Marion Linhardt
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Distanz und Nähe Wie sich Strukturen und Funktionsmechanismen des musikalischen Theaters in Deutschland etabliert haben Von Marion Linhardt Vor 1900 Seit ihrer „Erfindung“ in Italien an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert war die Oper ein Ereignis, das an Orte der politischen und der wirtschaftlichen Macht und geknüpft war, und sowohl den Fürsten als auch den Städten, die sie sich leisteten, und diente zur Repräsentation nach außen wie nach innen. Die Oper war ein teures Spektakel: man hatte eine Kapelle, Gesangssolisten und häufig einen Chor zu un- terhalten, dazu in aller Regel ein Ballett, das entweder in der Oper mitwirkte oder aber in selbständigen Produktionen auftrat. Die Geschichten, die die Oper erzählte, waren darüber hinaus meist von einer Art, die hohe Ansprüche an die szenische Realisierung stellte. In jenem Territorium, das ab 1871 das „Deutsche Reich“ war, verbreiteten sich Oper und Ballett, nachdem sie in Italien und Frankreich als Genres wie als Institution weitgehend professionalisiert waren. Viele kleine und mittlere Höfe in Deutschland orientierten sich im 17. und 18. Jahrhundert in ihrer Repräsentationskultur ein- schließlich der prachtvollen Darbietung theatraler Werke am Vorbild des französi- schen Hofes, und dementsprechend waren es zunächst vornehmlich die Residenzen der deutschen Klein- und Mittelstaaten, in denen sich eine Opern- und Ballettpraxis etablierte. Die in Italien bzw. in Frankreich entwickelten Ästhetiken blieben für den deutschsprachigen Raum noch lange Zeit vorbildlich, wie überhaupt Künstler aus diesen Ländern – oder deutsche Künstler, die bei Italienern oder Franzosen in die Schule gegangen waren – das Gros des Personals stellten, das deutsche Fürsten, seltener deutsche Städte, sich für die Aufführung von Opern und Balletten hielten oder für besondere Anlässe und Zeiträume verpflichteten. Die Residenzen der deutschen Fürsten bildeten ein Netz von Zentren der (zunächst feudalen) Macht und der elitären – weil fast durchwegs einem höfischen Publikum vorbehaltenen – Kunstproduktion und -rezeption. Die zugehörigen Territorien, die zahlreichen Kleinst-, Klein- und Mittelstaaten, waren aber zugleich der Raum, in dem sich Macht auf andere Weise formierte, und zwar eine Macht auf breiterer Basis, wenn auch ohne unmittelbare Herrschaftskompetenz: Gewerbe, Handel, schließlich die Anfänge der Industrialisierung verliehen Orten Gewicht, die keine Residenzfunktion besaßen, sondern „Bürgerstädte“ waren oder, später, im Zuge der einsetzenden Urbanisierung zu Sammelpunkten massenhafter Arbeitskraft wurden. In den Residenzen und den Bürgerstädten gewann Theater mit dem Fortschreiten des 18. Jahrhunderts einen neuen ideellen Bezugsrahmen: die auf die Verbesserung Marion Linhardt: Distanz und Nähe. In: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie 10 (2017), Sonderband 5: Musiktheater in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Räume – Ästhetik – Strukturen. Bd. 1. Hrsg. von Marion Linhardt und Thomas Steiert, S. 7–40: http://lithes.uni-graz.at/lithes/17_sonderbd_5.html 7 LiTheS Sonderband 5 (Dezember 2017) http://lithes.uni-graz.at/lithes/17_sonderbd_5.html des Einzelnen wie der Gemeinschaft ausgerichtete aufklärerische Tugend- und Ver- nunftideologie entdeckte das Theater als ein wesentliches Instrument. In einem in Deutschland bis dahin unbekannten Ausmaß wurde Theater zu einer öffentlich be- handelten Angelegenheit. Auch wenn die exzessiv geführten ästhetischen und phi- losophischen Debatten über Ziel und Nutzen des Theaters und die entsprechenden Forderungen an sein Erscheinungsbild für die Mehrzahl derjenigen, die Theater- aufführungen im Rahmen der höfischen Festkultur, in den wenigen öffentlichen Opernhäusern oder aber während der Aufenthalte wandernder Schauspieltruppen zu Messezeiten, auf Märkten oder in städtischen Sälen besuchten, von geringem Interesse waren, und auch wenn die einschlägigen Programme und Schriften sich ganz überwiegend mit dem Schauspiel und nicht mit dem musikalischen Theater beschäftigten, so zeitigte die theaterästhetische Auseinandersetzung doch Konse- quenzen, die für die Oper und das Ballett und deren Rezeption von ebensolcher Bedeutung waren wie für das Schauspiel: die Überzeugung von der moralischen und gesellschaftlichen Nützlichkeit der Schaubühne beförderte Initiativen, die für ein institutionell verankertes, einem vergleichsweise breiten Publikum zugängliches und bestimmten ästhetischen und sittlichen Standards verpflichtetes Theater eintra- ten. Solche Initiativen gingen von unterschiedlichen Persönlichkeiten aus, unter de- nen sich aufgeklärte Fürsten ebenso fanden wie Stadtverantwortliche, Theaterunter- nehmer ebenso wie Publizisten und Schauspieler. Folgen dieser Initiativen