Katie Blue

Unfassbares Glück

Roman Buch

Rike ist mit ihrem Leben in Ockernried, einer Kleinstadt in Brandenburg, eigentlich ganz zufrieden. Wenn da nur nicht ihre Familie wäre, mit der es andauernd Stress gibt! Doch dann zieht Jakob in ihren Heimatort. Wird es ihm gelingen, Rikes Herz zu erobern? Und kann er ihr dabei helfen, ihre Familienprobleme leichter zu nehmen?

Autorin

Katie Blue wurde 1974 in Brandenburg geboren und lebt und arbeitet heute im Spreewald. Sie veröffentlichte bisher unter anderem die Liebesromane „Nicht nur Schafe“, „Laune des Schicksals“, „Sommerflirren“, „Ein Tollpatsch kommt selten allein“, „Stürmische Tage“, „Himmelblaues Glück“, „Lavendelträume“, „Ein Paar wie Hund und Katz“, „Blaubeerschnee und Blätterteig“, „Verführerische Küsse im Gepäck“, „Auszeit in Brevenhall“ und „Der Männerhasserclub“.

Inhaltsverzeichnis

Prolog 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

22 23 24 25 26 Epilog

Unfassbares Glück von Katie Blue

© 2018 Katie Blue Alle Rechte vorbehalten. [email protected] 1. Auflage

Dieses Buch, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung der Autorin nicht vervielfältigt, wiederverkauft oder weitergegeben werden.

Menschen zu finden, die mit uns fühlen und empfinden, ist wohl das schönste Glück auf Erden.

Carl Spitteler Prolog

Rike schnitt den großen Pappkarton gekonnt mit einem Cuttermesser auf. Sie war froh, dass die Lieferung endlich gekommen war. Es machte ihr zwar nicht unbedingt großen Spaß, die Kartons auszupacken und die Waren in ihr kleines Lager zu räumen, aber die Arbeit musste nun einmal getan werden. Sie hatte ausreichend Nachschub an Kopierpapier und Schreibutensilien bekommen und das beruhigte sie enorm. Nichts war schlimmer, als wenn man Kunden vertrösten musste, weil man nicht im Angebot hatte, was diese kaufen wollten. Rikes kleines Schreibgeschäft, in welchem sie außer den Papier- und Schreibwaren auch noch Zeitschriften, Geschenke und Souvenirs anbot, lief mittlerweile so gut, dass sie davon leben konnte und sich um ihre Finanzen keine Sorgen machen musste. Große Sprünge waren zwar nicht drin, aber sie hatte ihr Auskommen. Das lag sicherlich zu einem großen Teil daran, dass es in Ockernried, einem etwas größeren Dorf in Brandenburg ansonsten keine Möglichkeiten gab, die Waren, die sie anbot, zu erwerben. Und bis zur nächsten Kreisstadt, Karstow, musste man doch immerhin zehn Kilometer fahren. Ockernried profitierte im Sommer außerdem von den Touristen, die am nahegelegenen See Urlaub machten. Diese fielen häufig in Rikes Laden ein, denn hier bekamen sie Ansichtskarten und Rätselhefte.

Während Rike auspackte, dachte sie an die Geburtstagsfeier ihrer Großmutter, an der sie demnächst würde teilnehmen müssen. Es war leider unvorstellbar, diese einfach zu schwänzen. Rikes Unbehagen hing nicht mit dem eigentlichen Anlass zusammen, sondern hatte seinen Ursprung darin, ihrer gesamten Familie unter die Augen treten zu müssen. Sowohl ihre Eltern als auch ihre beiden Schwestern würden ihr, wie jedes Mal wenn sie ihr begegneten, sehr deutlich zu verstehen geben, dass sie komplett aus der Art geschlagen war. Als Einzige in der Familie konnte Rike keinen prestigeträchtigen Job vorweisen. Sie hatte nicht einmal studiert. Wie sollte sie da gegen drei Anwälte und eine Kinderärztin ankommen, die auf sie herabsahen? Sie war schon sehr oft traurig gewesen, weil ihre Familie einfach nicht

verstehen konnte, dass sie mit dem Leben, das sie führte, absolut zufrieden war. Und sie hatte sich doch auch etwas aufgebaut, führte immerhin ein eigenes Geschäft. Verdiente das denn gar keine Anerkennung? Rike seufzte. Dieses Thema verfolgte sie leider seit dem Abitur und sie wusste, dass der Geburtstag ihrer Oma genau deshalb schrecklich für sie werden würde. Sie schluckte zweimal heftig und versuchte die negativen Gedanken zu verdrängen. Es blieben ihr noch einige Tage Zeit, bis sie zu der Feier aufbrechen musste. Sie wollte wenigstens versuchen, sich bis dahin das Leben nicht schwerer zu machen als nötig.

1

Rike war gerade dabei, den Geschirrspüler auszuräumen, als das Telefon klingelte. Sie hoffte, dass nicht etwa ihre Mutter an der Strippe war, denn dann würde der Abend in jedem Fall ruiniert sein. „Ich bin's bloß“, tönte es jedoch fröhlich aus dem Hörer. Rike atmete erleichtert auf, denn sie hatte die Stimme ihrer besten Freundin Maria erkannt. „Zum Glück. Ich dachte schon, ich müsste mich gleich mit diversen Vorwürfen auseinandersetzen.“

„Hat deine Mutter denn nicht erst vor drei Tagen angerufen?“ Maria wusste sofort, worauf Rike anspielte, denn sie kannte sie in- und auswendig. „Ja, aber Großmutters Geburtstag steht vor der Tür und der liegt meiner Mutter offenbar so sehr am Herzen, dass er zig Mal durchdiskutiert werden muss. Und dann kommt sie natürlich vom Hundertsten ins Tausendste und prompt bin ich wie üblich diejenige, die sie unbedingt noch kritisieren muss, bevor sie das Gespräch beendet.“ „Wenn der große Anlass vorüber ist, werden sich ihre Anrufe bestimmt wieder auf ein Mindestmaß beschränken“, entgegnete Maria. „Das will ich ganz stark hoffen.“ Rike knabberte nervös an ihrer Unterlippe, denn allein die Vorstellung, ihre Mutter könnte sie von nun an dauerhaft mehr als einmal wöchentlich behelligen, rief blanke Panik in ihr hervor. „Wenigstens wohnt sie weit weg. Stell

dir mal vor, sie würde ganz plötzlich bei dir hereinschneien“, tröstete Maria ihre Freundin. „Das will ich mir lieber nicht ausmalen.“ „Insofern hast du es ja eigentlich noch ganz gut getroffen.“ „Es ist alles eine Frage der Perspektive, was?“ Rike lachte gequält. „Ich gebe zu, dass du mit deinen Eltern deine Schwierigkeiten hast und meine im Vergleich zu deinen die reinsten Engel sind, aber auch ich fetze mich mit meinen hin und wieder ordentlich.“ „Familie ist eben anstrengend.“ „Die kann man sich leider nicht aussuchen, seine Freunde schon. Apropos Freunde, ich bräuchte morgen Abend dringend deine Hilfe“, leitete Maria geschickt auf den Grund ihres Anrufs über. „Schieß los. Was gibt's?“ „Wir sind von Xenia eingeladen

worden, ganz kurzfristig. Aber natürlich konnte ich nicht zusagen, solange ich keinen Babysitter habe.“ „Xenia hat euch spontan eingeladen? Dann muss irgendwas passiert sein. Deine Cousine plant doch sonst jedes noch so kleine Ereignis komplett durch.“ „Das glaube ich auch, deshalb müssen wir unbedingt hin, obwohl Lukas eigentlich keine große Lust hat. Aber wann haben Männer schon das Bedürfnis, eine Einladung anzunehmen?“ Rike kicherte. Lukas war wirklich in Ordnung und passte hervorragend zu Maria. Er liebte sie und die Kinder von Herzen. Und er war fleißig, half im Haushalt und kümmerte sich um den Garten. Allerdings war er ein Partymuffel, wenig unternehmungslustig und hielt sich am liebsten in seinen eigenen vier Wänden auf. „Ein Abend bei deiner Cousine ist ja kein großes Ding, da muss er sich nicht

einmal in Schale schmeißen.“ „Das ist vermutlich der einzige Grund, warum ich ihn diesmal nicht erst stundenlang überreden musste, bei Xenia vorbeizuschauen. Also, wie sieht es aus? Kannst du auf meine beiden Racker aufpassen?“ „Geht klar. Ich habe nichts vor. Und die beiden freuen sich bestimmt sehr, wenn ich komme.“ „Gesagt habe ich ihnen noch nichts, aber sobald ich die Katze aus dem Sack lasse, fangen sie an, Pläne zu schmieden, was sie alles mit dir machen wollen“, gab Maria lachend zu. „Wann soll ich da sein?“ „Halb sieben reicht völlig.“ „Das ist in Ordnung. Da muss ich nach Ladenschluss nicht hetzen“, meinte Rike. „Bloß nicht. Du kannst noch mit uns Abendbrot essen und dann gehen wir so gegen sieben los.“ „Einverstanden. Und sonst so? Alles

in Ordnung bei euch?“ Maria stöhnte. „Das übliche Chaos. Lena ist ausgefallen, sie hat's mal wieder mit dem Rücken, da mussten wir ihre Patienten mit übernehmen. Du kannst dir vorstellen, dass da Freude aufkommt.“ Maria arbeitete als Physiotherapeutin und in der Praxis gab es außer ihr noch drei weitere Kolleginnen. Fiel eine aus, erhöhte sich automatisch das Arbeitspensum der anderen. „Hoffentlich zieht sich deren Krankengeschichte nicht wie beim letzten Mal wochenlang hin.“ Maria schnaubte laut. „Wenn sich das abzeichnet, werden wir über eine vernünftige Lösung nachdenken müssen. Wir können ja nicht auf Dauer jeden Tag drei, vier Patienten mehr betreuen.“ „Es dürfte schwierig werden, eine kurzfristige Aushilfe einzustellen“, überlegte Rike. „Die Zeitarbeitsfirma in Karstow

hatte schon im Februar keine Lösung für uns.“ „Und noch eine Mitarbeiterin dauerhaft zu beschäftigen, kommt nicht in Frage?“ „Eher nicht, sind wir alle vier da, können wir das Pensum bewältigen. Eine fünfte Physiotherapeutin wäre da überflüssig.“ „Tja, dann habe ich keine Lösung für euer Problem.“ „Lieb von dir, Rike, dass du dir deswegen Gedanken machst. Vielleicht könnte man jemanden finden, der generell Teilzeit arbeiten möchte. Zwanzig Stunden oder so. Die wären bestimmt auch drin, wenn Lena gesund ist.“ „Klingt ganz plausibel. Und dadurch entfiele sogar die große Arbeitsbelastung, wenn ihr Urlaub nehmt.“ „Ja, da hast du recht. Wir werden sehen, wie sich Lena dazu äußert und dann Nägel mit Köpfen machen. Und

wie läuft es bei dir? Ist mit dem Laden alles in Ordnung?“ „Läuft wie geschmiert. Die letzte Lieferung war vollständig und ich muss nun keinen Engpass mehr befürchten. Eine Sorge weniger. Ich merke jedoch, dass die Saison langsam wieder losgeht.“ „Fallen die Touristen also schon in Scharen bei dir ein?“ „Noch geht es eigentlich“, verneinte Rike. „Aber sie gucken jetzt zahlreicher rein. Noch zwei, drei Wochen, dann ist bestimmt die Hölle los.“ „Es ist schön, wenn im Ort wieder etwas mehr Leben ist“, meinte Maria. „Das ist wahr. Außerdem genieße ich es ja, viel zu tun zu haben. Dann vergeht so ein Arbeitstag schneller. Und über den Umsatz will ich mich ganz sicher nicht beklagen“, fand Rike. „Wir sehen uns dann also morgen, ja?“ „Geht klar, macht euch noch einen schönen Abend.“

Rike legte zufrieden auf. Ein kurzer Plausch mit ihrer Freundin hob ihre Stimmung doch immer sofort an.

Am anderen Tag hatte Rike bereits am Vormittag ein sehr unangenehmes Erlebnis mit einem Kunden. Es kam nur selten vor, dass sie sich wünschte, sie wäre nicht die einzige Verkäuferin im Laden, aber heute war das definitiv der Fall gewesen. Ein recht schmuddelig wirkender Mann war ins Geschäft gekommen und wollte Zigaretten kaufen. Als Rike ihm erklärte, dass sie diese nicht im Sortiment habe, wurde er laut. Da merkte sie schnell, dass er angetrunken war. Leider befanden sich zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Kunden im Geschäft. Rike bemühte sich, dem Mann höflich und ruhig zu erklären, wo er im Ort zu seinen Zigaretten käme. Innerlich zitterte sie jedoch, weil sie nicht wusste, ob der Mann sich

abwimmeln lassen würde. Der sah nämlich ganz und gar nicht so aus, als würde er den Rückzug antreten. Im Gegenteil, er war sogar noch näher an den Tresen gekommen und beugte sich darüber. Während er hasserfüllte Worte ausstieß, wich Rike instinktiv zurück und betete, es möge entweder jemand in den Laden kommen oder der Mann verlöre die Lust daran, hier Stunk zu machen. Zum Glück trat dann jedoch Letzteres ein und der Typ drehte sich laut fluchend um und verließ das Geschäft. Als die Ladentür scheppernd ins Schloss gefallen war, atmete Rike erleichtert auf. Das war gerade noch einmal gut gegangen. Manche Männer konnten so furchteinflößend sein. Vor allem wenn ihnen die Gewalttätigkeit in den Augen stand, bekam es Rike mit der Angst zu tun. Frauen mochten zickig werden, aber

irgendwelche Handgreiflichkeiten ersparten sie einem in der Regel. Und mit verbalen Attacken konnte Rike umgehen. Hoffentlich käme der Mann nicht noch einmal zurück. Auf solche Kunden verzichtete sie gern. Vielleicht sollte sie doch endlich mal ein Pfefferspray unter dem Tresen deponieren. Nur für alle Fälle, man wusste ja nie, was eventuell geschehen würde.

2

Jonas griff nach dem letzten Pappkarton, der sich noch in seinem Kofferraum befand. Seine Möbel und auch den größten anderen Teil seiner Sachen hatte die Umzugsfirma schon am letzten Wochenende hergebracht und dafür war er dankbar. Doch es hatte ein paar Dinge gegeben, die er bis zu seinem endgültigen Auszug benötigte, und diese hatte er schließlich selbst ins Auto geladen und hierher gefahren. Es kam ihm unwirklich vor, dass er seine Zelte in Schwerin nun tatsächlich

abgebrochen hatte. Heute Morgen war die Schlüsselübergabe gewesen. Nun würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Jakob hatte zuvor immer in der Großstadt gewohnt. Er sehnte sich jedoch nach einem beschaulicheren Wohnumfeld. Von ihm aus hätte sein Wohnort auch aus einem Haus bestehen können, was einfach auf einem Feld stand. Seine Schweriner Freunde hatten sich über seine Wünsche köstlich amüsiert und die meisten waren der Meinung gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis Jakob seine Ansichten revidierte. Niemand, der sein ganzes Leben in einer großen Stadt zugebracht hatte, könne sich an das Landleben wirklich gewöhnen, hatte Jakob mehrfach zu hören bekommen. Schwerin war zwar keine Großstadt wie Berlin oder Hamburg, aber doch

immerhin groß genug, um in seiner Freizeit einiges unternehmen und Kultur und Restaurants genießen zu können. Ein Dorf würde seine Aktivitäten mit Sicherheit stark einschränken, da waren sich Jakobs Freunde einig gewesen.

Und nun war Jakob trotzdem hier gelandet, in Ockernried, einem kleinen Örtchen mit gerade mal zweitausend Einwohnern. Im Dorf gab es zumindest einen Bäcker, einen Fleischer und einen Supermarkt mit integrierter Postfiliale. Ockernried wirkte eigentlich eher wie eine sehr, sehr kleine Stadt oder wenn man es denn so wollte, wie ein großes Dorf, das doch einigen Komfort zu bieten hatte. Jakob konnte sich gut vorstellen, dass er hierher passte. Arbeiten würde er in der nahegelegenen Kreisstadt Karstow. Er müsste zwar täglich einige Kilometer bis dorthin zurücklegen, aber dies wollte er gern auf sich nehmen. Nach Karstow

zu ziehen, wäre ihm nicht richtig vorgekommen, denn in dieser Kleinstadt lebten etwa siebzehntausend Einwohner und dies schienen ihm für seine Bedürfnisse schon wieder viel zu viele Menschen zu sein. Nein, Jakob war sehr zuversichtlich, dass er sich richtig entschieden hatte. Nun musste er sich eben einrichten und es würde wohl einige Zeit dauern, bis er alle Kartons ausgepackt hatte.

