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Freitag, 24.04.2015 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Lotte Thaler

Mit Charme präsentiert „Mein Wien“ Werke von Mozart, Beethoven, Schubert, Strauss, Lanner Daniel Ottensamer (Klarinette) Mozarteumorchester Salzburg Sony 88875010772

Ausgewogenes Klangbild Adolf Jensen Orchesterwerke Philharmonie Baden-Baden Pavel Baleff (Leitung) Genuin 15347

Historisches Instrument mit eigenem Reiz Robert Schumann Works for four hands Amsterdam Piano Duo MDG 904 1902-6

Vorzüglich gespielt Ernst Rudorff Kammermusik Berolina Ensemble MDG 948 1896-6

Ohne dynamische Feinarbeit Sinfonien Nr. 1-4 Tonkünstler-Orchester Andrés Orozco-Estrada (Leitung) Oehms Classics OC 1813

Sehr erfreulich Poème de l’extase Hommage à Alexander Skrjabin Maria Lettberg (Klavier) Es-Dur ES 2058

Am Mikrofon: Lotte Thaler. Viel romantische Musik erwartet Sie in den nächsten anderthalb Stunden, Orchesterwerke, Kammermusik und Klaviermusik. Die Fixsterne sind dabei Robert Schumann und Johannes Brahms, ihre Trabanten heißen Adolf Jensen und Ernst Rudorff, die auf zwei neuen CDs zu entdecken sind. Und am Schluss der heutigen Ausgabe von Treffpunkt Klassik eine pianistische Hommage an Alexander Skrjabin, dessen Todestag sich in diesen Tagen zum 100. Mal jährt.

Doch zum Einstieg ein Schmankerl aus Wien. „Mein Wien“ nennt der Klarinettist der Wiener Philharmoniker Daniel Ottensamer seine CD bei dem Label Sony. Zusammen mit dem Mozarteum Orchester Salzburg hat er dafür Werke von , Ludwig van Beethoven und ausgewählt und ergänzt sie sozusagen im zweiten Konzertteil mit lauter Zugaben, also mit Tänzen von Joseph Lanner, Josef Strauss und Philipp Fahrbach – alles natürlich Arrangements für Klarinette und Orchester. Auch die acht Variationen über Mozarts Arie „Reich mir die Hand, mein Leben“ aus seinem „Don Giovanni“ des jungen Beethoven sind eine Bearbeitung. Ursprünglich schrieb sie Beethoven für zwei Oboen und Englischhorn. Der russische Klarinettist Simeon Bellison arrangierte sie für Klarinette und Orchester. Und da die Klarinettisten sonst nur das Gassenhauer-Trio op.11 von Beethoven haben, können sie sich jetzt auf die dankbaren Variationen stürzen, die Ottensamer mit allem gebotenen Charme präsentiert:

Beethoven: Variationen über „La ci darem la mano“ 8‘55

Verführung mit Klarinette: Daniel Ottensamer, Solo-Klarinettist der Wiener Philharmoniker seit 2009, lockte hier mit Beethovens Variationen über „Reich mir die Hand, mein Leben“ Zerlina auf sein Schloss. Das Mozarteum Orchester Salzburg assistierte ihm dabei.

Wenn sich ein Chefdirigent vorbildlich für sein Orchester einsetzt, muss an erster Stelle Pavel Baleff genannt werden, der Dirigent der Baden-Badener Philharmonie. Ständig ist er bestrebt, das Renommee des Orchesters durch Gastspiele zu stärken, unentwegt sucht er nach ausgefallenen Werken und Programmen, um einen nicht alltäglichen Spielplan zu gestalten, und immer wieder gelingt es ihm, einen Star der Musikszene nach Baden-Baden zu holen, wie jüngst die bulgarische Königin der Soprane: Krassimira Stoyanova, mit der er schon zwei preisgekrönte CDs aufgenommen hat.

Auf seiner jüngsten CD bei dem Label Genuin hat sich Baleff jetzt eines Komponisten angenommen, der zumindest in Baden-Baden viel bekannter sein müsste, denn hier hat er vier Jahre gelebt, hier ist er 1879 gestorben: Adolf Jensen. Brahms und Jensen haben sich gut gekannt. Seine Lungenkrankheit verdammte Jensen, der in Königsberg geboren wurde, zu einer zehnjährigen Leidenszeit, in der er verzweifelt nach einem geeigneten Kurort suchte, bis er schließlich in Baden-Baden ankam. Jensen war von Hause aus Pianist, arbeitete als Kapellmeister an verschiedenen Opernhäusern und wurde von Carl Tausig an seine eben erst eingerichtete „Schule für höheres Clavierspiel“ in berufen. Doch bald schon gab er die Stelle auf, um sich ausschließlich dem Komponieren zu widmen. Jensen schrieb vor allem Lieder und Klavierwerke, aber auch eine Oper und eine Symphonische Dichtung. Sie trägt den Titel „Der Gang nach Emmaus“ und versteht sich als „geistliches Tonstück“. Der Zuhörer begleitet die beiden Jünger gleichsam auf ihrem Weg von Jerusalem nach Emmaus, auf dem sie der auferstandene Christus unerkannt tröstet. Auf der CD der Baden-Badener Philharmonie bildet dieses „geistliche Tonstück“ das Zentrum, umrahmt von einer „Hochzeitsmusik“ sowie drei Teilen aus der glücklosen Oper „Die Erbin von Montfort“.

