Unsere Kirschen Gehen Durch Die Hände Von Osteuropäischen Hilfskräften. Wir Haben Sie Bei Der Arbeit Besucht
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N° 29 Freitag, 20.07.2018 CHF 5.– Erntehelfer / S. 6 Unsere Kirschen gehen durch die Hände von osteuropäischen Hilfskräften. Wir haben sie bei der Arbeit besucht. DIE ERNTE DER POLEN EIN JAHR LANG SPANNENDE GESCHICHTEN: Verschenken Sie die TagesWoche im Abo! Bestellen Sie Ihr Geschenkabo unter www.tageswoche.ch/schenken INHALT 3 Wohnungsmarkt / S. 24 Foto: a. preobrajenski Die Professoren Esteban Piñeiro und Carlo Knöpfel über den kaputten Basler Wohnungsmarkt, fiese Vermieter und Vermittlungsagenturen für den Mittelstand. Missbrauch / S. 14 Foto: istock FC Basel / S. 28 Foto: FreshFocus Warum erleben Kinder immer häufiger Was wartet am Horizont? Zum Saisonstart sexuelle Gewalt? Ein Fachmann klärt auf. übt sich die FCB-Leitung in Optimismus. Antonio Russo S. 4 Flüchtlinge / S. 21 Wochenschau S. 16 Bildstoff S. 18 Mobilisiert die Armee zur Rettung Bestattungen S. 20 Georg Kreis S. 22 der Ertrinkenden. Macht Grillfeste isch F Kreuzworträtsel S. 34 im Asylzentrum. Ein paar vielleicht Impressum S. 34 naive, aber sicher konstruktive Ideen von Knackeboul. titelFoto: nils TagesWoche 29/18 4 EDITORIAL PORTRÄT Von süssen und sauren Kirschen Antonio Russo von Dorothee Adrian ie Supermarkt-Regale sind wieder dunkelviolett: Antonio Russo führt mit seiner Es ist Kirschenzeit in der Schweiz. Aus den Kar- Mamma Grazia Mazzeo ein Take- tonschachteln lachen mich die prallen Früchte away in der Spalenvorstadt. Dort ist Ronja Beck D alles sizilianisch – ausser die Past- an. Nach einem üppigen Abendessen sind sie der perfek- Volontärin rami-Sandwiches. te Abschluss, leicht, saftig und süss. Und auch noch aus iao belli!», ruft Antonio Russo der Region. Da greife ich gerne zu. seiner Kundschaft fröhlich zu Was im Zuckerrausch gerne untergeht: Hinter jeder und schenkt ihnen erst einmal Schweizer Kirsche steckt verdammt viel Arbeit. So viel ein breites Lächeln. Er darf zwar Ckeine Stühle mehr vor sein Take-away an Arbeit, dass sich die Bauern Hilfe auf den Hof holen müs- der Spalenvorstadt stellen («Suscht kosch- ted das siiiiiebehundert Stutz Stroof!») – sen. Meist sind es Osteuropäer, die während der Ernte- doch Markise, Ladenfenster und ein gros- zeit ihre Heimatländer verlassen und bei uns in die Bäu- ses Roll-up sorgen auch so dafür , dass das «Sapori del Sud» unübersehber bleibt. Auf me steigen. Und das 55 Stunden und mehr pro Woche, für dem Plakat zu sehen: ein freundlich einen Richtlohn von 3235 Franken brutto im Monat. Sie lächelnder, glücklicher Antonio Russo samt Pastrami. kommen hierher, um zu arbeiten, also sind sie Arbeits- Das Geschäft sei eine «italienische Oase kräfte. Aber sie sind auch Menschen, die nebst dem Kern- in Basel», in der Menschen «eine Mittags- pause, die Spass macht», erleben können, obst des Bauern ihre eigenen Geschichten über die Fel- ein Ort «voller Lebenslust», beschreiben der tragen. Tripadvisor-Besucher das «Sapori del Sud» von Antonio Russo und Grazia Mazzeo. Ich wollte diese Geschichten hören. Also fuhr ich Klingt alles nach italienischer Lebensfreu- mit Fotograf und Dolmetscher auf den Hof von Stefan de. Doch diesen Laden hätte es ohne Kri- sen wohl gar nicht gegeben. Ritter in Buus und lernte Emilia und Wiktor kennen. Die «Mir ging es gar nicht gut, es war eine beiden jungen Polen sind aus finanzieller Not Anfang schlimme Zeit», erzählt Antonio Russo. Über 20 Jahre lang war er Coiffeur gewe- Sommer in die Schweiz gekommen, zum ersten Mal. Ich sen, hatte jedoch den Traum eines kleinen liess sie erzählen, von ihrem Leben hier, von ihrem Leben Restaurants. Er machte sich mit einer Kundin zusammen selbstständig: «Das dort, gab auch dem Bauern das Wort und schrieb auf, was ging aber leider schief.» Arbeitslosigkeit, sie mir erzählten. wenig Geld, Jobs als Tellerwäscher, buch- stäblich. «Ich war in einem dunklen Loch. Der Umgang mit Gastarbeitern wird seit Jahrzehn- Und dann kam ein Kollege, der mich mit ten hitzig debattiert, in der Politik, unter den Bauern, im Pastrami wieder aufpäppelte.» Volk. Ich aber ging mit einem weissen Notizblock nach Zu echt für ein Klischee Buus; ich wollte zuhören, nicht verurteilen. Emilia und Mit Pastrami kam der Lebensmut zurück. Pastrami: Das ist gepökeltes Rind- Wiktor tun mit ihrer Arbeit hier nichts Falsches. Und fleisch. Russo verwendet es nach New Bauer Ritter als Arbeitgeber ebensowenig. Trotzdem ist Yorker Art gewürzt. Das Fleisch packen Russo und seine Mamma in luftiges Brot nicht alles heile Welt in der Schweizer Landwirtschaft. mit krosser Kruste, dazu kommen Senf, Darum finden Sie nach der Reportage einen Artikel zur Käse und saure Gurke – und auch Kohl- rabi: «Damit es knackig ist.» dunklen Seite der Kirschen. Sieben Monate hätten sie gebraucht, Dürfen Sie jetzt keine Kirschen mehr essen? Doch, bis ihr heutiges, das perfekte, Rezept stand. Es ist wirklich eine gute Mischung aus fest natürlich. Aber schmecken Sie doch mal, ob die Süsse der und fluffig, fleischig und würzig, herzhaft Früchte jetzt komplexer erscheint. Vielleicht sticht die delikat. Ja, gut vorstellbar, dass diese Brot- mahlzeit Körper und Seele gesunden las- Säure der unreifen, die sich in die Schachtel geschlichen sen kann. «Der Freund hatte dann die Idee, haben, stärker hervor. Und vielleicht hält die Hand kurz dass ich mich mit Pastrami selbstständig mache.» inne, bevor sie zugreift, weil die Gedanken abschweifen, Und dann kam die Mamma ins Spiel. zu Emilia und Wiktor. × Grazia Mazzeo ist 77 Jahre alt, sie kam vor TagesWoche 29/18 Herz und Seele des «Sapori del Sud»: Grazia Mazzeo und Antonio Russo. Foto: alexander preobrajenski 47 Jahren mit ihrem Ehemann nach Basel. spricht: Es ist zu echt für ein Klischee. Ein kaufen also wöchentlich um die 230 Sand- Sie arbeiteten viel und hart, brachten sich echtes Dreamteam. wiches. Das klingt erfolgreich. Trotzdem und die vier Kinder durch, lebten in der Grazia und Antonio, Mutter und Sohn, reicht es zum Leben kaum, «aber die Rech- italienischen Community. «Tedesco? Non sind nun Herz und Seele des «Sapori del nungen kann ich bezahlen», sagt er. capisco!», sagt die Mamma charmant. Sud». Neben den Pastrami-Sandwiches «Ciao belli!», so verabschiedet Antonio Jedenfalls zogen die Eltern vor 20 Jahren bieten sie Lasagne und andere italienische alle, die zu ihm an die Spalenvorstadt kom- zurück nach Sizilien. Bis der Vater vor fünf und sizilianische Gerichte an, «fatti a men. Der Besuch lohnt sich schon für eine Jahren starb. «Meine Mamma war so ein- mano» von Grazia. «Das Sugo köchelt sie- Portion Freundlichkeit. Ob er ein Motto sam, sie wurde depressiv!» ben Stunden», erzählt Antonio stolz. Es hat? Ja, es steht auf seinem Schaufenster: Als