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Weltläufige Cellistin „Voyage“ Christine J. Lee, Henry Kramer Fuga Libera FUG 775

Aufregende Sängerschauspielerin “Tiranno” – Kate Lindsey Archangelo, LTG Jonathan Cohen Alpha Classics 736

Überzeugend! Rozsa & Herrmann Music for String Quartet Ensemble Meria Brilliant 10448956

Musikalische Kunst “Sigismondo d’India - Lamenti & Sospiri” Mariana Flores, Julie Roset Cappella Mediterranea LTG Leonardo García Alarcón Ricercar RIC 429

Gut für die Seele “They’re calling me home” Rhiannon Giddens with Francesco Turrisi Nonesuch 10429815

Signet SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs… Gewalttätig, verschlagen und zerstörungssüchtig – das war Nero, der Narzisst auf dem römischen Kaiserthron…Die fantastische Mezzosopranistin Kate Lindsey portraitiert ihn und seine verkommene Bagage auf ihrer neuen CD in barocken Szenen Arien von Monteverdi bis Händel, und macht damit Sir Peter Ustinov Konkurrenz, der einst den Nero im Breitwand-Schinken „Quo Vadis“ gespielt hat. Die Musik zu „Quo Vadis“ stammt von Hollywoods Filmmusik-Legende Miklos Rosza, und was der in seinen Ferien fern von Hollywood für hochinteressante Kammermusik komponiert hat, führt uns hier später das Ensemble Merian vor Ohren. Eine sehr schöne Doppel-CD mit Vokalmusik des viel zu selten gehörten Sigismondo d’India stelle ich Ihnen heute auch noch vor – und ganz zum Schluss meine bisherige Platte des Jahres, auf der eine Folk- und Country-Sängerin aus North Carolina Monteverdi mit einer Stimme singt, die man gar nicht mehr loslassen will… Aber zuallererst gibt’s mal ein bisschen Barber – und eine Cellistin, die Sie kennenlernen sollten. Willkommen bei SWR2 Treffpunkt Klassik Neue CDs sagt Katharina Eickhoff!

Samuel Barber, Sonata in c-minor op. 6, III – Allegro appassionato Christine J. Lee, Violoncello Henry Kramer, Klavier

„Voyage“, die CD, die die Cellistin Christine J. Lee zusammen mit dem Pianisten Henry Kramer aufgenommen hat, war für mich zuallererst mal eines: eine Erinnerung daran, was für tolle Musik Samuel Barber geschrieben hat, Barber, den alle Welt immer so gern auf das unvermeidliche „Adagio for Strings“ reduziert.

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„Man sagt, ich habe überhaupt keinen Stil, aber das ist nicht wichtig“, hat Barber mal gesagt – wenn man das so hört, scheint es relativ folgerichtig, dass dieser Samuel Barber in unserer Konzertlandschaft an irgend einer Wegbiegung zurückgelassen worden ist: selber Schuld, wenn er so wenig Distinktionsehrgeiz entwickelt hat…

Die Neue Musik-Abteilung Europas ignoriert Barber sowieso seit rund achtzig Jahren naserümpfend, weil er nicht bloß ein Amerikanischer Komponist, sondern für einen amerikanischen Komponisten unglückseligerweise auch noch besonders romantisch veranlagt war. Und die, die keine Neue Musik mögen, hören dann halt doch lieber Brahms. Es stimmt schon: Zwölfton, Atonalität, Serialismus und andere Zahlenspiele haben Samuel Barber wenig interessiert, - „Ich schreibe, was ich fühle“, hat er gesagt, und dieser total subjektive Zugang kam hier in Europa immer so ein bisschen als verwöhnte Disziplinlosigkeit rüber. Die frühe Cellosonate in c-moll wird gerne als typisch Barber, also eher rückwärtsgewandt-romantisch verkauft – ich höre das ehrlich gesagt überhaupt nicht so, stattdessen scheint mir das doch ganz eindeutig Musik des 20. Jahrhunderts.

Aber vielleicht liegt es in diesem Fall auch an der Spielweise von Christine Lee und Henry Kramer, dass mir diese Barber-Sonate sozusagen undercover ziemlich modern vorkommt – die zwei sind, das zeigt auch das Programm dieser CD, überzeugte musikalische Omnivoren. Sie können alles spielen, Alte Musik, Romantik oder Atonal - und das bedeutet in dem Fall das Gegenteil von Beliebigkeit: Gute Musiker und Musikerinnen sind heutzutage einfach keine Spezialisten für dieses oder jenes mehr, sondern in allen Jahrhunderten zuhause. Beim Barber jedenfalls folgt man den beiden ziemlich atemlos durch die eigensinnigen Extra- Umdrehungen dieser Musik – Speziell auch Henry Kramers pianistische Virtuosität und Sinnlichkeit sind da einfach ein Riesengenuss!