Jensen wollte eigentlich bei Robert Schumann studieren, doch Schumanns Tod durchkreuzte diesen Plan. Aber Jensen musste Schumanns Musik stets im Ohr gehabt haben. Wenn man jetzt den Beginn der Symphonischen Dichtung von Jensen hört, fällt einem sofort der Beginn der „Frühlings-Sinfonie“ von Robert Schumann ein. Und man kann sich fragen, ob nicht sogar Schumann selbst der „Auferstandene“ ist, der seinem Jünger Jensen hier das musikalische Überleben sichert. Gewidmet ist die Partitur allerdings Hector Berlioz, der Jensen bescheinigte, wie ein „Meister“ zu instrumentieren und zu modulieren:

Jensen: „Der Gang nach Emmaus“ 20‘05

Eine Ersteinspielung auf CD: das geistliche Tonstück „Der Gang nach Emmaus“ von Adolf Jensen aus dem Jahr 1862. Aufgespürt von Pavel Baleff und der Baden-Badener Philharmonie auf ihrer neuesten CD bei dem Label Genuin, und – wie ich meine – mit großer Sorgfalt und dramaturgischem Blick für den Verlauf zwischen Lyrik, Trauer, Dramatik und Verklärung ausgeführt, bis hin zum ausgewogenen Klangbild des Orchesters.

Auch vom Meister selbst, von Robert Schumann, kann ich Ihnen eine Neuerscheinung empfehlen, zumal wenn Sie ein Freund vierhändigen Klavierspiels sind. Das Amsterdam Piano Duo mit Wyneke Jordans und Leo van Doeselaar hat sich dreier Klavierzyklen von Schumann angenommen, den „Sechs Studien in kanonischer Form für den Pedalflügel“ in einer Bearbeitung für Klavier zu vier Händen von Georges Bizet, dann den Zyklus „Bilder aus Osten“ op. 66 und schließlich die „Stücke für große und kleine Kinder“ op. 85, also alles Werke, die noch nicht zu den abgespielten Schlachtrössern zählen.

Das Besondere an dieser Aufnahme ist jedoch das Instrument: Das holländische Klavierduo hat sich nämlich einen historischen Flügel für seine Aufnahme ausgewählt, einen Erard von 1837 aus der Sammlung Edwin Beunk. Solowerke von Schumann werden zunehmend an historischen Instrumenten aufgenommen, etwa von Tobias Koch, aber vierhändige Klaviermusik an einem Hammerflügel – das hat einen ganz eigenen Reiz, verstärkt er doch den intimen, häuslichen Rahmen der Musik. Emsiges Zusammenspiel empfahl Schumann in seinen „Haus- und Lebensregeln“, übrigens als unverzichtbare musikalische Schule. Hier sind einige der Stücke für „große und kleine Kinder“, eingespielt vom Amsterdam Piano Duo:

Schumann: „Stücke für große und kleine Kinder“ (Ausschnitt) 15‘05

Eine Auswahl aus den „Stücken für große und kleine Kinder“ op. 85 von Robert Schumann, dargeboten vom Amsterdam Piano Duo an einem Erard-Flügel von 1837. Die CD ist bei dem Label Dabringhaus und Grimm erschienen.

Aus diesem Hause, das für Kammermusik steht wie kaum ein anderes Schallplatten-Label, kommt auch unsere nächste Neuerscheinung. Der Name des Komponisten dürfte noch unbekannter sein als vorhin der Name von Adolf Jensen – oder haben Sie schon einmal etwas von Ernst Rudorff gehört? Rudorff mit zwei ff, nicht Rudolf. Immerhin hat er einige Nachfahren, die diese diskographische Entdeckung mitfinanzierten. Um solch unbekannte Musik einzustudieren und aufzunehmen, braucht es vor allem ein Ensemble, das keine Mühe scheut und sich selbst die Suche nach neuem Repertoire auf seine Fahnen geschrieben hat. Ein solch relativ junges Ensemble gibt es seit 2009: das Berolina-Ensemble rund um den Geiger David Gorol. In gewisser Weise könnte es das Nachfolge-Ensemble des Consortium Classicum werden, das ja auch in variabler Besetzung auftrat.