er ihr von seiner Geschäftsidee gibt auch etwas sizilianisches Gebäck und «Gestern ist Geschichte, morgen noch un- erzählte, sagte sie: «Ich helfe dir» und zog Glace aus dem Tessin. gewiss, aber heute ein Geschenk.» Ob es zurück nach Basel. Hier werde sie ge- von ihm kommt? «Nein, von Kung Fu Pan- braucht, was ihr sehr gut tue. «Es gefällt Für eine Portion Freundlichkeit da!», sagt er und lacht. mir. Die Leute sind so freundlich, ich fühle Am besten aber laufen die Pastrami- Ich würde gerne noch länger bleiben. mich wohl», sagt sie auf Italienisch. Signo- Sandwiches. Sie locken Touristen aus aller Schade nur, wirklich schade, dass Antonio ra Mazzeo wirkt zufrieden, freundlich und Welt ins Geschäft. Anfangs verarbeiteten Russo keine Stühle aufstellen darf. × zurückhaltend, ein Herz von einem Men- Antonio und Grazia ein Kilo Rindfleisch schen. Wie sie über Antonio spricht, ist lie- pro Woche, inzwischen sind es 30 Kilo. 130 Sapori Del Sud, bevoll und wie er über seine Mamma Gramm sind in jedem Sandwich, sie ver- Spalenvorstadt 34, Basel TagesWoche 29/18 Erntehelfer Emilia und Wiktor schuften auf einem Baselbieter Hof, damit wir bezahlbare Früchte auf den Tisch bekommen. SCHWEIZER CHIRSI AUS POLNISCHER HAND Frucht um Frucht: Bauern finden kaum Schweizer, die für 3235 Franken so anpacken. foto: Nils fisch 8 von Ronja Beck des Haar, streckt uns seine dicken Finger- sie zum ersten Mal in die Schweiz gereist, chen entgegen. Sabrina Ritter wippt ihn in auf den Hof von Stefan Ritter. Mit wenigen as Auto biegt um die Kurve. Wir ihren Armen auf und ab, entlockt ihm ein Brocken Deutsch im Gepäck. Als landwirt- sind spät dran, entschleunigt Glucksen. schaftliche Hilfskräfte unterstützen sie von der schmalen Landstrasse, Die Eingangstür zum Bauernhaus öff- den Schweizer Bauern in der strengsten den wogenden Feldern, den net sich, die kleine Selina spienzelt durch Zeit des Jahres: der Ernte. Wir wollen von DHügeln, die sich links und rechts von uns den Spalt. «Willst du rauskommen? Dann ihnen wissen, wie und wieso sie im tiefsten bücken wie grüne Riesen. «Wirklich schön zieh deine Schuhe an!», ruft Sabrina Ritter Baselbiet gelandet sind, wie sie essen, wo hier», schwelgt der Dolmetscher, als er aus über die Schulter. Die Augen verschwin- sie schlafen, wovon sie träumen. dem Autofenster blickt, hinab auf das Dorf. den wieder im Dunkel hinter der Tür. «Die Jetzt müssen wir Gas geben. Als wir in Kleinen kommen auch schon mit aufs Sohn vom Sohn vom Sohn die Höhe schiessen, schliessen sich unse- Feld», erzählt Sabrina Ritter und zeigt das Auch mit Stefan Ritter wollen wir spre- re Ohren. Ruhe. Die Ohren öffnen sich Lächeln einer stolzen Mutter. chen. Nur – wo steckt er? «Er sollte jeden wieder. Immer noch Ruhe. Bis ein Traktor Um den kleinen Sven und seine Moment hier sein», beschwichtigt seine vorbeirumpelt. Bald sind wir da. Schwester soll es in dieser Geschichte aber Frau. Wenige Minuten später kommt ein Unser Ziel ist der Bauernhof von Stefan nicht gehen. Sondern um Emilia und Wik- Offroader angebraust. Ritter in Buus. Der Empfang ist Sache des tor*. Die beiden sind 20 Jahre jung und «Ihr müsst entschuldigen, es ist ein Nachwuchses: Sven, einjährig, weissblon- kommen aus Polen. Diesen Sommer sind bisschen dreckig. Halt mein Arbeitswa- gen», sagt Stefan Ritter in kernigem Basel- Stefan Ritter hat den Hof von seinen Eltern übernommen. bieter Dialekt.