waren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Öffnung von bislang exklusiven höfischen Theatern für ein nicht unmittelbar der Hofgesellschaft verbundenes Publikum und die Errichtung einer größeren Anzahl von Theatern in den Städten. Diese beiden Kategorien von Bühnen ermöglichten es einer Reihe deutscher Schauspieltruppen, sesshaft zu werden; die Dominanz italienischer und französischer Künstler im Be- reich des musikalischen Theaters trat in dem Maß zurück, in dem sich das Spektrum von Formen in den Sparten Oper und Ballett ausdifferenzierte. Die Neupositionierung der deutschen Fürsten als Träger eines Theaters, das nicht mehr ein anlassbezogenes Festtheater war, sondern – zumindest in der Theorie – allen zugänglich sein sollte, fand seit dem späten 18. Jahrhundert ihren Ausdruck im fürstlichen Engagement für Nationaltheater-Unternehmungen in Wien, Mann- heim, Berlin und München, Unternehmungen, deren Programmatik verschiedens- te ästhetische, gesellschaftliche und politische Motivationen miteinander verband. Die Entdeckung des Nationalen, also des „Deutschen“, als Bezugsgröße für Kultur im Allgemeinen und für Theater im Besonderen ist dabei zwar durchaus im Kon- text einer generellen Entwicklung zu sehen, in der das Französische als Leitkul- tur und -sprache der deutschen Höfe in den Hintergrund zu treten begann; ganz praktisch bot sich ein Verzicht auf ausländische Virtuosen und Truppen an den betreffenden Theatern aber nicht zuletzt deshalb an, weil das Engagement deut- scher SchauspielerInnen und SängerInnen eine erhebliche Kostenersparnis mit sich brachte. Die fürstlichen Initiativen für die Begründung von Nationaltheatern waren Teil einer Bewegung, im Rahmen derer die Oper und das Ballett von der 8 Marion Linhardt: Distanz und Nähe Hofhaltung im engeren Sinn abgelöst wurden. Dieser zunächst handlungsbezoge- ne Sachverhalt gewann im 19. Jahrhundert eine räumliche Dimension, nämlich in Gestalt einer großen Anzahl neu errichteter Hoftheater, die von Fürsten ganz oder teilweise finanziert und kontrolliert wurden, aber von vornherein auf ein breiteres städtisches Publikum ausgerichtet waren. Gerade in der Ermöglichung eines solchen öffentlichen Theaters lagen Potenziale für herrschaftliche Repräsentation, wie sie sich noch am Ende des 19. Jahrhunderts in so unterschiedlichen Projekten wie etwa den Königlichen Schauspielen in Wiesbaden und dem Stadttheater in Bromberg / Bydgoszcz manifestierte: die Errichtung eines neuen Hoftheaters in der am Ran- de des preußischen Territoriums gelegenen Weltkurstadt Wiesbaden (Architekten: Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, Eröffnung: 1894) war maßgeblich von Kaiser Wilhelm II. betrieben worden, auf dessen Befehl hier ab 1896 Maifestspiele veranstaltet wurden1, und für das von der Stadt Bromberg in der mehrheitlich von Polen bewohnten preußischen Provinz Posen errichtete Stadttheater (Heinrich See- ling, 1896), das als „Wehr des Deutschthums in der Ostmark“2 begriffen wurde, flossen kaiserliche Subventionen. Während die erstrangigen deutschen Hoftheater – die königlichen in Preußen, Sachsen, Württemberg und Bayern – im 19. Jahrhundert vielköpfige Ensembles von Hofkünstlern beschäftigten, wurden die herzoglichen und fürstlichen Hoftheater in den kleineren Residenzen häufig von wechselnden Truppen und Direktionen be- spielt, wie sie sich auch an den Theatern der Städte fanden. Diese Theater jenseits der Höfe avancierten ihrerseits zunehmend zu Instrumenten der Repräsentation, und zwar der Repräsentation prosperierender städtischer Gemeinschaften. Ältere oder provisorische Spielstätten wurden neu adaptiert, neue von renommierten Baumeis- tern errichtet, wobei die Initiative teils von den Stadtoberen, teils von Privatpersonen ausging. Als Finanzierungsmodell verbreitete sich neben anderen das Aktiensystem: Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und solche mit besonderem Interesse für Theater schlossen sich zu Theatervereinen zusammen, die für die Baukosten aufka- men, fallweise auch die Gesamtverantwortung für den Betrieb der jeweiligen Bühne trugen. Dass eine wachsende Zahl von Theatern sich nun „Stadttheater“ nannte, bedeutete nicht, dass die Städte die Betreiber der Theater gewesen und die künstle- rischen und personellen Belange der Bühnen wesentlich in die Zuständigkeit von Stadtverantwortlichen gefallen wären. Da oder dort waren Städte die Eigentümer der Theatergebäude und leisteten sporadisch Zuschüsse zum Unterhalt der Bühnen, 1 Vgl. hierzu das vielzitierte Wort des Kaisers: „Das Theater ist auch eine Meiner Waffen“. Ansprache an das Kunstpersonal der Königlichen Schauspiele. 16. Juni 1898. In: Die Reden Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1896–1900. Gesammelt und herausgegeben von Johan- nes Penzler. Zweiter Teil. Leipzig: Reclam 1904, S. 98–99, hier S. 98. 2 Ostdeutsche Presse 1896, Nr. 234, zitiert nach: