Montessori. Die SchülerInnen können im MORG in weiten Teilen des Unterrichts selbst ent- scheiden welche Arbeiten und Lerninhalte sie wann, wie und wo bearbeiten. Ermöglicht wird diese Arbeitsweise durch eine vorbereitete Umgebung. Diese Freie Wahl der Arbeit kann phasenweise ausgeübt werden und wechselt sich im Schulalltag mit Inputphasen ab. Dieses teils eigenverantwortliche und selbstständige Lernen bedeuten im MORG:
− Erfahrungen von Lerninhalten durch das eigene Tun, nicht durch Konsumation, wo- durch die Inhalte wesentlich nachhaltiger gefestigt werden können. − Die Förderung individueller Interessen und unterschiedlicher Lernfortschritte. − Ein kreatives und reflexives Lernen soll passieren. − Die Selbstwahrnehmung von Stärken und Schwächen der SchülerInnen wird aktiviert.
Die SchülerInnen bekommen zu Beginn des Schuljahres ein so genanntes Studienbuch, in- dem für jedes Fach der Jahresstoff in kompetenzorientierter Form beschrieben ist. Damit herrscht von Beginn an darüber Klarheit, was während des Schuljahres erlernt werden soll. Weiters sind im Studienbuch die Angaben, wie man im jeweiligen Fach zu seiner Note kommt, vorgegeben. So kann eine klare transparente Notengebung gelingen. (Vgl. MORG o.J.b)
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3.1.2.5 Daltonplan Um die Liste der Reformpädagogischen Strömungen, die Konzepte für die Sekundarstufe bieten und in Österreich umgesetzt werden zu vervollständigen, möchte ich hier auch den Daltonplan nochmals erwähnen. Dieses Konzept ist, wie oben im Kapitel 2.2.4 schon er- wähnt, aus der Montessoripädagogik entstanden und wird auch in einigen heutigen nach Montessoripädagogik geführten Sekundarstufen 2 allein oder in Verbindung mit der Idee des Erdkinderplans umgesetzt. Dies meint auch Frau Saskia Haspel, Leiterin des Montessori- Zentrum Wien:
Die Frage, wie Montessori-Pädagogik in der weiterführenden Schule aussehen kann, ist eine ernst zu nehmende – vor allem deshalb, weil Montessoris Konzept für 12- bis 18-jährige Ju- gendliche (der Erdkinderplan) doch ganz anders gedacht war, als Schule in unserer derzeitigen Schullandschaft vorstellbar erscheint. Während sich an Montessori-Haupt- und Gesamtschulen europaweit eher ein Konzept durchgesetzt hat, dass sich entweder stark an Volksschul- Pädagogik oder aber auch am Jenaplan orientiert, verwenden sogenannt Montessori- Gymnasien häufiger den Dalton-Plan als Organisationform – meist ohne ihn als methodische Grundlage zu nennen […]. (Haspel 1997)
Doch nicht nur in als Montessorischulen ausgezeichneten Schulen kommt der Daltonplan zum Einsatz. Auch in der Regelschule ist er anwendbar. Dies zeigt beispielsweise die im Kapi- tel 2.2.4 schon erwähnte Initiative Cooperatives Offenes Lernen – COOL, die auf ihre Art und Weise ermutigt Daltonplan-Methoden in Berufsbildenden Höheren Schulen einzusetzen (vgl. cool – cooperatives offenes lernen o.J.).
In dieser Arbeit wird auf die intensive Auseinandersetzung mit dem Daltonplan verzichtet. Bei Interesse zur Daltonplanumsetzung im Mathematikunterricht verweise ich auf die Dip- lomarbeit einer Kollegin (siehe Riedl 2013).
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3.1.3 Situation in Österreich Es gibt in Österreich zahlreiche reformpädagogische Schulen, die auch großteils in ihrer je- weiligen Konzeption/reformpädagogischen Strömung gut vernetzt sind. So findet man zu der sehr gut vernetzten und organisierten Waldorfpädagogik einen Waldorfbund Österreich 1, der auch einen guten Überblick über die Waldorfschulen bietet. Laut einer telefonischen Auskunft des Waldorfbundes Österreich am 4.8.2013 gibt es in Österreich zehn Waldorfschu- len, die auch eine Oberstufe führen. Davon befinden sich zwei Schulen in Graz (Freie Wal- dorfschule Graz, Karl-Schubert-Schule Graz), drei in Wien (Rudolf Steiner-Schule Wien Pötz- leinsdorf, Rudolf Steiner-Schule Wien Mauer, Freie Waldorfschule Wien West) und jeweils eine in Innsbruck (Freie Waldorfschule Innsbruck), Klagenfurt (Rudolf Steiner-Schule Klagen- furt), Salzburg (Rudolf Steiner-Schule Salzburg), Linz (Freie Waldorfschule Linz) und in Schö- nau an der Triesting (Rudolf Steiner Landschule Schönau).
Es gibt auch in Österreich mehrere Möglichkeiten sich zur/zum Waldorfpädagogin/en Aus- bilden zu lassen. Das Zentrum für Kultur und Pädagogik möchte ich hier erwähnen, dass so- wohl ein Masterstudium Waldorfpädagogik, in der Zusammenarbeit mit der Donau- Universität Krems, in berufsbegleitender Form, als auch zahlreiche Fortbildungen anbietet. Unter den Fortbildungen findet man auch speziell für die Oberstufendidaktik konzipierte Veranstaltungen. (Vgl. Zentrum für Kunst und Pädagogik o.J.)
Auch montessoripädagogische Vernetzungen findet man in Österreich. Beispielsweise beim Montessori Österreich Bundesverband 2 oder auch unter dem Namen Montessori-Zentrum 3. Gerade unter der zweiten Organisation findet man viele Informationen zu Ausbildungen, weiteren Zusammenschlüssen, Kindergärten und Schulen. Laut einer telefonischen Auskunft des Montessori-Zentrums Wien, am 4.8.2913, ist das MORG Grödig die einzige montessori- pädagogisch geführte Sekundarstufe 2 in ganz Österreich. In Planung ist eine weitere Ausbil- dungsstätte dieser Art von der Montessori-Initiative Wieden 4. Diese soll, gemäß Informatio- nen auf der Homepage, ab dem Schuljahr 2015/16, spätestens aber 2016/17 starten. Ge- meinsam mit der Waldorfschule Wien West hat der Montessori Campus Wien ab September 2013 eine gemeinsame Sekundarstufe 2 eröffnet, das mit der internationalen Hochschulrei-
1 http://www.waldorf.at/ 2 http://www.montessori-austria.at/ 3 http://montessori.at/home.xhtml 4 http://mi4.at/ 48 fe, dem ‚International Baccalaurete Diploma Programm‘ abschließt 1. Hier versuchen die bei- den Konzeptionen eine Verschränkung für die Oberstufe anzubieten.
Ausbildung zur Montessoripädagogik gibt es in Österreich sowohl an den Pädagogischen Hochschulen, beispielsweise in Graz 2, als auch privat zu finanzierende. Auch die katholische Pädagogische Hochschule 3 in Graz und das Montessori-Zentrum Wien 4 bieten Grundkurse und weiterführende Lehrgänge an.
Das sich der Jenaplan als Konzept in den österreichischen Schulen nicht gut durchsetzen konnte, war schon 2007 Thema in einem Zeitungsartikel der Presse mit dem Titel ‚Jenaplan ist ein Konzept für die Gesamtschule‘. Der interviewte Unterrichts- und Erziehungswissen- schaftler Harald Eichelberger meint, dass der Jenaplan kaum in eine bestehende Schule in- tegrierbar sei, wie andere reformpädagogische Konzepte. Bei der Umsetzung müsse eine ganze Schule als pädagogische Einheit hinter der pädagogischen Idee Jenaplan stehen. (Vgl. Schmidt 2007) Inzwischen gibt es Schulen die nach Jenaplan unterrichten in Österreich im Volksschulbereich (vgl. Jenaplan 2013).
Auch der Jenaplan kann in der Sekundarstufe 2 eingesetzt werden. Dies zeigen Umsetzungen in Deutschland wie beispielsweise die Staatliche Jenaplan-Schule in Jena 5. Die Jenaplan- Pädagogik ist auch in Österreich präsent und vernetzt 6, doch findet man ihren expliziten Ein- satz nicht in der Sekundarstufe 2.
An der Katholischen Pädagogischen Hochschule Graz wird ein Lehrgang zur Jenaplan- Pädagogik 7, unter der Leitung von Mag. Dr. Susanne Herker angeboten, Schulversuche evalu- iert und sich verstärkt diesem Thema angenommen.
1 http://www.montessori-verein.at/ 2 http://www.phst.at/paedagoginnen/fort-und-weiterbildung/lehrgaenge/montessoripaedagogik/ 3 http://www.kphgraz.at/index.php?id=304 4 http://montessori.at/akademie.xhtml 5 http://www.jenaplanschule.jena.de 6 http://www.jenaplan.at/ 7 http://www.kphgraz.at/index.php?id=309 49
3.2 Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2 Bevor sich der Inhalt dieser Arbeit dem reformpädagogischen Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2 zuwendet, werden kurz einige Überlegungen zum Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2 allgemein angeführt.
