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Weltformel ohne Quanten- gravitation Sind Quantenmechanik und Schwerkraft unvereinbar? Dinosaurier · Gentherapie · Supervulkan · Venus · Künstliche Intelligenz · Keltengold · Mathematische Kunst · Quantengravitation · Mathematische Kunst Intelligenz · Keltengold · Künstliche Dinosaurier · Gentherapie Supervulkan Venus 8,90 € (D/A/L) D6179E sFr. · 14,– Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN VENUS Der Exoplanet nebenan SUPERVULKAN Unter Chile braut sich etwas zusammen KELTEN Krieger mit filigranem Goldschmuck

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ROYALFIVE / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL) EDITORIAL IN DIESER AUSGABE WIDER DIE INTUITION Carsten Könneker, Chefredakteur [email protected]

Als ich in den 1990er Jahren Physik studierte, galt die Angelegenheit als ausgemacht. Unisono prognostizierten unsere Professoren, dass alle vier bekannten Fundamentalkräfte der Natur – die elektromagnetische, die starke und die schwache Kernkraft sowie die Gravitation – in einer übergreifenden Theorie zusammengefasst werden könnten. Bereits in der Einführungsvorlesung ANTOINE TILLOY wurden uns zwei Gründe für diese Annahme kredenzt: Zum einen verlange Der Physiker interessiert sich für dies schlicht die »physikalische Intuition«. Und zum anderen habe man auf dem alle Aspekte der Quantenphysik. Ab Weg der Vereinigung ja schon fast alles erreicht; allein die Schwerkraft ziere S. 12 erklärt er, wie eine ihrer Deu­ sich noch. tungen einen neuen Ansatz für die Tatsächlich ist die Physik des 20. Jahrhunderts eine Erfolgsgeschichte der »Weltformel« liefern könnte. Vereinheitlichung. Nachdem James Clerk Maxwell bereits zuvor Magnetismus und Elektrizität als zwei Phänomene gemeinsamen Ursprungs verstanden hatte, entwickelten Sheldon Lee Glashow, Steven Weinberg und Abdus Salam Ende der 1960er Jahre ein Modell, das die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung elegant zur »elektroschwachen Kraft« zusammenschließt. LISA QUINONES Diese wiederum konnte in den nachfolgenden Jahrzehnten mit der starken Kernkraft zum umjubelten und experimentell sehr gut erhärteten Standard­ modell der Elementarteilchen erweitert werden. Allein die vierte der grundle­ genden Wechselwirkungen, die Gravitation – für sich genommen durch Ein­ steins allgemeine Relativitätstheorie beschrieben –, war noch außen vor. Eine DARBY DYAR, SUZANNE ganze Physikergeneration später ist das weiterhin der Fall. Alle Versuche, eine SMREKAR, STEPHEN KANE ultimative »Weltformel« aufzustellen, scheiterten trotz immensen Aufwands Die Astrophysiker suchen nach krachend. Ist die Schwerkraft womöglich gar nicht auf Spur zu bringen? Ent­ Faktoren, die Leben auf Planeten puppt sich die »physikalische Intuition« am Ende als Wunschdenken? begünstigen, und glauben, die Noch muss niemand ein solches Urteil fällen. Vielleicht haben die Theoreti­ Venus könnte Antworten liefern ker, von den Erfolgen der Vergangenheit beflügelt, schlicht den falschen Weg (S. 52). eingeschlagen, als sie versuchten, auch die Gravitation zu quantisieren, nach­ dem dies bei sämtlichen anderen Grundkräften geglückt war. Unser Autor Antoine Tilloy verfolgt daher einen anderen Ansatz. Der Forscher vom Max- Planck -Institut für Quantenoptik in Garching bei München stellt ab S. 12 eine neue Theorie vor, die Relativitätstheorie und Quantenphysik so miteinander verbindet, dass die Schwerkraft ihren klassischen Charakter behält.

Eine inspirierende Lektüre wünscht Ihr BARBARA ARMBRUSTER, ROLAND SCHWAB Warum trugen die als brutal ver­ schrienen Keltenkrieger filigranen Goldschmuck? Eine Goldschmiedin und Archäologin sowie ein Archäo­ metallurg sind dem Rätsel auf der Spur (S. 72). NEU AM KIOSK! Unser Spektrum SPEZIAL Archäologie – Geschichte – ­ Kultur 2.19 liefert einen Überblick über die faszinierende Welt der mittelalterlichen Medizin.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 3 INHALT

3 EDITORIAL 12 QUANTENGRAVITATION FÜR IMMER UNVEREINBAR? Bisher sind alle Versuche gescheitert, die Schwerkraft mit der Quantenphysik zu 6 SPEKTROGRAMM verschmelzen. Aber vielleicht geht es ja auch anders! Von Antoine Tilloy 20 FORSCHUNG AKTUELL Sonderbare Strahlung von der Sonne Unerklärlicher Überschuss 30 EVOLUTION DER TRIUMPH DER DINOSAURIER energiereicher Teilchen Erst eine Reihe von Zufällen ermöglichte schließlich ihren Siegeszug. Von Stephen Brusatte Abkürzung zu komplexen Molekülen Neue Reaktion kann Stoffe Serie: Gentherapie (Teil 2) vielseitig erweitern Von Aids geheilt? 38 MEDIZIN EINE NEUE HAUT Erneut gelang es, einen Wenn das größte Organ unseres Körpers schwer erkrankt, hat das oft fatale Patienten offenbar komplett Folgen. Verblüffende Heilungschancen bietet nun die Gentherapie. von HIV zu befreien Von Kat Arney

29 SPRINGERS EINWÜRFE 42 IMMUNOLOGIE ANLEITUNG ZUM SELBSTSCHUTZ Bilanz der Den genetischen Bauplan für Antikörper in menschliche Zellen einzuschleusen, Energie­gewinnung könnte vor verschiedenen Krankheiten schützen. Die Kosten fossiler Quellen Von Amanda Keener werden unterschätzt.

58 SCHLICHTING! Physik am 46 SUPERVULKAN INFERNO AUS DER TIEFE Flugzeug­fenster Unter einem Bergsee in Chile könnte ein riesiger Vulkankomplex entstehen. Druck- und Temperaturdiffe- Von Shannon Hall renzen schlagen sich nieder. 52 ASTRONOMIE DER EXOPLANET NEBENAN 84 ZEITREISE Die Venus begann unter ähnlich lebensfreundlichen Bedingungen wie die Erde. Was sind die Gründe für die unterschied­liche Entwicklung? 85 FREISTETTERS FORMELWELT Von M. Darby Dyar, Suzanne E. Smrekar und Stephen R. Kane Nach Ihnen! In der Mathematik wie im echten Leben kommt es auf 60 INFORMATIK MASCHINEN MIT MENSCHLICHEN ZÜGEN die Reihenfolge an. Neue KIs sind kreativ, fassen Dinge schnell auf und verstehen ihre Umgebung. Von George Musser 86 REZENSIONEN 68 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN 93 IMPRESSUM DIE LANGE JAGD NACH DEN VERBORGENEN METALLEN Um die Alkalimetalle zu entdecken, bedurfte es einiger Anstrengungen. 94 LESERBRIEFE Von Matthias Ducci und Marco Oetken

96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE 72 KELTEN KRIEGER MIT GOLDSCHMUCK 98 VORSCHAU Serie: Gold und Macht (Teil 1) Mit beeindruckenden Goldschmiedearbeiten bewiesen die gefürchteten »Barbaren« einen überraschenden Sinn für Ästhetik. Von Barbara Armbruster und Roland Schwab

78 ÄSTHETIK MATHEMATISCHE KUNST Mathematische Bilder und Skulpturen entfalten atemberaubende Schönheit. TITELBILD: SHULZ / GETTY IMAGES / ISTOCK; Von Stephen Ornes BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft 8.19 12 TITELTHEMA QUANTENGRAVITATION SHULZ / GETTY IMAGES ISTOCK

30 EVOLUTION TRIUMPH DER DINOSAURIER 60 INFORMATIK MASCHINEN MIT MENSCHLICHEN ZÜGEN JAMES GURNEY / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2018 GURNEY / SCIENTIFIC AMERICAN JAMES IMAGINIMA / GETTY IMAGES ISTOCK 78 72 ÄSTHETIK ARCHÄOLOGIE MATHEMATISCHE DAS GOLD DER KUNST KELTEN

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BARBARA ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- UND FRÜHGESCHICHTE SAARBRÜCKEN ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- BARBARA Auf Spektrum.de berichten unsere Redakteure täglich ROMAN VEROSTKO aus der Wissenschaft: fundiert, aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 5 SPEKTROGRAMM

EIN KUNSTWERK AUS RÖNTGENSTRAHLUNG

Eigentlich soll der Neutron Star binnen 93 Minuten einmal um die Erde Himmels ­panoramen wie dieses entste- Interior Composition Explorer bewegt, kann es solche Quellen immer hen. Es basiert auf Messungen aus (NICER) an Bord der Internationalen nur für kurze Zeit im Blick behalten – 22 Monaten und zeigt einerseits mehrere Raumstation die Röntgenstrahlung anschließend müssen die Forscher klar identifizierbare Röntgenquellen am weit entfernter Neutronensterne NICER in Richtung eines anderen Ziels Firmament. Links oben ist beispielsweise auffangen. Da sich das Messinstru- schwenken. Dabei zeichnet das Gerät der so genannte Cygnusbogen als heller ment jedoch zusammen mit der ISS weiterhin Daten auf, wodurch Punkt zu sehen, der als Überrest einer

6 Spektrum der Wissenschaft 8.19 NASA / NICER (SVS.GSFC.NASA.GOV/13214) Supernova große Mengen Strahlung eng fokussierte Sichtfeld des Detek- den Detektor treffen. Bahnen, die auf abgibt. Markant ist auch der Pulsar tors von Quelle zu Quelle gewandert dem Bild besonders hell sind, hat das PSR J1231-1411 links der Bildmitte – bei ist. Dass NICER auch hier ausschlägt, Instrument oft abgefahren – oder es ihm handelt es sich um einen rasant liegt entweder an Röntgenstrahlen, die verbirgt sich in ihrer Nähe eine noch rotierenden Neutronenstern. abseits der auffälligen Regionen auf nicht katalogisierte Strahlungsquelle. Die geschwungenen Bögen stellen den Weg geschickt wurden, oder an hingegen die Wege dar, auf denen das versprengten kosmischen Teilchen, die NASA-Mitteilung, Mai 2019

Spektrum der Wissenschaft 8.19 7 NASA / NICER (SVS.GSFC.NASA.GOV/13214) SPEKTROGRAMM

TECHNIK NEUES SYSTEM FÜR MASSEINHEITEN

Seit dem 20. Mai haben mehrere wichtige Maßeinheiten eine neue Basis. Das Kilo- gramm, das Ampere, das Kelvin und das Mol sind nun durch Naturkonstanten defi- niert. Die genauen Werte der vier Größen sind damit für alle Zeiten festgezurrt, sie lassen sich künftig durch Präzisionsmessun- gen in gut ausgestatteten Laboren ermitteln. Aus Sicht von Metrologen ist beides ein großer Fortschritt: Insbesondere das Kilo- gramm hat den Messexperten in der Ver- gangenheit Sorgen bereitet, da sein exakter Wert von der Masse eines 130 Jahre alten Platin-Iridium-Zylinders in einem Pariser Tresor abhing. Dieses Urkilogramm schien im Lauf der Zeit langsam an Masse zu verlieren (siehe Spektrum Juni 2017, S. 46). Weltweit arbeiteten Metrologen jahrelang an einer Neudefinition, die vier der sieben grundlegenden Maßeinheiten des SI-Ein­ heitensystems umfassen sollte. Meter, Sekunde und Candela lassen sich bereits seit Jahrzehnten aus Naturkonstanten ableiten. So ist es von nun an auch beim Kilogramm: Sein exakter Wert ergibt sich in Zukunft aus dem planckschen Wirkungs- quantum. Es verknüpft die Energie einer Lichtwelle mit ihrer Frequenz und hat stets denselben Wert. Über seine Maßeinheit (kg m2/s) steht es in eindeutiger Beziehung zu Kilogramm, Meter und Sekunde. Wissenschaftler haben daher in den vergangenen Jahren den exakten Wert des Wirkungsquantums mit verschiedenen Methoden äußerst präzise bestimmt. Da dabei jeweils die Masse des Urkilogramms einfloss, kann das Pariser Artefakt jetzt in Ruhestand gehen: Künftig lässt sich der Wert der Kilogrammmasse aus der planckschen Naturkonstante ableiten. Ähnliche Definitionen gelten in Zukunft Metrologen können für Ampere, Kelvin und Mol. Das Ampere ist aus Einkristallen von jetzt an durch die elektrische Ladung hochwertige Silizi­ eines Elektrons festgelegt, das Kelvin unter umkugeln ziehen, anderem durch die so genannte Boltzmann- deren Masse exakt Konstante. Und das Mol lässt sich über die ein Kilogramm Avogadro-Konstante bestimmen, welche beträgt – in Zukunft sich aus der Teilchenzahl pro Stoffmenge ein wichtiges ableitet. Mittel zum Massen­ Mitteilung der Physikalisch-Technischen vergleich. Bundesanstalt, Mai 2019 LEIBNIZ-INSTITUT FÜR KRISTALLZÜCHTUNG (IKZ), TILL TURSCHNER (WWW.PTB.DE/CMS/PRESSEAKTUELLES/JOURNALISTEN/PRESSEFOTOS.HTML) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE) (IKZ), TILL TURSCHNER (WWW.PTB.DE/CMS/PRESSEAKTUELLES/JOURNALISTEN/PRESSEFOTOS.HTML) LEIBNIZ-INSTITUT FÜR KRISTALLZÜCHTUNG

8 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

ARCHÄOLOGIE DIE LUFTVERSCHMUTZUNG DER ALTEN RÖMER

In der Antike scheinen die Römer menschlichen Körper schädlich. Weil tion ausmachen zu können: Während Blei in nahezu industriellem Maß- es vergleichsweise einfach zu verarbei- des Aufblühens der römischen Repub- stab verarbeitet zu haben, berichtet ein ten ist, gewannen es die Römer in lik in der Zeit um 250 v. Chr. und ab Team um Susanne Preunkert von der Minen und setzten es insbesondere für 120 n. Chr., als sich das römische Universität Grenoble. Es hat einen Wasserleitungen ein. Kaiserreich auf den europäischen Eisbohrkern vom Col du Dome am Bohrkerne aus Grönland deuten Kontinent ausdehnte. Mont-Blanc-Massiv untersucht, des- schon länger an, dass unsere Vorfah- In den Bürgerkriegswirren von sen älteste Schichten 5000 Jahre alt ren damit die Luft verpesteten. Nun 130 bis 30 v. Chr. gelangte hingegen sind. Mit Hilfe der Radiokarbonmetho- konnten die Wissenschaftler um deutlich weniger Blei in die Luft, de, welche das Alter einer Schicht Preunkert das Ausmaß der Belastung ebenso wie nach dem Niedergang des verrät, konnten die Forscher ermitteln, genauer als bisher bestimmen. Dem- römischen Imperiums. Übertroffen wie viel Blei in bestimmten Jahren in nach stieg die Bleikon­zentration in der wurden diese Werte erst wieder in der Luft schwebte. Luft über den französischen Alpen den 1950er bis 1980er Jahren: Durch Das Schwermetall wird bei der zwischen 350 v. Chr. und 175 n. Chr. bleihaltiges Benzin stieg die Blei­ Gewinnung und dem Schmelzen von vorübergehend auf das Zehnfache des konzentration auf Werte, die 100-fach Bleierzen freigesetzt. Es gilt als poten- natürlichen Werts an. über dem natürlichen Niveau lagen. tes Umweltgift und ist bereits in Die Forscher glauben dabei zwei Geophysical Research Letters geringen Konzentrationen für den Phasen besonders hoher Kontamina­ 10.1029/2019GL082641, 2019

UMWELT Experiment gezielt nach einem Kombi- Bienen aus einer Kontrollgruppe – nationseffekt von Varroamilbe und der Effekt der Neonikotinoide zeigte DOPPELSCHLAG Neonikotinoiden gesucht. Demnach sich hier erst Monate nach der Auf­ GEGEN BIENEN stellte eine Belastung durch die Insek- nahme. tengifte zunächst noch kein Problem Dass sich die beiden Stressfaktoren Kaum ein Imker, der nicht ständig für das Überleben einer Kolonie dar. in ihrer schädlichen Wirkung gegen- gegen die Varroamilbe ankämpft. Erst wenn die Bienen zusätzlich noch seitig verstärken, vermuten Experten Ohne eine Behandlung gegen den von den Parasiten befallen waren, schon länger. Allerdings habe bislang eingeschleppten Parasiten und die von zeigten sich Anzeichen für Krankheit. ein experimenteller Nachweis gefehlt, ihm übertragenen Viren haben Bienen Vor allem den im Herbst schlüpfen- so die Forscher um Straub. Durch zuweilen schlechte Überlebenschan- den Winterbienen scheint die Kom­ welchen Mechanismus die kombinier- cen. Doch selbst mit Varroaabwehr bination zu schaden. Eigentlich sollen te Wirkung zu Stande kommt, ist noch sterben manchen Honigproduzenten diese größeren und langlebigen offen. Möglicherweise gelingt es jedes Jahr überdurchschnittlich viele Tiere die Kolonie durch den Winter varroabefallenen Bienen nicht mehr so Völker weg. Über die Ursachen disku- bringen. Im Experiment der Schweizer gut, Fremdstoffe unschädlich zu tieren Experten seit Langem. Wissenschaftler waren sie jedoch machen. Nun argumentieren Biologen um kleiner als normal, zudem starben viele Scientific Reports 10.1038/s41598-019- Lars Straub von der Universität Bern, von ihnen früher als unbelastete 44207-1, 2019 dass eine Art Doppelschlag den Bie- nen zu schaffen macht: Der Parasiten- befall werde besonders dann zu einer Gefahr, wenn die Tiere gleichzeitig Offenbar macht Bienenvöl­ Neonikotinoiden ausgesetzt sind. Bei kern die Kombination aus ihnen handelt es sich um weit verbrei- Insektiziden und Parasiten ONFOKUS / GETTY IMAGES ISTOCK tete Pflanzenschutzmittel, die Ernten zu schaffen. oder Saatgut vor Insektenfraß schüt- zen sollen. Einige der Substanzen sind inzwischen wegen ihrer Umweltgefahr stark reglementiert. Vermutlich nehmen Honigbienen einige der Stoffe jedoch nach wie vor auf und tragen sie in ihre Stöcke. Die Gruppe um Straub hat nun in einem

Spektrum der Wissenschaft 8.19 9 SPEKTROGRAMM

BIOPHYSIK KRANKENHAUSKEIM REGISTRIERT STRÖMUNGEN

Wenn Luft über unsere Haut In ihrem Versuch haben die For- auf Scherraten zwischen 40 und streicht, können wir zwischen einer scher in unterschiedlichen Stellen des 400 pro Sekunde – in diesem Bereich leichten Brise und einem kräftigen Bakteriengenoms die Bauanleitung für liegen auch unsere Blutgefäße. Mit Wind unterscheiden. Dabei spüren wir ein fluoreszierendes Protein als Marker welchem Sensor das Bakterium diese allerdings nicht die Geschwindigkeit für Genaktivität eingefügt. Anschlie- Eigenschaft der Umgebungsflüssigkeit der Luftteilchen, sondern die Kraft, die ßend hefteten sie die Mikroorganis- erfasst, ist aber noch unklar. sie auf uns ausüben. Zumindest eine men an die Wände einer flüssigkeits- Vielleicht lasse sich das Rheosen- Bakterienart scheint dagegen Strö- durchströmten Kammer. Bald darauf sing bei der Entwicklung neuer Antibio- mung anders wahrzunehmen, wie ein schalteten sich bestimmte Gene ein: tika ausnutzen, spekulieren die For- Forscherteam um Zemer Gitai von der Je höher die Schergeschwindigkeit in scher. Denn zu wissen, wie schnell eine Princeton University entdeckt hat: Das der Kammer, desto heller leuchteten Flüssigkeit strömt, hilft dem in Blutge- Bakterium Pseudomonas aeruginosa die Bakterien. fäßen und dem Harntrakt vorkommen- reagiert auf die Schergeschwindigkeit Die Schwergeschwindigkeit gibt den Pseudomonas aeruginosa wahr- vorbeiströmender Flüssigkeiten, also den Geschwindigkeitsunterschied scheinlich, sich an seinen Lebensraum auf das hier herrschende Geschwin- zwischen benachbarten Flüssigkeits- anzupassen – und trägt so seinen Teil digkeitsgefälle. Dieses neu entdeckte schichten an und wird in der distanz­ zur Verbreitung dieses Erregers bei, der Phänomen bezeichnen die Wissen- losen Einheit »pro Sekunde« angege- als hartnäckiger Krankenhauskeim gilt. schaftler als »Rheosensing« (grie- ben. Im Modellsystem der Forscher Nature Microbiology 10.1038/s41564-019- chisch »rheos« = Fluss oder Strom). reagierte Pseudomonas aeruginosa 0455-0, 2019

MATHEMATIK Spicer schon länger, für ihren zehnsei- alle Konkurrenten der 73 im Zahlen- tigen Beweis benötigten sie letztlich raum zwischen 2 und 1045 ausschlie- ENTDECKUNG DANK aber Jahre. ßen, was ihnen mit Hochleistungscom- »BIG BANG THEORY« Zunächst zeigten die beiden For- putern und Näherungsformeln gelang. scher, dass es keine Sheldon-Primzahl Weitere mathematische Entdeckun- Die 73. Folge der US-Sitcom »The geben kann, die größer als 1045 ist. gen auf Basis von »The Big Bang Big Bang Theory« war für Mathe- Denn für eine so große n-te Primzahl Theory« sind nicht zu erwarten: Im Mai matiker eine ganz besondere: Der ist das Produkt ihrer Ziffern gemäß 2019 strahlte der TV-Sender CBS die geniale, wenig lebenstaugliche Physi- dem berühmten Primzahlsatz immer letzte Folge der Serie aus. ker Sheldon Cooper erklärte darin kleiner als n selbst. Anschließend Mitteilung des Dartmouth-College, April die 73 zu seiner Lieblingszahl. Die mussten die Mathematiker nur noch 2019 Begründung der TV-Figur: Die 73 sei die 21. Primzahl, und die 21 erhalte man, wenn man die Ziffern 7 und 3 miteinander multipliziere. Zudem ist die Spiegelzahl der 73, die 37, ebenfalls eine Primzahl, und zwar ausgerechnet

die 12. – was wiederum die Spiegelzahl GETTY IMAGES / CBS MONTY BRINTON von 21 ist. Was bei vielen Zuschauern für Lacher sorgte, brachte professionelle Mathematiker ins Grübeln: Gibt es noch mehr »Sheldon-Primzahlen« mit genau diesen Eigenschaften? Die Mathematiker Carl Pomerance vom Dartmouth College in New Hampshire und Christopher Spicer vom Morning- side College in Iowa haben nun eine Serienfigur Sheldon Cooper Antwort gefunden: Die 73 sei die (rechts) ist ein mathema­ einzige Primzahl, welche die von tisches Genie – mit wenig Sheldon genannten Kriterien erfüllt. Sinn für Zwischenmensch­ Die Vermutung hatten Pomerance und liches.

10 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

BIOLOGIE DIE ZÄHNE DES DRACHENFISCHS

Eigentlich herrscht in der Tiefsee Licht wird in dem Material nur an Insgesamt wirken Drachenfische ewige Finsternis. Ihre Bewohner wenigen Stellen reflektiert oder umge- fast unsichtbar: Selbst das schwache besitzen daher oft überdimensionierte lenkt. Auch die Struktur des Zahnbeins Leuchten eines Bartfadens am Kinn, Augen, oder sie können durch die so ist so beschaffen, dass es transparent mit dem die Tiere ihre Beute anlocken, genannte Bioluminiszenz selbst Licht wirkt. Hierzu trägt unter anderem das kann sie kaum aus der Dunkelheit erzeugen. Als Raubtier ist es deshalb Fehlen so genannter Dentinkanälchen hervorheben. Das mache A. scintillans sinnvoll, möglichst perfekt im Dunkeln bei, welche bei anderen Tieren und vermutlich zu einem sehr erfolgreichen zu verschwinden und nicht einmal das Menschen dafür sorgen, dass die Jäger, folgern die Studienautoren. wenige vorhandene Licht zu reflektie- Zähne weiß erscheinen. Matter 10.1016/j.matt.2019.05.010, 2019 ren. Der Drachenfisch Aristostomias scintillans scheint diese Strategie perfektioniert zu haben: Das tief- schwarze, 15 Zentimeter lange Tier hat im Lauf der Evolution transparente Zähne entwickelt – und kann damit sogar mit offenem Maul auf die Jagd gehen. Wie das Gebiss im Detail aufgebaut ist, hat nun ein Team um Audrey Velasco-Hogan von der University of California in San Diego ermittelt. Die Forscher schauten sich dazu die Beiß- werkzeuge eines in 500 Meter Tiefe gefangenen A.-scintillans-Exemplars unter dem Elektronenmikroskop an. Der Analyse zufolge sind die Zähne von einer sehr harten, dem Zahn- Klein, aber tödlich: Drachen­ schmelz ähnelnden Schicht überzo- fische können in der stock­ gen, die winzige Nanokörnchen ent- dunklen Tiefsee ihre Beute hält, ähnlich ungeordnet wie die leicht überraschen.

Atome in Glas. VELASCO-HOGAN, UC SAN DIEGO AUDREY

ASTRONOMIE turbulente Geschichte hinter sich: Die Forscher um Xiangyu Jin ent- Einst umkreisten sich in ihnen zwei deckten die Signale in Messdaten des HEIMATLOSE große Sonnen. Irgendwann war bei Weltraumteleskops Chandra, das in STERNE einer von ihnen das Brennmaterial der Zielregion 1177 Röntgenquellen aufgebraucht, wodurch diese in einer ausgemacht hat. Über den Vergleich Astrophysiker haben im weit ent- Supernova zu einem Neutronenstern mit optischen Teleskopaufnahmen fernten Weltall mehrere Dutzend kollabierte. bestimmten die Astrophysiker, welche Sternenduos entdeckt, die vermutlich Da die gewaltige Explosion nicht davon sich abseits der von Sternen einst von Supernova-Explosionen ganz symmetrisch ablief, erhielt die dominierten Regionen befanden. aus ihrer Galaxie geschleudert wur- Sternleiche einen kräftigen Rückstoß, In einem letzten Schritt mussten die den. Die Paare sind Teil des 60 Millio- der sie aus ihrer Galaxie schleuderte. Wissenschaftler die Systeme noch von nen Lichtjahre entfernten Fornax-­ Dabei zog die extrem kompakte Kugel anderen Röntgenquellen trennen, die Galaxienhaufens, befinden sich dort ihren Partnerstern hinter sich her. sich im ausgedehnten Vorhof von jedoch im Raum zwischen den einzel- Der Neutronenstern saugte darauf- Galaxien bewegen. Letztlich könne nen Gala­xien. Das Team um Xiangyu hin Materie von seinem Nachbarn man bei etwa 30 der Quellen davon Jin von der chinesischen Nanjing auf und sammelte diese in einer Ak- ausgesehen, dass sie ihre Galaxie Univer­sity konnte sie anhand von kretionsscheibe. Sie gibt große Men- vollständig verlassen haben, berichtet Röntgenstrahlung aufspüren, die sie gen Röntgenstrahlung ab, wodurch das Team. kontinuierlich ins All feuern. Die Sys­ sich derartige Systeme in den Weiten The Astrophysical Journal 10.3847/1538- teme haben vermutlich alle dieselbe des Alls aufspüren lassen. 4357/ab064f, 2019

Spektrum der Wissenschaft 8.19 11 QUANTENGRAVITATION FÜR IMMER UNVEREINBAR?

Bis heute scheiterten sämtliche Versuche, eine Quantentheorie der Gravitation zu entwickeln. ­Einige der führenden Experten sehen inzwischen der Möglichkeit ins Auge, dass ihr Vorhaben vielleicht gar nicht realisierbar ist. Doch dafür müssen sie ihr Verständnis der Quantenphysik grundlegend überdenken.

Antoine Tilloy ist Physiker am ­Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching bei München.

 spektrum.de/artikel/1654750

12 Spektrum der Wissenschaft 8.19 SHULZ / GETTY IMAGES ISTOCK Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden zwei Quantenfeldtheorie. Durch sie konnten die Physiker drei der Theorien, die unser Weltbild völlig auf den Kopf gestellt vier fundamentalen Kräfte zu einem stimmigen Ganzen haben: die Quantenphysik, die das seltsame Verhalten verbinden: dem Standardmodell der Teilchenphysik. Es mikroskopischer Teilchen beschreibt, und die allgemeine beschreibt zuverlässig den Elektromagnetismus sowie die Relativitätstheorie, bei der es um die Raumzeit und die starke und die schwache Wechselwirkung. dadurch entstehende Schwerkraft geht. Von der kleinsten Doch die Gravitation bleibt außen vor. Sie scheint völlig bis zur größten Skala revolutionierten diese beiden Ideen anderen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. In der allgemeinen unsere Vorstellung vom Universum: dass Objekte sich mal Relativitätstheorie, die Albert Einstein 1915 einführte, wech- wie ein Teilchen, mal wie eine Welle verhalten und dass selwirken Materie und Raumzeit zu dem, was wir als Raum und Zeit keinesfalls starr sind, sondern sich verän- Schwerkraft wahrnehmen: Materie und Energie krümmen dern können. die Raumzeit, und das beeinflusst wiederum die Bewegung Allerdings sind die zwei Konzepte nicht miteinander der Teilchen. kompatibel. Seit ihrer Entdeckung suchen Physiker nach Da beide Konzepte bisher unvereint blieben, greifen einer fundamentalen Theorie, die beide zusammenführt. Physiker je nach Problem auf jeweils eine der beiden Theo- Eine Lösung ist noch nicht in Sicht. Aber ist eine Ver- rien zurück. Interessieren sie sich für Situationen, in denen schmelzung überhaupt notwendig? Und wenn ja, ist eine die Schwerkraft deutlich stärker wirkt als die elektromagne- Theorie der Quantengravitation die einzige Möglichkeit, tische Kraft oder die zwei Kernkräfte, wie es in der Kosmo- das zu erreichen? Einige Wissenschaftler – darunter auch logie meist der Fall ist, dann nutzen sie die allgemeine ich – gehen inzwischen einen anderen Weg. Wir versuchen Relativitätstheorie. Möchten sie hingegen die heftigen beide Welten in Einklang zu bringen, ohne eine Quanten­ Zusammenstöße von Partikeln in Teilchenbeschleunigern theorie der Schwerkraft zu entwickeln. beschreiben, können sie die Gravitation außer Acht lassen Dafür müssen wir die Grundlagen der Quantenphysik und sich ganz auf die Gesetze der Quantenphysik konzent- überdenken. Diese in den 1920er Jahren unter anderem von rieren. In beiden Fällen haben Wissenschaftler inzwischen Niels Bohr, Louis de Broglie, Werner Heisenberg, Erwin erstaunliche Fortschritte gemacht und wichtige Erkenntnis- Schrödinger und Paul Dirac begründete Disziplin führte in se gewonnen. der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur so genannten Weil die Gravitation nur bei extrem massiven Objekten eine Rolle spielt, während Quanteneffekte dort vernachläs- sigbar sind, gibt es kaum Situationen, in denen man eine Seit nunmehr 50 Jahren suchen Physiker erfolglos vereinheitlichte Theorie braucht. Daher fehlen experimentel- nach einer Quantentheorie der Schwerkraft, die le Ergebnisse, die uns sagen, was unter solchen Umstän- beispielsweise Aufschluss über den Urknall oder die den vor sich geht. Natur Schwarzer Löcher geben könnte.

AUF EINEN BLICK DIE SCHWERKRAFT BLEIBT, WIE SIE IST!

Die meisten Physiker gehen davon aus, dass man 1 die Schwerkraft und die Quantenphysik nur durch eine Theorie der Quantengravitation vereinigen kann.

Die vielversprechendsten Versuche, etwa die Schleifen- 2 quantengravitation und die Stringtheorie, haben bisher nicht zu zufrieden stellenden Ergebnissen geführt.

Ein anderer Weg ist die semiklassische Gravitation, bei 3 der die Schwerkraft ihren altbekannten Charakter behält. Ein erstes Modell zeigt jetzt, wie ein solcher Ansatz funktioniert.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 13 SHULZ / GETTY IMAGES ISTOCK Dennoch haben die größten offenen Fragen der Physik lichkeiten auf, die man nicht loswird. Begriffe wie Zeit oder genau mit diesen seltenen Fällen zu tun. Was passierte zum Kausalität sind dadurch kaum zu verstehen oder lassen sich Beispiel zu Zeiten des Urknalls, als die Elementarteilchen im schlimmsten Fall überhaupt nicht mehr definieren. auf kleinstem Raum miteinander wechselwirkten? Oder Doch die Wissenschaftler gaben nicht auf. In den folgen- was geschieht im Inneren Schwarzer Löcher, welche die den Jahren entwickelten sie exotischere Ansätze wie die Raumzeit so stark verzerren, dass ihnen selbst Licht nicht »Schleifenquantengravitation« oder die »Stringtheorie«. entkommen kann? Tatsächlich wissen wir es nicht – und Allerdings konnte man bisher für keine dieser spekulativen zwar nicht, weil die Berechnungen zu kompliziert sind, Theorien zeigen, dass sie die uns bekannten physikalischen sondern weil uns der gesamte theoretische Rahmen fehlt. Gesetzmäßigkeiten vorhersagen, was eine unerlässliche Bedingung an sie ist. Häppchenweise Schwerkraft Die Stringtheorie ist mit ihrem etwa 40-jährigen Beste- Der allgemeinen Relativitätstheorie zufolge entstehen hen die am intensivsten untersuchte Möglichkeit, die sowohl beim Urknall als auch im Inneren Schwarzer Löcher Schwerkraft mit der Quantenphysik zu verbinden. String- unendliche physikalische Größen. Das ist ein klares Signal theoretiker gehen davon aus, dass Schwingungen winziger dafür, dass die Theorie allein nicht ausreicht, um solche Fäden (»Strings«) die uns bekannten Elementarteilchen und Situationen zu beschreiben. Offenbar muss man hier quan- fundamentalen Kräfte erzeugen. Insgesamt hat diese tenphysikalische Effekte miteinbeziehen, die diese Unend- Theorie kaum noch etwas mit der kanonischen Quantisie- lichkeiten zähmen (siehe Spektrum Februar 2019, S. 12). rung gemeinsam, wodurch sie das Problem der vielen Daher versuchten die US-Amerikaner John Wheeler und Unendlichkeiten umgeht. Der Preis dafür ist jedoch hoch: Bryce DeWitt bereits 1967 die allgemeine Relativitätstheorie Die Stringtheorie ist derart komplex, dass ihre mathemati- mit der Quantenphysik zu vereinen. Dabei gingen sie ge- sche Definition bisher vollständig fehlt. Das heißt, die nauso vor wie Paul Dirac, der 1927 die Quantenelektrodyna- mik aus dem klassischen Elektromagnetismus herleitete: Sie nutzten die Methode der »kanonischen Quantisierung« (siehe »Kurz erklärt«, rechts). Während der Ansatz auch für Quantenphysik die starke und die schwache Kernkraft funktioniert und Standardmodell schließlich zum Standardmodell der Teilchenphysik geführt der Teilchenphysik hat, entstehen bei der Schwerkraft unüberwindbar wirken- de Schwierigkeiten. Insbesondere tauchen weitere Unend-

Elektron Proton

Gravitation Allgemeine Neutron ­Relativitätstheorie

Schwarzes Loch Kombinierte Theorie GRAVITATION: PIETROPAZZI / GETTY IMAGES / ISTOCK; QUANTENPHYSIK: KAMURAN AĞBABA / GETTY IMAGES / / GETTY IMAGES KAMURAN AĞBABA QUANTENPHYSIK: / GETTY IMAGES ISTOCK; PIETROPAZZI GRAVITATION: ISTOCK; SCHWARZES LOCH : SCYTHER5 / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / GETTY IMAGES ISTOCK; : SCYTHER5 LOCH SCHWARZES ISTOCK;

In der Kosmologie (links) nutzen Physiker meist die Relativitätstheorie, während sie bei kleinen Skalen (oben rechts) auf die Quanten­physik zurück- greifen. Manche Probleme erfordern aber eine Kombination beider Theorien (unten).

14 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Forscher haben nicht einmal Formeln, mit denen sie rech- Quantenphysik verbindet und dabei die klassische Beschrei- nen könnten. Zudem ist sie übermäßig flexibel; sie lässt sich bung der Schwerkraft beibehält, diese aber auf mikroskopi- so anpassen, dass aus ihr fast jede Vorhersage folgt. Daher sche Teilchen ausdehnt. Diesen Ansatz bezeichnet man als ist sie kaum widerlegbar. semiklassische Gravitation. Andere Versuche, eine Quantengravitationstheorie zu Natürlich widerspricht die Idee dem wissenschaftlichen formulieren, stecken ebenfalls in der Klemme. Das hat Ästhetikempfinden, weil sich die Schwerkraft dadurch einige Physiker dazu ermutigt, einen neuen Weg einzu- weiterhin von allen anderen Wechselwirkungen unterschei- schlagen. Vielleicht lässt sich die Schwerkraft ja so schwer den würde. Doch warum sollte das Universum unserem quantisieren, weil sie sich wirklich grundlegend von den Sinn von Schönheit entsprechen (siehe Spektrum November drei anderen fundamentalen Kräften unterscheidet. Tat- 2018, S. 14)? sächlich gibt es kein Prinzip, das besagt, dass die Gravitati- In einer semiklassischen Theorie bestimmt die ge- on quantisiert sein muss. Man könnte eine Theorie entwi- krümmte Raumzeit, wie sich die den quantenphysikalischen ckeln, welche die allgemeine Relativitätstheorie mit der Gesetzen folgende Materie bewegt, während die Teilchen gleichzeitig die Raumzeit verformen. In dieser doppelten Dynamik ist es einfach, die Gleichungen der Quantenphysik so anzupassen, dass die Materie einer vorgegebenen Kurz erklärt: Krümmung folgt. Das haben Forscher wie Bill Unruh, Kanonische Quantisierung Stephen Hawking, Roger Penrose und Robert Wald schon in den 1970er Jahren getan. Ihre Berechnungen sind zwar Die Quantenmechanik unterscheidet sich insofern recht aufwändig, sie konnten jedoch beispielsweise ultra- von der klassischen Physik, als viele beobachtbare kalte Atome im Gravitationsfeld der Erde beschreiben oder Größen keine kontinuierlichen Werte besitzen, die experimentell bisher noch nicht nachgewiesene Strah- sondern bloß »gequantelt« auftreten, das heißt, sie lung von Schwarzen Löchern (»Hawking-Strahlung«) vor- ändern sich ruckartig. Ein Beispiel für eine solche hersagen. Größe ist die Energie oder der Impuls eines Teil- chens. Seltsame quantenphysikalische Eigenschaften werfen Möchte man eine physikalische Theorie wie Fragen für die Schwerkraft auf die klassische Mechanik in die Quantenmechanik Umgekehrt haben Wissenschaftler keine Ahnung, wie überführen, muss man sie »quantisieren«. Dazu Quantensysteme die Raumzeit krümmen, also gravitativ verändert man sie derart, dass die entsprechenden wirken. Das liegt vor allem an einer Besonderheit der Quan- Messwerte nicht mehr kontinuierlich sind. Das tenphysik, die es in der klassischen Welt nicht gibt: das kann man auf mehrere Weisen erreichen. Prinzip der Überlagerung. Solange man die Eigenschaften Die wohl einfachste Methode ist die 1927 von eines mikroskopischen Objekts (etwa Ort, Geschwindigkeit Paul Dirac eingeführte »kanonische Quantisie- oder Energie) nicht misst, kann es in mehreren Zuständen rung«. Dabei behält man die grobe Struktur der gleichzeitig existieren. Aber wie soll man die gravitative klassischen Mechanik bei. Die so genannte Hamil- Masse eines Teilchens bestimmen, wenn man dessen tonfunktion, aus der die zeitliche Entwicklung des genauen Zustand nicht kennt? Solche Fragen lässt die Orts und der Geschwindigkeit eines Teilchens Quantenphysik unbeantwortet. Selbst nach mehr als folgen, taucht beispielsweise auch in der Quanten- 90 Jahren ist die Theorie eine Art Blackbox. Man kann zwar mechanik auf. Wahrscheinlichkeiten dafür berechnen, wie ein Experiment Allerdings wird die Funktion dort zu einem so ausgeht, doch man erfährt nicht, was dabei wirklich pas- genannten Operator. Die übrigen Beziehungen siert. zwischen den physikalischen Größen, die man aus Um das zu verdeutlichen, überlegte sich Schrödinger ein der klassischen Mechanik kennt, bleiben genauso berühmtes Gedankenexperiment (siehe Bild S. 16). Er be- bestehen. Diese Größen muss man aber ebenfalls schrieb eine Katze, die zusammen mit einem instabilen durch Operatoren ersetzen. Eine Folge davon ist, Atomkern in einer Box eingesperrt ist. Zerfällt der Kern, dass der Impuls oder die Energie der Quantensys- wird Giftgas freigesetzt, das die Katze tötet. Solange die teme dann quantisierte Werte annehmen. Box geschlossen ist, kann sich das Atom im überlagerten In der kanonischen Quantisierung wird also der Zustand »zerfallen« und »nichtzerfallen« befinden. Das mathematische Unterbau der physikalischen würde bedeuten, dass die Katze gewissermaßen sowohl tot Theorie gewechselt, während die physikalischen als auch lebendig wäre. Aber kann sich ein makroskopi- Zusammenhänge erhalten bleiben: Im klassischen sches Objekt wie eine Katze überhaupt in einem überlager- Bild spielen kontinuierliche Variablen und deren ten Zustand befinden? Öffnet man die Box, um das zu Ableitungen eine Rolle, während in der Quanten- überprüfen, kommt das einer Messung gleich, und die mechanik Operatoren und komplexe Zahlen, die Katze wäre entweder eindeutig tot oder lebendig. Wurzeln aus negativen Zahlen enthalten, aufeinan- Angesichts der unbefriedigenden Situation haben etliche dertreffen. Physiker (siehe Spektrum Dezember 2018, S. 20) zahlreiche Interpretationen der Quantenmechanik entwickelt, die solche Ungewissheiten klären sollen (siehe »Wie interpre-

Spektrum der Wissenschaft 8.19 15 tiert man die Quantenmechanik?«, S. 18). Ein Beispiel dafür Ungleichungen erfüllen muss. Falls Einstein und seine lieferten 1962 Christian Møller und Léon Rosenfeld, die Kollegen also Recht hätten und die Quantenphysik eigent- annahmen, dass quantenmechanische Überlagerungen real lich lokal ist – wir sie aber aus mangelndem Wissen als sind. Dadurch würde die Energie aller möglichen Zustände nichtlokal wahrnehmen –, müsste sie die bellschen Unglei- eines Teilchens die Raumzeit krümmen. Das klingt so weit chungen erfüllen. Das lässt sich experimentell testen. 1982 logisch, doch leider führt diese Überlegung zu Problemen – fanden Alain Aspect vom Institut d’Optique in Orsay und denn die Theorie lässt zu, dass sich Information schneller sein Team in einem Versuch mit verschränkten Photonen als das Licht ausbreitet, was der speziellen Relativitätstheo- heraus, dass sie die bellschen Ungleichungen verletzt. Die rie widerspricht. Letzte ist jedoch durch unzählige experi- Quantenmechanik ist also tatsächlich nichtlokal. Einstein, mentelle Überprüfung inzwischen gefestigt. Rosen und Podolsky hatten Unrecht. Mit solchen Schwierigkeiten kämpft die Quantenphysik Doch was bedeutet das für die spezielle Relativitäts­ seit ihren Anfängen. Das fiel erstmals Albert Einstein, Boris theorie? Glücklicherweise befolgt die Quantenmechanik sie Podolsky und Nathan Rosen auf. In einer Arbeit aus dem in einer abgeschwächten Form: Verschränkte Teilchen Jahr 1935 stellten sie sich zwei Teilchen in einem Zustand können sich zwar verzögerungsfrei beeinflussen, man kann der Form: »Teilchen 1 ruht, Teilchen 2 bewegt sich« und sie aber nicht dazu nutzen, um Information überlichtschnell »Teilchen 1 bewegt sich, Teilchen 2 ruht« vor. So ein System zu übertragen. heißt verschränkt, weil die Eigenschaften beider Teilchen eng miteinander verbunden sind. Wenn man weiß, dass Überlichtschnelle Übertragung von sich Teilchen 1 bewegt, ist augenblicklich klar, dass Teil- Information chen 2 ruht. Eine Messung des einen Teilchens fixiert also Ein ähnliches Problem tauchte wieder auf, als Møller und sofort den Zustand des anderen, egal wie weit sie vonein- Rosenfeld versuchten, die klassische Theorie der Schwer- ander entfernt sind. kraft mit der Quantenphysik zu verbinden. Nimmt man an, Einstein, Podolsky und Rosen kamen daher zu dem dass Überlagerungen real sind und zur Krümmung der Schluss, dass Überlagerungen nicht real sein können und Raumzeit beitragen, verändern sich die Formeln der Quan- bloß aus unserer eigenen Unwissenheit folgen. In Wirklich- tenmechanik. Insbesondere die Schrödingergleichung, keit gäbe es nur eine Realität, die schon vor der Messung die den zeitlichen Aspekt der Theorie beschreibt, gewinnt feststeht. Ihrer Ansicht nach war der Formalismus der dadurch an zusätzlichen Termen. Dem Physiker Nicolas Quantenphysik unvollständig. Gisin von der Universität Genf fiel 1989 auf, dass diese Der nordirische Physiker John Stewart Bell ging 1964 Veränderungen überlichtschnelle Informationsübertragung dieser Schlussfolgerung am CERN nach. Eine Theorie, in ermöglichen würden. Das machte Møllers und Rosenfelds der sich Ereignisse über die von der Lichtgeschwindigkeit Ansatz zunichte. Doch nicht nur das – Gisin zeigte, dass festgelegten Grenzen hinweg beeinflussen, heißt »nicht­ jeder zusätzliche nichtlineare Term in der Schrödinger­ lokal«. Er konnte zeigen, dass jede lokale Theorie mehrere gleichung die spezielle Relativitätstheorie verletzt. Physiker fragten sich daraufhin, ob es überhaupt möglich ist, eine klassische Theorie der Raumzeit mit der Quanten- Erwin Schrödinger beschrieb in seinem berühmten physik zu verbinden, ohne dabei Widersprüche zu erzeu- ­Gedankenexperiment eine Katze, die mit einem gen. Denn die Schrödingergleichung würde dadurch stets instabilen Element (lila Kiste) in einer Box gefangen ist. an nichtlinearen Komponenten gewinnen. Ein Geiger­zähler (gelb) ermittelt, ob der Atomkern zerfällt, und löst in einem solchen Fall einen Mechanismus aus, der ein tödliches Gift (grün) freisetzt. CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE) CC BY-SA DHATFIELD (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:SCHRODINGERS_CAT.SVG); BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:SCHRODINGERS_CAT.SVG); DHATFIELD

16 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Aber nicht bloß das offenbare Ausscheiden einer semi- »spontane Lokalisierung« bezeichnet wird (siehe Spektrum klassischen Theorie enttäuschte die Physiker. Laut Gisins August 2018, S. 12). Ergebnis war es auch unmöglich, die Quantenphysik so zu Zunächst ignorierten Wissenschaftler jedoch die Mög- modifizieren, dass sie die vielen offenen Fragen aus diesem lichkeit, damit eine semiklassische Gravitationstheorie zu Bereich beantwortet. Tatsächlich gibt die Quantenphysik konstruieren. Sie dachten, dass sich daraus entstehende auch heute noch vielen Forschern Rätsel auf. Beispielswei- Vorhersagen ohnehin nicht experimentell testen ließen. Die se möchte man verstehen, ob Überlagerungen real sind und Situation änderte sich um das Jahr 2010, als sich mehrere warum Messungen diese vielfältigen Zustände zerstören. Physiker unabhängig voneinander einige Versuche überleg- Einige Physiker argumentieren, dass sich Messgeräte ten, die den quantenmechanischen Charakter der Gravitati- fundamental von mikroskopischen Teilchen unterscheiden on erforschen könnten. und sie deshalb bei einem Kontakt zwingen, einen einzigen Um den Ausgang eines solchen Versuchs mit theoreti- Zustand anzunehmen. Warum sollten Messgeräte eine schen Vorhersagen zu vergleichen, braucht man aber eine andere Natur als Quantenteilchen haben, wenn sie doch semiklassische Theorie der Gravitation. Und die gab es um aus Atomen bestehen, die für sich den Gesetzen der Quan- 2010 noch nicht. Mangels Alternativen waren theoretische tenwelt gehorchen? Physiker gezwungen, den fehlerhaften Ansatz von Møller Physiker suchten daher Ende der 1980er Jahre nach und Rosenfeld zu nutzen. Sie hofften, damit wenigstens die einer übergeordneten Theorie, die erklärt, weshalb es keine Größenordnungen der experimentellen Ergebnisse grob makroskopischen Überlagerungen gibt. Ihre Idee bestand abschätzen zu können. darin, die Schrödingergleichung so zu verändern, dass Dvir Kafri und Jacob Taylor von der University of Mary- große Systeme automatisch in einen einzigen Zustand land gaben sich damit nicht zufrieden. 2014 entwickelten kollabieren. Doch wie sollte man das tun, ohne der speziel- sie zusammen mit Gerard Milburn von der University of len Relativitätstheorie zu widersprechen? Queensland erstmals ein konsistentes semiklassisches Den Grundstein dafür legte Gisin selbst bereits im Gravitationsmodell, indem sie eine Variante eines sponta- Jahr 1984, als er der Schrödingergleichung einen Term nen Lokalisierungsmodells nutzten. Allerdings entspricht hinzufügte, der vom Zufall bestimmt ist. Daraufhin mittelten die daraus abgeleitete gravitative Anziehung zweier Objekte sich die nichtlinearen Beiträge über die Zeit weg – die nicht der Realität. Sie stimmt nicht mit den Gesetzen über- überlichtschnelle Informationsüber- tragung blieb in diesem Modell also ausgeschlossen. Gisins innovativer Ansatz führte zu einer modifizierten Version der Quantenmechanik, die als

Spontane Lokalisierung durch »Blitze« 2019 POUR LA SCIENCE JANUAR

Wie Schrödinger mit seiner zeit- materialisiert sich dann an einer Häufigkeit, mit der sich Partikel gleich toten und lebendigen Katze präzisen Stelle (»spontane Lokalisie- materialisieren), ohne zu erklären, verdeutlicht hat, sind überlagerte rung«). Dieses Ereignis soll aber woher sie kommen. Nur wenige Zustände – zumindest theoretisch – bloß mit sehr geringer Wahrschein- Physiker glauben daher, dass das nicht auf den Mikrokosmos be- lichkeit eintreten, so dass es durch- GRW-Modell die konzeptionellen schränkt. Wendet man die Schrö- schnittlich weniger als einmal in Probleme der Quantenphysik dingergleichung auf Alltagsgegen- mehreren Milliarden Jahren passiert. lösen wird. stände an, die aus einer großen Dadurch beeinflusst ein Blitz Die spontane Lokalisierung Anzahl von Teilchen bestehen, kaum die mikroskopische Dynamik. erlaubt es aber, mögliche Wege zu ergeben sich daraus immer Überla- Dafür materialisieren sich in einem einer semiklassischen Theorie zu er- gerungen. Ein solcher Zustand makroskopischen Objekt, das aus kunden. In dem 2015 von Antoine wurde jedoch noch nie beobachtet. etwa 1020 Atomen oder mehr be- Tilloy und Lajos Diósi entwickelten Um das zu erklären, schlugen steht, jede Sekunde Milliarden Modell führt der zufällige Blitz Giancarlo Ghirardi, Alberto Rimini Elementarteilchen, was Überlage- (Mitte, rot) dazu, dass ein Teilchen und Tullio Weber (GRW) 1986 ein rungen zerstört. eine Masse erhält und dadurch ein Modell vor, in dem die Wellenfunk- Das GRW-Modell fügt der Quan- Gravitationsfeld erzeugt, das die tion eines Teilchens manchmal tenmechanik allerdings neue Para- anderen Wellenfunktionen anzieht einen »Blitz« erfährt. Das Teilchen meter hinzu (zum Beispiel die (rechts).