Samuel Barber, Sonata in c-minor op. 6, III – Allegro appassionato 4‘20

„Voyage“ heißt dieses Programm, es ist das CD-Debüt der koreanischen Cellistin Christine J. Lee, und ist gleichzeitig ein Portrait ihres Wegs, als Musikerin und als Mensch – sie ist nämlich schon ziemlich rumgekommen in ganz unterschiedlichen Kulturen: Korean-born, Philadelphia made, so beschreibt sie sich in ihrer Biografie, das „J“ in ihrem Namen steht für JeongHyoun, geboren ist sie nämlich in Südkorea, wo sie schon mit neun Jahren mit dem Seoul Philharmonic Orchestra aufgetreten ist. Seit dem 10. Lebensjahr dann Studium in den USA, am Curtis Institute in Philadelphia, und zuletzt kam auf der Suche nach ihrer künstlerischen Identität auch noch eine große Prise Belgien dazu. Deshalb also der Titel, „Voyage“ – es geht um Christine Lees bisherige Lebensreise als Künstlerin, die für sie auch mit immer neuen Sprachen und manchmal dem Gefühl von Fremdheit verbunden war, Fremdheit, die sie mit Entdeckerinnenlust überwunden hat.

Eliott Carter, Sonata for cello and piano, II – Vivace, molto Allegro

Das hier ist die Cellosonate von Eliott Carter, deutlich schwerer verdauliche amerikanische Moderne als die von Barber, aber die virtuose Begeisterung, mit der Christine Lee und Henry Kramer diese manchmal ganz schön kratzige Musik servieren, könnte einen glatt zum Carter-Fan werden lassen. „Voyage“ – dieses Portrait der koreanisch-amerikanischen Cellistin Christine Lee ist wohl wirklich auch ein Statement: Das alles bin jetzt also ich. „Das alles“ ist in diesem Fall Musik von Samuel Barber und Eliott Carter, die stehen auf ihren zwei völlig verschiedenen Planeten doch beide für Amerika, das Land, in dem sie erwachsen wurde, Belgien, das Land, in dem sie heute lebt, wird von Eugène Ysaye und Jacques Brel repräsentiert, und Korea ist natürlich auch dabei:

Trad./Baek Go San, Arirang 7‘00

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Dieses Lied, Arirang, kennt in den zwei Koreas so ziemlich jedes Kind – es soll über 600 Jahre alt sein und gilt sowohl im Süden als auch im von der Welt abgeschnittenen Norden als so eine Art heimliche Nationalhymne. Es war auch das Lied des Widerstands unter der japanischen Okkupation im frühen 20. Jahrhundert – wenn Sie mehr über diese bei uns so unbekannte Geschichte Koreas wissen wollen, lesen Sie doch mal „Ein einfaches Leben“, den fabelhaften Roman von Min Jin Lee!

Das Sehnsuchtslied „Arirang“ jedenfalls singen und spielen die Leute in Südkorea und Nordkorea bis heute, um an die innere Verbundenheit der beiden so brutal getrennten Landesteile zu erinnern. Das alles hat Christine J. Lee, die ein blitzwaches politisches Bewusstsein hat, durchaus auf dem Schirm, aber man müsste es für ihre Interpretation von „Arirang“ gar nicht wissen, sie spielt das Lied in der Variationenfassung von Baek Go San mit einer so inwendig glühenden, fast schmerzlichen Hingabe, dass man auch so spürt: hier geht’s um die Existenz.

Leider ist das das einzige koreanische Stück auf dieser Portrait-CD der jungen koreanischen Cellistin, und das ist eigentlich ziemlich schade, mich hätte interessiert, ob sich klassische koreanische Musik nicht vielleicht gleichberechtigt gewinnbringend in ein europäisch-klassisches Musikprogramm einbauen lassen würde, und zwar nicht nur als Zuckerle obendrauf…Es würde vermutlich zum allgemeinen kulturellen Verständnis gar nicht so wenig beitragen, wenn man da mal ein bisschen offener würde – auch das wäre ein Teil dieser „Diversität“, von der jetzt alle reden. In Musikerkreisen sind ja nämlich gerade asiatische Musikerinnen und Musiker immer wieder vom Rassismus betroffen – ich nehme mich selber da gar nicht aus, weiß es vielmehr noch ganz genau, wie wir damals an der Musikhochschule mit bestürzender Voreingenommenheit den koreanischen Mitstudierenden immer gern mal pauschal das wahre emotionale Verständnis für Musik, also natürlich: „unsere“ Musik, abgesprochen haben.