Der Mathematikunterricht in der Sekundarstufe verfolgt allgemeine Ziele, er sollte die Schü- lerInnen mit einigen Grundmustern des Arbeitens in der Mathematik vertraut machen und brauchbare Kompetenzen vermitteln. Dies gilt sowohl für die Sekundarstufe 1, als auch für die Sekundarstufe 2. Wobei die mathematischen Inhalte, die im Lehrplan festgeschrieben sind, verschiedene sind. Dieses Kapitel umfasst nur einen kleinen Teil der vielfältigen Inhalte der Mathematikdidaktik zur Sekundarstufe 2 und soll als Grundeinstieg in den auf die Ma- thematik bezogenen Teil dieser Arbeit und als Vergleichsgegenstand dienen.
3.2.1 Grundmuster des mathematischen Arbeitens Die folgenden, von Kristina Reiss und Christoph Hammer (2013) übernommenen Grundmus- ter, welche die Tätigkeiten im Rahmen der Mathematik beschreiben, begegnen jeder/jedem Schülerin/Schüler im Unterricht. Oft sind diese Arbeitsmuster den SchülerInnen nicht be- wusst. Doch ein aktives Reflektieren dieser Grundmuster könnte gerade in der Oberstufe zu einem allgemein besseren Verständnis der Mathematik führen.
Mathematische Begriffe (Definitionen, Sätze)
Im Mathematikunterricht ist zunächst Wissen über Begriffe zu erwerben. In systematischen Darstellungen der Mathematik ist das zum Verständnis des Begriffs erforderliche Wissen meist in einer Definition konzentriert. Werden Beispiele gegeben, dann erhält man damit Hinweise auf Objekte, die unter den Begriff fallen. (Vollrath 2012, S.45)
Es gibt theoretisch zwei Wege, mathematischen Begriffen Bedeutung einzuhauchen, bzw. ihren Inhalt zu bestimmen. Bei der ersten Möglichkeit handelt es sich um Grundbegriffe, die mehr oder minder eine anschauliche Grundlage haben und in der Schule meist nicht weiter erklärt werden, wie zum Beispiel was ein Punkt, eine Gerade oder eine Ebene ist. Die zweite Art besteht darin, Begriffe über Definitionen auf andere Begriffe zurückzuführen. Dies pas- siert beispielsweise wenn man zwei Geraden parallel nennt, wenn sie entweder keinen oder alle Punkte gemeinsam haben. Neben dem bedeutungsträchtigen Inhalt besitzt jeder Begriff
50 auch ei nen Umfang von Objekten, die ihm zugeordnet werden können. (Vgl. Reiss 2013, S. 55) Am Beispiel des Begriffs Parallelogramm wird dies verständlich :
Abb. 2 Begriff Parallelogramm mathematischer Begriff: Parallelogramm
Inhalt Umfang Definition: Ein Parallelogramm ist ein Objekte: Rechteck, Viereck mit jeweils zwei gleichlangen, Quadrat, konkrete parallelen Seiten. Beispiele
Eng verbunden mit dem Lehren von Begriffen ist das Lehren von Sachverhalten, die als Sätze oder Regeln ausgewiesen werden und zu begründen sind. Häufig handelt es sich dabei um E i- genschaften von Begriffen oder um Beziehungen zwischen Begriffen. (Vollrath 2012, S. 109)
Beweisen
„Zahlen und Rechnen, Figuren und Konstruieren gehören zwar zur Mathematik, das eigen t- lich Mathematisch e an ihnen wird jedoch in der Regelhaftigkeit und in der Möglichkeit ges e- hen, diese Regeln zu begründen. “ (Vollrath 2012, S.11) Begründungen sind in der Mathem a- tik Beweise. „Beweisen bedeutet, eine mathematische Aussage auf andere Aussagen zurüc k- zuführen, und das können bereits bewiesene Sätze oder auch Axiome sein.“ (Reiss 2013, S. 47) Die Tätigkeit des Beweisens ist ein Prozess und deshalb mehr als nur die Wahrheit einer Aussage zu belegen. Zuerst wird meist durch Exploration eine beweiswürdige Aussage g e- funden und e in Beweisbedürfnis entsteht. Da nach gilt es eine Idee für den Beweis zu finden, was sich oft als schwierig erweist. Deshalb sollte man auch Zwischenprodukte im Unterricht wertschätzen. Weiters stellt sich beim Beweisen die Frage, auf welche mat hematischen Aus- sagen man zurückgreifen kann und wie der Beweis in der Sprache der Mathematik nachvol l- ziehbar formuliert wird. (V gl. Reiss 2013, S. 48ff)
Argumentieren (Mathematik und Sprache )
Argumentieren meint die Angabe von mathematischen Aspekten, die für oder gegen eine b e- stimmte Sichtweise/Entscheidung sprechen. Argumentieren erfordert eine korrekte und ad ä- quate Verwendung mathematischer Eigenschaften/Beziehungen, mathematischer Regeln s o- wie der mathematischen Fachsprache. (BIFIE 2011b, S.10)
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Das mathematische Argumentieren beinhaltet auch das Beweisen, ist aber weiter gefasst und bereitet auf Beweise vor. Reiss und Hammer weisen darauf hin, dass das Beweisen in den letzen Jahren im Unterricht an deutschen Schulen zurückgegangen ist, durch die Einfüh- rung der Bildungsstandards hat jedoch das Argumentieren mehr Bedeutung gewonnen. (Vgl. Reiss 2013, S.53) Schaut man in das Praxishandbuch Bildungsstandards 8. Klasse für Mathe- matik in Österreich, sieht man, dass im Kompetenzmodell unter den Handlungsbereichen ein solcher mit Argumentieren/Begründen betitelt ist (vgl. BIFIE 2011b, S.10). Doch das Bewei- sen selbst ist nicht als Handlungsbereich angeführt. Das heißt, die oben angeführte Behaup- tung über Deutschland, gilt auch für Österreich.
Mathematisches Problemlösen
Bevor man den Prozess des mathematischen Problemlösens betrachtet, gilt es den Begriff ‚Problem‘ im Kontext des Mathematikunterrichts zu definieren. Regina Bruder und Christina Collet tun dies in folgender Weise:
Ein Problem im Mathematikunterricht soll eine Anforderungssituation bezeichnen, die subjek- tiv als (kognitiv) schwierig erlebt wird. Diese Anforderungssituation erscheint den Lernenden nicht spontan bewältigbar, sie kann auch einfach nur ungewohnt sein und verlangt eine für das Individuum neue Lösung. Das gilt auch dann, wenn das Problem als solches schon von vielen anderen Personen gelöst wurde. (Bruder 2011, S.11)
Weniger offen und allgemein erscheint mir die Definition von Kristina Reiss und Christoph Hammer: „Unter einem Problem versteht man in der Mathematik eine Aufgabe, die es zu lösen gilt, bei der eine Lösung allerdings nicht offensichtlich ist.“ (Reiss 2013, S.56) Situatio- nen der ersten Art, oder auch Aufgaben wie in der zweiten Erklärung, sind Bestandteile der Mathematik und deren Vermittlung. George Pólya 1 beschäftigte sich mit der Herangehens- weise an mathematische Probleme und unterschied vier Phasen des Problemlösens, bzw., wie er es nennt vier Phasen der Arbeit. (Vgl. Pólya 1949, S.18-33)
1 György (George) Pólya war ein ungarischer Mathematiker, der von 1887 bis 1985 lebte und sich unter ande- rem auch mit dem Unterrichten von Mathematik auseinadersetzte. Mehr Informationen über ihn findet man in der Biographie „The random walks of George Pólya“ von Alexanderson (2000). 52
(1) Das Verstehen der Aufgabe: „Es ist töricht, eine Frage zu beantworten, die man nicht versteht.“ (Pólya 1949, S.19) Diese Phase sollte geprägt sein von Fragen nach dem Unbe- kannten, dem Gegebenen, den Bedingungen und der Lösbarkeit. (2) Die Entwicklung eines Plans für die Lösung: Dabei geht es darum, eine Idee zu finden. Dies kann langsam durch Ausprobieren oder Zurückgreifen auf bekannte Strategien, aber auch durch einen ‚Geistesblitz‘ geschehen. (3) Die Ausführung des Plans: Bei der Durchführung sind Geduld und mathematische Genau- igkeit von Bedeutung. (4) Die Rückschau: Diese Phase ist nach Pólya besonders wichtig für die SchülerInnen. „Durch Rückschau auf die vollendete Lösung, durch nochmaliges Erwägen und Überprü- fen des Resultats und des Weges, der dazu führte, könnten sie ihr Wissen festigen und ihre Fähigkeiten, Aufgaben zu lösen entwickeln.“ (Pólya 1949, S.28) Wenn man Lösungswege von Problemen untersucht, dann erkennt man Heurismen 1. Darun- ter versteht man heuristische Prinzipien (z.B. Symmetrieprinzip, Invarianzprinzip, Rekursi- onsprinzip), heuristische Strategien (z.B. Analogieschluss, systematisches Probieren), heuris- tische Regeln (z.B. allgemeine Rechenregeln) und Hilfsmittel (z.B. Tabellen, Wissenspeicher). (Vgl. Bruder 2011, S.36f) Ein bewusstes Reflektieren von Heurismen im Mathematikunter- richt, kann den SchülerInnen helfen Probleme leichter zu bewältigen.
Wenn es den in Mathematik geistig weniger beweglichen Lernenden gelingt, geeignete Prob- lemlösungsstrategien (Heurismen) zu erlernen und flexibel anzuwenden, können von ihnen in begrenzten Themenbereichen ähnliche Problemlösungsergebnisse erzielt werden wie von den intuitiven Problemlösern. (Bruder 2011, S.36)
Mathematisches Modellieren
Das Problemlösen im Mathematikunterricht darf nicht verwechselt werden mit dem Model- lierungsvorgang. Dieser besteht darin, eine reale Situation über ein Realmodell in ein ma- thematisches Modell überzuführen, dann mathematische Ergebnisse zu berechnen und die- se für die reale Situation zu interpretieren. Während der einzelnen Schritte dieses Prozesses können Probleme auftreten, die gelöst werden müssen. Beispielsweise Mathematisierungs- probleme, Probleme mit der verwendeten Mathematik oder auch Interpretationsprobleme.