Als er die Treppe zu seiner Wohnung hoch stiefelte, öffnete sich plötzlich die Tür, die zur Wohnung unter ihm gehörte. Jakob hatte die Frau, die dort lebte, schon einmal kurz am Fenster gesehen und wusste, dass es sich um eine ältere Dame handelte. „Einen schönen guten Tag“, rief sie ihm entgegen. „Ich muss doch mal schauen, wer in die Wohnung über mir einzieht.“ „Guten Tag“, meinte Jakob und

stellte die Kiste auf der Treppe ab, um der Frau die Hand zu geben. Wenn er sich schon vorstellte, konnte er das auch gleich richtig tun. Er nannte der Frau nicht nur seinen Namen und sein Alter, sondern erzählte ihr ebenfalls, dass er in der Kreisstadt arbeiten würde. Jakob konnte sich denken, dass die Frau sehr neugierig war. Waren das alte Damen denn nicht immer? „Ich bin Gisela Lehmann und 78 Jahre alt“, erklärte die Frau daraufhin freudestrahlend. Ihr hatte offensichtlich gefallen, dass sie an Informationen gekommen war, ohne den neuen Mieter erst lange ausquetschen zu müssen. „Dann wohnen Sie bestimmt schon länger in diesem Haus“, vermutete Jakob. Gisela Lehmann nickte. „Seit über dreißig Jahren. Und ich habe, das können Sie mir glauben, sehr viele Mieter kommen und gehen sehen.“

Jakob grinste. „Ich habe nicht vor, gleich wieder auszuziehen.“ „Manchmal geht das schneller als man denkt. Sie werden eine Frau finden und Kinder bekommen und dann ist die Wohnung dort oben zu klein.“ Jakob schluckte. Eins war ihm sofort klar, Gisela Lehmann würde nichts entgehen. Es war vermutlich doch etwas dran, wenn man sagte, dass auf Dörfern jeder alles von jedem wusste.

„Wie dem auch sei, ich habe noch sehr viel zu tun“, entschuldigte er sich und deutete auf den Pappkarton. „Ja, natürlich, aber wenn Sie sich ein wenig eingelebt haben, kommen Sie mal auf eine Tasse Kaffee und ein schönes Stück Kuchen vorbei, einverstanden?“ „Sehr gern“, nickte Jakob und schnappte sich die Kiste. Dann stieg er mit großen Schritten die Stufen bis zu seiner Wohnung hinauf.

Nachdem er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, atmete er tief durch. Dies hier war also sein neues Zuhause. Er hatte sich für eine geräumige Zweizimmerwohnung entschieden, die hier auf dem Land durchaus bezahlbar war und nicht allzu viel von seinem Gehalt fressen würde. Am besten gefiel ihm der Balkon, den er vom Wohnzimmer aus betreten konnte. Es musste einfach wunderbar sein, jederzeit an die frische Luft gehen zu können, wenn ihm danach war. Das Wohnzimmer war groß genug, um seine bequeme Couch zu beherbergen und auch der alte, beinahe schon verschlissene Sessel hatte Platz gefunden. Über kurz oder lang würde er sich von dem wohl trennen müssen, aber Jakob hatte es noch nicht übers Herz gebracht, ihn auf den Müll zu werfen. Zwei schmale Sideboards vervollständigten das Ensemble im Wohnzimmer, das alles in allem recht

übersichtlich war. Aber Jakob liebte es so. Mit unnützem Plunder und Tinnef konnte er nichts anfangen. In der Küche hatte er nicht viel einrichten müssen, denn die Wohnung wurde mit einer eingebauten Küchenzeile vermietet. Jakob hatte nur einen Tisch und zwei Stühle ergänzt, denn er hatte keine Lust, im Wohnzimmer zu essen und Geschirr und Lebensmittel jedes Mal erst mühsam hin und her transportieren zu müssen. Das Schlafzimmer sah von allen Räumen im Moment noch am chaotischsten aus, denn neben seinem Bett und Kleiderschrank befand sich hier ein hoher Stapel mit noch unausgepackten Umzugskartons. Allerdings würde diesen Raum ja so schnell niemand zu sehen bekommen, weshalb es nicht darauf ankam, alle Kisten so bald wie möglich zu leeren, wenngleich Jakob nicht vorhatte, ewig neben den Kartons zu schlafen.

Er brauchte jetzt erstmal einen richtig starken Kaffee und dann würde er sich daran machen, den Kartonstapel Stück für Stück abzubauen.

Am Abend hatte Jakob nach der Schufterei das Gefühl, er müsse unbedingt noch an die Luft, weil er glaubte, ihm würde sonst die Decke auf den Kopf fallen. Er beschloss zum See hinunterlaufen. Das war auch etwas, was ihm an Ockernried sehr gut gefiel. Er konnte hier jederzeit schwimmen gehen, wenn ihm der Sinn danach stand. Was das Baden in Seen anging, war er ja von Schwerin durchaus verwöhnt. Heute allerdings würde er sich nicht ins Wasser begeben, sondern nur am Ufer entlanglaufen. Das Wasser war ohnehin noch viel zu kalt, denn sehr viele richtig warme Sommertage hatten sie bisher noch nicht gehabt.

Am See war überhaupt nichts los, aber es war auch schon nach neun und würde sicherlich bald dämmern. Jakob genoss die Ruhe und die Stille. Er atmete tief durch und spürte, wie gut ihm die frische und saubere Luft tat. Seine Entscheidung, sein altes Leben komplett hinter sich zu lassen und an einem anderen Ort noch einmal vollkommen neu anzufangen, war richtig gewesen. Das wusste er genau. Er hatte zwar schon in den letzten Monaten das Gefühl gehabt, dass es ihm endlich gelungen war, Pauline zu vergessen. Die Trennung war unvermeidlich gewesen, nachdem sie ihm unmissverständlich erklärt hatte, niemals Kinder haben zu wollen. Es hatte verdammt weh getan, so etwas von der Frau zu hören, die man über alles liebte und mit der man sein restliches Leben teilen wollte. Jakob wollte nicht auf Kinder verzichten. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn

Pauline nicht hätte schwanger werden können. Dies wäre kein Grund für ihn gewesen, sie zu verlassen. Aber Pauline hatte ihm recht deutlich vor Augen geführt, dass sie doch sehr unterschiedliche Vorstellungen zu haben schienen, wie ihr Leben aussehen und verlaufen sollte. Jakob wünschte sich eine Familie und er hoffte, dass er in naher Zukunft wieder eine Frau kennen lernen würde, in die er sich verliebte. Er glaubte an das Schicksal und wenn es so sein sollte, dann würde er in Ockernried tatsächlich eine neue Liebe finden.

3

Marias Kinder waren begeistert, als Rike auftauchte. Den Job der Babysitterin übernahm diese relativ regelmäßig, sodass sowohl Niklas als auch Emily sehr vertraut mit der Freundin ihrer Mutter waren. Rike kannte beide Kinder seit deren Geburt und hatte jeden einzelnen ihrer Entwicklungsschritte mitverfolgt. Sie hatte die Geburtstage mit ihnen gefeiert, Ausflüge mit ihnen unternommen und auch mal an ihrem Krankenbett gesessen.

Maria wusste, dass Niklas und Emily in sehr guten Händen waren, wenn Rike die Betreuung übernahm, weil diese ihre Kinder nämlich liebte und gern mit ihnen zusammen war. Deshalb bat sie ihre Freundin immer wieder darum, auf die beiden aufzupassen.

„Nicht zu spät ins Bett“, verlangte Maria noch, kurz bevor sie und ihr Mann Lukas das Haus verließen. „Geht klar“, versprach Rike. Die kleine Emily hingegen zog einen Flunsch. Es war etwas Besonderes, wenn Rike da war, um auf sie aufzupassen, da konnten sie doch noch nicht um acht schlafen gehen, wie sie es sonst taten. Niklas schmunzelte nur schelmisch, denn er wusste längst, dass man bei Rike ein paar Extraminütchen herausschlagen konnte. Aber er würde den Teufel tun und seiner Mutter gegenüber diesbezüglich eine Andeutung machen.

Als die Eltern verschwunden waren, grinste Rike die beiden Kinder verschwörerisch an. „Und was steht nun auf dem Programm?“ „Das Spiel, das Vati uns letztens mitgebracht hat“, meinte Emily sofort. Sie lispelte ein wenig, denn vor kurzem hatte sie leider gleich zwei Zähne gleichzeitig verloren, was eine riesengroße Zahnlücke verursachte. „Nein“, protestierte Niklas sofort. „Das ist echt langweilig. Lasst uns lieber an die Play Station gehen.“ „Ihr könntet mir das Spiel von eurem Vater ja wenigstens erst einmal zeigen“, meinte Rike diplomatisch dazu. „Ich hol's“, rief Emily erfreut. Niklas hingegen runzelte die Stirn. „Das ist so ein Babykram.“ „Hat sich euer Vater altersmäßig wohl mal wieder vergriffen?“ Rike lachte, denn sie kannte Lukas' Talent, unpassende Geschenke zu besorgen. „Er hat es lieb gemeint wie immer.

Ich hab auch nichts gesagt, aber das Spiel ist eher was für Kindergartenkinder.“ „Emily scheint's zu gefallen.“ Niklas seufzte. „Sie ist gerade noch in dem Alter, in dem man sich mit so etwas abgeben würde.“ „Warum kauft euch euer Paps denn nicht ein Spiel für die Play Station, damit kann er doch gar nicht so falsch liegen?" Niklas schnaubte. „Und ob. Da hat er neulich so ein komisches Einrichtungsspiel angeschleppt. Man musste leere Zimmer mit Möbeln und Bildern ausstatten.“ Rike sah den Jungen interessiert an. „Klingt doch lustig und ist bestimmt nicht für sehr kleine Kinder gedacht gewesen.“ Niklas verdrehte die Augen. „Wenn du meinst! Aber mir hat es keinen Spaß gemacht, das zu spielen. Und Emily hat nach einer Runde auch aufgegeben.“

Inzwischen war seine Schwester wieder zurück in die Küche gekommen, wo sie sich meistens aufhielten, wenn Rike da war, obwohl die beiden wunderschöne Kinderzimmer hatten. „Hier ist es.“ Emily schob einen bunten Pappkarton über den Tisch. „Und worum geht es in diesem Spiel?“, fragte Rike sie. „Erzähl doch mal.“

Während Emily munter drauflos plapperte, holte sich Niklas ein Glas Saft aus dem Kühlschrank. Rike sah nur kurz auffordernd zu ihm hinüber, woraufhin er für seine Schwester und seine Babysitterin ebenfalls ein Glas füllte. Gut erzogen waren die Kinder auf jeden Fall. Das machte es sehr angenehm, auf sie aufzupassen und Zeit mit ihnen zu verbringen. Zwar war auch bei diesen beiden ein kleiner Streit des Öfteren an der Tagesordnung, aber das ließ sich unter Geschwistern eben nicht

immer vermeiden. Doch alles in allem kamen die beiden trotz ihres unterschiedlichen Geschlechts und ihres Altersunterschieds gut miteinander aus.

Als Emily ihre Erklärungen beendet hatte, war Rike klar, warum Niklas das Spiel so vehement ablehnte. Welcher Zehnjährige hatte denn Spaß daran, irgendwelche Hütchen einzusammeln? „Tja, wenn ihr mich fragt“, erklärte Rike daher schließlich, „dann steht mir tatsächlich eher der Sinn nach einer Runde Autorennen.“ Niklas nickte erfreut und Emily sah nur ein kleines bisschen enttäuscht aus. „Ich will aber das rote Auto haben“, verlangte sie. „Ich möchte bitte“, korrigierte Rike automatisch. „Du darfst das rote nehmen“, erklärte Niklas gönnerhaft. „Ich wähle wie immer das gelbe. Und du, Rike, entscheidest du dich für das blaue oder das grüne?“

„Das blaue natürlich, du weißt doch, dass das meine Lieblingsfarbe ist.“ Niklas nickte. „Gut, so machen wir es.“

Die Zeit verging leider viel zu schnell und schon war es so weit, ins Bett zu gehen. Rike ließ daher nicht zu, dass sie nach dem letzten beendeten Autorennen noch ein neues Spiel starteten. Es würde ohnehin etwas dauern, bis die Kinder sich die Zähne geputzt und bettfertig gemacht hatten. Und um mindestens eine Vorlesegeschichte käme sie garantiert auch nicht herum, weshalb sie das Licht deutlich später als 20.00 Uhr ausmachen würde. Der Protest der Kinder blieb nicht aus, bewirkte jedoch nichts, denn Rike konnte sehr konsequent sein, wenn sie wollte. Und sie wusste genau, dass man in manchen Dingen einfach nicht nachgeben durfte, wenn man sich das Leben nicht schwerer machen wollte als

nötig.

Auf dem Weg vom Bad in die Kinderzimmer wurde es dann trotzdem noch einmal sehr lebhaft, denn sie veranstalteten ein kleines Fangespiel, was damit endete, dass beide Kinder mit einem ordentlichen Satz ins Bett sprangen. Rike machte leider eine unglückliche Bewegung, als sie an Niklas' Bett ankam, und knickte um. Ein leiser Schmerzensschrei entfuhr ihr. Dann setzte sie sich schnell auf sein Bett und hielt sich den rechten Fuß. Der Junge bekam sofort große Augen. „Ist was passiert?“ „Ich bin umgeknickt“, gab Rike mit schmerzverzerrter Miene zu. „Blöd, passiert mir auch manchmal. Ist was zu sehen?“ Rike massierte sich den Bereich des Knöchels und bewegte den Fuß vorsichtig auf und ab. „Nein, noch keine

Schwellung erkennbar.“ „Du musst den Fuß kühlen und Ruhe halten“, erklärte Niklas mit der ganzen Weisheit eines Zehnjährigen. „Sobald ihr schlaft, okay?“ Er nickte. „Dann musst du wohl heute auf die Geschichte verzichten?“ Rike schüttelte den Kopf. Er hatte so traurig geklungen, weil ihn dies leider um sein Vergnügen gebracht hätte. „Nein, das bekomme ich gerade noch hin. Aber ich muss erst zu Emily rüber, sie ist ja noch jünger als du und bestimmt schon sehr müde.“

Eine Viertelstunde später hatte Rike für beide Kinder je eine Geschichte zum Besten gegeben und saß auf der Couch. Obwohl sie Niklas' Vorschlag eigentlich nicht hatte umsetzen wollen, lag auf ihrem freigelegten Knöchel jetzt ein Handtuch, in das eine Tüte Tiefkühlerbsen eingewickelt war. Der Knöchel war inzwischen leider

ein wenig angeschwollen und Rike hoffte inständig, dass sie sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Sie wollte das Beste hoffen, denn sie konnte es sich wirklich nicht leisten, krank zu sein. Wer sollte sich dann um ihr Geschäft kümmern? All die Jahre hatte sie immer überlegt, ob sie noch irgendeine Verkäuferin einstellen sollte, die dann eben auch in einem solchen Notfall verfügbar wäre. Doch damit waren gewaltige Kosten verbunden. Immerhin musste sie dieser ein Gehalt zahlen. Bisher waren deshalb alle Überlegungen diesbezüglich im Sande verlaufen. Und irgendwie hatte sie es immer geschafft, nie länger als allerhöchstens mal drei Tage krank im Bett zu liegen. Da war ihr Laden eben geschlossen geblieben. Rike atmete tief durch. Es würde schon gutgehen und ihr Fuß hielte durch. Knickte man um, war das meistens zwar schmerzhaft und

manchmal konnte man auch einige Tage lang nicht richtig auftreten. Doch dann gaben sich die Schmerzen wieder und schon waren die Probleme vergessen. So würde es auch diesmal sein. Hoffentlich.

4

Maria war nicht sonderlich erfreut gewesen, Rike gewissermaßen versehrt auf der Couch vorzufinden. Aber Rike hatte ihr Bestes getan und ihr Missgeschick, so gut es ging, heruntergespielt. Ihre Freundin hatte es sich jedoch nicht nehmen lassen, sie mit dem Auto nach Hause zu bringen, obwohl der Weg bis zu Rikes Wohnung nicht weit war und sich im Normalfall spielend zu Fuß bewältigen ließ. Maria hatte sich noch einmal für

Rikes Hilfe bedankt und ihr versprochen, sie morgen auf jeden Fall anzurufen und sich zu erkundigen, was denn der Fuß machte. Rike hatte dankbar genickt und sich verabschiedet. Es war gut zu wissen, dass Maria immer für sie da sein würde, so wie sie selbst es auch für ihre Freundin war. Die Neuigkeiten, die Maria von ihrem Abend bei ihrer Cousine mitgebracht hatte, waren besondere gewesen, denn es würde bald eine Hochzeit geben. Und Marias Cousine war sehr feierlustig, was vermutlich zur Folge haben würde, dass halb Ockernried an ihrer Party teilnehmen würde. Rike konnte sich also berechtigte Hoffnungen machen, dass auch sie demnächst diesen Anlass mitfeiern konnte. Doch bis dahin würde noch einige Zeit ins Land gehen, denn die Hochzeit war erst für den Herbst geplant. Immerhin gab es sehr viel vorzubereiten

und zu bedenken.

Als Rike an ihrer Wohnungstür angekommen war, strahlte sie über das ganze Gesicht. Sie hatte nämlich einen Beutel an ihrem Türknauf entdeckt, und wenn sie sich nicht täuschte, dann konnte der nur eines bedeuten. Sie öffnete ihn, bevor sie ihre Wohnung betrat, weil sie einfach zu neugierig war. Tatsächlich bewahrheitete sich ihre Ahnung. Mindestens ein Kilo Spargel lag darin. Felix war ein Schatz. Rike liebte Spargel über alles. Sie bedauerte regelmäßig, dass es dieses Saisongemüse nicht das ganze Jahr über zu essen gab. Jedenfalls bekam man es von Juli bis März nicht so frisch, sondern musste sich mit Tiefkühlkost begnügen und die schmeckte nie so lecker. Ihr bester Kumpel Felix lebte glücklicherweise auf einem Bauernhof in der Nähe von Ockernried. Eigentlich

gehörte dieser seinen Eltern. Aber trotz seiner nun mehr schon 31 Jahre hatte er es bisher nicht geschafft auszuziehen. Obwohl seine Eltern den Spargel nur in sehr geringen Mengen anbauten, ernteten sie jedes Jahr so reichlich, dass Felix öfter mal ein Pfund oder Kilo an Rike verschenkte. Früher war ihr das manchmal peinlich gewesen, denn Spargel war teuer und es konnte nicht angehen, dass Felix solche Geschenke machte. Doch der hatte jedes Mal nur abgewinkt, sobald Rike das Portemonnaie gezückt hatte. Schließlich kannten sie sich seit ihren Kindergartentagen und waren seither wie Latsch und Bommel. Es gab sehr viele Leute, die meinten, eine echte Freundschaft zwischen Frau und Mann könne es niemals geben. Denn wenn man sich gut verstand, würde sich früher oder später irgendwann sexuelle Anziehung einschleichen. Und wenn nur einer von

beiden etwas Derartiges empfände, musste sich eine solche Beziehung zwangsläufig zu etwas sehr Kompliziertem entwickeln. Rike und Felix lachten jedoch nur, wenn sie solche Äußerungen hörten. Sie waren einfach richtig gut befreundet. Und sie würden füreinander durchs Feuer gehen. Punkt. Ein Paar würde aus ihnen niemals werden, das wussten sie genau.