Spektrum der Wissenschaft 8.19 17 Wie interpretiert man die Quantenmechanik?

Die Quantenphysik besteht aus vielen Gesetzen und Regeln, mit denen man die Wahrscheinlichkei- ten dafür berechnen kann, wie ein mikrophysikalisches Experiment ausgeht. Dieser mathematische Formalismus sagt allerdings nichts über die zu Grunde liegende Realität aus. Welche Bedeutung die Wellenfunktion hat oder was in der Quantenwelt genau passiert, ist ungewiss. Um die gravitative Masse eines Quantensystems zu bestimmen, die man für eine semiklassische Gravitationstheorie braucht, muss man jedoch die Antworten auf solche Fragen kennen. Physiker haben bis heute Dutzende von konkurrierenden Interpretationen der Quantenphysik entwickelt.

Kopenhagener Deutung Inspiriert von der positivistischen Begeistert vom Erfolg ihres mini- Die Kopenhagener Deutung ent­ Philosophie geht der orthodoxe malistischen Ansatzes, machten wickelte der dänische Physiker Niels Ansatz davon aus, dass sich eine einige Gründer der Quantenphysik Bohr mit einigen Kollegen in den physikalische Theorie auf die Vorher- den Fehler, ihn für unvermeidlich zu Anfängen der Quantenmechanik. sage experimenteller Ergebnisse halten. Zum Beispiel schrieb der Tatsächlich existieren verschiedene beschränken sollte. Jede weitere deutsche Physiker Werner Heisen- Varianten dieser Interpretation, die Diskussion sei dabei bestenfalls berg 1958: »Die Vorstellung einer der Wellenfunktion jeweils einen überflüssig. Der US-amerikanische objektiven, realen Welt, deren kleins- anderen Stellenwert zuschreiben. In Festkörperphysiker David Mermin, te Teile in der gleichen Weise objektiv heutigen Lehrbüchern findet man ein Kritiker der Philosophie, fasste die existieren wie Steine und Bäume, meist die so genannte orthodoxe Kopenhagener Deutung 1989 in gleichgültig, ob wir sie beobachten Deutung, die teilweise von Bohrs einem prägnanten Slogan zusam- oder nicht, ist unmöglich.« Das eigenen damaligen Vorstellungen men: »Shut up and calculate« (Halt konnten Wissenschaftler nie bewei- abweicht. In ihr ist die Frage nach der die Klappe und rechne). Dieser sen. Die Frage nach dem, was in der Bedeutung der Wellenfunktion erscheint einigen Physikstudenten Quantenmechanik real ist, ist heute irrelevant, da diese als metaphysisch vertraut, da viele Professoren eine noch genauso offen wie zu ihren betrachtet wird. solche Auffassung vertreten. Anfängen.

ein, die der Physiker Isaac bereits vor etwa 350 Lokalisierungsmodellen unterbrechen zufällige »Blitze« die Jahren niederschrieb. Dennoch ebnete Kafris und Taylors zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion, was Überlagerun- Versuch erstmals den Weg in Richtung einer semiklassi- gen zerstört. Der Begriff Blitz soll den flüchtigen Charakter schen Gravitationstheorie. des Vorgangs zu verdeutlichen und hat nichts mit Licht Ein Jahr später konnten sie ihren Ansatz jedoch leicht oder Photonen zu tun. verändern und so die richtige Gravitationskraft vorhersa- gen – zumindest im nichtrelativistischen Fall. Sobald sich Zufällige Blitze verleihen Teilchen Objekte extrem schnell bewegen, versagt ihre Methode. ihre Realität Allerdings funktioniert ihre Rechnung nur für ein verein- Diósi und ich gehen davon aus, dass ein Teilchen erst dann fachtes Modell des Universums: Anstatt kontinuierliche wirklich real wird, wenn es von einem Blitz getroffen wird. Abstände vorauszusetzen, ist in ihrer Version der Raum wie Zu diesem Zeitpunkt materialisiert es sich, erhält also eine ein Netzwerk in diskrete Gitterpunkte aufgeteilt. Masse und erzeugt damit ein Gravitationsfeld, das das Zusammen mit Lajos Diósi von der Ungarischen Akade- restliche System anzieht. Irgendwann materialisiert sich ein mie der Wissenschaften habe ich im gleichen Jahr die anderes Teilchen, zieht ebenfalls die übrigen Partikel an und Ideen von Kafri und seinen Kollegen weiterentwickelt. so weiter. Die Schwerkraft zeigt sich in dem Modell also auf Indem wir die Vorteile der spontanen Lokalisierungsmodelle ruckartige Weise. weiter nutzten, gelang es uns, die richtige Gravitationskraft Auch wenn die stoßweise Dynamik nicht zu unserer für eine kontinuierliche Raumzeit für den nichtrelativisti- Wahrnehmung einer kontinuierlichen Gravitation passt, schen Fall herauszuarbeiten. Damit können wir erstmals widerspricht sie nicht den bisherigen experimentellen realistische Vorhersagen für gewöhnliche Laborexperimen- Ergebnissen, weil man solche genauen Messungen noch te treffen. gar nicht durchführen konnte. Die Schwerkraft ist dafür viel Doch wie interpretieren spontane Lokalisierungsmodelle zu schwach: Laborversuche, die die gravitative Anziehung die gravitative Masse eines mikroskopischen Teilchens? In zweier Elementarteilchen bestimmen, sind bis auf Weiteres der Quantenmechanik beschreibt die Wellenfunktion die außer Reichweite. Selbst ein Golfball, der immerhin aus überlagerten Zustände eines Objekts. Die Schrödingerglei- mehr als 1020 Atomen besteht, erzeugt eine kaum messbare chung diktiert dabei ihren zeitlichen Verlauf. Bei spontanen Schwerkraft.

18 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Viele-Welten-Theorie Wellenfunktion geleitet werden. 1993 QBismus Der US-Amerikaner Hugh Everett stellten die Physiker Detlef Dürr, 2001 entwickelten Carlton Caves, entwickelte 1956 die Viele-Welten- Sheldon Goldstein und Nino Zanghi Christopher Fuchs und Rüdiger Theorie (siehe Spektrum April 2008, fest, dass die empirischen Vorher­ Schack die Theorie des »QBismus« S. 24). Ihr zufolge sind überlagerte sagen der bohmschen Mechanik mit (siehe Spektrum November 2013, Zustände real und existieren gleich- denen des orthodoxen Kopenhage- S. 46): Die quantenmechanische zeitig: So trennt sich beispielsweise ner Ansatzes übereinstimmen. Wellenfunktion dient dabei bloß als bei jeder Messung von Schrödingers mathematisches Werkzeug, das Katze ein Universum, in dem sie lebt, Spontane Lokalisierung die Erwartungen eines Beobachters von einem anderen, in dem sie tot Spontane Lokalisierungsmodelle an das untersuchte Quantensystem ist. Der deutsche Physiker Dieter Zeh verändern die Gesetze der Quanten- widerspiegelt. fand 1970 heraus, dass dieser Ansatz mechanik leicht, um makroskopische Eine solche rein statistische mit unserem Eindruck vereinbar ist, Überlagerungen unmöglich zu ma- Betrachtung ist zwar attraktiv, aber in bloß einem einzigen Universum zu chen. Der Preis dafür ist eine winzige nicht mit den Ergebnissen der bell- leben. Denn sobald sich zwei Univer- Änderung der quantenphysikalischen schen Ungleichungen vereinbar, sen ausreichend unterscheiden, Vorhersagen, die noch nicht beob- denen zufolge die Quantenphysik können sie ihm zufolge nicht mehr achtet wurden. Im Modell von Gian- nichtlokal ist. Um solche Widersprü- miteinander wechselwirken. carlo Ghirardi, Alberto Rimini und che zu vermeiden, muss man auf den Tullio Weber (GRW) von 1986 ist Begriff der objektiven Realität ver- Bohmsche Mechanik diese Änderung eine kollabierende zichten. Dadurch sind experimentelle Die 1952 vom US-amerikanischen Wellenfunktion. Ein solches Ereignis Ergebnisse subjektiv – sie hängen Physiker David Bohm eingeführte soll extrem selten und zufällig an vom Beobachter ab. Für Fuchs ist die bohmsche Mechanik (siehe Spektrum irgendeinem Punkt im Raum stattfin- Wirklichkeit partizipativ: geschaffen Juli 1994, S. 70), dessen Idee von den. Der Kollaps der Wellenfunktion, von und für den Betrachter. Im einer Arbeit des Franzosen Louis de der in der Kopenhagener Deutung QBismus muss man akzeptieren, wie Broglie aus dem Jahr 1927 stammt, bloß durch eine Messung hervor­ es David Mermin ausdrückt, »dass beschreibt eine Welt aus Punktteil- gerufen werden kann, erfolgt dabei der Mond nachweislich nicht da ist, chen, die deterministisch von ihrer auf natürliche Weise. wenn man nicht hinsieht«.

Die Milliarden Blitze und dadurch entstehenden »Gravita- ursprüngliche Problem also darin bestand, überhaupt ein tionsschübe« in einem solchen makroskopischen Objekt konsistentes semiklassisches Gravitationsmodell zu finden, erwecken unserem Modell zufolge den Eindruck, dass sich besteht nun die Gefahr, dass es wie bei der Stringtheorie zu ein Gravitationsfeld kontinuierlich bewegt. Dennoch hätte viele Lösungen gibt. eine ruckartige Schwerkraft Folgen, die sich im Labor In den 1980er Jahren dachten Physiker, dass die Frage, testen ließen. Zum Beispiel erhöht jeder Blitz die kinetische ob die Schwerkraft quantenmechanischer oder klassischer Energie eines Teilchens. Den geringen Energieanstieg Natur sei, sich nur mit Stift und Papier beantworten lasse. könnte man etwa in ultrakalten Atomen beobachten, die In naher Zukunft könnte sie sich aber in Laboren entschei- sich dadurch langsam erwärmen würden. Allerdings gehe den. Am überraschendsten wäre es, wenn die Gravitation ich davon aus, dass künftige Experimente unser Modell tatsächlich keinen quantenphysikalischen Charakter hätte. widerlegen werden – schließlich führt es im relativistischen Das würde der Intuition der meisten Physiker zuwiderlaufen Bereich zu falschen Vorhersagen und spiegelt daher nicht und zudem viele ihrer Anstrengungen der letzten 60 Jahre unsere Wirklichkeit wider. zunichtemachen. Wenn die Gravitation andererseits doch Dennoch stellt unsere Arbeit einen bedeutenden Schritt quantisiert ist, wird die Suche nach einer vereinheitlichten dar. Durch sie haben wir nämlich erstmals bewiesen, dass Theorie umso wichtiger.  es durchaus möglich ist, eine hybride Theorie aus klassi- scher Gravitation und Quantenphysik zu konstruieren, was QUELLEN viele Wissenschaftler bisher bezweifelten. In Zukunft könn- te man versuchen, unseren Ansatz derart zu verändern, Bose, S. et al.: A spin entanglement witness for quantum gravity. Physical Review Letters 119, 2017 dass er realistischere Vorhersagen liefert. Möglichkeiten dazu gibt es reichlich: Beispielsweise könnte jeder Blitz Gisin, N.: Stochastic quantum dynamics and relativity. Helvetica räumlich ausgedehnt sein oder über längere Zeit fortbeste- Physica Acta 62, 1989 hen. Diese Flexibilität könnte jedoch auch eine Schwäche Kafri, D. et al.: A classical channel model for gravitational sein. Wenn sich jedes experimentelle Ergebnis durch eine decoherence. New Journal of Physics 16, 2014 kleine Änderung des Modells erklären lässt, verliert der Tilloy, A.: Ghirardi-Rimini-Weber model with massive flashes. Ansatz seinen vorhersagenden Charakter. Während das Physical Review D 97, 2018

Spektrum der Wissenschaft 8.19 19 FORSCHUNG AKTUELL

Gammastrahlung

Magnetfeld ?

kosmische Strahlung

Diese und weitere kuriose Phäno­ Die Gammastrahlung ist nicht nur ASTROPHYSIK mene deuten möglicherweise auf erheblich stärker, als es eine jahrzehnte­ unbekannte Eigenschaften des Mag­ alte Theorie vorhergesagt hatte. Sie SONDERBARE netfelds der Sonne hin. Brian Fields, reicht außerdem bis zu weit höheren US -Astroteilchenphysiker an der Frequenzen als bislang angenommen. STRAHLEN VON University of Illinois in Urbana-Cham­ Darüber hinaus variiert die Strahlung in MAGAZINE 5W INFOGRAPHICS FÜR QUANTA paign, kommentiert den Fund: »Es ist unerklärlicher Weise einerseits im Lauf DER SONNE verblüffend, dass wir ausgerechnet bei des elfjährigen Sonnenzyklus – die der Sonne, die wir eigentlich gut Zeitspanne, in der die Zahl der Sonnen­ Unser Zentralgestirn sendet verstehen müssten, derart spektakulär flecke periodisch schwankt – sowie sehr viel mehr hochfrequente danebenliegen.« andererseits je nachdem, welchen Strahlung aus als erwartet. Erstmals stießen die Sonnenfor­ Bereich der Sonnenoberfläche man Liegt das an unbekannten scher in den Daten des Weltraumteles­ betrachtet. Und dann befindet sich im Eigenschaften des solaren kops Fermi auf die unerwarteten Spektrum noch die Delle bei einer Magnetfelds – oder an noch Signale. Es befindet sich seit 2008 in Frequenz von 10 25 Hertz (das entspricht exotischeren Vorgängen? der Erdumlaufbahn und sucht von dort zehn Billionen Billionen Schwingungen aus den Himmel nach Quellen von pro Sekunde), bei der es zu wenig Gut ein Jahrzehnt lang haben Gammastrahlung ab. Je mehr Messun­ Gammastrahlung gibt. »Diese Lücke Astronomen den Anteil der Strah­ gen die Wissenschaftler erhielten, widerspricht allem, was bisher logisch lung unserer Sonne mit den desto besser konnten sie Einzelheiten erschien«, meint Tim Linden, ein wei­ höchsten Frequenzen beziehungswei­ im Spektrum der solaren Gammastrah­ terer Astroteilchenphysiker von der se kleinsten Wellenlängen beobachtet. lung ausmachen. »Wir fanden immer Ohio State University, der an der Analy­ Nun stehen sie vor einem Mysterium: wieder Überraschendes«, meint die se beteiligt war. Von dieser so genannten Gamma­ Astronomin Annika Peter von der Ohio Die Physiker glauben allerdings eher strahlung erreicht uns siebenmal mehr State University in den USA, Koautorin nicht, dass die Gammastrahlung aus als erwartet. Und seltsamerweise gibt einer im März 2019 veröffentlichten der Sonne selbst stammt. Die Kernfu­ es zudem innerhalb des Überschusses Überblicksarbeit. »Das ist das Selt­ sion erzeugt dort zwar auch solche eine schmale Lücke – einen nahezu samste, das mir im Lauf meiner Karrie­ energiereichen Lichtteilchen, aber diese strahlungsfreien Frequenzbereich. re begegnet ist.« werden bereits im Sonneninneren

20 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

diere das Proton dann mit Gasmole­ Gammastrahlung. Aber wie sollte die külen der Sonnen­atmosphäre und aus dem Inneren nach außen gelangen, erzeuge dadurch ein ganzes Bündel ohne gestreut und in Strahlung niedri­ von Gammastrahlen. ger Energie umgewandelt zu werden? Seckel und seine Kollegen berech­ Immerhin weisen einige Aspekte des neten vor einem guten Vierteljahrhun­ Überschusses durchaus in Richtung dert die Effizienz des Prozesses ausge­ kosmischer Strahlung. So registriert hend von der Stärke der kosmischen das Fermi-Teleskop während des Strahlung, die in das Sonnensystem Aktivitätsminimums des elfjährigen eindringt, der geschätzten Stärke des Sonnenzyklus deutlich mehr Gamma­ ? solaren Magnetfelds, der Dichte der strahlung. In dieser Phase ist das solare Sonnenatmosphäre sowie anderer Magnetfeld vergleichsweise ruhig und Faktoren. Sie sollte bei etwa einem geordnet. Dann erreichen mehr kosmi­ Prozent liegen. Die Sonne würde sche Teilchen das starke Magnetfeld demzufolge im Bereich der Gamma­ nahe der Sonnenoberfläche, das sie Gammastrahlung der Sonne ent­ strahlung nur schwach glimmen. reflektiert – und werden nicht bereits in steht vermutlich, wenn kosmische Doch wie die neuen Daten zeigen, größerer Entfernung durch verwickelte Strahlung im solaren Magnetfeld empfängt das Fermi-Teleskop im Magnetfeldlinien abgelenkt. abgelenkt wird und mit den Gas­ Mittel siebenmal mehr Gammastrah­ Andere Fakten sprechen aber dage­ molekülen nahe der Sonnenober­ len von der Sonne als vorhergesagt. gen: Die Intensität der Gammastrah­ fläche wechselwirkt. Doch uns Jene mit den höchsten Frequenzen lung fällt zwar mit zunehmender Ener­ erreichen viel mehr dieser ener­ sind sogar 20-mal häufiger. »Demnach gie ab, allerdings nicht auf die gleiche giereichen Lichtteilchen, als das wäre der Prozess bei hohen Energien Weise wie die kosmische Strahlung. Modell erklären kann. zu 100 Prozent effizient«, sagt Linden. Würde Letztere die Erstere verursa­ »Also würde jedes auf die Sonne chen, dann sollten beide Kurven ähn­ zurasende Teilchen der kosmischen lich verlaufen. Strahlung gespiegelt.« Dabei sollte es eigentlich umso schwieriger sein, Die Vorgänge in der Sonne verraten gestreut und dabei in Strahlung niedri­ die Bewegungsrichtung eines Teil­ etwas über ferne Sterne gerer Frequenz umgewandelt. chens umzukehren, je höher seine Unabhängig von der Ursache erhoffen Bereits 1991 stellten die Physiker Energie ist. sich Sonnenforscher wie Joe Giacalone David Seckel, Todor Stanev und Tho­ Außerdem verrät das Modell von von der University of Arizona durch die mas Gaisser von der University of Seckel, Stanev und Gaisser nichts über Gammastrahlung »fundamentale 5W INFOGRAPHICS FÜR QUANTA MAGAZINE 5W INFOGRAPHICS FÜR QUANTA Delaware in den USA die Hypothese die rätselhafte Lücke im Spektrum der Erkenntnisse über die magnetische auf, die Sonne könne gleichwohl Gammastrahlung. Seckel kann sich Struktur der Sonne«. Die Sonne ist Gammastrahlung aussenden – ausge­ nicht erklären, wie sich eine tiefe, zwar der am besten untersuchte Stern, löst durch die kosmische Strahlung. schmale Delle bildet, wenn man von doch ihr Magnetfeld – erzeugt von Dabei handelt es sich vor allem um dem gleichmäßig verlaufenden Ener­ einem wogenden Mahlstrom geladener Protonen, also Atomkerne des Wasser­ giespektrum der kosmischen Strah­ Teilchen im Inneren – verstehen die stoffs. Sie werden von den Stoßfron­ lung ausgeht. Es sei schwierig genug, Forscher bislang nicht sehr gut. Des­ ten weit entfernter Supernovae oder mit den Berechnungen überhaupt eine halb haben sie auch nur ein unklares anderer explosiver Ereignisse in unser Delle zu bekommen: »Höcker sind viel Bild davon, wie Sterne allgemein in Sonnensystem katapultiert. einfacher zu erhalten. Wenn etwas aus dieser Hinsicht funktionieren. dem Inneren der Sonne kommt, ist das Giacalone verweist beispielsweise Schleuderfreudiges Magnetfeld schließlich erst einmal eine zusätzliche auf die Korona, die dünne Plasmahülle Gelegentlich komme es vor, so damals Quelle. Aber wie mache ich daraus um die Sonne. Um Teilchen der kosmi­ das Forschertrio, dass ein Teilchen eine Strahlungssenke?« schen Strahlung effizient zu spiegeln, aus dem All durch das gewundene, Vielleicht hat die starke Gamma­ müsste das Magnetfeld dort seiner verdrehte Magnetfeld der Sonne zur strahlung ja doch eine andere Ursa­ Ansicht nach stärker und anders orien­ Erde zurückgeworfen werde. »Das che. Eine Möglichkeit wäre Dunkle tiert sein, als Wissenschaftler anneh­ Proton bewegt sich rasant auf die Materie. Diese rätselhafte Substanz men. Andererseits darf das koronale Sonne zu, ändert in letzter Sekunde könnte von der Schwerkraft der Sonne Magnetfeld nur sehr nah an der Sonne seine Bewegungsrichtung und saust eingefangen werden und sich in ihrem kräftig ausgeprägt sein. Die Teilchen zu uns zurück«, erläutert John Bea­ Zentrum ansammeln. Wird die Dichte würden sonst zu früh abgelenkt und com, Professor an der Ohio State der Dunkle-Materie-Teilchen hoch erreichten nicht die Region der Sonnen­ University, ein weiterer Autor der genug, vernichten sie sich vielleicht atmosphäre, die dicht genug ist, um die Überblicksarbeit. Auf dem Weg kolli­ gegenseitig und erzeugen dabei nötigen Kollisionen zu erzeugen. Be­

Spektrum der Wissenschaft 8.19 21 Sonne riesig. Wir wissen weder, wieso pol. Wenn diese Phase ähnlich ist wie es diesen Polaritätswechsel gibt, noch, die vorherige, sollte der Überschuss an warum er so regelmäßig auftritt.« Die Gammastrahlung nun besonders kosmische Strahlung und das Muster deutlich hervortreten. »Das macht es der von ihr erzeugten Gammastrahlen für uns sehr aufregend«, sagt Linden. könnten helfen, die wichtige Frage zu »Wir erreichen gerade jetzt das Mini­ beantworten, hofft Moskalenko. mum der Sonnenaktivität. Deshalb Doch bislang gibt es keine überzeu­ hoffen wir, mit mehreren Teleskopen gende Idee, wie das solare Magnetfeld Gammastrahlung noch höherer Energie darüber hinaus die Delle im Gamma­ nachzuweisen.« bereich erzeugen könnte. Weil die Erscheinung dermaßen ungewöhnlich Bringen neue Messkampagnen ist, bezweifeln manche Experten sogar bessere Einsichten? ihre Existenz. Doch falls die Abwesen­ Neben Fermi ist nun das Experiment heit von Gammastrahlung bei diesen HAWC (High-Altitude Water Cherenkov Frequenzen nur auf eine fehlerhafte Observatory), das es vor elf Jahren Analyse oder ein Problem des Fermi- noch nicht gab, an den Beobachtungen Teleskops zurückgehen sollte, dann beteiligt. Mit der zwischenzeitlich in hat zumindest bislang keiner die Mexiko errichteten Detektoranlage Ursache herausgefunden. »Es scheint lassen sich Gammastrahlen höherer nicht irgendein instrumenteller Effekt Frequenz aufspüren als mit Fermi. zu sein«, ist Elena Orlando von der Wissenschaftler hoffen auf mehr Stanford University zuversichtlich. Sie Informationen über den Überschuss betont, die Analyse sei auf Grund der und wollen außerdem herausfinden, ob scheinbaren Bewegung der Sonne am sich die räumliche Verteilung der Himmel eine Herausforderung. Sie Gammastrahlung im Vergleich zum weiß, wovon sie redet – mit ihrem letzten solaren Minimum verändert hat. Team hatte sie 2008 erstmals mit dem Denn während die Teilchen der kosmi­ Satelliten EGRET, dem Vorgänger von schen Strahlung weiterhin elektrisch Fermi, Gammastrahlung von der positiv geladen sind, hat sich das Sonne nachgewiesen. Orlando ist Magnetfeld der Sonne gerade umge­ zudem entscheidend an der Auswer­ kehrt. »Schlimmstenfalls müssen wir NASA’S GODDARD SPACE FLIGHT CENTER SCIENTIFIC VISUALIZATION STUDIO (SVS.GSFC.NASA.GOV/4124) FLIGHT CENTER SCIENTIFIC VISUALIZATION SPACE NASA’S GODDARD tung der Fermi-Messwerte beteiligt. eingestehen, dass die Sonne seltsamer Das Magnetfeld der Sonne ist sehr Ihrer Ansicht nach sind mehr Daten und spannender ist, als wir uns bisher dynamisch und oft stark verwunden. und unabhängige Interpretationen vorstellen konnten«, meint Beacom. Die drei Bilder zeigen Messungen der nötig, um die Delle im Spektrum zu be­ »Und bestenfalls stoßen wir auf irgend­ Raumsonde SOHO (Solar and Helios­ stätigen. eine Art von neuer Physik.«  pheric Observatory) im Januar 1997, Als Peter, Linden, Beacom und ihre Natalie Wolchover ist Physikerin in New im Juni 2003 und im November 2013. Mitarbeiter 2018 die Delle in den York und regelmäßige Autorin für das Grün bedeutet positive, violett nega­ Fermi -Daten fanden, versuchten sie »Quanta Magazine«. tive Polarität. zunächst alles, um sie wieder loszu­ werden. Erst dann veröffentlichten sie QUELLE ihre Entdeckung. »Auf etwa 15 Seiten Nisa, M. U. et al.: The Sun at GeV–TeV sonders stark ist das Feld offenbar am im Anhang präsentieren wir verschie­ energies: A new laboratory for astropar­ Äquator während des solaren Mini­ dene Tests, mit denen wir überprüft ticle physics. arXiv:1903.06349, 2019 mums. haben, ob vielleicht ein Rechenfehler Die Erkenntnisse könnten dazu vorliegt«, bekräftigt Linden. »Statis­ beitragen, das immer noch ungelöste tisch gesehen ist der Effekt jedenfalls Von »Spektrum der Wissenschaft« über­ Geheimnis des Sonnenzyklus zu signifikant.« setzte und redigierte Fassung des Artikels lüften. »Alle elf Jahre kehrt sich das Infolge einer Fehlfunktion der »The Sun Is Stranger Than Astrophysicists Magnetfeld der Sonne um«, erklärt Sonnenkollektoren war das Fermi-Tele­ Imagined« aus »Quanta Magazine«, einem Igor Moskalenko, Astrophysiker an der skop 2018 meistens von der Sonne inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung Stanford University und Mitglied des weg gerichtet. Doch inzwischen ist von Forschungsergebnissen aus Mathe­ Fermi-Teams. »Aus dem magnetischen das Problem gelöst – gerade noch matik und den Naturwissenschaften zum Nordpol wird der magnetische Südpol rechtzeitig zum solaren Minimum. Ziel gesetzt hat. und umgekehrt. Das ist ein dramati­ Gegenwärtig führen die Feldlinien fein scher Vorgang, schließlich ist die säuberlich von Sonnenpol zu Sonnen­

22 Spektrum der Wissenschaft 8.19 CHEMIE ABKÜRZUNG ZU KOMPLEXEN MOLEKÜLEN Wirkstoffe für Medizin und Pflanzenschutz herzustellen, ist oft langwierig und aufwändig. Eine neue Reaktion könnte die Synthese vieler neuer Substanzen nun deutlich verkürzen.

Chemiker investieren viel Zeit, um die benötigten Gruppen (Late-stage- auszutauschen. Dass C–H-Bindungen neue Wirkstoffkandidaten für Funktionalisierung). Da man sich so häufig vorkommen, stellt aber zu- Medikamente und Pflanzen­ meist eine möglichst kurze Synthese gleich eine große Herausforderung an schutzmittel zu schaffen. Solche Mole- wünscht, ist die letztere Strategie ein die Selektivität der Reaktion: Man küle sind oft hochkomplex und besit­ interessantes Feld in der organischen muss nun genau steuern, an welcher zen viele verschiedene funktionelle Chemie. Stelle diese abläuft. Sonst bilden sich Gruppen, das heißt Einheiten von Um ein bereits kompliziertes Mole­ Produktgemische, die aufwändig Atomen, die bestimmte chemische kül um weitere chemische Gruppen zu gereinigt werden müssen, und die Effekte haben. Um die Strukturen ergänzen, benötigt man Reaktionen, Ausbeute an dem gewünschten Pro­ aufzubauen, braucht es vor allem viel die eine vorhandene Struktureinheit dukt sinkt. Geduld und kreative Ideen, welche verändern können. Die häufigste Es sind zwar schon viele Reaktio­ Ausgangssubstanzen und Reaktionen Struktureinheit ist in den meisten nen bekannt, die aromatische C–H- zum Zielmolekül führen. komplexen Molekülen die Bindung Bindungen funktionalisieren. Aller­ Die gewünschten Moleküle setzen zwischen Kohlenstoff und Wasserstoff dings verlaufen insbesondere diejeni­ Wissenschaftler entweder aus kleinen (C–H -Bindung), zum Beispiel die gen, welche die für die weitere Syn- Bausteinen zusammen (De-novo-Syn­ aromatische C–H-Bindung. Daher these wertvollsten Bausteine einführen these) oder sie erweitern eine Struktur, bietet es sich an, deren Wasserstoff­ (beispielsweise Arylbromide und die der Zielsubstanz bereits ähnelt, um atome gegen funktionelle Gruppen Arylboronsäuren, kurz Ar–Br bezie­

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1-2_Sonderhefte.indd 1 26.06.19 10:16 FORSCHUNG AKTUELL

hungsweise Ar–B(OH)2), an vielen die dieser gegenüberliegende, die so Die Thianthrenierung verläuft hoch­ Substraten nicht sehr selektiv. Auf der genannte para-Position. Um die Se­ gradig selektiv: Aus Ethylbenzol und anderen Seite gibt es zwar höchst lektivität unserer Reaktion an einem Tetrafluorothianthren-S-Oxid entsteht selektive C–H-Funktionalisierungsreak­ einfachen Beispiel zu testen, haben wir quasi ausschließlich das para-substi­ ­tionen, diese können aber meist nur die Thianthrenierung von Ethylbenzol tuierte Produkt (Mitte). Das so herge­ Gruppen anbauen, die synthetisch von (Bild unten) untersucht. Es sind nur stellte Thianthreniumsalz ist in einer geringem Wert sind. Sie eignen sich wenige Reaktionen bekannt, die an Vielzahl weiterer Reaktionen aktiv (rote also nur wenig für weitere Reaktions­ diesem oder ähnlichen Aromaten sehr und blaue Pfeile). Auf diese Weise schritte. selektiv ablaufen, da die Ethylgruppe liefert ein kurzer Syntheseweg zahlrei­ Unsere Forschungsgruppe hat nun keinen großen Einfluss darauf nimmt, che funktionelle Gruppen. eine Reaktion entwickelt, die sowohl an welcher Stelle die Reaktion stattfin­ hochgradig selektiv verläuft als auch det – sie ist also eher ein schlechter eine synthetisch wertvolle funktionelle Dirigent. Dennoch erfolgte die Thian­ Gruppe einführt: Die »Thianthrenie­ threnierung fast ausschließlich in rung« erzeugt am aromatischen Ring para -Stellung, und zwar 200-mal so ven C–H-Bindungen quasi nicht mehr einen Thianthrenyl- oder Tetrafluoro­ schnell wie in meta- und 500-mal so und bleiben erhalten. thianthrenylrest (im Bild rechts grün schnell wie in ortho-Posi­tion. Die Thianthrenylgruppe kann in hervorgehoben). Sie verläuft sehr Mit einer derart selektiven Reaktion mehreren Folgereaktionen durch viele selektiv, und zwar stets in derjenigen kann man eine Vielzahl an komplexen synthetisch interessante chemische Position, in der die Elektronendichte Verbindungen, die über mehrere Bausteine ausgetauscht werden. am höchsten ist. reaktive Positionen verfügen, sehr Dadurch ist es möglich, zahlreiche gezielt um funktionelle Gruppen Derivate komplexer Moleküle schnell Kein chemischer Dirigent nötig erweitern. Das Spektrum reicht von herzustellen. Besonders gut eignet sie Das ist bemerkenswert, denn für die elektronenreichen Aromaten wie sich für zwei Typen von Folgereaktio­ Unterscheidung, welche Position Dimethoxybenzol bis zu elektronen­ nen, die Palladium-Katalyse und die besetzt wird, benötigt man in der armen wie Chlorbenzol. Wir haben Fotoredox-Katalyse – beides Reak­ Regel einen chemischen Dirigenten – Thianthreniumsalze aus insgesamt tionstypen, die eine große Zahl funk­ ein Anhängsel am aromatischen Ring. 15 Pharmawirkstoffen, Agrochemika­ tioneller Gruppen einführen können Dieser beeinflusst, an welcher Stelle lien und Naturstoffen beziehungsweise (Bild rechts). das reagierende Molekül andockt, deren Abwandlungen (so genannten Eine wichtige Sorte palladiumkata­ indem er die Elektronendichte im Ring Derivaten) erzeugt – ein Beleg dafür, lysierter Reaktionen sind beispiels­ verschiebt oder durch seine schiere dass auch komplizierte Stoffe umge­ weise die so genannten Kreuzkupplun­ Größe bestimmte Positionen unzu­ setzt werden können. Der Trick liegt gen. Mit ihrer Hilfe sind Chemiker in gänglich macht. Ausgehend von der darin, dass die Thianthrenylgruppe der Lage, auch Kohlenstoff-Kohlen­ dirigierenden Gruppe unterscheiden zum einen die elektronenreichste stoff -Bindungen direkt zu knüpfen – Chemiker im Aromaten die ortho-, Position stark bevorzugt und zum sie sind daher inzwischen als entschei­ meta- und para-Position (Bild unten). anderen positiv geladen ist: Das Zu­ dender Schritt in der chemischen und Bei aromatischen Verbindungen, die sammenspiel dieser Effekte deaktiviert pharmazeutischen Industrie weit ver- als einziges Anhängsel eine Elek­tronen gewissermaßen den Rest des Mole­ breitet. 2010 erhielten ihre Entwickler schiebende Gruppe besitzen, setzt sich küls. Ist die Gruppe einmal eingeführt, den Chemie-Nobelpreis (siehe Spektrum die Thianthrenylgruppe bevorzugt an reagieren die anderen potenziell reakti­ Dezember 2010, S. 18). In diesen Reak- tionen verhält sich der Thianthrenylrest ähnlich wie die bisher eingesetzten Funktionelle Gruppen am Halogene, wie zum Beispiel Bromid. Aromaten (hier eine Ethyl­ Viele bekannte Reaktionen (wie Suzuki- gruppe, kurz Et) verschie­ Kupplung, Sonogashira-Kupplung, ben die Elektronendichte Negishi -Kupplung oder Heck-Reak­ im aromatischen Ring oder Ethylbenzol SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT tion) können daher mit Thianthrenium­ schirmen bestimmte salzen unter Bedingungen durchge­ Positionen räumlich ab. So führt werden, die denen für die Um­ beeinflussen sie, in wel­ wandlung mittels Arylbromiden, also cher Position eine weitere Molekülen mit einem Bromatom am Gruppe (R) andockt. Relativ aromatischen Ring ähneln. Das ist zur ersten funktionellen daher praktisch, weil man die thian­ Gruppe unterscheidet man threnierten Moleküle häufig unter die ortho-, meta- und ortho-Produkt meta-Produkt para-Produkt bereits bekannten Bedingungen rea- para-Position. gieren lassen kann und sich Wissen­

24 Spektrum der Wissenschaft 8.19 3,0 Äquivalente (CF3CO)2O 1,1 Äquivalente HBF4OEt2

MeCN, 0–25°C, 2h

Ethylbenzol Tetrafluorothianthren- S-Oxid

para/ortho > 500/1 para/meta > 200/1

Palladium- Fotoredox- Katalyse Katalyse Negishi- Borylierung Reaktion

Phosphonylierung

Heck- Reaktion Chlorierung TOBIAS RITTER & FLORIAN BERGER, MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR KOHLENFORSCHUNG; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT FÜR KOHLENFORSCHUNG; BERGER, MAX-PLANCK-INSTITUT RITTER & FLORIAN TOBIAS

Suzuki- Cyanierung Reaktion Thiolierung Carbonylierung Sonogashira- Reaktion

schaftler nicht auf die Suche nach und so erhält man beispielsweise bo- külen Nebenreaktionen eingehen. neuen Abläufen machen müssen. rylierte oder chlorierte Aromaten. Auf Daher arbeiten wir derzeit daran, das Ein weiterer Pluspunkt: Zumindest diese Weise kann man funktionelle Verfahren noch allgemeiner einsetzbar in der palladiumkatalysierten Suzuki- Gruppen erzeugen, die relevant für die und nützlicher zu machen.  Kupplung sind Thianthreniumsalze Entwicklung von Pharmaka sein kön- Tobias Ritter ist Geschäftsführender reaktiver als die üblicherweise verwen­ nen und sonst schwierig einzu­führen Direktor des Max-Planck-Instituts für deten Arylbromide. Nach der Thian­ sind, wie beispielsweise Cyano- (–CN) Kohlenforschung und entwickelt neue threnierung können diese daher an oder Trifluoromethylthiogruppen chemische Reaktivität für die organi­ Kreuzkupplungen teilnehmen, ohne (–SCF , siehe Bild oben). sche Synthese. Florian Berger war 3 vierfacher Teilnehmer der Internationa­ dass die Bromidgruppen dabei Scha­ Die Thianthrenierung ist die wahr­ len Chemie-Olympiade, hat in Köln den nehmen. scheinlich erste C–H-Funktionalisie­ Chemie studiert und promoviert seit rung, die für eine sehr große Anzahl an 2016 am Max-Planck-Institut für Kohlen­ Selektiv und synthetisch wertvoll Aromaten hochselektiv verläuft, ohne forschung über C–H-Funktionalisierung. Auch durch Verwendung von speziel­ eine bestimmte dirigierende Gruppe zu len, Licht absorbierenden Katalysato­ benötigen, und dabei eine synthetisch QUELLE ren (den so genannten Fotokatalysato­ wertvolle funktionelle Gruppe einführt. Berger, F. et al.: Site-selective and ren) lässt sich ausgehend von Thian­ Das könnte insbesondere in der Medi­ versatile aromatic C−H functionalization threniumsalzen eine Vielzahl neuer zinalchemie viel Zeit für die Synthese by thianthrenation. Nature 567, 2019 Bindungen knüpfen. Hierbei reduziert neuer Wirkstoffkandidaten sparen. Die WEBLINK der Fotokatalysator das Thianthre­ derzeit größte Herausforderung ist, Ein Video, in dem die Autoren Schritt niumsalz und spaltet es in Thianthren dass die während der Umsetzung für Schritt zeigen, wie die Reaktion und Arylradikale auf. Letztere nehmen auftretenden Thianthrenradikale mit im Labor funktioniert, ist unter an vielfältigen Folgereaktionen teil, vielen oxidationsempfindlichen Mole­ https://youtu.be/r_KPersmNU8 zu finden.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 25 FORSCHUNG AKTUELL MEDIZIN BESTÄRKTE HOFFNUNG AUF DAUERHAFTE AIDSHEILUNG Zum zweiten Mal wurde ein HIV-­ Patient offenbar komplett vom Virus befreit. Die Therapiemethode kommt allerdings nicht für alle Betroffenen in Frage.

Zum überhaupt erst zweiten Mal scheint ein HIV-Patient vollständig geheilt worden zu sein. Er litt nicht nur an der Virusinfektion, son­ dern auch an einem Hodgin-Lym­ phom, einer Krebserkrankung des Lymphsystems. In seinem Körper finden sich nach einer Strahlenthera­ pie und einer Stammzelltransplanta­ HI -Viren (blau) attackieren eine weiße Blutzelle tion keinerlei HI-Viren mehr, obwohl (rot). Nachträglich eingefärbte, elektronen- die Ärzte um Ravindra Guptra vom mikroskopische Aufnahme. LIBRARY NIBSC / SCIENCE PHOTO University College London ihn nicht mehr mit antiviralen Medikamenten behandeln. Damit ähnelt der Fall dem des fektionen war. Beide Kopien eines bekämpfen. 16 Monate nach der »Berlin-Patienten« Timothy Ray Brown. Gens namens CCR5 in den Zellen des Stammzelltransplantation stoppten die Dieser hatte im Jahr 2008 eine ver­ Spenders trugen die Mutation Del­ Mediziner die antivirale Therapie. In gleichbare, aber noch drastischere ta -32, die dafür sorgt, dass HI-Viren den darauf folgenden eineinhalb Behandlung erhalten, die sich sowohl nicht an das Rezeptorprotein auf Jahren traten keine Symptome einer gegen seine Krebserkrankung als auch weißen Blutzellen andocken können, HIV -Infektion mehr auf. seine HIV-Infektion richtete und beide das von diesem Gen codiert wird. Dies sei durchaus ein ermutigendes erfolgreich zurückdrängte. Beim Bevor sich der Londoner Patient der Zeichen, kommentiert der Virologe Londoner Patienten geben sich die Knochenmarktransplantation unter­ Hans -Georg Kräusslich vom Universi­ Experten einstweilen noch zurückhal­ zog, hatten die Mediziner seine eige­ tätsklinikum Heidelberg. Denn bei HIV- tend – es sei trotz aller positiven nen Blutstammzellen mit einer Be­ Patienten tauchten nach dem Abset­ Zwischenergebnisse zu früh, um strahlung abgetötet. Deren Platz zen der antiviralen Medikamente sonst Mit Schülerinnen und Schülern zu Nachhaltigkeit forschen bereits jetzt von einem endgültigen nahmen anschließend die transplan­ meist schon nach wenigen Wochen Sieg über die Krankheit zu sprechen, tierten Spenderzellen ein und übertru­ wieder viele neue Viren auf. Ein end­ Die Robert Bosch Stiftung fördert Projekte, die wissenschaftsbasierte Antworten zu Alltagsthemen wie Ernährung, Konsum, mahnen die beteiligten Forscher. gen dabei ihre HIV-Resistenz auf den gültiger Beweis für den Erfolg der Mobilität und Umwelt geben. Welche Folgen hat der Klimawandel konkret für unsere Region? Wie wird unsere Umwelt durch unsere Empfänger. Die intensive Strahlenthe­ Therapie stehe beim Londoner Patien­ Ernährungsgewohnheiten beeinflusst? Genmutation verleiht Resistenz rapie kam nur wegen der Krebserkran­ ten allerdings noch aus. Zur Vorsicht Der HIV-Infizierte hatte eine Knochen­ kung des Betroffenen in Frage. Auch gemahne etwa der Fall des so genann­ Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Lehrkräfte mit einer Projektidee können sich bei der Stiftung um Fördergelder bewerben. marktransplantation erhalten, um der Berlin-Patient hatte einige Jahre ten Mississippi-Babys, bei dem noch seine Krebserkrankung zu bekämpfen. zuvor wegen seiner Krebserkrankung 27 Monate nach Therapieende keine Neugierig geworden? Als Spenderzellen setzten die Ärzte da­ des Blut bildenden Systems eine Viren mehr nachweisbar gewesen Weitere Informationen finden Sie unterwww.bosch-stiftung.de/ourcommonfuture bei – wie dies zuvor schon beim Berlin- Strahlenbehandlung erhalten, aller­ seien, das Virus anschließend jedoch Jetzt Patienten geschehen war – die dings war diese noch aggressiver wieder aufgetreten sei, so Kräusslich bewerben! Stammzellen eines Mannes ein, der gewesen. Beim Londoner Patienten gegenüber dem Science Media Center. auf Grund einer seltenen genetischen genügte ein vergleichsweise mildes Der Berlin-Patient von 2008 gilt Veränderung resistent gegen HIV-In­ Regime, um den Krebs erfolgreich zu zwar als geheilt, bisher war aber

26 Spektrum der Wissenschaft 8.19 umstritten, ob er einen speziellen deshalb von Mutationen in dessen Gen daher weniger funktionsfähige CCR5- Einzelfall darstellt. Manche bezweifel­ nicht gestoppt wird. Bei anderen Er- Rezeptoren als im Fall zweier intakter ten daher, dass sich seine erfolgreiche krankten, die Stammzellen mit intak­ Genkopien, was das Fortschreiten der Behandlung auf andere Betroffene ten CCR5-Rezeptorproteinen übertra­ Infektion zumindest verlangsamt. übertragen lasse. Der Londoner Fall gen bekamen, kehrte die Infektion Verschiedene Forschergruppen scheine jedoch dafür zu sprechen, ebenfalls zurück, heißt es in »Nature«. arbeiten daran, das Gen CCR5 gezielt sagt Gero Hütter von der Cellex Eine intensive Bestrahlung mit zu verändern, um sein Proteinprodukt, GmbH, der den Berlin-Patienten da­ darauf folgender Stammzelltherapie den gleichnamigen Rezeptor, als Ein- mals an der Charité als behandelnder könne man ohnehin nicht allen HIV-Pa­ gangspforte für die Viren zu verschlie­ Arzt begleitet hat. tienten zumuten, betont Hütter, son­ ßen. Zuletzt hatte der chinesische dern nur solchen mit einer zusätzli­ Forscher He Jiankui diese Erbanlage Stammzelltransplantationen sind chen Krebserkrankung. Die derzeit im Genom menschlicher Embryonen nicht immer erfolgreich übliche Behandlung von HIV-Infizierten bei einem skandalträchtigen Men­ Anfang März dieses Jahres berichtete mit antiviralen Medikamenten bewirke schenversuch mit Hilfe des CRISPR- das Universitätsklinikum Düsseldorf zwar keine Heilung, verbessere aber Cas-Verfahrens modifiziert. Auch bei von einem weiteren Patienten mit die Prognose deutlich. ethisch und wissenschaftlich weniger ähnlicher Konstellation. Der Düsseldor­ Jene Fälle, in denen sich eine problematischen Experimenten be­ fer HIV-Patient erhielt auf Grund einer HIV-Infektion mit Hilfe veränderter steht die größte Herausforderung Leukämie-Erkrankung eine Stammzell­ CCR5 -Gene erfolgreich zurückdrängen darin, CCR5 so umzugestalten, dass es transplantation und wird seit Ende ließ, rücken diesen Erbfaktor verstärkt zwar HIV-Infektionen unterbindet, aber 2018 nicht mehr mit antiviralen Medi­ in den Fokus von Forschern, die An­ trotzdem seine bisher noch nicht völlig kamenten behandelt. Seither seien satzpunkte für neue Therapiemetho­ verstandene natürliche Funktion keine HI-Viren mehr bei ihm nachweis­ den suchen. Mutationen in dieser weiter erfüllen kann. Vermutlich spielt bar, so das Universitätsklinikum. Da Erbanlage kommen bei einigen Men­ das Rezeptorprotein in Nervenzellen die Arzneistoffe aber erst seit Kurzem schen natürlich vor, die dadurch eine wichtige Rolle bei Gedächtnis- abgesetzt seien, ließe sich noch nichts weitgehend resistent gegen entspre­ und Lernprozessen.  Abschließendes über eine mögliche chenden Virenbefall sind. Bei ihnen Jan Osterkamp ist Redakteur bei Heilung aussagen. sorgt ein fehlendes DNA-Stück in »Spektrum.de«, Frank Schubert bei Mehrere Fälle belegen indes, dass beiden Kopien des Gens dafür, dass »Spektrum der Wissenschaft«. Stammzelltransplantationen eine auf den weißen Blutzellen nur eine HIV -Infektion nicht immer zurückdrän­ verstümmelte und funktionslose QUELLEN gen. Die Fachzeitschrift »Nature« Variante des Rezeptorproteins CCR5 Gupta, R. K. et al.: HIV-1 remission verweist auf einen HIV-Patienten aus sitzt. Viren des am häufigsten auftre­ following CCR5Δ32/Δ32 haematopoietic Essen, der nach einer solchen Zellver­ tenden Typs HIV-1 können solche stem-cell transplantation. Nature 568, pflanzung einen Rückfall der Erkran­ Zellen nicht infizieren. Bei rund zehn 2019 Prozent aller Europäer – übrigens auch kung erlitt. Bei ihm hatte sich ein mu- Hütter, G. et al.: Long-term control of tierter Erregerstamm entwickelt, der beim Londoner Patienten – ist immer­ HIV by CCR5 Delta32/Delta32 stem-cell weiße Blutzellen auch ohne das Rezep­ hin eine der beiden Kopien von CCR5 transplantation. New England Journal of torprotein CCR5 befallen kann und derart verändert; ihre Zellen tragen Medicine 360, 2009

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Mit Schülerinnen und Schülern zu Nachhaltigkeit forschen

Die Robert Bosch Stiftung fördert Projekte, die wissenschaftsbasierte Antworten zu Alltagsthemen wie Ernährung, Konsum, Mobilität und Umwelt geben. Welche Folgen hat der Klimawandel konkret für unsere Region? Wie wird unsere Umwelt durch unsere Ernährungsgewohnheiten beeinflusst?

Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Lehrkräfte mit einer Projektidee können sich bei der Stiftung um Fördergelder bewerben.

Neugierig geworden? Weitere Informationen finden Sie unterwww.bosch-stiftung.de/ourcommonfuture Jetzt bewerben!

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Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel »Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1654752

ohle, Öl und Gas haben gut zwei Jahrhunderte University gut begründeten Protest ein. Sobald man die lang die Industrialisierung der ganzen Welt energetischen Kosten für Raffinierung und Transport angetrieben, und noch heute stillen sie den des Öls bis zum Endverbraucher mit einrechnet – sie KLöwenanteil des globalen Energiebedarfs. Aller­ verstecken sich wohl teilweise in den massiven Steuer­ dings stößt die Nutzung der fossilen Quellen an Gren­ anteilen des Benzinpreises –, fällt der Vergleich ganz zen: Die natürlichen Reserven sind nicht unerschöpf­ anders aus: Die Rendite des Öls schrumpft von 100 auf lich, ihre Förderung wird immer aufwändiger, und die unter 10 und liegt damit durchaus im Bereich der konventionelle Energiegewinnung reichert die Atmo­ Fotovoltaik, die ja gleich direkt nutzbaren Strom liefert sphäre mit Kohlendioxid an. (Nature Energy 4, S. 86–88, 2019). Die klimaneutralen Alternativen Wasser, Wind und Der Physiker und Wissenschaftsautor Mark Bu­cha­ Sonne sind zwar an sich unerschöpflich, haben es aber nan listet die energetische Rendite weiterer Energie­ gegen die alteingesessenen Energieträger schwer. formen auf, jeweils gemittelt über mehrere Jahrzehnte Nicht überall und nicht immer strömt Wasser, weht (Nature Physics 15, S. 520, 2019). Der Strom aus Wind­ Wind, scheint die Sonne; und mit der über Jahrmillio­ energie kommt demnach immerhin auf 18, hingegen nen hinweg in Kohle und Öl leicht zugänglich gespei­ bringen Biokraftstoffe kaum 5. Ein spezieller, da poli­ cherten Energie können die Erneuerbaren oft nur tisch heiß umstrittener Fall ist die Kernenergie; hier schlecht mithalten. streuen die Werte für die Energierendite je nach Zähl­ Ist die Energiewende also rechnerisch ein Verlust­ methode zwischen 1 und 90. In einer Metastudie über geschäft, auf das sich die Wirtschaft bloß unter mora­ all diese Schätzungen kam Physiker Manfred Lenzen lisch -politischem Druck einlässt? Dafür scheinen so von der University of Sydney in Australien schon 2008 genannte Nettoenergie-Analysen zu sprechen. Sie auf eine nuklearenergetische Rendite von rund 5, ermitteln die energetische Rendite (energy return on indem er den gesamten Brennstoffzyklus berücksich­ investment, EROI). Die Zahl steht für das Verhältnis der tigte, inklusive der sicheren Lagerung der radioaktiven in einer geförderten Brennstoffmenge vorhandenen Abfälle (Energy Conversion and Management 49, Energie zu dem für ihre Erschließung nötigen Aufwand. S. 2178–2199, 2008). Beispielsweise bedeutet ein EROI von 10, dass man zehnmal so viel Energie gewinnt, wie man investiert. uchanan vermutet, die Energiegewinnung dürfte Das entspricht dem Wert einer kostspielig hergestellten künftig nicht einfacher werden, und rechnet Hightech-Fotovoltaikanlage – auf den ersten Blick keine damit, dass sich die energetischen Renditen bei 5 gute Bilanz gegenüber der rund zehnfach höheren Boder gar 3 einpendeln. Das bedeutet: Bald wür­ Rendite einer sprudelnden Erdölquelle. den ein Fünftel oder sogar ein Drittel der produzierten Doch gegen diese Rechnung legt der Nachhaltig­ Energie von der Energiewirtschaft selbst verbraucht, keitsforscher Marco Raugei von der Oxford Brookes anstatt der Gesamtwirtschaft zugutezukommen. Ent­ sprechend könnte sich die Energie insgesamt verknap­ pen und verteuern. Deshalb gehört die Zukunft denjeni­ Ist die Energiewende gen Technologien, die einen besonders sparsamen Verbrauch von flexibel nutzbaren Energieformen wie ein Verlustgeschäft? Strom versprechen.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 29 EVOLUTION DER UNWAHRSCHEINLICHE TRIUMPH DER DINOSAURIER War den Dinosauriern die Vorherrschaft im Erdmittel- alter quasi vorbestimmt? Neue Fossilien und Analysen zeichnen ein anderes Bild: Der Anfang der »schreckli- chen Echsen« verlief vermutlich viel bescheidener.

Während sich im Hinter- grund Dromomeron, ein Vorfahr der Dinosaurier, vorsichtig einem See nähert, liegt das riesige krokodilähn- liche Amphib Koskinonodon schon auf der Lauer nach Beute. Eine Szene wie diese war vor 212 Millionen Jahren auf dem Gebiet der heutigen Ghost Ranch im US-Bundes- staat New Mexico mögli- cherweise alltäglich.

30 Spektrum der Wissenschaft 8.19 JAMES GURNEY / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2018 GURNEY / SCIENTIFIC AMERICAN JAMES Stephen Brusatte ist promovierter Paläontologe an der University of Edinburgh (Großbritannien). Seit seinem Studium beschäftigt sich der 1984 geborene US-Amerikaner mit der Evolution der Dinosaurier und hat bereits mehrere Spezies wissenschaftlich beschrieben. Dies ist sein vierter Spektrum-Artikel.

 spektrum.de/artikel/1654756

Um die Jahrtausendwende, als ich mich als Teenager zum ersten Mal für Fossilien begeisterte, baute das Field Museum in Chicago sein Brachiosaurus-Skelett ab und stellte dafür einen Tyrannosaurus rex auf. Damit wurde eine Dinosaurierikone gegen eine andere ausgetauscht: Der Pflanzen fressende Koloss, der einst das Gewicht von mehr als zehn Elefanten auf die Waagschale gebracht hatte und dessen Hals sich in einem eleganten Bogen weit über die Zuschauergalerie im zweiten Stock des Museums erstreck- te, musste weichen. An seine Stelle trat das größte Land- raubtier aller Zeiten – eine Bestie von den Ausmaßen eines Omnibusses, die einst mit ihren Zähnen, so groß wie Eisen- bahnnägel, die Knochen ihrer Beute zermalmt hatte. Diese Tiere beflügelten meine Fantasie. Ich besuchte sie, so oft ich meine Eltern überreden konnte, die mehr als 100 Kilometer lange Autofahrt nach Chicago zu unterneh- men. Unter den riesigen Skeletten zu stehen, war berau- schend: Ihre Größe, ihre Kraft, ihr Körper erschienen so fremdartig im Vergleich zu allen heute lebenden Tieren. Kein Wunder, dass sie mehr als 150 Millionen Jahre lang die Erde beherrschten; sie waren einfach großartig. Aber wie schafften die Dinosaurier das? Über diese Frage dachte ich in meinem jugendlichen Elan kaum nach. So wie ich mir nicht richtig vorstellen konnte, dass meine Eltern auch einmal so jung waren wie ich, so ging ich einfach davon aus, dass die Dinosaurier irgendwann in ferner Ver- gangenheit als Riesen mit langem Hals und spitzen Zähnen auf der Bildfläche erschienen waren. Damals wusste ich noch nicht, dass ich damit ziemlich nah bei der Meinung lag, die dazu während des späten 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft vorherrschte: Die Dinosaurier, so die allgemei- ne Ansicht, waren etwas Besonderes – ausgestattet mit überragender Stärke, Gewandtheit und Geschwindigkeit, so dass sie ihre anfänglichen Rivalen leicht überwanden und rasch ihre Herrschaft über die ganze Erde ausbreiteten. In den vergangenen 15 Jahren jedoch erschütterten eine Fülle an weltweit entdeckten Fossilien, neue Erkenntnisse über die Umweltbedingungen der ersten Dinosaurier sowie verbesserte evolutionsbiologische Verfahren diese Vorstel- lung. Damit kristallisierte sich eine ganz andere Geschichte heraus: Der Aufstieg der Dinosaurier vollzog sich allmählich, und die ersten 30 Millionen Jahre ihrer Existenz verweilten sie in wenigen Winkeln der Erde im Schatten anderer Tiere. Erst dank einiger glücklicher Zufälle begann ihr großer Aufschwung. Wie viele erfolgreiche Lebewesen, so entsprangen auch die Dinosaurier einer Katastrophe: Vor 252 Millionen Jahren, am Ende der Permzeit, rumorte unterhalb des heutigen

Spektrum der Wissenschaft 8.19 31 JAMES GURNEY / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2018 GURNEY / SCIENTIFIC AMERICAN JAMES Sibirien ein Magmasee. Die hier lebende Tierwelt – eine schmale Fährten, wobei die fünffingrigen Vorderfüße sich exotische Mischung aus großen Amphibien, runzeligen vor den etwas größeren hinteren Extremitäten positionier- Reptilien sowie Fleisch fressenden Vorläufern der Säuge­ ten, deren drei längere mittlere Zehen beiderseits von jeweils tiere – ahnte nichts von dem drohenden Unheil. Ströme aus einem Zehenstummel flankiert waren. Die Verursacher der flüssigem Gestein drangen durch Erdmantel und Erdkruste Spuren tragen heute den Gattungsnamen Prorotodactylus. nach oben und brachen aus kilometerbreiten Rissen an der Alles, was wir über dieses Wesen wissen, verdanken wir Erdoberfläche hervor. Die Eruptionen hielten einige hun- seinen Abdrücken (siehe Bild unten) – Fossilien des Tiers derttausend, wenn nicht gar Millionen Jahre an und spien selbst sind unbekannt. Hitze, Staub, Giftgase sowie Massen an Lava aus, die etliche Millionen Quadratkilometer der asiatischen Land- Noch kein echter Dinosaurier schaft unter sich begruben. Die Temperaturen schossen in Mit einem Alter von ungefähr 250 Millionen Jahren entstan- die Höhe, die Ozeane versauerten, die Ökosysteme kolla- den die Spuren von Prorotodactylus nur eine oder zwei bierten und bis zu 95 Prozent aller biologischen Arten Millionen Jahre nach den Vulkanausbrüchen, die das Perm starben aus. Die Katastrophe am Ende des Perm ging als beendeten. Der geringe Abstand zwischen linker und rechter das schlimmste Massenaussterben in die Erdgeschichte Spur machte von Anfang an klar, dass sie zu einer speziali- ein. Nur eine Hand voll Organismen schaffte es in die sierten Reptiliengruppe gehörten: den Archosauriern. Diese nächste geologische Periode: die Trias. Als die Vulkane sich Tiere entstanden nach dem Massenaussterben des Perm beruhigten und die Ökosysteme sich stabilisierten, fanden und entwickelten eine aufrechte Körperhaltung, dank derer die Überlebenden um sich herum eine mehr oder weniger sie schneller und weiter laufen und somit ihre Beute leichter leere Welt vor. Unter ihnen waren verschiedene kleine verfolgen konnten. Da die Spuren von einem frühen Archo- Amphi ­bien sowie Reptilien, die sich nun allmählich ausein- saurier stammten, könnten sie Fragen nach dem Ursprung anderentwickelten und die heutigen Frösche, Salamander, der Dinosaurier beantworten. Nahezu unmittelbar nach ihrer Schildkröten, Echsen und Säugetiere hervorbringen sollten. Entstehung bildeten die Archosaurier zwei Abstammungs­ Wissenschaftler kennen diese Tiere durch Fußabdrücke, linien, die während der ganzen Triaszeit in einem evolutionä- die sie in aufeinander folgenden Sedimentschichten im ren Rüstungswettlauf verstrickt blieben: Auf der einen Seite Heiligkreuzgebirge im heutigen Polen hinterlassen haben. standen die Pseudosuchia, aus der unter anderem die heuti- Grzegorz Niedzwiedzki, der in der Gegend aufwuchs und gen Krokodile hervorgingen, und auf der anderen die Aveme- inzwischen als Paläontologe an der schwedischen Universi- tatarsalia, die sich zu den Dinosauriern weiterentwickelten. tät Uppsala forscht, sammelt seit mehr als 20 Jahren solche Zu welchem Zweig gehörte Prorotodactylus? fossilen Spuren, und mitunter durfte ich ihn dabei beglei- Das wollte ich zusammen mit Niedzwiedzki und Richard ten. 2005 stieß er an einem schmalen, von Brombeerge- Butler, heute an der englischen University of Birmingham, strüpp überwucherten Bach in der Nähe des Dorfs Stryczo- herausfinden. Unsere 2011 veröffentlichte Analyse offenbarte wice auf ungewöhnliche Spuren, die zu keiner der bekann- einige Besonderheiten der Fußabdrücke, die sie mit charak- ten Reptilien- und Amphibiengruppen passen wollten. Die teristischen Merkmalen von Dinosaurierfüßen teilen: die seltsamen, etwa katzenpfotengroßen Abdrücke bildeten Anordnung der Knochen, bei der nur die Zehen beim Laufen

Vor rund 250 Millionen Jahren streifte Proroto- dactylus durch das Heiligkreuzgebirge im heutigen Polen, wie GRZEGORZ NIEDŹWIEDZKI, UPPSALA UNIVERSITY diese Spuren verraten. Die Gattung gehörte zu den Dinosauromorpha, war also noch kein echter Dinosaurier. den Boden berühren, sowie den schmalen Fuß mit drei großen Zehen. Demnach gehörte Proroto­dactylus zu den Dinosauromorpha. Er war also noch kein richtiger Dinosau- AUF EINEN BLICK rier, aber ein primitives Mitglied des Zweigs der Aveme- GLÜCK IN DER EVOLUTIONSLOTTERIE tatarsalia, der auch die Dinosaurier und ihre engsten Ver- wandten umfasst. Die Angehörigen dieser Gruppe besaßen Nach herkömmlicher Sichtweise überflügelten die einen langen Schwanz, große Beinmuskeln und zusätzliche 1 Dinosaurier ihre Konkurrenz dank ihrer Überlegenheit Knochen an den Hüften, die das Bein mit dem Rumpf an Schnelligkeit, Stoffwechsel sowie Intelligenz und verbanden und sie damit in die Lage versetzen, sich schnel- breiteten sich daher rasch über die ganze Erde aus. ler und effizienter zu bewegen als andere Archosaurier. Neue Fossilien und Analysen stellen dieses Szenario in Diese ersten Dinosauromorpha wirkten alles andere als Frage. Demnach spielten die Dinosaurier über Jahrmil­ Furcht erregend. Sie waren nur ungefähr so groß wie eine 2 lionen nur eine unbedeutende Nebenrolle. Hauskatze und liefen auf langen, dünnen Beinen. Es gab auch nicht sehr viele von ihnen: In Stryczowice gehören Erst nachdem ihre stärksten Konkurrenten, die Vorläu- noch nicht einmal fünf Prozent aller Fußspuren zu Proroto­ 3 fer der Krokodile, am Ende der Trias weitgehend ver- dactylus. Viel zahlreicher tauchen Spuren kleiner Reptilien, schwanden, begann der Siegeszug der »schrecklichen Amphibien sowie anderer Archosaurier auf. Die Zeit der Echsen«. Dinosauromorpha war noch nicht gekommen. Im Lauf der nächsten 10 bis 15 Millionen Jahre entwi­ ckelten sich die Dinosauromorpha weiter auseinander. Funde aus dieser Zeit offenbaren zunächst in Polen und sauriergruppen ihren Aufschwung und gründeten in einer dann weltweit eine zunehmende Zahl verschiedenartiger uns fremdartig vorkommenden Welt ihre eigenen Familien. Abdrücke. Die Spuren werden größer und entwickeln eine Damals erstreckte sich von Pol zu Pol ein einziger Superkon- höhere Formenvielfalt. In manchen Fährten zeigen sich tinent namens Pangäa, der von dem globalen Ozean Pantha- keine Handabdrücke mehr – die Tiere liefen demnach lassa umgeben war. Ein behaglicher Ort sieht anders aus. ausschließlich auf den Hinterbeinen. Nun tauchen auch Insgesamt war es auf der Erde viel wärmer als heute, und Skelette auf. Dann, irgendwann vor 230 bis 240 Millionen am äquatornahen Zentrum Pangäas herrschte sommers Jahren, entwickelten sich einige dieser primitiven Dinosau- sengende Hitze, während sich die andere Hälfte der Land- romorpha zu echten Dinosauriern. Radikal verändert hat fläche im Winter deutlich abkühlte. Diese ausgeprägten sich dabei aber nur der Name – der Übergang selbst be- Temperaturunterschiede führten zu heftigen »Megamonsu- stand aus wenigen, geringfügigen anatomischen Neuerun- nen«, die Pangäa in Umweltzonen mit jeweils unterschiedli- gen: Ein langer Vorsprung am Oberarm diente als Veran­ chen Niederschlags- und Windverhältnissen unterteilten: kerung für größere Muskeln, vorstehende Platten an den eine unerträglich heiße und feuchte Äquatorregion, beider- Halswirbeln stützten stärkere Bänder, und ein offenes, seits flankiert von subtropischen Wüsten, an denen die fensterähnliches Gelenk zwischen Oberschenkel und Be- etwas kühleren und viel feuchteren Regionen der mittleren cken stabilisierte die aufrechte Körperhaltung. Aber so Breiten angrenzten. bescheiden diese Veränderungen aussehen, sie kennzeich- nen den Beginn einer großen Entwicklung. Ein Massengrab von riesigen Amphibien – aber Die ersten Fossilien, die sich eindeutig als Dinosaurier kein einziger Dinosaurier klassifizieren lassen, sind ungefähr 230 Millionen Jahre alt Herrerasaurus, Eoraptor und die anderen Dinosaurier von und stammen aus den bizarr anmutenden Landschaften Ischigualasto hatten sich in den vergleichsweise angeneh- des Naturreservats Ischigualasto in Argentinien. Hier su- men mittleren Breiten niedergelassen. Das Gleiche taten chen Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten Fossilien, wie ihre Entsprechungen in Brasilien und Indien, die wir aus neu der legendäre US-amerikanische Paläontologe Alfred entdeckten Fossilien kennen. Aber wie sah es in den ande- Romer (1894–1973) in den 1950er Jahren oder die argentini- ren Teilen des Superkontinents aus? Waren die frühen schen Wissenschaftler Osvaldo Reig (1929–1992) und José Dinosaurier in der Lage, auch diese unwirtlicheren Regionen Bonaparte (* 1928) in den 1960er Jahren. In den 1980er und zu besiedeln, wie es bislang angenommen wurde? Um die 1990er Jahren leiteten Paul Serreno von der University of Hypothese zu überprüfen, taten Butler und ich uns 2009, Chicago und Ricardo Martínez von der argentinischen wenige Monate nach unserem ersten gemeinsamen Aus- Universidad Nacional de San Juan weitere Expeditionen in flug nach Polen, mit Octávio Mateus vom portugiesischen das Ischigualasto-Reservat. Sie stießen hier auf Fossilien Museu da Lourinhã zusammen. Wir wollten in einem Über- von Herrerasaurus, Eoraptor und anderen Kreaturen, die alle rest des subtropischen trockenen Landschaftsgürtels im drei Hauptäste der Dinosaurier repräsentieren: den Fleisch Norden Pangäas, der im heutigen Südportugal liegt, Dino- fressenden Theropoda, den Pflanzen fressenden Sauropo- saurier finden – und stießen stattdessen auf ein Massen- domorpha mit ihrem langen Hals sowie den ebenfalls grab mit Hunderten von autogroßen Amphibien, die wir vegetarischen Vogelbeckensauriern oder Ornithischia, die Metoposaurus algarvensis nannten. Diese Beherrscher der einen Schnabel besaßen (siehe »Familienfehde«, S. 34/35). Süßgewässer der Trias waren wohl zu Opfern des launi- In der mittleren Phase der Trias, etwa vor 230 bis vor schen Wetters von Pangäa geworden, das ihre Seen aus- 220 Millionen Jahren, erlebten diese drei wichtigen Dino- trocknen ließ. Als wir später die Knochenlagerstätte ausgru-

Spektrum der Wissenschaft 8.19 33 Familienfehde

Die vielleicht hitzigste Debatte der Kollegen nach der Auswertung eines Merkmale mit unseren Korrekturen modernen Dinosaurierforschung umfangreichen Datenbestands über erneut. Dabei kristallisierte sich dreht sich um die Frage, wie Thero- die anatomischen Merkmale früher wieder ein Stammbaum heraus, in poda, Sauropodomorpha und Ornithi- Dinosaurier einen neuen Stamm- dem Saurischia und Ornithischia schia im Stammbaum angeordnet baum. Er fasst die Theropoden und einander gegenüberstanden; statisti- sind. Der britische Anatom Harry Ornithischia zu einer Gruppe namens sche Prüfungen zeigten allerdings, Govier Seeley (1839–1909) unterteilte Ornithoscelida zusammen, von dass diese Anordnung nicht signifi- 1887 die Flut der in Europa und dem denen sich die Sauropodomorpha kant besser zu den Daten passte als amerikanischen Westen gefundenen auf einem eigenen Ast abgrenzen. Barons Stammbaum mit Ornithosce- Fossilien auf Grund der Form ihrer Demnach lautet die Zweiteilung der lida und Sauropodomorpha. Hüftknochen in zwei Ordnungen: Bei Dinosaurier also nicht mehr Sau­ Wegen dieser zweideutigen den Theropoda und Sauropodomor- rischia versus Ornithischia, sondern Forschungsergebnissen fehlt den pha weist das Schambein wie bei Ornithoscelida versus Sauropodo- Paläontologen bislang ein grundle- den heutigen Echsen nach vorn; morpha (untere Grafik). gendes Verständnis für die Aufspal- Seeley gruppierte sie daher zur Oder auch nicht. Kurz nach der tung der frühen Dinosaurier. Die Fülle Ordnung Saurischia oder Echsenbe- Veröffentlichung von Barons Studie neuer Entdeckungen aus Argentini- ckensaurier. Hiervon trennte er die kontaktierte mich Max Langer, ein en, Brasilien, Polen und anderen Ornithischia oder Vogelbeckensaurier brasilianischer Paläontologe, der in Ländern im Lauf der letzten 15 Jahre ab, deren Schambein wie bei den den letzten zehn Jahren eine ganze haben das Bild eher noch ver- heutigen Vögeln nach hinten gerich- Reihe Dinosaurier und ihre Vorläufer schwommener gemacht. Wie wir tet ist. Diese grundlegende Zweitei- aus seinem Heimatland beschrieben heute wissen, ähnelten sich die lung gilt bis heute als Standardeintei- hatte. Er stand dem neuen Stamm- ersten Mitglieder der drei großen lung der Dinosaurier, die ich wie alle baum skeptisch gegenüber und Dinosaurierlinien in Körpergröße und meine Dinosaurier sammelnden stellte eine Gruppe von Experten für Anatomie frappierend, was die Kollegen als Student gelernt habe frühe Dinosaurier zusammen, zu der Aufklärung ihrer Verwandtschafts­ (obere Grafik). ich ebenfalls gehören sollte, um über beziehungen erschwert. Dieses Sie könnte aber falsch sein. 2017 Barons Daten zu brüten. Einen Monat Rätsel werden wohl erst künftige schlug eine in der Fachzeitschrift lang gingen wir sorgfältig die Daten Paläontologen lösen, und zwar »Nature« erschienene Studie wie eine durch und hielten an verschiedenen vermutlich auf dem gleichen Weg, Bombe ein: Darin präsentierte der Stellen fest, wo wir die Interpretation auf dem solche Meinungsverschie- Doktorand Matthew Baron von der der anderen Arbeitsgruppe bezwei- denheiten in der Regel beigelegt University of Cambridge mit seinen felten. Dann analysierten wir die werden: mit neuen Fossilien.

ben, fanden wir auch Fossilien von verschiedenen Fischen, Nebendarsteller in einem weltweiten Drama, dessen Schau- pudelgroßen Reptilien sowie von Archosauriern, aus denen platz sich noch immer von dem großen Artensterben am sich die Krokodile entwickeln sollten. Aber bis heute ent- Ende des Perm erholen musste. deckten wir nicht das kleinste Stückchen eines Dinosaurier- Aber dann, gerade als es so aussah, als könnten die knochens. Dinosaurier nie ihre eingefahrenen Gleise verlassen, traten Vermutlich wird das nie geschehen. Fossilfund­stätten zwei für sie glückliche Wendungen ein. Erstens gingen die aus der gleichen Zeit von vor 220 bis 230 Millionen Jahren beherrschenden großen Pflanzenfresser jener Zeit – Reptilien in Spanien, Marokko sowie an der nordamerikanischen Ost- namens Rhynchosaurier und die mit den Säugetieren ver- küste zeigen das gleiche Bild, das wir aus Portugal kennen: wandten Dicynodonten – in der feucht-warmen Zone zurück; eine Fülle von Amphibien und Reptilien, aber keinen einzi- in manchen Regionen verschwanden sie aus unbekannten gen Dinosaurier. All diese Orte lagen in der Trockenregion Gründen sogar ganz. Dieser Sturz in die Bedeutungslosigkeit von Pangäa. Offensichtlich hatten sich die Dinosaurier in vor rund 220 Millionen Jahren bot primitiven, Pflanzen den entscheidenden Jahren ihrer Evolution in feucht-gemä- fressenden Sauropodomorpha wie Saturnalia – eine hunde- ßigten Regionen langsam auseinanderent­wickelt, blieben große Gattung mit etwas verlängertem Hals – die Gelegen- aber unfähig, die Wüsten zu besiedeln. Das stellt eine heit, eine wichtige ökologische Nische zu besetzen. Es unerwartete Erkenntnis dar: Die Dinosaurier erwiesen sich dauerte nicht lange, bis diese Sauropodenvorläufer zu den keineswegs als die überlegenen Lebewesen, die sich un­ vorherrschenden Pflanzenfressern in den feuchten Regionen mittelbar nach ihrer Entstehung in einer Welle über ganz der Nord- und Südhalbkugel avancierten. Pangäa verbreiteten. Vielmehr kamen sie mit der Hitze nicht Zweitens drangen die Dinosaurier vor etwa 215 Millionen zurecht. Geografisch eingeschränkt, agierten sie als bloße Jahren endlich in die Wüsten der Nordhalbkugel vor. Mög-

34 Spektrum der Wissenschaft 8.19 ORNITHISCHIA THEROPODA SAUROPODOMORPHA Ceratosaurus Eoabelisaurus Ceratosaurus Eoabelisaurus Allosaurus Piatnitzkysaurus Elaphrosaurus Allosaurus Piatnitzkysaurus Elaphrosaurus Cryolophosaurus eillioti Cryolophosaurus eillioti Sinosaurus Sinosaurus Lophostropheus Dilophosaurus Liliensternus Lophostropheus Dilophosaurus Liliensternus Vulcanodon Tazoudasaurus Jeholosaurus Hexinlusaurus Vulcanodon Tazoudasaurus Jeholosaurus Hexinlusaurus Nyasasaurus Plateosaurus Antetonitrus Leyesaurus Massospondylus kaalae Massospondylus Aardonyx Procompsognathus Sarcosaurus Lufengosaurus Coloradisaurus Riojasaurus Yunnanosaurus Pulanesaura Coelophysis Unaysaurus Gongxianosaurus Emausaurus Scelidosaurus Scutellosaurus Laquintasaura Agilisaurus Nyasasaurus Plateosaurus Antetonitrus Leyesaurus Massospondylus kaalae Massospondylus Aardonyx Procompsognathus Sarcosaurus Lufengosaurus Coloradisaurus Riojasaurus Yunnanosaurus Pulanesaura Coelophysis Unaysaurus Gongxianosaurus Emausaurus Scelidosaurus Scutellosaurus Laquintasaura Agilisaurus Dracoraptor Efraasia »Syntarsus« Fruitadens haagarorum Abrictosaurus Lesothosaurus Dracoraptor Efraasia »Syntarsus« Fruitadens haagarorum Abrictosaurus Lesothosaurus Panphagia Thecodontosaurus Pampadromaeus Buriolestes Saturnalia Heterodontosaurus Manidens Tianyulong Panphagia Thecodontosaurus Pampadromaeus Buriolestes Saturnalia Heterodontosaurus Manidens Tianyulong Herrerasaurus Dracovenator Panguraptor Zupaysaurus Eoraptor Pantydraco Sanjuansaurus Chindesaurus Eocursor Herrerasaurus Dracovenator Panguraptor Zupaysaurus Eoraptor Pantydraco Sanjuansaurus Chindesaurus Eocursor Staurikosaurus Tawa Staurikosaurus Tawa Traditionelle Guaibasaurus Eodromaeus Daemonosaurus Agnosphitys Pisanosaurus Guaibasaurus Eodromaeus Daemonosaurus

Agnosphitys Einteilung: Pisanosaurus Paläontologen unterschei- den seit Langem bei den Dinosauriern die Vogel­ Saurischia beckensaurier oder Orni­ Dinosauria thischia von den Echsen­ beckensauriern oder Sau­rischia, die sich wieder- um in Theropoda und Neue Sauropodomorpha gliedern. Hypothese: Nach einer neueren Merk- malsanalyse gehören die Theropoda mit den Ornithischia zu einer Gruppe namens Orni­ thoscelida, von der sich die Sauropodomor- pha abgrenzen.

SAUROPODOMORPHA ORNITHISCHIA THEROPODA Jeholosaurus Hexinlusaurus Jeholosaurus Hexinlusaurus Agilisaurus Eoabelisaurus Scutellosaurus Emausaurus Scelidosaurus Laquintasaura Ceratosaurus Agilisaurus Eoabelisaurus Scutellosaurus Emausaurus Scelidosaurus Laquintasaura Ceratosaurus Abrictosaurus Allosaurus Piatnitzkysaurus Fruitadens haagarorum Elaphrosaurus Lesothosaurus Abrictosaurus Allosaurus Piatnitzkysaurus Fruitadens haagarorum Elaphrosaurus Lesothosaurus Tazoudasaurus Vulcanodon Manidens Tianyulong Heterodontosaurus Tazoudasaurus Vulcanodon Manidens Tianyulong Heterodontosaurus Plateosaurus Aardonyx Antetonitrus Eocursor Nyasasaurus Unaysaurus Lufengosaurus Pulanesaura Riojasaurus Massospondylus Leyesaurus Yunnanosaurus Gongxianosaurus Massospondylus kaalae Cryolophosaurus eillioti Coloradisaurus Plateosaurus Aardonyx Antetonitrus Eocursor Nyasasaurus Unaysaurus Lufengosaurus Pulanesaura Riojasaurus Massospondylus Leyesaurus Yunnanosaurus Gongxianosaurus Massospondylus kaalae Cryolophosaurus eillioti Coloradisaurus Efraasia Buriolestes Panphagia Liliensternus Pampadromaeus Procompsognathus Lophostropheus Sinosaurus Dracoraptor Guaibasaurus Saturnalia Coelophysis »Syntarsus« Efraasia Buriolestes Panphagia Liliensternus Pampadromaeus Procompsognathus Lophostropheus Sinosaurus Dracoraptor Guaibasaurus Saturnalia Coelophysis »Syntarsus« Dilophosaurus Thecodontosaurus Daemonosaurus Panguraptor Dracovenator Zupaysaurus Sarcosaurus Dilophosaurus Thecodontosaurus Daemonosaurus Panguraptor Dracovenator Zupaysaurus Sarcosaurus Chindesaurus Tawa Pantydraco Eoraptor Chindesaurus Tawa Pantydraco Eoraptor

Ornithoscelida SAURIER: PORTIA SLOAN ROLLINGS; STAMMBÄUME: JEN CHRISTIANSEN, NACH LANGER, M.C. ET AL.: UNTANGLING THE DINOSAUR FAMILY TREE. NATURE 551, 2017, 551, 2017, TREE. NATURE FAMILY THE DINOSAUR JEN CHRISTIANSEN, NACH LANGER, M.C. ET AL.: UNTANGLING ROLLINGS; STAMMBÄUME: SLOAN PORTIA SAURIER: MAI 2018 543, 2017 / SCIENTIFIC AMERICAN NATURE EVOLUTION. DINOSAUR AND EARLY RELATIONSHIPS OF DINOSAUR M.G. ET AL.: A NEW HYPOTHESIS UND BARON,

Dinosauria

Spektrum der Wissenschaft 8.19 35

In der Trias waren die Dinosaurier eine unbedeutende Gruppe im Schatten von Krokodilverwandten wie dem bis zu neun Meter langen Saurosuchus (oben). Etwa gleichzeitig lebten Amphibien wie Metoposaurus mit einem Schädel von zirka einem halben Meter Länge (unten). 1 RICARDO MARTÍNEZ, INSTITUTE AND MUSEUM OF NATURAL SCIENCES (IMCN), UNIVERSITY OF SAN JUAN; SCIENCES (IMCN), UNIVERSITY OF SAN JUAN; INSTITUTE AND MUSEUM OF NATURAL MARTÍNEZ, 1 RICARDO OF SCIENCES POLISH ACADEMY SULEJ, INSTITUTE OF PALEOBIOLOGY, 2 TOMASZ

lich wurde das vermutlich, weil sich die Unterschiede zwischen den feuchten und trockenen Regionen durch Veränderungen der Monsunwinde und des Kohlendioxid­ gehalts der Atmosphäre abschwächten, so dass die Dino- saurier zwischen beiden Zonen leichter hin- und herwan- dern konnten. Aber sie hatten noch einen langen Weg vor sich. Die besten Belege für die ersten Wüsten bewohnenden Dino- saurier stammen aus Regionen, die heute wiederum Wüs- ten sind, wie den farbenprächtigen Ödlandschaften im Südwesten der Vereinigten Staaten. Seit mehr als einem Jahrzehnt gräbt eine Gruppe junger Wissenschaftler syste- matisch im Hayden Quarry, einer fossilienreichen Fund­ stätte in New Mexico. Die Forscher entdeckten hier eine Fülle von Skeletten: riesige Amphibien, die eng mit dem möglichen größeren, weiter verbreiteten, vielgestaltigeren portugiesischen Metoposaurus verwandt sind, primitive Tieren umgeben. Im argentinischen Ischigualasto-Reservat Krokodile sowie eine ganze Reihe seltsamer schwimmender zum Beispiel machten die ersten Dinosaurier nur ungefähr oder von Baum zu Baum springender Reptilien. Auch Dino- 10 bis 20 Prozent des gesamten Ökosystems aus. Ähnlich saurier gab es im Hayden Quarry, allerdings nicht viele: sah die Situation in Brasilien und einige Jahrmillionen später Wenige Arten räuberischer Theropoden sind jeweils nur im Hayden Quarry aus. In allen Fällen blieben die Dinosaurier durch einige Fossilien repräsentiert; Pflanzenfresser fehlen den Vorfahren der Säugetiere, den großen Amphibien sowie ganz. Weder die urtümlichen Arten mit langem Hals, die in anderen Reptilien zahlenmäßig unterlegen. den feuchten Zonen so verbreitet waren, noch die Vogel­ Vor allem aber wurden die Dinosaurier der Trias von ihren beckenvorfahren von Triceratops ließen sich aufspüren. engen Verwandten überflügelt: den Pseudosuchia, dem Krokodilzweig der Archosaurier. So stand in Ischigualasto Zahlenmäßig unterlegen Saurosuchus mit seinen scharfen Zähnen und großen Kiefer- Die Wissenschaftler führen die geringe Zahl von Dinosauri- muskeln an der Spitze der Nahrungskette. Hayden Quarry ern abermals auf das Klima zurück: In den Wüsten herrsch- beherbergte etliche Pseudosuchia-Spezies: Neben halb im ten instabile Umweltbedingungen mit stark schwankender Wasser sitzenden Tieren mit langer Schnauze fanden sich Temperatur und heftigen Niederschlägen, verheerenden gepanzerte Pflanzenfresser, und es gab sogar zahnlose Waldbränden zu manchen Jahreszeiten sowie hoher Feuch- Arten, die auf den Hinterbeinen liefen und verblüffend man- tigkeit in anderen. Da auch Pflanzen nur schwer stabile chen Dinosauriern aus der Gruppe der Theropoden ähnelten, Lebensgemeinschaften bilden konnten, fehlten den Herbi- mit denen sie zusammenlebten. voren eine zuverlässige Nahrungsquelle. Somit hatten die Als Masterstudent erschien mir Ende der 2000er Jahre, Dinosaurier 20 Millionen Jahre nach ihrem Auftritt immer als viele dieser Fossilien entdeckt wurden, eine solche noch keine globale Revolution eingeleitet. Verteilung seltsam. Während ich die Welle neuer Fossilfunde Egal welchen Teilabschnitt der Trias man betrachtet – verfolgte, las ich ebenfalls die klassischen Studien von vom Auftauchen der ersten Dinosaurier vor rund 230 Mil­ herausragenden Paläontologen wie Robert Bakker (* 1945) lionen Jahren bis zum Ende der Periode vor 201 Millionen und Alan Charig (1927–1997), der leidenschaftlich die Ansicht Jahren – die Geschichte ist immer gleich: Nur wenige vertreten hatte, die Dinosaurier seien hinsichtlich Laufge- Dinosaurier waren in der Lage, manche Teile der Welt zu schwindigkeit, Ausdauer und Intelligenz so hervorragend besiedeln, und wo sie auch lebten – in feuchten Wäldern angepasst gewesen, dass sie ihre krokodilartigen Vettern oder sonnenversengten Wüsten –, sahen sie sich von allen und andere Konkurrenten während der Trias schnell ver-

36 Spektrum der Wissenschaft 8.19 drängten. Aber dieser Gedanke schien nicht zu den Fossil­ über weite Gebiete im Zentrum Pangäas – ähnlich wie bei funden zu passen. Wie konnte ich dem nachgehen? den gewaltigen Vulkanausbrüchen, die 50 Millionen Jahre Nachdem ich mich in Statistik vertieft hatte, bemerkte zuvor das Ende des Perm eingeleitet hatten. Und genau ich, dass Paläontologen, die sich mit wirbellosen Tieren wie diese früheren Eruptionen lösten auch die am Ende der beschäftigten, schon vor zwei Jahrzehnten eine Methode Trias ein Massenaussterben aus. Die Krokodillinie der zur Messung der anatomischen Vielfalt in einer Artengrup- Archosaurier wurde dezimiert, und nur wenige Arten – die pe entwickelt hatten, aber die Dinosaurierforscher hatten Vorfahren der heutigen Krokodile und Alligatoren – konnten dieses Verfahren bislang nicht zur Kenntnis genommen. Es überdauern. handelt sich um die morphologische Disparität. Wenn man Die Dinosaurier blieben dagegen von diesem Feuersturm die Formenvielfalt der Dinosaurier und Pseudosuchia wäh- mehr oder weniger verschont. Alle ihre wichtigen Unter- rend der Trias betrachtet, sollte sich zeigen, ob sie mit der gruppen – Theropoda, Sauropodomorpha und Ornithi­ Zeit mehr oder weniger vielgestaltig wurden, und mit welcher Geschwindigkeit das geschah. Das wiederum wäre ein Hinweis darauf, ob sie allmählich oder schlagartig erfolgreich wurden und ob dabei eine Gruppe die andere Mehr Wissen auf überholte. Spektrum.de Zusammen mit meinen damaligen Betreuern an der Unser Online-Dossier zum University of Bristol stellte ich einen großen Datenbestand Thema finden Sie unter über die Dinosaurier und Pseudosuchia der Trias zusam- spektrum.de/t/saurier men, mit dem sich mehr als 400 anatomische Merkmale BASTOS / STOCK.ADOBE.COM beurteilen ließen. Die statistische Analyse, 2008 in »Sci- ence« veröffentlicht, lieferte ein verblüffendes Ergebnis: Während der gesamten Trias erwiesen sich die Pseudosu- schia – erreichten die nächste Periode der Erdgeschichte, chia signifikant als anatomisch vielgestaltiger als die Dino- die Jurazeit. Während um sie herum die Welt unterging, saurier – die Evolution hatte also bei Ersteren mit einer gediehen die Dinosaurier, die irgendwie das sie umgebende größeren Anzahl an unterschiedlichen Ernährungsformen Chaos für sich nutzen konnten. Ich wünschte, ich wüsste oder Verhaltensweisen experimentiert. Bei beiden Gruppen wie das ihnen gelang. Hatten die Dinosaurier etwas Beson- nahm die Diversität im Lauf der Trias zu, dabei behielten deres, dass ihnen gegenüber den Pseudosuchia einen aber die Pseudosuchia die Führung. Im Gegensatz zu der Vorteil verschaffte? Oder kamen sie einfach durch schieres allgemein herrschenden Vorstellung, Dinosaurier hätten als Glück unversehrt davon, während so viele andere zu Grun- überlegene Kämpfer ihre Konkurrenten abgeschlachtet, de gingen? Das bleibt ein Rätsel für die nächste Paläontolo- blieben sie in Wirklichkeit gegenüber den Pseudosuchia gengeneration. während eines großen Teils ihrer gemeinsamen Existenz die Was auch der Grund war, warum die Dinosaurier die Verlierer. Katastrophe überlebten, die Folgen sind unübersehbar. Vom Joch ihrer Pseudosuchia-Konkurrenten befreit, begann Die Dinosaurer nutzen ein erneutes im Jura ihre Blütezeit. Die Dinosaurier wurden vielgestalti- Massenausterben als ihre Chance ger und größer als je zuvor. Neue Arten entstanden und Unsere statistische Analyse führte zu einer ketzerischen verbreiteten sich in den terrestrischen Ökosystemen auf der Schlussfolgerung: Die ersten Dinosaurier waren im Ver- ganzen Welt. Unter den Neuankömmlingen waren einige, gleich zu der Vielfalt anderer Tiere, die sich zusammen mit die sich erstmals mit Knochenplatten auf dem Rücken ihnen während der Trias entwickelten, nichts Besonderes. panzerten; wahrhaft riesige Sauropoden ließen die Erde Wenn wir damals dabei gewesen wären, um das Leben in erbeben; Fleisch fressende Vorfahren von T. rex wurden Pangäa zu beurteilen, wären uns die Dinosaurier wahr- größer und größer; andere Theropoden schrumpften dage- scheinlich als recht unbedeutend vorgekommen. Wir hätten gen, bekamen längere Arme sowie ein Federkleid – die wohl auf eine andere Tiergruppe gesetzt und vermutet, Vorfahren der Vögel. Jetzt herrschten die Dinosaurier. Sie dass die ungeheuer vielfältigen Pseudosuchia zu gewaltiger hatten mehr als 30 Millionen Jahre dazu gebraucht, aber Größe heranwachsen und schließlich die weltweite Vorherr- nun waren sie endlich am Ziel.  schaft erringen würden. Aber natürlich wissen wir, dass es die Dinosaurier waren, die den größten Aufstieg erlebten QUELLEN und noch heute in Form von mehr als 10 000 Vogelarten unter uns weilen. Dagegen haben nur rund zwei Dutzend Brusatte, S. L. et al.: Superiority, competition, and opportunism Arten von Krokodilen bis heute überlebt. in the evolutionary radiation of dinosaurs. Science 321, 2008 Wie konnten die Dinosaurier ihren Vettern die Macht Brusatte, S. L. et al.: The origin and early radiation of dinosaurs. entreißen? Wieder einmal spielte ein glücklicher Zufall die Earth-Science Reviews 101, 2010 Hauptrolle: Gegen Ende der Trias zogen starke geologische Brusatte, S. L. et al.: Footprints pull origin and diversification of Kräfte den Kontinent Pangäa von Osten und Westen ausei- dinosaur stem lineage deep into Early Triassic. Proceedings of nander, so dass er zerbrach. Heute füllt der Atlantik die the Royal Society B 278, 2011 Lücke aus, damals aber lag dort ein Magmakanal. Mehr als Langer, M. C. et al.: Untangling the dinosaur family tree. Nature eine halbe Million Jahre lang strömten riesige Lavawellen 551, 2017

Spektrum der Wissenschaft 8.19 37 Mit Hautgewebe, das aus gentechnisch verän- derten Zellen gezüchtet wurde, lassen sich schwere Erbkrankheiten behandeln.