1 Heurismen sind Problemlösungsstrategien. (vgl. Bruder 2011, S. 36) 53
Der ganze Prozess des Modellierens kann also aus Problemlösungsprozessen bestehen. (Vgl. Bruder 2011, S.16f) Werner Blum und Dominik Leiß visualisierten diesen Modellierungskreislauf:
1 Problemsituation verstehen 2 Problem strukturieren 3 Problem mathematisieren 4 Werkzeuge auswählen, erschaffen und anwenden 5 Ergebnis interpretieren 6 Ergebnis validieren
Abb. 3 Modellierungskreislauf
Algorithmen finden und durchführen
Mit dem Begriff Algorithmus bezeichnet man eine Vorschrift zur Lösung einer Aufgabe. In einer endlichen Anzahl von Schritten (so wird es zumindest in der Regel festgelegt) kommt man mit einem Algorithmus in festgelegter Art und Weise zu einem Ergebnis. (Reiss 2013, S. 61)
Nicht nur numerische Verfahren um Gleichungen zu lösen wie beispielsweise Fixpunktver- fahren und Newton-Verfahren, die in der Schule nur sehr selten Unterrichtsstoff sind, gehö- ren zu den Algorithmen (vgl. Timischl 1999, S.292-299). Auch das Addieren von Brüchen, die Anwendung der Lösungsformel für quadratische Gleichungen, sowie die Identifikation des Tiefpunktes eines Graphen einer Funktion mit Hilfe der Differentialrechnung fallen unter das algorithmische Denken in der Schulmathematik. (vgl. Reiss 2013, S.62) Werden solche ‚algo- rithmischen‘ Inhalte im Unterricht zum Lehrinhalt, dann ist es wichtig, dass ihre Entste- hung/Herleitung von den SchülerInnen verstanden wird.
Diese Grundmuster der Mathematik finden sich teilweise auch in den Handlungsbereichen des Kompetenzmodells (vgl. BIFIE 2011b, S.10) für den Mathematikunterricht wieder.
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3.2.2 Ziele und Inhalte des Mathematikunterrichts Im Buch „Grundlagen des Mathematikunterrichts in der Sekundarstufe“ beschreiben Hans- Joachim Vollrath und Jürgen Roth einen authentischen Mathematikunterricht. „Der Unter- richt hat dabei Antworten auf drei grundlegende Fragen zu geben: Was ist Mathematik? Wie entsteht Mathematik? Was kann man mit Mathematik anfangen?“ (Vollrath 2012, S.25)
Die folgenden Ziele des Mathematikunterrichts, aus dem Buch ‚Grundlagen der Mathema- tikdidaktik‘ von Kristina Reiss und Christoph Hammer übernommen und um das Ziel des Problemlösen- Lernens von mir ergänzt, können eine Antwort auf die drei oben gestellten Fragen sein. Mathematik …
... ist Lebensvorbereitung: „Der sichere Umgang mit symbolischen und grafischen Dar- stellungen oder die Fähigkeit zum Abschätzen von Größenordnungen oder Größenver- hältnissen gelingen vielleicht im Mathematikunterricht besser als in anderen Fächern.“ (Reiss 2013, S.2) Auch in vielen Studien und Arbeitsfeldern wird auf ein solides Schulwis- sen und mathematische Fertigkeiten aufgebaut.
… stiftet kultureller Kohärenz: Das mathematische Wissen gehört genauso wie Musik, Malerei und Literatur zur Kultur, in der wir leben. Es geht darum, die Bedeutung funda- mentale Ideen zum Wesen der Mathematik zu verstehen und die Wurzeln von mathema- tischen Problemen im alltäglichen Leben zu erkennen. (Vgl. Reiss 2013, S. 4)
… fördert Weltorientierung:
Hier geht es darum, im Unterricht das Basiswissen für die Teilhabe an wesentlichen ge- sellschaftlichen Prozessen zu vermitteln. Insbesondere sollen Schülerinnen und Schüler erfahren, wie mathematisches Wissen und mathematische Erkenntnisse zur Deutung und Modellierung von alltäglichen Phänomenen, aber auch zum Verständnis solcher Phänomene beitragen können.(Reiss 2013, S. 4)
… ist Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch:
Damit ist beispielsweise verbunden, Behauptungen, Schlussfolgerungen oder Werturtei- le nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern sie zu hinterfragen, mögliche Wider- sprüche zu erkennen, Unstimmigkeiten zu identifizieren und dabei dem eigenen rational gefällten Urteil zu vertrauen. (Reiss 2013, S.5)
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Natürlich wird dies auch in anderen Unterrichtsfächern, wie in Deutsch oder Philosophie, geübt. Doch in der Mathematik kann meist ohne Rückgriff auf Autoritäten entschieden werden, ob eine Aussage richtig oder falsch ist. (Vgl. Reiss 2013, S.5)
… wird angewandt im Alltag:
Die Idee einer bildungstheoretisch fundierten Didaktik erschöpft sich natürlich nicht im (allgemein-)bildenden Wert des Fachs. Die Bedeutung für das gegenwärtige Leben muss auch mit dem ganz normalen Alltag in Verbindung gebracht werden können. (Reiss 2013, S.7)
In der Praxis wird das Fach Mathematik leider selten mit seinen Alltagsfunktionen in Ver- bindung gebracht. Oft dominiert nach wie vor das schlichte, abstrakte Rechnen. Diese Kluft zu überwinden ist eine wesentliche Aufgabe des heutigen Mathematikunterrichts, dies ist nicht leicht zu schaffen, weil es nicht reicht nur anwendungsorientierte Aufga- benstellungen in den Unterricht einzubauen. Am Beispiel Prozentrechnen gibt die Litera- tur im Wesentlichen drei Gründe an (vgl. Reiss 2013, S.8f):
− Obwohl im Unterricht versucht wird Bezüge zur Realität herzustellen, dominieren nach wie vor regel- und routinehafte Rechengenaufgaben. Denn die gut gemeinten, anwendungsorientierten Aufgaben, entpuppen sich häufig als bloße Einkleidungen von, für den Alltag sinnlose, Übungsbeispielen. − „Der Lebensweltbezug in einer Aufgabe ist keine Konstante.“ Reiss 2013., S.9) Die SchülerInnen haben je nach Alter, Persönlichkeit und Umfeld verschiedene Interes- sen und kein persönlicher Alltag gleicht dem anderen. − Weiters kommt es oft vor, dass Alltagprobleme zwar gut geeignet sind, doch unrea- listisch formuliert werden.
Nun stellt sich die Frage: Wie kann ein anwendungsorientierter Mathematikunterricht überhaupt statt finden?
„Ein Vorschlag der Mathematikdidaktik zur Überwindung des Konflikts liegt darin, in eher künstliche Kontexte gekleidete Sachaufgaben deutlich als solche erkennbar zu ma- chen und wenigstens hin und wieder echte Probleme aus dem Alltag lösen zu lassen.“ (Reiss 2013, S.9)
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Auch soll beim Ziel der Anwendung von mathematischen Inhalten die Querverbindung zu anderen Wissenschaftsdisziplinen und gegebenenfalls Unterrichtsfächern nicht uner- wähnt bleiben. In der Physik, Informatik, Wirtschaft, Geografie und sogar in der Musik werden mathematische Inhalte verwendet. (Vgl. Reiss 2013, S.10)
… hilft um Problemlösen zu lernen: „Wenn man nach den Gründen fragt, die einen Ma- thematikunterricht als allgemeinbildend qualifizieren und damit auch ‚für alle‘ legitimie- ren, dann wird Problemlösen zu einem Eckpfeiler in der Argumentation.“ (Bruder 2011, S.20) Denn die mathematischen Anforderungen in jedem individuellen Leben werden verschiedene sein. Die Brücke zwischen den erlernten mathematischen Fertigkeiten, dem mathematischen Grundverständnis und den aktuellen Anforderungen in bestimm- ten Lebenssituationen, ist die Problemlösungskompetenz jedes einzelnen. Deshalb ist es wichtig, in einem zeitgemäßen Mathematikunterricht Problemlösen zu lernen. Doch sol- len die SchülerInnen nicht bloß mit Problemen konfrontiert werden, sondern unterstützt werden im Problemlösungsprozess. (Vgl. Bruder 2011, S.20ff) So können bewusst Prob- lemlösungsstrategien, unter anderem auch durch den Mathematikunterricht, entstehen. Diese können auch auf verschiedenste außermathematische Situationen angewandt werden. 1
Ich möchte hier auf die mathematischen Inhalte im Detail nicht näher eingehen, sondern verweise dazu auf den aktuellen österreichischen Lehrplan (BMUKK 2004a) und die mathe- matischen Grundkompetenzen für die standardisierte Reifeprüfung in der allgemeinbilden- den höheren Schule 2. Im Wesentlichen beinhaltet der Mathematikunterricht in der Sekun- darstufe die Bereiche Trigonometrie, Vektorrechnung, Funktionsbegriffe, Differentialrech- nung, Integralrechung und die Wahrscheinlichkeitsrechnung.