Am anderen Morgen war Rike erleichtert, weil die Schwellung im Knöchelbereich ein wenig zurückgegangen war. Beim Auftreten merkte sie zwar deutlich, dass sie gestern so unsanft umgeknickt war, aber das ließ sich aushalten. Wenn sie den Fuß heute und morgen schonte und nicht zu viel herumlief, müsste es eigentlich möglich sein, dass sie sich bald wieder vollkommen schmerzfrei bewegen konnte.

Am späten Vormittag sah Rike ein, dass die Arbeit im Laden es leider verhinderte, dass sie sich ums Herumlaufen drücken konnte. Wenn Kunden irgendetwas suchten, ging sie automatisch zu den Regalen und holte den gewünschten Artikel hervor. Margarete, einer alten Einwohnerin Ockernrieds, entging daher auch nicht, dass Rike sich humpelnd fortbewegte. „Was ist denn passiert? Hast du dir den Fuß verstaucht?“, fragte sie neugierig. „Bin umgeknickt“, gab Rike zu und verzog das Gesicht. „Dann solltest du hier gar nicht herumspringen, sondern den Fuß hochlegen.“ „Würde ich ja gern, aber da müsste ich den Laden schließen und das kommt nicht in Frage.“ Margarete schüttelte besorgt den Kopf. Sie war zwar ein altes Klatschweib und verbreitete zu gern Gerüchte, aber sie war sehr hilfsbereit und kümmerte

sich um andere Einwohner, vor allem Menschen, die hilfsbedürftig waren. „Du setzt dich jetzt hin und ich koche dir eine schöne Tasse Tee.“ Rike musste schmunzeln. Zwar war der Laden bis auf Margarete und sie im Moment leer, sobald jedoch jemand hereinschneien würde, musste sie ihren Job machen. „Meinetwegen“, brummelte sie trotzdem, denn sie wusste zu genau, dass Margarete nicht so einfach nachgeben würde.

Als Margarete später abzog, fühlte sich Rike jedoch viel besser. Wider Erwarten hatte sich während der Teepause niemand im Geschäft blicken lassen, weshalb Rike tatsächlich mal zwanzig Minuten am Stück hatte sitzen und ihren Fuß schonen können. Außerdem hatte ihr der Trost der älteren Frau gut getan. In Ockernried sorgten sie sich umeinander und das war auch ein Grund dafür, warum Rike

niemals überlegt hatte, jemals von hier fortzugehen. Selbst als ihre Eltern sie vor einigen Jahren permanent unter Druck gesetzt hatten, ihnen nun endlich nach Berlin zu folgen, war das für sie nicht in Frage gekommen.

Als ein junger, ihr unbekannter Mann hereinkam, blickte Rike ihn frohgemut an und lächelte. Bestimmt war das ein weiterer Tourist und wollte sich mit einer Zeitschrift oder einem Rätselheft versorgen. „Guten Tag“, meinte der Mann, der auf Rike gleich einen sympathischen Eindruck machte. Sie grüßte zurück und musterte ihn neugierig. Er war attraktiv, das musste sie zugeben. Seine dunkelbraunen Haare wellten sich leicht und würden bald einen neuen Schnitt brauchen. Auch seine Augen schienen dunkelbraun zu sein. Und der Typ war schlank, ohne

jedoch knochig zu wirken. Andererseits wiesen seine Oberarme keine Muskelpakete auf, Hanteltraining war also definitiv nicht seine Sache.

Jakob spürte, dass die Verkäuferin ihn intensiv musterte. Die selben abschätzenden Blicke hatte er in Ockernried inzwischen jedoch schon einige Male wahrgenommen. Vermutlich war es normal, dass die Leute einen neuen Mitbürger genauer unter die Lupe nahmen. Die Frau, die hinter dem Tresen stand, gefiel ihm auf den ersten Blick sehr gut. Sie trug ihre blonden Haare halblang und hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase. Außerdem waren ihre Blicke freundlich und ihre Stimme sehr sanft gewesen. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“, fragte sie schließlich, als Jakob immer noch wie angewurzelt mitten im Ladenraum stand und sich weder umsah

noch eine Frage stellte. „Ähm, ja.“ Er riss sich aus seiner Erstarrung. „Ich wollte gern einige Briefmarken kaufen, wenn das möglich ist.“ Rike runzelte die Stirn. „Leider nein. Die bekommen Sie in Ockernried nur in der Poststelle im Supermarkt.“ „Schade. Mir war zwar klar, dass es dort welche geben müsste. Aber da der Schalter dort fast immer nur am Vormittag besetzt ist, dachte ich mir, ich probiere es hier.“ „Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann, aber vielleicht ist es ja auch nicht ganz so eilig und Sie können bis morgen warten. Ansonsten müssten Sie für Ihre Briefmarken bis nach Karstow fahren.“ Jakob winkte ab. „Nein, nein, so dringend ist es nicht. Ich kann mich morgen um die Marken kümmern. Sie führen hier Zeitschriften und Schreibwaren, wie ich sehe?“, fragte er

interessiert. „Ja, bei den Papier- und Schreibwaren schlagen eher die Einheimischen zu. Die Zeitschriften werden liebend gern auch von Touristen gekauft, wenn wir Urlaubssaison haben.“ Sie sah ihn auffordernd an. Jakob schmunzelte leicht. Hatte er sich verhört oder hatte in ihre letzten Worten eine Vermutung gelegen? „Ich würde mich ab sofort eigentlich zu den Einheimischen zählen“, klärte er die hübsche Verkäuferin auf. Die bekam große Augen. „Oh, das wusste ich nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich betreibe hier keine Klatschumschlagzentrale. Aber Ockernried ist so klein, dass man für gewöhnlich sofort von irgendjemandem darüber informiert wird, wenn ein Fremder zu uns zieht.“ Jakob nickte verständnisvoll. „Das glaube ich. Das Anmieten der Wohnung und mein Umzug gingen jedoch so zügig

vonstatten, dass der Informationsfluss noch gar keine Chance hatte, sich richtig zu entfalten.“ „Dann bin ich also quasi die Erste, die von Ihrem Zuzug erfährt?“ Rike strahlte. „Wenn man von meiner Nachbarin Gisela Lehmann, die unter mir wohnt, mal absieht“, lachte Jakob. „Der entgeht nichts.“ „Habe ich gemerkt.“ „Ich heiße übrigens Friederike. Aber auf diesen langen Vornamen hat niemand Lust, also bleibt es bei Rike.“ „Und ich bin Jakob. Ich werde zwar in Ockernried wohnen, aber in Karstow arbeiten. Allerdings trete ich meine Stelle erst am nächsten Montag an.“ Rike lächelte. „Dann haben Sie ja die Chance, sich morgen Vormittag Ihre Briefmarken zu besorgen. Und wir werden uns wohl sicher öfter über den Weg laufen.“ „Das wäre sehr schön“, meinte Jakob

und beobachtete belustigt, wie Rike daraufhin leicht errötete. „Also bis demnächst.“ Eigentlich bedauerte er es, den Laden verlassen zu müssen. Er hätte gern noch ein wenig mit Rike geplaudert, aber welchen Grund hätte er dafür gehabt? Hoffentlich sah er sie bald wieder. Und wenn der Zufall ihm nicht helfen würde, bliebe ihm ja immer noch ein Einkauf in ihrem Geschäft.

5

Rike war übel, worüber sie sich jedoch nicht wunderte. Schließlich würde sie in Kürze mit ihrer Familie zusammentreffen und das musste ihr ja Magenschmerzen bereiten. Der Tag, an dem ihre Großmutter Geburtstag hatte, war immer näher gerückt, und Rike hatte mit Sorge beobachtet, dass sie sich schon bald auf den Weg zur großen Geburtstagsfeier machen musste. Maria hatte gemeint, sie würde die Party überstehen, schließlich hatte sie in

den letzten Jahren immer mal Zeit mit ihrer Familie zugebracht und war stets lebend nach Ockernried zurückgekehrt. Rike hatte dies zwar bejaht, aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie nach jeder Familienzusammenkunft noch wochenlang an sich selbst gezweifelt hatte und unglücklich gewesen war. Diesmal würde es mit Sicherheit nicht anders sein. Maria war zwar ihre beste Freundin, aber sie wurde von ihrer Familie geliebt. Sie konnte sich daher nicht vorstellen, wie es war, wenn man das schwarze Schaf seiner Familie darstellte, auf dem alle herumhackten, wie es ihnen beliebte. Schon als sie noch ganz klein gewesen war, hatte Rike gespürt, dass ihre Eltern ihre beiden Schwestern bevorzugten. Dabei gab es aus ihrer Sicht gar keinen Grund dafür. Ihre Schwestern waren weder intelligenter noch hübscher als sie. Nein, sie war ein aufgeschlossenes, fröhliches Kind gewesen, dem von

anderen Menschen auch jede Menge Sympathien zuflogen. Sie war eine gute Schülerin und hatte viele Hobbys gehabt. Trotzdem war sie den ständigen Nörgeleien ihrer Eltern ausgesetzt gewesen, denen sie es anscheinend niemals recht machen konnte. Und schon bald hatten ihre Schwestern das Verhalten der Eltern ihr gegenüber übernommen und begonnen, sie zu triezen. Dass sie einen Berufsweg eingeschlagen hatte, der ihren Eltern nicht behagte, für die nur ein akademischer Beruf in Frage gekommen war, hatte die Situation nicht gerade entschärft. Doch zu diesem Zeitpunkt, Rike hatte gerade das Abitur abgelegt, war sie volljährig gewesen, und ihre Eltern waren mit ihren beiden Schwestern nach Berlin gezogen. Also hatte sie die Chance ergriffen, sich von ihrer Familie zu lösen und auf eigenen Beinen zu stehen. Sie

blieb allein in Ockernried zurück. Ihr Ausbildungsgeld hatte gereicht, um die Miete für ein winziges Zimmer zu bezahlen. Für ihre Lebensmittel und das bisschen an Kleidung das unabdingbar war, hatte sie zusätzlich im Supermarkt an der Kasse gearbeitet. Irgendwie war sie durch diese schwierige Zeit gekommen, nicht zuletzt deshalb, weil ihr in Ockernried viele Eltern ihrer Freundinnen ein wenig unter die Arme griffen und sie des Öfteren zum Mittagessen einluden. So war es ihr jedoch gelungen, ihren eigenen Weg zu gehen und ihren Eltern zu entkommen, was bitter nötig gewesen war. Sie wollte den Kontakt zu ihnen künftig auch so gering wie nötig halten. Dennoch war dieser nie ganz abgebrochen, Rike war eben nicht der Mensch, der alle Zelte komplett hinter sich abbrach, sondern sie versuchte stets, vernünftig zu sein und ein Mindestmaß an Kommunikation aufrechtzuhalten,

mit dem Ergebnis, dass sie sich leider nicht vor der Geburtstagsfeier ihrer Oma hatte drücken können.

Rike war froh, dass sie sich wenigstens nicht um ein Geschenk für ihre Oma hatte kümmern müssen, was sowieso als unzulänglich eingestuft worden wäre. Ihre Mutter hatte dies in die Hand genommen und ein Geschenk für die ganze Familie besorgt. Rikes finanzieller Beitrag hierzu würde zwar ein gewaltiges Loch in ihre Ersparnisse reißen, von denen sie nicht viele hatte, aber sie wollte ihrer Mutter nicht vorjammern müssen, dass ihr Budget nicht für dermaßen teure Geschenke gemacht war.

Und nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem Rike sich auf den Weg machen musste. Sie hatte beschlossen, sich nach der Feier gleich wieder auf den Heimweg zu begeben,

auch wenn das bedeutete, dass sie nichts Alkoholisches trinken konnte, was das Ertragen ihrer Familie sicherlich nicht erleichtern würde. Doch wenn sie nicht übernachtete, hätte sie das Familientreffen schneller hinter sich und musste sich nicht noch beim Frühstück endlose Vorwürfe ihrer Mutter oder ironische Anspielungen ihres Vaters gefallen lassen. Rike hatte deshalb außer einer Handtasche gar nichts weiter dabei, als sie ihr Auto ansteuerte. Der kleine blaue Yaris müsste bald ersetzt werden. Er war mittlerweile schon ziemlich in die Jahre gekommen und seine letzte Reparatur war wahnsinnig teuer gewesen, aber für einen guten gebrauchten Wagen, an ein nagelneues Auto war überhaupt nicht zu denken, fehlte es Rike momentan an Geld.

Sie seufzte, als sie sich hinter ihr Lenkrad klemmte. Und wenn das Auto

nun nicht anspringen würde? Dann müsste sie nicht zu ihrer Großmutter fahren. Rasch begriff sie die Absurdität dieser Vorstellung. Wenn es ein Problem mit dem Auto gäbe, würden ihre Oma und ihre Eltern selbstverständlich von ihr erwarten, dass sie sich auf die Schnelle einen fahrbaren Untersatz organisierte, damit sie pünktlich zur Feier erschiene. Und wenn sie eben zweihundert Euro für ein Taxi investierte, dann musste das so sein. Da sie also sowieso nicht darum herumkäme, sich wie auch immer auf den Weg zu machen, steckte Rike den Autoschlüssel ins Schloss und ließ den Motor an. Der allerdings ließ nur ein kurzes Stottern hören und ging wieder aus. Erschreckt riss sie ihre Augen auf. War ihr dummer Wunsch etwa Wirklichkeit geworden? Blankes Entsetzen machte sich in ihr breit. Das

Auto musste einfach anspringen, es musste. Vorsichtig drehte sie den Schlüssel erneut im Schloss herum. Wieder blubberte der Motor nur kurz los. Erschöpft sank Rike auf ihrem Sitz zurück. Es half nichts, sie musste sich Hilfe holen. Aber wie sollte sie nur an einen Mechaniker kommen? Ihre Autowerkstatt hatte jedenfalls längst zu. Zwölf Uhr war vorbei, irgendwann wollten die Automechaniker Wochenende machen, das konnte man ja verstehen. Würde sie Maria um Hilfe bitten können? Aber die hatte garantiert etwas anderes zu tun, als sie zum Geburtstag ihrer Oma zu kutschieren. Rike wusste, dass sie auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln keine Chance hatte, den Ort der Feier zu erreichen. In der Woche wäre das vielleicht noch möglich gewesen, wenn sie eine gewisse Verspätung

einkalkulierte, aber am Wochenende wäre es schon ein Problem, von Ockernried mit dem Bus nach Karstow zu gelangen, der fuhr nämlich nur alle vier Stunden. Und wenn sie selbst mal unter die Motorhaube schaute? Vielleicht konnte sie irgendetwas erkennen, was nicht in Ordnung war. Ohne große Zuversicht zog Rike den entsprechenden Hebel und stieg aus. Hilflos beugte sie sich über den Motorraum und stellte nur fest, dass alle Kabel am richtigen Platz zu sein schienen. Der eigentliche Motorblock qualmte auch nicht.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, tönte es ganz plötzlich hinter ihr und ließ sie zusammenzucken. Rike richtete sich gequält auf, um festzustellen, wer sie angesprochen hatte, die Stimme konnte sie nämlich nicht zuordnen. Überrascht stellte sie fest, dass

Jakob neben ihr auf dem Gehweg stand. „Mein Auto springt nicht an und das ist gerade heute ausgesprochen ungünstig, denn ich muss dringend zum Geburtstag meiner Oma“, erklärte sie ihm stirnrunzelnd. „Wirklich blöd und ich nehme mal an, dass heute keine Autowerkstatt mehr offen hat und sich die Sache ansehen kann.“ Rike nickte stumm und knabberte nervös an ihrer Unterlippe. „Ich habe leider überhaupt keinen Autosachverstand“, räumte er zerknirscht ein. „Alles, was ich anbieten kann, sind meine Chauffeursdienste.“ „Was?“ Rike fiel aus allen Wolken. Er wollte sie durch die Gegend fahren, obwohl sie sich quasi noch fremd waren? „Aber das geht doch nicht, Sie haben bestimmt etwas vor!“ „Eigentlich wollte ich nur zum Bäcker und für den restlichen Samstag habe ich absolut keine Pläne.“

„Trotzdem kann ich Ihr Angebot nicht annehmen. Um zu meiner Oma zu kommen, fährt man mindestens anderthalb Stunden. Und das bedeutet, ich würde Ihnen volle drei Stunden klauen, Sie müssen ja wieder zurück.“ Jakob zuckte nur mit den Schultern. „Mir soll's recht sein, wenn es Ihnen weiterhilft.“ Rike überlegte fieberhaft. Sie musste irgendwie aus Ockernried wegkommen, konnte sie Jakobs Angebot wirklich annehmen? „Und es macht Ihnen wirklich nichts aus?“ Er lächelte. „Ich gehe mein Auto sofort holen, das dauert nur ein paar Minuten, ich wohne ja gleich um die Ecke.“ „Also gut, mir fällt im Moment gar keine andere Lösung für mein Problem ein“, gab Rike schließlich nach. Dann sah sie Jakob hinterher, der sich sofort zügigen Schrittes auf den Weg machte.