Das ist mir heute peinlich, spätestens, seit Kyung-Wha Chung meine Lieblingsgeigerin wurde, aber ich bin sicher: diesen unguten Reflex gibt es immer noch in der europäischen Musikausbildung. Und nicht zuletzt dafür, bzw. dagegen lohnt es sich, Christine J. Lee kennenzulernen, diese tolle und enorm weltläufige Cellistin, die übrigens auch eine überzeugte und überzeugende Aktivistin für Menschenrechte ist und immer wieder musikalische Charity-Projekte organisiert, sich für Geflüchtete engagiert oder Konzerte für Obdachlose gibt.

Im Programm, mit dem sie sich da auf „Voyage“ vorstellt, finden sich in der belgischen Ecke zum Abschluss ihrer Reise noch drei Chansons von Jacques Brel. Man würde denken, dass das nicht funktionieren kann, Instrumentalversionen ausgerechnet von Brel, dessen Lieder ja ein geradezu fetischistisches Verhältnis zur Sprache haben.

Aber wenn man genau das, nämlich eine enorm sprechende Phrasierung, zum Prinzip macht, wie das Christine Lee und Henry Kramer tun, dann funktioniert es eben doch, wie man hier jetzt hören kann in dieser wirklich schönen Fassung von „Chanson des vieux amants“, in dem Cello und Klavier so sprechend singen, dass wohl auch der Abbé Brel seinen Segen dazu gegeben hätte…

Jacques Brel, La chanson des vieux amants 4‘15

Jacques Brels „Chanson des vieux amants“, gespielt ohne Worte, aber doch ziemlich sprechend - „Voyage“ heißt die sehr schöne CD der Cellistin Christine J Lee, die sich dafür allerdings auch mit einem wirklich fantastischen Pianisten, dem Amerikaner Henry Kramer, zusammengetan hat…

Sie hören SWR2 am Sonntagmittag mit Neuen CDs und mit Katharina Eickhoff.

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Qualis artifex pereo! – Was für ein Künstler geht mit mir zugrunde! Sprach Nero, und jagte sich, verlassen von auch noch den letzten Freunden, den Dolch in den Hals. Bis heute ist Roms Kaiser Nero der Inbegriff des Schreckensherrschers, mordlüstern, hinterhältig, zerstörungssüchtig und narzisstisch, und im Übrigen nicht ganz dicht, ein Irrer auf dem Kaiserthron.

Dabei scheint der wahre Nero gar keine so schlechten Anlagen gehabt zu haben – es ist dann halt nur alles ein bisschen aus dem Ruder gelaufen…In Claudio Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“, die Krönung der Poppea, kann man Nero dann dabei zuschauen, wie er alle Hemmungen verliert. Keine Frage, er führt sich fürchterlich auf, aber die anderen, das ist der Witz, benehmen sich auch nicht viel besser. Alle intrigieren, vergiften und meucheln, dass es eine Art hat, und am Ende kriegt sich mit Nero und Poppea das vielleicht unsympatischste Paar der Operngeschichte und singt dazu verrückterweise eins der schönsten und zärtlichsten Liebesduette aller Zeiten – die Musik ist, wie man inzwischen vermutet, womöglich gar nicht von Monteverdi, aber wen interessiert’s, sobald die zwei anfangen zu singen…

Claudio Monteverdi, L’incoronazione di Poppea, Pur ti miro 4‘25

Neros und Poppeas Liebesschwüre in Duettform, das wunderherrliche Schlussduett aus Claudio Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“.