1 Zur Vertiefung in diese Thematik empfehle ich das Buch „Problemlösen lernen im Mathematikunterricht“ von Regina Bruder und Christina Collet (siehe Bruder 2011). 2 vgl. BIFIE 2011a, S.8-15 57
3.2.3 Didaktische Prinzipien für den Mathematikunterricht Um Mathematikunterricht gut vorbereiten und durchführen zu können erfordert dies strin- gente Überlegungen, denn „Lehren erfordert als zielgerichtetes Handeln vielfältig Entschei- dungen.“ (Vollrath 2012, S.115) Die Unterrichtssituation ist derart komplex, dass es nicht praktisch umsetzbar ist, immer alle Konsequenzen zu bedenken und dann eine Entscheidung zu treffen. Prinzipien für den Mathematikunterricht können eine Entscheidungs- und Orien- tierungshilfe sein, die sich auf verschiedene Lehraufgaben beziehen. (Vgl. Vollrath 2012, S.115) Es gibt zahlreiche Unterrichtsprinzipien, die im Mathematikunterricht ihre Anwen- dung finden können. Sie haben sich im Laufe der Zeit in Anlehnung an schuldidaktische Denkströmungen herauskristallisiert und weiterentwickelt. Hier seien nur das genetische Prinzip, das Spiralprinzip, das kumulative Lernen und das operative Prinzip genannt.
Das genetische Prinzip
„Die Grundidee des genetischen Prinzips ist, dass sich in der Behandlung von mathemati- schen Inhalten im Unterricht auch ihre Genese widerspiegeln sollte.“ (Reiss 2013, S.79) Da- bei wird sowohl die Genese der Mathematik aus fachlicher, historischer Sicht beachtet, wie auch die psychologische, kognitive Entwicklung der zu lehrenden Individuen (vgl. Reiss 2013, S.79). Vertreter dieses Prinzips waren beispielsweise Martin Wagenschein 1 und Hans Freu- denthal 2. „Wagenschein ist … bemüht, genetische Entwicklung als ad hoc-Rekonstruktion einer gedanklichen Brücke von ursprünglichem Wissen zu fachlichen Inhalten darzustellen.“ (Führer 1997, S. 48) Neben der besonderen Bedeutung der ursprünglichen Entwicklung eines mathematischen Inhaltes, betont Wagenschein besonders die „Notwendigkeit, Wissen im Dialog mit den Lernenden zu vermitteln und exemplarisch vorzugehen.“(Reiss 2013, S.79) Deshalb kann in seinem Sinne auch vom sokratisch 3-genetischen Prinzip gesprochen werden.
1 „Martin Wagenschein (1896-1988) war promovierter Physiker und engagierte sich vor allem in der Naturwis- senschaftsdidaktik. Er arbeitete viele Jahre als Lehrer in den Fächern Mathematik, Physik und Geografie.“ (Reiss 2013, S. 79) 2„Hans Freudenthal (1905-1990) war ein Mathematiker, der mit seinen Vorstellungen von einer ‚realistischen mathematischen Erziehung‘ erheblichen Einfluss auf die Mathematikdidaktik nahm. 1971 gründete er an der Universität Utrecht das ‚Instituut voor de Ontwikkeling van het Wiskunde Onderwijs‘ (IOWO), das später ihm zu Ehren in ‚Freudenthal-Institut‘ umbenannt wurde.“ (Reiss 2013, S. 56) Aktuelle Informationen zum Freuden- thal-Institut findet man unter http://www.fisme.science.uu.nl/fisme/en/ 3 Dieser Begriff geht auf das sokratische Lehrprinzip der Mäeutik (=Hebammenkunst) zurück. Durch das Fragen- stellen soll im Dialog echte Einsicht entstehen. Hält man sich an Platons Schriften, so hat Sokrates diesen Pro- zess mit der Hebammenkunst verglichen. Einmal wird die Wahrheit geboren, einmal ein Kind. (vgl. Röd 2000, S. 88ff) Hier meint man mit sokratisch aber nicht „die pädagogische Grundauffassung des Sokrates: nicht lehren 58
(vgl. Führer 1997, S.47f) Freudenthal bewunderte Wagenschein, doch „so sehr er mit dessen sokratisch-genetischer Sichtweise sympathisierte, so wenig war er bereit, Wagenscheins Zug zum Elementaren und Ursprünglichen alle höhere Mathematik zu opfern.“ (Führer 1997, S. 50) Schwierigere Inhalte sind oft nicht durch Selbstentdeckung von den SchülerInnen ohne Anleitung durch Lehrpersonen vermittelbar. Deshalb schlägt Freudenthal für den Mathema- tikunterricht das Lehrprinzip der Nacherfindung unter Führung vor. (Vgl. Führer 1997, S.50) Er sieht die Mathematik, genauso wie jede andere Wissenschaft, als Tätigkeit an. Nicht eine Mathematik als Fertigfabrikat gilt es in der Schule zu vermitteln, sondern Perioden gerichte- ter Erfindungen zu ermöglichen. Objektiv betrachtet sind dies keine Erfindungen, doch für die SchülerInnen können diese als solche empfunden werden. Freudenthal geht davon aus, dass nacherfundene Kenntnisse und Fähigkeiten nachhaltiger eingeprägt und verstanden werden. (Vgl. Freudenthal 1973, S.110-114) Mit diesem Zugang zum Mathematikunterricht gilt Hans Freudenthal als Begründer der „realistic mathematics education 1, die eigene Erfah- rungen der SchülerInnen und Schüler und konkrete Handlungen in einem realistischen Kon- text als zentrale Aspekte des Lernens von Mathematik ansieht.“(Reiss 2013, S.80)
Als Kritikpunkte des genetischen Ansatzes gelten die Überschätzung des naiven Entde- ckungserlebnisses und der formalbildenden Kraft mathematischer Aktivität, sowie die unrea- listischen Anforderungen an die Lehrpersonen und das außer Acht lassen von Lernschwierig- keiten der DurchschnittsschülerInnen (vgl. Führer 1997, S.49ff).
Das Spiralprinzip
„Es besagt im Wesentlichen, dass mathematisches Wissen zu mehreren Zeitpunkten im Lau- fe der Schulzeit jeweils altersangemessen, dabei aber korrekt (und somit wirklich vorberei- tend auf den folgenden Unterricht) präsentiert werden sollte.“ (Reiss 2013, S.66) Dieses Prinzip ist durch die Weiterentwicklung des genetischen Gedankens entstanden und von
oder unterweisen wollen, sondern helfen beim eigenen Zurechtfinden und Urteilen über das, das tatsächlich der Fall ist.“ (Führer 1997, S.47) 1 Diese Art des Unterrichts ist gekennzeichnet durch die Verwendung von realistischen Kontexten, Modellen, die Eigenaktivität und Konstruktion der SchülerInnen, sowie einem interaktivem Charakter des Unterrichts und die Verflechtung mehrerer Lernstränge. (vgl. Freudenthal Institute 1998) Weitere Informationen über Inhalte und Kongresse zum Thema findet man auf der Homepage des Freudenthal-Institutes. 59
Jerome Bruner 1 im Rahmen seiner Überlegungen zum entdeckenden Lernen geprägt wor- den. (vgl. Führer 1997, S.60)
Beispiel: Warum darf man nicht durch 0 dividieren? (vgl. Reiss 2013, S.67)
(1) Grundschulerklärung: Diese soll sich auf die Grundvorstellungen der Division, das Aufteilen bzw. Verteilen, beziehen. Die Aufgabe „ 15: 5 = __“ kann als reale Situation bedeutet und in eine Frage „Wieviel von den 15 Zuckerl bekommt jedes der 5 Kin- der?“ umformuliert werden. Hier kann die oben gestellte Frage mit dem Argument beantwortet werden, dass eine Aufteilung/Verteilung auf null Kinder keine sinnvollen Geschichten ergeben. (2) Höhere Altersstufe: Später kann die Bedeutung der Division als Umkehroperation der Multiplikation als Erklärung herangezogen werden. So wie ein Produkt als fortgesetz- te Addition gleicher Summanden gesehen werden, kann man eine Division als fortge- setzte Subtraktion gleicher Subtrahenden sehen. 19 − 4 − 4 − 4 − 4 = 3 ⟹ 19: 4 = 4 3 Für die Division durch 0 scheint diese eine unsinnige Aufgabenstellung zu sein. (3) Formale Argumentation: ∈ ℝ, : 0 = ü ∈ ℝ. ℎ = ∙ 0 = 0. ü = 0 ö .
Auch im österreichischen Lehrplan ist das Spiralprinzip verankert. Mathematische Inhalte kommen in den verschiedenen Schulstufen auf verschiedenen Niveaus immer wieder vor, wie zum Beispiel das Rechnen mit rationalen Zahlen oder das Lösen von Gleichungen.
In der Umsetzung hat das Spiralprinzip für Lehrpersonen laut Reiss und Hammer die folgen- den drei Konsequenzen (vgl. Reiss 2013, S.67):
− Der Überblick darüber, welche mathematischen Inhalte auf welchem Niveau in den vorherigen Schuljahren behandelt wurden bzw. im kommenden Schuljahr behandelt werden, soll bewahrt werden. − Auf die Fragen der SchülerInnen soll altersgerecht eingegangen werden.
1 „Jérôme Seymour Bruner, geboren am 1.Oktober 1915 in New York, ist Psychologe mit pädagogischen Inte- ressen. Er leistete wichtige Beiträge zur kognitiven Lerntheorie und war ein Initiator der sogenannten kogniti- ven Wende der Psychologie.“ (Wikipedia 2013, Jerome Bruner) 60
− Lehrpersonen sollen über ein solides schulbezogenes Fachwissen verfügen.