6

Anfangs fand Rike es ziemlich komisch, in Jakobs Auto zu sitzen. Sie hatte keine Angst oder so, aber es war eben ein merkwürdiges Gefühl, die Chauffeursdienste von jemandem in Anspruch zu nehmen, mit dem man bisher nicht mehr als ein paar Worte gewechselt hatte. „Sind Sie immer so hilfsbereit?“, wollte sie wissen, als sie Ockernried verließen und sich auf den Weg zur Autobahn machten. „Bist du immer so hilfsbereit?“,

antwortete Jakob grinsend. „Wie? Ich verstehe nicht.“ Rike war vollends verwirrt. Warum beantwortete er eine ihrer Fragen mit einer Gegenfrage? „Ich meinte damit nur, dass wir eigentlich zum Du übergehen könnten. Oder ist es dafür noch zu früh?“, half Jakob ihr aus der Bredouille, denn er hatte ihre Irritation sehr wohl mitbekommen. „Oh, ach so. Ja, klar. Duzen wir uns ruhig.“ Rike klang erleichtert. „Also noch mal von vorn. Bist du immer so hilfsbereit?“ „Nicht immer“, gab Jakob zu. „Es kommt natürlich darauf an, worum es geht und ob ich Zeit habe. Außerdem ist auch nicht ganz unerheblich, wem ich meine Hilfe anbiete.“ Rike wurde ein wenig rot. „Das ist es ja gerade, was mich enorm wundert. Wir kennen uns überhaupt nicht. Ich hätte dir vollkommen egal sein sollen.“

„Ich fand dich schon sehr nett, als ich die Briefmarken kaufen wollte. Und du hast so verzweifelt auf dem Bürgersteig gestanden, dass ich gar nicht anders konnte, als dir anzubieten, dich zu diesem Geburtstag zu fahren.“ „Das ist sehr selbstlos. Ich finde dich auch sympathisch, sonst hätte ich dieses großzügige Angebot niemals angenommen.“ „Prima, dann ist doch alles in Ordnung.“ „Wenn ich bei meiner Oma angerufen und gesagt hätte, dass ich nicht kommen würde, weil mein Auto streikt, wäre meine Mutter ausgeflippt.“

Jakob warf einen Blick zu seiner Beifahrerin hinüber und stellte fest, dass diese bei ihren letzten Worten ganz blass geworden war. Offensichtlich kam der Schreck erst jetzt so richtig durch. „Warum wäre es denn ein Drama gewesen, wenn du den Geburtstag

verpasst hättest? Handelt es sich etwa um ein besonderes Jubiläum?“ Rike schüttelte den Kopf. „Nein, aber meine Mutter findet, es müsse immer alles nach ihrer Nase gehen. Und wenn sie der Meinung ist, dass Omas Ehrentag auf gar keinen Fall ohne mich stattfinden kann, ist das eben so. Und außerdem haben sie ja keinen, auf dem sie herumhacken können, wenn ich zu Hause bleibe.“

Jakob runzelte die Stirn. Das hörte sich nicht nach liebevollen Familienverhältnissen an. „Mit 'sie' meinst du sicher deine Mutter und deinen Vater?“, hakte er nach. „Ja. Und natürlich noch meine beiden Schwestern.“ „Aha, sind die beiden älter als du, sodass sie glauben, sie hätten das Recht, dich zu kritisieren?“ Rike seufzte. „Eine ist älter, die andere jünger, aber das spielt eigentlich

keine Rolle. In unserer Familie war ich schon immer diejenige, die nichts richtig machen konnte.“ „Du bist also ein Tollpatsch?“ „Nein, so meinte ich das nicht“, kicherte Rike. „Ich verzapfe nicht mehr Blödsinn als andere Menschen. Das ist ja gerade das Unverständliche. Obwohl ich mich für absolut normal und halbwegs umgänglich halte, denkt meine Familie von mir, ich sei total lebensunfähig.“ „Es wäre vermessen, wenn ich mich jetzt dazu äußern würde. Immerhin weiß ich fast nichts von dir. Allerdings kommt es mir nicht so vor, als hättest du dein Leben nicht im Griff. Du bist immerhin Ladenbesitzerin und wenn du mit dem Geschäft nicht nur rote Zahlen schreibst, dann ist das doch schon mal etwas, worauf du stolz sein kannst.“ Rike freute sich, dass Jakob das so sah. „Mein Geschäft läuft gut. Es ist keine Goldgrube, aber meinen Lebensunterhalt kann ich davon

bestreiten. Und das genügt mir vollkommen. Ich bin nicht sehr ehrgeizig, das missfällt meiner Familie. Und dann kommt noch dazu, dass ich als Einzige nicht studiert habe. Meine ältere Schwester arbeitet als Kinderärztin, meine jüngere und meine Eltern als Anwälte. Nun weißt du, welchen Status ich in der Familie habe.“ „Aber man bemisst den Wert eines Menschen weder danach, welchen Bildungsabschluss er hat, noch, welchen prestigeträchtigen Beruf er ausübt!“ „Meine Eltern und Schwestern sind da anderer Meinung.“

„Das ist natürlich bitter“, fand Jakob. „Ich habe wunderbare Eltern gehabt, die mich in all meinen Plänen unterstützt haben. Für sie zählte nur, ob das, wofür ich mich entscheide, mich glücklich macht. Leider habe ich sie vor einigen Jahren bei einem dummen Unfall verloren.“

„Das tut mir sehr leid“, meinte Rike mitfühlend. „Ich vermisse sie sehr. Und ich wünschte, sie wären noch da. Aber ich weiß wenigstens, wie es ist, bedingungslos geliebt zu werden. Du dagegen hast ein ganz schönes Päckchen zu tragen, wenn du dich ständig mit der Kritik deiner Eltern auseinandersetzen musst.“ „Wie oft habe ich schon überlegt, den Kontakt zu ihnen ganz abzubrechen. Dann hätte ich endlich Ruhe. Keine Vorwürfe mehr, keine schlauen Ratschläge. Jeder Anruf deprimiert mich, ebenso diese Familientreffen, die zum Glück nur äußerst selten stattfinden.“ „Dennoch hast du es nicht getan.“ „Nein“, stöhnte Rike. „Ich muss doch irgendwie masochistisch veranlagt sein. Aber ich habe nun einmal das Gefühl, dass man seine Familie eben ertragen muss, wie schlimm sie auch ist. Das hält mich davon ab, das Band

endgültig durchzuschneiden.“ „Es wäre sicherlich ein gewaltiger Schritt, dich vollkommen von deinen Eltern und deinen Schwestern zu lösen. Man sagt ja immer, Blut ist dicker als Wasser.“ „Besser ein schlechtes Verhältnis zur Familie als gar keins“, stöhnte Rike gequält. „Ich find's nur schade, dass du dich dann ja sicherlich gar nicht auf den Geburtstag deiner Oma freust.“ „Meine Freude hält sich wirklich in Grenzen, ich versuche nur, den Tag irgendwie zu überstehen.“ Jakob sah zu Rike hinüber. Mittlerweile hatte sie wenigstens wieder ein bisschen Farbe bekommen. „Du schaffst das schon, du hast doch Übung im Umgang mit deiner Familie, denke ich.“ „Wenn du damit meinst, dass ich mir ein dickes Fell zugelegt habe, muss ich dich leider enttäuschen. Aber manchmal

gelingt es mir inzwischen wenigstens, ein paar ironische Bemerkungen zu ignorieren und einfach abzuschütteln.“ Das Gespräch kam Rike gar nicht seltsam vor, obwohl es für sie eigentlich ungewöhnlich war, dass sie einem quasi Fremden ihr Herz öffnete. Aber irgendetwas hatte Jakob an sich, was ihr Vertrauen einflößte.

„Erzähl mal ein wenig mehr über dich“, bat sie ihn. „Ich weiß noch gar nichts von dir.“ „Ich habe mein ganzes bisheriges Leben in Schwerin verbracht“, bemerkte er. „Seit dem Tod meiner Eltern habe ich allerdings darüber nachgedacht, mich komplett zu verändern. Ich habe zwar schon öfter das Gefühl gehabt, dass das Leben in der Großstadt gar nicht meinem Wesen entspricht, aber wenn man nichts anderes kennt, muss man eine gewisse Hemmschwelle überwinden, bevor man wegzieht.“

„Ockernried ist nicht der Nabel der Welt, aber man kann es dort aushalten“, lachte Rike. „Ich wollte einfach mal eine beschauliche Wohnumgebung ausprobieren und ich hoffe sehr, dass ich mich nicht vertan habe und nach ein paar Wochen feststellen muss, dass ich es auf dem Land gar nicht aushalte. Das haben mir meine Freunde nämlich prophezeit.“ „Es ist sicher eine Umstellung, aber ich kann mir gut vorstellen, dass du dich schnell eingewöhnst.“ „Bis jetzt fühle ich mich ausgesprochen wohl“, stimmte Jakob ihr zu. „Und wenn mir die Arbeit in Karstow gefällt, dann wüsste ich momentan keinen Grund, warum ich wieder wegziehen sollte.“ „Was machst du denn beruflich?“, fragte Rike neugierig. „Ich arbeite im Museum. Studiert habe ich Archäologie.“

Rike riss die Augen weit auf. „Was? Archäologie? Das ist ja klasse.“ „Warum?“, grinste er. „Interessierst du dich für Artefakte?“ „Ich mag Museen, habe aber keine große Ahnung von Geschichte und historischen Schätzen“, gab Rike zu. „Müsste denn ein Archäologe nicht eher an einer Ausgrabung teilnehmen?“ „Das ist ein weit verbreitetes Vorurteil“, erklärte er ihr. „Natürlich gibt es welche, die das machen. Aber man ist dann sehr stark von Sponsoren und Finanziers abhängig. Ein finanziell abgesichertes Leben ist so kaum möglich. Man muss schon sehr idealistisch sein, wenn man sein Leben auf Ausgrabungen verbringen will. Und eine Familie kann man auf dieser Basis nicht gründen, worauf ich aber keinesfalls verzichten möchte. Ich wollte diesen Weg daher nie gehen. Und irgendjemand muss ja die Fundstücke katalogisieren und ausstellen. Das ist

ebenfalls eine spannende und lohnenswerte Aufgabe.“ „Du klingst zumindest so, als ob dich deine Arbeit begeistert.“ „Das tut sie wirklich.“

7

Als die beiden am Restaurant ankamen, in dem die Geburtstagsfeier der Großmutter stattfinden würde, hatte Rike schon eine ganze Menge über Jakob erfahren. Sie wusste jetzt zum Beispiel, dass er einen großen Bruder hatte, der nach Kanada ausgewandert war. Jakob hatte ihn seit drei Jahren nicht gesehen, aber ein sehr herzliches Verhältnis zu ihm. Sie skypten regelmäßig, vor allem auch deshalb, weil Jakob die Entwicklung seines kleinen Neffen mitverfolgen

wollte. Außerdem hatte Rike erfahren, dass Jakob sehr gerne las, vor allem historische Romane, was auf der Hand lag, aber auch mit Fantasyromanen konnte er etwas anfangen. Überrascht war Rike von seiner Aussage gewesen, er spiele Gitarre, denn sie hätte nicht vermutet, dass er das Spielen eines Instruments beherrschte. Hätte sie raten sollen, wäre sie auch nie auf die E-Gitarre gekommen, sondern hätte eher gedacht, er würde auf einer akustischen Gitarre herumklimpern. Aber Jakob hatte in Schwerin sogar in zwei verschiedenen Bands gespielt und am Wochenende öfter eine Mucke gehabt. Er hatte vor, sich in Karstow und Umgebung umzuhören, ob eine Band noch einen Gitarristen suchte, denn dieses Hobby wollte er ungern aufgeben. Und Rike wollte ihn spielen hören, sobald sich die Möglichkeit bot, doch

nun musste sie sich leider erst einmal von ihm verabschieden, denn ihre Oma wartete sicher schon.

Als sie aus dem Auto stieg, kam sofort ihre Mutter auf sie zugeschossen. „Warum bist du so spät?“, schmetterte sie ihr gleich ohne ein weiteres Wort der Begrüßung entgegen. „Mein Auto wollte nicht anspringen. Zum Glück habe ich jemanden gefunden, der mich fahren konnte.“ Rike deutete auf Jakob. „Willst du ihn mir nicht vorstellen?“, fragte ihre Mutter konsterniert. Einen winzigen Augenblick überlegte Rike, ob sie ihrer Mutter nicht einfach sagen sollte, dass es sie wohl nichts anginge, wer sich ihr als Chauffeur zur Verfügung gestellt hatte. Doch dann resignierte sie, denn sie wollte nicht gleich in den ersten Minuten einen Streit vom Zaun brechen. Sie riss also die Autotür noch einmal auf und bat Jakob,

kurz auszusteigen. Er zog überrascht die Augenbrauen hoch, war dann jedoch einverstanden. „Ich parke aber schnell das Auto.“

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Freund hast. Du hättest mir längst davon berichten sollen.“ Ihre Mutter hatte einen beleidigten Ton angeschlagen und auch ihre Miene sprach Bände. „Jakob ist nicht mein Freund, nur ein Bekannter“, widersprach Rike ihr. „Irgendein unbedeutender Bekannter würde es ganz bestimmt nicht auf sich nehmen, dich von Ockernried bis hierher zu fahren.“ Rike antwortete nicht, denn ihre Mutter glaubte sowieso, was sie wollte. Es war unmöglich, sie von etwas anderem überzeugen zu wollen.

Wenig später saß Rike zu ihrer Überraschung neben Jakob an der Kaffeetafel. Ihre Mutter hatte es allen

Ernstes geschafft, ihn zur Feier einzuladen. Zuerst hatte sich Rike für ihre übergriffige Mutter geschämt, doch als sie merkte, dass Jakob sich durchaus vorstellen konnte, an der Feier ihrer Großmutter teilzunehmen, hatte sie sich gefreut. Zum einen war es beinahe so, als hätte sie einen Verbündeten an ihrer Seite, der ihr helfen würde, mit den fiesen Bemerkungen und gemeinen Anspielungen ihrer Familienmitglieder fertig zu werden. Zum anderen war ihr klargeworden, dass Jakobs Bleiben ihr die Möglichkeit eröffnete, sich frühzeitig von der Party entfernen zu können, denn wenn er nach Hause führe, konnte er sie mit zurück nach Ockernried nehmen. Sie käme also um eine Übernachtung bei ihren Eltern auf jeden Fall herum.

„Und Sie wohnen erst seit ein paar

Tagen in Ockernried?“, fragte Susann, Rikes ältere Schwester, Jakob, während sie die Geburtstagstorte kosteten. „Seit dem letzten Wochenende.“ „Dann muss sich meine Schwester ja unglaublich schnell in Sie verliebt haben, das sieht ihr gar nicht ähnlich.“ „Du irrst dich, Susann“, mischte sich Rike ins Gespräch ein. „Wir sind kein Paar. Jakob hat mir heute nur einen Gefallen getan, indem er mich hergefahren hat.“ Ihre Schwester zog die Augenbrauen hoch und deutete damit an, dass sie Rike kein Wort glaubte. „Aber Ihnen liegt doch sicher viel an meiner Schwester, sonst hätten Sie sich nicht die Mühe gemacht, sie zur Geburtstagsfeier zu bringen.“ Susann gab nicht so schnell auf, sie würde schon herausbekommen, was da zwischen ihrer Schwester und diesem Jakob Berner lief. „Sie ist mir sehr sympathisch und sie brauchte heute meine Hilfe. Da ich nicht

anderweitig beschäftigt war, konnte ich mich als ihr Chauffeur zur Verfügung stellen“, lächelte Jakob. „Und mehr steckt wirklich nicht dahinter.“ „Jakob hat es ganz sicher nicht verdient, dass er von euch allen ausgefragt wird“, forderte Rike. „Er wollte eigentlich gar nicht hier sitzen. Aber Mutter hat so auf ihn eingeredet, dass ihm gar keine andere Wahl blieb, als ihr ins Restaurant zu folgen.“ Susann zog einen Flunsch. „Man wird doch noch ein bisschen Smalltalk machen dürfen.“ „Da haben Sie vollkommen recht. Erzählen Sie mir ein bisschen was über sich“, bat Jakob. „Mit Rike konnte ich noch gar nicht groß über ihre Familie sprechen.“

Die Gelegenheit, sich selbst in einem besonders rosigen Licht darzustellen, ergriff Susann nur zu gern. Rike fragte sich, ob Jakob wirklich an

dem interessiert war, was ihre Schwester ihm erzählte, oder ob er nur so tat. Im Augenblick war sie jedenfalls ganz froh, dass niemand sie selbst in ein Gespräch verwickeln wollte.