Poppea und Nero, das sind hier in dieser Aufnahme die Sopranistin Nardus Williams und die Mezzosopranistin Kate Lindsey, und die CD, die Kate Lindsey da zusammen mit dem Ensemble Arcangelo unter Leitung von Jonathan Cohen konzipiert hat, ist eine Portrait-CD im doppelten Sinne. Zum einen ist das natürlich ein Portrait von Kate Lindsey, einer der aufregendsten Sängerschauspielerinnen unserer Zeit – Kate Lindsey ist schon längst und völlig zu recht ganz oben angekommen, sie singt an der Metropolitan und in Covent Garden, an der Scala, der Wiener Staatsoper und in Salzburg, und ihre szenische und musikalische Intelligenz zusammen mit einer sehr physischen, zu allem bereiten Bühnenpräsenz bringen ihr jedesmal begeisterte Kritiken ein. Wenn Sie kurz Zeit haben, machen Sie sich den Spaß und gucken sich bei Youtube mal ein paar Szenen mit ihr an – zum Beispiel, wie sie in Händels „“ den jungen Nero als verzogenes, von oben bis unten tätowiertes Aggro-Muttersöhnchen spielt und singt…Sie werden sofort sehen: Die Frau ist ein begnadetes Theater-Tier… Dazu passt dann auch ihre neue CD „Tiranno“, die ist nämlich nicht bloß ein sehr überzeugendes stimmliches Portrait der Sängerin Kate Lindsey, sondern vor allem ein Psychogramm des verfemten Kaisers Nero. Mit dem und seiner verkommenen Entourage hat sich das Barockzeitalter geradezu obsessiv beschäftigt: Alessandro Scarlatti, Händel, Monteverdi und, eine Entdeckung, Bartolomeo Monari haben Opern und szenische Kantaten zu Nero und seiner Bagage geschrieben, und so ergibt sich da ein ziemlich vielschichtiges Bild aus verschiedenen Blickwinkeln. Dem der angebeteten Poppea, die Nero dann übrigens, Liebesduett hin oder her, im wirklichen Leben irgendwann durch einen Tritt in den schwangeren Bauch getötet haben soll. Und dem von besagter Agrippina, Neros Mutter, die sich am Ende in Gewaltfantasien gegen ihren abgöttisch geliebten Sohn ergeht.

Georg Friedrich Händel, Agrippina condotta a morire 15 2‘50 Sì, sì, s’uccida! Cada lacero e svenato

„Entbrannt in völligem Verlangen nach Schreckensherrschaft“ soll Agrippina gewesen sein, schreibt Tacitus, jedenfalls hat sie ihr Nerolein mit ihrem unbändigen Ehrgeiz auf den Thron gehievt, indem sie ihren Onkel, den Kaiser Claudius, geheiratet und dann per Pilzgericht vergiftet hat, sie soll auch eine inzestuöse Beziehung zu ihrem Muttersöhnchen unterhalten haben, hat sich dann aber irgendwie unbeliebt gemacht bei ihm, so dass Nero – historisch verbürgt – allerlei kreative Wege ersonnen hat, sie zu ermorden. 5

Der erste, sie auf einem präparierten Schiff zu versenken, ging schief, da ist sie einfach wieder an Land geschwommen, aber daheim in ihrer Villa hat es sie dann erwischt, ihr Tod wurde als Selbstmord getarnt.

Georg Friedrich Händel hat auch eine große Oper über Agrippina geschrieben, Kate Lindsey befasst sich auf ihrer „Tiranno“ – CD aber mit seiner frühen dramatischen Kantate „Agrippina condotta a morire“, also also so ungefähr: Agrippina wird zur Schlachtbank geführt, in der die Meuchelmutter im Angesicht ihres Todes alle Naturgewalten heraufbeschwört.

Georg Friedrich Händel, Agrippina condotta a morire 1‘54 Orrida, oscura

Das Ensemble Archangelo mit seinem Chef Jonathan Cohen ist inzwischen schon eine ziemlich große Hausnummer in der Szene der Historischen Aufführungspraxis, und das ist insofern bemerkenswert, als die eigentlich noch ein ziemlich junges Orchester sind, gegründet 2010, aber eben besetzt mit wirklich erstklassigen Musikern und beseelt von einer kammermusikalischen Klangidee, die auch auf dieser „Tiranno“-CD immer wieder aufregend durchklingt.

Und Kate Lindsey schmeißt sich nicht bloß leidenschaftlich in ihre Rollen, sondern hat eben auch die technischen, stimmlichen und musikalischen Möglichkeiten, die Musik, die sie da singt, ganz subtil und genau auszudeuten; Kate Lindsey beherrscht ihre Stimme wirklich bis in die letzte Schwingung, sie kann, und das ist ja die große Kunst, die nur wenige beherrschen, aus einer Koloratur ein Psychogramm machen.

