Manuskript Treffpunkt Klassik
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1 Weltläufige Cellistin „Voyage“ Christine J. Lee, Henry Kramer Fuga Libera FUG 775 Aufregende Sängerschauspielerin “Tiranno” – Kate Lindsey Archangelo, LTG Jonathan Cohen Alpha Classics 736 Überzeugend! Rozsa & Herrmann Music for String Quartet Ensemble Meria Brilliant 10448956 Musikalische Kunst “Sigismondo d’India - Lamenti & Sospiri” Mariana Flores, Julie Roset Cappella Mediterranea LTG Leonardo García Alarcón Ricercar RIC 429 Gut für die Seele “They’re calling me home” Rhiannon Giddens with Francesco Turrisi Nonesuch 10429815 Signet SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs… Gewalttätig, verschlagen und zerstörungssüchtig – das war Nero, der Narzisst auf dem römischen Kaiserthron…Die fantastische Mezzosopranistin Kate Lindsey portraitiert ihn und seine verkommene Bagage auf ihrer neuen CD in barocken Szenen Arien von Monteverdi bis Händel, und macht damit Sir Peter Ustinov Konkurrenz, der einst den Nero im Breitwand-Schinken „Quo Vadis“ gespielt hat. Die Musik zu „Quo Vadis“ stammt von Hollywoods Filmmusik-Legende Miklos Rosza, und was der in seinen Ferien fern von Hollywood für hochinteressante Kammermusik komponiert hat, führt uns hier später das Ensemble Merian vor Ohren. Eine sehr schöne Doppel-CD mit Vokalmusik des viel zu selten gehörten Sigismondo d’India stelle ich Ihnen heute auch noch vor – und ganz zum Schluss meine bisherige Platte des Jahres, auf der eine Folk- und Country-Sängerin aus North Carolina Monteverdi mit einer Stimme singt, die man gar nicht mehr loslassen will… Aber zuallererst gibt’s mal ein bisschen Barber – und eine Cellistin, die Sie kennenlernen sollten. Willkommen bei SWR2 Treffpunkt Klassik Neue CDs sagt Katharina Eickhoff! Samuel Barber, Sonata in c-minor op. 6, III – Allegro appassionato Christine J. Lee, Violoncello Henry Kramer, Klavier „Voyage“, die CD, die die Cellistin Christine J. Lee zusammen mit dem Pianisten Henry Kramer aufgenommen hat, war für mich zuallererst mal eines: eine Erinnerung daran, was für tolle Musik Samuel Barber geschrieben hat, Barber, den alle Welt immer so gern auf das unvermeidliche „Adagio for Strings“ reduziert. 2 „Man sagt, ich habe überhaupt keinen Stil, aber das ist nicht wichtig“, hat Barber mal gesagt – wenn man das so hört, scheint es relativ folgerichtig, dass dieser Samuel Barber in unserer Konzertlandschaft an irgend einer Wegbiegung zurückgelassen worden ist: selber Schuld, wenn er so wenig Distinktionsehrgeiz entwickelt hat… Die Neue Musik-Abteilung Europas ignoriert Barber sowieso seit rund achtzig Jahren naserümpfend, weil er nicht bloß ein Amerikanischer Komponist, sondern für einen amerikanischen Komponisten unglückseligerweise auch noch besonders romantisch veranlagt war. Und die, die keine Neue Musik mögen, hören dann halt doch lieber Brahms. Es stimmt schon: Zwölfton, Atonalität, Serialismus und andere Zahlenspiele haben Samuel Barber wenig interessiert, - „Ich schreibe, was ich fühle“, hat er gesagt, und dieser total subjektive Zugang kam hier in Europa immer so ein bisschen als verwöhnte Disziplinlosigkeit rüber. Die frühe Cellosonate in c-moll wird gerne als typisch Barber, also eher rückwärtsgewandt-romantisch verkauft – ich höre das ehrlich gesagt überhaupt nicht so, stattdessen scheint mir das doch ganz eindeutig Musik des 20. Jahrhunderts. Aber vielleicht liegt es in diesem Fall auch an der Spielweise von Christine Lee und Henry Kramer, dass mir diese Barber-Sonate sozusagen undercover ziemlich modern vorkommt – die zwei sind, das zeigt auch das Programm dieser CD, überzeugte musikalische Omnivoren. Sie können alles spielen, Alte Musik, Romantik oder Atonal - und das bedeutet in dem Fall das Gegenteil von Beliebigkeit: Gute Musiker und Musikerinnen sind heutzutage einfach keine Spezialisten für dieses oder jenes mehr, sondern in allen Jahrhunderten zuhause. Beim Barber jedenfalls folgt man den beiden ziemlich atemlos durch die eigensinnigen Extra- Umdrehungen dieser Musik – Speziell auch Henry Kramers pianistische Virtuosität und Sinnlichkeit sind da einfach ein Riesengenuss! Samuel Barber, Sonata in c-minor op. 6, III – Allegro appassionato 4‘20 „Voyage“ heißt dieses Programm, es ist das CD-Debüt der koreanischen Cellistin Christine J. Lee, und ist gleichzeitig ein Portrait ihres Wegs, als Musikerin und als Mensch – sie ist nämlich schon ziemlich rumgekommen in ganz unterschiedlichen Kulturen: Korean-born, Philadelphia made, so beschreibt sie sich in ihrer Biografie, das „J“ in ihrem Namen steht für JeongHyoun, geboren ist sie nämlich in Südkorea, wo sie schon mit neun Jahren mit dem Seoul Philharmonic Orchestra aufgetreten ist. Seit dem 10. Lebensjahr dann Studium in den USA, am Curtis Institute in Philadelphia, und zuletzt kam auf der Suche nach ihrer künstlerischen