Nach dem Abendessen war Rike dann emotional schon reichlich erschöpft. Es hatte nicht lange gedauert, bis sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater sie darauf hingewiesen hatten, dass das Leben, das sie in Ockernried führte, nicht akzeptabel sei. Die altbekannte Litanei mündete in der Feststellung, dass sie sich nun endlich einen Partner suchen sollte, den sie heiraten konnte. Selbstverständlich müsse es ein Akademiker sein, denn nur ein Mann mit Niveau würde es zu etwas bringen und eine vernünftige Karriere hinlegen. Die Nörgeleien ließen sich nur schwer ertragen, weil ihre jüngere Schwester prompt meinte, sie müsse

ebenfalls einige Spitzen auf Rike abfeuern. Zum Glück war Rike Isabell wenig später losgeworden, ihre jüngere Schwester war nämlich derzeit mit einem Mann namens Simon liiert, von dem sie schwanger geworden war. Und der scharwenzelte ständig überbesorgt um sie herum und sorgte dafür, dass sie sich setzte und dergleichen mehr. Heute jedoch war Rike ihm sehr dankbar gewesen, als er Isabell bedrängte, doch endlich wieder am Tisch Platz zu nehmen und nicht ewig mit den Eltern und ihrer Schwester auf der Terrasse zu stehen und sich an längeren Gesprächen zu beteiligen.

Rike kam allerdings, obwohl sie sich von ihren Eltern nach einer angemessenen Zeit der Unterhaltung irgendwann hatte entfernen können, vom Regen in die Traufe, denn nun bedrängte ihre Großmutter Heidrun sie,

ihr Leben in Ockernried aufzugeben und zu ihnen nach Berlin zu ziehen. Allmählich konnte Rike diese Forderung nicht mehr hören. Jakob konnte ihr nicht zu Hilfe kommen, den hatte ihre Schwester Susann schon wieder in Beschlag genommen, also gab es nur eine Lösung, sie musste sich dem Alkohol hingeben. Nach zwei Gläsern Wein würde die Welt bestimmt anders aussehen.

Es hatte eine Weile gedauert, bis der Wein seine beruhigende Wirkung entfaltet hatte, aber irgendwann hatte das nagende Gefühl in Rikes Magen ein wenig nachgelassen. Sie würde ihrer Familie nie gut genug sein, was immer sie tat, sagte sie sich. Selbst wenn sie nach Berlin zöge, würde sich für sie rein gar nichts ändern. Ihre Eltern und Schwestern fänden andere Dinge, die sie dann an ihr kritisieren konnten. Vermutlich müsste

Rike sie nur häufiger ertragen. Und sie wollte sich nicht noch öfter damit auseinandersetzen müssen, dass sie eine große fette Null war. Sie hatte oft genug Frust deswegen. Wenn Rike es recht bedachte, konnte ein weiteres Glas Wein eigentlich nicht schaden. Der Alkohol betäubte ihr Innerstes und sie fühlte sich nicht mehr ganz so mies. Also was sollte es? Sie war schließlich auf einer Geburtstagsfeier und konnte trinken, so viel sie wollte.

8

Inzwischen fühlte Rike sich ziemlich beschwipst. Sie hielt es für eine gute Idee, für eine Weile nach draußen auf die Terrasse des Restaurants zu gehen, um durch die frische Luft wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht hatte ihr Gang nach draußen außerdem zur Folge, dass sie für eine Weile mit niemandem würde reden müssen. Wenn sie Glück hätte, wäre sie allein. Von verletzenden Bemerkungen hatte sie nämlich vorerst die Nase voll. Ein Blick zu Jakob hatte ihr gesagt,

dass er sich noch immer in einem intensiven Gespräch mit ihrer älteren Schwester befand. Das gefiel ihr irgendwie gar nicht, obwohl sie wohl kaum einen Anspruch darauf anmelden konnte, dass er sich um sie und nicht um Susann kümmerte. Und die beiden flirteten ja auch nicht gerade miteinander, so viel war ihr natürlich klar. Dennoch fand Rike es sehr merkwürdig, dass Jakob sich offenbar nicht von ihrer Schwester losreißen konnte.

Als sie auf der Terrasse angekommen war, ging sie bis zum Geländer hinüber und sog die laue Nachtluft gierig in sich auf. Dieser Abend war ein Vorbote auf lange, wunderbar warme Sommernächte. Rike liebte diese Jahreszeit. Sie war gern draußen, wenn die Temperaturen über die 20 Grad-Marke kletterten. Und sobald es abends nicht dunkel werden wollte, konnte man endlos lange die

Tage genießen. Rike war froh, dass sie den Geburtstag ihrer Oma nun fast überstanden hatte. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis die ersten Gäste aufbrechen würden, dann ergriffe auch sie die Gelegenheit beim Schopf und bäte Jakob um den Aufbruch. Obwohl er sich im Kreis der Geburtstagsgäste nicht vollkommen unwohl zu fühlen schien, was gut so war, sonst hätte Rike ein sehr schlechtes Gewissen gehabt, wäre er bestimmt froh darüber, sich verabschieden zu können. Rike sah in den Himmel hinauf und fragte sich, ob sie wohl eine Sternschnuppe entdecken könnte. Was sie sich dann wünschen würde? Hätte es etwas mit ihrer Familie zu tun? Sie horchte in sich hinein und wusste die Antwort sofort. Dann erstarrte sie, als sie feststellte, dass jemand hinter sie getreten war. Wer mochte das sein?

„Genießt du den Abend lieber hier draußen, obwohl doch drinnen die Party stattfindet?“, fragte Jakob sie sanft. Rike war unendlich erleichtert, dass sich keines ihrer Familienmitglieder auf die Terrasse verirrt hatte. „Ach, du bist es.“ „Enttäuscht?“ „Auf gar keinen Fall.“ Sie schüttelte heftig den Kopf, musste aber feststellen, dass das keine gute Idee gewesen war, denn ihr wurde sofort schwindlig. Sie hatte eindeutig schon zu viel getrunken. „Dann bin ich ja beruhigt.“ „Hast du dich denn gut mit meiner Schwester unterhalten?“ „Ja, mehr oder weniger“, gab er zu. „Sie ist eine recht kluge Frau, das kann man nicht leugnen.“ „Und sie wird nicht müde, einem dies mit jedem Wort, das sie sagt, zu demonstrieren“, meinte Rike bitter. „Mag sein, aber immerhin hält sie dich ebenfalls für sehr intelligent.“

Rike schnaubte. „Blödsinn.“ „Wirklich, sie ist eben nur der Meinung, dass du dein Potential nicht nutzt.“ „Na bitte“, winkte Rike ab. „Da haben wir es doch wieder.“ „Ich glaube trotzdem, dass sie dir eigentlich nichts Böses will.“ „Sie hat dich um den Finger gewickelt. Das kann sie gut. Die meisten Leute fallen auf ihr falsches Getue herein.“ „Meinst du wirklich, ich habe so wenig Menschenkenntnis?“ Rike zuckte mit den Schultern und seufzte. „Ich habe keine Ahnung. Woher sollte ich das wissen, ich kenne dich kaum.“ „Dann wäre es eigentlich an der Zeit, dass wir uns noch etwas besser kennen lernen. Was meinst du? Sollen wir einen kleinen Spaziergang durch den Garten machen?“ Rike sah ihn skeptisch an. „Werden

die uns da drin denn nicht vermissen?“ „So lange bleiben wir sicher gar nicht weg. Allerhöchstens eine Viertelstunde“, beruhigte er sie. „Also gut, meinetwegen.“

Von der Terrasse führten ein paar Stufen hinunter in den Garten. Rike fühlte sich zwar ein wenig wackelig auf den Beinen, aber es gelang ihr, den Weg zu erreichen, ohne ins Straucheln zu kommen. Sie liefen zunächst einmal bis zu dem Brunnen, der sich zentral in der Mitte des Gartens befand, und Rike konnte nicht umhin, die wunderschönen Rosenbüschen, die den Weg links und rechts säumten, zu bewundern.

„Ich habe mich nur deshalb so lange mit deiner Schwester unterhalten, weil ich vermutet habe, dass alle noch stärker annehmen würden, wir seien ein Paar, wenn ich dir nicht von der Seite weiche“,

erklärte Jakob Rike, denn er hatte das Gefühl, dass es dieser gar nicht recht war, dass er so viel Zeit mit Susann verbracht hatte. „Schon gut, du musst dich nicht dafür entschuldigen.“ Jakob war sich nicht sicher, ob Rike ihm deshalb tatsächlich keine Vorwürfe machte oder ob sie das nur sagte, weil sie meinte, er erwartete es. Er hätte zu gern mal in ihr hübsches Köpfchen geschaut, um zu wissen, was in ihr vorging.

„Deine Eltern haben dich vorhin ganz schön in die Mangel genommen, nicht wahr?“, fragte er mitfühlend, denn er spürte, dass Rike ganz und gar nicht glücklich war. „Woher weißt du das?“ „Ich habe deinen gequälten Blick gesehen, als du dich nach deinem Gespräch mit ihnen wieder auf deinen Platz gesetzt hast.“ Insgeheim freute sich Rike, dass

Jakob sie also doch beobachtet oder zumindest im Auge behalten hatte. „Sie haben nichts Schlimmes gesagt. Oder es war zumindest nichts Schlimmeres als sonst. Nur das Übliche, woran ich gewöhnt bin.“ Rike winkte ab. „Trotzdem hat es dich nicht kaltgelassen.“ „Sie akzeptieren das Leben, das ich führe, nicht. Und damit lehnen sie mich als Person ab. Wie soll ich jemals damit klarkommen?“

Jakob nahm daraufhin vorsichtig Rikes Hand in seine und drückte sie leicht. „Es wird bestimmt leichter für dich werden, wenn du deine eigene Familie um dich hast.“ Rike lächelte. Es fühlte sich so vollkommen natürlich an, dass Jakob sie berührte. Und er verstand sich ganz wunderbar darauf, sie zu trösten. Wie es sich anfühlen würde, wenn er sie küsste? Blitzschnell verscheuchte sie diesen

Gedanken. Wie war sie bloß darauf gekommen? Es musste am Alkohol und der romantischen Stimmung hier im Garten liegen, dass sie so eine dumme Idee gehabt hatte.

„Ich hoffe es“, erwiderte sie schließlich. „Komm, wir gehen noch ein Stück“, meinte Jakob und führte sie sanft mit sich, selbstverständlich, ohne ihre Hand loszulassen. „Ich würde am liebsten sofort nach Ockernried aufbrechen“, seufzte Rike. „Aber das ist leider nicht möglich, ohne mir den Zorn meiner Eltern und meiner Oma zuzuziehen. Ich als engeres Familienmitglied kann ja schließlich nicht der erste Gast sein, der sich verabschiedet.“ „Wir müssen anscheinend bis Mitternacht aushalten, denn da findet der große Höhepunkt statt, wenn die Eisbombe serviert wird.“

Überrascht sah Rike Jakob an. „Du bist ja bestens informiert.“ Er lachte. „Deine Schwester hat mich mit allen Einzelheiten vertraut gemacht.“ „Also gut, dann noch bis zum Eisessen warten und wir können das Weite suchen.“ „So lange ist es bis dahin ja gar nicht mehr.“ „Lieb, dass du versuchst, mich aufzumuntern.“ „Wozu hat man schließlich Freunde?“ Spielerisch drückte er ihre Hand. Rike ließ es geschehen und registrierte, das ein Prickeln von ihrer Hand aus langsam auf ihrer Haut nach oben kroch und sich von ihrer Brust aus auf ihrem gesamten Körper ausbreitete. Wenn Jakob sie noch länger berührte, würde sie in kürzester Zeit in Flammen stehen!

Doch sie erreichten gerade wieder die Terrasse des Restaurants und als sie

Stufen hinaufstiegen, ließ Jakob sie los, was Rike einerseits bedauerte, andererseits aber auch erleichterte. „Ich glaube, ich brauche jetzt einen anständigen Drink“, krächzte Rike ein wenig benommen, als sie wieder auf der Terrasse standen. „Einen Cocktail?“ „Sehr gern.“ „Dann los, du lässt dir vom Barkeeper etwas Anständiges mixen und ich vergnüge mich mit einem alkoholfreien Bier.“

9

Am nächsten Tag erwachte Rike mit einem dröhnenden Kopf. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es bereits mittags war. Wie um alles in der Welt war sie bloß ins Bett gekommen? Sie setzte sich vorsichtig auf und stöhnte. Ihr Kopf brachte sie um. Und auch ihr Magen fing mit einem Mal an, ein Eigenleben entwickeln zu wollen. Gott, war ihr übel. Ihr letzter richtig ausgewachsener Kater war schon ziemlich lange her, denn in der Regel wusste Rike, wie viel

sie trinken konnte, ohne am nächsten Morgen mit größeren Folgen kämpfen zu müssen. Gestern hatte sie jedoch alle Vorsicht sausen lassen und nun den Salat. Mühsam durchforschte sie ihr Gehirn, was nicht richtig zu funktionieren schien.

Allmählich kamen einige Erinnerungsfetzen zurück. Ja, da war der Spaziergang mit Jakob gewesen und anschließend hatten sie sich an der Bar eingefunden. Danach - nichts mehr. Ein schwarzes Loch. Sie musste bei den Cocktails ordentlich zugeschlagen haben, wenn sie sich absolut nicht mehr daran erinnern konnte, was geschehen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ja bereits eine ganze Menge Wein in sich hineingeschüttet gehabt, um ihre schrecklichen Verwandten vergessen zu können. Eigentlich hätte sie sich danach unbedingt an Wasser und ein paar

Snacks halten sollen, um wieder halbwegs nüchtern zu werden. Stattdessen hatte sie sich offenbar regelrecht die Kante gegeben, mit dem Ergebnis, dass sie einen ausgewachsenen Filmriss hatte. Und Jakob hatte sie nicht davon abgehalten. Das störte sie ein wenig. Wenn er wirklich ein Freund sein wollte, hätte er sie davon abbringen sollen, so viele alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Er wusste doch sicher genau, dass es niemals eine Lösung war, sich zu betrinken, welches Problem man auch immer hatte. Aber sie musste ihm zugutehalten, dass er sie schließlich nach Hause gefahren hatte. Wie sonst wäre sie in ihren eigenen vier Wänden und in ihrem Bett gelandet?

Stirnrunzelnd stellte Rike fest, dass er ihr sogar ein Glas Wasser auf den Nachttisch und einen Eimer vor das Bett

gestellt hatte. Sie hatte ja gestern schon gemerkt, dass er zu den Männern gehörte, die sehr fürsorglich sein konnten. Trotzdem war es ihr irgendwie peinlich, dass er sich mit ihr in ihrem hilflosen Zustand abgegeben haben musste. Irgendwie hatte er sie aus ihrem Kleid geschält und ihr die Feinstrumpfhose ausgezogen. Zum Glück hatte er es dabei belassen und sie nicht auch noch von ihrem BH befreit. Trotzdem wurde Rike rot, wenn sie daran dachte, dass Jakob sie in diesem unbekleideten Zustand gesehen hatte, obwohl sie sich kaum kannten. Man zeigte einem Mann nicht unbedingt seinen schwabbeligen Bauch, bevor man einige Dates mit ihm gehabt hatte. Aber nun war es für Vorwürfe zu spät und sie konnte ihm wohl kaum vorwerfen, dass er es ihr für die Nacht ein wenig bequemer hatte machen wollen. Sie in dem Kleid schlafen zu

lassen, wäre ja auch keine besonders gute Idee gewesen. Rike quälte sich mühsam aus dem Bett und wurde sofort von einer Übelkeitsattacke heimgesucht. Lieber Himmel, wie sollte sie den heutigen Tag bloß überstehen?

Eine halbe Stunde später schlurfte sie mit müden Schritten in die Küche. Sie hatte unendlich lange gebraucht, um zu duschen und sich die Zähne zu putzen. Mehrmals war sie kurz davor gewesen, sich zu übergeben, aber im letzten Moment hatte sie zum Glück jedes Mal wieder die Kontrolle über ihren Körper zurückerlangt. Mindestens zehnmal hatte sie sich inzwischen geschworen, nie wieder auch nur irgendein Getränk zu konsumieren, das einen derartigen Zustand wie den ihren überhaupt hervorrufen konnte. Allerdings musste sie zugeben, dass sie insgeheim genau wusste, dass diese

Vorsätze nicht lange anhalten würden. Sobald der Kater vergessen wäre, konnte sie zu einem gut gekühlten Glas Weißwein sicher nicht nein sagen.

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, den Jakob offenbar für sie hier abgelegt hatte. Rike griff neugierig danach, denn sie war gespannt darauf, was er ihr hatte sagen wollen, bevor er gegangen war. „Ich danke dir für den sehr interessanten Tag. Du wirst sicher mit einem gewaltigen Kater aufwachen, aber der geht vorüber. Gruß Jakob.“ Rike runzelte schon wieder die Stirn. Das war alles? Und was sollte das überhaupt heißen, es sei ein „interessanter Tag“ für ihn gewesen? Er schrieb auch nichts davon, dass er sie wiedersehen wollte. Und eine Telefonnummer hatte er ebenfalls nicht hinterlassen. Wahrscheinlich wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben, wie sonst sollte sie die wenigen

nichtssagenden Worte verstehen? Vermutlich hatte er schon nach den wenigen Stunden, die er gestern nicht nur sie, sondern auch ihre Familie hatte aushalten müssen, die Nase voll von ihr. Und konnte sie ihm das verdenken? Ganz sicher nicht, denn sie war so deprimiert und frustriert gewesen, dass sie mit Sicherheit keine besonders angenehme Gesellschaft für ihn dargestellt hatte. Dass sie ihren Kummer dermaßen in Alkohol betäubt hatte, warf auch nicht gerade ein positives Licht auf sie. Insofern würde Jakob sie dann also in Zukunft eher meiden, wenn er konnte, und ihr aus dem Weg gehen. Bei diesem Gedanken spürte Rike tief in sich drin eine unerwartete Trauer. Eigentlich war das merkwürdig, denn sie konnte doch schwerlich bereits Gefühle für einen Mann entwickelt haben, den sie kaum kannte?