Extrem spannend finde ich zum Beispiel ihr Nero-Portrait in Alessandro Scarlattis Kantate „Il Nerone“ – Nero stellt sich uns da völlig ohne jede Beschönigung als perverses Monster vor, sadistisch, grausam, böse bis in seines Herzens Grund, plant er das verheerende Feuer, mit dem Rom während seiner Regentschaft niedergebrannt ist.

Nero soll dazu begeistert auf seiner Lyra geharft und Verse vom Untergang Trojas rezitiert haben. Von diesem Brand also fantasiert er in Scarlattis Kantate, und davon, was für ein Genuss es sein wird, das Kapitol, den Tiber, die Amphitheater, einfach alles in Schutt und Asche sinken zu sehen, und das Wehklagen der Menschen zu hören, ihre Schreie, ihr Stöhnen, derweil sie verbrennen – ganz harter Tobak ist dieser Text, aber Scarlatti lässt ihn genialerweise nicht in eine wütende Gewalt-Arie münden, wie man das erwarten würde.

Als Nero sich vorstellt, wie er dieses ganze Massaker schön mit seiner Lyra begleiten wird, verfällt er in einen somnambul-träumerischen Tonfall, der dann die folgende Arie bestimmt, in der er sich auf der Zunge zergehen lässt, wie es sein wird, Zeuge dieses Leidens zu sein. Und Kate Lindsey zelebriert das mit so einer unheimlichen, kaum merkbar doppelbödigen Zärtlichkeit, die ganz klar macht: Dieser Mensch ist auf eine brandgefährliche Weise wahnsinnig und definitiv zu allem fähig – auß er zu Menschlichkeit.

Alessandro Scarlatti, Il Nerone 6‘10 Or coll’abisso istesso Veder chi pena

So zärtlich können perverse Sadisten klingen – Alessandro Scarlattis Nero-Portrait in seiner Kantate „Il Nerone“ ist schon für sich genommen ein kleines musikpsychologisches Meisterstück, aber wenn es dann auch noch so gesungen wird, wie Kate Lindsey das hier tut, macht das Sir Peter Ustinov ernsthaft Konkurrenz… Und der, oder besser: „Quo Vadis“, der Film, in dem Sir Peter Ustinov so genial den Kaiser Nero gemimt hat, bringt uns hier in SWR2 bei den Neuen CDs elegent zum nächsten Thema - Sie können ja mal überlegen, wo Sie diese Musik hier verorten würden: 6

Miklos Rosza, String Quartet op. 22, II - Scherzo 2‘14 Ensemble Merian

Hätten Sie gedacht, dass diese ganz schön schroffe Musik von irgendwo jenseits von Bartok von einem der großen Hollywood-Filmmusik-Komponisten des 20. Jahrhunderts stammt? Der Dirigent Andre Previn erzählt in seinen sehr lesenswerten Erinnerungen, wie er, ein blutjunger Emigrant, als Filmmusiker in Hollywood angeheuert hat. Seine Chefs dort, so Previn, hätten Dinge gefragt wie: „Sag noch mal schnell, ich hab’s vergessen: Ein Streichquartett ist eine Harfe und was noch?“

Nur einer war anders drauf in dieser Welt der Studios, zwischen falschen Indianern in der Kantine und falschen alten Römern am Münztelefon, und das war Previns Mentor und guter Freund Miklos Rozsa: Miklos Rozsa, geboren im k.u.k. in eine reiche ungarische Familie, Kompositionsstudent in Leipzig, ist vor den Nazis und dem Krieg erst nach Paris, dann nach London und schließlich nach Hollywood geflohen. Filmmusik hat er schon früh komponiert, sein Freund Arthur Honnegger hat ihn drauf gebracht, und erstaunlicherweise hat er in Hollywood Erfolg gehabt – Rozsas Musik war ja überhaupt nicht so gefällig-bombastisch, wie das die Hollywood-Chefs sonst mochten. „Hollywood-cum- Rachmaninow“, hat Rozsa diesen sentimentalen Stil genannt, den er eben gerade nicht bedient hat.