Vermutlich ist es gerade das Spiralprinzip, das sich besonders gut mit neurowissenschaftlich fundierten Theorien des Lernens verbinden lässt. Es propagiert das wiederholte Anbieten von Lerninhalten mit jeweils alterspezifischen Ergänzungen, so dass neues Wissen mit vorhande- nen Wissensstrukturen verbunden wird. (Reiss 2013, S.67)
Das Prinzip des kumulativen Lernens
Dieses Prinzip ist eine Weiterentwicklung des Spiralprinzips. Dabei werden eine vertikale und eine horizontale Ebene unterschieden. Die vertikale Ebene beinhaltet im Grunde die Idee des Spiralprinzips, das heißt die Vernetzung der mathematischen Inhalte und Grundmuster im Laufe der Schulstufen um ein tieferes Verständnis zu fördern. Dies kann neben dem in- haltlichen Aufbau beispielsweise auch durch die Wiederkehr von Anschauungsmaterial zu unterschiedlichen Themenbereichen passieren. Bei der horizontalen Ebene geht es um das Vernetzen von Inhalten verschiedenster Schulfächer und darum, einen Alltagsbezug herzu- stellen. Hier bieten sich Zusammenhänge zwischen Mathematik und Musik, Mathematik und Kunst oder auch Mathematik und Philosophie und viele weitere an. (Vgl. Reiss 2013, S.68-74) Gerade die horizontale Vernetzung der Mathematik spiegelt sich auch in den Probebeispie- len zur standardisierten Reifeprüfung wieder, durch die kontextbezogenen Beispiele (vgl. BFIE 2013a). Die vertikale Vernetzung lässt sich gut in fächerübergreifenden, themenbezo- genem Projektunterricht umsetzen. (vgl. Kapitel 4.1.2)
Das operative Prinzip
Das operative Prinzip folgt, […], ganz wesentlich den Theorien von Jean Piaget 1 und Hans Aebli 2. Es kombiniert zentrale Aspekte dieser Theorien, indem es auf das Lernen durch eigenes Handeln abzielt und die wichtige Rolle der Verinnerlichung von Handlungen betont. Damit ist eine spezifische Form des systematischen und produktiven Übens verbunden, das die Systema- tik einer mathematischen Aufgabenstellung in den Vordergrund stellt und geeignet ist, Bezüge zwischen mathematischen Sachverhalten herzustellen. (Reiss 2013, S.74)
1 Jean Piaget, 1896 in der französischen Schweiz geboren und gestorben im Alter von 84 Jahren in Genf, war Professor für Psychologie an den Universitäten Genf, Lausanne und an der Sorbonne. Er beschäftigte sich unter anderem mit der kognitiven Entwicklung des Kindes und hat sowohl für die Entwicklungspsychologie, als auch für die Pädagogik wichtige Grundlagen untersucht. (vgl. Hobmair 2003, S. 215) 2 Hans Aebli (1923-1990) war ein Schweizer Theoretiker und Forscher auf den Gebieten der Entwicklungspsy- chologie, der Denkpsychologie, der Lernpsychologie und der Psychologie des Handelns. (vgl. Wikipedia 2013, Hans Aebli) 61
Die drei Aspekte Handeln, Verinnerlichen und operatives Üben sind dabei zu beachten (vgl. Reiss 2013, S.75):
• Handeln: Sachverhalte sollen mit Hilfe von realen Modellen anschaulich begriffen werden. Durch konkrete Manipulationen am Modell soll es dann auch zu Denkhand- lungen kommen. • Verinnerlichen: Die Abstraktion des konkreten Sachverhalts ins Denken wird Verin- nerlichung genannt. • Operatives Üben: Dies bedeutet, jeder Übungseinheit eine Struktur zu geben, die den Lernenden zu eigene Bezügen animiert.
3.2.4 Bildungsstandards, standardisierte Reife- und Diplomprüfung und kompe- tenzorientierter Unterricht Die Realität des Mathematikunterrichts in der Sekundarstufe 2 ist derzeit geprägt von der Diskussion und den ersten Umsetzungen der Bildungsstandards durch kompetenzorientier- ten Unterricht, die in Zukunft ideellerweise zu einer positiven Bewältigung der standardisier- ten Reife- und Diplomprüfung führen sollen. Reformpädagogische Schulen mit Öffentlich- keitsrecht müssen sich an solche Neuerungen natürlich auch halten. Hier werden diese In- halte nur kurz umrissen.
Kompetenzmodell für die Oberstufe
Im Praxishandbuch Mathematik für die AHS Oberstufe vom Bifie (vgl. BIFIE 2011a), ist das folgende Modell zur Kompetenzorientierung im Unterricht als Grundlage angeführt. Auch in den Richtlinien zur kompetenzorientierten Reifeprüfung des Bundesministeriums für Unter- richt, Kunst und Kultur (vgl. BMUKK 2012b), herausgegeben im Dezember 2012, findet dieses Modell Eingang.
Unter Kompetenzen werden längerfristig verfügbare kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden, die von Lernenden entwickelt werden können und sie befähigen, bestimmte Tä- tigkeiten in unterschiedlichen Situationen auszuüben. (BIFIE 2011a, S.16)
Diese Definition umgelegt auf den Mathematikunterricht, beschäftigt sich dementsprechend mit mathematischen Tätigkeiten. Unter mathematischen Grundkompetenzen versteht man einen Kernbereich an Inhalten, die aus fachlicher und gesellschaftlicher Sicht relevant sind.
62
(Vgl. BIFIE 2011a, S.16) Für die Sekundarstufe 1 und 2 wird ein dreidimensionales Komp e- tenzmodell vorgeschlagen. Die drei Dimensionen sind (vgl. BIFIE 2011a, S. 16) :
Handlungsbereich Inhaltsbereich Komplexitätsbereich H1: Darstellen, Modellbilden I1: Algebra /Geometrie K1: Einsetzen von Grundkenntni s- H2: Rechnen, Operieren I2: Funktionale Abhängigkeiten sen und Grundfertigkeiten H3: Interpretieren I3: Differential- / Integralrech- K2: Herstellen von Verbindungen H4: Argumentieren, Begrün- nung K3: Einsetzen von Reflexionswi s- den I4: Wahrscheinlichkeit/ Statistik sen, Ref lektieren
In diesem Sinne wird vorgeschlagen, dass spezifische mathematische Kompetenzen aus e i- nem Tripel aus einer Handlung, einem Inhalt und einem Komplexität sgrad bestehen. Zum Beispiel die Kompeten z (H3, I2, K2), benennt die sich mit Interpretieren v on funktionalen Abhängigkeiten beschäftigt, wobei auch Verbindungen hergestellt werden müssen. Grafisch dargestellt ist dieses Beis piel in Abbildung 4 . Beispiele können nach diesem Schema klassif i- ziert werden. Im Unterricht werden meist mehrere Kompetenzen gleichzeitig angesprochen. (Vgl. BIFIE 2011a, S.16ff) „Ein wesentliches Merkmal der kompetenzorientierten Sichtweise ist der Blickwechsel vom Inhalt z ur mathematischen Handlung.“ (BIFIE 2011a, S.18)
Abb. 4 Kompetenzmodell
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Bildungsstandards
„Bildungsstandards sind konkret formulierte Lernergebnisse, die sich aus den Lehrplänen ablei- ten lassen. Sie legen jene Kompetenzen fest, die Schüler/innen bis zum Ende der 4. Schulstufe in Deutsch und Mathematik sowie bis zum Ende der 8. Schulstufe in Deutsch, Mathematik und Englisch nachhaltig erworben haben sollen. Dabei handelt es sich um Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen, die für die weitere schulische und berufliche Bildung von zentraler Bedeutung sind.“ (BIFIE o.J., Bildungsstandards)
Bestimmte Grundkompetenzen, die als wichtig erachtet werden, soll der Mathematikunter- richt vermitteln. Diese werden dann auch in der 4. bzw. 8. Schulstufe standardisiert über- prüft. Man erhofft sich durch diese bereits eingeführte Praxis, dass der Unterricht selbst um- gestaltet und auch die Beurteilung der SchülerInnen dahingehend angepasst wird. (Vgl. BIFIE o.J., Bildungsstandards)
Standardisierte Reifeprüfung
Mit den Überlegungen zur Kompetenzorientierung des Unterrichts, sowie zur Standardisie- rung von Inhalten, geht natürlich auch eine einheitlich genormte Reifeprüfung einher. Diese wird in Österreich derzeit noch nicht flächendeckend umgesetzt, doch gibt es schon konkre- te Vorgaben dafür, die laut Bundesministerium im Schuljahr 2014/15 im AHS-Bereich und im Schuljahr 2015/16 überall umgesetzt werden sollen. (Vgl. BMUKK 2013)
Die standardisierte Reifeprüfung besteht aus dem Verfassen einer vorwissenschaftlichen Arbeit, drei oder vier schriftlichen Klausuren und zwei oder drei mündlichen Prüfungen. Die vorwissenschaftliche Arbeit kann zu einem frei gewählten Thema auch im Fachgebiet Ma- thematik geschrieben werden, die 270-minütige schriftliche Klausur in Mathematik ist ver- pflichtend und die mündliche Prüfung in Mathematik ist für die SchülerInnen optional. (Vgl. BMUKK 2013)
Die Reifeprüfung in Mathematik beinhaltet die festgelegten Grundkompetenzen der Ma- thematik in den folgenden vier Bereichen (vgl. BIFIE 2013b, S. 6-18):
− Algebra und Geometrie: Grundbegriffe, (Un-) Gleichungen und Gleichungssysteme, Vektoren (hauptsächlich zweidimensional), Trigonometrie
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− Funktionale Abhängigkeiten: Funktionsbegriff, reelle Funktionen, Darstellungsfor- men und Eigenschaften, lineare Funktionen, Potenzfunktionen, Polynomfunktionen, Exponentialfunktion, Sinus- und Cosinusfunktion, − Analysis: Änderungsmaße, Regeln für das Differenzieren, Ableitungs-/ Stamm- funktionen, Summation und Integral − Wahrscheinlichkeit und Statistik: beschreibende Statistik, Grundbegriffe der Wahr- scheinlichkeitsrechnung, Wahrscheinlichkeitsverteilungen, Schließende/Beurteilende Statistik