38 Spektrum der Wissenschaft 8.19 CENTRO DI MEDICINA RIGENERATIVA (CMR) UNIMORE CENTRO DI MEDICINA RIGENERATIVA Kat Arney arbeitet als Wissenschaftsautorin und Rundfunkmoderatorin. Sie lebt in der Nähe von London.

 spektrum.de/artikel/1654776

Fachartikel sind oft schwer verständlich, aber es kommt selten vor, dass die Lektüre regelrecht schmerzt. Doch wer das erste Bild in dem »Nature«-Paper »Regeneration MEDIZIN of the entire human epidermis using transgenic stem cells« betrachtet, kann kaum anders, als zusammenzuzucken: Es zeigt den kleinen Jungen Hassan, der von Kopf bis Fuß mit EINE NEUE offenen, blutenden Wunden übersät ist. Der Sohn syrischer Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, leidet an einer angeborenen Hauterkrankung na- mens Epidermolysis bullosa junctionalis (EBJ). Dieser schwe- HAUT ren Komplikation liegt ein Defekt in einem der Gene LAMA3, LAMB3 und LAMC2 zu Grunde. Sie enthalten die Baupläne für Untereinheiten des Proteins Laminin-332, das dafür Wenn das größte Organ sorgt, dass die Deck- und Bindegewebsschichten der Haut unseres Körpers schwer miteinander verbunden sind. Ist das Protein infolge fehler- erkrankt, hat das oft fata- hafter Erbanlagen defekt, löst sich die Ober- von der Leder- le Folgen. Verblüffende haut, und überall auf dem Körper sowie den inneren Schleimhäuten entstehen schmerzhafte Blasen und großflä- Heilungschancen bietet chige Wunden, die sich häufig infizieren. nun die Gentherapie. Im Jahr 2015 war Hassan sieben Jahre alt und seine Haut fast vollständig zerstört; auf Grund schwerer bakterieller Infektionen schwebte er in Lebensgefahr. Ärzte an der Ruhr-Universität in Bochum konnten ihn nur palliativmedizi- nisch behandeln, um seine Qualen so gut es ging zu lindern. Doch Hassans Vater fragte sie, ob es möglicherweise experi- mentelle Therapien gebe, die sich noch im Versuchsstadium befänden. Daraufhin nahmen die Ärzte Kontakt zu dem Biomediziner Michele De Luca von der Universität Modena und Reggio Emilia (Italien) auf, der eine radikale neue Thera- piemethode entwickelt.

Patienten mit ihren eigenen Zellen behandeln De Lucas Forschungen stützen sich auf die Arbeiten des SERIE Zellbiologen Howard Green vom Massachusetts Institute of Gentherapie Technology (MIT) in Cambridge. Dieser hatte als Erster entdeckt, dass sich Hautgewebeschichten im Labor züchten Teil 1: Juli 2019 Gentherapie gegen Hörschäden lassen und es auf diese Weise möglich ist, individuelle Dina Fine Maron Hauttransplantate herzustellen, die das Immunsystem des Bessere Verpackung für Genpakete Empfängers nicht abstößt. De Luca arbeitete in den 1980er Neil Savage Jahren an der Harvard Medical School in Boston, Massachu- setts, mit Green zusammen und begann später damit, des- Teil 2: August 2019 sen Behandlungsansatz weiterzuentwickeln. Er möchte Eine neue Haut Kat Arney genetisch bedingte Hauterkrankungen heilen, indem er in Anleitung zum Selbstschutz Zellen des Patienten den krank machenden Defekt gentech- Amanda Keener nisch behebt, aus den Zellen anschließend Gewebe züchtet und dieses den Patienten einpflanzt. Besonders interessant Teil 3: September 2019 dabei ist das Deckgewebe der Haut, die so genannte Epider- Reparatur in der Gebärmutter mis oder Oberhaut. Sarah Deweerdt »Wir arbeiten schon seit vielen Jahren mit Kulturen aus Epidermiszellen, haben hunderte Patienten behandelt und

Spektrum der Wissenschaft 8.19 39 CENTRO DI MEDICINA RIGENERATIVA (CMR) UNIMORE CENTRO DI MEDICINA RIGENERATIVA intensive Grundlagenforschung in der Stammzellbiologie betrieben«, schildert De Luca. »Dabei haben wir reichlich Oberhaut klinische Erfahrung gesammelt, somit lag es nahe für uns, mit gentechnisch modifizierten Zellen auch seltene Hauter- krankungen wie die EBJ zu therapieren.« Hautzellen mit verändertem Erbgut für medizinische Zwecke zu züchten, schlug erstmals 1994 der Dermatologe Gerald Krueger von der University of Utah in Salt Lake City vor. Bereits 2006 führten De Luca und sein Team eine kleine Studie dazu durch. Sie behandelten einen 36-jähri- gen Mann, der wegen eines Defekts im Gen LAMB3 an EBJ erkrankt war. Das Team transplantierte ihm neun kleine Hautstücke, die aus seinen eigenen Epidermiszellen Haarfollikel gezüchtet worden waren. Zuvor hatten die Forscher mit Hilfe von Viren intakte LAMB3-Gene in die Zellen einge- bracht. Die verpflanzten Hautstücke blieben mehr als ein Jahr lang intakt und gesund, womit der Nachweis erbracht war, dass der Therapieansatz die Erkrankung über längere Lederhaut Zeit hinweg zurückdrängen kann. Trotz dieses frühen Erfolgs kam De Lucas klinische Forschung fast zehn Jahre lang zum Erliegen, ausgebremst von der EU-Gesetzgebung hinsichtlich Zell- und Genthera­ UNIVERSITY OF CHICAGO WU LABORATORY, pien. »Laut den Vorschriften galten unsere Transplantate als Transplantiertes Hautgewebe einer Medizinprodukte und hatten denselben Regulierungspro- Maus unter dem Mikroskop. zess wie diese zu durchlaufen«, berichtet der Biomediziner. »Wir mussten alle Arbeiten stoppen, eine regelkonforme Produktionsanlage aufbauen und die Therapie registrieren hinreichend viele davon zu erzeugen, damit der plastische lassen. Erst 2015 konnten wir unsere Studien endlich fort- Chirurg Tobias Hirsch von der Ruhr-Universität Bochum den setzen.« Körper des Jungen mit ihnen bedecken konnte. Nach zwei größeren Operationen, in denen die Ärzte Fast die gesamte Oberhaut ersetzt Hassans Oberhaut an Rumpf und Extremitäten ersetzten, Für Hassan war das zum Glück gerade noch rechtzeitig. De und einigen kleineren Eingriffen waren etwa 80 Prozent der Luca und seine Kollegen entnahmen aus der Leistengegend Epidermis des Jungen ausgetauscht. Bis heute ist das eine des Jungen ein winziges Hautstück, kultivierten die daraus Rekord-OP hinsichtlich der Menge des transplantierten, gewonnenen epidermalen Stammzellen und schleusten genetisch modifizierten Gewebes. Als die Ergebnisse dieser mittels eines Virus eine intakte Version des Gens LAMB3 in Arbeit 2017 in »Nature« publiziert wurden (siehe Spektrum diese ein. Die nächste Herausforderung bestand darin, die Januar 2018, S. 9), waren Hassans blutige Wunden weitge- so veränderten Zellen zu Hautstückchen von jeweils etwa hend einer glatten und gesunden Haut gewichen. zwölf Quadratzentimeter Fläche heranzuzüchten – und Die Fachpublikation schildert nicht nur den klinischen Verlauf des Falls, sondern erklärt auch, warum die Behand- lung erfolgreich war. Haut besteht aus vielen verschiedenen Zelltypen, einige davon kurz-, andere langlebig. De Luca AUF EINEN BLICK und sein Team haben gezeigt, dass eine erfolgreiche Trans- ERFOLGSSTORY plantation mit anhaltender Wirkung nur gelingt, wenn es FÜR DIE GENTHERAPIE sich bei den gentechnisch veränderten Zellen um so ge- nannte Holoklone handelt – einen relativ seltenen Zelltyp, 2015 haben Mediziner einen Jungen, der an einer ange- der sich unbegrenzt erneuern kann. Indem sie die Bedin- 1 borenen Hautkrankheit mit schwersten Komplikationen gungen der Zellkultur sorgfältig regulierten, gelang es den litt, per Gentherapie behandelt – bis heute erfolgreich. Wissenschaftlern, solche Holoklone zu züchten und damit die Erfolgschancen der Transplantation zu erhöhen. Sie entnahmen dazu Zellen seiner Oberhaut, korrigier- »Drei Jahre nach der Therapie haben sich auf Hassans 2 ten einen genetischen Defekt darin, züchteten Hautge- verpflanzter Haut keine neuen Blasen gebildet, und wir webe aus den Zellen und verpflanzten es auf seinen hoffen, dass das lebenslang so bleibt«, sagt der Biomedizi- Körper. ner. »Zwar konnten wir nicht überall auf seinem Körper die Epidermis austauschen, weshalb es immer noch erkrankte Das Verfahren könnte gegen viele weitere Krankheiten 3 und Gesundheitsprobleme helfen, womöglich etwa Regionen gibt, und Gewebe wie die Mundschleimhaut gegen Diabetes oder Drogensucht. konnten wir ebenfalls nicht behandeln – doch selbst, wenn keine vollständige Heilung möglich war, sind doch vier Fünftel seiner Haut wieder intakt.«

40 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Andere Wissenschaftler arbeiten ebenfalls mit genetisch Untertypen können von Mutationen in einem von mindes- verändertem Hautgewebe. Der Krebsforscher Xiaoyang Wu tens 18 Genen verursacht werden und betreffen in den von der University of Chicago in Illinois beispielsweise USA etwa eines von 20 000 Neugeborenen. Indem er sich betreibt entsprechende Studien, freilich mit anderen Zielen auf junge Patienten fokussiert, die am meisten von einer als De Luca. 2017 konnten seine Mitarbeiter und er zeigen, frühen Behandlung profitieren, hofft De Luca, den größten dass gentechnisch modifizierte Hauttransplantate als Nutzen zu stiften. lebende Medikamentendepots dienen können, vergleichbar »Wenn wir diese Kinder so zeitig wie möglich behan- etwa den bekannten Nikotin- oder Hormonpflastern. deln, verhindern wir, dass Hautschäden überhaupt erst Mit der Genschere CRISPR-Cas9 fügten die Wissen- entstehen, statt sie später heilen zu müssen – und wir schaftler in das Erbgut epidermaler Stammzellen eine brauchen natürlich nicht so viel Hautgewebe für die Thera- Variante jenes Gens ein, das für das Hormon GLP1 codiert. pie zu züchten, da weniger Körperfläche abzudecken ist«, GLP1 reguliert den Blutzuckerspiegel und unterdrückt den betont der Biomediziner. »Hätte man mich vor 30 Jahren Appetit. Die Genversion, die Wu und sein Team einschleus- gefragt, ob es möglich sei, die gesamte Oberhaut mit ten, ließ sich durch eine Gabe des Antibiotikums Doxycyclin gezüchteter, genetisch veränderter Epidermis zu ersetzen, aktivieren. Aus den so veränderten Stammzellen züchteten hätte ich mit Nein geantwortet. Jetzt aber haben wir es die Forscher kleine Hautstücke und verpflanzten sie auf den getan. Mein Wunsch ist es, dass diese Gentherapie zu Rücken von Labormäusen. Verabreichten sie den Tieren einer echten Behandlungsoption für betroffene Kinder später das Antibiotikum, schütteten die transplantierten avanciert – nicht nur in Form einer klinischen Studie oder Hautstücke GLP1 ins Blut aus – was bei Nagern, die fett- eines Machbarkeitsnachweises, sondern als etablierte reich ernährt wurden, sowohl die Gewichtszunahme ver- Therapiemethode für alle, die sie benötigen.« langsamte als auch einen Diabetes verhinderte.

Turbostoffwechsel entfernt Droge sehr schnell Mit der gleichen Technik hat Wus Arbeitsgruppe zudem Mehr Wissen auf Hautstücke hergestellt, die eine verbesserte Version des Spektrum.de Kokain abbauenden Enzyms BChE erzeugen. Dabei bringen Unser Online-Dossier zum Thema sie Genmaterial in die Zellen ein, das für ein Protein codiert, finden Sie unter welches die Droge mehr als 4000-mal schneller verstoff- spektrum.de/t/gentherapie wechselt als die natürliche Form des Enzyms. Es sollte GERNOT KRAUTBERGER / FOTOLIA Kokain daher sehr schnell aus dem Körper entfernen und das »High«-Gefühl rasch stoppen. Verpflanzt auf Mäuse, verhinderten entsprechende Mehr als drei Jahre nach der Rekordtransplantation Gewebepräparate, dass die Tiere kokainabhängig wurden, seiner Oberhaut ist Hassan der lebende Beweis dafür, dass und unterbanden die Symptome einer Überdosis. Das dieser Wunsch nicht unrealistisch ist. Der Junge besucht scheint ein viel versprechender Ansatz für die Behandlung das Team an der Universität Modena und Reggio Emilia von Drogenabhängigen zu sein. Wus Team forscht zudem regelmäßig für Kontrolluntersuchungen. »Damals im über künstliche Transplantate, die als Langzeitbiosensoren Krankenhaus wog er nur 17 Kilo und lag im Sterben; heute dienen. Sie könnten beispielsweise modifizierte Zellen sehen wir ihn heranwachsen«, sagt De Luca stolz. »Jedes enthalten, die als Reaktion auf den Blutzuckerspiegel ihre Mal, wenn er vorbeikommt, gibt es ein großes Fest, und Farbe oder Fluoreszenzeigenschaften ändern. alle möchten ihn umarmen.«  »Viele Wissenschaftler auf dem Feld der Gentherapie konzentrieren sich auf innere Organe wie die Leber, aber die QUELLEN Haut ist ein viel besserer Angriffspunkt – wir können ihre Hirsch, T. et al: Regeneration of the entire human epidermis Zellen unbegrenzt kultivieren und sie außerhalb des Körpers using transgenic stem cells. Nature 551, 2017 verändern«, zeigt sich Wu überzeugt. »Wir können auch Li, Y. et al.: Genome-edited skin epidermal stem cells protect sehr sorgfältig auswählen, aus welchen Zellen das Trans- mice from cocaine-seeking behaviour and cocaine overdose. plantat bestehen soll, und so unerwünschte Nebeneffekte Nature Biomedicine England 3, 2019 oder fehlerhaft eingebrachte Mutationen vermeiden.« Mavilio, F. et al.: Correction of junctional epidermolysis Studien an Menschen werden allerdings noch ein paar bullosa by transplantation of genetically modified epidermal Jahre auf sich warten lassen. »Aktuell sind wir dabei, die stem cells. Nature Medicine 12, 2006 grundsätzliche Machbarkeit nachzuweisen«, sagt Wu. Yue, J. et al.: Engineered epidermal progenitor cells can »Sobald die Technik stärker etabliert ist und wir das Verfah- correct diet-induced obesity and diabetes. Cell Stem Cell 21, ren sicher im Griff haben, können wir über klinische Tests 2017 nachdenken, aber nicht vorher.« De Luca führt derweil zwei klinische Studien mit Patien- ten durch, die an verschiedenen Formen der EBJ leiden. Längerfristig hat er vor, seinen Behandlungsansatz auf © Springer Nature Limited weitere Hauterkrankungen aus dem Spektrum der Epider- www.nature.com molysis bullosa hereditaria auszudehnen. Deren diverse Nature 564, S. 14–15, 2018

Spektrum der Wissenschaft 8.19 41 IMMUNOLOGIE ANLEITUNG ZUM SELBSTSCHUTZ Manche Gentherapien könnten menschliche Zellen in ­Produktionsstätten für maßgeschneiderte Proteine verwandeln. Mit dieser Technik werden die teuren ­Nachteile von Antikörpertherapien vermieden.

Wenn man die Bauanleitung für Antikörper gegen Krankheitserreger ins Erbgut von Körperzellen ein- schleust, können diese auch ohne vorherige Immunreaktion die

Abwehrmoleküle herstellen. TEKA77 / GETTY IMAGES ISTOCK

42 Spektrum der Wissenschaft 8.19 auch für die Behandlung nichtinfektiöser Erkrankungen wie Amanda Keener ist Reporterin bei Krebs erscheint das Konzept viel versprechend. »Wo immer »National Geographic«. Zuvor sich die Gabe von Antikörpern als wirksam erwiesen hat, arbeitete sie als Redakteurin für sollte auch ein Antikörper-Gentransfer etwas ausrichten«, »Scientific American«. zeigt sich Padte überzeugt.  spektrum.de/artikel/1654758 Selbstverständlich müssen die Mediziner für diese Methode nachweisen, dass sie sicher, verträglich und effizient ist – genau wie bei anderen Gentherapien. Darüber hinaus gibt es jedoch noch weitere Hürden. So erfordert Weltweit treten Infektionskrankheiten zunehmend das Verfahren, dass Körperzellen, die normalerweise keine häufig auf: Zwischen 1980 und 2010 hat sich die Zahl Antikörper bilden, diese nach dem Eingriff in genügend der dokumentierten Ausbrüche alle fünf Jahre mehr als großen Mengen produzieren. »Wir wissen, dass das im verdreifacht. Nach unerwartet heftigen Epidemien des Tierversuch bei Mäusen klappt – und zwar sehr verlässlich«, Ebola- und Zikafiebers suchen Wissenschaftler nun ver- sagt Kevin Hollevoet, Immunologe an der Katholischen Uni- stärkt nach schnelleren und billigeren Methoden, um gegen versität Löwen in Belgien. Die große Frage sei nun, ob der Krankheitserreger vorzugehen, über die noch recht wenig Antikörper-Gentransfer auch beim Menschen funktioniere. bekannt ist. Dazu gehören künstlich hergestellte Antikör- David Weiner, Direktor am Vaccine & Immunotherapy per – Proteine, die sich im Körper einer infizierten Person Center des Wistar Institute in Philadelphia (Pennsylvania), direkt an Viren oder Bakterien binden und das Immunsys- entwickelt und optimiert DNA-Impfungen seit fast 30 tem dazu bringen, diese Erreger auszuschalten. Sie können Jahren. Um das Jahr 2010 herum erkannte er, dass seine zudem Personen, die bestimmten Krankheitserregern Arbeiten aber ebenso ein ganz anderes Gebiet betreffen. unvermeidlich ausgesetzt sind (etwa medizinisches Perso- Seine Tochter, damals ein Teenager, erkrankte an dem nal), vor einer Ansteckung schützen. chronisch-entzündlichen Darmleiden Morbus Crohn, und Antikörper künstlich zu produzieren, ist jedoch teuer. die einzige Therapie, die ihr half, war die Gabe eines Außerdem müssen die Moleküle anschließend kühl gela- ­monoklonalen Antikörpers mehrmals pro Monat. Weiner gert sowie den Patienten oft mehrmals verabreicht werden, beschäftigte sich nun intensiv mit Antikörpertherapien, bei um hinreichend stark zu wirken. Hinzu kommt der Zeit­ denen die Ärzte beispielsweise entzündungshemmende aufwand: Die Zellen heranzuzüchten, die das gewünschte Substanzen wie Adalimumab oder Immuncheckpoint-­ Protein produzieren, die Moleküle dann zu reinigen und vor Inhibitoren wie Pembrolizumab (siehe Spektrum Oktober dem Einsatz zu testen, all das nimmt oft ein bis zwei Jahre 2016, S. 32) verabreichen. »Antikörper gehören derzeit zu in Anspruch. »Eine beginnende Epidemie lässt sich nur den wichtigsten Themen in der Biotechnologie«, betont während eines kurzen Zeitfensters stoppen – daher wirft es der Wissenschaftler. Probleme auf, dass die Herstellung von Antikörpern so Medikamente auf ihrer Basis sind allerdings extrem lange dauert«, sagt Neal Padte, Geschäftsführer des Bio- teuer. Jährliche Behandlungskosten von bis zu 100 000 technologieunternehmens RenBio in New York City. Dollar machen sie für den größten Teil der Weltbevölkerung unerschwinglich. Weiner glaubt, dass der Antikörper-­ Ein Konzept ähnlich der DNA-Impfung Gentransfer wesentlich mehr Menschen den Zugang dazu Padte gehört einer wachsenden Gruppe von Forschern an, ermöglichen könnte. Denn DNA herzustellen, kostet er­ die solche aufwändigen und teuren Produktionsschritte heblich weniger, als Antikörper zu produzieren. Bei DNA-­ umgehen möchten, indem sie dem Organismus die geneti- sche Information bereitstellen, um die Antikörper selbst zu erzeugen. Das lässt sich erreichen, indem man DNA-­ Sequenzen, die für den jeweiligen Antikörper codieren, in AUF EINEN BLICK Körperzellen einbringt – eine Technik namens Antikörper- DER MENSCH Gentransfer. Sie ähnelt vom Konzept her der DNA-Impfung, ALS ANTIKÖRPERFABRIK die den genetischen Bauplan für Impfstoffproteine in die Zellen einschleust. Die beiden Methoden unterscheiden Viele Krankheiten lassen sich wirksam behandeln, sich allerdings in einem wichtigen Punkt: DNA-Impfstoffe 1 indem man den Patienten Antikörper verabreicht. veranlassen den Organismus dazu, körperfremde Proteine Deren Herstellung ist allerdings teuer. herzustellen, die dann ihrerseits eine Immunreaktion ein- schließlich Antikörperproduktion auslösen. Der Antikörper- Statt die Antikörper als fertige Moleküle anzuwenden, Gentransfer hingegen bewirkt auf direktem Weg, dass die 2 ist es auch möglich, ihre genetische Bauanleitung in Körperzellen solche Abwehrmoleküle synthetisieren – ohne Körperzellen einschleusen. Der Organismus stellt sie dann selbst her. vorherige Immunreaktion. Gestützt auf die Erfahrungen mit DNA-Impfstoffen und Dieser »Antikörper-Gentransfer« könnte billiger und Gentherapien bringen Wissenschaftler derzeit klinische 3 flexibler sein als herkömmliche Antikörperbehandlun- Studien auf den Weg, in denen sie medizinische Anwen- gen. Erste klinische Studien dazu sind auf dem Weg. dungen des Antikörper-Gentransfers testen möchten. Dabei sollen Infektionskrankheiten nur der erste Schritt sein. Denn

Spektrum der Wissenschaft 8.19 43 basierten Behandlungen sind zudem weniger Gaben des Am US National Institute of Allergy and Infectious Disea- Arzneistoffs erforderlich, weil die Nukleinsäure im Optimal- ses in Bethesda (Maryland) laufen bereits entsprechende fall wochen- bis monatelang im Zellkern überdauert und die Tests. Forscher verabreichen hier ein Gen, das für einen Zelle die ganze Zeit über Antikörper produziert. HIV-Antikörper codiert, den Balazs und seine Kollegen Seit dem Jahr 2013 entwickelt das von Weiner mitge- schon seit mehr als einem Jahrzehnt untersuchen. Die gründete Unternehmen Inovio Pharmaceuticals in Plymouth Studie geht der Frage nach, wie sicher dieses Therapiever- Meeting (Pennsylvania) gemeinsam mit seinem Team am fahren bei HIV-infizierten Personen ist und ob deren Orga- Wistar Institute verschiedene therapeutische Gene, die für nismus die genetische Information tatsächlich nutzt, um die Antikörper codieren. Den Anfang dabei machten Proteine, gewünschten Antikörper zu synthetisieren. Eine separate die sich gegen die viralen Erreger des Chikungunya- und Studie der International AIDS Vaccine Initiative in New York des Denguefiebers richteten. Mittlerweile haben die For- City prüft an gesunden männlichen Teilnehmern die Sicher- scher ihr Spektrum erweitert und arbeiten nun auch an heit eines weiteren Gentransfers, bei dem der Bauplan für Antikörper-Gentransfer-Methoden gegen bakterielle Erreger einen HIV-neutralisierenden Antikörper übertragen wird. Die Ergebnisse beider Studien sollten zeigen, wie gut dieser Behandlungsansatz beim Menschen funktioniert. Es gibt viele Möglichkeiten, um Erbmaterial in Zellen Mehr Wissen auf einzuschleusen. Forscher haben bislang nur wenige davon beim Menschen angewendet. In den Studien, die den Spektrum.de Transfer von HIV-Antikörper-Genen testen, dient ein Adeno- Unser Online-Dossier zum Thema assoziiertes Virus (AAV) als Genfähre. In das Muskelgewe- finden Sie unter be der Patienten gespritzt, soll es das gewünschte Erbmate- spektrum.de/t/crispr ISTOCK / DRA_SCHWARTZ rial in den Körperzellen abladen. AAV sind ein beliebtes Werkzeug der Gentherapie (siehe Spektrum Juli 2019, S. 20). Zu den Wissenschaftlern, die damit arbeiten, gehört Ronald von Lungenentzündungen, die antibiotikaresistent sind, Crystal, der sich an der Forschungseinrichtung Weill Cornell sowie gegen zwei Proteine, die in Prostatatumoren ver- Medicine in New York City mit Gentherapien befasst. Sein mehrt vorkommen. Aktuell versuchen sie das Verfahren so Team und er nutzen AAV, um in das Gehirn demenzkranker zu modifizieren, dass sich damit Ebolavirus-Infektionen Mäuse den Bauplan für einen Antikörper einzubringen, der bekämpfen lassen – wobei sie sich auf Antikörper stützen, sich gegen das Tau-Protein richtet. Dieses spielt bei der die aus dem Blut von Überlebenden stammen. Alzheimerkrankheit eine wichtige Rolle. Inovio Pharmaceuticals ist nicht das einzige Unterneh- Doch virale Fähren wie AAV für den Antikörper-Gen- men, das solche Therapien entwickelt. Mehreren Forscher- transfer einzusetzen, hat auch Nachteile. Die infektiösen gruppen ist es per Antikörper-Gentransfer gelungen, Mäuse Partikel lösen nämlich eine Immunreaktion aus, die den vor Infektionen zu schützen und das Immunsystem der Erfolg der Therapie vereiteln kann. Und weil Viren in Zellkul- Tiere dazu anzuregen, Tumoren zu attackieren. Ein inter­ turen vermehrt werden müssen, ist ihre Produktion oft nationales Team, zu dem Padte gehörte, hat in Körperzellen zeitaufwändig und teuer. Transfermethoden, die ohne Viren von Mäusen Gene eingeschleust, die für Antikörper gegen auskommen, könnten diese Probleme umgehen. Ein sol- Ebolaviren beziehungsweise gegen Grippeviren codierten. ches Verfahren ist die Elektroporation, auch Elektropermea- Die so behandelten Nager waren immun gegen Ebola und tion genannt, bei der mit Hilfe elektrischer Felder eine Grippe. große Potenzialdifferenz über der Zellmembran erzeugt wird, die einen vorübergehenden Zusammenbruch der Schutz vor Aids – mit Antikörpern, Membranstruktur bewirkt. Durch die kurzzeitig entstehen- die mehrere HIV-Stämme neutralisieren den Löcher kann das Erbmaterial ins Zellinnere gelangen. Der neue Therapieansatz ist auch im Hinblick auf HIV-Infek- Das im britischen Oxford ansässige Unternehmen tionen von großem Interesse. Eine Untergruppe der Infizier- ­Scancell entwickelt Krebsimmuntherapien und hat die ten (etwa jeder dritte) produziert Antikörper, die mehrere Elektroporation angewendet, um ein Gen in menschliche HIV-Stämme neutralisieren. Das könnte auf genetische T-Lymphozyten einzuschleusen, das die Bauanleitung für Unterschiede zwischen den Patienten zurückzuführen sein, einen künstlich designten Antikörper enthält. Dieser bringt hängt aber möglicherweise ebenso von dem Erregerstamm die Lymphozyten dazu, Melanome (bösartige Tumoren der ab, der den Organismus jeweils befällt. »Mit Hilfe des Pigmentzellen, als schwarzer Hautkrebs bezeichnet) anzu- Antikörper-Gentransfers können wir die genetischen Bau­ greifen. Im Jahr 2017 berichtete das Unternehmen, das anleitungen nachweislich wirksamer Antikörper sehr vielen Verfahren habe sich in Tests als sicher erwiesen und entfa- Patienten zur Verfügung stellen – auch jenen, deren Orga- che eine Immunreaktion gegen den Krebs. nismus diese Moleküle nicht selbst herstellt«, sagt Alejan­ Andere Arbeitsgruppen schleusen nicht DNA, sondern dro Balazs, der am Ragon Institute (Cambridge, Massachu- Boten-RNA in die Zielzellen ein. Dabei handelt es sich um setts) über HIV-Immunität forscht. »Mit einem solchen die Abschrift der genetischen Information, die in der DNA Ansatz würden wir die individuelle Immunreaktion gegen gespeichert ist. Boten-RNA (»mRNA«), übermittelt diese das Virus verstärken und weniger vom Zufall abhängig Information an Proteinfabriken außerhalb des Zellkerns, die machen.« dann entsprechende Eiweiße herstellen. Aus bisher unbe-

44 Spektrum der Wissenschaft 8.19 kannten Gründen nehmen Muskelzellen unter bestimmten unklar, ob die Therapieansätze, die bei Mäusen funk­tioniert Bedingungen mRNA-Moleküle auf, ohne dass hierfür eine haben, sich auf den Menschen übertragen lassen. »Die Elektroporation erforderlich ist. Das macht das Verfahren Genfähren, die der Arzt in das Muskelgewebe injiziert, als Transfermethode interessant. wirken lediglich innerhalb eines begrenzten Volumens: Nur 2017 brachten Forscher um Drew Weissman von der dort bringen sie ihre Fracht in Körperzellen ein, die dann University of Pennsylvania mRNA in Labormäuse ein, die den gesamten Organismus mit Antikörpern versorgen für einen HIV-neutralisierenden Antikörper codiert. Dies müssen«, gibt Kevin Hollevoet zu bedenken. Er führt Unter- schützte die Tiere vor einer HIV-Infektion. Das biopharma- suchungen an Schafen durch, um bei diesen größeren zeutische Unternehmen CureVac in Tübingen wiederum hat Tieren besser vergleichbare Werte dafür zu bekommen, über erfolgreiche Versuche mit Boten-RNAs berichtet, die welche Mengen an Antikörperproteinen der menschliche Baupläne für Antikörper gegen Grippe- und Tollwutviren Körper produzieren kann. enthielten: Mäuse, die damit behandelt wurden, produzier- Von jenen Antikörpern, die bisher ausschließlich bei ten die Moleküle und entwickelten einen Schutz vor Infek­ Tieren getestet wurden, ist nicht bekannt, wie hoch ihre tionen. Eine weitere mRNA mit der Bauanleitung für den Konzentration im menschlichen Blut sein muss, um eine monoklonalen Antikörper Rituximab, den Ärzte gegen Erkrankung erfolgreich zu behandeln. »Deshalb sind diese Krebserkrankungen des Lymphsystems einsetzen, bewahr- ersten klinischen Studien so wichtig«, betont Balazs. »Wir te Mäuse davor, an einem solchen Tumorleiden zu sterben. lernen dabei, eine wirksame Antikörperproduktion in Gang Und Wissenschaftler der Firma BioNTech in Mainz experi- zu bringen.« Anschließend könnten sich die Forscher mit mentieren mit Boten-RNA für T-Lymphozyten aktivierende den nächsten Schritten befassen, etwa mit der Entwicklung Antikörper zur Immuntherapie von Krebserkrankungen. passender Ausschalter. 

Ausschalter für die Gentherapie Während manche Mediziner nun in klinischen Studien QUELLEN testen, ob ein bestimmter Antikörper-Gentransfer gegen Andrews, C. D. et al.: In vivo production of monoclonal antibo- Infektionskrankheiten oder Krebsleiden hilft, überlegen dies by gene transfer via electroporation protects against lethal andere, ob die Technik sich auch gegen chronische Erkran- Influenza and Ebola infections. Molecular Therapy – Methods & kungen wie rheumatoide Arthritis einsetzen lässt. Das ist Clinical Developments 7, 2017 freilich eine größere Herausforderung, da bei Patienten mit Liu, W. et al.: Vectored intracerebral immunization with the entsprechenden Leiden oft verschiedene monoklonale Anti-Tau monoclonal antibody PHF1 markedly reduces Tau Antikörper getestet werden müssen, um einen hinreichend pathology in mutant Tau transgenic mice. The Journal of Neu- wirksamen zu finden. Ein Gentransfer, durch den der Orga- roscience 36, 2016 nismus monate- oder jahrelang die gleiche Molekülsorte Pardi, N. et al.: Administration of nucleoside-modified mRNA herstellt, wie dies beim Einsatz von AAV der Fall ist, würde encoding broadly neutralizing antibody protects humanized einen solchen Wechsel erschweren. »Es besteht dabei die mice from HIV-1 challenge. Nature Communications 8, 2017 Gefahr, dass sich die Antikörperproduktion nicht abschalten lässt«, sagt Crystal. Alejandro Balazs und andere Forscher entwickeln daher © Springer Nature Limited »Ausschalter« etwa in Form von entgegengerichteten www.nature.com Gentherapien oder speziellen Arzneistoffen. Vorerst bleibt Nature 564, S. 16–17, 2018

WAS IST LOS IN DER WELT DER WISSENSCHAFT?

Die Antwort hören Sie in den Spektrum-Podcasts. Jetzt neu mit ausführlichen Beiträgen unserer Redakteure. Spektrum.de/podcast UNSPLASH / BARRETT WARD (https://unsplash.com/photos/0lMpQaXfOCg) SUPERVULKAN INFERNO AUS DER TIEFE

Unter Chile könnte sich etwas Verheerendes zusammen­ brauen: ein Supervulkan, der mit seinem kühlen Innen­ leben alle bisherigen Erkenntnisse über die Triebfedern gewaltiger Eruptionen auf den Kopf stellt.

Eine Ehrfurcht gebietende Landschaft offenbart die Shannon Hall hat sich als Wissen- bewegte Geschichte der Vulkanregion um die Laguna schaftsjournalistin auf die Gebiete del Maule in Chile. Etwa 50 Lavaströme, von denen Astronomie, Geologie und Umwelt sich einzelne über zig Quadratkilometer hinweg in der spezialisiert. Sie lebt in den Rocky Mountains und wurde 2018 mit nackten Landschaft erstrecken, und 70 gigantische Felder dem David Perlman Award für ihre mit Ascheablagerungen umringen dort einen 54 Quadratki- Arbeit ausgezeichnet. lometer großen, eisblauen See. Nur vom Hubschrauber aus lassen sich die gewaltigen Ausmaße des Vulkanfelds wirk-  spektrum.de/artikel/1654760 lich erfassen, sagt der amerikanische Geologe Brad Singer, der seit 20 Jahren in diesem Gebiet forscht. Dann wird deutlich, dass sich an der Laguna del Maule die weltgröß-

46 Spektrum der Wissenschaft 8.19 ANGIE DIEFENBACH, USGS ANGIE DIEFENBACH, A N D

E N CHILE Laguna del Maule

ARGENTINIEN MAPPING SPECIALISTS / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2018 MAPPING SPECIALISTS / SCIENTIFIC AMERICAN

Die Laguna del Maule in Chile ist von bräunlich anmutenden Rhyolithfeldern (Mitte) umgeben. Sie zeugen von früheren Vulkan­ ausbrüchen.

ten Vorkommen von jungem Rhyolith befinden, einem wie der Mount St. Helens im US-Bundesstaat Washington Gestein, das in seiner flüssigen, magmatischen Form be- bei seinem verheerenden Ausbruch 1980 ausspuckte. sonders explosiv und gefährlich ist. Karten der unterirdischen Magmakammer der Laguna del Geologen halten die Ablagerungen für das Werk von 25 Maule zeigen, dass deren Größe bereits jetzt ausreicht, um bis 30 verschiedenen Vulkanen, die in den vergangenen eine solche Menge an Material freizusetzen – falls der 20 000 Jahren ausgebrochen sind. Diese Vorgeschichte Vulkan alles auf einmal in die Luft schleudert. Und selbst erinnert auf unheilvolle Weise an die Long Valley Caldera in wenn sich das System in einer Serie kleinerer Ausbrüche Kalifornien: Dort riss, zusätzlich zu einer ganz gewöhnlichen abreagieren sollte, sieht es verdächtig nach den Riesen aus, Explosionsserie, ein einzelner, gigantischer Vulkan vor etwa die vor unserer Zeit aktiv waren. 765 000 Jahren ein 500 Quadratkilometer großes Loch in Anders als die anderen bekannten Supervulkane entwi- die Landschaft. Darüber hinaus beobachten Wissenschaft- ckelt sich dieser neue Kandidat direkt vor unseren Augen. ler seit etwa zehn Jahren, dass sich der Boden unter der Alles, was Geologen über Megavulkane wissen, haben sie Laguna del Maule verdächtig aufwölbt. Der Schluss der sich bis heute aus alten Gesteinen und Ascheablagerungen Experten: In der Region könnte der nächste Supervulkan sowie anderen Folgeerscheinungen erschlossen – forensi- der Erde heranwachsen. sche Arbeit, die es ihnen ermöglicht, verschiedene Aspekte Supervulkanen wohnen mit die zerstörerischsten Kräfte der Explosionen zu rekonstruieren. Doch die Laguna del auf unserem Planeten inne. Bei einer einzigen Eruption Maule erwacht genau jetzt und ermöglicht es damit erst- schleudern sie mindestens 1000 Kubikkilometer Lava und mals, »live« zu beobachten, was bei solchen Katastrophen Asche in die Luft. Das ist 2500-mal so viel Gesteinsmaterial, vor sich geht.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 47 ANGIE DIEFENBACH, USGS ANGIE DIEFENBACH, Dieser neue Blick aus nächster Nähe, kombiniert mit auf, wenn sich die Bodenhöhe ändert. Allerdings beobachtet Befunden älterer Supervulkane, hat die Wissenschaftlerin- man sie in der Regel an der Spitze eines einzelnen, bekann- nen und Wissenschaftler schon zu einem überraschenden ten Vulkans. Hier jedoch erstreckte sich das Muster über Schluss geführt: So be­herbergen die gewaltigen unterirdi- eine 400 Quadratkilometer große Region mit Bergen und schen Magmakammern, aus denen sich die Feuerriesen Ebenen. Etwas Seltsames ging vor sich. Pritchard begutach- speisen, nicht etwa eine glühende Gesteinsschmelze, wie tete ältere Bilder und stellte fest, dass sich der Boden seit früher angenommen. Vielmehr ist die Masse dort ver- einem Zeitpunkt zwischen 2004 und 2007 um 20 Zentimeter gleichsweise weniger heiß, oft sogar fest. Diese Erkenntnis pro Jahr anhebt. Das ist weltweit die größte Hebungsrate stellt Vulkanologen vor ein Rätsel: Denn damit eine Eruption überhaupt – etwa zehnmal so groß wie diejenige im Yel- stattfinden kann, muss festes Magma schmelzen und rasch lowstone-Nationalpark, wo sich der Boden in den vergange- aufsteigen, binnen Jahrzehnten. Daher versuchen sie nen Jahren mehrmals begonnen hat aufzuwölben, aber herauszufinden, wie dieser rapide Temperatur­anstieg immer wieder zum Stillstand gekommen ist. vonstattengeht, um so die heftigsten bislang erfolgten Die Bodendeformation an der Laguna del Maule hat Eruptionen auf der Erde zu erklären. angesichts der dortigen Eruptionsgeschichte in den letzten Welche Kräfte solche Ereignisse freigesetzt haben, ist Jahren eine Reihe von Expeditionen angelockt. Die Wissen- schwer vorstellbar. Ein gigantischer Vulkan brach beispiels- schaftler wollten feststellen, ob in dem Gebiet tatsächlich weise vor 631 000 Jahren im heutigen Yellowstone-Natio- ein Ausbruch kurz bevorsteht und wie heftig dieser wohl nalpark in den Vereinigten Staaten aus. Er schleuderte sein könnte. 2013 startete Brad Singer ein fünfjähriges For­ glühende Aschewolken, giftige Gase und Ströme flüssigen schungs ­projekt, um den früheren und den gegenwärtigen Gesteins in die Luft, die sich über die Landschaft wälzten Zustand des Systems zu untersuchen. In Zusammenarbeit und alles unter sich begruben. Die Eruptionen füllten ganze mit der chilenischen Geologie- und Bergbaubehörde brach- Täler mit heißem, schwerem Material, das Gesteinsschich- ten der Forscher und seine Kollegen etwa 50 Messstationen ten bildete, die heute noch bis zu 200 Meter dick sind. am Boden an, ver­maßen vom Hubschrauber aus den See- Anschließend verdunkelte Asche den Himmel. Sie regnete grund mit Laserscannern und nahmen Proben alter Gesteine, auf einen breiten Streifen Nordamerikas herab und hinter- die sie später im Labor analysierten. ließ Ablagerungen innerhalb eines Dreiecks, das von der heutigen US-Grenze zu Kanada bis hinunter nach Kaliforni- Unter der Laguna del Maule lagern 450 Kubikkilometer en und hinüber zum Golf von Mexiko reicht. Andere Super- hochexplosives Magma vulkane stießen bisweilen sogar so viel Asche aus, dass Unter dem Erdboden braut sich einiges zusammen, wie die nach Meinung der Wissenschaftler kaum noch Sonnenlicht Datenlage zeigte. »Ich möchte keine Panik verbreiten, doch zur Erde durchdringen konnte und der Planet in einen es gibt Anzeichen für eine vermehrte Ansammlung von vulkanischen Winter versank. Magma unter der Laguna del Maule«, berichtet Judith Fier- Und heute? 2008 bemerkte der Geophysiker Matthew stein, Geologin am California Vulcano Observatory des Pritchard von der Cornell University in Ithaca im Bundes- Geologischen Dienstes der USA (USGS) in Menlo Park. Die staat New York beim Durchsehen von Satellitendaten ein Wissenschaftlerin hat die unterirdischen Strukturen mit ungewöhnliches Signal, das von den chilenischen Anden seismischen Methoden analysiert, die elektrische Leitfähig- ausging. Die Daten auf seinem Computerbildschirm zeigten keit untersucht sowie gravimetrische Messungen vorge­ ein Ringmuster, das an ein psychedelisch gemustertes nommen und somit bestimmt, welche Gesteinstypen unter Bullauge erinnert. Solche »Aureolen« treten typischerweise dem riesigen Gebiet lagern. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Region auf einem 450 Kubikkilometer großen Reservoir aus hoch­explosivem rhyolithischem Magma sitzt. Wenn dieses auf einen Schlag ausgeworfen wird, kann es AUF EINEN BLICK sich in 1000 Kubikkilometer Asche, Vulkangestein und Lava SCHLAFENDE UNGEHEUER verwandeln. Ab einer solchen Menge kann man von einem Supervulkan sprechen, so Singer. Supervulkane können durch ihre Explosionen das Er- Auch wenn nicht das gesamte Magma auf einen Schlag 1 scheinungsbild ganzer Kontinente verändern. Seit Be- herausgeschleudert wird, stellt es eine Bedrohung dar. Ein ginn der Menschheit gab es keinen solchen Ausbruch. Zehntel dieses Volumens würde bereits zu einer Explosion führen, die diejenige des indonesischen Vulkans Krakatau Überraschenderweise beginnen solche gigantischen um das Doppelte übertreffen würde. Als dieser 1883 aus- 2 Ausbrüche nicht mit glutflüssigem Magma, sondern brach, fielen ihm 36 000 Menschen zum Opfer. Dabei handelt mit nahezu festem Gestein. Wissenschaftler erkunden, es sich bei ihm noch gar nicht um einen Supervulkan. wie dieses in kurzer Zeit mobilisiert wird. Während ein Teil der Wissenschaftler die Größe der Laguna del Maule vermaß, interessierten sich andere mehr An der Laguna del Maule, einem Bergsee in den An- für deren Temperatur. Aus klassischer Sicht handelt es sich 3 den, braut sich ein riesiger Vulkankomplex zusammen. Sein Magmareservoir ist bereits jetzt groß genug für bei dem unter aktiven Vulkanen angesammelten Magma um einen Supervulkan. eine brodelnde Flüssigkeit, die irgendwann zur Erdoberfläche aufsteigt, ähnlich wie ein Klumpen in einer Lavalampe. 2014 aber machten Adam Kent von der Oregon State University

48 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Kaltstart für Supervulkane

Die größten Vulkane der Erde speisen sich nicht aus ständig brodelnden Magmakesseln. Nach neuen Erkennt- nissen besitzen sie vielmehr ein relativ kaltes Innenleben aus nahezu festem Gestein. Wissenschaftler postulie- ren zwei Mechanismen, wie dieses sich binnen Kurzem so stark erhitzen kann, dass es zur Explosion kommt.

Aufsteigender Manteldiapir Zerberstende Blasen

Einige Supervulkane, etwa derjenige unter dem Yellowstone- Vulkankomplexe wie die Laguna del Maule in Chile 1 Park im Westen der USA, sitzen über einem Diapir aus 1 liegen über zwei kollidierenden Krustenplatten, die aufsteigendem Magma. Näher an der Oberfläche befindet tief im Erdinnern heißes Magma erzeugen. Darüber sich ein kühleres Reservoir aus vorwiegend kristallinem liegt ein Reservoir aus kaltem Kristallbrei mit einer und zu einem kleineren Teil glutflüssigem Magma. klebrigen Gesteinsschmelze aus Rhyolith.

kühles Magma- reservoir kühles Magma- geschmolzenes reservoir Magma

subduzierte Ozeanplatte Manteldiapir

vorwiegend glutflüssiges Magma Brei (95 % kristallin, 5 % flüssiger Rhyolith) vorwiegend kristallines Gestein

Gesteinsschmelze aus dem Manteldiapir strömt im Lauf von Wenn flüssiges Magma mit dem Reservoir in Kontakt 2 Jahrtausenden allmählich nach oben, kommt in Kontakt mit 2 kommt, schmelzen die dortigen Kristalle durch die Hitze. der kleineren Kammer nahe der Oberfläche und erhitzt diese. Während die Schmelze in der Kammer steigt, entweichen Wasserdampfblasen und drängen nach oben. Binnen Jahrzehnten können Hitze und aufsteigende Blasen den flüssigen Rhyolith nach oben und herausdrücken, wodurch es zu kleineren Eruptionen kommt.

nach oben quellender Rhyolith

eindringendes Magma

Die erhitzten Kristalle schmelzen rasch, möglicherweise 3 binnen Jahrzehnten, und bilden eine explosive Masse, die in Hitze (rot) und aufsteigende einer gigantischen Eruption an die Oberfläche schießt. Blasen (blau)

Die Blasen sammeln sich an der Spitze des Reservoirs 3 und drängen noch mehr Rhyolith in die Gesteinsporen. Gelangt die Schmelze dicht unter die Oberfläche, dehnen sich die Blasen durch den Druckabfall rasch aus. Heftige Eruptionen, unter Umständen in supervul- kanischen Größenordnungen, können die Folge sein.