Rozsa hat komplex, oft sogar atonal komponiert, - aber psychologisch genau und in einem großen, mitreißenden Bogen, der jeden Film mit seiner Musik zum Gesamtkunstwerk gemacht hat. Seine Filmmusiken haben sich auch jenseits der Filme gut als Platten verkauft, Prädikat: Künstlerisch wertvoll. Ab Ende der 40-er Jahre hat Rozsa einen Exklusivvertrag bei MGM und schreibt seine berühmt gewordenen Sandalenfilm-Musiken: „Quo vadis“, „Ben Hur“ und diverses anderes aus der Jesus-Kiste ist nach dem Krieg große Mode in Hollywood, und André Previn erinnert sich, wie Rozsa mal völlig erschöpft aus einem Vorführraum kam und meinte, er wisse einfach nicht mehr, was für Musik er noch komponieren solle für diese Szene, wo dieser Typ das Kreuz den Hügel raufträgt...

Sein Streichquartett op. 22 ist dann 1950 genau parallel zu „Quo Vadis“ entstanden, sozusagen als Therapie. Dem großen Pinsel mit Chören und vertonten Massenszenen hat Rozsa da eine völlig andere Welt entgegengesetzt: Das ist keine leicht konsumierbare Musik, wie man sie vielleicht von einem so erfolgreichen Filmmusik-Mann erwarten würde, sondern lupenreine Moderne des 20. Jahrhunderts.

Ein bisschen weniger schroff kommt dann Roszas deutlich früher entstandenes Streichtrio daher, da schleicht sich ab und zu noch sowas wie eine Melodie ins Ohr, und es gibt den einen oder anderen gefühlvollen Schlenker in die k.u.k.-Welt, aus der Rozsa gekommen ist…

Miklos Rozsa, Trio op. 1, II - Gioioso 5‘50

Miklos Rozsa war für Hollywood eine ziemlich außergewöhnliche Erscheinung, er hat noch bei größter kalifornischer Hitze auf die angemessene Kleidung des zivilisierten Europäers bestanden: den Anzug, und für seine Filmmusiken hat er mit der Akribie eines deutschen Musikwissenschaftlers nach Quellen geforscht. Zur Zeit seiner Sandalenfilme war Rozsa zum Beispiel ein großer Experte auf dem Gebiet der biblischen Instrumente, der Monodie und des Gregorianischen Gesangs, und bei „Ben Hur“ hat er dann einen verständlichen Wutanfall gekriegt, als der Regisseur vorschlug, dass man bei der Geburt Jesu im Hintergrund doch ein bisschen „Stille Nacht, heilige Nacht“ spielen könne.

Es wundert insofern überhaupt nicht, dass dieser ernsthafte Mensch sich in seiner Freizeit jenseits von Hollywood auch als sehr ernsthafter Komponist betrachtet hat. Rozsa hat, sobald in Europa wieder Frieden herrschte, das halbe Jahr in Italien verbracht, wo er alte Gemälde betrachtet, Musikbücher in vier verschiedenen Sprachen verschlungen und Konzertmusik komponiert hat – die in Europa, wo ihn keiner kannte, natürlich auch keiner hören, bzw. aufführen wollte. 7

Ein Zustand, der für Rozsa aber insofern zu ertragen war, als dafür immerhin daheim in Kalifornien dann der große Jascha Heifetz persönlich sein Violinkonzert uraufgeführt hat. Seine Kammermusik ist weniger in Umlauf gekommen, aber das will das Ensemble Merian jetzt eben beheben…

Das Ensemble Merian rekrutiert sich aus drei Streichern und einer Streicherin der zwei großen Frankfurter Orchester, also dem HR-Sinfonieorchester und dem Orchester der Oper Frankfurt, auch bekannt als Museumsorchester, die haben sich ganz frisch für diese CD zusammengefunden und wollen sich künftig auch mit anderen Film-Komponisten und deren Konzertmusik befassen. Auf dieser ersten CD gibt’s neben Miklos Rozsas Streichquartett und Streichtrio noch Musik von Bernard Herrmann zu entdecken, auch der eine absolute Hollywood-Legende…Und auch Herrmann hat, genau wie der Kollege Rozsa, nie aufgehört, Konzertmusik zu komponieren – Hochinteressante Sachen sind das, von irgendwo zwischen Europa und Amerika, und völlig überzeugend gespielt vom neugegründeten Ensemble Merian! Sie hören SWR2 an diesem Sonntagmittag, mit Neuen CDs…

Sigismondo d’India, Ardo, lassa, o non ardo? 2‘20 Mariana Flores & Julie Roset Cappella Mediterranea LTG Leonardo García Alarcón

Es waren große Zeiten, damals, zuzeiten von Sigismondo d’India – wobei ihm selber und wahrscheinlich auch seinen Zeitgenossen vermutlich gar nicht so klar war, dass sie in einer der bedeutendsten Umbruchsepochen der abendländischen Musikgeschichte gelebt haben. Um ganz genau zu sein: Komponisten wie Sigismondo d’India, oder Giulio Caccini WAREN dieser Umbruch, sie waren die Revolution, haben den großen Paradigmenwechsel ins Werk gesetzt, aus dem sich dann die wunderbare, vielfarbige Welt der europäischen Gesangskunst entwickelt hat. Alle die Madrigale, Opern, Kantaten, Lieder, Chansons, Melodies – der gesamte Kosmos der zu Gesang vertonten Worte und Gefühle, wie wir ihn heute kennen, hat um 1600 in Italien begonnen, sich ins Unendliche auszudehnen, weil er die menschliche Seele ins Spiel kommen ließ. So haben die Herren Caccini und Monteverdi, beide ausgebildete Sänger, den Gesang revolutioniert mit ihrer „Seconda Pratica“ – Seconda Pratica, so unauffällig hat Monteverdi seine musikalische Revolution damals genannt.

Vorher, in der Tradition der „prima Pratica“, war die Harmonie Herrin über die Worte, - Texte und Emotionen waren zweitrangig, alles sollte nach strengen Stimmführungsregeln die vollkommene Harmonie zum Lobe Gottes herbeiführen. Mit der „Seconda Pratica“ kam die radikale Kehrtwende: Auf einmal ging’s um die einzelne, individuelle Stimme, die jetzt nicht bloß Stimme, sondern auch Seele sein durfte, und die die großen Gefühle ausdrücken sollte, oft auch verpackt in große Dichtung, Verse von Petrarca zum Beispiel…

Sigismondo d’India, Mentre che l’cor 2‘00

Für uns heute ist diese Konzentration auf die Stimme und ihre Sprache, dieses gnadenlos Pure, manchmal schwer auszuhalten – aber im Grunde zeichnet diese Musik genau den Wechsel der Blickrichtung nach, der da in der Renaissance stattgefunden hat: weg von Gott, hin zum Menschen. Diese Monodien, diese dramatischen Gesangslinien, sollten von jetzt an ganz im Fokus der Zuhörenden sein, die Worte, die da gesungen und von der Musik betont wurden, sollten im Vordergrund stehen – das Wort, das bewegte, gesungene Wort, die zu Kunst gewordene Sprachmelodie, spielt von jetzt an die Hauptrolle, und die Musik muss sich ihr unterordnen. Um die Intensität dieses Gesangs noch zu steigern, war jedes Mittel recht – Chromatik, Dissonanz, egal, alles bis eben noch total Verbotene war jetzt erlaubt, um das unerträgliche Gefühl des Verlassenseins, die Qualen von unerwiderter Liebe oder unerfüllter Sehnsucht auszudrücken. 8

Und keiner, nicht Monteverdi, ja nicht mal Carlo Gesualdo, dieser Schmerzensmann der dramatischen Dissonanz, hat die gefühlsgebeutelte Seelenstimme damals so konsequent unters Mikroskop gelegt wie Sigismondo d’India.

Sigismondo d’India, Merce! Grido piangendo 3‘40

Das ist musikalische Kunst, die in ihrer Intensität, ihrer schonungslosen Selbstentblößung, verdammt modern wirkt – jedenfalls, wenn sie so fantastisch umgesetzt wird wie hier für diese CD, Lamenti & Sospiri von Sigismondo d’India, die die Cappella Mediterranea unter Leitung von Leonardo Garcia Alarcon zusammen mit den zwei Sängerinnen Mariana Flores und Julie Roset jetzt rausgebracht hat. Man muss dankbar sein für jede d’India-CD, die produziert wird, weil es eigentlich ein Unding ist, dass dieser so bedeutende, besondere Komponist so unbekannt geblieben ist, derweil alle von Gesualdo und Monteverdi reden und Gesualdo und Monteverdi aufführen.