Am frühen Nachmittag fühlte sich Rike dann schon etwas besser und zählte sich wieder zum Kreise der Lebenden. Sie hatte Unmengen stilles Wasser in sich hineingeschüttet und eine Scheibe trockenes Toastbrot geknabbert. Außerdem hatte sie kurz mit Maria telefoniert und sie um Rat gebeten, wie sie auf Jakob reagieren sollte, wenn sie ihm urplötzlich auf der Straße begegnete oder er ihren Laden aufsuchte. Und das würde zwangsläufig geschehen, denn in Ockernried war es unmöglich, sich längere Zeit nicht zu treffen, es sei denn, man verließe die eigenen vier Wände nicht. Sie war natürlich nicht drum herum gekommen, ihrer Freundin die ganze Geschichte des gestrigen Tages zu erzählen. Zum einen war Maria sehr froh gewesen, dass Rike wohlbehalten wieder in Ockernried angekommen war, ohne dass es irgendwelche schlimmen Szenen

mit ihren Eltern oder Schwestern auf dem Geburtstag der Oma gegeben hatte. Zum anderen war sie sehr erfreut darüber, dass es einen Mann in Ockernried gab, der sich als wahrer Kavalier erwiesen hatte und sich für Rike zu interessieren schien. Maria hatte Rike geraten, Jakobs Zeilen nicht zu ernst zu nehmen oder zu versuchen, dort etwas hineinzuinterpretieren, was gar nicht in ihnen stand. Rike sollte ganz normal und natürlich mit ihm reden, wenn sie wieder auf ihn traf und dann einfach abwarten, was passieren würde. Es ließe sich bestimmt schnell herausfinden, ob er ihre Nähe weiterhin suchte oder sich künftig eher von ihr fernhalten wollte. Rike fand, dass Marias Ratschlag vernünftig gewesen war, und beschloss, sich daran zu halten. Allerdings fürchtete sie sich vor dem Wiedersehen ein wenig, denn es würde für sie bestimmt

unangenehm werden.

Als mitten in ihre Überlegungen hinein die Türklingel schellte, ging ihr Puls sofort hoch. Das konnte doch nicht Jakob sein? Sie war wirklich nicht in der Lage, ihm jetzt schon unter die Augen zu treten, dafür fühlte sie sich immer noch viel zu angeschlagen. Zum Glück stand dann jedoch nicht Jakob, sondern Felix vor ihrer Wohnungstür. Der grinste breit und flüsterte nur verschwörerisch „Überfall“. „Das kannst du laut sagen“, seufzte Rike erleichtert. „Komm rein.“ Ihr bester Kumpel ließ sich das nicht zweimal sagen, erklärte ihr jedoch bereits im Flur, dass er eigentlich eine Radtour mit ihr unternehmen wollte. Rike schüttelte nur müde den Kopf. „Tut mir leid, die ist heute absolut nicht drin.“ Rasch klärte sie Felix über ihren Zustand auf und bot ihm als Ersatz für die Radtour einen Kaffee an.

Der war damit einverstanden, einfach nur ein bisschen zu klönen. Schließlich hatte er Verständnis dafür, wie seine beste Freundin sich fühlen musste. Er selbst verkroch sich, wenn er verkatert war, am liebsten in seinem Bett und ließ alle Fünfe gerade sein. Allerdings forderte er von Rike eine ausführliche Darstellung der Geburtstagsgeschehnisse, welche sie ihm lächelnd versprach. Sie war schon gespannt darauf, welche Kommentare Felix zu Jakobs Verhalten abgeben würde. Die Sicht eines Mannes darauf war ja doch ganz anders als die einer Frau.

10

Am Montagmorgen ging es Rike wesentlich besser. Sie war sehr froh, dass sie den mordsmäßigen Kater überstanden hatte. Und zum Glück drohte in naher Zukunft auch nicht gleich wieder eine Familienfeier, an der sie teilnehmen musste. Ihre gute Laune sank allerdings in den Keller, als bereits kurz nach der Beendigung ihres Frühstücks das Telefon klingelte. Rike hatte schon mit einem mulmigen Gefühl abgehoben, denn instinktiv spürte sie, dass dieser

Anruf nichts Gutes bedeuten konnte.

„Guten Morgen, Friederike“, dröhnte es aus der Leitung. Rike hörte bereits am Ton ihrer Mutter, dass diese aufgebracht war. „Guten Morgen“, grüßte sie daher nur halbherzig zurück, wusste sie doch, dass sie vermutlich gleich eine Schimpfkanonade erwartete. „Wie du dich auf der Geburtstagsfeier deiner Großmutter benommen hast, ist einfach unglaublich. Wie kann man so respektlos sein und sich dermaßen betrinken? Haben wir es denn gar nicht geschafft, dir ein wenig Anstand beizubringen? Du bist zum Gespött der Gäste geworden, aber das hast du wahrscheinlich gar nicht mehr mitbekommen, so betrunken wie du warst.“ „Tut mir leid, Mutter, ehrlich gesagt kann ich mich an nichts mehr erinnern.“ „Das meinte ich ja gerade“, ereiferte

diese sich weiter. „Du bist schließlich keine achtzehn mehr. Wenn man in dem Alter die Wirkung des Alkohols unbedingt austesten muss, meinetwegen, aber dir muss klar gewesen sein, dass du spätestens nach dem dritten Glas Wein keine vernünftigen, zusammenhängenden Sätze mehr herausbekommst.“ Rike verdrehte die Augen. „War denn jemand beleidigt, weil ich mich nicht mehr mit ihm unterhalten konnte?“ „Das ist vollkommen unerheblich. Du hast dich auf der Feier danebenbenommen und dich respektlos gegenüber deiner Oma verhalten. Ich kann wohl wenigstens von dir erwarten, dass du dich bei ihr entschuldigen wirst.“ „Ich rufe sie an, Mutter, versprochen. Und ja, ich hätte nicht so viel trinken sollen, das gebe ich gern zu.“ Ihre Mutter schnaubte durchs Telefon. „Wem nützt diese Erkenntnis jetzt noch etwas, wenn das Kind längst

in den Brunnen gefallen ist. Aber eines muss ich dir sagen, einen Mann wirst du nie finden, wenn du ein derartiges Verhalten an den Tag legst. Dieser Jakob Berner mag vielleicht nicht das Niveau haben, das wir uns für einen Mann wünschen, der dich heiratet, aber selbst er schien mehr als angewidert zu sein, als du vollkommen betrunken in der Gegend herumgetorkelt bist.“ Rike war bei den letzten Sätzen eiskalt geworden. „Ja, Mutter, ich habe dich verstanden, ich kann jetzt allerdings nicht mehr länger mit dir reden, weil ich dringend zur Arbeit muss. Du meldest dich sicher nächste Woche wieder.“ „Vergiss den Anruf bei deiner Großmutter nicht“, verlangte diese noch, bevor sie dann, ohne sich zu verabschieden, auflegte. Rike zog einen Flunsch und war dankbar dafür, dass ihre Mutter den nicht sehen konnte. Es hätte ihr eigentlich klar sein müssen, dass ihr

Besäufnis bei ihrer Verwandtschaft nicht gut ankommen würde. Und genauso hätte sie wissen müssen, dass ihre Mutter mit ihr deshalb ein Hühnchen rupfen würde. Um den Anruf bei ihrer Großmutter würde sie sich nicht drücken können. Wahrscheinlich musste sie sich bei diesem Telefonat auch einiges anhören. Aber das konnte sie heute Abend immer noch erledigen. Jetzt musste sie erstmal das Gespräch mit ihrer Mutter verdauen.

Rike hatte gehofft, dass ihre Laune sich wieder besserte, wenn sie erst im Laden stand und arbeitete. Leider hatte sich dieser Wunsch nicht erfüllt. Das hing damit zusammen, dass sie gegen halb elf feststellen musste, dass mit einer Bestellung etwas furchtbar schiefgegangen war. Die war nämlich leider verlorengegangen, was bei Rike, wenn sie genauer darüber nachdachte, nur ein müdes Kopfschütteln auslöste.

Wie konnte so etwas passieren? Aber sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, die Bestellung, die sie nun noch ein zweites Mal ausgelöst hatte, würde erst Ende der Woche eintreffen. Felix hätte darüber gelacht, der nahm solche Dinge immer leicht. Es passierten nun einmal andauernd solche Sachen, wozu sich also über irgendetwas aufregen, war seine Devise. Er hatte es auch nicht sonderlich schlimm gefunden, dass Rike so viel getrunken hatte, dass sie am anderen Morgen gar nicht mehr gewusst hatte, was passiert war. Er selbst hätte sich bei solchen Verwandten, wie Rike sie hatte, vermutlich ebenfalls volllaufen lassen. Was blieb einem auf einer Familienfeier, auf der man ihnen nicht aus dem Weg gehen konnte, denn schon anderes übrig? Felix hatte es gestern hervorragend

geschafft, ihre Bedenken, die sie wegen Jakob gehabt hatte, zu zerstreuen. Er glaubte nämlich nicht, dass der jetzt keine allzu gute Meinung mehr von Rike hatte, nur weil sie betrunken gewesen war. Und wenn er nach diesem Erlebnis nicht mehr viel von ihr hielte, sei er es ohnehin nicht wert, dass man mit ihm befreundet war, lautete Felix' Urteil hierzu. Und das war Rike eigentlich ganz plausibel erschienen und hatte sie tüchtig beruhigt, denn seltsamerweise wollte sie nicht, dass Jakob schlecht von ihr dachte. Nach dem Anruf ihrer Mutter jedoch regten sich die alten Bedenken in Rike. Und wäre es denn nicht eigentlich zu erwarten gewesen, dass er sich gestern bei ihr gemeldet hätte?

Rike fühlte sich jedenfalls nicht wohl in ihrer Haut und war deshalb sehr froh,

als gegen Mittag zwei Freundinnen ihr Geschäft betraten. Vielleicht schafften die beiden es ja, sie ein wenig aufzumuntern. „Mensch, Rike, du bist aber blass“, begrüßte Linda sie lachend. „Wird Zeit, dass der Sommer kommt und du dich endlich in die Sonne legen kannst.“ „Das wäre schön“, stimmte Rike ihr zu. „Ich hatte viel Stress am Wochenende, ich musste nämlich zum Geburtstag meiner Oma.“ Melissa nickte. Alle Freundinnen von Rike kannten deren Probleme mit ihrer Familie. „Die ganze Sippschaft auf einmal ertragen zu müssen, kann ganz schön an den Nerven zerren.“ „Ich hab's überstanden, darüber bin ich froh. Und bei euch? Alles in Ordnung?“ „Es gibt eigentlich eine ganze Menge Neuigkeiten zu berichten, aber vielleicht ist das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt und Ort dafür.“ Linda deutete auf zwei

Touristen, die sich gerade daran machten, in Rikes Laden zu stürmen. Die nickte. „Kundschaft, da habe ich gleich keine Zeit mehr für euch.“ „Mir kommt gerade eine brillante Idee“, rief Melissa. „Wollen wir heute Abend nicht ganz spontan einen Weiberabend abhalten, so wie in alten Zeiten?“ Über Lindas Gesicht glitt ein Strahlen. „Super Idee. Kommt alle zu mir, das wird riesig. Du hast doch Zeit, Rike, oder?“ Die fühlte sich ein wenig überrumpelt, hatte jedoch prinzipiell nichts dagegen, mal wieder ausgiebig mit ihren Freundinnen zu quatschen und zu tratschen. „Ich habe nichts vor.“ „Also abgemacht. Kannst du Maria informieren?“, bat Melissa. „Das erledige ich, sobald ich Mittag mache“, versprach Rike. „Gut, wir kümmern uns darum, dass Sophia Bescheid bekommt.“ Linda war

vor lauter Aufregung ganz aus dem Häuschen. „Sollen wir etwas mitbringen?“, wollte Rike schnell noch wissen, bevor sie sich ihren Kunden zuwenden musste. „Wein auf keinen Fall, davon haben wir genug im Haus“, kicherte Linda. „Aber was zu knabbern wäre nicht schlecht.“ „Das kriegen wir hin. Dann bis heute Abend, gegen sieben?“ „Sagen wir besser halb acht, Maria wird vielleicht gar nicht eher weg können“, schlug Linda vor.“ Schließlich grinsten die beiden Freundinnen Rike noch verschwörerisch an und verschwanden aus dem Geschäft.

Rike freute sich sehr darüber, dass die beiden so eine gute Idee gehabt hatten. Wenn sie heute Abend mit ihren Freundinnen zusammensaß, konnte sie das dumme Wochenende und die Vorwürfe ihre Mutter bestimmt leicht

vergessen. Sie wollte sich ihrem Frust nämlich nicht hingeben und war für jede Ablenkung sehr dankbar. Wenn nun noch Jakob sich meldete, und signalisierte, dass für ihn alles in Ordnung wäre, obwohl sie so neben sich gestanden hatte, wäre sie sogar wieder komplett mit ihrem Leben im Reinen.

11

In der Küche von Lindas Haus sah es bereits so aus, als würde hier demnächst eine größere Party stattfinden. Auf der Arbeitsplatte standen etliche Schälchen mit Nüssen, Chips und Konfekt. Daneben befanden sich schon fünf Weingläser. Melissa, Rike und Sophia hatten es sich längst am Küchentisch bequem gemacht. Sie waren alle guter Dinge, denn sie freuten sich auf den Abend im Kreise der Freundinnen. Linda wuselte in der Küche hin und

her und überprüfte noch einmal, ob sich genügend Getränke im Kühlschrank befanden. Als es klingelte, lief sie schnell zur Wohnungstür, um Maria hereinzulassen.

Beide kamen kurz darauf in die Küche. Maria sah ein wenig abgehetzt aus, strahlte aber trotzdem. „Mensch, der Anruf von Rike war heute wirklich beinahe ein kleiner Überfall.“ „Manchmal muss man einfach sofort Nägel mit Köpfen machen“, meinte Melissa grinsend. „Und ihr müsst zugeben, wir hätten ewig gebraucht, einen Termin zu finden, wenn wir erst angefangen hätten zu überlegen, wann wir ein solches Treffen abhalten können.“ Maria nickte. „So habe ich meinen Schatz einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und ihm verkündet, dass er heute Abend die Kinder hüten muss, weil ich etwas Wichtiges vorhabe.“

Linda kicherte. „Etwas Megawichtiges.“ „Unser letzter gemeinsamer Abend ist aber auch schon Ewigkeiten her“, bemerkte Sophia. „Es war einfach an der Zeit, dass wir mal wieder gemütlich zusammensitzen.“

„Und wo steckt dein Göttergatte?“, erkundigte sich Rike bei Linda. „Den habe ich ins Wohnzimmer verbannt. Der ist nämlich vor dem Fernseher ganz glücklich. “ Sie rollte bedeutungsvoll mit den Augen. „Fünf Frauen auf einmal ertragen zu müssen, wäre für jeden Mann eine Zumutung“, lachte Sophia. „Also, wie sieht's aus? Machen wir den Weißwein auf?“ Linda tänzelte schon unruhig vor dem Kühlschrank herum. „Klar, kümmere du dich darum, ich stelle uns die Gläser hin.“ Melissa war bereits aufgesprungen.

Fünf Minuten später konnten sie anstoßen. Selbst Rike, die noch am Vortag dem Alkohol am liebsten hatte abschwören wollen, hielt ein gut gefülltes Glas in der Hand. Sie wollte sich heute Abend allerdings ein wenig mit dem Wein zurückhalten. „Darauf, dass wir so jung nicht wieder zusammenkommen“, rief Linda aus. „Und auf unsere Freundschaft.“ Die Gläser stießen aneinander und schon ging das Geschnatter los.

„Ist es wahr, dass Xenia heiraten will?“, fragte Melissa neugierig, denn das schien ein Thema zu sein, das ihr unter den Nägeln brannte. Maria nickte eifrig. „Wer hätte das gedacht? Jahrelang hat sie getönt, es reiche ihr, mit dem Mann, den sie liebe, zusammenzuleben, und nun das.“ „Soll es denn eine große Hochzeit werden?“ Sophias Augen leuchteten, sie

selbst wünschte sich ein rauschendes Fest, falls sie jemals vor den Traualtar treten würde. „Nach allem, was sie mir bisher verraten hat, ja“, erklärte Maria. „Ich denke, ihr könnt euch berechtigte Hoffnungen darauf machen, eine Einladung zu bekommen.“ „Ich liebe Hochzeiten“, freute sich Melissa. „Gibt es einen Grund, warum sie nun doch heiraten will, ich meine, ist sie schwanger oder so?“ Linda griff beherzt in die Schale mit den Macadamia- Nüssen. Maria riss überrascht die Augen auf. „Keine Ahnung. Auf so eine Idee bin ich noch gar nicht gekommen.“ „Sie hätte es dir erzählt, wenn sie ein Kind erwartete“, vermutete Rike. „Wahrscheinlich.“ „Dann hatte sie wahrscheinlich einfach das Gefühl, es jetzt offiziell machen zu wollen. Manchmal ändert

man im Laufe seines Lebens seine Meinung zu bestimmten Dingen ja.“ Melissa drehte gedankenversunken ihr Glas hin und her. „Das hört sich beinahe so an, als hättest du uns ebenfalls etwas Wichtiges mitzuteilen“, meinte Rike, der der ironische Unterton in der Stimme ihrer Freundin nicht entgangen war. Melissa holte tief Luft. „Eigentlich ist es noch nicht spruchreif, ich muss euch also bitten, bis zum Ende der Woche noch niemandem davon zu erzählen.“ Die Freundinnen setzten sich gerade hin und blickten gespannt zu Melissa hinüber. Was mochte ihnen diese mitteilen wollen?