50 % Gesteins- schmelze EMILY COOPER / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT COOPER / SCIENTIFIC AMERICAN EMILY

49 und Kari Cooper von der University of California in Davis den haben. Dort hatten die Kristalle ebenfalls den größten eine überraschende Entdeckung, die viele Fachleute um­ Teil der Zeit in eher kaltem, festem Magma gelegen, wie denken ließ. Demnach könnten manche Vulkane von ver- die Wissenschaftler herausfanden. Ende 2017 schließlich gleichsweise kühler Natur sein. ana ­lysierte Singer mit seinem Team die vulkanischen Abla- Kent und Cooper untersuchten winzige Kristalle aus gerungen der Supereruption im Long Valley in Kalifornien Ablagerungen des Vulkans Mount Hood in Oregon. Bevor und kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Und auch die Mag- diese Strukturen an die Erdoberfläche gelangten, waren sie makammer von Yellowstone enthält einen relativ kühlen in der darunterliegenden Magmakammer herangewachsen. Kristallbrei. Dabei hatte sich eine Schicht nach der anderen gebildet, Obwohl Kent und Cooper Hinweise auf etwas höhere ähnlich wie bei Baumringen. Die einzelnen Lagen dokumen- Temperaturen des Magmas in ein paar älteren Vulkangebie- tieren die Entwicklung des Magmas, etwa Veränderungen ten in Nord- und Südamerika fanden, scheinen Supervulka- der chemischen Zusammensetzung, des Drucks und der ne bis kurz vor ihrer Eruption im Allgemeinen eher niedrige- Temperatur. Aus den Kristallen von Mount Hood war abzu- re Temperaturen zu besitzen. Wie Coopers Arbeiten in lesen, dass die Temperatur des Magmas fast die gesamte Taupo ergaben, verflüssigten sich die dortigen Systeme erst Zeit über zu niedrig für eine Eruption gewesen war. Es 40 Jahre vor dem Ausbruch. Im Long Valley fand die Mobili- handelte sich dabei nicht wirklich um eine Flüssigkeit, sierung binnen Jahrzehnten bis einigen Jahrhunderten statt, sondern eher um einen Brei: ein schwammartiges Netz aus beim Yellowstone-Vulkan dauerte sie ebenfalls nur Jahr- Kristallen mit Gesteinsschmelze in den dazwischenliegen- zehnte. Cooper meint, das seien eher konservative Schät- den Poren. zungen, und so könnten sich die Systeme sogar innerhalb Es sieht ganz so aus, als ob das auch bei anderen Vulka- nur weniger Jahre verflüssigt haben. nen der Fall sein könnte: 2017 führten Cooper und ihre Zurück zur Laguna del Maule: Bei der dortigen gewalti- Kollegen die gleiche Analyse an Kristallen aus der Vulkan­ gen Magmaansammlung dürfte es sich ebenso um einen zone von Taupo im Zentrum der neuseeländischen Nord­ Kristallbrei handeln. Singer und seine Kollegen meinen, das insel durch, wo mehrere Supervulkanausbrüche stattgefun- System bestünde zu 95 Prozent aus Kristallen und nur zu 5 Prozent aus flüssiger Schmelze. Der Brei ist mit rund 800 Grad Celsius auch nicht besonders heiß. Zum Vergleich: Die Lavamassen, die im Sommer 2018 die Hänge des Kilauea Kurz erklärt auf Hawaii hinabflossen, hatten eine Temperatur von etwa 1200 Grad Celsius. Offenbar können die kaltherzigen Feuer- Das vulkanische Gestein Rhyolith besteht zu riesen also im Nu erwachen. Der Geologe Nathan Andersen einem Großteil aus Silikaten und entspricht che- von der University of Oregon stellte bei der Analyse der misch und mineralogisch dem Granit. Bei seiner kleinen Kristalle aus den jüngsten Lavaströmen der Laguna Entstehung bilden sich zunächst durch langsames del Maule fest, dass sie sich nur 10 bis 100 Jahre lang in Erkalten von Magma im Erdinnern große Kristalle. flüssigem Magma befunden hatten. Steigt die Masse anschließend schnell auf, kühlt sie rasch ab, und es entsteht eine Struktur aus Flüssiges Magma oder heiße Bläschen könnten die kleinen Kristallen, in der die großen eingeschlos- Gesteinsmassen rasch schmelzen sen sind. Rhyolith ist meist grau, hellgrün oder Hier stellt sich allerdings die Frage, wie diese erstarrten hellrot und wird unter anderem für Pflastersteine Systeme so rasch schmelzen und in Bewegung geraten oder als Füllmaterial verwendet. In Deutschland können. Im Yellowstone-Gebiet fand die letzte große Super­ findet man es in vielen Mittelgebirgen, zum Bei- eruption statt, als flüssiges Magma durch das Erdinnere spiel im Harz, Odenwald oder Thüringer Wald. aufstieg und auf ein höher gelegenes, verfestigtes Reservoir traf, erklärt die Geologin Christy Till von der Arizona State Als Diapir oder auch Manteldiapir bezeichnet man University. Sie kann die damaligen Vorgänge nur in groben einen Strom heißen Materials, das aus dem Erd- Zügen umreißen, schließlich war noch niemand mit Mess- mantel aufsteigt. Stößt der Strom auf die feste geräten vor Ort. Doch die vulkanischen Ablagerungen Gesteinsschicht der Lithosphäre, wird er gebremst lassen erkennen, dass sich die emporquellende Flüssigkeit und breitet sich pilzförmig nach den Seiten aus. mit den schmelzenden Kristallen vermischte. Das heizte die Die heiße Masse schmilzt das darüberliegende gesamte Magmakammer auf, und der Druck erhöhte sich Gestein, und es bildet sich flüssiges Magma, das durch die hinzukommende Flüssigkeit so lange, bis diese durch einen Vulkanausbruch an die Oberfläche explosionsartig in die Luft geschleudert wurde. gelangen kann. Mit der Zeit entsteht wie am In Chile wiederum kann sich auch etwas völlig anderes Fließband eine Kette von Vulkanen, da sich die abspielen. »Es gibt kein allgemein gültiges, für alle Super- tektonische Platte langsam über den ortsfesten vulkane zutreffendes Modell«, bemerkt Till. Yellowstone Diapir hinwegschiebt. Ein prominentes Beispiel für etwa sitzt, anders als die Laguna del Maule und das Long diesen Hotspot-Vulkanismus ist die Vulkankette Valley, auf einem heißen Diapir. An solchen Stellen taucht von Hawaii. eine Erdkrustenplatte unter eine angrenzende, wobei Ge- stein schmilzt und sich in Magma verwandelt. Der Auslöser einer Eruption ist dann ein anderer, sagt Andersen. Es wird

50 Spektrum der Wissenschaft 8.19

»In meinen Augen macht das die Laguna del Maule potenzi- ell gefährlicher als andere Vulkansysteme«, urteilt der Geologe. Falls ein Teil des Gases zur Oberfläche gelangt, könnte sich das Wachstum des Reservoirs verlangsamen. »Sollte das Reservoir aber in der Tiefe festsitzen und dort ausreifen, könnte sich das Vulkansystem stark aufblähen, wie es im Yellowstone-Gebiet vor dem letzten großen Ausbruch geschehen ist«, ergänzt er. »Dann käme es zu einer Eruption, wie sie die Menschheit noch nicht gese-

NASA/GSFC/METI/ERSDAC/JAROS AND THE U.S./JAPAN ASTER SCIENCE TEAM ASTER SCIENCE TEAM AND THE U.S./JAPAN NASA/GSFC/METI/ERSDAC/JAROS (EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/76827/LAGUNA-DEL-MAULE) hen hat.« Obwohl das Reservoir unter der Laguna del Maule schon Die Satellitenperspektive auf die vulkanischen Struk­ fast supervulkanische Ausmaße hat, könnte es also in den turen rund um die Laguna del Maule zeigt Vegetation kommenden Jahrhunderten weiter anwachsen. Im Moment (rot) und schneebedeckte Gipfel (weiß). sind Singers Befürchtungen noch durchaus spekulativ, ebenso wie seine Annahmen über die Eruptionsmechanis- men. So wäre es etwa denkbar, dass eine aufsteigende, bläschenreiche Schmelze von sich aus nicht genügend Druck aufbauen kann, um einen gewaltigen Ausbruch auszulösen. Dazu könnte ein lokales Erdbeben erforderlich sein. Singers Team versucht derzeit Hinweise auf solche zusätzlichen Auslöser zu finden. Selbst wenn es an der Laguna del Maule »nur« zu einer Reihe kleinerer Eruptionen käme, wären die Auswirkungen wohl in ganz Südamerika zu spüren. So könnte die Asche den Flugverkehr zum Erliegen bringen und die landwirt- schaftliche Produktion in Argentinien, wo sie vermutlich auf Grund der vorherrschenden Westwinde niederregnen würde, auf Jahre hinaus ruinieren. Außerdem wäre es möglich, dass Glutwolken einen Dammbruch am nahe gelegenen Río Maule herbeiführen, was eine katastrophale Überschwemmung zur Folge hätte. Talca, eine Stadt mit 200 000 Einwohnern in der Ebene unterhalb des Sees, könn- BRAD S. SINGER, UNIVERSITY OF WISCONSIN-MADISON te dann in den Fluten versinken. Geologen installieren in der Umgebung des Sees Mess­ Inzwischen haben Wissenschaftler aus Chile und Argen- geräte, um zu ermitteln, wie stark sich der Boden hebt. tinien die Beobachtung des Sees übernommen. Derzeit hebt sich der Untergrund in der Region kontinuierlich – eine scheinbar relativ harmlose Bewegung. Doch sollten die nur ein Teil des Vulkanreservoirs erhitzt, außerdem spielen Forscher weitere Anzeichen von Unruhe an der Laguna del explodierende Dampfblasen eine Rolle. Maule feststellen, könnten sie damit die nächste Eruption Andersen fand durch die Analyse von Kristallen der des Vulkanfelds exakt vorhersagen – jetzt, da sie die zu letzten Ausbrüche an der Laguna del Maule heraus, dass Grunde liegenden Mechanismen besser verstehen.  aus großen Tiefen stammendes, basaltisches Magma nicht in alle Stellen des Vulkansystems eindrang, sondern sich QUELLEN vielmehr an der Basis des oberen, stark rhyolithhaltigen Andersen, N. L. et al.: Petrochronologic on rhyolite Reservoirs ansammelte. Die beiden Gesteinstypen haben volcano unrest at Laguna del Maule, Chile. Earth and Planetary sich also niemals vermischt. Der stecken gebliebene Basalt Science Letters 493, 2018 kühlte ab, gab dabei Wärme an das darüberliegende Mate- Andersen, N. L. et al.: Incremental heating of Bishop Tuff rial weiter und ließ Wasserdampfbläschen aufsteigen. Sanidine reveals preeruptive radiogenic Ar and rapid remobiliza- Durch die Wärme und die heißen Blasen schmolzen die um- tion from cold storage. PNAS 114, 2017 liegenden Kristalle. So entstanden schwimmende, mit Cooper, K. M., Kent, A. J. R.: Rapid remobilization of magmatic Blasen gefüllte Diapire, die weiter hinauf zur Spitze des crystals kept in cold storage. Nature 506, 2014 Reservoirs wanderten. Dort übten sie so viel Druck aus, Rubin, A. E. et al.: Rapid cooling and cold storage in a silicic dass sie durch die darüberliegende Kruste brachen. magma reservoir recorded in individual crystals. Science 356, Diese Vorstellung beunruhigt Singer. Sollten derzeit 2017 flüchtige Bläschen unter der Laguna del Maule aufsteigen, LITERATURTIPP gibt es für sie keinen Weg, zu entkommen. Denn in der Bindeman, I. N.: Die Urgewalt der Supervulkane. Spektrum der Nähe des Bergsees sind keine hydrothermalen Strukturen Wissenschaft 8/2006, S. 38–45 wie etwa der Old-Faithful-Geysir im Yellowstone-National- Mehr darüber, was Kristalle über Supervulkane verraten und wie park, Fumarolen, heiße Quellen oder Kamine vorhanden. sich ein Ausbruch weltweit auswirkt

Spektrum der Wissenschaft 8.19 51 ASTRONOMIE DER EXOPLANET NEBENAN

Die Venus ist so groß wie die Erde und begann unter ähnlich lebensfreundlichen Bedingungen. Doch heute ist sie eine felsige Gluthölle. Forscher versuchen intensiv, die unterschied­ liche Entwicklung zu verstehen – denn die Erkenntnisse wei- sen weit über unser eigenes Sonnensystem hinaus.

M. Darby Dyar (links) ist Mineralogin am Mount Holyoke College in South Hadley, Massa- chusetts und am Planetary Science Institute in Tucson, Arizona. Sie untersucht die Him- melskörper des Sonnensystems spektroskopisch. Die Astronomin Suzanne E. Smrekar (Mitte) hat sich auf die Entwicklung von Felsplaneten spezialisiert und ist stellvertretende Chefwissenschaftlerin der NASA-Marsmission InSight. Stephen R. Kane ist Astrophysiker am Department of Earth Sciences der University of California, Riverside und war an der

LISA QUINONES Entdeckung Hunderter von Exoplaneten beteiligt.

 spektrum.de/artikel/1654762

52 Spektrum der Wissenschaft 8.19 NASA / JPL (PHOTOJOURNAL.JPL.NASA.GOV/CATALOG/PIA00268) Als 1982 die neu gewählte Reagan-Administration umfangreiche Kürzungen bei der US-Weltraumfor- schung beschloss, erschütterte das die gesamte AUF EINEN BLICK Abteilung für Planetologie am Massachusetts Institute of UNGLEICHER ZWILLING Technology. Eines der Opfer war die seinerzeit geplante NASA-Mission Venus Orbital Imaging Radar. Doch schnell Zur Zeit ihrer Entstehung herrschten auf Venus und kratzten die Wissenschaftler bereits vorhandene Teile 1 Erde vergleichbare Bedingungen. Doch während zusammen, die von anderen Missionen übrig geblieben Letztere Ozeane und eine lebensfreundliche Atmosphä- waren, und schmiedeten damit Pläne für eine preiswerte- re entwickelte, wurde Erstere äußerst unwirtlich. re Raumsonde, die nur noch 680 Millionen US-Dollar Unser Nachbarplanet weist noch immer Vulkanismus kosten sollte. auf, es gibt Hinweise auf eine beginnende Platten­ Der so konzipierte Magellan-Orbiter startete 1989 zur 2 tektonik. Die Oberfläche steckt allerdings unter einer Venus, 1990 war er am Ziel. In den darauf folgenden fünf dichten Atmosphäre und ist schwer zu erforschen. Jahren lieferten die Instrumente planetenumspannende Radarbilder, Daten der Schwerkraft und eine topografi- Die Antworten auf die Frage, warum sich die Venus sche Karte der Venus. Magellan war die jüngste in einer 3 so anders entwickelt hat, könnten auch Informationen langen Reihe sowjetischer und US-amerikanischer Missi- über die vielen Felsplaneten um ferne Sterne liefern. onen zu unserem Nachbarplaneten. Doch nachdem die Sonde 1994 planmäßig auf die Oberfläche der Venus gestürzt war, endete mit ihr auch das Interesse der NASA an weiteren Flügen zu dem erdgroßen Himmelskörper. Seither haben Planer gut zwei Dutzend Vorschläge für Auf Basis von Radarscans der Raumsonde Magellan neue Missionen eingereicht, doch keiner wurde geneh- lassen sich am Computer dreidimensionale migt. Die von Magellan gesammelten Daten liefern bis Ansichten der Venusoberfläche erstellen (hier das heute das beste Kartenmaterial. Grabensystem der Region Dali Chasma).

Spektrum der Wissenschaft 8.19 53 NASA / JPL (PHOTOJOURNAL.JPL.NASA.GOV/CATALOG/PIA00268) In der Zwischenzeit haben die europäischen und japani- unbewohnbar, während die Erde seit rund vier Milliarden schen Raumfahrtagenturen mit erfolgreichen Missionen zur Jahren komplexe Ökosysteme beherbergt. Venus das Spielfeld betreten. Das hat zu Durchbrüchen Wir können zwischen ähnlich großen Planeten näher beim Verständnis der Atmosphäre geführt und zusammen differenzieren, indem wir deren Abstände zu ihren Sternen mit neuen Analysen der Magellan-Messungen Erkenntnisse messen. Die »habitable Zone« ist die Region, in der ein gebracht, mit denen einige Lehrbücher umgeschrieben felsiger Planet zumindest theoretisch flüssiges Wasser auf werden müssen. Die Venus scheint vulkanisch aktiv zu sein, seiner Oberfläche haben könnte (siehe Grafik S. 56). Bei der und es gibt sogar Hinweise auf eine beginnende Plattentek- Erde ist das offensichtlich der Fall. Doch auch die Venus tonik. Solche Vorgänge halten viele Wissenschaftler für befand sich früher in jenem Bereich – womöglich sogar eine eine Voraussetzung für die Entstehung von Leben. Theoreti- ganze Weile. Die Grenzen der habitablen Zone verschieben sche Modelle deuten auch darauf hin, dass die Venus relativ sich mit der Zeit nach außen, weil die Sonne mit zunehmen- lange flüssiges Wasser auf ihrer Oberfläche gehalten hat. dem Alter intensiver leuchtet. Inzwischen liegt unser unglei- Diese Erkenntnisse fallen mit einer weiteren erstaunli- cher Zwilling in der nach ihm benannten Venuszone. In chen Entwicklung in der Astronomie zusammen: der Entde- dieser verursacht verdampfendes flüssiges Wasser einen ckung von Tausenden von Exoplaneten in anderen Sonnen- »galoppierenden Treibhauseffekt«, der letztlich die Ozeane systemen. Viele sind etwa so groß und so weit von ihren zum Kochen bringt und völlig verschwinden lässt. Sternen entfernt wie die Venus. Alles, was wir über den Planeten nebenan erfahren, könnte das Verständnis solcher Heißes Ende nach viel versprechendem Start unzugänglich fernen Welten verbessern. Wenn wir heraus- Ursprünglich bildeten sich Venus und Erde unter sehr ähnli- finden, ob und wann auf der Venus lebensfreundliche chen Bedingungen. Wahrscheinlich brachten Kometen Eis Bedingungen geherrscht haben, können wir auch die auf die Oberflächen beider Planeten. Simulationen der Chancen auf Leben auf den venusähnlichen Himmelskör- frühen Venus zeigen, dass es hier wohl eher flüssiges Was- pern in der übrigen Milchstraße besser einschätzen. ser gab als auf der Erde. Es könnte sich bis vor etwa einer Die meisten der bisher entdeckten Exoplaneten wurden Milliarde Jahren dort gehalten haben. Doch heute ist die mit der Transitmethode gefunden. Dabei untersuchen Venus äußerst unwirtlich. Wie kam es dazu? Ist die Venus Astronomen verräterische Helligkeitsschwankungen von vielleicht sogar der Endzustand aller bewohnbaren Plane­- Sternen, die auftreten, wenn Planeten vorbeiziehen. Die ten dieser Größe, oder repräsentiert sie lediglich eines von Technik liefert deren Größe, doch die allein sagt noch nicht vielen möglichen Schicksalen solcher Himmelskörper? viel aus. Würde ein außerirdischer Beobachter unser Son- Unsere Suche nach Antworten wird zum Teil durch die nensystem mit der Transitmethode betrachten, erschienen dicke, nahezu undurchschaubare Atmosphäre des Planeten Venus und Erde fast identisch. Dabei ist Erstere völlig behindert (siehe Foto unten). Hoch oben liegen Wolken aus

Dicke, undurch­ sichtige Wolken hüllen die Ober­ fläche der Venus ein. Diese Falsch­ farbenaufnahme stammt aus dem Jahr 2018. PLANET-C PROJECT TEAM (AKATSUKI.ISAS.JAXA.JP/EN/GALLERY/DATA/001161.HTML) PLANET-C

54 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Falschfarbenkarten auf Basis der Magellan- und Venera-Daten zeigen verschiedenste Ober­ flächenstrukturen. Der ringför­ mige Charakter der Region Artemis Corona (rechteckige Markierung) könnte auf tekto­ nische Aktivität hindeuten.

6048 6055 6062 Planetenradius in km NASA / JPL USGS (PHOTOJOURNAL.JPL.NASA.GOV/CATALOG/PIA03151)

Schwefelsäure, und am Boden ist der Luftdruck vergleichbar mit dem Wasserdruck einen Kilometer unter der Oberfläche irdischer Ozeane. Die weitaus überwiegend aus Kohlendioxid bestehende Atmosphä- re ist hier so dicht, dass das Gas zu einem so genann- ten überkritischen Fluid mit Eigenschaften sowohl eines Gases als auch einer Flüssigkeit wird. Im Gegensatz zu unserer Welt hat die Venus kein Mag- netfeld als Schutz vor dem Sonnenwind. Dieser stete Strom energiereicher Teilchen dürfte über die Äonen hinweg das verdampfte Wasser des Planeten in Wasserstoff und Sauer- stoff gespalten haben. Der leichte Wasserstoff entwich schnell ins All. Gleichzeitig konnte sich mangels Oberflä- chenwasser das ständig aus dem Planeteninneren entwei- chende Treibhausgas Kohlendioxid nirgends lösen. Es sammelte sich darum in der Atmosphäre an. Heute sind die Temperaturen auf Grund des Treibhauseffekts durch das chemische Reaktionen zwischen den Gesteinen und den CO auf der Venus mehr als 400 Grad Celsius höher als auf Gasen des Planeten bei den dort herrschenden Drücken 2 der Erde. und Temperaturen. Die einzigen Daten, die wir direkt von der Oberfläche der Inzwischen fanden Forscher jedoch heraus: Es ist mög- Venus haben, stammen von sowjetischen Venera-Lande­ lich, die Gesteine auf der Venus von der Umlaufbahn aus zu sonden aus den 1970er und 1980er Jahren. Diese überleb- kartieren. Dazu muss man gewissermaßen durch geeignete ten unter den extremen Bedingungen nur wenige Minuten, Fenster im elektromagnetischen Spektrum schauen, bei aber in der kurzen Zeit übertrugen sie immerhin einige denen Strahlung nicht vom Kohlendioxid in der Atmosphäre Informationen über die chemische Zusammensetzung ihrer absorbiert wird. Glücklicherweise lassen sie gerade in Umgebung. Darüber hinaus beruht unser mineralogisches Bereiche blicken, wo sich die für Vulkangestein typischen Wissen vor allem auf umstrittenen Interpretationen von Minerale Olivin und Pyroxen bemerkbar machen. Vielleicht Radarmessungen aus dem Orbit und Spekulationen über könnten wir so endlich die Zusammensetzung des Planeten

Spektrum der Wissenschaft 8.19 55 Planetenschicksale im Vergleich

Die Frage, was Planeten lebensfreundlich macht, ist eines der größten ungelösten Rätsel der Astronomie. Erde und Venus hatten vergleichbare Startbedingungen, doch Letztere ist heute eine glühend heiße Ödnis. Forscher untersuchen, wie sich der Vulkanismus, die Plattentektonik und weitere Bedingungen entwickelt haben. So wol- len sie herausfinden, welche Zutaten für eine Welt nötig sind, die Ökosysteme beherbergen kann.

Merkur Venus Erde Mars Planetenbildung Großes Vulkanismus und Bombardement tektonische Aktivität durch Asteroiden Irdische Vulkane und Plattentek- vor 4 Milliarden tonik stabilisieren durch den stän­ Jahren digen Materialaustausch die Zu­- sammensetzung der Atmosphäre und der Ozeane und erzeugen die weiterhin kleinere Kontinente, auf denen sich Land- Einschläge von leben entwickelt. Unter den inne- Himmelskörpern ren Planeten des Sonnen­systems gibt es heute außer auf der Erde nur bei der Venus Anzeichen für vor 3 Milliarden solche Vorgänge. Jahren Oberflächenwasser Wasser, die Basiszutat des Lebens, gelangte auf dem gleichen Weg auf die Planeten: aus dem Baumaterial in der Staubscheibe um die junge Sonne sowie durch spätere vor 2 Milliarden Einschläge von Kometen. Auf der Jahren Venus konnten sich Ozeane wohl über relativ lange Zeiträume halten.

Lebensfreundlichkeit Wann und wie lange jeder Planet die notwendigen Zutaten für vor 1 Milliarde Leben auf DNA-Basis hatte, Jahren darüber können Wissenschaftler nur spekulieren. Womöglich waren die Bedingungen auf der Venus sogar noch früher vorhan- den als auf der Erde – und blieben mehr als eine Milliarde Jahre lang günstig.

heute

Habitable Zone Nur in einem bestimmten Abstandsbereich um einen Stern ist auf Planeten flüssiges Was- Sonne ser – und damit Leben – möglich. Die Leuchtkraft der Sonne hat im Lauf der Jahrmilliarden zugenommen. Darum haben sich die Grenzen der habitablen Zone nach außen verschoben.

Astronomische Einheiten 0,5 1,0 1,5 habitable Zone

vor 1 Milliarde Jahren Sonne und Planeten nicht heute maßstabsgetreu TIFFANY FARRANT-GONZALEZ / SCIENTIFIC AMERICAN FEBRUAR 2019 FEBRUAR / SCIENTIFIC AMERICAN FARRANT-GONZALEZ TIFFANY

56 Spektrum der Wissenschaft 8.19 genauer bestimmen. Die europäische Raumsonde Venus etwa der des Aleutengrabens, einer Vertiefung des Meeres- Express, die von 2006 bis 2014 den Planeten untersucht bodens vor der Küste Alaskas. Solche Merkmale könnten hat, nutzte eines der Fenster. Damit erstellten Forscher für Stellen auf der Venus kennzeichnen, an denen Material aus einen Großteil der Südhalbkugel die erste Übersicht der von dem Mantel an die Oberfläche steigt und auf die Kruste der Oberfläche ausgestrahlten Wärme. Die Daten enthalten drückt. Auch Laborexperimente und Computersimulationen auch spektrale Informationen, das heißt charakteristische deuten darauf hin, dass es sich hier um Subduktionszonen Ausschläge in den Intensitätskurven, mit denen sich Mine- handelt. rale im Boden identifizieren lassen. Die bislang vorliegenden Bilder haben eine zu geringe Auf der Karte fallen zudem zahlreiche so genannte Auflösung, um das sicher zu beurteilen. Aber anscheinend Hotspots auf. Solche Gebiete geben so viel Wärme ab, dass befindet sich die Tektonik auf der Venus im Anfangsstadi- die wahrscheinlichste Erklärung dafür ein junger Vulkanis- um ihrer Entwicklung. Die Magellan-Bilder zeigen keine mus ist. Die Venus ist also wohl noch geologisch aktiv, im Hinweise auf miteinander verbundene Platten – vielmehr Gegensatz etwa zum Mond, der in dieser Hinsicht seit sehen wir vereinzelte Stellen, an denen die Subduktion langer Zeit ruhig ist, und zum Mars, wo Vulkanismus bes- beginnt, jeweils um solche kreisförmigen Regionen mit tenfalls vereinzelt vorkommt. aufsteigendem Material. Doch warum kam es nicht früher dazu, und wie wird es weitergehen? Sofern sich die Venus Vielleicht zeigt die Venus gerade, wie Plattentektonik im Lauf der Zeit abkühlt, können die jetzt entstehenden ihren Anfang nimmt Verwerfungen überdauern, und der Planet durchliefe viel- Auf der Erde hängt der Vulkanismus mit der Plattentektonik leicht den gleichen Übergang zur Plattentektonik wie zusammen, also der Bewegung von Teilen der Kruste damals die Erde. Möglicherweise sind dieser Prozess und gegeneinander. Sie ist für die vielen geologischen Formatio- die damit verbundene Stabilisierung der Atmosphäre nicht nen auf unserem Planeten verantwortlich und hat außer- nur in unserem Sonnensystem üblich, sondern auch bei dem langfristige Klimazyklen stabilisiert. Das hat höher Exoplaneten. entwickeltes Leben auf der Erde begünstigt oder gar erst ermöglicht (siehe »Leben durch Plattentektonik«, Spektrum März 2019, S. 42). Tektonische Vorgänge bilden neue Kruste an den mittelozeanischen Rücken der Erde und schieben an Mehr Wissen auf anderen Stellen Teile zurück in den Mantel. Beide Prozesse Spektrum.de erlauben es unserem Planeten, Wärme und chemische Unser Online-Dossier zum Thema Verbindungen zwischen seinen inneren und äußeren Berei- finden Sie unter chen auszutauschen. Vulkanismus bringt Wasser an die spektrum.de/t/sonnensystem

Oberfläche, hält die Atmosphäre in einem gewissen Gleich- NASA / JPL gewicht und schafft Lebensraum oberhalb des Meeresspie- gels. Aus diesen und weiteren Gründen ist die Frage, ob die Venus solche Phänomene aufweist – und warum oder Es gibt also gewichtige Gründe für weitere Missionen warum nicht – für viele Forscher so wichtig. zum Nachbarplaneten. Mit genaueren Bildern und Spektren Spärlichen Daten zufolge begann die Plattentektonik auf könnten Wissenschaftler zentrale Fragen zum Vulkanismus der Erde vielleicht schon vor vier Milliarden Jahren. Nur und zur Plattentektonik der Venus beantworten. Die NASA wenige Spuren haben sich bis heute erhalten. Jedenfalls entscheidet im Rahmen ihres Discovery-Programms regel- wissen wir nicht wirklich, wie ein mit Basalt und möglicher- mäßig über kleine, verhältnismäßige kostengünstige Missi- weise bereits mit Ozeanen bedeckter Planet zu einem onen. Zwei von uns (Smrekar und Dyar) sind an der Planung komplizierten System beweglicher Platten übergeht. Eine einer vorgeschlagenen Raumsonde namens VERITAS Hypothese lautet: Heißes Material aus dem Inneren dringt beteiligt (Venus Emissivity, Radio Science, InSAR, Topogra- nach oben, was die Kruste und den äußeren Mantel (zu- phy, and Spectroscopy). Sie würde die Oberfläche viel sammen Lithosphäre genannt) schwächt. Die Oberfläche detaillierter erfassen und hätte neben einer Kamera auch bricht auf, und die unter Druck stehende Gesteinsschmelze ein Spektrometer an Bord. Weitere Arbeitsgruppen erstel- kann zu heftigem Vulkanismus führen, wie er sowohl auf len ebenfalls Konzepte. So könnte eine neue Generation von der Erde als auch auf der Venus vorkommt. Die Last des Planetologen die Chance bekommen, besser zu verstehen, ausgetretenen Materials auf der gerissenen Lithosphäre warum unsere Nachbarin einen so anderen Weg gegangen kann die betroffenen Teile absinken lassen und eine Sub- ist als die Erde, und mehr über die Entwicklungen in Erfah- duktion herbeiführen, wobei eine Schicht unter eine andere rung zu bringen, die solche Himmelskörper lebensfreund- gleitet. Wenn der Prozess oft genug stattfindet, stößt das lich machen.  die Plattentektonik an. Eventuell geschieht das gerade auf der heutigen Venus. QUELLEN Die Lithosphäre auf der Venus ist heiß und dünn – wohl wie Davaille, A.: Experimental and observational evidence for seinerzeit bei der Erde. Gewisse Regionen erinnern frappie- plume-induced subduction on Venus. Nature Geoscience 10, rend an terrestrische Subduktionszonen. Ein Beispiel ist 2017 Artemis Corona, eine kreisartige Formation in der Nähe des Way, M.J. et al.: Was Venus the first habitable world of our Venusäquators (siehe Karte auf S. 55). Ihre Größe entspricht Solar System? Geophysical Research Letters 43, 2016

Spektrum der Wissenschaft 8.19 57 SCHLICHTING! PHYSIK AM FLUGZEUGFENSTER Über den Wolken herrschen außerhalb des Flugzeugs dramatisch andere Temperaturen und Drücke als in der Kabine. An den Schei- ben, die beide Reiche voneinander trennen, kommt es so zu ­eindrucksvollen optischen und thermodynamischen Phänomenen.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Münster. Seit 2009 schreibt er für Spektrum über physikalische Alltagsphänomene.

 spektrum.de/artikel/1654764

Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? William Shakespeare (1564–1616)

Die Konstrukteure von Flugzeugen würden wohl am liebsten ganz auf Fenster verzichten, denn diese sind Schwachstellen im Flugzeugrumpf. Das liegt am Druckunterschied: In der heute üblichen Reisehöhe von zirka zehn Kilometern beträgt der Luftdruck nur noch etwa ein Viertel des Normalwerts auf der Erdoberfläche von rund 1000 Hektopascal (hPa). Das wäre für die Passa­ giere lebensgefährlich. Die meisten von uns sind niedere Regionen gewohnt und ertragen für längere Zeit allenfalls einen Druck, wie er etwa auf der Zugspitze herrscht. Entsprechend werden in der Kabine etwa Dreiviertel SCHLICHTING H. JOACHIM (750 hPa) des normalen Atmosphärendrucks aufrecht­ Mehrere physikalische Erscheinungen am Flugzeugfens- erhalten. Wegen des innen höheren Drucks unterliegt der ter beeinträchtigen den Blick auf die Außenwelt. Zu den Rumpf großen Belastungen, ähnlich wie ein aufgeblase­ von Wasserdampf und Eis verursachten Phänomenen ner Luftballon. Ecken an Fenstern würden die Kräfte kommen hier noch viele kurze, konzentrische Streifen um ungleichmäßig verteilen und wären Ansatzpunkte für die Sonne. Sie entstehen, weil in den (zufällig verteilten) Risse. Darum ist die vertraute, abgerundete Form weni­ Kratzern auf der Scheibe gerade diejenigen Einkerbungen ger eine Frage des Designs als schlicht physikalische das Licht ins Auge reflektieren, die senkrecht zu den Notwendigkeit. Strahlen orientiert sind. Ein ähnlicher Effekt entsteht auf Flugzeugfenster bestehen aus drei Kunststoffschei­ welligen Gewässern bei tief stehender Sonne. ben. Die äußere ist etwa einen Zentimeter dick und fest mit dem Rumpf verbunden. Zwischen ihr und der mit­ tleren Scheibe befindet sich zur Wärmedämmung Luft. Die Fenster bieten den Reisenden einen außergewöhn­ Diese kann durch ein winziges Loch in der mittleren lichen Blick auf die Landschaft sowie auf eine Vielzahl Scheibe hin- und herfließen, so dass letztlich der gesam­ physikalischer Phänomene. Dazu gehören nicht nur die te Druckunterschied auf dem äußeren Fenster lastet. von mir bereits in früheren Ausgaben beschriebenen Die innerste Scheibe befindet sich in einigem Abstand Halos, Glorien und Wolkenstrukturen, sondern auch dazu und ist nicht sicherheitsrelevant – sie soll vor allem Erscheinungen, die entstehen, indem das Flugzeugfens­ Passagiere von der Berührung der mittleren abhalten. ter selbst mit der Umgebung wechselwirkt. Manchmal Das schützt nicht nur das Acrylglas, sondern bei Außen­ zeigen sich gleich mehrere interessante Effekte zur temperaturen von bis zu minus 60 Grad Celsius ebenso selben Zeit (siehe Foto oben). In Häusern sind bei Mehr­ die Passagiere vor unangenehmen Kälteempfindungen. fachverglasung die Zwischenräume der Scheiben luft­

58 Spektrum der Wissenschaft 8.19 äußeren und mittleren Scheibe geraten. Hier wird nun der Taupunkt unterschritten, das heißt der im doppelten Wortsinn überflüssige Dampf kondensiert zu feinen Tröpfchen. Sie schlagen sich an der kälteren äußeren Scheibe nieder. An sich sind die mikroskopisch kleinen Wasserperlen weitgehend durchsichtig; aber das Licht wird an ihnen gestreut, also abgelenkt (siehe »Vernebelte Durchsichten«, Spektrum November 2017, S. 70).

Auf verschiedenen Pfaden zu lebhaften Farben Wenn der beschlagene Bereich in Regenbogenfarben erstrahlt, lässt das auf sehr kleine Tröpfchen schließen. An ihnen wird das von außen eintreffende Sonnenlicht gebeugt (siehe »Farbenschillernder Nebel«, Spektrum September 2012, S. 46): Das Licht löst an den Tropfen mehrere Elementarwellen in verschiedene Richtungen aus. Treffen sich solche Wellen, die geringfügig unter­ schiedliche Wege im jeweiligen Tropfen zurückgelegt haben, im Auge des Beobachters, fallen ihre Berge und Täler im Allgemeinen nicht mehr zusammen. Sie haben nicht mehr dieselbe »Phase«, und bei der Überlagerung löschen sich einzelne Wellenlängen des weißen Lichts aus, während sich andere verstärken. Das verändert die H. JOACHIM SCHLICHTING H. JOACHIM spektrale Zusammensetzung, wodurch sich die Lichtwel­ Die Acrylglasscheiben sind optisch doppelbrechend, len nicht mehr zu Weiß addieren, sondern in irisierenden das heißt, sie brechen Licht abhängig von dessen Farben erscheinen. Ausbreitungs- und Schwingungsrichtung. Da das Wären die Tröpfchen einheitlich groß, würde man eine Himmelslicht teilweise polarisiert ist, zeigen sich oft Korona sehen, ein in Spektralfarben leuchtendes System regenbogenähnliche Farben, wenn sich die in den konzentrischer Ringe um die Sonne. So etwas entsteht in Fenstern abgelenkten Anteile passend überlagern. der Natur manchmal durch dünne Wolken. An beschla­ genen Flugzeugfensterscheiben hingegen lassen sich voll ausgebildete Koronen nur selten beobachten. Meistens dicht von der Außenwelt getrennt. Einer der Vorteile zeigen sich nur kleinere, unregelmäßige Bereiche einer davon: Die Glasinnenflächen kommen nicht mit Wasser­ Farbe. dampf in Berührung, der kondensieren und den Durch­ Häufig wird der beschlagene und kolorierte Bereich der blick trüben kann. Allerdings reagieren solche Scheiben Scheibe von einigen offenbar trockenen und daher trans­ empfindlich auf Änderungen des Drucks in der Umge­ parenten Stellen durchlöchert (siehe Foto linke Seite). Die bung und verformen sich, wenn er nicht genau dem Ursache dafür sind Eisnadeln, die an geeigneten Kristalli­ Gasdruck im Zwischenraum entspricht. Das macht sich sationskeimen entstanden sind. Während ihres Wachs­ vor allem indirekt durch optische Phänomene bemerkbar tums haben sie vom Wasserdampf gezehrt und dessen (siehe »Umkränztes Lichtkreuz im Quadrat«, Spektrum lokale Konzentration drastisch reduziert – so stark, dass August 2017, S. 64). Wassertröpfchen in unmittelbarer Nähe wieder verduns­ So eine versiegelte Bauweise würden Doppelscheiben tet sind. Das Ergebnis sind klare, trockene Höfe um die bei den großen Druckunterschieden am Flugzeug me­ Eisnadeln herum. Wie man an einigen Stellen erkennen chanisch kaum überstehen – daher das kleine Loch zum kann, sind einige von ihnen zu größeren Bereichen zu­ Ausgleich mit dem Kabineninnern. Das geht jedoch oft sammengewachsen. Ich konnte während des weiteren auf Kosten der Durchsicht. Doch wie zur Entschädigung Flugs beobachten, wie mit der zunehmenden Kristallbil­ für die Blicktrübung lassen sich dann am Acrylglas inte­ dung schließlich fast der gesamte Tröpfchenbelag ver­ ressante Vorgänge beobachten, die man woanders kaum schwand und mit ihm das Farbenspiel. zu Gesicht bekäme (siehe »Wie vergitterte Fenster die Die optischen Erscheinungen an den Scheiben hängen Welt einfärben«, Spektrum Februar 2013, S. 54). stark von den äußeren Bedingungen ab. Weil Letztere Zuerst zeigt sich im mittleren Bereich des Außenfens­ sich ständig ändern, sind auch Erstere meist nur von ters ein deutlicher Belag mit winzigen Tröpfchen. Denn kurzer Dauer. Neben dem Vorbeiziehen weit entfernter aus der Kabine sind Luft und Wasserdampf mit einer Landschaften spielt also direkt am Flugzeugfenster ein höheren Temperatur in den kühlen Raum zwischen der zweiter, ebenfalls bemerkenswerter Film. 

Spektrum der Wissenschaft 8.19 59 INFORMATIK MASCHINEN MIT MENSCHLICHEN ZÜGEN

Künstliche Intelligenzen werden uns zusehends ­ähnlicher: Neben einer schnellen Auffassungsgabe und Kreativität verfügen erste Algorithmen nun auch über die Fähigkeit, ihre Umgebung zu verstehen.

George Musser ist Redakteur bei »Scientific American« und Autor populärwissenschaftlicher Bücher über Physik, etwa »Spooky Action at a Distance«.

 spektrum.de/artikel/1654766 ADRIANNE MATHIOWETZ

60 Spektrum der Wissenschaft 8.19 IMAGINIMA / GETTY IMAGES ISTOCK In den letzten Jahren haben Maschinen in vielen Von solchen Eigenschaften sind Maschinen nämlich Bereichen eine ähnliche Leistungsfähigkeit wie wir noch weit entfernt. Wenn eine künstliche Intelligenz (KI) auf Menschen erreicht, etwa wenn es darum geht, Gesich- eine Aufgabe trainiert wurde, fällt es ihr schwer, eine zwei- ter zu erkennen oder Texte in andere Sprachen zu überset- te, wenn auch ähnliche zu erlernen. Zudem ist nicht immer zen – ganz zu schweigen von ihren Erfolgen in Brett- und klar, wie sie zu ihrem Ergebnis kam; der rechnerische Arcadespielen (siehe Spektrum November 2018, S. 72). Daher Vorgang ist ziemlich undurchsichtig. Doch das wohl bedeu- könnte man vielleicht erwarten, dass Computerwissen- tendste Hindernis für zukünftige Entwicklungen ist, dass schaftler anfangen, auf die menschliche Intelligenz herabzu- die meisten Programme nur sehr langsam lernen und dazu blicken. Aber ganz im Gegenteil geraten die Forscher auch noch enorme Datenmengen brauchen, die nicht geradezu ins Schwärmen, wenn es um das menschliche immer vorliegen. Gehirn geht: Vor allem dessen Anpassungsfähigkeit und Aus diesem Grund konzentrieren sich die – durchaus das breite Spektrum an Fähigkeiten erstaunt sie immer beeindruckenden – Erfolge des maschinellen Lernens auf wieder. einige ausgewählte Bereiche. Möchte man etwa eine Bild­ erkennungssoftware entwickeln, findet man haufenweise Beispielbilder von Katzen oder Prominenten, mit denen man das Programm trainieren kann. Bei anderen Datensätzen, etwa medizinischen Scans, ist das schon schwieriger.

Noch stehen Computer dem menschlichen Gehirn in einigem nach. Allerdings lassen neueste Fortschritte Maschinen menschlicher wirken denn je.

AUF EINEN BLICK NETZWERKE TRAINIEREN NETZWERKE

Da neuronale Netze sich beim Lernen selbst anpas- 1 sen, können sie sich mit Problemen beschäftigen, für die Menschen keine Lösung finden.

Eine Aufgabe besteht darin, künstliche Intelligenzen 2 weiter zu verbessern. Somit nutzen Informatiker inzwischen neuronale Netze, um diese selbst zu optimieren.

Damit erzielten sie schon bedeutende Fortschritte. 3 Unter anderem verliehen sie ihren Programmen eine bessere Auffassungsgabe, mehr Flexibilität und »Fantasie«.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 61 IMAGINIMA / GETTY IMAGES ISTOCK Die enormen Ressourcen sind nicht das einzige Problem Umso bemerkenswerter ist es, was Computerwissen- gegenwärtiger KIs. Inzwischen werden solche Algorithmen schaftler in den letzten Jahren allein durch kleine Modifika­ im Bank- und Rechtswesen eingesetzt, um Kredite zu tionen erreicht haben. Eine schnelle Anpassung an neue bewilligen oder Gefängnisstrafen festzulegen. Die Program- Probleme, ein Verständnis der eigenen Umgebung und me sind allerdings eine Art Blackbox: Sie spucken ein sogar Fantasie: Über solche menschlichen Attribute verfü- Ergebnis aus, begründen es aber nicht. Gerade angesichts gen nun – zumindest in begrenztem Maß – auch Maschinen. der aktuellen gesetzlichen Festlegungen wird eine nachvoll- Um das zu erreichen, mussten Wissenschaftler die vielen ziehbare Argumentation von Maschinen immer wichtiger: verschiedenen Möglichkeiten ausschöpfen, mit denen sich Mit der Datenschutz-Grundverordnung von 2018 gewährte eine KI trainieren lässt. die Europäische Union ihren Bürgern unter anderem das Diese Möglichkeiten hängen aber davon ab, welche Art Recht, für jede automatisierte Entscheidungsfindung – sei von KI man benutzt. Tatsächlich gibt es diverse Programm­ es bei der Auswahl von Bewerbern für einen Job oder bei typen, die man als KI bezeichnet: Entscheidungsbäume, einem Gerichtsurteil – »aussagekräftige Informationen über Nächste-Nachbarn-Klassifikationen, Kernel-Methoden, die involvierte Logik« zu erhalten. neuronale Netze und so weiter. Über die Jahre wechselten Diese Schwierigkeiten beschäftigen momentan etliche sich die unterschiedlichen Ansätze in ihrer Beliebtheit ab. Zu Forscher, die schon vielfältige mögliche Lösungsansätze den derzeitigen Favoriten zählen die neuronalen Netze, die entwickelt haben. Einige sind jedoch der Meinung, dass ein dem Aufbau und der Funktion unseres Gehirns nachempfun- radikaler Umbruch nötig sei, um wirkliche Fortschritte zu den sind. Ein solches Netzwerk besteht aus etlichen Rechen- erzielen (siehe Spektrum November 2018, S. 77). einheiten, so genannten Neuronen, die typischerweise in mehreren Schichten angeordnet sind. Um ein derartiges Programm auf eine Aufgabe zu trainieren, etwa jene, Bilder zu erkennen, übergibt man der ersten Schicht die Beispielda- Überempfindliche Computer ten, also die Pixel eines Bilds. Die innen liegenden, »ver- steckten« Schichten verarbeiten diese Daten durch arithme- Beim maschinellen Lernen muss man aufpassen, tische Operationen, so dass die letzte Schicht eine Ausgabe dass ein Computer die Daten nicht zu ernst nimmt. erzeugt, etwa eine Beschreibung des Bildinhalts. Soll eine KI etwa Hunde- (rot) und Katzenbilder (blau) voneinander unterscheiden, wird sie die Dem Gehirn nachempfunden Beispieldaten nach selbst gewählten Parametern Auch neuronale Netze können sich in ihrer Struktur und einteilen. Die beiden Kurven stehen dann für zwei ihrem Aufbau voneinander unterscheiden. Je nachdem, mögliche Modelle, um K­ atzen und Hunde zu welches Problem man lösen möchte, eignet sich das eine differenzieren. Das grüne Modell folgt den Daten oder andere Netzwerk besser. Für veränderlichen Input gut, doch es ist extrem kompliziert und hängt stark (Eingabe) wie Spracherkennung erweisen sich Netze, die von den gewählten Beispielen ab. Die Wahrschein- Schleifen enthalten, als extrem nützlich. Die Schleifen lichkeit, dass der Algorithmus einen neuen Daten- ­verbinden die innen liegenden Neuronenschichten wieder punkt falsch einordnet, ist daher hoch. Dieses mit der Eingabe, so dass die Berechnungen nicht nur Phänomen wird als Überanpassung (»overfitting«) starr von vorn nach hinten verlaufen. Zudem gibt es »tiefe« bezeichnet. Die schwarze Kurve entspricht dage- neuronale Netze, die Dutzende oder gar Hunderte ver­ gen einem sinnvollen Modell, selbst wenn es ein steckter Schichten enthalten. Sie bestehen somit aus Tau- paar Daten falsch zuordnet. senden Neuronen mit Millionen Verbindungen zwischen ihnen, wodurch man schnell den Überblick verliert. Beson- ders gut eignen sie sich bei Problemen, die selbst keinen festen Regeln folgen, wie es bei der Mustererkennung der Fall ist. Der entscheidende Punkt bei allen neuronalen Netzen ist, dass die Verbindungen zwischen den Neuronen zunächst nicht fixiert sind, sondern sich mit der Zeit anpassen. Möch- te man etwa einem Programm beibringen, Hunde von Kat- zen zu unterscheiden, übergibt man ihm Bilder beider Arten SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF und lässt es die Bezeichnung erraten. Das Ergebnis wird nicht besser ausfallen als bei einem Münzwurf, also fifty-fif- ty. Wenn das Netzwerk falschliegt, verändert es die Stärke der Verbindungen, die zu dem fehlerhaften Resultat beigetra- gen haben. Dann wiederholt man den Vorgang immer und immer wieder. Nach zirka 10 000 Beispielbildern schneidet das Programm in etwa so gut ab wie ein Mensch. Bemerkenswert ist, dass das Netzwerk dabei auch lernt, Bilder zu sortieren, die es nie zuvor gesehen hat. Informatiker verstehen immer noch nicht ganz, wie es das genau macht.

62 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Falscher Fokus schwaches Rauschmuster Falls sich eine KI auf falsche Merk- male stützt, kann das fatale Folgen haben. Ein Beispiel dafür, das Katze Avocadocreme glücklicherweise glimpflich aus- ging, ereignete sich in den 1990er Jahren: Eine Forschungsgruppe der Wie sich nach wochenlangen Rauschmuster hinzu (wobei die Carnegie Mellon University in Untersuchungen herausstellte, Pixel ihren Wert nur so leicht Pennsylvania versuchte damals, waren die Straßen bei allen Probe- ­ändern, dass es für das menschli- einen Algorithmus zu entwickeln, fahrten von Gras umgeben gewe- che Auge nicht sichtbar ist – wie der ein Auto steuern kann. sen. Der Algorithmus hatte deshalb oben rechts), wird die KI etwa statt Sie trainierte ihr Programm, fälschlicherweise angenommen, einer Katze mit 99-prozentiger MIT ANISH ATHALYE, MIT FRDL. GEN. VON WAGNER; UND DAVID NICHOLAS CARLINI ANISH ATHALYE, indem sie lange Autofahrten unter- dass man nur dort fahren darf, wo Sicherheit plötzlich Avocadocreme nahm und alles filmte, was sie an der Seite Gras wächst. Bei der erkennen. dabei tat. Um ihren Algorithmus zu Brücke wusste die KI nicht mehr, An diesen Problemen arbeiten testen, setzten sich einige der was sie tun sollte. Forscher derzeit auf Hochtouren. beteiligten Wissenschaftler in ein Dieser Fokus auf irreführende Denn gerade Bilderkennungssoft- Fahrzeug, das die KI steuerte. Zu Details macht Algorithmen angreif- ware kann in etlichen Bereichen Beginn schien alles wunderbar zu bar. Hat man etwa ein Programm sinnvoll verwendet werden, zum funktionieren. Doch als sie eine darauf trainiert, verschiedene Beispiel um in medizinischen Scans Brücke erreichten, geriet das Auto Motive auf Bildern zu identifizieren, Anomalien zu identifizieren. Damit ins Schlingern, und einer der For- kann man es recht einfach aus­ man ihrem Urteil vertrauen kann, scher musste ins Lenkrad greifen, tricksen: Fügt man einem Bild müssen die Systeme jedoch zuver- um einen Unfall zu verhindern. gezielt ein extrem schwaches lässig funktionieren.