Ein Problem ist wohl, dass d’India im Vergleich mit diesen beiden eher wenig Musik gedruckt veröffentlicht hat. Aber auch zu seinen Lebzeiten hat er irgendwie keinen Nimbus aufbauen können, bis heute weiß man nicht, wie er eigentlich ausgesehen hat – hässlich und schlecht angezogen sei er gewesen, schreibt ein Zeitgenosse, naja…

Was man weiß: Er kam aus Sizilien, D’India war damals ein vor allem in Palermo ziemlich verbreiteter Name, er ging dann nach Neapel, wo er wohl beim selben Lehrer wie Gesualdo studiert hat, und dann ist er, in den ersten zwanzig Jahren des 17. Jahrhunderts, kreuz und quer durch Italien gereist und hat sich an diversen Höfen und bei diversen Lehrern vorgestellt. Er war länger in Turin, später die meiste Zeit in Modena im Dienst der Familie d’Este, aber im Lauf dieses rastlosen Lebens hat er irgendwo zwischen Florenz, Mantua und Venedig seine zwei wichtigsten Mentoren kennengelernt: Giulio Caccini und Claudio Monteverdi, diese zwei Katalysatoren in der Geschichte des Gesangs und des Musiktheaters, die zu der Zeit angelehnt an die griechische Antike die Form der Oper entwickelt haben.

Sigismondo d’India hat keine Musik für die Bühne komponiert, warum auch immer, aber in seinen achtzehn (!) eben leider großteils unveröffentlichten Bänden mit polyphoner Vokalmusik gibt es mehr Dramatik, als dann in den folgenden Jahrhunderten so manche ganze Oper geliefert hat. Leonardo Garcia Alarcon und seine Truppe suchen auf ihrer Doppel-CD „Lamenti & Sospiri“ nicht die Extreme und auch nicht das große Drama, sondern die ganz kleinen, feinen Nuancen, das ist Musik, deren konzentrierte Anmutung fast schon eine Zumutung ist, in unserer Gegenwart der ständigen Aufreger muss man erst mal wieder üben, diesen leisen Tönen zuzuhören – und das ist mit Sicherheit nicht die schlechteste Übung…

Sigismondo d’India, Pallidetta qual viola 2‘00

Kunstvolle Vokalmusik von Sigismondo d’India gibt es auf dieser Doppel-CD „Lamenti & Sospiri“, und Gelegenheit, diesen viel zu unterbelichteten Kollegen Gesualdos und Monteverdis besser kennenzulernen. Aber à propos Monteverdi: Da würde ich Ihnen ganz zuletzt gerne noch schnell jemanden vorstellen - ihre neue CD ist gar keine Klassik-CD und ist trotzdem für mich bisjetzt die CD des Jahres, weil Rhiannon Giddens eine unglaubliche Stimme hat. Und weil sie den Mut hat, als Bluegrass- und Folk-Sängerin, die sie ist, einfach auch mal ein Stück von Monteverdi zu singen. Und wie sie das singt!

Claudio Monteverdi, Si dolce è il tormento 4’00 Rhiannon Giddens, Francesco Turrisi

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Die Frau, die hier so hinreissend Monteverdis Solomadrigal „Si dolce è il tormento“ singt, ist Rhiannon Giddens aus North Carolina - und sie hat früher tatsächlich mal eine Zeit lang klassischen Operngesang studiert.

Inzwischen ist sie aber mit ihrer erdig-warmen Stimme musikalisch eigentlich woanders zu Hause: Rhiannon Giddens ist die „Banjo Lady“, Tochter einer schwarzen Mutter und eines weißen Vaters, sie spielt Banjo und Fiddle und bewegt sich musikalisch irgendwo zwischen Bluegrass, Folk, Jazz, Country und dem Blues, aber eben mit gelegentlichen Ausflügen zu alten italienischen Arien, weil es ja überhaupt nicht darauf ankommt, wo ein Song herkommt, Hauptsache, er ist gut und spricht mit uns.

Der Monteverdi von eben findet sich auf ihrer neuesten Platte, die sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten Francesco Turrisi eingespielt hat: „They’re calling me home“ heißt sie und ist eine kleine, feine Sammlung von Trost- und Mutmachliedern, die man in diesen schrägen Zeiten wirklich gut gebrauchen kann, - vor allem, wenn sie mit einer so anrührenden Stimme gesungen werden. Diese Platte von Rhiannon Giddens ist gut für die Seele, deshalb gibt’s hier jetzt auf dem Weg raus noch den Titelsong, und die Verabschiedung schon mal vorweg, das war SWR2 TK Neue CDs für heute, die Liste der besprochenen Platten und das Manuskript zur Sendung und überhaupt die Sendung zum online Hören gibt’s wie immer auf SWR2.de, schön, dass Sie zugehört haben, Katharina Eickhoff sagt tschüss und wünscht noch einen angenehmen Sonntag!

Alice Gerrard, Calling me home 3‘50 Rhiannon Giddens, Francesco Turrisi