Identität auch noch eine große Prise Belgien dazu. Deshalb also der Titel, „Voyage“ – es geht um Christine Lees bisherige Lebensreise als Künstlerin, die für sie auch mit immer neuen Sprachen und manchmal dem Gefühl von Fremdheit verbunden war, Fremdheit, die sie mit Entdeckerinnenlust überwunden hat. Eliott Carter, Sonata for cello and piano, II – Vivace, molto Allegro Das hier ist die Cellosonate von Eliott Carter, deutlich schwerer verdauliche amerikanische Moderne als die von Barber, aber die virtuose Begeisterung, mit der Christine Lee und Henry Kramer diese manchmal ganz schön kratzige Musik servieren, könnte einen glatt zum Carter-Fan werden lassen. „Voyage“ – dieses Portrait der koreanisch-amerikanischen Cellistin Christine Lee ist wohl wirklich auch ein Statement: Das alles bin jetzt also ich. „Das alles“ ist in diesem Fall Musik von Samuel Barber und Eliott Carter, die stehen auf ihren zwei völlig verschiedenen Planeten doch beide für Amerika, das Land, in dem sie erwachsen wurde, Belgien, das Land, in dem sie heute lebt, wird von Eugène Ysaye und Jacques Brel repräsentiert, und Korea ist natürlich auch dabei: Trad./Baek Go San, Arirang 7‘00 3 Dieses Lied, Arirang, kennt in den zwei Koreas so ziemlich jedes Kind – es soll über 600 Jahre alt sein und gilt sowohl im Süden als auch im von der Welt abgeschnittenen Norden als so eine Art heimliche Nationalhymne. Es war auch das Lied des Widerstands unter der japanischen Okkupation im frühen 20. Jahrhundert – wenn Sie mehr über diese bei uns so unbekannte Geschichte Koreas wissen wollen, lesen Sie doch mal „Ein einfaches Leben“, den fabelhaften Roman von Min Jin Lee! Das Sehnsuchtslied „Arirang“ jedenfalls singen und spielen die Leute in Südkorea und Nordkorea bis heute, um an die innere Verbundenheit der beiden so brutal getrennten Landesteile zu erinnern. Das alles hat Christine J. Lee, die ein blitzwaches politisches Bewusstsein hat, durchaus auf dem Schirm, aber man müsste es für ihre Interpretation von „Arirang“ gar nicht wissen, sie spielt das Lied in der Variationenfassung von Baek Go San mit einer so inwendig glühenden, fast schmerzlichen Hingabe, dass man auch so spürt: hier geht’s um die Existenz. Leider ist das das einzige koreanische Stück auf dieser Portrait-CD der jungen koreanischen Cellistin, und das ist eigentlich ziemlich schade, mich hätte interessiert, ob sich klassische koreanische Musik nicht vielleicht gleichberechtigt gewinnbringend in ein europäisch-klassisches Musikprogramm einbauen lassen würde, und zwar nicht nur als Zuckerle obendrauf…Es würde vermutlich zum allgemeinen kulturellen Verständnis gar nicht so wenig beitragen, wenn man da mal ein bisschen offener würde – auch das wäre ein Teil dieser „Diversität“, von der jetzt alle reden. In Musikerkreisen sind ja nämlich gerade asiatische Musikerinnen und Musiker immer wieder vom Rassismus betroffen – ich nehme mich selber da gar nicht aus, weiß es vielmehr noch ganz genau, wie wir damals an der Musikhochschule mit bestürzender Voreingenommenheit den koreanischen Mitstudierenden immer gern mal pauschal das wahre emotionale Verständnis für Musik, also natürlich: „unsere“ Musik, abgesprochen haben. Das ist mir heute peinlich, spätestens, seit Kyung-Wha Chung meine Lieblingsgeigerin wurde, aber ich bin sicher: diesen unguten Reflex gibt es immer noch in der europäischen Musikausbildung. Und nicht zuletzt dafür, bzw. dagegen lohnt es sich, Christine J. Lee kennenzulernen, diese tolle und enorm weltläufige Cellistin, die übrigens auch eine überzeugte und überzeugende Aktivistin für Menschenrechte ist und immer wieder musikalische Charity-Projekte organisiert, sich für Geflüchtete engagiert oder Konzerte für Obdachlose gibt. Im Programm, mit dem sie sich da auf „Voyage“ vorstellt, finden sich in der belgischen Ecke zum Abschluss ihrer Reise noch drei Chansons von Jacques Brel. Man würde denken, dass das nicht funktionieren kann, Instrumentalversionen ausgerechnet von Brel, dessen Lieder ja ein geradezu fetischistisches Verhältnis zur Sprache haben. Aber wenn man genau das, nämlich eine enorm sprechende Phrasierung, zum Prinzip macht, wie das Christine Lee und Henry Kramer tun, dann funktioniert es eben doch, wie man hier jetzt hören kann in dieser wirklich schönen Fassung von „Chanson des vieux amants“, in dem Cello und Klavier so sprechend singen, dass wohl auch der Abbé Brel seinen Segen dazu gegeben hätte… Jacques Brel, La chanson des vieux amants 4‘15 Jacques Brels „Chanson des vieux amants“, gespielt ohne Worte, aber doch ziemlich sprechend - „Voyage“ heißt die sehr schöne CD der Cellistin Christine J Lee, die sich dafür allerdings auch mit einem wirklich fantastischen Pianisten, dem Amerikaner Henry Kramer, zusammengetan hat… Sie hören SWR2 am Sonntagmittag mit Neuen CDs und mit Katharina Eickhoff. 4 Qualis artifex pereo! – Was für ein