Es ist meist sehr schwierig, die Kriterien zu ermitteln, nach Metalernen. Es verleiht Computern mehr Flexibilität. »Diese denen ein solcher Algorithmus seine Entscheidung fällt. Methode wird wahrscheinlich der Schlüssel zu einer neu­ Doch in einem sind sich die Forscher inzwischen einig: Es artigen KI sein, die mit der menschlichen Intelligenz konkur- ist wichtig, einem Programm während des Trainings kleine- riert«, meint Jane Wang, Forscherin bei DeepMind in re Fehler durchgehen zu lassen (siehe »Überempfindliche ­London. Im Umkehrschluss glaubt sie, dass Neurowissen- Computer«, links). Sonst hängen die Ergebnisse zu stark schaftler durch Metalernen besser verstehen könnten, was von den konkreten Beispieldaten ab, anstatt sich auf die im menschlichen Gehirn passiert. wesentlichen Merkmale der gezeigten Objekte zu stützen. Die Algorithmen könnten ihre Urteile dann auf untypische Das Lernen lernen Eigenschaften stützen, was verheerende Folgen haben Die Idee des Metalernens ist nicht neu. In den 1980er kann (siehe »Falscher Fokus«, oben). Jahren nutzten Computerwissenschaftler die Evolution als Neuronale Netze wären allerdings nicht besonders Vorbild, um ihre Software für das Lernen zu optimieren. nützlich, wenn sie bloß Aufgaben erledigen könnten, deren Schließlich ist der evolutionäre Prozess unter anderem ein auch Menschen Herr werden. Weil die Netzwerke ihre Metalernen-Algorithmus: Die verschiedenen Tierarten Verbindungen zwischen den künstlichen Neuronen aber haben in der Natur Lernfähigkeit entwickelt, statt sich bloß selbst formen, sind sie in der Lage, Probleme zu meistern, auf ihre Instinkte zu verlassen. Die Evolu­tion ist allerdings für die Menschen noch keine Lösung gefunden haben – vom Zufall getrieben, so dass daran angelehnte Algorith- etwa, wie man neuronale Netze weiter verbessert. Wis- men häufig in Sackgassen münden und daher nicht wirklich senschaftler haben nun damit begonnen, KIs auf eine effizient sind. In den frühen 2000er Jahren entwickelten ihrer größten Schwächen anzusetzen: die riesigen Daten- Forscher deshalb andere Ansätze für das Metalernen, mengen, die sie benötigen, um neue Aufgaben zu bewäl­ wodurch die Programme wesentlich schneller wurden. tigen. Chelsea Finn von der University of California in Berkeley Dabei sollen neuronale Netze lernen, wie ein neuronales und ihr Team schafften 2017 einen Durchbruch auf dem Netz lernt. Das klingt zunächst kompliziert, doch im Prinzip Gebiet des Metalernens. Indem sie ein neuronales Netz ist es nichts anderes, als würde man einem Programm immer wieder vor neue Aufgaben stellen, können sie die beibringen, Bilder zu erkennen: Man muss es mit vielen optimale Startkonfiguration des Programms berechnen. In Beispielen füttern. In diesem Fall zeigt man ihm aber keine dieser Konfiguration lernt es eine neue Aufgabe dann an Bilder, sondern ein anderes Netzwerk, das etwas Neues Hand von bloß wenigen Beispielen zu bewältigen, anstatt lernt. Das Verfahren nennen Computerwissenschaftler dafür zehntausende Daten zu benötigen.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 63 Angenommen, man möchte einem neuronalen Netz Hunde erworben hat, und wechseln zu Katzen: Sie zeigen beibringen, Bilder in eine von fünf Kategorien einzuteilen, dem Lerner ein Beispiel jeder Rasse, füttern ihn wieder mit wie Hunde- und Katzenrassen, Automarken, Hutfarben jeweils einem Testbild und übergeben dann die optimierte oder Ähnliches. Beim gewöhnlichen maschinellen Lernen Konfiguration des Netzwerks an den Metalerner. Das Ganze (ohne »Meta«) füttert man das Programm zuerst mit Tau- wiederholt man für Autos, Hüte und so weiter. Der Meta­ senden von Hundebildern und optimiert die Verbindungen lerner ermittelt danach, welche Anfangskonfiguration des im Netzwerk so lange, bis es die Bilder richtig sortiert. Lerners am besten geeignet ist, um verschiedene Objekte Würde man wollen, dass dieses Netzwerk hingegen Kat- in fünf Kategorien einzuteilen. Zeigt man einem solchen zenbilder kategorisiert, müsste man von vorn anfangen und optimierten Programm schließlich fünf Vogelarten, wird es alles überschreiben, was es über Hunde gelernt hat. schneller lernen, Vogelbilder einzuordnen, als mit einer Beim Metalernen geht man einen anderen Weg. Man zufälligen Anfangskonfiguration. versucht die Verbindungen zwischen den künstlichen Das Besondere an dieser Methode ist, dass die Netzwer- Neuronen so einzustellen, dass das Netzwerk nur wenige ke dabei nicht darauf trainiert werden, eine bestimmte Beispiele braucht, um Dinge in fünf Kategorien einzuteilen. Aufgabe zu meistern. Stattdessen konzentrieren sie sich auf Dazu benötigen die Forscher zwei neuronale Netze: die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Probleme. Im einen übergeordneten Metalerner und einen gewöhnlichen Beispiel zuvor haben sich die Verbindungen zwischen den Lerner. Im ersten Schritt zeigen sie dem Lerner fünf Hunde- künstlichen Neuronen des Netzwerks so eingestellt, dass bilder, eines von jeder Rasse. Danach übergeben sie ihm ein dieses für Eingangsdaten in Form eines Bilds extrem gut Testbild, das er einer der fünf Rassen zuordnet – nach bloß geeignet ist. »Wenn ein Algorithmus darauf vorbereitet ist, fünf Beispielen wird das nicht sehr gut gelingen. Dennoch Formen, Farben und Texturen von Objekten herauszufiltern, wird das Lerner-Netzwerk versuchen, die Verbindungen dann kann es ein neues Objekt ziemlich schnell erkennen«, zwischen den künstlichen Neuronen so zu verändern, dass erklärt Chelsea Finn. es beim nächsten Mal besser klappt. Diese neue Konfigura- Inzwischen hat die Forscherin zusammen mit ihren tion liest der Metalerner aus. Kollegen das Metalernen ins Labor gebracht: Sie konfron- Im zweiten Schritt löschen die Wissenschaftler das tierten einen Roboter mit verschiedenen Aufgaben, die alle bescheidene Wissen, welches das Lerner-Netzwerk über damit zu tun hatten, möglichst schnell zu einer bestimmten

Metalernen Neuronale Training Um die Menge der Trainingsdaten zu reduzieren, Input: tausende bereiten Forscher die Netzwerke auf ihre Netze Katzenbilder Aufgabe vor, indem sie ihnen ähnliche Probleme vorsetzen. Dadurch wird der optimale Anfangs- zustand des neuronalen Netzes gesucht, durch Um Bilder zu klassifi- den es am schnellsten eine gewisse Art von zieren, verarbeitet ein Aufgabe lernt. Netzwerk die eingege- benen Pixel in mehre- Vorbereitung ren Stufen und gibt Jede Schicht des Netzwerks lernt, schrittweise immer komplexere Input: verschiede- am Schluss ein Ergeb- Merkmale zu erkennen. ne Objektgruppen nis aus, etwa eine Bezeichnung des Bildinhalts. Dieser Herunter- Prozess erfordert in brechen der Bilder in der Regel ein Training Pixelwerte Training mit Tausenden von Input: wenige Katzen- Beispielbildern. Wie bilder genau das Programm zu seinen Resultaten Ergebnis: kommt, geht meist im Fähigkeit, Katzen zu erkennen Gewirr der Verknüp- Ergebnis: fungen innerhalb des Output: Bildbezeichnung Fähigkeit, Katzen schneller zu erkennen Netzwerks verloren. Katze Katze BROWN BIRD DESIGN / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2019 BROWN BIRD DESIGN / SCIENTIFIC AMERICAN

64 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Stelle zu gelangen. Nach dem Prozess des Metalernens wickeln: Kreativität und Fantasie (siehe Spektrum Mai 2019, erkannte der Roboter, dass er bei jeder Aufgabe rennen S. 68). Das zeigte sich in einer Flut von Porträtfotos, die in musste. Danach stellte sich ihm bloß noch die Frage, in den letzten Jahren das Internet überschwemmten. Das welche Richtung er losflitzen sollte. Um sich bestmöglich Überraschende an ihnen ist: Die abgebildeten Menschen auf einen Befehl vorzubereiten, rannte der Roboter daher an haben niemals existiert. Sie sind das Produkt einer neuen Ort und Stelle. »Das macht es für ihn einfacher, vorwärts Technologie mit einer ausgeklügelten Art von Fantasie. oder rückwärts loszusprinten«, sagt Finn. Überraschenderweise lässt sich die menschliche Vorstel- Die neue Methode scheint also in der wirklichen Welt zu lungskraft nämlich recht einfach automatisieren. Dazu muss funktionieren. Dennoch birgt sie auch Nachteile: Man man bloß ein gewöhnliches Bilderkennungsprogramm, ein braucht zwar nur wenige Daten, um einem bereits optimier- so genanntes diskriminierendes neuronales Netz, rück- ten Algorithmus eine bestimmte Fertigkeit beizubringen, wärtslaufen lassen. Dadurch wird es zu einem »generati- trotzdem sind insgesamt enorme Datenmengen für den ven« Netzwerk, das Bilder erzeugt. Während man einem Metalerner nötig, der das Lerner-Netzwerk trainiert. Zudem Diskriminator Bilder übergibt, die er daraufhin benennt oder ist der Ansatz extrem rechenintensiv, weil die Algorithmen beschreibt, funktioniert ein Generator genau andersherum: die teilweise sehr feinen Unterschiede zwischen den ver- Aus einer Bezeichnung kreiert er eigenständig Bilder. Der schiedenen Aufgaben erkennen müssen. »Selbst wenn Vorgang ist allerdings recht aufwändig. Immerhin muss neuronale Netze in den letzten Jahren große Fortschritte man irgendwie sicherstellen, dass das Netzwerk ein sinnvol- gemacht haben, sind sie noch weit davon entfernt, wie les Ergebnis produziert. Übergibt man ihm beispielsweise Menschen zu lernen«, erklärt der Kognitionswissenschaftler den Begriff »Dobermann«, dann sollte es erkennbar einen Brenden Lake von der New York University. solchen Hund zeichnen. Doch wie trainiert man einen Generator darauf, derartige Aufgaben zu erfüllen? Gegnerische Netzwerke Als sich Ian J. Goodfellow, heute bei Google Brain in Metalernen ist nicht der einzige Ansatz, bei dem Forscher Mountain View, Kalifornien, während seiner Doktorarbeit neuronale Netze nutzen, um diese selbst zu verbessern. mit dieser Frage beschäftigte, kam ihm 2014 die Idee, Tatsächlich kann ein Algorithmus ein Netzwerk darauf generative Netzwerke durch einen Diskriminator zu trainie- trainieren, zwei durch und durch menschliche Züge zu ent­ ren. Wenn man daher das Bild eines Dobermanns erzeugen

Netzwerke im Tandem Training Um einem Programm beizubringen, die Objekte Diskriminator Dem Diskrimina- einer Szene zu identifizieren, braucht man zwei tor wird zufällig Netzwerke. Das eine (im blauen Bild links) kompri- entweder ein echt miert die übergebenen Daten, während das andere echtes oder ein (rechts) sie wieder dekomprimiert. Je weniger man die Daten komprimiert, desto präziser wird die generiertes gefälscht Katzenbild Beschreibung des Bilds. gezeigt.

Der Diskriminator Training Rauschen beurteilt, ob das Bild Input: einfache Elemente mit echt ist. Falls er zu mehreren Freiheitsgraden einem negativen Ergebnis kommt, teilt er gefälschtes dem Generator mit, was Katzenbild ihn am Bild gestört hat. Generator

Ergebnis: Fähigkeit, einzelne Elemente zu identifizieren und zu rekonstruieren Ergebnis: Fähigkeit, ein realistisches Katzenbild zu erzeugen Input: zufälliges Rauschen und eine Bezeichnung

Katze

Programm wird immer weniger eingeschränkt.

»Generative adversarial networks« Man kann ein klassifizierendes Netzwerk auch rückwärts ablaufen lassen, so dass es beispielsweise realistische Bilder von Katzen erzeugt, die niemals existiert haben. Wissenschaftler trainieren diese »generativen Netzwerke« durch gewöhnliche Klassifizierer (so genannte Diskriminato- ren), die bewerten, wie wirklichkeitsnah die KI-Bilder sind. Zusätzlich fügen sie dem System zufälliges Rauschen hinzu, um sicherzustellen,

BROWN BIRD DESIGN / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2019 BROWN BIRD DESIGN / SCIENTIFIC AMERICAN dass jede Katze einzigartig ist.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 65 möchte, zeigt man einem Diskriminator entsprechende Fotos und mischt eines darunter, das der Generator erstellt hat. Der Diskriminator prüft daraufhin, ob das generierte Computer mit Zahlenverständnis Bild »echt« ist. Wird es abgelehnt, muss sich der Generator verbessern. »Es ist wie eine Art Spiel zwischen ihnen«, Schon lange wissen Biologen, dass nicht nur erklärt Goodfellow. »Das eine Netzwerk erzeugt Bilder, Menschen, sondern auch viele Tiere über ein während das andere errät, ob sie echt oder gefälscht sind.« Zahlenverständnis verfügen: Sie können abschät- Diese Technik wird als »generative adversarial network« zen, ob zwei Mengen gleich groß sind, und beur- (GAN) bezeichnet. teilen, welche davon mehr Elemente enthält. Zu Beginn des Prozesses ist der Generator noch in Nun haben Wissenschaftler der Universität einem zufälligen Anfangszustand, in dem er keine klaren Tübingen ähnliche Versuche mit einem neuronalen Bilder produziert. Zu dem Zeitpunkt hat auch der Diskrimi- Netz durchgeführt, das sie eigentlich darauf trai- nator bloß wenige Trainingsdaten erhalten, so dass er nicht niert hatten, verschiedene Objekte in Bildern zu allzu streng ist. Während das diskriminierende Netzwerk erkennen. Als sie die KI danach diverse Punkt­ immer besser lernt, wie echte Bilder aussehen, muss sich muster mit bis zu 30 Punkten vergleichen ließen, der Generator ebenfalls steigern. Mit etwas Glück gelingt schnitt die Maschine dabei in etwa so gut ab wie es ihm irgendwann, ein so realistisches Bild zu produzieren, Menschen oder auch Affen: In 81 Prozent der Fälle dass er den Diskriminator täuscht. konnte sie richtig einschätzen, welches Bild mehr So viel versprechend der Ansatz auch klingt, er führt Punkte enthält – und das, obwohl sie niemals auf leider nicht immer zum Erfolg. Die Netzwerke bleiben oft in so eine Aufgabe trainiert wurde. einer Sackgasse stecken. Der Generator produziert dann Genau wie echte Lebewesen tat sich die KI beispielsweise dauerhaft unrealistische Bilder, oder der schwer damit, wenn zwei Muster aus ähnlich Diskriminator erfasst nicht die wesentlichen Merkmale der vielen oder sehr vielen Punkten bestanden. Und Trainingsdaten. Das Gelingen hängt stark vom Anfangszu- auch die künstlichen Neurone reagierten erstaunli- stand der neuronalen Netze ab, ohne dass man allerdings cherweise ähnlich auf die gezeigten Muster, wie es genau weiß, wie. »Wir haben keine wissenschaftliche die Nervenzellen im Gehirn von Affen tun: Je nach Erklärung dafür, warum manche Modelle besonders gut Anzahl der Punkte auf einem Bild werden unter- und andere wiederum extrem schlecht abschneiden«, sagt schiedliche Neurone aktiv, wobei mehr Neurone Goodfellow. kleinenD Zahlen zugeordnet sind als großen. D

Intelligente Bildbearbeitung Dennoch hat kaum eine andere Methode so schnell derart 30 viele Anwendungen gefunden wie die GANs. Von der 30 Analyse kosmologischer Daten über Teilchenkollisionen bis 25 25 hin zur Konstruktion von Zahnkronen: Wann immer man 20 Daten braucht, die einem zuvor eingegebenen Datensatz 20 ähneln, kann man auf GANs zurückgreifen. Die Programme 15 in der KI 15 erkennen dabei Muster, die dem menschlichen Auge zum 10 Teil entgehen. 10

Percentage of units 5 Prozentsatz aktiver Neurone Neurone aktiver Prozentsatz Eine bemerkenswerte Anwendung ist »Pix2Pix«, das Percentage of units 5 Bilder auf jede nur erdenkliche Weise bearbeiten kann. 0 0 0 5 10 15 20 25 30 Dabei übertrifft es gewöhnliche Grafikprogramme wie 0 5 10 15 20 25 30 Preferred numerosity Photoshop um Längen. Zwar können diese ein Farbbild auf E PreferredAnzahl der numerosity Punkte Graustufen oder auf einfache Linienzeichnungen reduzie- E ren, andersherum versagen sie aber. Denn das Einfärben ei-

nes Bilds erfordert kreative Entscheidungen. Pix2Pix kann 30 30 genau das. Dazu muss man dem Algorithmus zuerst Farb- 25 bilder mit den dazugehörigen Strichzeichnungen überge- 25 20 ben. Zeigt man dem Programm dann eine solche Zeich- 20 nung, kann es sie realistisch einfärben, selbst wenn es das 15 Bild nie zuvor gesehen hat. 15 10

Neben GANs gibt es auch noch andere Möglichkeiten, in Affenhirnen 10 neuronale Netze miteinander zu verbinden. Nicholas 5 Percentage of neurons 5 Percentage of neurons ­Guttenberg und Olaf Witkowski, beide am Earth-Life Neurone aktiver Prozentsatz 0 Science Institute in Tokio, ließen 2017 zwei Netzwerke 0 0 5 10 15 20 25 30 0 5 Preferred10 15 numerosity20 25 30 kooperieren, anstatt sie gegeneinander antreten zu lassen. Preferred numerosity Die Forscher zeigten den Programmen jeweils unter­ Anzahl der Punkte schiedliche Ausschnitte von Bildern verschiedener Stilrich- tungen. Um das Genre der jeweiligen Bilder zu bestimmen, OBJECT RECOGNITION. EMERGE IN A DEEP NEURAL NETWORK DESIGNED FOR VISUAL SPONTANEOUSLY NASR, K. ET AL.: NUMBER DETECTORS TÜBINGEN ANDREAS NIEDER, UNIVERSITÄT 2019, FIG. 2 D+E; MIT FRDL. GEN. VON 5, EAAV7903, SCIENCE ADVANCES

66 Spektrum der Wissenschaft 8.19 waren die Algorithmen daher gezwungen, zusammenzu­ Das ist ein bedeutender Schritt in Richtung einer KI, die arbeiten. Doch dafür mussten sie sich untereinander aus- ihre Umgebung versteht. Dennoch liegt das Ziel noch in tauschen. weiter Ferne. Immerhin kannten die Forscher die Regeln Programme, die sich das Kommunizieren selbst beibrin- ihrer künstlich geschaffenen Welt schon im Voraus und gen, eröffnen völlig neue Anwendungsmöglichkeiten. konnten daher das Ergebnis des Programms genau überprü- »Unsere Hoffnung ist, dass eine Gruppe von Netzwerken fen. Bei komplexen Problemen aus dem wirklichen Leben eine gemeinsame Sprache entwickelt, um sich ihre jeweili- überblicken selbst Menschen nicht immer die gesamte gen Fähigkeiten gegenseitig beizubringen«, erklärt Gutten- Situation. Da aber eine Person die Leistung eines solchen berg. Sollten KIs irgendwann wirklich so weit sein, dann Algorithmus beurteilen muss, hängen die Ergebnisse auch könnten sie sich eventuell auch Menschen gegenüber auf stark von dieser subjektiven Einschätzung ab. verständliche Weise erklären, hoffen die Wissenschaftler. Bis es so weit ist, wird allerdings noch viel Zeit vergehen. Maschinelle Argumentation Momentan mühen sich Forscher mit viel grundlegenderen Trotzdem eröffnet Higgins’ Ansatz viel versprechende Anwen- Problemen ab. Denn selbst wenn KIs in vielen Fällen extrem dungen. Der Hauptgrund dafür ist, dass KIs so nachvollziehba- gut darin sind, Bilder zu klassifizieren, unterlaufen ihnen rer werden: Man kann ihrer Argumentation direkt folgen – manchmal immer noch peinliche Fehler: So kann es vor- schließlich ähnelt sie menschlichen Schlussfolgerungen. kommen, dass ein Programm einen Straußenvogel mit Außerdem lassen sich durch Higgins’ Methode Netzwerke einem Schulbus verwechselt. Die Muster, die KIs erkennen, entwickeln, die neue Aufgaben bewältigen, ohne ihr zuvor haben häufig nichts mit den physischen Elementen einer gesammeltes Wissen zu vergessen. Angenommen, man zeigt Szene zu tun. »Den Maschinen fehlt ein Objekt­verständnis, einem Programm Hundebilder, die es nach Rassen sortieren das selbst Tiere wie Ratten besitzen«, meint Irina Higgins, soll. Das Netzwerk wird das Hauptaugenmerk auf spezifische eine KI-Forscherin bei DeepMind. Merkmale der jeweiligen Rasse legen. Übergibt man ihm Damit neuronale Netze ihre Umgebung wirklich verste- plötzlich Katzenbilder, wird es die Änderung bemerken. »Wir hen, müsste jede ihrer Variablen einem Freiheitsgrad der können tatsächlich sehen, wie die Neurone reagieren. Ihr untersuchten Welt entsprechen, äußerte Yoshua Bengio atypisches Verhalten deutet darauf hin, dass die KI etwas von der Université de Montréal 2009. Wenn es beispiels- über einen neuen Datensatz lernt«, erklärt Higgins. Wenn das weise um die Analyse von Filmen geht, sollte eine Variable passiert, könnte man dem Programm beibringen, zusätzliche stets die Position eines Objekts im Bild symbolisieren. Neurone zu erzeugen. Dadurch würde es neue Informationen Bewegt sich bloß das Objekt, dann ändert sich nur diese speichern, ohne altes Wissen zu überschreiben. Variable – auch wenn sich dabei Hunderte oder Tausende Die aktuellen Fortschritte auf dem Gebiet des maschinel- von Pixeln verschieben. len Lernens verleihen Computern immer mehr menschliche Sieben Jahre nach Bengios Idee gelang es Higgins und Talente (siehe »Computer mit Zahlenverständnis«, links). ihren Kollegen endlich, sie umzusetzen. Dafür nutzten sie Die Zukunft wird zeigen, ob die neuen Ansätze wirklich die Tatsache, dass Bilder lauter überschüssige Informatio- nen enthalten, die sich aus relativ wenigen Variablen erzeu- gen lassen. »Die Welt steckt voller Redundanzen – genau diese komprimiert und verwertet unser Gehirn«, erklärt Mehr Wissen auf Higgins. Damit sich auch die Algorithmen auf die wichtigs- Spektrum.de ten Faktoren eines Bilds konzentrieren, schränkt die For- Unser Online-Dossier zum Thema scherin sozusagen deren »Sichtfeld« ein. Die Wissenschaft- finden Sie unter ler setzen dazu zwei Netzwerke ein: Eines komprimiert die spektrum.de/t/kuenstliche-intelligenz Eingangsdaten, das andere dekomprimiert sie wieder. ISTOCK / ADVENTTR Dadurch filtert das Programm die wesentlichen Informatio- nen einer Szene heraus. Nach und nach heben die Forscher dann die Einschränkungen auf, wodurch die Algorithmen irgendwann zu Programmen führen werden, deren Intelli- immer mehr Details miteinbeziehen. genz mit der menschlichen vergleichbar ist – oder ob Kritiker Um die Methode zu testen, erzeugten Higgins und ihr Recht behalten und völlig neue Methoden hermüssen, um Team eine einfache »Welt«, die bloß aus Herzen, Quadraten den Bereich wirklich voranzutreiben. So oder so: Es bleibt und Ovalen auf einem zweidimensionalen Gitter besteht. spannend.  Jede dieser Formen kann in sechs Größen vorkommen und um einen von 20 möglichen Winkeln verkippt sein. Die Informatiker präsentierten einem neuronalen Netz alle Ver- QUELLEN sionen einer solchen Welt. Das Programm sollte daraufhin Finn, C. et al.: Model-agnostic meta-learning for fast application die fünf Freiheitsgrade identifizieren: Position entlang der of deep newtorks. ArXiv 1703.03400, 2017 beiden Achsen, Form, Orientierung und Größe der Objekte. Goodfellow, I. et al.: Generative adversarial networks. ArXiv Das Netzwerk erkannte die Position als wichtigsten Faktor – 1406.2661, 2014 die anderen Variablen lassen sich danach einfacher auf die Higgings, I. et al.: -VAE: Learning basic visual concepts with a Strukturen anwenden. Schritt für Schritt spürte das Pro- constrained variational framework. International conference on gramm dann auch die anderen Freiheitsgrade auf. learning representations 5, 2017

Spektrum der Wissenschaft 8.19 67 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN DIE LANGE JAGD NACH DEN VERBORGENEN METALLEN

Sie sind weich wie Butter und reagieren explosionsartig, wenn man sie mit Wasser beträufelt: Die Alkalimetalle verhalten sich ganz anders als sonstige Metalle, denen wir täglich begegnen. Ihrer Entdeckung haben sie sich lange widersetzt.

Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und ihre Didaktik am Institut für Chemie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist Abteilungsleiter und Lehrstuhlinhaber in der Abteilung Chemie der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

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Als der russische Chemiker Dmitri Mendelejew (1834– Kochsalz als auch aus Glaubersalz herstellen kann. Daraus 1907) und zeitgleich sein deutscher Kollege Lothar folgerte er, dass diese Verbindungen eine gemeinsame Meyer (1830–1895) die damals bekannten Elemente »Basis« haben müssen. Andreas Sigismund Marggraf nach Masse sowie wiederkehrenden Eigenschaften sor- (1709–1782) schaffte es mit Hilfe von Experimenten erst- tierten und das Periodensystem erschufen, ordneten sie mals, zwischen Soda und Pottasche zu unterscheiden: Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium und Cäsium zusam- Bringt man Soda in die nicht leuchtende Flamme eines men in eine Gruppe ein. Diese Alkalimetalle, zu denen Bunsenbrenners, färbt sie diese intensiv gelb – Pottasche außerdem das 1939 entdeckte Francium gehört, bilden hingegen violett. Die »Basis« der Stoffe musste somit heute gemeinsam mit Wasserstoff die erste Hauptgruppe voneinander verschieden sein. des Periodensystems. Zuvor hatten sie Wissenschaftlern Dieses Experiment kann man sehr leicht mit der so allerdings lange Zeit Rätsel aufgegeben. genannten Flammprobe nachvollziehen, einer Methode zur Natriumchlorid (NaCl) als berühmteste Alkalimetallver- Analyse von chemischen Elementen. Sie beruht darauf, bindung kennt jeder unter der Bezeichnung Kochsalz. Es dass die Atome beziehungsweise Ionen in einer farblosen wurde schon in grauer Vorzeit zum Würzen von Speisen Flamme Licht spezifischer Wellenlängen abgeben, das für

verwendet. Soda (Natriumkarbonat, Na2CO3) benutzten die jedes Element charakteristisch ist. Klassisch befeuchtet alten Ägypter zum Waschen und Reinigen, die Griechen man ein ausgeglühtes Magnesiastäbchen mit etwas und Römer verwendeten dazu Pottasche (Kaliumkarbonat, verdünnter Salzsäure, taucht es in das zu untersuchende

K2CO3). Beide Stoffe wurden durch die Verbrennung von Salz und hält es schließlich in die Bunsenbrennerflamme. Seetang und Küstenpflanzen gewonnen. Man verarbeitete Spektakulärer wird dieses Experiment, wenn man jeweils sie aber nicht nur zu Seife, sondern nutzte sie auch bei der eine Portion Soda und Pottasche in einem kleinen Gefäß, Glasherstellung. Eine weitere Alkalimetallverbindung, die zum Beispiel in der Lade einer Streichholzschachtel, auf der Chemiker und Apotheker Johann Rudolph Glauber im der Heizung trocknet. Danach werden die beiden Stoffe Jahr 1625 in Mineralwasser entdeckte, leistet auch heute zerrieben und in je ein kleines verschließbares Gläschen noch gute Dienste: Das so genannte Glaubersalz (Natrium- gefüllt. Der Bunsenbrenner wird entzündet und die Luftzu-

sulfat-Decahydrat, Na2SO4 ∙ 10 H2O) wird als Abführmittel fuhr maximal geöffnet, so dass eine nicht leuchtende in der Medizin verwendet. Flamme entsteht. Nun schüttelt man das Gläschen mit der Im 18. Jahrhundert begannen Wissenschaftler, die Sodaportion kurz und hält es an die geöffnete Luftzufuhr chemische Zusammensetzung von Soda und Pottasche des Bunsenbrenners. Die Flamme färbt sich augenblicklich aufzuklären. Der französische Chemiker Duhamel du gelb, da Sodastäube mit eingesogen werden. Pottasche Monceau (1700–1782) zeigte, dass man Soda sowohl aus hingegen färbt die Flamme violett. Auch die Salze der

68 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Alkalimetallsalze zeigen in der an sich nicht leuchten- Eisennadeln in Berührung kamen. Ausgehend von diesen

MATTHIAS DUCCI MATTHIAS den Flamme eines Bunsenbrenners charakteristische Versuchen entwickelte der italienische Aristokrat und Flammenfärbungen (von links nach rechts: Lithium-, Physiker Alessandro Volta (1745–1827) einfache elektro- Natrium- und Kaliumkarbonat). chemische Zellen, indem er zwei verschiedene Metalle in eine elektrisch leitfähige Lösung tauchte. Derartige Batte­ rien waren jedoch nicht besonders leistungsfähig. Erst anderen Alkalimetalle zeigen charakteristische Flammen- als er zahlreiche Zink- und Kupferplatten übereinander­ färbungen: Lithiumverbindungen ergeben eine karminrote stapelte, erreichte er wesentlich stärkere elektrische Farbe, Rubidiumsalze leuchten rotviolett und Verbindun- Ströme. Zwischen jedes Paar sich berührender Zink- und gen des Cäsiums blauviolett. Kupferplatten legte er eine mit verdünnter Schwefelsäure Im 18. Jahrhundert stellten die Menschen zwei weitere getränkte Lederscheibe. Diese Anordnung, die später Alkalimetallverbindungen her, indem sie Soda und Pott- den Namen Voltasche Säule erhielt, stellte er im Jahr 1800 asche mit gebranntem Kalk (Kalziumoxid, CaO) und Was- der Royal Society vor, einer 1660 gegründeten britischen ser behandelten: Ätznatron und Ätzkali. Diese Stoffe Gelehrtengesellschaft zur Wissenschaftspflege. Noch im kennen wir heute als Natrium- beziehungsweise Kalium­ selben Jahr machte er die ersten Elektrolyseversuche. hydroxid. Weil sie in Wasser stark alkalische und damit Dabei lässt man elektrischen Strom mit Hilfe zweier Elek­ ätzende Lösungen ergeben, bezeichnete man den Herstel- troden durch eine leitfähige Flüssigkeit, beispielsweise lungsprozess auch als Kaustifizierung (= ätzend machen, eine Salzlösung fließen. Im System läuft eine Redoxreak­ von griechisch »kaustikos« = ätzend und lateinisch »face- tion ab – ein Stoff wird reduziert, während ein anderer re« = machen). Chemisch läuft dabei folgende Reaktion ab oxidiert wird. (»M« steht hierbei für Natrium oder Kalium, die Symbole Der englische Chemiker Humphry Davy (1778–1829) »s«, »l« und »aq« bedeuten »fest«, »flüssig« sowie »in führte zwischen 1805 und 1806 zahlreiche derartige Versu- Wasser gelöst«): che durch. So elektrolysierte er unter anderem wäss-

rige Lösungen von Zinksulfat (ZnSO4) und Natriumsulfat M2CO3(s) + CaO(s) + H2O(l) —› 2 MOH(aq) + CaCO3(s) (Na2SO4). Davy nutzte hierzu zwei Platinelektroden, als Natrium- beziehungsweise Kaliumkarbonat + Kalziumoxid + Wasser —› kostengünstigere Alternative empfehlen sich heute Kohle- Natrium- beziehungsweise Kaliumhydroxid + Kalziumkarbonat elektroden. Er beobachtete, dass sich am Minuspol eine Eine bedeutende Erfindung im Jahr 1799 sollte bei der graue Schicht von Zink abscheidet, da die positiv gelade- Suche nach der Basis von Alkalimetallverbindungen ent- nen Zinkionen in der Lösung zum Minuspol wandern und scheidend weiterhelfen. dort mit je zwei Elektronen Zinkatome bilden: 1780 bemerkte Luigi Aloisio Galvani (1737–1798), dass 2+ - sich die Muskeln in Froschschenkeln zusammenzogen, Minuspol: Zn (aq) + 2 e —› Zn(s) wenn diese mit miteinander verbundenen Kupfer- und Zinkion + Elektronen —› Zinkatom

Spektrum der Wissenschaft 8.19 69 MATTHIAS DUCCI MATTHIAS

In einer Porzellanschale wird geschmolzenes Natriumhydro- zersetzte sich lediglich Wasser zu Wasserstoff und Sauer- xid elektrolysiert. Dabei entsteht Sauerstoff als Gas am stoff. Doch dann hatte Davy die entscheidende Idee: Er Pluspol (links), am Minuspol bildet sich elementares Natri- verzichtete auf das Wasser und elektrolysierte die Alkali- um in Form metallisch-glänzender Kügelchen (rechts). salze in geschmolzenem Zustand. Diesen Versuch können erfahrene Experimentatoren mit den entsprechenden Schutzvorkehrungen (geschlossener Abzug, Schutzbrille, Am Pluspol entsteht Sauerstoff (das Symbol »g« steht für Schutzkittel) nachstellen. Hierzu füllt man eine Porzellan- »gasförmig«): schale etwa einen Zentimeter hoch mit frischem, mög- lichst wasser­freiem Natriumhydroxid. Zwei mit einer Pluspol: 2 H O(l) —› O (g) + 4 H+(aq) + 4 e- 2 2 Gleichspannungsquelle verbundene Kupferelektroden Wassermoleküle —› Sauerstoffmolekül + Wasserstoffionen + Elektronen ragen so weit wie möglich in die Schale hinein, dürfen sich aber nicht berühren. Man erhitzt die Schale mit dem Davy schrieb dazu: »Nimmt man Metallauflösungen, so Bunsenbrenner, bis das Natriumhydroxid vollständig bilden sich auf dem negativen Platindraht metallische geschmolzen ist. Nun wird die Spannungsquelle einge- Krystallisationen oder Niederschläge (…) und man findet schaltet und auf 10 bis 15 Volt eingeregelt. Die Schmelze bald in dem positiven Becher eine bedeutende Menge von braust auf, und es ist eine lebhafte Gasentwicklung (Sau- Säure.« Da er bei der Elektrolyse mit zwei Gefäßen arbei- erstoff) am Pluspol zu beobachten. Am Minuspol ent­ tete, meinte er mit dem »positiven Becher« die Lösung, in stehen kleine, metallisch-glänzende Kügelchen, die sich die der Pluspol tauchte. Die saure Lösung entsteht, weil teilweise entzünden. sich neben Sauerstoff auch Wasserstoffionen bilden, die Davy schrieb über seine Beobachtungen: »(…) ich den sauren Charakter einer Lösung verursachen. entdeckte aber kleine Kügelchen, die einen sehr lebhaften Als Davy eine Natriumsulfatlösung elektrolysierte, Metallglanz hatten und völlig wie Quecksilber aussahen. hoffte er, dass sich ein noch unbekanntes Metall am Einige verbrannten in dem Augenblick, in welchem sie Minuspol abscheiden würde und er so die immer noch unbekannte »Basis« des Salzes finden könnte. Zu seiner Enttäuschung entwickelten sich an beiden Elektroden Mit einem Küchen- jedoch nur Gase: Am Pluspol entstand Sauerstoff, und die messer angeschnit- DUCCI MATTHIAS Lösung wurde sauer, am Minuspol bildete sich Wasser- tene Natriumstange stoff, und die Lösung wurde alkalisch: mit »Rinde« aus

- - Natriumhydroxid. Minuspol: 2 H2O(l) + 2 e —› H 2(g) + 2 OH (aq) Wassermoleküle + Elektronen —› Wasserstoffmolekül + Hydroxidionen

Obwohl Davy sein Ziel nicht erreicht hatte, war er – wie fast alle Chemiker seiner Zeit – davon überzeugt, dass Soda, Pottasche, Ätznatron, Ätzkali sowie andere ähnliche Verbindungen bis dato unbekannte Metalle enthalten mussten. Doch trotz des Einsatzes Voltascher Säulen mit 150 Plattenpaaren und einer Spannung von 120 Volt gelang es niemandem, diese herzustellen. Stattdessen

70 Spektrum der Wissenschaft 8.19 gebildet wurden, mit Explosion und lebhafter Flamme; andere blieben bestehen, liefen aber an und bedeckten sich zuletzt mit einer weißen Rinde, die sich an ihrer DUCCI MATTHIAS Oberfläche bildete.« Der Chemiker soll bei seinen Entde- ckungen derart begeistert gewesen sein, dass er seine Arbeit erst nach einer Pause fortsetzen konnte. Bei dieser so genannten Schmelzflusselektrolyse laufen die folgenden Prozesse ab: Minuspol: Na+(l) + e- —› Na(l) Natriumion + Elektron —› Natriumatom

- - Pluspol: 4 OH (l) —› 2 H2O(l) + O2(g) + 4 e Hydroxidionen —› Wassermoleküle + Sauerstoffmolekül + Elektronen

Mit Ätzkali erhielt Davy ähnliche Ergebnisse. Er nannte die beiden neuen Metalle Sodium und Potassium, abgeleitet von Soda und Pottasche. Jöns Jakob Berzelius (1779–1848) gab ihnen die deutschen Bezeichnungen Natrium und Kalium und ordnete ihnen die chemischen Symbole Na und K zu. Die anderen Alkalimetalle wurden erst Jahrzehn- te später entdeckt und in Reinform dargestellt. Davy wie auch andere Chemiker seiner Zeit machten Beim Entsorgen von Natriumschnipseln in einer ethanoli- sich nach der Isolierung der neuen Elemente gleich daran, schen Pyranin-Lösung ändert sich die Fluoreszenz unter UV- ihre Eigenschaften zu untersuchen: Sie sind so weich, Licht (Wellenlänge 365 nm) von blau zu grün. dass sie mit einem normalen Messer durchgeschnitten und portioniert werden können. Da sie schon an der Luft rasch anlaufen und eine Hydroxidschicht bilden, hatte er die Idee, sie in einer Flüssigkeit aufzubewahren. Hierzu eignet sich Paraffinöl, in dem auch heute noch Alkalime- talle gelagert werden. Mit Wasser dagegen reagieren sie heftig; dabei bildet sich Wasserstoff, der sich mitunter entzündet, sowie eine alkalische Lösung. Bei Kalium verläuft dieser Prozess sogar explosionsartig. Chemisch formuliert erhält man: Ethanolat-Ion + Pyranin —› Ethanol-Molekül + Pyranin (deprotoniert) Pyranin (links) fluoresziert unter UV-Licht blau, während seine 2 Na(s) + 2 H O(l) —› 2 Na+(aq) + H + 2 OH-(aq) 2 2 deprotonierte Form (rechts) dann grün leuchtet. Natriumatome + Wassermoleküle —› Natriumionen + Wasserstoff- molekül + Hydroxidionen

Beim Experimentieren fallen beim »Entrinden« des ange- Alkalimetallverbindungen dienen heute unter ande- laufenen Metalls zahlreiche kleine Schnipsel an, die ele- rem zur Energieerzeugung sowie -speicherung (etwa in mentares Natrium enthalten und entsorgt werden müssen. Lithium-Ionen-Akkumulatoren), zu medizinischen Zwecken Dazu gibt man sie in Ethanol, wo sie entsprechend der (beispielsweise Lithiumzitrat in der Neurologie) und als folgenden Gleichung vergleichsweise gemächlich mitein- Addi ­tive in Betonbauten (Lithiumverbindungen). Man fin- ander reagieren: det sie in Feuerwerkskörpern (beispielsweise Kaliumchlo- rat), als Gewürz auf dem Frühstücksei (Natriumchlorid) 2 Na(s) + 2 C H OH(l) —› 2 Na+ + 2 C H O- + H (g) 2 5 2 5 2 und im Düngemittel (darunter Natrium- und Kalium­salze) Natriumatome + Ethanolmoleküle —› Natriumionen + Ethanolat-Ionen + für das Getreide, aus dem unser Frühstücksbrötchen Wasserstoffmolekül entsteht.  Dieses (Entsorgungs-)Experiment ist wesentlich eindrucks- voller, wenn man zuvor den Fluoreszenzfarbstoff Pyranin in Ethanol löst. Unter UV-Licht (mit einer Wellenlänge von QUELLEN 365 Nanometern) fluoresziert Pyranin in Ethanol intensiv Davy, H.: Electrochemische Untersuchungen. In: W. Ostwald blau. Gibt man Natriumreste in diese Lösung, so dass die (Hg.): Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften 45, 1893 oben beschriebene Reaktion einsetzt, ändert sich die Jansen, W. et al.: Die Entdeckung der Alkalimetalle Natrium Fluoreszenz spektakulär von blau nach grün. Dies liegt und Kalium. Praxis der Naturwissenschaften – Chemie in der daran, dass die entstehenden Ethanolat-Ionen jeweils ein Schule 4, 1991 Proton aus den Farbstoffmolekülen abspalten. Dadurch Stalke, D.: Alkalimetalle – reaktive Alleskönner. Praxis der ändern sich die Fluoreszenzeigenschaften des Pyranins. Naturwissenschaften – Chemie in der Schule 3, 2014

Spektrum der Wissenschaft 8.19 71 KELTEN KRIEGER MIT GOLDSCHMUCK

Griechischen und römischen Ge- schichtsschreibern galten die ­Kelten als Barbaren. Doch kunstfertige und mitunter beeindruckend filigrane Goldschmiedearbeiten werfen ein ­anderes Licht auf die gefürchteten Krieger.

Die Archäologin und gelernte Goldschmiedin Barbara Armbruster erforscht am französischen Centre national de la recherche scientifique die theoretischen und praktischen Aspekte prähistorischen Goldschmiedehandwerks. Der Archäometallurge Roland Schwab leitet das Curt-Engel- horn-Zentrum Archäometrie in Mannheim und untersucht Metallartefakte mit naturwissenschaftlichen Verfahren.

 spektrum.de/artikel/1654770

SERIE Gold und Macht

Teil 1: August 2019 Krieger mit Goldschmuck Barbara Armbruster und Roland Schwab

Teil 2: September 2019 Die Herren der Ringe Mai Lin Tjoa-Bonatz

Teil 3: Oktober 2019 Die Schätze der Wikinger MIT FRDL. GEN. VON KELTENWELT AM GLAUBERG KELTENWELT MIT FRDL. GEN. VON Heidemarie Eilbracht und Antje Wendt

72 Spektrum der Wissenschaft 8.19 BARBARA ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- UND FRÜHGESCHICHTE SAARBRÜCKEN ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- BARBARA

Die lebensgroße Statue aus Sandstein »Zur Geradheit und Leidenschaft der Gallier aber (links) ist wohl das Abbild eines Fürsten, gesellen sich Torheit, Prahlerei und Putzsucht. Denn sie der im 5. Jahrhundert v. Chr. in einem tragen viel Gold, um den Hals nämlich Ketten, um die monumentalen Grabhügel am Glauberg Arme und Handgelenke Armringe, und die Vornehmen (Hessen) bestattet wurde. Die Skulptur tragen bunt gefärbte und goldbestickte Kleider.« So be- zeigt ihn mit Halsreif, Arm- und Finger- schrieb der antike Geschichtsschreiber Strabon gegen Ende ring als Teil seines herrschaftlichen des 1. Jahrhunderts v. Chr. in seinem Werk »Geographica« Ornats. Tatsächlich entdeckten Archäolo- die Eliten der keltischen Kultur (siehe »Kurz erklärt: Die gen unter den Grabbeigaben solchen Kelten«, S. 75). Schmuck (oben). Als Julius Cäsar zwischen 58 und 50 v. Chr. Gallien eroberte, beschrieb er die dort ansässigen Stämme in seinem berühmten Werk »De bello Gallico« zwar gleichfalls als ungehobelte und streitsüchtige Barbaren, gleichwohl zollte ihnen der Feldherr Respekt. Nackt sollen die Krieger in die Schlacht gezogen sein, da sie weder Wunden noch Tod scheuten. Die Anführer habe man an ihren »torques« ­erkannt (lateinisch für »das Gedrehte«): offenen, teilweise kordelartig gewundenen Halsreifen aus Gold (siehe Bild oben). Tatsächlich kam in Prunkgräbern in Südwestdeutsch- land, Ostfrankreich und Teilen der Schweiz üppiger Gold- schmuck aus der ersten Phase der keltischen Kultur zum Vorschein, der Hallsteinzeit. Wegen der reichen Beigaben und der Nähe zu großen Siedlungen nannte man diese Grabanlagen bald Fürstengräber. Archäologen entdeckten darin oft auch vierrädrige Wagen, Trinkgeschirr aus Kera-

Spektrum der Wissenschaft 8.19 73 Männern und Frauen offenbar gleichermaßen als Macht­ insignien dienten. Eine der Letzten, die solche Beigaben AUF EINEN BLICK erhielten, war die in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts FILIGRANE KUNSTWERKE v. Chr. verstorbene Fürstin von Waldalgesheim, deren Hals- und Armschmuck mit rankenartigen Verzierungen einmal So furchtlos seien die Kelten, berichten antike Autoren, mehr wohl an mediterrane Vorbilder anknüpfte. 1 dass sie sich nackt in die Schlacht stürzten, ihre Anfüh- Aus späterer Zeit kamen goldene Kostbarkeiten vor allem rer mit goldenen Halsringen angetan. in so genannten Horten zum Vorschein, die man unter anderem in Tempelanlagen oder Naturheiligtümern depo- In der Tat spielte das Edelmetall seit der Frühzeit dieser niert hatte. Dabei erschließt sich nicht immer, ob diese Kultur im 8. Jahrhundert v. Chr. eine große Rolle, wie 2 Niederlegungen »Wertdepots« waren oder einem religiösen »Fürstengräber« zeigen. Später opferten die Kelten es Zweck dienten. Ihre regelhafte Verbreitung spricht allerdings auch Göttern und prägten daraus Münzen. für einen kultischen Opfercharakter. Ihre Goldschmiede waren wahre Meister, die mit diver- Ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. begannen die Kelten eige- 3 sen Techniken aufwändige Formen und Ornamente ne Münzen zu prägen, nachdem sie das Prinzip der Geldwirt- fertigten, in denen sich Keltisches mit Stilelementen schaft von Griechen und Römern übernommen hatten. In mediterraner Hochkulturen vermischte. zahlreichen Goldhorten, etwa bei Niederzier, St. Louis (Frank- reich) und Beringen (Belgien), entdeckten Forscher neben Ringschmuck auch Geldstücke, die man auf Grund ihrer Form und einer Legende nach als »Regenbogenschüssel- mik, Bronze oder Eisen sowie aus der Mittelmeerwelt chen« bezeichnet (siehe Bild unten). Die Bedeutung des importierte Luxusgüter aus Koralle oder Elfenbein. Meistens Edelmetalls erweiterte sich also vom Zeichen der Mächtigen war solcher Prunk Männern vorbehalten, seltene Ausnah- hin zu einem fast schon profanen, freilich sehr wertvollen men jener Zeit sind der in den 1950er Jahren entdeckte Zahlungsmittel. Grabhügel der Fürstin von Vix in Burgund, deren Torques mediterrane Einflüsse zeigt (siehe Bild S. 77), und das 2010 Der Spur des Goldes folgen im Gräberfeld Bettelbühl in den Donauauen geborgene Anscheinend wuchsen die umlaufenden Goldmengen im Grab zweier Frauen, alle aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Lauf der Zeit an: Während die rund 550 bekannten hallstatt- Grabbeigaben aus Edelmetallen umfassten neben per- zeitlichen Objekte aus Gold oder Silber zusammen etwa sönlichem Schmuck und Kleiderbesatz zudem Gefäße und 6,3 Kilogramm auf die Waage bringen, kommen die gut goldverzierte Waffen. Torques gehörten damals ebenfalls 450 Regenbogenschüsselchen aus dem latènezeitlichen oft dazu, seltener goldene Gewandspangen, Nadeln oder Münzschatz von Manching allein schon auf fast vier Kilo- Schalen. All dieser Schmuck diente wohl vor allem der Präsentation von Rang und gesellschaftlicher Zugehörig- keit. Das gilt sicherlich vor allem für solche Gegenstände, die schon zu Lebzeiten getragen wurden. Doch weisen manche keine Gebrauchsspuren auf, waren also wohl eigens für den Totenkult gefertigt worden. Möglicherweise sollten sie den Verstorbenen helfen, ihren Status im Jen- seits zu behaupten. Goldfunde vom Beginn der sich im 5. Jahrhundert v. Chr. anschließenden Latènezeit stammen noch vorwiegend aus Fürstengräbern. Fast monumental mutet ein Standbild an, das sich auf dem Grabhügel vom Glauberg erhob und einen

Keltenkrieger mit Torques, Arm- und Fingerring zeigt. UND FRÜHGESCHICHTE SAARBRÜCKEN ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- BARBARA Genau diesen Schmuck trug der Krieger in Gold gefertigt auch im Grab (siehe Bilder S. 72 und 73). In den Grabstätten fand man mit Masken, Tierbildern und Ornamenten verzierte Hals-, Arm- und Fingerringe, die

In der jüngeren Eisenzeit horteten die Kelten zunehmend ihr Gold – oft in Form so genannter Regenbogenschüsselchen (rechts im Bild). Diese typisch keltischen Münzen tragen ihren Namen auf Grund der Form und einer Volkssage: Sie seien von Regenbogen heruntergetropft und hätten sich an deren Enden gesammelt. Bis heute lebt der Mythos, dass sich dort Töpfe von Gold finden ließen, vor allem in den keltischen Volksmärchen Irlands.