Das Berolina-Ensemble besteht aus elf Mitgliedern, Streicher, Bläser und Pianist. Auf der CD mit Werken von Rudorff hören wir die Streicher im Sextett für drei Violinen, Bratsche und zwei Violoncelli sowie den italienischen Pianisten Viller Valbonesi mit Klavierstücken von Rudorff. Gespielt wird dieses Sextett vorzüglich. Ob es sich im Repertoire etablieren wird, muss sich noch erweisen. Jedenfalls fällt es durch seine Besetzung mit drei Violinen aus dem üblichen Zweierschema heraus – zwei Geigen, zwei Bratschen, zwei Violoncelli –, aber so zahlreich sind die Streichsextette auch wieder nicht, als dass man sich ein solches Werk einfach entgehen lassen könnte.

Auch Rudorff gehört wie Jensen in den Schumann-Brahms-Kreis. Der Geiger holte Rudorff als Klavierprofessor an die neu gegründete Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg – eine Stelle, die eigentlich Brahms übernehmen sollte. Rudorffs Sextett op. 5 setzt die Streichquintette von Mendelssohn und das erste Streichsextett von Brahms voraus, vor allem im lyrischen ersten Satz. Aber im rhythmisch bestimmten Finalsatz des Sextetts mit seinen vielen Wiederholungen ist der Verweis auf Schumann unüberhörbar. Hier ist er, ein „Allegro molto“:

Rudorff: Sextett, 3. Satz 8‘30

Musik des Komponisten Ernst Rudorff, der Finalsatz aus seinem Streichsextett A-Dur op. 5. Eingespielt für das Label Dabringhaus und Grimm vom Berolina Ensemble.

Sie hören die Sendung Treffpunkt Klassik in SWR2, heute mit neuen CDs.

Am 11. Mai wählen die Berliner Philharmoniker ihren neuen Chefdirigenten, den Nachfolger von Simon Rattle. Und bei fast jeder Party von Musikkundigen wird geraten oder sogar gewettet, wer dieser Dirigent wohl sein könnte. Dabei kommt man immer wieder auf dieselben Namen, die altersmäßig dafür in Frage kommen. Und man ist relativ schnell am Ende. Nun taucht ein Dirigent am Horizont auf, der es offensichtlich auf Karriere angelegt hat, denn er ist seit der Spielzeit 2014/15 gleichzeitig Chef des Houston Orchestra und des Sinfonieorchesters des Hessischen Rundfunks als Nachfolger von Paavo Järvi, und ab kommenden September wird er auch noch Erster Gastdirigent des London Philharmonic Orchestra. Auf dem Cover sieht er ein bisschen aus wie einer der Kandidaten für die Berliner Philharmoniker: Gustavo Dudamel, aber das liegt sicher daran, dass Andrés Orozco-Estrada wie Dudamel Südamerikaner ist, aus Kolumbien stammt, sich aber schon seit vielen Jahren als Wahl-Wiener fühlt. In Wien hat er studiert, und im Booklet heißt es im typischen Agentur-Deutsch, er sei „einer der weltweit gefragtesten Dirigenten seiner Generation“. Sein genaues Alter aber wird schon jetzt nicht mehr verraten. Der Mann heißt also Andrés Orozco-Estrada, und man wird sich den Namen wahrscheinlich merken müssen, denn Karriere wird er sicher machen. Nur aus welchen Gründen, das lässt sich noch nicht so genau vorhersagen.

Gerade hat Andrés Orozco-Estrada alle vier Sinfonien von Brahms bei dem Label Oehms Classics herausgebracht hat. Nein, nicht mit den Wiener Philharmonikern, auch nicht mit den Symphonikern, sondern mit dem Tonkünstler-Orchester, das regelmäßig im Wiener Musikverein, im Festspielhaus St. Pölten und in Grafenegg auftritt, wo es auch ein Festival gibt. Das muss nichts heißen. Wir haben vorhin bei der Baden-Badener Philharmonie gehört, wie diszipliniert und überzeugend auch ein kleineres Orchester mit dem richtigen Dirigenten spielen kann. Orozco-Estrada war seit 2009 Chef des Tonkünstler-Orchesters, und die Brahms-Sinfonien sind jetzt eine Art Abschiedsgeschenk.