Die fächerübergreifende Vernetzung von Kenntnissen und Fähigkeiten soll auch in die Reife- prüfung einfließen. Daher gilt es mathematische Inhalte, die auch in anderen Fächern ver- wendet werden, bewusst im Unterricht zu thematisieren. Diese sogenannten prüfungsrele- vanten Kontexte sind zum Beispiel die Maßeinheiten, Größen, Gleitkommadarstellung, Pro- zentrechnung, physikalische Formeln und die Grundlagen der Finanzmathematik. (Vgl. BIFIE 2013b, S.19-22)
Erwähnenswert ist hier auch noch der grundlegende Aufbau einer schriftlichen Klausur in Mathematik. Dieser zerfällt in zwei Teile, wobei der erste Teil aus 18-25 Aufgaben besteht, die nur auf die katalogisierten Grundkompetenzen abzielen. Die Frageformate sind dabei streng vorgegeben und keine weitere Vernetzung von Grundwissen und Grundfähigkeiten ist erforderlich. Der zweite Teil, bestehend aus vier bis sechs Aufgaben, stellt die SchülerInnen vor kontextbezogene und anwendungsorientierte Probleme, die auch das selbstständige Vernetzen von Grundkompetenzen erfordern. (Vgl. BIFIE 2013b, S.23)
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3.3 Reformpädagogischer Mathematikunterricht in der Sekundarstufe 2 Nun werden die zwei Themen Reformpädagogik in der Sekundarstufe 2 und Mathematikun- terricht in der Sekundarstufe 2 verbunden. Hier liegt der Fokus auf der Montessoripädagogik und der Waldorfpädagogik, weil diese beiden Konzepte auch eine Umsetzung in der öster- reichischen Schullandschaft aufweisen. Leider findet man nur sehr wenig theoretische Wer- ke und wissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit reformpädagogischem Mathematik- unterricht in der Oberstufe beschäftigen. Deshalb werden die folgenden Überlegungen zum Mathematikunterricht in der Montessoripädagogik durch Informationen aus einem Inter- view und einigen wenigen Antworten auf einen Fragebogen ergänzt. Die Inhalte zum Ma- thematikunterricht in der Waldorfpädagogik werden durch Beobachtungen, die während einem Hospitationsblock dokumentiert wurden, untermalt.
3.3.1 Mathematikunterricht in der Waldorfpädagogik Die rein platonische Sicht, die Mathematik sei ein zu bestaunendes aber hermetisches Gebäu- de, ehern beständig in seiner Wahrheit, muss radikal aufgebrochen werden: Die Welt der Ma- thematik muss auch die Welt des Schülers werden – aber nicht so, dass der Schüler seine Welt verliert, sondern dass er seine Welt ins Mathematische erweitert. (Sigler 2011)
Auch der Oberstufenlehrer an einer Waldorfschule, Stephan Sigler sieht eine Notwendigkeit sich mit der didaktischen Weiterentwicklungen in Bezug auf den Mathematikunterricht aus- einander zu setzen. Um die Welt der SchülerInnen um die Welt des Mathematischen zu er- weitern, kann die Waldorfpädagogik seiner Meinung nach wegweisend sein. (Vgl. Sigler 2011) Doch was unterscheidet den herkömmlichen Mathematikunterricht eigentlich von dem in der Waldorfschule praktizierten Mathematikunterricht?
3.3.1.1 Aufbau des Mathematikunterrichts Der Stoff soll Werkzeug zur Entwicklung des Kindes werden, und deshalb fragt der Waldorfleh- rer […] nach den physiologischen, psychologischen und kulturell-spitiruellen Gesichtspunkten eines Stoffgebietes, nach einer mit der Entwicklung des Kindes im Einklang stehenden Lehr- plan- und Unterrichtsgestaltung. (Schuberth 1985, S.198)
Zu der genaueren Beleuchtung der Mathematik gehören nicht nur ihre Inhalte, die logischen Strukturen, die Grundmuster mathematischen Arbeitens (siehe Kapitel 3.2.2), sondern auch wie beispielsweise der Zahlenbegriff entsteht oder abstraktes Denken möglich ist. „Alles Ma- thematische hat seinen Ursprung in Bewegungsvorgängen, in Vorgängen, in denen der 66
Mensch aktiv den Raum ergreift.“ (Hansen 2010, S.6), meint Uwe Hansen und verweist im- mer wieder auf Rudolf Steiners Gesamtwerk in seinem Artikel über die Methodik des Ma- thematikunterrichts in den Oberstufenklassen. Dabei sind Bewegungsakte und Sinneseindrü- cke gemeint, die man dann auf einer Metaebene reflektiert, wie beim Abzählen von Gegens- tänden zum Beispiel.
Die Erfahrung zeigt also, dass mathematische Begriffe an der Grenze zwischen der sinnlichen und einer rein geistigen Welt liegen. Diese Berührung mit dem Übersinnlichen bewirkt, dass der junge Mensch in der mathematischen Betätigung eintaucht in einen Bereich größter Har- monie, absoluter Reinheit, Schönheit und Klarheit. (Hansen 2010, S.7)
Das mathematische Tun wird im Sinne Rudolf Steiners gleichzeitig als innere Konstruktion und als Beobachtung der eigenen Tätigkeit gesehen. Ziel ist es den SchülerInnen lebendige Begriffe zu vermitteln. Das bedeutet ein tiefes Verständnis der Begriffe, so dass eine Modifi- kation der mathematischen Situation, wie zum Beispiel die Änderung der örtlichen Lage oder auch das Verwenden der Namen der Variablen, keine Probleme auslöst. Durch die genaue Zergliederung des ganzen Sachverhaltes kann dieser besser verstanden werden und die SchülerInnen können sich daran schöpferisch betätigen. (Vgl. Hansen 2010, S.7-11) Dies soll im folgenden Beispiel 1 einer einfachen Textgleichung veranschaulicht werden, die Betrach- tung der Zergliederung soll dem Pfeil folgen (vgl. Hansen 2010, S.8f):
Aufgabe: Welche Zahl ergibt – nach dem ihr Dreifaches um 5 vermehrt und die Summe dann halbiert wurde – die Zahl 13?
die gesuchte Zahl = 7 Wenn gleich 13 ist, so ihr Dreifaches 3 3 = 21 muss 13x+5 das Doppelte das um 5 vermehrte 3 + 5 3 + 5 = 26 von 13 also 26 sein. Die davon die Hälfte 3 + 5 Vergrößerung um 5 wird = 13 2 rückgängig gemacht, also ist
3x gleich 21.
1 Viele weitere Beispiele der Zergliederung, sowie Einführungen in zahlreiche mathematischen Unterrichtsin- halte findet man in der Buchreihe: Stephan Sigler (Hrsg.), Mathematikthemen für die 9.-12.Klasse, ausgearbei- tet nach der Unterrichtspraxis an Waldorfschulen, herausgegeben von der Pädagogischen Forschungsstelle Kassel. 67
„Dieses Beispiel sollte zeigen, wie man die zugrunde liegende Tätigkeit stärker ins Bewusst- sein bringt, wenn man das zeitliche Element mehr betont und die Bilder nicht an den Anfang stellt.“ (Hansen 2010, S.9)
Um diese Vorstellung von Mathematik in ihrem Unterricht in der Waldorfschule durchzufüh- ren schlägt Stephan Sigler die folgenden drei Schritte zur Erkenntnis vor (vgl. Sigler 2011 und Sigler 2007, S.19-32):
Zu Beginn sollen die SchülerInnen in den zu erarbeitenden mathematischen Phänomenbe- reich eintauchen. Dass diese Phänomene von der/dem SchülerIn selbst hervorgebracht wer- den, muss gerechnet, probiert, gezeichnet und vorgestellt werden. „Es handelt sich also dar- um, in das Werden der Erscheinung wahrnehmend tätig einzutauchen. Der Schüler lebt in der Sache mit, ist mit ihr zusammen.“ (Sigler 2011) Für das Eintauchen braucht es Konzent- ration, Ruhe und Zeit. Viele Erklärungen sollten nicht notwendig sein, denn unnötiges Spre- chen sollte in dieser Phase vermieden werden. Als Anstoß könnte zum Beispiel ein Arbeits- auftrag wie: „Erstelle eine Tabelle aller Stammbrüche von bis als Dezimalzahlen“, sein. Ohne weitere Hinweise soll dieser Auftrag ausgeführt werden, denn es geht darum, dass die SchülerInnen besondere Aspekte, hier zum Beispiel die drei Arten von als Dezimalzahlen ge- schriebene Brüche (endlich, reinperiodisch, gemischtperiodisch), selbst entdecken und er- fahren. (Vgl. Sigler 2007, S.21ff)
Als nächster Schritt werden die mathematischen Phänomene bewusst beschrieben, geord- net und besprochen. „Bildlich gesprochen hat man sich mit dem Neuen befreundet und es sich mit ihm innerlich gemütlich gemacht.“ (Sigler 2011) Hier passiert eine Reflexion der Er- gebnisse und Erlebnisse. Es können Vermutungen, Besonderheiten und Strategien geäußert werden in Bezug auf den vorhergegangenen Prozess des Tuns. Dahinterliegende Gesetze und Zusammenhänge sollten dabei noch kein Thema sein. (Vgl. Sigler 2007 S. 26f)
Die dritte Phase soll erst nach einer zeitlichen Pause, beispielsweiße am nächsten Tag, ge- schehen. Hier besteht die Aufgabe darin nach inneren Zusammenhängen zu fragen. Die SchülerInnen sind dabei die Analysierenden, die Lehrperson hat eher eine moderierende Rolle. Die SchülerInnen beginnen so das mathematische Phänomen zu durchschauen. (Vgl. Sigler 2010) Am oben angeführten Beispiel, der als Dezimalzahlen dargestellten Brüche, kann sich dies um folgende Fragen drehen: Warum kommen in der Dezimalbruchentwicklung von 68
1 7 nicht die Ziffern 0,3,6, und 9 vor? Welche Zahl steht an der 73. Stelle nach dem Komma? Können wir uns sicher sein, dass sich bei jeder Dezimalbruchentwicklung eines Bruches eine solche Periode schlussendlich ergibt oder dass die Dezimalbruchentwicklung einfach ab- bricht? Könnte es nicht doch Brüche geben, bei denen man nie fertig wird mit der Berech- nung der Ziffern der dazugehörigen Dezimalzahl?