74 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Kurz erklärt: Die Kelten

Laut antiken Autoren wie Strabon, (etwa 450 v. Chr. – um Christi Nach heutigem Verständnis Herodot und Hekataios von Milet Geburt), benannt nach dem Fundort handelte es sich um Stammesver- siedelten die »keltoi« um 600 v. Chr. La Tène am Neuenburgersee in der bände mit jeweils unterschied- zwischen den Quellen des Istros Schweiz. Um neues Land für eine lichen keltischen Sprachen, doch (Donau) und der griechischen wachsende Bevölkerung zu finden, mit ähnlichen religiösen Vorstellun- Koloniestadt Massilia (heute Mar- verließen einige Stämme an der gen und gesellschaftlichen Struktu- seille). Archäologisch lassen sie sich Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert ren. Zudem gilt die Verarbeitung in dieser ersten Kulturphase, der v. Chr. ihre ursprünglichen Sied- von Eisen als eine Kernkompetenz nach einem österreichischen Fund- lungsgebiete nördlich der Alpen. aller Kelten. Weit über die Stam- ort benannten Hallstattzeit (zirka Sie stießen bis nach Rom vor, mesgebiete hinaus waren ihre 800–450 v. Chr.), sogar vom Nord- plünderten das Umland, belagerten Produkte gefragt. Das brachte die osten Frankreichs bis ins nördliche und brandschatzen die Tiberstadt. Eliten in Kontakt mit den damaligen Kroatien, von den Alpen bis zu den Zeitweise erstreckte sich der kelti- Hochkulturen Griechenlands, deutschen Mittelgebirgen nachwei- sche Kulturraum von Spanien bis in ebenso mit italischen Volksstäm- sen. Ihr Siedlungsgebiet vergrößer- die Türkei, von Italien bis auf die men wie den Etruskern und später te sich während der Latènezeit ­Britischen Inseln. den Römern.

gramm. Für die Horte von Irsching oder Gaggers, die Mitte Goldobjekte der Hallstattzeit und der frühen Latènezeit, das des 19. Jahrhunderts entdeckt wurden, dokumentierte das heißt bis in das 3. Jahrhundert v. Chr., tatsächlich häufig Königliche Münzcabinet in München damals sogar doppelt das typische Elementmuster so genannter Flussseifen bis dreimal so viele Geldstücke; leider wurden sie anschlie- aufweisen. Dieses Gold wird durch Verwitterungsprozesse ßend verkauft oder eingeschmolzen. aus den primären Goldlagerstätten freigesetzt und vom Woher aber hatten die Kelten das viele Gold? Dem Regen in Gewässer gespült, wo es mit anderen Mineralen griechischen Gelehrten Poseidonios (135–51 v. Chr.) zufolge in Bereiche geringer Strömungsgeschwindigkeit absinkt wuschen sie es aus dem Sand und Geröll von Flüssen. und »Seifen« genannte Lagerstätten bildet. Ab dem 5. Jahr- Naturwissenschaftliche Analysen konnten zeigen, dass hundert v. Chr. begann man aber auch schon mit dem Abbau von Berggold, etwa im französischen Massif central und in den belgischen Ardennen. Schriftquellen zufolge erreichte Gold zudem in Form von Staub, Barren oder Fertigprodukten als Importware den keltischen Kulturraum. Um dabei keinem Betrug aufzusit- zen, wurden die Chargen auf ihre Reinheit getestet. Dazu dienten feinkörnige, dunkle Kieselsteine: Mit dem zu beur- teilenden Gegenstand zeichnete man einen Strich auf solche Steine. Der charakteristische Farbton dieses Abriebs verriet dem erfahrenen Prüfer die Qualität des Metalls. Zu den natürlichen Beimengungen von Seifen- und Berggold gehören auch Anteile von Silber. Mitunter wurde

BARBARA ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- UND FRÜHGESCHICHTE SAARBRÜCKEN ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- BARBARA das Material geläutert, also das Silber abgetrennt, da es einen helleren Glanz verleiht, der nicht immer erwünscht war. Dazu bedurfte es der so genannten Zementation: In einer chemischen Reaktion mit Kochsalz wird das Silber in Silberchlorid überführt, während das Gold davon unberührt bleibt. Die Reaktion findet in einem Tongefäß statt, das neben dem Kochsalz noch zerkleinerte, angefeuchtete Kera- mik enthält, die das pulvrige Silberchlorid aufsaugt, so dass das Gold als poröse Masse zurückbleibt. Archäologisch ist die Methode erstmals für Sardis in der heutigen Türkei belegt. Dort soll der legendäre König Krö- sus bereits Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. eine Goldraffi- nation betrieben haben, um Münzen mit einem standardi- sierten, hohen Feingehalt zu prägen. Tatsächlich weisen griechische Goldstücke ab dieser Zeit einen sehr hohen

Spektrum der Wissenschaft 8.19 75 Reinheitsgrad auf. Einige gelangten wohl durch den See- chemisch verändert sein. Die Methode liefert daher oft nur handel in die keltische Welt, vor allem über die Hafenstadt Näherungswerte. Eine gute Alternative ist die massenspek­ Massilia, das heutige Marseille; andere wahrscheinlich im trometrische Analyse, mit der sich selbst Spurenelemente Gepäck keltischer Söldner. Insbesondere die Münzen der mit Konzentrationen von teilweise weniger als einem Milli- im heutigen Böhmen siedelnden Boier bestanden aus gramm pro Kilogramm identifizieren lassen. hochreinem Gold. Im Dienst mediterraner Herrscher könn- Zweifellos bezeugen die goldenen Schmuck- und Pres­ ten Krieger entsprechenden Lohn erhalten haben. Zurück in tige ­objekte ein hervorragendes Knowhow in der Metal­ ihrer Heimat, ließen sie die fremden Münzen dann in die lurgie und eine außergewöhnliche Kunstfertigkeit. Die einheimische Währung umprägen. Bearbeitung des hochwertigen Materials war sicherlich nur Die ältesten keltischen Artefakte aus geläutertem Gold wenigen vorbehalten, ebenso das geheime Wissen um stammen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., blieben aber nach Zeichen und Symbole. Konkrete schriftliche Informationen derzeitigem Forschungsstand die Ausnahme. Denn je höher oder bildliche Darstellungen von Goldschmieden bei der der Feingehalt, desto weicher das Metall. Je nach Anwen- Arbeit, wie wir sie etwa aus dem alten Ägypten kennen, dungszweck haben die Schmiede der Goldschmelze des- sind aus der keltischen Kultur leider nicht überliefert. halb Silber oder Kupfer zugegeben. ­Ebenso fehlen archäologische Funde entsprechender Die Forscher spüren der Herkunft des Edelmetalls und Goldschmiede­ateliers. Um die Bearbeitungstechniken zu den einzelnen Schritten bei seiner Weiterverarbeitung rekonstruieren, studieren Archäologen daher vor allem inzwischen mit naturwissenschaftlichen Analyseverfahren die Spuren, die Werkzeuge auf Objektoberflächen hinter­ nach. Mittels Röntgenfluoreszenzanalyse (siehe »Kurz lassen haben. erklärt: Spektroskopie des Goldes«, unten) bestimmen sie Demnach verfügten die Handwerker über Schmelztiegel die Hauptbestandteile der Artefakte und erkennen auf diese und Gussformen, die sie aus Ton oder aus Stein herstellten. Weise Legierungen, deren geografische Verbreitung sie Mit Hämmern, Ambossen, Meißeln, Punzen (Schlagstem- untersuchen. Das Verfahren sieht aber nur die oberflächli- pel), Pinzetten und Zangen aus Bronze, Eisen, Knochen, che Zusammensetzung der Objekte, und gerade die kann Hirschgeweih oder Holz formten und verzierten sie die beispielsweise durch die Korrosion von Kupfer und Silber Roherzeugnisse, wie experimentell arbeitende Archäologen zeigen konnten. Um Kanten und Oberflächen zu glätten, nutzten sie vermutlich Schleifsteine, feinen Sand, Asche und Zinnkraut. Metallmenge und Qualität kontrollierte man Kurz erklärt: mit Waagen, Gewichten und den erwähnten Prüfsteinen. Spektroskopie des Goldes Für Vorprodukte wie Barren verwendeten die Gold- schmiede das einfache Herdgussverfahren mit einer offe- Aus welchen Elementen und chemischen Verbin- nen Gussform. Für komplexere Stücke arbeiteten sie mit dungen ein Stoff besteht, ist eine Grundfrage für dem anspruchsvolleren »Guss in verlorener Form«, bei dem jede Materialcharakterisierung. zunächst ein Modell aus Wachs gefertigt wurde, das sie mit Bei der zerstörungsfreien Röntgenfluoreszenz- Ton ummantelten. Nach dem Trocknen der Gussform wurde analyse werden Atome durch energiereiche das Wachs ausgeschmolzen und der verbliebene Hohlraum Röntgenstrahlen angeregt, die ihrerseits eine mit Goldschmelze gefüllt. charakteristische Fluoreszenzstrahlung im Rönt- genbereich aussenden. Das Spektrum dieser Komplexe Formen dank Goldlot Fluoreszenz verrät Experten, welche Elemente in Die Handwerker verwendeten zudem Goldbleche, um hohle einer Probe vertreten sind. Nur in geringen Men- und somit leichtere Objekte herzustellen, was enorm viel gen vorkommende Konzentrationen kann man mit Material sparte. Mit Punzen formten sie Reliefs und geomet- dieser Methode allerdings nicht messen. rische Muster in die Bleche. All diese Verfahren des Gießens Für eine solche Spurenelementanalyse mussten und plastischen Verformens waren bereits den bronzezeitli- den Artefakten bis vor einigen Jahren größere chen Goldschmieden bekannt. In Mitteleuropa wurde Proben entnommen werden. Dieses Problem löst während der Hallstattzeit aber erstmals das Löten ange- die Laser-Ablations-Technik, bei der ein hoch- wandt. Dabei verband man mehrere Einzelteile wie goldene energetischer Lichtstrahl winzige Probenmengen Bleche, Drähte und Stäbe zu komplexeren Objekten. Dazu von der Oberfläche verdampft. diente Goldlot, eine Legierung aus Gold mit einem höheren In einem Massenspektrometer lassen sich die Anteil an Kupfer, die bei geringeren Temperaturen schmilzt verschiedenen Elemente nach ihren Atommassen als die zu verbindenden Komponenten. Stücke oder Späne auftrennen. Die verdampften Partikel werden davon legte der Schmied an die passende Stelle und erhitz- ionisiert und in einem elektrischen Feld beschleu- te das Werkstück beispielsweise in einem Holzkohlefeuer. nigt. Je nach Analysesystem werden die verschie- Dank dieser Technik ließ sich eine große Palette an komple- denen Isotope auf unterschiedliche Weise entspre- xen Formen und Verzierungen erzeugen. In der Latènezeit chend dem Verhältnis von ihrer Masse zu ihrer hat man dann selbst kleine Fingerringe oder Haarschmuck elektrischen Ladung getrennt. aus vielen Kleinteilen durch Löten aufgebaut. Das Meisterstück aber ist der aus 66 Elementen beste- hende hohle Torques aus dem Grab der keltischen Fürstin

76 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Um 500 v. Chr. beherrschte die Fürstin von Vix einen der reichsten Handelsplätze der Kelten, den Mont Lassois an der Seine. Mit Griechen und italischen Stämmen stand sie wohl in regem Aus- tausch, wie ihre Grabbeigaben nahelegen. Auch in ihrem imposanten Halsreif spiegeln sich Einflüsse aus der mediterranen Kultur. Hergestellt wurde er aber höchstwahrscheinlich von keltischen Gold- schmieden (rechtes Bild: Detailvergrößerung). BARBARA ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- UND FRÜHGESCHICHTE SAARBRÜCKEN ARMBRUSTER / MUSEUM FÜR VOR- BARBARA von Vix in Burgund (um 500 v. Chr., siehe Bild oben). Seine in Blech ziseliert sind, wobei das Relief mit Punzen heraus Enden zieren stilisierte Mohnkapseln, die selbst aus meh­ modelliert oder – jedoch seltener – mit Pressmodeln erzielt reren Einzelteilen bestehen. Darüber sitzt auf jeder Seite wurde. eine naturalistisch gestaltete Löwenpranke; ein dahinter Vordergründig erzählen die Goldobjekte der Kelten eine angeordnetes geflügeltes Pferd scheint gerade zum Sprung Geschichte von Luxus und Macht. Ihre interdisziplinäre anzusetzen. Beide Motive verweisen auf kulturelle Einflüsse Erforschung, die archäologische, herstellungstechnische aus dem Mittelmeerraum. Das filigrane Podest, auf dem und materialanalytische Aspekte verknüpft, erlaubt aber der kleine Pegasus steht, besteht aus zahlreichen Rund- auch spannende Einblicke in die Entwicklung von Kunst, und Perldrähten. Diese dünnen Metalldrähte derart präzise Handwerk und Technologie. Bereits früh standen die kelti- aufzulöten, verlangte eine überaus genaue Materialkenntnis schen Eliten in einem intensiven Austausch mit den Grie- und große Erfahrung bei der Temperatursteuerung. Denn chen, ließen sich von deren Repräsentationskultur und beim kleinsten Fehler drohten solch feine Verzierungen zu Kunsthandwerk inspirieren. Diese Weltgewandtheit zeigt schmelzen – die Arbeit wäre ruiniert gewesen. sich besonders deutlich, wenn mediterrane Ornamente und Anders als die offenen Torques beeindrucken die älteren einheimische Symbolik auf den Goldobjekten eine eigene geschlossenen Arm- und Halsringe durch ihre perfekte Mischung eingingen. Dabei bewiesen keltische Schmiede Symmetrie in der Form und den geometrischen Mustern, und Kunsthandwerker ein erstaunliches Geschick und wie sie im berühmten Fürstengrab von Hochdorf aus dem stellten Goldschmiedearbeiten auf hohem künstlerischem 6. Jahrhundert v. Chr. vorkommen. Mikroskopische Spuren und technologischem Niveau her.  und Experimente, bei denen man diese Schmuckformen immer wieder nachzubilden versuchte, zeigen: Die Ringe QUELLEN wurden auf einer Drückbank gefertigt, indem ein Gold- Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.): blechzylinder über einen Holzmodel mit dem gewünschten Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst. Relief geschoben wurde, der an einer Drehachse befestigt Jan Thorbecke, 2012 war. Während diese rotierte, presste man den Zylinder an Hansen, L.: Hochdorf VIII: Die Goldfunde und Trachtbeigaben des das Holz und arbeitete das Relief mit entsprechenden späthallstattzeitlichen Fürstengrabes von Eberdingen-Hochdorf Werkzeugen ein. Überreste einer solchen Vorrichtung (Kr. Ludwigsburg). Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühge- wurden bislang aber noch nicht gefunden. schichte in Baden-Württemberg 118. Theiss, 2010 Bei den späteren, latènezeitlichen Goldarbeiten finden Rolley, C. (Hg.): La tombe princière de Vix. Picard, 2003 sich diese Zier- und Herstellungstechniken immer seltener. Schwab, R. et al. (Hg.): Early Iron Age gold in celtic Europe. Hier bestimmen vor allem figürliche und sehr plastisch Society, technology and archaeometry. Forschungen zur Archäo- gestaltete Ornamente das Bild, die entweder gegossen oder metrie und Altertumswissenschaft 6,1. Marie Leidorf, 2018

Spektrum der Wissenschaft 8.19 77 ROMAN VEROSTKO

78 Spektrum der Wissenschaft 8.19 ÄSTHETIK MATHEMATISCHE KUNST Aus der Mathematik in- spirierte Bilder und Skulp- turen entfalten ihre atem- beraubende Schönheit. Manchester Illuminated Turing Machine, #23 (1998) Stephen Ornes ist Wissenschaftsjournalist Der US-Amerikaner Roman Verostko machte in den in Nashville, Tennessee, 1940er Jahren eine Kunstausbildung, wurde Priester, und schreibt unter verließ diesen Beruf wieder, heiratete, zerlegte Com- anderem für »Scientific puter und lernte in BASIC zu programmieren. Er ist American« und »New einer der Ersten, der seine Werke mit selbst entwi- Scientist«. ckelter Software erzeugte, und zählt daher zu den  spektrum.de/artikel/1654772 Pionieren der »algorithmischen Kunst«. Als Verostko 1998 das Buch »The Emperor’s New Mind« des berühmten Physikers Roger Penrose las, ließ ihn ein darin beschriebener Aspekt nicht mehr los. Penrose definiert in seinem Werk eine universelle Version der nach dem britischen Wissenschaftler Alan Turing benannten Maschinen, die die Arbeits- weise eines Computers modellieren. Ihre universelle Version sollte Penrose zufolge jede Funktion einer spezialisierten Turing-Maschine nachahmen können. Demnach kann eine universelle Turing-Maschine (UTM) alles berechnen, was berechenbar ist. Dieses Konzept begeisterte Verostko außerordentlich. Daher entschied er, dass die UTM eine prachtvolle Aufmachung verdient. Wegen seiner theologischen Studien orientierte er sich dabei an handschriftlichen mittelalterlichen Texten, die aufwändig mit goldenen und silbernen Illustrationen verziert sind. Mit einem Plotterstift schuf Verostko die abstrakten Figuren, mit denen er die binäre Definition der UTM – eine lange Folge aus Nullen und Einsen – geschmückt hat. ROMAN VEROSTKO

Spektrum der Wissenschaft 8.19 79 Vielen Menschen haucht Mathematik Ehrfurcht ein. Ihre starren Regeln und Prinzipien lassen nur wenig Spielraum für Interpretationen. So wird es beispiels- weise immer unendlich viele Primzahlen geben, genauso wie die Ziffern der Kreiszahl niemals enden. Andererseits ist es diese Beständigkeit, welche die Mathematik für viele so attraktiv macht. Ein Beweis oder eine Gleichung kann ausgesprochen elegant wirken. Gera- de der Bereich der Gruppentheorie, der unter anderem Drehungen und Spiegelungen von Objekten beschreibt, ist dabei besonders reizvoll. Denn die Transformationen lassen sich oft durch Symmetrien visualisieren, wie man sie etwa in den ästhetischen Mustern von Schneeflocken erkennt.  BATHSHEBA

Borromean Rings Seifert Surface (2008)

Seit mehr als einem Jahrzehnt schmiedet die in der Nähe von Boston lebende Künstlerin Bathsheba Grossman mit Hilfe eines 3-D-Druckers mathematische Skulpturen aus Metall. Die drei Außenringe ihres Werks berühren sich zwar nicht, sind aber trotzdem untrennbar miteinander verbunden. Entfernt man einen Ring, lösen sich auch die zwei anderen voneinander. Diese berühmten Borromäi- schen Ringe zieren das Logo der Internationalen Mathematischen Union. Für Mathematiker, die im Bereich der Knotentheorie arbeiten, sind solche Gebilde besonders interessant. Die durch die Borromäischen Ringe begrenzte Oberfläche heißt Seifert-Oberfläche. Um ihre seltsame Form hervorzuheben, hat Grossman eine perforierte Textur gewählt, die durch ein ab- wechslungsreiches Licht- und Schattenspiel ihre ungewöhnliche Topografie betont.

Aurora Australis (2010) Der Informatiker Carlo H. Séquin von der University of California in Berkeley ist durch hunderte Werke bekannt, die abstraktesten geometrischen Konzepten eine Gestalt verleihen. Er hat inzwischen eine vielseitige Sammlung außergewöhnlicher Skulpturen aus Holz, Metall und Kunststoff geschaffen. Für dieses Werk inspirierte ihn ein Lichtspektakel am Himmel der südlichen Hemisphäre: die Aurora Australis. Das verdrehte Band symbolisiert die auf- und abwiegenden Lichtstreifen. Es wechselt von flach zu gebogen und verbindet sich schließlich mit sich selbst. Setzt man einen Finger auf die Skulptur und folgt ihrem Verlauf, berührt man währenddessen die gesamte Figur und kehrt am Ende dorthin zurück, wo man gestartet ist. Die Innenfläche ist demnach auch die Außenfläche des Stücks, was es zu einem Möbiusband macht, der einfachsten »nicht orientierbaren« Oberfläche. Letzteres bedeutet, dass man einem solchen Objekt keine Begriffe wie »vorne«, »hinten«, »innen« oder »außen« zuordnen kann. Laut Séquin sind diese Visualisierungen nicht nur fesselnd, sondern sie verschaffen selbst »Menschen, die Mathe hassen, einen einfacheren Zugang zu abstrakten Konzepten«. CARLO H. SÉQUIN CARLO

80 (1993)

Ende des 20. Jahrhunderts eroberte die »Man- delbrotmenge« die Welt der Mathematik und der Kunst. Diese fraktale Menge ist nach dem fran­ zösisch-amerikanischen Mathematiker Benoît Mandelbrot (1924–2010) benannt, der in den 1970er Jahren als Erster fraktale Strukturen unter- suchte. Sein 1982 erschienenes Buch »The Geo­metry of Nature« ist noch heute ein Klassiker. Um zu prüfen, ob ein Punkt in der komplexen Ebene zur Mandelbrotmenge gehört, muss man seine Koordinaten in eine bestimmte Gleichung einsetzen. Das Ergebnis dieser Berechnung steckt man anschließend wieder in die Gleichung und wiederholt diese Prozedur immer weiter. Falls die dabei entstehenden Werte nicht unbegrenzt ansteigen, liegt der Ausgangspunkt innerhalb der Menge. Die Mandelbrotmenge besteht aus faszinieren- den Mustern, die sich beim Hinein- und Heraus­ zoomen in der Ebene wiederholen. Sie ähnelt einem großen Käfer, der von kleineren Käfern umgeben ist, an denen noch kleinere Käfer kleben und so weiter. Der Programmiererin Melinda Green gefiel diese Darstellung jedoch nicht. Anstatt bloß die Aus- gangspunkte zu visualisieren, veranschaulichte sie, wie einige Punkte durch das Einsetzen in die Gleichung in der Ebene herumhüpfen. Was dabei auf ihrem Monitor erschien, erschreckte sie ge­ radezu. Das so entstandene Bild ähnelt über­ raschenderweise einer Buddhafigur, die sie durch verschiedene Färbungen deutlich betont.

MELINDA GREEN MELINDA Spektrum der Wissenschaft 8.19 81  Einige Wissenschaftler halten es deshalb für falsch, Mathematik und Kunst strikt voneinander zu trennen. Sie versuchen beide Fächer zu verbinden, indem sie Probleme Hyperbolic Plane / Pseudosphere in der abstrakten Sprache von Zahlen und Gruppen formu- (2005) lieren und ihre Antworten in Metallen, Kunststoffen, Höl- zern oder auf dem Computerbildschirm suchen. Sie weben, Daina Taimina begann ihr geometrisches Hand- zeichnen und bauen. Viele »mathematische Künstler« werk in den 1990er Jahren, als die heute pensio- tauschen sich jährlich auf der internationalen Bridge-Kon­ nierte Mathematikerin von der Cornell University ferenz aus oder treffen sich auf der alle zwei Jahre stattfin- einen Kurs zu hyperbolischer Geometrie gab. In denden Gathering 4 Gardner, benannt nach Martin Gardner, der Schule begegnen uns meist nur ebene Flä- der 25 Jahre lang die beliebte Kolumne »Mathematical chen, auf denen es beispielsweise nur genau eine Games« für das Magazin »Scientific American« schrieb. Gerade gibt, die parallel zu einer vorgegebenen In den vergangenen Jahren hat das Interesse an mathe- Geraden durch einen Punkt außerhalb dieser matischer Kunst immer stärker zugenommen, was sich in verläuft. Auf hyperbolischen Flächen gibt es der wachsenden Menge von Ausstellungen und akademi- dagegen mehrere solcher Objekte. Das liegt daran, schen Zeitschriften zu diesem Thema zeigt. Die Anfänge dass diese Flächen eine konstante negative Krüm- des gegenwärtigen Booms reichen bis zum Ende des mung haben – sie ähneln einem Sattel. Ein Beispiel 20. Jahrhunderts zurück. Inzwischen decken Künstler dafür sind die krausen Ränder von Grünkohl. allerdings ein deutlich breiteres Spektrum an mathemati- Taimina wollte handfeste Modelle hyperboli- schen Gebieten ab und verwenden modernere Werkzeuge scher Flächen kreieren, um ihren Studenten einen beim Bau ihrer Kunstwerke.  anschaulichen Eindruck negativer Krümmung zu vermitteln. Weil sie schon fast ihr ganzes Leben LITERATURTIPP lang häkelt, war das ihr Mittel der Wahl. Mit einer Häkelnadel und Garn bewaffnet, begann sie hyper- Gamwell, L.: : A Cultural Story. Princeton University Press, 2015 bolische Flächen zu erzeugen. Das hier gezeigte Die kulturelle Geschichte von Mathematik und Kunst, von der Exemplar ist eine so genannte Pseudosphäre, die Antike bis heute überall negativ gekrümmt ist. Sie ist gewisserma- ßen das »Gegenteil« einer gewöhnlichen Kugel­ oberfläche, die in jedem Punkt eine positive Krümmung hat. Taimina kann sich guten Gewis- sens als Erfinderin der »hyperboli- schen Häkelarbeit« bezeichnen: Inzwischen hat sie Dutzen- de solcher Modelle in allerlei Farben herge- stellt – das größte wiegt knapp acht Kilogramm. DAINA TAIMINA DAINA

82 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Atomic Tree (2002)

Die Natur steckt voll fraktaler Muster, die in jeder Skalierung gleich aussehen, egal ob man hinein- oder herauszoomt: von den buschigen Brokkoliröschen bis hin zu zerklüfteten Ge- birgszügen. Forscher können mit Fraktalen außerdem etliche interessante Phänomene untersuchen, wie die Struktur des Kosmos oder die Flugmuster von Vögeln. Dieses Bild des in Florida lebenden Künstlers John Sims kombiniert drei Darstellungen von Bäumen: eine realistische Form, eine gezeichnete und ein baumförmi- ges Fraktal. »Es steht für die Schnittstelle von Mathe- matik, Kunst und Natur«, erklärt Sims. Diese drei For-

JOHN SIMS men bilden einen Baustein, der sich in unterschiedlichen Größen innerhalb des gesamten Bilds wiederholt und zu einem großen Netzwerk zusammensetzt. Sims stellte das Werk erstmals bei der MathArt / ArtMath aus, einer 2002 von ihm mitkuratierten Aus- stellung am Ringling College of Art and Design in Florida. Außerdem kreierte er viele Werke, die von der Kreiszahl Pi inspiriert sind, darunter Steppdecken und Kleider. Mit seiner Kollegin Vi Hart produzierte er 2015 den Ohrwurm »Pi Day Anthem«, in dem sie, begleitet von Trommeln und Bässen, die Ziffern von Pi rezitieren.

Scarabs (2018) Bjarne Jespersen bezeichnet sich selbst als magischen Holzschnitzer. Der dänische Künstler strebt nach Verwunde- rung: Er will, dass die Menschen seine Holzkreationen sehen, halten, bewegen und trotzdem nicht an sie glauben. »Ich sehe mich eher als Magier denn als Mathematiker oder Künstler«, sagt er. Wenn man »Scarabs« in den Händen hält, merkt man schnell, dass die aus einem einzigen Buchenstück ge- schnitzte Kugel aus losen Käfern besteht. Dennoch grei- fen die Figuren ineinander und können nicht herausgelöst werden, ohne dass etwas zerbricht. Für diese Arbeit inspirierte ihn der niederländische JESPERSEN BJARNE Künstler M. C. Escher, dessen Werke größtenteils mathe- matischer Natur sind. Escher machte geometrische For­- men populär, die in einem sich wiederholenden Muster eine Ebene lückenlos bedecken. Mathematiker untersu- chen seit Langem die Eigenschaften solcher Mosaikarbei- ten – nicht nur auf ebenen Flächen, sondern auch in ge- krümmten Räumen oder in höheren Dimensionen. Escher selbst ließ sich von der islamischen Kunst inspirieren, insbe- sondere von den Mustern, welche die Wände der Alhambra in Südspanien zieren. Für »Scarabs« verwendete Jespersen einen kleinen Käfer als Grundbaustein seiner Kachelung.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 83 Aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschafts- ZEITREISE und Technikgeschichte des Deutschen Museums

REPTILIEN BESSERE VERDAUUNG DANK KOT PRÄPARIEREN »Da Kauwerkzeuge und Verdauungssäfte nicht zu einer LEICHT vollständigen Verdauung pflanzlicher Nahrungsmittel [aus- 1919 GEMACHT reichen], müssen Darmbakterien aushelfen. Schottelins fütterte steril aus dem Ei gekrochene Hühnchen mit sterili- »Die Aufnahme zeig[t] einen sierten Getreidekörnern, und obwohl die Menge genau Wirkt Riesengürtelschweif, [der] an gleich derjenigen war, welche im Freien lebende Kontrolltier- erschreckend Naturtreue wohl kaum etwas chen erhielten, verkümmerten die Hühnchen. Sobald aber lebendig: der zu wünschen [lässt], obgleich eine geringe Menge Hühnerkot mit dem Schnabel in Berüh- präparierte die Präparation in denkbar rung gebracht wurde, begann eine normale Entwicklung, da Riesengürtel- schweif aus einfacher Weise erfolgt ist. Darmbakterien in den Verdauungskanal gelangten, welche Südafrika. Von einer kleinen Öffnung die Nährstoffe zugänglich machten.«Prometheus 1556, S. 376 aus wird die Entleerung der Eingeweide vorgenommen und die Bauchhöhle bis zur EIN BENZINTUNNEL NACH AMERIKA Wiederherstellung der natür- »Nach dem Vorbilde der das Petroleum über hundert und lichen Form mit Watte aus­ mehr Kilometer den Industriezentren zuführenden Rohrlei- gefüllt. Darauf erfolgt die tungen ist ein abenteuerliches Projekt ausgearbeitet, Ameri- Härtung in 4%igem Formalin. ka und Europa durch eine auf dem Meeresboden verlegte Nach vollkommener Härtung Leitung zu verbinden. Sie soll aus weichen, spiralförmig in geeigneter Stellung läßt gewundenen Stahlbändern mit Asbestverkleidung bestehen man das Tier an der Luft und mit Hilfe einer metallegierten Schutzschicht einen trocknen und überzieht es Innendruck von 150 Atmosphären und einen Außendruck mit einer gesättigten Schel- von 700 Atmosphären ertragen. Die 45 cm weite Leitung lacklösung.« Kosmos 8, S. 199–200 soll in der Minute 3000 Liter befördern.« Die Umschau 31, S. 492

IN-VITRO-BEFRUCHTUNG BESCHWÖRT ETHIKDEBATTE HERAUF »Menschliche Eier können in vitro befruchtet werden. Dies 1969 zeigten die Versuche einer Forschergruppe der Universität von Cambridge. Damit dürften sich in naher Zukunft ethische Probleme erheben, beispielsweise die Frage, ob das Experi- SCHWEDISCHE FELSKUNST mentieren mit ›lebenden‹ menschlichen Embryonen unmora- »Im Gegensatz zu mancher Stätte der Vorzeitkunst liegen lisch ist und ob die Vernichtung von Reagenzglas-Eiern einen die nordischen Felsbilder meist still und abseits, fast ›Mord‹ darstellt. Die Übertragung von befruchteten Eiern in unberührt und selbst von den Einwohnern kaum beachtet, Kaninchen als Wirtstiere, was voraussichtlich die Untersu- ungeschützt unter freiem Himmel. Um den Darstellungen chung der Reifung des Embryos über das Zweizellen-Stadi- Dauer zu verleihen, wurden sie in den Stein eingraviert: um hinaus erlauben würde, dürfte zweifellos die Kontrover- ›Hällristningar‹ (Felsritzungen) heißen sie deshalb auf sen weiter anfachen.« Naturwissenschaftliche Rundschau 8, S. 349 schwedisch. Die Entstehungsgeschichte der Ritzungen fällt zusammen mit der nordischen Bronzezeit, etwa 1600 DIE SUCHE NACH GALAKTISCHEN bis 400 v. Chr.« Kosmos 8, S. 332–335 REICHTÜMERN »Die zahlreichen kleinen Himmelskörper, die in unserem Im südschwedischen Sonnensystem vor allem zwischen Mars und Jupiter kreisen, Simrishamn soll ein nordischer Gott diese enthalten beträchtliche Mengen von Edelmetallen. Durch die Fußspuren im Stein ständigen Fortschritte der Weltraumschiffahrt dürften in hinterlassen haben. einigen Jahren die technischen Möglichkeiten geschaffen sein, ihre Reichtümer für irdische Zwecke nutzbar zu ma- chen. Amerikanische Astronomen richten ihr Hauptinteresse auf den Miniaturplaneten ›Ivar‹, der einen Durchmesser von 4 Kilometern hat und im Verdacht steht, gewaltige Platin- mengen zu enthalten.« Neuheiten und Erfindungen 391, S. 133

Spektrum der Wissenschaft 8.19 FREISTETTERS FORMELWELT NACH IHNEN!

Wie im echten Leben kommt es auch in der Mathematik häufig auf die Reihenfolge an – was einige Berechnungen verkompliziert.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1654774 FRANZISKA SCHÄDEL (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.DE/BILDER.HTML) / / FRANZISKA SCHÄDEL (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.DE/BILDER.HTML) 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE) CC BY-SA

or Kurzem habe ich Kartoffelpüree zubereitet. Multipliziert man zwei solche Objekte miteinander, Die Kartoffeln habe ich zuerst geschält, anschlie- entsteht der erste Eintrag der Ergebnis-Matrix aus der ßend gekocht und danach zerstampft. Die Rei- ersten Zeile der ersten Matrix und der ersten Spalte der Vhenfolge war dabei entscheidend: Hätte ich sie zweiten (indem man die jeweiligen Zahlen miteinander zuerst gestampft, dann gekocht und danach geschält, multipliziert und die Resultate anschließend addiert). hätte das nicht nur viel länger gedauert; das Resultat Der zweite Eintrag der ersten Spalte ergibt sich aus der wäre vermutlich auch nicht so lecker gewesen. Bei ersten Zeile der ersten und der zweiten Spalte der meinem Frühstück am nächsten Morgen war die zweiten Matrix, und so weiter. Die Beschreibung des Reihenfolge dagegen egal. Ob ich zuerst die Milch und Vorgangs klingt komplizierter, als er ist – aber man dann mein Müsli in eine Schüssel gebe oder umge- erkennt sofort, dass es dabei auf die Reihenfolge kehrt, spielt für den Geschmack keine Rolle. ankommt. Daher ist die Multiplikation im Fall von In der Mathematik spricht man bei Fragen zur Rei- Matrizen nicht kommutativ. henfolge von »Kommutativität«. Eine Operation zwi- schen zwei Objekten ist genau dann kommutativ, wenn ür mich als Astronom ergibt das Sinn. Als ich folgende Formel gilt: während meines Studiums eine Vorlesung besuch- te, bei der es unter anderem um »Matrizenoptik« Fging, setzte ich mich erstmals ausführlicher mit der Multiplikation dieser mathematischen Objekte ausein- ander. In dem Kurs beschrieben wir Lichtstrahlen, die Der Malpunkt steht dort nicht zwangsläufig für die durch diverse optische Bauteile fallen. Jedes solche Multiplikation, sondern er symbolisiert ganz allgemein Element – eine Linse, ein Spiegel oder ein Prisma – eine »binäre Verknüpfung«, also eine Operation, bei der lässt sich durch eine so genannte Transfermatrix dar- man zwei Elementen ein drittes als Ergebnis zuordnet. stellen; der Lichtstrahl selbst durch einen Vektor. Um Handelt es sich bei a und b zum Beispiel um reelle ein optisches System mit verschiedenen Bauteilen (zum Zahlen, dann kann diese Verknüpfung etwa die Additi- Beispiel ein Teleskop) zu beschreiben, muss man der on oder die Multiplikation sein. Beide Operationen sind Reihe nach die entsprechenden Transfermatrizen in einem solchen Fall kommutativ: Es ist egal, ob man miteinander multiplizieren. Und da es entscheidend ist, 7 + 3 oder 3 + 7 rechnet, es kommt jedes Mal 10 her- in welcher Reihenfolge ein Lichtstrahl die unterschied­ aus. Die Subtraktion und die Division sind dagegen lichen Bauteile durchläuft, muss man aufpassen, wie nicht kommutativ. Das Ergebnis der Rechnung 7 – 3 man die Matrizen in der Berechnung anordnet. unterscheidet sich deutlich von 3 – 7, und sieben Drittel Doch nicht alle Probleme lassen sich durch eine sind etwas anderes als drei Siebtel. korrekte Anwendung des Kommutativgesetzes lösen. Komplizierter wird die Angelegenheit vor allem Ob etwa zuerst die Milch und dann der Tee in die Tasse dann, wenn a und b keine Zahlen mehr darstellen, kommt oder umgekehrt, ist eine Frage, die vor allem in sondern beispielsweise Matrizen. In einer Matrix sind Großbritannien häufig heftige Diskussionen auslöst. mathematische Ausdrücke in einer Tabelle zusammen- George Orwell hat darüber ebenso philosophiert wie gefasst, mit der man genauso umgehen kann wie mit zahlreiche Wissenschaftler – bis heute ohne definitives normalen Zahlen, sofern man sich an die richtigen Ergebnis. Mich stört das hingegen wenig, denn ich Regeln hält. trinke Tee ohnehin lieber ohne Milch.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 85 REZENSIONEN

Die erste Weltumsegelung verlief quer über den Pazifik – und tragi- scherweise nur unweit an zahlreichen Inseln vorbei, von denen die Seefah- rer nichts wussten und auf denen sie dringend benötigte Vor­räte hätten aufnehmen können.

LIBRARY OF CONGRESS, GEOGRAPHY AND MAP DIVISION (WWW.LOC.GOV/RESOURCE/G3200M.GCT00001/?SP=14); BATTISTA AGNESE: PORTOLAN ATLAS OF 9 CHARTS AND A WORLD MAP, ETC. DEDICATED TO HIERONYMUS RUFFAULT, ABBOT OF ST. VAAST. 1544. Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Christian Jostmann GESCHICHTE MAGELLAN ODER DIE ERSTE BIS DER WESTEN UMSEGELUNG DER ERDE ZUM OSTEN WIRD C.H.Beck, Ein neues Buch über Ferdinand München 2019 Magellan und die fast gescheiterte 336 S., € 24,95 erste Weltumsegelung. Die »Vitoria« machte einen ziemlich abgewrackten Eindruck, als sie Anfang September 1522 in den Hafen von Sevilla einlief. Nur ständiges ­Pumpen konnte das Schiff vorm Unter­ gang bewahren. Jämmerlich war auch der Zustand ihrer Mannschaft. Nur 18 Mann hielten an Bord die Stellung, von Krankheit, Hunger und Hitze gezeichnet – kein Wunder, denn sie waren jahrelang unterwegs gewesen und hatten als mutmaßlich erste Men­ schen einmal komplett die Erde um­ rundet. Anfangs fünf Schiffe und fast 250 Männer stark, war die Expedition am 10. August 1519 Richtung Westen in See gestochen, um nun drei Jahre später aus dem Osten zurückzukehren und damit die erste Weltumsegelung der Geschichte abzuschließen. Nicht unter den Rückkehrern war ausgerech­ net der Kommandant der Expedition und jener Mann, dessen Name noch heute für seefahrerische Höchstleis­ tung steht: Generalkapitän Fernão de Magalhães, besser bekannt als Ferdi­ nand Magellan. Er war 1521 während eines Gefechts auf den Philippinen ums Leben gekommen. Magellan war eine der treibenden Kräfte hinter der Unternehmung gewe­ sen, wie Christian Jostmann in diesem Buch sehr anschaulich darlegt. Denn es gelingt dem Historiker und Journalisten nicht nur, Magellans berühmte Welt­ umsegelung einzufangen, sondern insbesondere im ersten Teil des Buchs deren Vorgeschichte detailliert und spannend in Szene zu setzen. Jost­ mann hat dabei in aufwändiger Recher­ che die wenigen Puzzleteile über das Leben des »berühmtesten Portugiesen vor Cristiano Ronaldo« zu einem stim­ migen Bild zusammengefügt. Was nicht eben einfach ist: Während die Medien die Karriere des Fußballstars nahezu vollständig ausleuchten, kennt man von Magellan nicht einmal das Geburtsdatum.