Ob er mit diesen Werken, die in unendlich vielen Vergleichsaufnahmen mit unendlich vielen Spitzenorchestern vorliegen, gut beraten war? Wenn man diese Sinfonien schon komplett vorlegt, sollten sie dann nicht ein besonderes Anliegen erkennen lassen? Eine interpretatorische Richtung, die sich deutlich vor anderen heraushebt ? Einen orchestralen Ansatz, der einem ein neues, anderes Hören ermöglicht? Es muss ja nicht gleich so exzentrisch sein wie bei Sergiu Celibidache – aber dieser hatte wenigstens eine persönliche Sicht auf Brahms. Vielleicht spielen diese Fragen heute gar keine Rolle mehr, vielleicht sind ganz andere Kriterien wichtig für den Verkauf einer CD, und das könnte in diesem Falle sein, dass die Brahms-Sinfonien von Orozco-Estrada ideale Aufnahmen für das Auto sind. Sie sind nämlich immer annähernd gleich laut.

Was Brahms an dynamischer Feinarbeit z. B. in seine zweite Sinfonie gesteckt hat, übergeht Orozco-Estrada großzügig, ein wirkliches Pianissimo, wie es Brahms nicht nur im Beginn des Finalsatzes der Zweiten vorsieht, eine durchdachte dynamische Tiefenstaffelung auch in der orchestralen Abstufung zwischen den einzelnen Instrumentengruppen sucht man bei diesem Dirigenten vergebens. Nur sie sorgt allerdings für die explodierende Wirkung in diesem Satz. Lautes wirkt umso lauter, desto leiser es zuvor zuging – der Prototyp dafür ist Beethovens Leonoren-Ouvertüre III. Wie gesagt, je nach Hör-Situation kann es auch passen, wenn alles etwas pauschal schmettert, aber der letzte Stand der Brahms-Interpretation kann dies nicht sein:

Brahms: Sinfonie Nr. 2, 4. Satz 9‘35

Der Finalsatz der zweiten Sinfonie von Johannes Brahms mit dem Tonkünstler-Orchester und dem Dirigenten Andrés Orozco-Estrada, erschienen bei Oehms Classics. Seit dieser Spielzeit ist Orozco-Estrada Chefdirigent des Sinfonieorchesters des Hessischen Rundfunks in Frankfurt.

Sehr erfreulich ist dagegen unsere letzte Neuerscheinung. Erschienen ist sie bei dem kleinen Label Es-Dur in Hamburg. Sie gilt dem Komponisten und Pianisten Alexander Skrjabin, der am 27. April vor 100 Jahren starb.

Die schwedisch-lettische Pianistin Maria Lettberg, die zwischen 2004 und 2008 das komplette Klavierwerk Skrjabins aufgenommen hat, kommt von diesem Komponisten nicht mehr los. Deshalb hat sie auf ihrer neuesten CD Skrjabins mystisches, synästhetisches Orchesterwerk „Poème de l’extase“ in der Klaviertranskription von Sergei Pawtschinsky eingespielt, was an sich schon zu bewundern ist. Dazu aber kommen Werke anderer Komponisten, die entweder auf Skrjabin hinführen oder von ihm ausgehen, zuletzt der Komponist Olivier Messiaen, der ebenfalls Synästhetiker war, katholischer Mystiker und religiöser Ekstatiker. Ekstase und Mysterium bilden die Pole auf Maria Lettbergs CD. Sie macht uns auch mit dem deutsch- französischen Musikologen und Messiaen-Schüler Manfred Kelkel bekannt, der 1972 – im Jahr von Skrjabins 100. Geburtstag – ein „Tombeau de Scriabine“ op. 22 im Auftrag von Radio France schrieb und dabei auf Material von Skrjabin zurückgriff. Und sie stellt ein Werk vor, das exklusiv für sie geschrieben wurde: „Werden und Vergehen. Hommage à Skrjabin“ von Harald Banter. Banter ist sozusagen der Außenseiter auf dieser CD. Er studierte bei Hans Werner Henze und Bernd Alois Zimmermann in Köln, wurde dann aber Bandleader der WDR-Bigband. Für Lettberg spiegelt Banter die Persönlichkeit Skrjabins in einer symbolischen Handlung von Werden und Vergehen. Für den Hörer fühlt sich Banter so gut in den frühen Skrjabin ein, dass man fast schon von Mimikry sprechen könnte:

Banter: Hommage à Skrjabin 9‘00

Eine Hommage à Skrjabin – „Werden und Vergehen“ – von Harald Banter, geschrieben für die Skrjabin-Pianistin Maria Lettberg, die ihre neueste CD pünktlich zum 100. Todestag des Komponisten am 27. April bei dem Label Es-Dur herausgebracht hat. Das Programm dieser Konzept-CD erläutert ein ausführliches Gespräch zwischen Maria Lettberg und Olaf Wilhelmer.

Meine Damen und Herren, das war für heute die Sendung „Treffpunkt Klassik“ mit neuen CDs, vorgestellt von Lotte Thaler. Wenn Sie mögen, können Sie die Sendung im Internet nachhören, dort finden Sie auch eine Liste mit den vorgestellten Neuerscheinungen. Um 12 Uhr folgen die Nachrichten mit unserem Mittags-Magazin.