„Ihr wisst ja, dass ich schon lange über den Schmitzke schimpfe“, begann Melissa mit ihren Ausführungen. Dieser war der Inhaber einer Autowerkstatt, in deren Büro Melissa seit etwa acht Jahren arbeitete. „Aber jetzt ist der Punkt

gekommen, an dem ich endgültig die Schnauze voll habe. Ich habe mal meine Überstunden der letzten drei Monate zusammengerechnet und bin auf siebenunddreißig gekommen.“ Sie seufzte. „So viele?“, rief Linda überrascht aus. „Das ist wirklich eine Hausnummer.“ „Ich habe immer gedacht, dass das alles gar kein Problem ist. Manchmal ist eben viel los und dann wieder herrscht eine Flaute. Und solange man die Überstunden irgendwann abbummeln kann, geht das mit der zeitweiligen Mehrarbeit in Ordnung. Nur scheint für den Ausgleich nie die Zeit gekommen zu sein. Immer wenn ich um ein paar freie Tage bitte, um den Überstundenberg abzubauen, bekomme ich nur zur Antwort, dass das nicht ginge, weil ich dringend gebraucht würde.“ „Der Schmitzke nutzt dich nach Strich und Faden aus“, konstatierte Sophia dies mit einem wissenden Blick.

„Kann er dir die Stunden nicht wenigstens bezahlen, wenn er dir partout keine freien Tage geben will?“, fragte Rike. „Ha“, ereiferte sich Melissa, „der alte Geizhals doch nicht. Und deshalb habe ich jetzt endgültig die Nase voll und werde kündigen.“ „Tatsächlich? Hast du dir das gut überlegt?“, fragte Sophia besorgt. „Lange genug habe ich geredet. Das Geldverdienen ist das eine, aber man muss sich bei seiner Arbeit auch wohlfühlen. Wenn man immer das Gefühl hat, wie der letzte Dreck behandelt zu werden, hasst man irgendwann das, was man tut.“ „Für den alten Gauner wird es ein ordentlicher Schock sein, deine Kündigung zu lesen“, grinste Linda. „Und ich werde meinen sämtlichen Urlaub sowie die freien Tagen als Überstundenausgleich nehmen, bevor ich die Werkstatt endgültig verlasse.“

Melissa hatte sich in Rage geredet und kippte ihren Rest Weißwein in einem Zug hinter. Linda goss ihrer Freundin das Glas erneut voll. „Hast du schon etwas Neues in Aussicht?“ „Ich habe zwei Ideen, aber Konkreteres kann ich euch noch nicht berichten. Allerdings werde ich bestimmt Arbeit finden, denn eine Bürofachkraft wird vielerorts gebraucht.“ „Also ich finde es sehr mutig von dir, dass du kündigst.“ Rike lächelte ihre Freundin aufmunternd an. „Lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende“, nickte diese.

Eine Stunde später hatten sie sämtliche Neuigkeiten, die sich in Ockernried in den letzten Wochen zugetragen hatten, durchgesprochen und kommentiert. „Willst du nun nicht endlich noch von Jakob erzählen?“, forderte Maria

Rike auf. Die hatte den neuen Mann im Ort eigentlich gar nicht geheim halten wollen, aber irgendwie war noch gar keine Gelegenheit gewesen, von ihm zu berichten. „Welcher Jakob denn? Da haben wir wohl was verpasst?“, erkundigte sich Sophia neugierig. Rike schüttelte den Kopf. „Viel gibt es da nicht zu erzählen. Jakob Berner ist letztes Wochenende zu uns nach Ockernried gezogen. Er ist etwa in unserem Alter und arbeitet in Karstow im Museum.“ „Sieht er gut aus?“ Sophia grinste unschuldig. War ja klar, dass sie diese Frage stellen musste. Immerhin war sie wie Melissa und Rike noch Single und daher auf der Suche nach einem Partner. „Durchschnittlich“, gab Rike zurück. „Er ist groß und hat dunkle Haare.“ „Schlank?“ Rike nickte. „Aber nicht dürre.“

„Und wie hast du ihn kennen gelernt?“, wollte Melissa wissen. „Er kam in meinen Laden, um Briefmarken zu kaufen. Leider konnte ich ihm die nicht anbieten, wie ihr wisst. Und am Sonnabend hatte ich ein Problem mit meinem Auto.“ Stück für Stück rückte Rike mit der ganzen Geschichte heraus.

Die Freundinnen hatten gespannt gelauscht und als Rike zum Ende gekommen war, brach Sophia als Erste das Schweigen. „Und seitdem hast du nichts mehr von ihm gehört?“ „Nein“, gab Rike traurig zu. „Ich wüsste wirklich gern, ob er jetzt schlecht von mir denkt.“ „Weil er dich in deinem angetrunkenen Zustand nach Hause fahren musste?“ „Er war bestimmt alles andere als begeistert davon.“ „Aber er hat sich immerhin um dich

gekümmert, als er dich in deine Wohnung und sogar ins Bett gebracht hat“, meinte Melissa. „Er hätte dich einfach deinem Schicksal überlassen können, sobald er die Wohnungstür geöffnet hatte. Und eine Nachricht hat er dir auch geschrieben. Ich glaube kaum, dass du ihn verschreckt hast, nur weil du ordentlich einen im Tee hattest.“ Rike lachte gequält. „Wäre wirklich schön, wenn du recht hättest. Er war so hilfsbereit und ich habe ihm noch zusätzliche Arbeit gemacht.“ „Wie er jetzt reagiert, zeigt doch, aus welchem Holz er geschnitzt ist“, fand Maria. „Wenn er einen Rückzieher macht, ist er sowieso nicht der Mann, den wir uns für dich wünschen“, ergänzte Linda zustimmend.

12

Rike versprach der älteren Dame, ihr sofort den Kalender vom Aufsteller herunterzuholen, sobald sie den Mann, der mit gleich fünf Zeitschriften vor dem Tresen stand, abkassiert hatte. Es kam nur selten vor, dass es in Rikes Laden wie auf einem Rummelplatz zuging, aber heute Morgen war ein Touristenbus in den Ort gekommen und hatte eine ganze Mannschaft Rentner ausgeladen. Ockernried war für Reiseunternehmen eigentlich kein

Anlaufpunkt. Warum nur waren Busfahrer oder Reiseleiter auf die Idee gekommen, hier zu stoppen? Es gab keine öffentliche Toilette, die man hätte ansteuern können. Und Bäcker, Fleischer und Papiergeschäft gehörten nun wirklich nicht unbedingt zu den Läden, in denen man längere Zeit herumstöbern könnte. Vielleicht wollte die Reisegruppe ja nach einer kurzen Pause zum See hinunter, um dort einen Spaziergang zu machen. Oder sie hatte ganz einfach einen Zwischenstopp eingelegt, um sich die Beine zu vertreten.

Rike jedenfalls hatte keine ruhige Minute mehr, seit die Rentner ihren Laden geentert hatten. Alle zehn Sekunden wurde sie erneut angesprochen und ein Anliegen vorgetragen. Am stärksten belagert war die Souvenirecke. Dort standen so viele

Leute vor den Regalen, dass ein Durchkommen durch die Menschenmassen mittlerweile unmöglich war.

Als die Ladenglocke bimmelte, schaute Rike daher eher reflexartig nach vorn, um zu schauen, wer gekommen war. Sie hatte nämlich das Gefühl, sie müsse auf die zerbrechlichen Dinge, die von den Rentner begutachtet wurden, ein etwas intensiveres Auge haben. Da es jedoch Jakob war, der eintrat, machte Rikes Herz einen Purzelbaum. Sie freute sich darüber, dass er gekommen war, und gleichzeitig fürchtete sie sich vor dem, was er zu sagen hatte. Rike beschloss, Jakob wenigstens einige Sekunden ihrer Zeit zu schenken, bevor sie sich wieder den anderen Kunden widmete. Das Verkaufs- und Beratungsgespräch würde sich diesbezüglich sowieso noch eine ganze

Weile hinziehen. „Hallo, Jakob“, kam es ziemlich schüchtern aus ihr heraus. „Schön dich zu sehen“, meinte er lächelnd. „Ist wohl ein schlechter Zeitpunkt, ausgerechnet jetzt hier aufzutauchen.“ Er zeigte auf die Rentnergrüppchen. „Es hielt unerwartet ein Reisebus in Ockernried. Solche Menschenmassen stürmen normalerweise nicht auf einmal meinen Laden, aber jetzt mache ich das Beste daraus.“ Jakob nickte. „Den Umsatz solltest du dir nicht entgehen lassen. Allerdings werden wir uns deshalb nicht in Ruhe unterhalten können, denn du bist beschäftigt.“ Er überlegte kurz. „Ich ruf dich später an, okay?“ „Hast du meine Telefonnummer?“, fragte Rike, weil sie nicht hätte sagen können, ob sie ihm die an dem verfluchten Samstag gegeben hatte. „Die Nummer vom Laden steht doch

im Telefonbuch.“ „Ja, gut, dann melde dich später, ich würde mich freuen.“ Jakob zog also wieder von dannen und Rike seufzte stumm. Da hatte sie nun auf ein Zeichen von ihm gewartet und er kam im denkbar ungeeignetsten Moment vorbei.

Eine Stunde später war Rike völlig erschöpft und goss sich erstmal eine Tasse lauwarmen Kaffee aus der Thermoskanne ein. Den Rummel vom Morgen hatte sie jetzt zum Glück überstanden. Sie hatte die Rentner beraten, verschiedene Wunschzeitschriften für sie herausgesucht und sogar noch Souvenirs aus dem Lager geholt, weil sich alle ausgerechnet in die kleine, bunt bemalte Holzbrücke verliebt hatten, von der jedoch nur ein Ausstellungsstück und vier Kaufexemplare im Regal standen. Die Einnahmen des Tages übertrafen

schon jetzt das, was sie so manches Mal in einer ganzen Woche zusammenbekam, und das hätte sie eigentlich glücklich machen müssen. Dummerweise tat es das jedoch nicht. Rike war nämlich eher schrecklich frustriert, weil sie nicht ausgiebig mit Jakob hatte reden können. Nun wusste sie immer noch nicht, wie er über den schrecklichen Sonnabend dachte. Andererseits wäre er wahrscheinlich gar nicht zu ihr gekommen, wenn er beschlossen hätte, sie zukünftig zu meiden. Jedenfalls hätte sie das in diesem Fall sehr unwahrscheinlich gefunden. Und überhaupt verstand sie gar nicht, warum sie sich solche Gedanken wegen Jakob machte! Er war doch nur ein Freund oder eben jemand, der mal einer werden konnte, wenn sie sich besser kannten. Warum war ihr nur so wichtig, welche Meinung er von ihr hatte?

Der Nachmittag verging, ohne dass

ein Anruf von Jakob kam. Rike frustrierte das nur noch mehr. Wenn er nun nicht anriefe? Vielleicht war es ihm nicht besonders wichtig und er hatte beschlossen, es lieber sein zu lassen. Wenn Rike selbst eine Telefonnummer von ihm gehabt hätte, wäre sie wohl nicht einfach in Trübsinn verfallen, sondern hätte ihn angerufen. Da sie die Nummer jedoch nicht kannte, blieb ihr nichts anderes übrig als zu warten.

Kurz vor Ladenschluss, es war gerade niemand im Geschäft, klingelte dann endlich das Telefon. Rike, die quasi daneben gewartet hatte, hob sofort ab. „Das ging aber schnell“, lachte Jakob herzlich. „Ich hatte mich auf mehrere Versuche eingestellt, denn wenn du gerade einen Kunden bedienst, kannst du ja nicht einfach ans Telefon gehen.“ „Zum Glück ist momentan kein Kunde da, ich habe also Zeit für dich.“

„Nach dem Stress heute Morgen hört sich das doch sehr gut an.“ Rike lachte. „Oh ja, ich glaube, ich werde mir nach der Herumlauferei später ein schönes Schaumbad gönnen.“ „Zur Entspannung?“ „Ja, ich liebe es, stundenlang im heißen Wasser zu liegen und vor mich hin zu träumen.“ „Badewannen sind nicht so mein Fall, aber wenn es dir Spaß macht, so lange im Wasser zu liegen, bis deine Haut ganz schrumpelig wird.“ Rike prustete los. „Woran du wieder denkst!“

„Tja, genau genommen wollte ich mit dir etwas ganz anderes besprechen.“ Das klang geheimnisvoll. Rike war neugierig geworden. „Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes?“ „Nein“, meinte Jakob verdutzt, „wie kommst du denn darauf?“ Rike wand sich. „Ach, ich dachte nur,

wegen Samstag und so. Es ist mir megapeinlich, dass ich so weggetreten war, dass du mich ins Bett schleppen musstest.“ „Tja, der dritte Cocktail war wahrscheinlich der Übeltäter, der hat dich aus den Latschen gefegt“, schmunzelte Jakob. Rike war froh, dass er das mit Humor nahm. „Habe ich wirklich nach all dem Wein, den ich schon getrunken hatte, auch noch drei Cocktails geschafft? Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.“ „Du warst einfach schrecklich angespannt und wegen deiner Familie genervt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich regelmäßig so mit Alkohol zudröhnst, weshalb ich durchaus Verständnis dafür hatte, dass du die ganze unangenehme Situation lieber ein wenig ausblenden wolltest.“ „Es war ganz und gar dumm von mir, auf alles zu pfeifen und so viel zu

trinken, bis ich völlig neben mir stand. Meine Mutter hat das überhaupt nicht positiv aufgenommen und meine Oma hat kaum mit mir gesprochen, als ich mich am Montagabend bei ihr entschuldigt habe.“ „Nun ist es ja nicht mehr zu ändern.“ „Leider. Als ich am Sonntagmorgen erwachte, war ich im ersten Moment irgendwie sauer auf dich, weil du mich nicht vom Trinken abgehalten hast, aber das war natürlich unfair, denn warum solltest du das tun?“ „Beim nächsten Mal werde ich mich einmischen, versprochen.“ „Wird es denn ein nächstes Mal geben?“, fragte Rike vorsichtig. „Ja, deshalb wollte ich mit dir reden. Hättest du Lust, am Wochenende mit mir auszugehen? Vielleicht ins Kino in Karstow?“ Rike strahlte, was Jakob freilich nicht sehen konnte. „Das hört sich prima an. Erstens war ich schon seit Ewigkeiten

nicht mehr im Kino und zweitens würde ich sehr gern etwas mit dir unternehmen.“ „Dann also abgemacht. Ich schau mal, welche Filme sie bringen und melde mich am Freitag noch einmal bei dir, einverstanden?“ „Ja“, antwortete Rike fröhlich. „Das wäre schön.“

13

Rike stand vor dem großen Spiegel und musterte sich angestrengt. Nein, das grüne Glitzershirt wäre für einen einfachen Kinobesuch nicht wirklich passend. Sie schillerte damit viel zu sehr. Rike kniff ärgerlich die Lippen zusammen. Warum fiel es ihr nur so schwer, sich für passende Kleidung zu entscheiden? Wäre sie mit einer ihrer Freundinnen ins Kino gegangen, hätte sie nicht einmal darüber nachgedacht, was sie anziehen sollte. Wahrscheinlich hätte sie dann einfach wahllos eine Jeans

aus ihrem Schrank gegriffen und gut. Aber bei diesem Kinobesuch handelte es sich gewissermaßen um ihr allererstes Date mit Jakob und da musste sie einfach gut aussehen. Sie war ohnehin nicht besonders hübsch, also musste sie wenigstens das Beste aus ihrem Aussehen machen. Ob sie es vielleicht doch mit der pfirsichfarbenen Bluse versuchen sollte? Maria hatte zwar gemeint, sie wirke darin reichlich blass, aber immerhin war das gute Stück irgendwo zwischen leger und festlich einzuordnen.

Jakob machte sich bezüglich seiner Kleidung keine Gedanken. Er trug, wie eigentlich fast immer, eine dunkle Jeans und dazu ein Shirt. Und er wäre niemals auf die Idee gekommen, sich in Schale zu schmeißen, Date hin oder her. Er musste allerdings zugeben, dass er ein wenig nervös war, weil er nicht wusste, wie der Abend verlaufen würde.

Bisher hatte er Rike als sehr humorvolle, aufgeschlossene Frau erlebt. Sogar in ihrem Kummer wegen der dummen Familienfeier hatte sie die winzigen, blitzenden Fünkchen in ihren Augen nicht verloren. Und sie kam wahnsinnig natürlich rüber, war weder aufgedonnert noch besonders zurechtgemacht. Deshalb konnte sich Jakob eigentlich nicht vorstellen, dass sie sich als Zicke entpuppen würde. Aber man wusste leider nie, was alles zutage trat, wenn man ein bisschen an der Oberfläche eines Menschen kratzte und in sein Innerstes hineinschaute. Vielleicht würde sich ja herausstellen, dass Rike zu der Sorte Frau gehörte, die anfing zu klammern, sobald sie eine Beziehung einging. Möglicherweise verlangte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Mannes, sobald sie mit ihm zusammen war. Es konnte natürlich genauso gut sein,

dass Rike eine ganz normale Frau war, mit der man sehr leicht zurechtkam, die einem Partner seine Freiheit ließ und diesen nicht zu sehr beanspruchte. Jakob schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum machte er sich nur dermaßen viele Gedanken im Vorfeld? Das tat er sonst nie. Er würde schon noch früh genug erfahren, was für ein Mensch Rike tatsächlich war.