LIBRARY OF CONGRESS, GEOGRAPHY AND MAP DIVISION (WWW.LOC.GOV/RESOURCE/G3200M.GCT00001/?SP=14); BATTISTA AGNESE: PORTOLAN ATLAS OF 9 CHARTS AND A WORLD MAP, ETC. DEDICATED TO HIERONYMUS RUFFAULT, ABBOT OF ST. VAAST. 1544. Spektrum der Wissenschaft 8.19 87 REZENSIONEN

Eines haben Sportler und Seefahrer Seite des Erdballs verlief. Spanien konnt die historischen Quellen zu einer aber gemeinsam: Beide wechselten für erhob daher Anspruch auf die Moluk­ spannenden Erzählung, ohne Überlie­ den Höhepunkt ihrer Karriere zu den ken. Um eine Route dorthin durch ferungslücken mit Spekulationen zu Königlichen nach Spanien. Als »Fidal­ eigenes Territorium nutzen zu können, füllen und somit den Sachbuchcharak­ go«, also als junger Angehöriger des mussten die Spanier den Weg nach ter aufzuweichen. Man merkt, dass niederen Adels, hatte Magellan zwar Westen besser erkunden und zudem der Autor in dem Genre zu Hause ist, einige Fahrten unter portugiesischer eine Wasserstraße finden, die den hat er sich doch bereits in früheren Flagge nach Indien und Malakka (eine Atlantik und den Pazifik durch Amerika Büchern auf historische Reisen bege­ damalige Metropole im heutigen hindurch verband. Die Ausmaße ben – etwa auf die Spuren Amundsens Malaysia) unternommen, war an dieses Kontinents konnten die damali­ und Scotts oder auf alten Pilgerpfaden Schlachten – etwa der Eroberung gen Zeitgenossen kaum abschätzen. nach Rom. Seinen Magellan-Bericht Mombasas – beteiligt und leistete Auf hoher See hörte die Politik bereichert er mit geografischen, Kriegsdienst in Nordafrika. Doch nicht auf. Zwar hatte der Generalkapi­ sozialen und wirtschaftlichen Exkur­ anscheinend blieben ihm weitere tän um sich herum einen loyalen sen, verliert aber nie das Thema aus Fahrten in die Reichtum versprechen­ Trupp aus Verwandten, Bekannten den Augen. Zwar wendet sich der und Landsleuten geschart, doch Band eher an interessierte Laien, wie andere Führungskräfte begehrten die wenigen, eher überflüssigen Die Portugiesen be­ unterwegs gegen ihn auf – sicher Fußnoten nahelegen, doch dürfte er auch, weil Magellan nicht unbedingt auch für Experten einen gelungenen trachteten Magellan ein Freund von Transparenz und Überblick bieten. Ein hilfreiches Per­ als Hochverräter Kommunikation war. Es entwickelte sonenverzeichnis sowie eine umfang­ sich ein Seefahrtabenteuer mit so reiche Bibliografie haben es leider ziemlich jeder Dramatik: eine blutig nicht ins Buch geschafft, sondern sind den Gewürzländer des Ostens ver­ niedergeschlagene Meuterei, ein lediglich auf der Website des Autors wehrt, so dass er sich nach anderen abtrünniges Schiff, Stürme, Skorbut abrufbar. Möglichkeiten umsah. Gemeinsam und Konflikte mit Indigenen. Jost­ Der Rezensent Sebastian Hollstein ist Wissen­ mit dem Kaufmann Cristóbal de Haro mann beschreibt das im ebenso schaftsjournalist in Jena. plante er, eine Flotte zu den Molukken spannenden zweiten Teil des Buchs, zu schicken, eine indonesische Insel­ stellt dabei klar heraus, was Mythos gruppe und damals der einzige und was belegtes Geschehen ist, Mai Thi Nguyen- Gewürznelken-Exporteur. Für diese und ergänzt seinen weitgehend chro­ Kim Expedition gewannen die beiden nologisch ausgebauten Bericht mit KOMISCH, ALLES CHEMISCH! schließlich die kastilische Krone, wertvollen Informationen zur Schiff­ Handys, Kaffee, genau genommen den gerade erst fahrt dieser Zeit. Im Inneren des Ein- Emotionen – wie gekrönten König Karl V., als Investor. bands unterstützen den Leser eine man mit Chemie wirklich alles Es wundert nicht, dass die Portugie­ Weltkarte mit der nachgezeichneten erklären kann sen diese Initiative ihres Landsmanns Route Magellans sowie eine Grafik, Droemer, als Hochverrat betrachteten. die den Aufbau eines Segelschiffs des München 2019 Jostmann zeichnet ein lebendiges 16. Jahrhunderts erklärt. 256 S., € 16,99 Bild der Zeit, indem er sich vor allem Die Entdeckung der nach Magellan auf offizielle Dokumente stützt, die benannten Meeresstraße nördlich von Informationen über Verhandlungen Feuerland, die seine Schiffe an kargen und persönlichen Verbindungen Bergen vorbei in den Pazifik führte, CHEMIE liefern. Die damaligen Seefahrtunter­ markierte erst die Halbzeit jener be­ FRÜHSTÜCKSKAFFEE nehmungen waren höchst politische rühmten Weltumsegelung, die so nie Angelegenheiten: Portugal und Spa­ geplant war. Nach einer langen, buch­ UND BAKTERIEN nien konkurrierten um nichts Geringe­ stäblichen Durststrecke erreichte die MIT FLATULENZEN res als die Weltherrschaft. Zwar hatten dezimierte Mannschaft schließlich die beiden Seefahrernationen den Erd- Anfang November 1521 auf zwei Die Youtuberin Mai Thi Nguyen- ball mit dem Vertrag von Tordesillas Schiffen die Molukken. Magellan war Kim weckt Begeisterung für die 1494 unter sich aufgeteilt: Portugal da längst tot. Fast ein Jahr später Chemie. erhielt alles, was sich östlich einer Linie kehrte allein die »Vitoria« nach Spanien Mai Thi Nguyen-Kim hat eine Missi­ 1770 Kilometer westlich der Kapverdi­ zurück – kaum noch fahrtüchtig, aber on: Die Chemikerin und Youtuberin schen Inseln befand, Spanien alles mit dem Bauch voller Gewürznelken. möchte das Wissen über Chemie westlich davon. Doch immer wieder Ebenso erfüllt, aber weit weniger populär machen. Um ihrem Publikum entbrannten Konflikte darum, wo die erschöpft lässt das Buch auch die die Berührungsangst vor dem Fach zu entsprechende Grenze auf der anderen Leser zurück. Jostmann verknüpft ge- nehmen, schildert sie in diesem Buch

88 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

den Ablauf eines ganz normalen Tags. che Details am Rand. So beschreibt sie akkurateste Analogie, aber Kinder wür­ Was sie zwischen morgens und nicht nur, wie der Wecker klingelt, de sie damit zum Lachen bringen, die abends die Hand nimmt, isst oder sondern stellt auch die Hormone vor, sich dann die Zähne besser putzen. womit sie sich wäscht, damit befasst die der Körper zum Wachwerden Aber das Buch hat noch eine ande­ sie sich aus der Perspektive ihrer aktiviert, und erklärt deren Wirkung. re große Stärke. Denn immer wieder Wissenschaftsdisziplin. Zudem will sie Zusätzlich gibt sie immer wieder weckt die Autorin die Skepsis gegen­ zeigen, dass Chemiker(innen) ganz alltagsrelevante Tipps, indem sie zum über wissenschaftlichen Ergebnissen. normale Menschen sind. Also plaudert Beispiel erklärt, wieso man Kaffee Nguyen-Kim zeigt oft Schwachstellen sie nebenher über ihr Leben, ihre besser erst eine Stunde nach dem einzelner Studien auf, etwa eine zu Familie und den Liebeskummer ihrer Aufstehen trinken sollte oder warum geringe Probandenzahl. Damit möchte besten Freundin. tägliches Duschen gar nicht so gut ist sie erreichen, dass weniger Menschen Der Tag beginnt in dem Buch mit (weil die Tenside und andere Bestand­ neuen wissenschaftlichen Hypes dem schrillen Klingeln des Weckers, teile des Duschgels die hydrophile gedankenlos hinterherlaufen, und den ihr Freund mal wieder zu laut Schutzschicht der Haut zerstören). generell ein Gespür dafür vermitteln, gestellt hat. Es folgt das Koffein im Die Autorin erklärt die chemischen was eine zuverlässigee Information ist. Frühstückskaffee, ein Exkurs in das Zusammenhänge originell, fachlich Einige Studien schildert sie in dem richtige Aufladen des Smartphone-Ak­ kompetent, gut recherchiert und Zusammenhang ausführlicher, etwa kus und etliches mehr. Am Ende jeweils mit Quellenangabe. Sie führt zur Wirkung von Zitrusduft. Psycholo­ beschließt die Autorin den Tag mit chemische Strukturformeln an und ginnen hatten in einem Experiment einem geselligen Wein am Abend. geht auch anderweitig durchaus ins festgestellt, dass Teilnehmer sich unter Bei alldem führt Nguyen-Kim ori- Detail. Trotzdem kommt der Humor dessen Einfluss ordentlicher und fairer ginell in die Grundprinzipien der Che­ nicht zu kurz; so tauchen die Karies­ verhalten. Unter Berücksichtigung der mie ein, beispielsweise in das Teil­ bakterien mit ihren säurehaltigen Versuchsbedingungen ist die Studie chen - und Schalenmodell, das Konzept Ausscheidungen als pupsende Wesen aber alles andere als aussagekräftig. der Wasserstoffbrücke oder die Ok­ im Zahnbelag auf. Die Autorin schreibt Ausführlich plaudert Nguyen-Kim tettregel. Zudem vermittelt sie zahlrei­ dazu, dies sei vielleicht nicht die über ihre persönliche Begeisterung für

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1-2_Spektrum_Live_Schreibwerkstatt.indd 1 26.06.19 10:11 REZENSIONEN

Chemie oder auch darüber, in welche MORALPHILOSOPHIE Evolutionspsychologen Steven Pinker. Männer ihre Freundin verknallt ist. Dieser behauptet einen generellen Das mögen manche Leser(innen) fehl ANLASS Rückgang der Gewalt während der am Platz finden, doch ist zu beden­ ZU ZUVERSICHT? Menschheitsgeschichte, ausgehend ken, dass die Autorin erfolgreiche von enorm hoch eingeschätzten Tö­ Youtuberin ist und ein Großteil ihres Wissenschaft und Technik ent­ tungsraten in archaischen Jäger-und- Publikums aus Mädchen im Teen- wickeln sich ständig weiter. Sammler-Kulturen gegenüber einer Machen wir auch in moralischer ager a­ lter besteht. Ihr Wissenschafts­ vermeintlich wenig kriegerischen Hinsicht Fortschritte? kanal »maiLab« hat inzwischen fast Gegenwart. Doch die archäolo­gischen 350 000 überwiegend junge Abon- Da der normale Alltag keine Nach­ Funde lassen im Hinblick etwa auf die nent(inn)en, und das ist eine Zielgrup­ richt wert ist, dominieren in den Steinzeit auch viel weniger gewaltsame pe, die sich eben unter anderem dafür Medien die sensationellen Ausnahmen Deutungen zu, und in der Gegenwart interessiert, dass Mais Freundin wie Krieg und Verbrechen, Gewalt und herrscht zwar zwischen den Industrie­ Christine die übertriebene Angst ihres amoralische Extravaganzen. Daraus ländern prekärer Friede, doch in ärme­ Freundes vor Fluoriden doof findet, entsteht der Eindruck, überall nähmen ren Weltregionen toben zahl­reiche wie man Ärger auf dem Universitäts- die Untaten zu und es herrsche ein blutige Konflikte. Campus vermeidet oder wie lange es allgemeiner sittlicher Verfall. Anhand Zumindest für den zivili­satorischen dauert, ein Youtubevideo zu drehen. von Fakten tritt der Philosoph Michael Fortschritt der Neuzeit in den Industrie­ Shermer den Gegenbeweis an. ländern kann Shermer positive Indizien Seine Grundthese: Seit 500 Jahren, anführen. Doch was ist mit den techni­ Die Geheimnisse als mit der europäischen Aufklärung schen Massenmorden im 20. Jahrhun­ eines Schokoladen­ der Siegeszug von Wissenschaft und dert? Bei deren Einschätzung wirkt Technik die Welt zu erfassen begann, wohl Shermers amerikanische Prägung kuchens – natürlich hat die Menschheit auch in morali­ mit: Die USA haben in den Weltkriegen scher Hinsicht enorme Fortschritte keine Verwüstung des eigenen Lands mit chemischen gemacht. Dank der Zivilisierung blei­ erdulden müssen, sondern ausschließ­ ben Kooperation und Altruismus nicht lich auf fremdem Boden die aggressi­ Details mehr auf die Familie, den Klan, den ven Mächte Deutschland und Japan Stamm oder die Ethnie beschränkt, niedergerungen – wenngleich unter Oft wirkt es reichlich übertrieben, sondern prägen ganze Nationen und erheblichen Verlusten. wenn die Autorin von ihrer Begeiste­ Staatenbünde. Tribale Konflikte sind Überhaupt wirkt der Autor sehr rung für Chemie schwärmt. Hier hat nicht mehr die Regel, Alltagsprobleme »amerikanisch«. In seiner Jugend hing vielleicht eine gewisse amerikanische werden fast immer friedlich – notfalls er einer evangelikalen Sekte an und Theatralik in Harvard abgefärbt, wo vor Gericht – bereinigt. Gewaltverbre­ vertrat radikal libertäre Positionen, Nguyen-Kim promoviert hat, oder chen, Mord und Totschlag werden lehnte also jede Einmischung des Staats auch die plakative Manieriertheit, die tendenziell seltener. ins Wirtschaftsleben ab. Heute gibt er bei Youtuber(inne)n typisch ist. Wer Darin sieht der Autor den Beweis, die Zeitschrift »Skeptic« heraus und jedoch über die geschwätzigen Teile dass die Menschheit in moralischer argumentiert in seiner Kolumne für die hinwegsehen kann, findet ein unter­ Hinsicht immer »besser« wird. Zum Zeitschrift »Scientific American« aufklä­ haltsames Chemiebuch vor, das am Beleg führt er diverse Fakten ins Feld; rerisch und antireligiös. Ein Kapitel im Ende sogar die Geheimnisse eines viele sind überzeugend, nicht alle seinem Buch trägt den Titel »Warum perfekten französischen Schokoladen­ unumstritten. So beruft er sich auf das Religion keine Quelle der Moral ist«. kuchens verrät. Natürlich mit allen Buch »Gewalt: Eine neue Geschichte In den USA gilt Shermer damit wohl chemischen Details, darunter der der Menschheit« des amerikanischen als typischer »Liberal«, womit dort Strukturformel des Schokoladenbe­ jemand gemeint ist, den wir hier zu standteils Theobromin. Lande als eher links einstufen würden. Das Buch gibt es zudem als sechs­ Michael Shermer Sein Buch liefert interessante Fakten DER MORA­ stündiges Hörbuch, vorgelesen von LISCHE FORT­ zum Wandel moralischer Einstellungen der Autorin. Mit seinen plaudernden SCHRITT und zur Rolle der Gewalt in der Moder­ Passagen und der Mischung aus Wie die Wissen- ne. Zu der verlässlich edierten und gut schaft uns zu Faktischem und Anekdotischem er- besseren lesbar übersetzten deutschen Ausgabe weist es sich als unterhaltsam und Menschen macht ist nur kritisch anzumerken, dass meh­ eignet sich etwa für längere Bahn- Alibri, Aschaffen- rere der in den Anmerkungen angege­ oder Autofahrten. burg 2019 benen Links nicht mehr funktionieren. 565 S., € 29,– Die Rezensentin Katja Engel ist promovierte Der Rezensent Michael Springer ist Physiker Ingenieurin der Werkstoffwissenschaften und Mitarbeiter von »Spektrum der Wissen­ und Wissenschaftsjournalistin. schaft«.

90 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Arten die frühere beziehungsweise BOTANIK Rosemarie Gebauer heutige medizinische Verwendung. ALTE PFLANZENNAMEN HUNDSROSE Hier und da sind Gemälde abgebildet, ERKLÄRT UND KATZEN­ in denen Blütenpflanzen eine Rolle MINZE spielen. Das alles ergibt einen Mix aus Ob Hasenbrot oder Schwanen­ Wie die Rose zum Botanik, Aberglauben, Sagen und blume: Dieses Buch möchte ihre Hund kam und die Minze zur Katze Legenden, Kunst und zahlreichen Namen erklären. Transit, passenden Illustrationen. Die rein »Grün« verkauft sich derzeit offen­ Berlin 2019 botanischen Abbildungen stammen sichtlich gut: Dies ist bereits der 144 S. € 19,80 fast alle aus den hervorragenden vierte Band einer Reihe gleich gestal­ Werken »Flora von Deutschland, Öster­ teter Büchlein, die sich mit alten Na- reich und der Schweiz« von Otto Wil­ men von Blütenpflanzen befassen. Das helm Thomé (1885) und »Deutschlands spiegelt sich in deren Titel wieder, et- Flora in Abbildungen« von Johann wa »Jungfer im Grünen und Tausend­ Begriff im Pflanzennamen nur auf eine Georg Sturm (1796). güldenkraut« beim ersten Band der Tierart, etwa beim »Igelkolben«, Bücher über Pflanzennamen haben Reihe, oder jetzt eben »Hundsrose und manchmal auf mehrere Spezies aus in Deutschland eine lange Tradition. Katzenminze«. Das Anliegen lautet in völlig unterschiedlichen Gattungen Erwähnt seien nur das »Handwörter­ jedem Fall, die vor allem im Volksmund oder Familien, zum Beispiel bei »Gän­ buch der Pflanzennamen« von Robert noch existierenden alten und zum Teil sedistel«, »Gänsefußgewächse« und Zander (1927), die Bibel der Gärtner, wirklich seltsamen Namen ihrer (ver­ »Gänseblümchen«. Alles in allem und das »Wörterbuch der deutschen mutlichen) Herkunft nach zu erklären. porträtiert die Autorin zirka 70 Pflan­ Pflanzennamen« von Heinrich Marzell Die Auswahl dieses Bands be­ zenarten. (1943–1979) in insgesamt fünf Bänden schränkt sich auf insgesamt 42 Tiere Gebauer erzählt in dem Zusammen­ mit rund 3400 Seiten, in dessen Tradi­ im Namen, alphabetisch von »Bär« bis hang gelegentlich auch mythische tion auch die Autorin steht. Gebauer ist »Wurm«. Manchmal bezieht sich der Geschichten und erwähnt bei einigen Diplombiologin, war wissenschaftliche

Reisetermine des Verlags Spektrum der Wissenschaft

EVENTS DREI BESONDERE REISEZIELE Für unsere Leser haben wir gemeinsam mit dem Veranstalter travel-to-nature drei besondere Reiseerlebnisse ausgewählt, die Sie zu Vorzugskonditionen buchen können. Erleben Sie die Schönheit Namibias, die bunte Kultur Perus oder lassen Sie sich bei einer Fotoreise durch Costa Rica die Vielfalt des grünen Landes zeigen. Mit dem Code »Spektrum« bei Buchung einer der Reisen erhalten Spektrum der Wissenschaft-Leser für sich und maximal eine mitreisende Person einen Rabatt von fünf Prozent auf den Reisepreis (Zusatzleistungen ausgeschlossen): www.travel-to-nature.de/spektrum-leserreisen/

Infos und Anmeldung: Spektrum.de/live UNSPLASH / TRAIL (https://unsplash.com/photos/qL_Dbjg3jLs)

1-2_Spektrum_Live_traveltonature.indd 1 26.06.19 09:57 REZENSIONEN Thomas R. Tölle, Christine Schiessl DAS HANDBUCH Angestellte an der Freien Universität Dorfweiher bildeten. Ansonsten ver­ GEGEN DEN SCHMERZ Berlin, arbeitet aber seit 30 Jahren an weist die Autorin hier auf eines ihrer Rücken, Kopf, Museen und in Parks in Berlin und weiteren Bücher und ausdrücklich auf Gelenke, seltene Brandenburg, wo sie Führungen und ein sehr schönes Bild von Hans Mem­ Krankheiten: Was wirklich hilft Exkursionen anbietet. Die auf der ling »Thronende Maria mit Kind, um ZS Verlag, Rückseite zitierte »Berliner Morgen­ 1480/90«, obwohl direkt daneben München 2019 post« beschreibt das so: »Pflanzen wieder eine halbe Seite frei bleibt. 304 S., € 24,99 können die ganze Welt erklären – zu­ Diese Leerräume treten in dem mindest, wenn man jemanden wie Buch häufiger auf und machen in der Rosemarie Gebauer hat, die überset­ Summe mindestens 20 Seiten aus. in München. In dem umfassenden Rat­- zen kann, was uns Pflanzen sagen.« Das großzügige Layout ist aber sicher­ geber erfahren Interessierte, wie Diesen Anspruch freilich kann das lich so geplant und macht das Buch Schmerz entsteht, welche Formen er kleine Buch nicht ganz erfüllen. Die luftiger, was ein Verkaufsargument annehmen kann und wie er sich behan­ Auswahl der behandelten Pflanzen sein mag. Pflanzenkennern bringt das deln lässt. wirkt ziemlich willkürlich. Den Wach­ Werk eher wenig, als Geschenk für Chronischer Schmerz betrifft viele. In telweizen hätte ich erwartet, auch das Pflanzeninteressierte mit geringeren Deutschland leiden allein 23 Millionen Läusekraut, nicht aber den Kanari­ Vorkenntnissen aber könnte es gut Patienten daran – als Begleiterschei­ schen Drachenbaum oder die Kobra­ ankommen. nung von Krankheiten; infolge von lilie. Die Beschreibungen zu einzelnen Der Rezensent Jürgen Alberti ist Biologie­ Verletzungen oder Operationen; oder Pflanzen sind von sehr unterschiedli­ lehrer und Naturfotograf in Bad Schönborn. aus ungeklärten Gründen, weil sich cher Qualität. Der Keulen-Bärlapp ist keine organische oder psychische ganz sicher keine Allerweltsart; er Ursache finden lässt. Ärzte nehmen vor hätte es verdient, wegen seiner Ab­ allem die letzten Fälle oft nicht ernst weichungen von den Blütenpflanzen MEDIZIN und finden deshalb häufig nicht die etwas genauer beschrieben zu wer­ WEGE ZU MEHR richtige Behandlung dafür. Das ist für den. Stattdessen bleibt an der entspre­ LEBENSQUALITÄT die Betroffenen doppelt fatal: Einerseits chenden Stelle im Werk eine Dreivier­ wegen des Schmerzes selbst, anderer­ tel Buchseite frei. Der Name der Zwei Schmerzexperten beschreiben seits wegen der Scham über das ver­ Schwanenblume soll sich laut der Diagnose- und Therapiemöglichkei- meintlich einbildete Leiden, die in vielen Autorin von den weißen Blütenblättern ten sowie neue Forschungsansätze, Fällen zu sozialem Rückzug und Isola­ »mit einem Hauch von Rosa« ableiten: um chronische Pein erträglicher zu tion führt. Umso mehr erstaunt es, dass weiß wie der Schwan, das Rosa »im machen. Deutschland zurzeit weltweit das einzi­ Schnabel gebündelt«. Der einem Schmerzen gehören zu den gesund­ ge Land ist, in dem Schmerz offiziell als Schwanenhals viel stärker ähnelnde heitlichen Komplikationen, die die Krankheit mit eigener Diagnoseziffer Fruchtknoten mit den gebogenen Lebensqualität am stärksten beein­ anerkannt ist. Allein die Tatsache, dass Griffeln ist als Erklärung für den Pflan­ trächtigen. Wenn sie dauerhaft anhal­ der Arzt die Schmerzbehandlung ab­ zennamen zwar weniger »poetisch«, ten, führen sie bei den Betroffenen zu rechnen kann, verbessert die Situation dafür aber deutlich einleuchtender. einem Gefühl der Hilflosigkeit und des der Patienten enorm. Ausgeliefertseins, bis hin zu Depressi­ Das Buch thematisiert diese Dinge onen und Selbstmordgedanken. Dabei auf einfühlsame Weise und möchte den Gänseblümchen hat die moderne Medizin viele Mög­ Patienten Mut machen, sich nicht mit lichkeiten, um Schmerzen abzustellen ihrem Schicksal abzufinden. Jeder prägten früher die oder wenigstens so weit zu lindern, Schmerzpatient, so die Autoren, verdie­ Gänseweiden dass die Patienten ein erfülltes Leben ne eine angemessene Behandlung, führen können. Warum erfahren denn jeder Schmerz sei real, gleich ob trotzdem immer noch zahlreiche eine Ursache dafür dingfest gemacht Das Gänseblümchen, über das Schmerzpatienten eine medizinisch werden könne oder nicht. Obgleich allein man ein ganzes Buch schreiben unzureichende Behandlung? Und wie Schmerzen etwas höchst Subjektives könnte, bekommt in dem Werk 15 kur­ lässt sich das ändern? Dem geht sind, lassen sie sich durch bildgebende ze Zeilen. Diesen zufolge steht das dieses Buch nach, das zwei renom­ Verfahren mittlerweile auch objektiv Gewächs »wie unsere Hausgans auf mierte Schmerzmediziner herausge­ sichtbar machen. einem Bein und ist mit den Farben geben haben: Thomas R. Tölle, Leiter Nach einer kurzen Einführung in die weiß und gelb ausgestattet«. Das ist des Zentrums für Interdisziplinäre Grundlagen der Schmerzentstehung weit hergeholt. Gänseblümchen Schmerzmedizin am Klinikum rechts besprechen die Autoren verschiedene heißen so, weil sie früher – neben dem der Isar der TU München, und Chris­ Schmerzarten in jeweils eigenen Kapi- Gänsefingerkraut – ein bestimmendes tine Schiessl, Chefärztin der Algesiolo­ teln. Dabei gehen sie auf Rücken-, Element der Gänseweiden rund um die gikum -Tagesklinik für Schmerzmedizin Nacken-, Muskel-, Kopf-, Gelenk-

92 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Bauch- und Nervenschmerzen ein, ebenso auf Schmerzen bei Krebs, nach Operatio­ nen und Verletzungen. Weiterhin zur Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Carsten Könneker M. A. (v.i.S.d.P.) Sprache kommen das oft extrem belasten­ Redaktionsleiter: Dr. Hartwig Hanser de und schwer greifbare Fibromyalgie- Redaktion: Mike Beckers (stellv. Re­daktionsleiter), Manon Bischoff, Robert Gast, Syndrom sowie das komplexe regionale Dr. Andreas Jahn, Dr. Verena Leusch (Volontärin), Dr. Klaus-Dieter Linsmeier (Koordinator Archäologie Geschichte), Dr. Frank Schubert, Verena Tang; Schmerzsyndrom, bei dem meist infolge E -Mail: [email protected] einer Verletzung unverhältnismäßig starke Freie Mitarbeit: Dr. Gerd Trageser Qualen entstehen, die sich schwer behan­ Art Direction: Karsten Kramarczik deln lassen. Für jedes Kapitel zeichnen Layout: Oliver Gabriel, Anke Heinzelmann, Claus Schäfer, Natalie Schäfer Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle spezialisierte Fachärzte verantwortlich, die Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe Kinder und Erwachsende jeweils separat Redaktionsassistenz: Andrea Roth betrachten. Zusätzlich berichten Patienten Assistenz des Chefredakteurs: Lena Baunacke von ihren Leidensgeschichten und schil­ Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 48 40, dern, was ihnen letztlich half, mit dem 69038 Heidelberg, Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-600, Fax: 06221 9126-751, Amtsgericht Mannheim, HRB 338114 Schmerz fertig zu werden. Geschäftsleitung: Markus Bossle Der letzte Teil des Werks konzentriert Herstellung: Natalie Schäfer sich auf die diversen Therapieformen, von Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741, denen die medikamentöse Behandlung nur E -Mail: [email protected] Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744 eine ist – neben Psycho-, Bewegungs- Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Markus Fischer, Dr. Claudia Hecker, oder Kunsttherapie, Akupunktur, Achtsam­ Susanne Lipps-Breda, Dr. Sebastian Vogel. keitstraining, Heilfasten, verschiedenen Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, Ilona Keith, Tel. 06221 9126-743, E-Mail: [email protected] Entspannungstechniken und anderen. Das Vertrieb und Abonnementverwaltung: Spektrum der Wissenschaft Buch macht deutlich, dass keine Behand­ ­Verlags ­gesellschaft mbH, c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80, lung bei allen funktioniert und ein einfa­ 70523 Stuttgart, Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366, E -Mail: [email protected], Vertretungsberechtigter: Uwe Bronn ches »Wegdrücken« der Pein mit einem Bezugspreise: Einzelheft € 8,90 (D/A/L), CHF 14,–; im Abonnement Arzneistoff höchstens kurzfristig funktio­ (12 Ausgaben inkl. Versandkosten Inland) € 93,–; für Schüler und Studenten niert. Stattdessen, so die Autoren, müsse gegen Nachweis € 72,–. PDF-Abonnement € 63,–, ermäßigt € 48,–. Zahlung sofort nach Rechnungserhalt. Konto: Postbank Stuttgart, jeder Patient ganzheitlich betrachtet wer- IBAN: DE52 6001 0070 0022 7067 08, BIC: PBNKDEFF den und seinen eigenen Weg finden, mit Die Mitglieder von ABSOLVENTUM MANNHEIM e. V., des Verbands Biologie, dem Schmerz umzugehen. Dazu gehörten Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBio) und von Mensa e. V. erhalten Spektrum der Wissenschaft zum Vorzugspreis. oft vor allem Verhaltensänderungen, und Anzeigen: Karin Schmidt, Markus Bossle, E-Mail: [email protected], häufig müssten die Betroffenen viel aus­ Tel.: 06221 9126-741 probieren, bis sie einen für sich passenden Eine Anzeigenbuchung ist auch über iq media marketing gmbH möglich. Ansprechpartnerin: Anja Väterlein, E-Mail: [email protected] Ansatz finden. Im Zusammenhang mit Druckunterlagen an: Natalie Schäfer, E-Mail: [email protected] Schmerzmitteln behandeln die Autoren Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 40 vom 1. 1. 2019. auch häufig tabuisierte Probleme wie Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. KG, Markt- Medikamentenabhängigkeit und -miss­ weg 42–50, 47608 Geldern Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der brauch sowie medikamenteninduzierten Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche Nutzung des Werks, insbeson­ Schmerz. Weiterhin stellen sie verschiede­ dere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist ohne die vorherige schriftliche Einwilligung des Verlags ne Anlaufstellen für Schmerzpatienten vor. unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks ohne die Quellenangabe in Das Buch besticht mit hoher Informa­ der nachste­henden Form berechtigt den Verlag zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich gestatteten) tionsdichte und übersichtlicher, anspre­ Nutzung des Werks ist die folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle chender Gestaltung einschließlich farbig vorzunehmen: © 2019 (Autor), Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft hinterlegten Textkästen und mehrfarbigen mbH, Heidelberg. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die Grafiken. Die Patientenberichte können Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Auslassungen in Betroffenen Mut machen. Am Ende bleibt Zitaten werden generell nicht kenntlich gemacht. die Erkenntnis, dass es in der Medizin nicht ISSN 0170-2971 unbedingt immer darum gehen kann, SCIENTIFIC AMERICAN Schmerzfreiheit zu erreichen, sondern das 1 New York Plaza, Suite 4500, New York, NY 10004-1562 oberste Ziel lauten sollte, den Patienten Editor in Chief: Mariette DiChristina, President: Dean Sanderson, Executive Vice President: Michael Florek mehr Lebensqualität zu bieten. Und dort­ hin führen viele Wege, wie der Band aufzeigt. Erhältlich im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel Die Rezensentin Larissa Tetsch ist promovierte und beim Pressefachhändler Molekularbiologin und Wissenschaftsautorin bei mit diesem Zeichen. München.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 93 LESERBRIEFE »BÜRGERWISSENSCHAFTLER« Leserbriefe sind willkommen! Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches LANGE IGNORIERT Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an Ökologe Josef Settele trug zusammen, was über den [email protected]. Oder kommentieren Sie im Internet auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die Schwund an Insektenbeständen und dessen Ursachen indivi ­duelle Web­adresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten bekannt ist. (»Beunruhigender Sinkflug«,Spektrum Mai Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe 2019, S. 12) werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können Tim Laußmann, Leverkusen: Als »Bürgerwissenschaftler« so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar mit naturwissenschaftlicher Ausbildung, der sich seit werden. 30 Jahren intensiv mit der Beobachtung von Tag- und Nachtfaltern im Raum Wuppertal befasst, kann ich mich den Ausführungen nur anschließen. Wir blicken mit dem hobby angesehen. Aus meiner Sicht ist nun ein gesell- Naturwissenschaftlichen Verein Wuppertal auf mehr als schaftlicher Konsens wichtig: Niemand will Landwirtschaft 150 Jahre gut dokumentierte Schmetterlingsbeobachtung wie im Mittelalter betreiben, aber kann man der Natur zurück. Aus diesen Daten geht eindeutig hervor, dass der angesichts unserer Überproduktion nicht etwas zurückge- wesentliche Artenverlust, insbesondere bei hoch speziali- ben? Die Bauern sind ebenso wenig schuld an der Misere, sierten Arten, mit der Flurbereinigung in den 1950er Jahren sie sind wirtschaftlichen Zwängen unterworfen, die falsche einherging. Damals mussten mit Hecken umsäumte klein- Anreize setzen. Wenn wir Insekten als wertvoll erkennen, teilige Parzellen zu Gunsten großer Agrarflächen weichen, dann kann man deren Förderung auch finanziell vergüten. die leicht maschinell zu bewirtschaften sind. Das Problem für die Falter: Nicht nur der Nektar war verschwunden, Joachim Lorenz, Karlstein am Main: Ohne Zweifel ist die sondern auch die Nahrungspflanzen der Raupen – Weide, Wahrnehmung, dass es weniger sichtbare Insekten gibt als Schlehe, Weißdorn, Holunder und viele andere Gehölze früher, richtig – auch wenn die Lichtfalle wohl nur einen sowie diverse Kräuter in Saumbereichen. Nur mit Blühstrei- kleinen Teil der Insekten erfasst, denn viele leben außerdem fen an Ackerrändern wird es daher für Schmetterlinge nicht unbeachtet im Boden. Die Gründe kann man aber ebenfalls getan sein. Ein Weiteres trägt die Versiegelung der Land- wahrnehmen. Die Vielfalt und die Masse der Insekten fußt schaft bei. Schmetterlinge überwintern je nach Art als Ei, auf einer kleinräumigen Kulturlandschaft mit artenreichen Raupe, Puppe oder Schmetterling. Alle diese Stadien brau- Pflanzen als Nahrung – nicht auf der Natur. Wenn man chen ihre speziellen Verstecke – Nischen und Ritzen, Höh- diese als ungesteuertes Stück Land als Gegensatz zur len, Steinhaufen, Reisig und so weiter, und dies im Verbund Kultur ansieht, dann gibt es in Deutschland seit Jahrhunder- mit den Lebensräumen der Falter und Raupen. ten keine Natur mehr. Dies alles wurde von uns ehrenamtlichen Insektenkund- Wenn man ein Land sich selbst überlässt, wie im Bayeri- lern spätestens in den 1980er Jahren erkannt und zahlreich schen Wald, dann ist das Ergebnis immer der Wald. Und publiziert, jedoch kaum beachtet. Über Jahrzehnte wurden der ist gegenüber einer Kulturlandschaft artenarm. Es ist die »Bürgerwissenschafter« von der Politik – zumindest doch auffällig, dass meistens ehemalige Kiesgruben, Stein- gefühlt – als liebenswerte Querulanten mit Außenseiter­ brüche, alte Weinberge, Bergbaulandschaften, von Schafen kahl gefressene Heiden, alte Hutewälder zur mittelalterli- chen Tiermast und so weiter zu Naturschutzgebieten erko- ren werden. Die Pflanzen und Tiere gibt es dort nur, weil der Mensch Freiflächen geschaffen hat. Ein Erhalt dieser Sta­ dien in einer natürlichen Sukzession ist immer mit einem dauerhaften Aufwand durch Menschen verbunden.

Udo Becker, Marburg: Wie konnte es passieren, dass die Wissenschaft sich so lange nur mit dem Artenschwund Der erschre- beschäftigt hat, das Problem der abnehmenden Individuen- ckende Rück- zahl aber nicht beachtet hat? Es ist meiner Beobachtung gang der Bio- nach ein Phänomen der Generationenfolge. Für junge masse von Menschen ist es selbstverständlich, dass man weit fahren Fluginsekten, muss, um Orchideenstandorte zu finden oder nicht alltägli- den Forscher che Vögel zu beobachten. Man beschränkt sich auf Biotop- über Jahrzehnte schutz und bewahrt die wenigen Individuen selten gewor- beobachtet dener Arten. Anblicke von blühenden Wiesen, Massen von haben, war Insekten, Fließgewässer, in denen große Fischschwärme Thema unseres als dunkle Wolken erscheinen, fehlen. Die junge Generation Maihefts. auch der Wissenschaftler geht von einer Normalität aus, die

94 Spektrum der Wissenschaft 8.19 für uns Alte nicht normal ist und die, wie man allmählich begreift, nicht normal sein darf. Selbst in dem Spektrum-Artikel ist die wichtige Rolle der Fließgewässer kaum erwähnt. Gerade dort ist aber die Verarmung an Insekten gravierend. Kleinere Gewässer unterliegen einem hohen Risiko, dass durch einmalige JAHR Ereignisse wie Gewitter, Abschwemmungen von Pestiziden oder von Gülle ganze Jahrgänge von Wasserinsekten ver- nichtet werden. Diese sind aber in der Nahrungskette wich- tig. Bei dort lebenden Fischen ist nicht nur die Artenvielfalt, GANGS sondern auch die Individuenzahl zurückgegangen. Meine nicht wissenschaftlich begründbare, langjährige Erfahrung mit Fließgewässern sagt mir, dass vielleicht noch 20 Prozent der in meiner Jugend vorhandenen Fischbestände vorhan- CD-ROM den sind.

UNTERSCHÄTZTER MOND Die Bewegungen von Erdplatten spielten mögli- cherweise eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Lebens. (»Leben durch Platten- 2018 tektonik?«, Spektrum März 2019, S. 42)

Gerhard Wedekind, per E-Mail: Ein Leserbrief im Maiheft (»Mond und Plattentektonik«, Spektrum Mai 2019, S. 95) beschäftigte sich mit der möglichen Rolle des Mondes. Auch ich halte es für wahrscheinlich, dass dieser starken, nicht vernachlässigbaren Einfluss auf die Plattentektonik hat. Die Erde hat als einziger Planet im Sonnensystem einen großen Mond. Wir leben also eher in einem Doppelplaneten- system. Andere feste Planeten, wie unser »Schwesterpla- net« Venus, sind geologisch träge. Plattentektonik findet man am ehesten noch auf den Jupitermonden, die ebenfalls sehr starken Gezeitenkräften ausgesetzt sind. Im Devon (vor zirka 400 Millionen Jahren) hatte das Erd- jahr noch 400 Tage. Aus der Rate der Abbremsung lässt sich abschätzen, dass die Leistung infolge der Gezeitenreibungs- verluste etwa ein Zehntel des Wärmestroms aus der Erde beträgt (der wohl hauptsächlich durch Zerfallswärme er- Die CD-ROM bietet Ihnen alle Artikel zeugt wird). Das scheint nicht viel, aber die Reibungskräfte (inklusive Bildern) des vergangenen Jahres sind im Gegensatz dazu horizontal gerichtet und halten die im PDF-Format. Diese sind im Volltext Erdkruste gegenüber dem Kern etwas zurück. Dies kann recherchierbar und lassen sich ausdrucken. durchaus Kräfte erzeugen, die eine Plattentektonik zumin- dest mit beeinflussen. Eine Registerdatenbank erleich tert Ihnen die Suche ab der Erstaus gabe 1978. Die Jahrgangs-CD-ROM kostet im Einzelkauf ERRATUM € 25,– (zzgl. Porto) oder zur Fortsetzung »Primpolynome«, Spektrum Juli 2019, S. 26 € 18,50 (inkl. Porto Inland).

Im Kasten auf S. 27 ist die Darstellung der Zahl 15 in binärer Tel. 06221 9126-743 Schreibweise falsch: Statt 1111 = 23 + 22 + 21 + 20 muss es heißen: 1111 = 23 + 22 + 21 + 20. Analog sollte bei Punkt 5 statt [email protected] 22 vielmehr 22 stehen. Beim Beispiel 25 sind die Exponenten Spektrum.de/sammeln ebenfalls heruntergerutscht (tatsächlich ist 25 = 24 + 23 + 1).

Wir danken unseren Lesern für die Hinweise. UNSPLASH / RENE BÖHMER (https://unsplash.com/photos/YeUVDKZWSZ4)

Spektrum der Wissenschaft 8.19 95 FUTUR III Der ewige Sturm Eine isländische Exklave überdauert das Ende der Zivilisation Eine Kurzgeschichte von Thomas Grüter

ch war 14, als ich meinen Bruder an die Dämonen verlor. mit Handzeichen verständigen konnten. Es brauchte Mut, Zwei Jahre jünger als ich, war Jamie knapp größer. Und, den Tunnel zu verlassen. Iwas ich damals unverzeihlich fand, sehr viel mutiger. An seinem Ausgang standen nur noch die Reste der Ohne zu zögern, lief er auf einer schmalen Planke über aufgegebenen Wetterstation, von einer übermannshohen einen schäumenden Wildbach oder erklomm eine glitschi­ Mauer vor dem Sturm geschützt. Irgendwann hatten die ge Felswand. So befanden wir ihn eines Tages für würdig, Dämonen die Messgeräte umgeworfen, das Dach der mit uns die verbotene lange Treppe zum Hochland hinauf­ Gerätehütte abgerissen, die Wände zerschlagen und die zuklettern, ins Reich der heulenden Sturmdämonen. Mauer bis auf Brusthöhe abgetragen. Für die Rasmussen­ In Hoddmímis Holt, der tiefen Schlucht, die unsere zwillinge und mich war das Gelände ein fantastischer Heimat war, hörten wir sie dort oben brüllen, kreischen und Spielplatz voller Abenteuer und Gefahr. toben. Sie rollten Steine herum und warfen sie voller Wut Obwohl der Sturm innerhalb der Ruinen der Umfas­ zu uns herunter. Sie verknoteten den Regen zu bizarren, sungsmauer nicht seine volle Kraft entfaltete, hätte er uns weißen Tüchern, bevor sie ihn uns ins Gesicht bliesen. Tief sofort umgeworfen. Also krochen wir, wie Krabben an den unten in der Talsohle hatten sie keine Macht. Nur manch­ Boden gedrückt, dorthin wo Sand und Wind eine schmale, mal, wenn der Sturm von seinem üblichen Südwest auf zwei Handspannen über den Boden reichende Lücke in die Südost drehte, fegten sie das Holt entlang. Dann versteck­ Mauer gefräst hatte. ten wir uns in unseren künstlichen Höhlen und warteten Dahinter lauerte eine graubraune, geröllübersäte Ebene. tagelang, bis sie wieder abzogen. Über sie jagten Schatten und Schleier: die Sturmdämonen. An jenem schrecklichen Tag im Sommer des Jahres 19 Jetzt galt es, einen schnellen Blick in ihr grausiges Reich zu hetzten wir die 845 Stufen hinauf, in Richtung Hochland. erhaschen und dann zurückzurobben, die Augen zugeknif­ Die Treppe ächzte und schwang in ihren Halterungen. fen wegen der Sandkörner, die wie tausend spitze Nadeln in Obwohl wir nicht wirklich glaubten, sie könne sich losrei­ unser Gesicht peitschten. ßen, liefen wir doch, so schnell wir konnten, zuerst auf leichten Füßen, dann mit zunehmend schweren Beinen, ir hatten diese Mutprobe im letzten Jahr abgelegt, keuchend und verschwitzt. aber Jamie war zum ersten Mal hier. Wir sahen Am oberen Ende der Treppe schloss sich der Felsentun­ Wgespannt zu, wie er hinauskroch. An der Mauerlü­ nel an, der mit 42 in den Stein gehauenen Stufen auf die cke angekommen, wartete er eine Atempause des Sturms Ebene führte. Bevor wir in ihn hineingingen, hielten wir an, ab und richtete sich tollkühn auf. Einen Moment stand er schwer atmend, und sahen in die Schlucht hinunter. Unter da, stolz und gerade, mit ausgebreiteten Armen, die Finger dem grauen Himmel strahlten die hell erleuchteten Treib­ in die Steine am Rand der Mauerlücke gekrallt. Triumphie­ häuser wie grüne Edelsteine. Der Fluss tobte und schäumte rend sah er sich zu uns um. Dann packte ihn eine Böe und in seinem geschwungenen Betonbett. Die grauen Doppel­ riss ihn davon. tore der riesigen, in die felsige Wand gesprengten Fahr­ Voller Schrecken kroch ich hinaus und spähte durch die zeughalle erschienen uns winzig. Mauerlücke. Jamie lag 20 Meter entfernt verkrümmt und Nach einer kleinen Atempause wandten wir uns um und regungslos am Boden – so unerreichbar wie auf dem Mond. betraten den Tunnel. Kurz vor dem Eingang hing immer Dann frischte der Sturm noch einmal auf, die Dämonen er- noch die große Bronzetafel mit dem Gründungstext: »Inter­ griffen ihn erneut, warfen ihn herum und zogen ihn immer nationale Forschungsgruppe in Hoddmímis Holt, Island. weiter in ihr Reich. Unser Spiel war vorbei, wir rannten Gegründet im Jahr 0 der zwölf Familien, im Jahr 2085 CE, hinunter, gefährlich schnell, und holten die Erwachsenen, im Jahr 3 des Ewigen Sturms, im Jahr der Evakuierung der doch auch sie konnten nicht helfen. Ich bettelte und weinte, Insel Island. Wir danken dem isländischen Volk und der aber jeder Rettungsversuch hätte nur weitere Menschen in internationalen Gemeinschaft für ihre unschätzbare Hilfe Gefahr gebracht. beim Ausbau unseres Tals.« Darunter hatten die zwölf Niemand bestrafte uns, und das war das Schlimmste. Familien stolz ihre Namen gesetzt und an den unteren Rand Wir wollten Prügel beziehen, als Absolution für unsere der Tafel den rätselhaften Satz eingraviert: »Der Große Rote Sünden, aber es geschah nichts. Der Rat ließ lediglich die Fleck ist auf die Erde gekommen.« Treppe sperren. Je höher wir stiegen, desto lauter wurde das Tosen und Meine Freundschaft mit den Rasmussenzwillingen zer- Pfeifen. An der Tunnelmündung brüllte der Sturm so gewal­ brach, wir unternahmen nichts mehr zusammen und tig, dass er uns jedes Wort vom Mund riss und wir uns nur sprachen lange Zeit nur noch das Nötigste. Aber in unserer

96 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Mehr Sciencefiction-Kurzgeschichten aufspektrum.de/kurzgeschichte

kleinen isolierten Gemeinschaft waren wir letztlich aufei­ rissen unsere Witze darüber, so wie man im Spiel lachend nander angewiesen. Im Jahr meiner Geburt hatten die »Wolf!« ruft. Aber jetzt stand er plötzlich vor uns, riesenhaft Satellitennetze aufgehört, unsere Signale zu beantworten, und grau. so dass wir vom Rest der Welt abgeschnitten waren. Am ersten Tag hörte ich meine Mutter fragen, ob es Mich hatte das nie gestört, ich kannte es nicht anders. vielleicht nur ein Unfall war. Ein explodiertes Kernkraftwerk, Mir und den 20 anderen hier geborenen Kindern, den ein fehlgeschlagener Atomwaffentest. Doch mein Vater Holtern, erschienen die alten Filme und Bilder von wind­ wollte nichts davon hören. Die Signatur des Fallouts deute stillen Orten mit endlos vielen Menschen ganz und gar auf Bomben hin, und bei der Stärke der Strahlung müssten märchenhaft. Unsere Wirklichkeit war der ewige Sturm, hunderte explodiert sein, antwortete er. Meine Mutter und er war immer schon da gewesen. begann zu weinen. »Blödsinn!«, erwiderte Eiður Grímsson, unser Lehrer, wenn einer von uns diesen Gedanken aussprach. Dann ir nannten diese Zeit »Ragnarök«, die Dämmerung erzählte er uns, dass die Menschen die Erde immer mehr der Götter und der Menschen. Draußen wurde es aufgeheizt hatten, bis sich die Luftströmungen verkeilten. Wungewohnt kalt, der ewige Sturm ließ deutlich Und wie schließlich ein riesiger Sturmwirbel zwischen nach, und manchmal regnete es bis zu zehn Tage hinterein­ Island und Grönland stecken geblieben war. Er wuchs stetig ander überhaupt nicht. Dann, nach bangen Wochen, frisch­ an und sprengte bald die Skala der Windstärken. Und er te der Sturm wieder auf. blieb, über Monate und Jahre. Nach zwei Jahren beschloss Der gewohnte tägliche Regen kehrte zurück und wusch das Althing die Räumung Islands. den strahlenden Staub in den Fluss. Mein Vater hatte das »Heldenhaft, wie wir waren«, fuhr Grímsson mit übertrie­ untere Staubecken leerlaufen lassen, damit die radioaktiven benem Pathos fort, »blieben wir zurück, um den ewigen Partikel sich nicht mit dem Schlamm im See absetzen Sturm zu studieren. Und jetzt sitzen wir hier fest.« Wir konnten, sondern gleich ins Meer flossen. Erst nach mehr Holter empfanden das nicht so. Uns erschien die Außen­ als zwei Monaten durften wir in unsere Häuser zurück. welt so mythisch wie Asgard oder der Himmel. Und bald Für uns Holter hatte sich nichts verändert, für die Älteren sollte sie endgültig verlöschen. alles. Und dann fanden wir den toten Mann. Als wir den Es begann 18 Monate nach Jamies Tod. Mein Vater und unteren Stausee wieder fluten wollten, lag er zerschmettert ich überprüften die Generatoren an der unteren Staumauer, am Fuß der Mauer. Er hätte nicht hier sein dürfen, und die das Holt gegen die Küstenebene abschloss. Er war der dennoch lag er da, und schlimmer noch, er trug Waffen. Ein Ingenieur der Gemeinschaft, ich würde sein Amt irgend­ Gewehr, ein Messer, vier Handgranaten. Sein grüner Tarn­ wann übernehmen. anzug und der Inhalt seines Rucksacks verrieten uns nicht, woher er gekommen war. Mehrere Monate lang stellten wir Wachen an die Stau­ mauer. Doch die Sturmdämonen, unsere verlässlichen Viele Jahre lang ließen Kerkermeister, ließen niemanden mehr an uns heran, 16 Jahre lang, bis gestern – als plötzlich das vertraute die Sturmdämonen Heulen des ewigen Sturms abschwoll und verstummte. Als wir erstaunt hinausgingen, leuchtete der sonst grau ge­ niemanden mehr an fleckte Himmel in einem unirdischen Blau, und ein gleißen­ des gelbes Auge verströmte Wärme und Licht. Zum ersten Mal seit Jamies Verschwinden fühlte ich den Drang, zu uns heran beten. Die Dämonen sind gegangen. Unsere Kerkertür steht Plötzlich schrillte ein Alarmton durch die Generatoren­ offen. Wir könnten einfach bleiben und warten, ob die Welt halle. Die Monitore im Kontrollraum meldeten gefährlich zu uns kommt. Doch die Versammlung hat anders ent­ ansteigende Radioaktivität an den Filtern der Belüftungs­ schieden. Eine Expedition wird nach Reykjavik fahren. anlage. Vielleicht ist dort jemand zurückgeblieben. Die Versamm­ Mein Vater rief die Filterdiagramme aller Gebäude auf lung hat mir die Ehre übertragen, eines der schweren und starrte erschrocken auf die rot hinterlegten Werte. Die Raupenfahrzeuge durch die weglose Öde zu steuern. Ich KI wies uns darauf hin, dass die Gefahr von außen kam. habe Angst davor, und ich könnte ablehnen. Aber dann Mein Vater entschied, dass alle sofort die Schutzbunker denke ich an Jamie, der den Mut gehabt hat, aufrecht aufsuchen sollten. Also strömte unsere Gemeinschaft in die gegen den Sturm zu kämpfen. ehemalige Militäranlage, zu der wir aus dem Holt Zugang Wir fahren morgen beim ersten Licht.  hatten. Die Fahrzeughalle und das Baustofflager waren so kon- DER AUTOR struiert, dass sie mehrere hundert Menschen vor Atom­ Thomas Grüter ist Mediziner und verfasst wissen­ kriegen und Vulkanausbrüchen schützen konnten. Eigent­ schaftliche sowie populärwissenschaftliche Artikel und lich liebten wir die regelmäßigen Alarmübungen und Bücher. Er lebt und arbeitet in Münster.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 97 Das Septemberheft ist ab 17. 8. 2019 im Handel. VORSCHAU ALEKSANDARGEORGIEV / GETTY IMAGES ISTOCK ALEKSANDARGEORGIEV

WINDWECHSEL In der Stratosphäre wehen heftige HENRIK5000 / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT HENRIK5000 / GETTY IMAGES ISTOCK; Winde, die alle 14 Monate ihre Rich- tung wechseln. Forscher versuchen dieses Phänomen besser zu verstehen, um seine Auswirkungen auf das Klima vorherzusagen – vor allem dann, wenn der regelmäßige Umschwung wie im Jahr 2016 unerwartet aussetzt.

SYNTHETISCHE ORGANISMEN Die Vorstellung, Leben von Grund auf neu zu erschaffen, fasziniert Menschen seit Langem. Um das Ziel zu erreichen, fügen Forscher

Biomoleküle wie Lipide und Proteine zu Strukturen zusammen, die COLLABORATION (STSCI/AURA)-ESA/HUBBLE NASA, ESA, AND THE HUBBLE HERITAGE dann Eigenschaften ähnlich denen lebender Zellen aufweisen. Auf GIBT ES DIE DUNKLE diese Weise gelingt es ihnen bereits, Gebilde zu erzeugen, die einige Schritte der Fotosynthese nachvollziehen. Das Fernziel ist eine rein MATERIE ÜBERHAUPT? synthetische Zelle, die wachsen, sich teilen und evolvieren kann. Falls die hypothetischen Teilchen nicht existieren, funktioniert die Gravitation auf g­ alaktischen Skalen anders als gedacht. Solche Ideen spielten in den DAS KOMPLEXE INNEN- Theorien bisher nur eine Nebenrolle – LEBEN DER DELFINE vielleicht zu Unrecht. Delfine gelten nicht nur als intelli- gent, sie zeigen auch Charakter. So unterscheiden sie sich indivi- PETERETCHELLS / GETTY IMAGES ISTOCK NEWSLETTER duell in ihren psychologischen Möchten Sie über Themen und Autoren Persönlichkeitsprofilen oder in ih- des neuen Hefts informiert sein? rer Neigung zum Optimismus. Wir halten Sie gern auf dem Laufenden: per E-Mail – und natürlich kostenlos. Registrierung unter: spektrum.de/newsletter

98 Spektrum der Wissenschaft 8.19 Verpassen Sie keine Ausgabe! Bestellen Sie jetzt Ihr persönliches Abonnement, und profi tieren Sie von vielen Vorteilen!

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