Mögliche Antworten: Dreimal sieben ist 21. Die nächst größere Zehnerzahl ist 30, in der Divi- sion aus dem Rest 3 entsteht. Der Rest 3 liefert aber bei einer Division durch 7 die Ziffer 4, weil 4 ∙7 = 28. Deshalb kann die Ziffer 3 im Divisionsergebnis nicht auftreten. Ebenso kann für die Zahlen 6 und 9 argumentiert werden. Bestimmte Reste rufen im Dividionsvorgang
1 immer bestimmte (Perioden-) Ziffern hervor. Bei dem Bruch 7 und der dazugehörigen Divi- sion 1:7 sind dies: Reste 1 2 3 4 5 6 Periodenziffern 1 2 4 5 7 8
Auch wenn für viele SchülerInnen gefühlsmäßig klar ist, dass eine Divisionskette periodisch
1 wird oder abbricht, sind Überlegungen zur Einsicht wichtig. Am Beispiel 7 hilft die Analyse der Periodenziffern. Wie in der Tabelle ersichtlich, können nur die Reste 1 bis 6, alle kleiner als 7, auftreten. Die Reihenfolge des Auftretens hängt von der 7, also vom Nenner, ab und ist dann fest definiert. Das heißt, jeder Rest hat einen eindeutigen Nachfolger. Spätestens, wenn alle sechs Reste im Divisionsprozess aufgetreten sind, muss die Dezimalbruchentwick- lung abbrechen oder sich ein Rest wiederholen. (Vgl. Sigler 2007, S. 29f)
„Jeder Mensch, auch der so genannte Unbegabte, hat von sich aus Freude am Mathematisie- ren, wenn man ihn in geeigneter Weise anregt und ihm nicht die Lust daran nimmt.“ (Rosbi- galle 2010, S.8) Um zu mathematischen Wissen zu gelangen, ist es notwendig sich mit dem Entstehen, mit dem Schöpferischen in uns und mit aufsteigenden Ideen zu arbeiten. Aus diesen Vermutungen kann dann ein unbestreitbarer Beweis hervorgehen. Um diesen Prozess zu erlernen und zu üben findet Rolf Rosbigalle den Epochenunterricht (siehe Kapitel 2.2.2) in Waldorfschulen ideal und eine am genetischen Prinzip (siehe Kapitel 3.2.3) angelehnte er- kenntnisgenetische Methode. Dabei wird stets vom Besonderen zum Allgemeinen überge- führt (vgl. Rosbigalle 2010, S.9). Die drei oben beschriebenen Schritte zur Erkenntnis von Sigler beinhalten meiner Ansicht nach auch ein entdeckendes Element, welches in Verbin- dung mit dem genetischen Prinzip steht.
69
3.3.1.2 Ein Blick in den Lehrplan Mathematik für Waldorfschulen Der Kern der mathematischen Aktivität ist die Problemlösung. Das Wesentliche ist, wie man ein Problem löst, nicht, was man als Antwort erhält. Mit einem solchen Schwerpunkt geht die Schulmathematik von beiden Grundlagen der Mathematik aus: Fantasie (Induktion) im An- fangsstadium und logische Schlussfolgerung (Deduktion) im späteren Stadium der mathemati- schen Aktivität. (Richter 2010, S.308)
Mit diesen Worten werden die Ideen zum Lehrplan des Faches Mathematik im Buch ‚Päda- gogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule‘ 1, welches mit Hil- fe zahlreicher WaldorfpädagogInnen im deutschsprachigen Raum von Tobias Richter heraus- gegeben wurde, eingeleitet. Zwei Zielsetzungen für den Mathematikunterricht werden dabei hervorgehoben (vgl. Richter 2010, S.308f):
• Die allgemeine Denkfähigkeit der SchülerInnen soll entwickelt werden. Vom Raten bis zum logischen Schlussfolgern sind hier alle Methoden gemeint. Wichtig ist es auch dabei das Selbstvertrauen und das Vertrauen in das eigene Denken der SchülerInnen zu stärken. • Weiters ist es ein Ziel, die SchülerInnen in Rechenmethoden zu schulen, die sie im All- tagsleben anwenden können und ihnen die notwendigen Vorkenntnisse für weiter- führende Ausbildungen zu liefern.
Zu den jeweiligen Klassen der Sekundarstufe 2 wird im Rahmen dieses Buches jeweils kurz zu Gesichtspunkten und Leitmotiven für den Unterricht und zu möglichen Unterrichtsinhalten, Stellung genommen. Hier werden diese Inhalte kurz zusammengefasst und eventuelle Be- sonderheiten erwähnt (Vgl. Richter 2010, S.311-325)
9. Schuljahr: In diesem Schuljahr ist es besonders wichtig, ‚wie‘ unterrichtet wird. Durch die Wahl von aussagekräftigen konkreten Beispielen können allgemeine Gesetzmäßigkeiten er- lebbar werden. Die Kombinatorik kann den SchülerInnen einen neuen Einstieg bieten ohne spezifische Voraussetzungen aus der Unterstufe, im Gegensatz zur weitergeführten Glei- chungslehre, die den SchülerInnen ein Übungsfeld für formale Fähigkeiten bieten. Unter den
1 Dieses Buch will keine verpflichtende Auflage für Waldorfschulen sein, sondern unterstützen und aufklären. Es ist im Rahmen des ‚Haager Kreises‘ – eine internationale Konferenz der Waldorfschulen – entstanden und im Vorwort werden alle Lesenden ausdrücklich aufgefordert weitere Vorschläge einzubringen. 1995 kam erstmals ein Manuskript dieses Schriftstückes heraus, das seitdem im stetigen Weiterentwicklungsprozess ist. Das hier angeführte Buch ist bereits die dritte erweiterte und aktualisierte Ausgabe. (vgl. Richter 2010, S.13-19) 70
Themen ‚algorithmische Rechenverfahren‘ (Kettenbrüche, goldener Schnitt) und ‚Inkom- mensurabilität in Arithmetik und Geometrie‘ (irrationale Zahlen, Kettenbrüche von Wurzeln, Formeln für gleichseitiges Dreieck und regelmäßiges Fünfeck), wird auch der Euklidsche Al- gorithmus in seiner Anwendung erwähnt. Ein Hauptfokus, wie allgemein in der Waldorfpä- dagogik sehr wichtig, liegt auf der Geometrie. Alle Flächen, Körper und auch die Kegelschnit- te sind Thema in diesem Schuljahr. Zu den Inhalten sollen auch die passenden Biographien der MathematikerInnen, die sich damit befasst haben, im Unterricht besprochen werden. Weiters wird die Ersteinsetzung des Taschenrechners für diese Klasse empfohlen. (Vgl. Rich- ter 2010, S.310-314)
10. Schuljahr: In diesem Schuljahr steht besonders der praktische Lebensbezug im Mittel- punkt. Die ebene Trigonometrie (Winkelmaßsysteme, Sinus, Cosinus, Tangens, Anwendun- gen im rechtwinkeligen und allgemeinen Dreieck) mit ihrer Anwendung im Feldmessprakti- kum, wobei ein Gebiet selbstständig von den SchülerInnen vermessen und maßstabgetreu gezeichnet werden muss, genauso wie der Einsatz von Sinus- und Cosinusfunktionen in der Physik, bieten hier Möglichkeiten. Darstellende Geometrie (Körperdarstellung, krummlinig begrenzte Körper, Schattenkonstruktionen, Schraube, Schnecke, Wendel, technisches Zeich- nen) und eine Einführung in die Buchhaltung weisen ebenso einen großen Praxisbezug auf. Weiters stehen noch Potenzen und Logarithmen, Quadratische Gleichungen und die geo- metrische Behandlung von Kreis und Gerade am Programm. (Vgl. Richter 2010, S.314-317)
11. Schuljahr: Die beiden Teilgebiete Geometrie und Algebra werden in der analytischen Geometrie (kartesisches und Polarkoordinatensystem, Geradengleichung in verschiedener Form, Vektoren aus der 10. Klasse Physik aufgreifen, Kreisgleichung, Lagebeziehungen, Tan- gentengleichung, komplexe Zahlen) zusammengeführt. Auch die projektive Geometrie (Zent- ralprojektion, unendlich ferne Elemente, Begriff der Dualität,…) und die sphärische Geomet- rie (Pol und Polarebenen der Kugel, nichteuklidische Geometrie auf der Kugel, Parallelenaxi- om,…) sind Themengebiete, die in dieses Schuljahr passen. Die Schwingungslehre (Polarko- ordinaten, Amplitude, Frequenz, Phasenverschiebung,…) als Vorbereitung für den Physikun- terricht dieses Schuljahres und Folgen und Reihen (endliche und unendliche geometrische Folgen und Reihen, Glied- und Summenformel, Grenzwertbegriff, grafische Behandlung, Zin- seszinsrechnung, Halbwertszeit, die Eulersche Zahl) sind weitere Inhalte. Ergänzende The-
71 men können auch aus der mathematischen Geografie/Astronomie, dem Bereich Aussagen- logik, Mengenlehre und weiteren Bereichen kommen. (Vgl. Richter 2010, S.317-322)
12. Schuljahr: War im vorherigen Schuljahr noch der Weg von der Anschauung zum Alge- braischen vorgegeben, so soll in diesem Schuljahr der Weg genau in umgekehrter Richtung beschritten werden. Die SchülerInnen sollen sich in der Analysis aus rein Zahlenmäßigen ei- nen Erlebniszugang zur Differential- und Integralrechnung verschaffen. Durch die Beschäfti- gung mit Grenzwerten von Folgen und Reihen kann ein Grenzwertbegriff entstehen, der über die Anschauung hinaus geht. „Durch das Erarbeiten des Begriffs Differenzenquotient soll der Schüler jene neue Dimension in der Mathematik begreifen: der Quotient zweier Dif- ferenzenfolgen, die beide gegen Null gehen, ergibt etwas völlig Neues.“ (Richter 2010, S.322) Erst nach dem theoretischen Durchschauen wird das Grafische als Darstellung des Rechneri- schen dazugestellt. „Aus der Gleichung die Form finden, aus der Form die Gleichung erken- nen – so wird versucht, im Schüler innere Aktivität zu erzeugen und ein Verständnis sowohl für den funktionellen Zusammenhang wie auch für das Qualitative in der Mathematik anzu- regen,[…]“ (Richter 2010, S.322) Weitere Inhalte können ähnlich wie im vorherigen Schuljahr die projektive und sphärische Geometrie betreffen. Auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Statistik werden hier, als optionaler Inhalt, am Rande erwähnt. (Vgl. Richter 2010, S.322-325)
Im Lehrplan für Waldorfschulen in Österreich, ausgearbeitet vom Waldorfbund Österreich, werden auch zum Mathematikunterricht, wie auch schon im Kapitel 3.1.1.3, vier Kompeten- zen unterschieden (vgl. LW 2010, S.273-280). Der Fokus liegt dabei aber eindeutig auf den fachlichen Kompetenzen, die erworben werden sollen, diese stimmen fast durchgehend mit dem offiziellen österreichischen Lehrplan Mathematik für die Sekundarstufe 2 überein. Die 9. und 10. Klasse, sowie die 11. und 12. Klasse werden im Lehrplan jeweils gemeinsam be- trachtet. Das lässt einen gewissen Spielraum für die FachlehrerInnen, was die Reihenfolge der Inhalte angeht, zu. Hervorzuheben ist, dass die Geometrie in ihren verschiedenen For- men, sehr viel Platz in der Waldorfschule einnimmt. Weiters ist auffällig, dass die Statistik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung in diesem Lehrplan keinen Eingang finden. Besonder- heiten im Lehrplan Mathematik der Waldorfschulen Österreich im Vergleich zum AHS- Regelschullehrplan werden im folgenden Absatz aufgelistet:
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In der 9. und 10. Schulstufe:
− Es werden verschiedene Winkelmaße erlernt. (Grad, Bogenmaß, Gon,…) − Die Trigonometrie wird im Vermessungspraktikum praktisch ausprobiert. − Die Geometrie hat einen hohen Stellenwert im Mathematikunterricht. − Die beschreibende Statistik und die Einführung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs fehlen. − Nur die arithmetischen und die geometrischen Folgen und Reihen sind Thema des Un- terrichts. − Die Vektorrechnung wird nur in der Ebene durchgeführt.
In der 11. und 12. Schulstufe:
− Die Monotonie, Beschränktheit und die Konvergenz von beliebigen Folgen und Reihen sind erst jetzt Unterrichtsinhalt. − Die Vektorrechnung wird erst jetzt auch in den Raum ausgedehnt. − Die Wahrscheinlichkeitsrechnung fehlt auch in diesen Schulstufen. − Die Inhalte zu den Dynamischen Prozessen fehlen. − Projektive und sphärische Geometrie, die im Regelschullehrplan der AHS nicht vor- kommen, sind im Lehrplan verankert.
Auch wenn dies im österreichischen Lehrplan der Waldorfschulen nicht ersichtlich ist, so wird doch die Differentialrechnung, so wie oben erwähnt, oft in die 12. Klasse verlegt. Auch der von mir hospitierte Lehrer in der Rudolf Steiner-Schule Wien Mauer handhabt dies so. Im Vergleich zum Regelschulunterricht lernen die SchülerInnen diese Inhalte eben erst ein Schuljahr später.
3.3.1.3 Einführung des Differentialquotienten – Darstellung und Vergleich zwischen Waldorf- und Regelschule Wie Schon unter Punkt 3.3.1.2 erwähnt, wird bei der Einführung der Differential- und Integ- ralrechnung in Waldorfschulen ein anderer Zugang gewählt. Diesen Zugang möchte ich im nächsten Abschnitt anhand eines Beispiels zur Einführung des Differentialquotienten skizzie- ren. Im nächsten Schritt wird diese dann mit der Einführung des gleichen mathematischen Inhaltes in gängigen Schulbüchern für Mathematik im Regelschulbetrieb, verglichen.
Uwe Hansen betont, dass es sinnvoll ist am Beginn einer Epoche immer eine Aufgabenstel- lung aufzuzeigen, anhand der die Inhalte der Epoche entwickelt werden können und auf welche im Laufe der Epoche immer zurückgegriffen werden kann (vgl. Hansen 2010a). Dies lässt sich auch mit den Überlegungen von Stephan Sigler zum Aufbau des Mathematikunter- richts, die im Kapitel 3.3.1.1. dargestellt sind, vereinbaren.
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Zur folgenden Einführung des Differentialquotienten, die von Uwe Hansen entwickelt wurde, wird dieses Beispiel vorgeschlagen (vgl. Hansen 2010a):
Aus einem quadratischen Stück Blech, mit Kantenlänge a = 30 cm, soll durch Abschneiden von quadratischen Ecken und Hochklappen der Seitenflächen ein Kasten ohne Deckel mit möglichst großem Volumen hergestellt werden. Wie groß muss die Höhe h gewählt werden?
Durch Überlegungen kann man dazu kommen, eine Tabelle zu erstellen, in der das Volumen in Abhängigkeit der Höhe dargestellt wird.
Höhe h in cm Breite in Volumen in cm 3 cm 1 28 1 ∙ 28 ∙ 28 = 784 2 26 2 ∙ 26 ∙ 26 = 1352 3 24 3 ∙ 24 ∙ 24 = 1728 4 22 4 ∙ 22 ∙ 22 = 1936 5 20 5 ∙ 20 ∙ 20 = 2000 6 18 6 ∙ 18 ∙ 18 = 1944 7 16 7 ∙ 16 ∙ 16 = 1792 8 14 8 ∙ 14 ∙ 14 = 1568 9 12 9 ∙ 12 ∙ 12 = 1296 10 10 10 ∙ 10 ∙ 10 = 1000 Dabei wird für die SchülerInnen meist klar, dass die Höhe 5 cm sein muss um das größte Vo- lumen hervor zu bringen. Doch kann man sich dabei sicher sein? Es könnten ja auch die Wer- te nahe um h = 5cm gelegen, zu einem größeren Volumen führen. Dies gilt es zu überprüfen. Mit der Überprüfung der Werte 4,8cm – 4,9cm – 5,1cm – 5,2cm geben sich die SchülerInnen meist zufrieden, weil dabei auch immer kleinere Volumen als 2000 das Ergebnis sind. Um jedoch ganz kleine Abstände von h = 5 cm zu berechnen muss man ein zu Hilfe nehmen, das eine kleine positive oder negative Länge sein soll. Daraus folgen diese Darstellungen:
Höhe: Breite: Volumen: ℎ = 5 + = 30 − 2 5 + 5 + = 20 − 2 ∙ 5 + = 20 − 2 = 2000 − 60 + 4 = 2000 − ∙ 60 − 4 Wenn < 15 ist, was wir annehmen, so ist er Faktor 60 − 4 positiv und wenn ≠ 0, dann wird von 2000 beim Berechnen des Volumens immer etwas abgezogen. Damit ist bewiesen, dass das Volumen bei h = 5cm maximal ist.
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Dieser maximale quadratischer Quader mit h = 5cm, b = 20cm hat die Grundfläche 400 cm², was die gleiche Fläche ist wie die vier Seitenflächen addiert. Genau diese Gleichheit begrün- det das maximale Volumen, wie sich durch die folgende Überlegung zeigen wird.
Zum Vergleich berechnet man das Volumen des quadratischen Quaders mit h = 4 + .