Die Autofahrt nach Karstow war sehr schnell vorüber, denn Jakob und Rike hatten sich sehr angeregt unterhalten. Keinem der beiden merkte man während des leichten und lockeren Geplauders an, dass er nervös und ein wenig aufgeregt war. Vor dem Kino angekommen suchte Jakob nach einem Parkplatz. „Ist ganz schön voll hier, hätte ich nicht geglaubt.“ „Nicht alle, die hier ihr Auto abstellen, gehen tatsächlich ins Kino. Viele wollen sicher in die Cocktail-Bar

oder in eines der beiden Restaurants am Marktplatz.“ „Möglich.“ „Schau dort“, meinte Rike und zeigte mit dem Finger auf ein Fahrzeug, das gerade im Begriff war, seinen Parkplatz zu verlassen. Jakob ergriff die Gelegenheit und fuhr schnell und souverän in die Lücke. „Geschafft“, meinte er erleichtert. „Die Parkplatzsuche kann schon ganz schön nerven, aber in Karstow ist es in der Regel kein Problem, einen zu finden. Und in Ockernried sowieso nicht.“ Rike öffnete vorsichtig die Beifahrertür und stieg aus.

„Und du meinst wirklich, dass es dir nichts ausmacht, wenn wir uns diese romantische Komödie anschauen?“, fragte Rike ungläubig und nun bereits zum vierten Male nach. Jakob grinste. „Jetzt wäre es ohnehin zu spät, sich die Sache noch einmal

anders zu überlegen.“ Er wedelte mit den Karten. „Auch wieder wahr.“ Sie lächelte. „Es ist nur so, dass ich bisher noch keinen Mann kannte, der sich solch einen Film freiwillig anschauen wollte.“ „Du hast mir die Pistole auf die Brust gesetzt, von Freiwilligkeit kann gar keine Rede sein“, neckte er sie. Sie tat, als wolle sie ihn boxen. „Das stimmt doch gar nicht, erzähl bloß nicht solche Märchen.“ „Sagen wir mal, die Alternativen wären heute Abend nicht besonders berauschend gewesen. Weltuntergangsszenarien sind nicht so mein Fall und Animationsfilme sind was für kleine Kinder, meine Meinung.“ Rike nickte. „Das sehe ich genauso. Ich weiß zwar, dass auch viele Erwachsene auf diese Animationsfilme stehen, aber warum man die unbedingt ins Abendprogramm nehmen muss, erschließt sich mir trotzdem nicht.“

„Irgendein Schmachtfetzen geht dafür immer.“ Rike rollte mit den Augen. „Siehst du, du bist schon genervt, bevor der Film überhaupt angefangen hat.“ „Ach was“, winkte Jakob ab. „Solange ein paar lustige Szenen enthalten sind, kann ich es durchaus aushalten, mir einen Liebesfilm anzusehen.“ „Lustig sollte er ja sein, immerhin ist es eine Komödie.“ „Man sollte es erwarten können, aber meine Erfahrung sagt mir, dass diese Filme einen gar nicht so oft zum Lachen oder wenigstens zum Schmunzeln bringen.“

Während sie darauf warteten, dass sie endlich in den Saal gelassen wurden, knabberten sie Popcorn und tranken hin und wieder einen Schluck eiskalte Cola. „Wie läuft es denn so im Museum? Macht die Arbeit Spaß? Kannst du das

tun, was du erwartet hattest?“ Rike sah Jakob sehr interessiert an. „Alles in allem ist es so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Natürlich muss ich mich erst daran gewöhnen, dass alles in einem viel kleineren Rahmen stattfindet. Das hat zwar im Großen und Ganzen Vorteile, aber man muss dafür ein paar Dinge in Kauf nehmen, die ich nicht so toll finde.“ Rike runzelte die Stirn. Das hörte sich eigentlich nicht danach an, als wäre Jakob mit seiner neuen Arbeit vollends zufrieden. „Nein, nein, du musst nicht so grimmig gucken“, bat Jakob sie lachend, als er bemerkte, dass Rike seine Erklärung wohl falsch aufgefasst hatte. „Ich bezog mich zum Beispiel eher auf die sehr geringen Besucherzahlen des Museums. Damit kann man sich selbstverständlich nicht zufriedengeben. Wir sind keine Megaattraktion mit unseren paar Ausstellungsräumen und

den wenigen Exponaten. Trotzdem hatte ich ein größeres Interesse der Bevölkerung erwartet.“ Rike sah Jakob mit großen Augen an. „Es ist eben ein kleinstädtisches Museum, das überwiegend von Schülern besucht wird. Ich glaube, wir haben mindestens dreimal einen Wandertag nach Karstow ins Museum gemacht, als ich noch zur Schule ging. Die Einwohner von Karstow und der Umgebung werden sicher selten oder gar nicht ins Museum gehen. Und von außerhalb wird sich kaum jemand dafür interessieren.“ „Daran sollte sich etwas ändern“, meinte Jakob und seine Augen funkelten energiegeladen. „Ich bin mir sicher, dass du deine ganze Kraft da rein stecken wirst, Schwung in dieses kleine, aber etwas verstaubte Museum zu bringen“, lachte Rike. „Worauf du dich verlassen kannst“,

meinte Jakob und fiel in ihr Lachen mit ein.

14

Der Kinoabend mit Jakob hielt wirklich, was er versprochen hatte. Sie konnten sich sehr gut und ungezwungen unterhalten und Rike hatte sich die ganze Zeit über rundum wohlgefühlt. Jakob sprach so begeistert über seine Arbeit, was ihr außerordentlich gut gefallen hatte. Doch auch wenn diese ihm äußerst wichtig zu sein schien, machte Jakob auf Rike ganz und gar nicht den Eindruck eines Workaholic, was sie ziemlich beruhigend fand. Nein, Jakob hatte nicht nur über seine

Arbeit geredet, sondern auch von seinen Hobbys erzählt. Vor einigen Tagen war er auf einen Autor gestoßen, der Fantasy-Romane schrieb, und ihn schon auf den ersten Seiten eines seiner Bücher unglaublich fasziniert hatte. Sehr lebhaft hatte Jakob Rike den Beginn der Handlung geschildert und Rike, die sich für Fantasy überhaupt nicht interessierte, konnte gar nicht anders, als ihm gebannt zu lauschen. Und Jakob hatte in der Zwischenzeit seine Fühler nach einer Band ausgestreckt, in der er Mitglied werden konnte. Drei Möglichkeiten gab es anscheinend, aber zu einer Probe mit einer der Bands, bei der man sich gegenseitig abchecken konnte, war es bisher nicht gekommen. Trotzdem war er sehr optimistisch, dass er sich in seiner Freizeit künftig auch wieder stärker mit seiner Gitarre beschäftigen konnte, denn das Musikmachen fehlte ihm sehr.

Rike hingegen hatte ihm viel Neues aus Ockernried berichtet und für Jakob waren alle Informationen mehr als spannend, kannte er doch bisher kaum jemanden. Außerdem war er begierig, mehr über das Leben im Dorf zu erfahren. So war ihnen der Gesprächsstoff den ganzen Abend über nicht ausgegangen. Während des Films hatten sie zwar zwangsläufig schweigen müssen, aber immerhin waren sie im Anschluss noch in die Bar gegangen und hatten sich einen Drink genehmigt, Jakob selbstverständlich einen alkoholfreien, denn er war sich seiner Verantwortung als Fahrer bewusst.

Und so hatte der Abend einen gemütlichen Ausklang gefunden. Rike wusste zwar nicht sicher, wie Jakobs Empfindungen aussahen, aber sie selbst spürte eine große Zuneigung zu ihm. Immer wenn sie ihn anschaute und

etwas tiefer in seine dunkelbraunen Augen blickte, spürte sie, wie es in ihr zu kribbeln anfing. Sie musste sich dann geradezu zwingen, den Blick wieder von ihm abzuwenden. Und wenn Jakob sie, wie zum Beispiel in der Bar zweimal geschehen, leicht mit seiner Hand berührte, durchzuckten sie sogar richtige Stromstöße, die sie irritierten und aus der Fassung brachten. Rike konnte außerdem seinen Abschiedskuss nicht vergessen. Wenn es auch nur ein leichtes Küsschen auf die Wange gewesen war, so glühte und prickelte die Stelle doch selbst noch am Tag danach.

Offenbar hatte es sie erwischt. Sie hatte Feuer gefangen und war im Begriff, sich in Jakob zu verlieben. Und sie wünschte sich sehr, ihn möglichst bald wiederzusehen. Diesbezüglich gab es jedoch

Hoffnung, denn sie hatten ausgemacht, am Mittwoch in die Weinstube in Ockernried zu gehen. Die gab es erst seit zwei Wochen und Rike hatte es noch nicht geschafft, sie sich einmal anzuschauen. Zu viel sollte man sich davon wahrscheinlich nicht versprechen, vermutlich handelte es sich nur um einen winzigen Raum, aber Jakob hatte lachend gemeint, dass es darauf nicht ankäme, solange sie einen guten Wein kredenzt bekämen.

Und nun war also der Mittwoch gekommen. Rike war furchtbar aufgeregt, als sie von der Arbeit nach Hause eilte. Viel Zeit bliebe ihr nicht, um sich ein wenig frisch zu machen und einen Happen zu essen. Zwar hatte sie gehört, dass es in der Weinstube ein paar Snacks geben sollte, aber verlassen wollte sie sich lieber nicht darauf, denn auf nüchternen Magen Wein zu trinken, war keine allzu gute

Idee.

Als sie an ihrer Wohnungstür ankam, traf sie jedoch beinahe der Schlag, denn auf der obersten Treppenstufe saß ihre Schwester Isabell. Offenbar war irgendetwas Schlimmes passiert, denn diese schluchzte und heulte zum Steinerweichen. „Du lieber Himmel“, meinte Rike fassungslos. „Komm erstmal mit rein, da kannst du mir die ganze Geschichte erzählen.“ Rike war vollkommen klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, denn wenn ihre kleine Schwester ausgerechnet hierher zu ihr kam, dann konnte es sich einfach nicht um irgendeine Belanglosigkeit handeln. „Setz dich lieber hin, bevor du mir zusammenbrichst“, sagte sie zu Bella und schob diese förmlich auf einen der Küchenstühle. Dann goss sie schnell ein Glas Wasser ein und stellte es vor ihrer

Schwester ab. Schließlich setzte sie sich ebenfalls und wartete, bis ihre Schwester endlich loslegte und sie darüber informierte, warum sie in diesem desolaten Zustand bei ihr aufgekreuzt war.

Bella richtete irgendwann, als ihr Weinkrampf geendet hatte, die mittlerweile total verquollenen Augen auf Rike und begann stockend und mit heiserer Stimme zu erzählen, was sich vor wenigen Stunden zugetragen hatte. „Simon hat mich verlassen.“ Rike bekam große Augen. „Ist nicht dein Ernst? Warum so plötzlich? Und was ist mit dem Baby?“ „Er hat eine andere.“ Bella hatte so leise gesprochen, dass sie kaum zu verstehen gewesen war. „Noch einmal bitte, er hat sich in eine andere Frau verliebt und sich deshalb von dir getrennt?“ Bella nickte stumm. „Er will das Kind

nicht im Stich lassen, aber er kann nicht länger bei mir bleiben, meinte er.“ „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, gab Rike fassungslos zu. Vielleicht mochte sie ihre Schwester nicht besonders, aber sie wünschte ihr gewiss kein derartiges Drama in ihrem Leben. „Er sah doch auf der Geburtstagsfeier unserer Oma noch so verliebt in dich aus. Er ist dir quasi nicht von der Seite gewichen. Ich hätte nie gedacht, dass er auf so eine Idee kommen könnte.“ Bella begann wieder zu schluchzen. „Es sei ganz plötzlich gegangen, Liebe auf den ersten Blick.“ „Und da wirft er alles weg, was ihr gemeinsam hattet, nur um mit der vermeintlich großen Liebe zusammenzuziehen, einer Frau, die er kaum kennt?“ Bella nickte und griff nach einem neuen Taschentuch. „Was soll ich denn jetzt bloß machen?“, jammerte sie. „Das weiß ich auch nicht so genau.“

Fieberhaft überlegte Rike, wie sie ihrer Schwester helfen konnte, ihr fiel allerdings nichts ein. Warum nur hatte sich Bella in dieser prekären Lage ausgerechnet an sie gewandt und war nicht zu Susann oder ihrer Mutter gelaufen?

„Möchtest du über Nacht hierbleiben?“, fragte Rike ihre Schwester schließlich, weil ihr vorerst nichts anderes einfiel. „Ja, bitte, ich kann jetzt nicht nach Hause, zurück in die Wohnung, in der ich mit Simon gelebt habe.“ „In Ordnung.“ Schlagartig wurde Rike klar, dass sie damit ihre eigenen Pläne für den Abend begraben konnte. „Ich muss dann mal schnell einen Freund anrufen und ihm absagen, wir wollten nämlich heute Abend ausgehen. Was hältst du davon, wenn du ins Bad gingest und dich ein wenig frisch machst? Ich koche uns gleich eine

Kleinigkeit.“ „Mach dir bloß keine Mühe, ich bekomme sowieso nichts hinunter“, heulte Bella, stand jedoch auf, um ins Bad zu gehen.

Rike hatte zwar Mitleid mit ihrer Schwester, aber sie war trotzdem sauer, weil sie nun um ihr Vergnügen kam, Jakob zu sehen. Und sie hatte sich doch so sehr darauf gefreut. All die Jahre hatte Isabell sie immer wieder gepiesackt, aber in der Stunde ihrer größten Not suchte diese ausgerechnet bei ihr Hilfe und Trost. Da konnte man wirklich nur den Kopf schütteln.

Nachdem Rike mit Jakob gesprochen hatte, war sie nur noch trauriger. Der hatte großes Verständnis für die schwierige Situation gehabt, in der Rike sich befand. Immerhin trete quasi ein Ausnahmezustand ein, wenn man seine

schwangere Schwester, die gerade verlassen worden war, unerwartet aufnehmen musste. Trotzdem hatte er zum Ausdruck gebracht, dass er Rike vermisste und es sehr schade fände, dass sie sich nun nicht sehen konnten. Er hoffte allerdings darauf, dass sie schon bald einen neuen Termin für ein Wiedersehen ausmachen konnten. Nun müssten sie erstmal die Entwicklung bezüglich Bellas Problem abwarten. Rike hatte versprochen, ihn sofort darüber zu informieren, sobald sie mehr wusste. Sie hoffte sehr darauf, dass ihre Schwester schon morgen oder allerspätestens übermorgen abreisen würde. Jakob hatte gemeint, sie solle sich deshalb keine Gedanken machen, es würde sich schon alles finden, was sehr lieb von ihm gewesen war. Warum schaffte es ihre verdammte Familie nur immer wieder, etwas ganz

furchtbar zu verderben, was in ihrem Leben gerade gut lief? Rike seufzte, beschloss aber, dies hinzunehmen, wie sie es ja immer tat. Was blieb ihr auch anderes übrig?

15

Eigentlich grauste es Rike davor, heute nach Hause zu kommen. Sie konnte sich nämlich ziemlich gut vorstellen, was sie dort erwartete. Sicher fläzte sich ihre Schwester auf der Couch herum und bedauerte sich selbst. Auf so ein extremes Chaos in Küche und Wohnzimmer, das Rike schließlich vorfand, war sie dann aber doch nicht vorbereitet gewesen und so schnappte sie erst einmal nach Luft, als sie entdeckte, dass überall leere Kekspackungen, Schokoladenpapiere

und gebrauchte Tempotaschentücher herumlagen. In der Küche stapelten sich mehrere schmutzige Teller und auch benutzte Tassen in der Spüle. Außerdem waren Brotkrümel über die gesamte Arbeitsplatte verstreut. Rike glaubte zwar, dass sie alles in allem Verständnis für die schwierige Lage, in der sich ihre Schwester befand, aufbrachte. Selbstverständlich war diese emotional momentan völlig am Ende. Trotzdem fand Rike es furchtbar, dass diese sich so gehen ließ. Sie rang mit sich, ob sie etwas sagen sollte. Immerhin handelte es sich hier um ihr Zuhause, dass sie verschandelt vorgefunden hatte. Andererseits war natürlich auch nichts wirklich verdreckt und mit ein bisschen Einsatz konnte sie die normale Ordnung bestimmt schnell wiederherstellen. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob es überhaupt etwas bewirken würde,

wenn sie jetzt vor ihrer Schwester explodierte. Es sah nämlich nicht so aus, als ob man zur Zeit irgendwie zu ihr vordringen konnte. Rike schluckte also ihren Frust herunter und begann, Ordnung zu machen. Eigentlich war sie von dem langen Arbeitstag ja kaputt und hätte liebend gern die Beine hochgelegt. Aber sich mitten in all den Müll zu setzen, kam wohl kaum in Frage.

Als sie die Küche und auch das Wohnzimmer wieder in einen manierlichen Zustand gebracht hatte, fragte Rike Bella, ob sie etwas essen wolle. Diese nickte nur halbherzig. „Wonach steht dir denn der Sinn? Soll ich uns eine Pizza in den Ofen schieben?“ „Meinetwegen“, seufzte Bella. Rike verdrehte innerlich die Augen. Das konnte noch heiter werden. Ihre

Schwester war so teilnahmslos, es sah bei Weitem nicht so aus, als würde diese heute noch ihre Sachen packen und wieder nach Berlin zurückfahren.

Während sie die Pizza aßen, versuchte Rike dennoch, ihre Schwester zu einer Aussage zu bewegen, wie lange sie denn hier bei ihr zu bleiben gedenke. „Meinst du, du schaffst es, am Wochenende nach Hause zu fahren?“, fragte sie Bella. Isabell sah sie nur verständnislos an. Schon kullerten bei ihr die Tränen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nirgendwo hin, in die Wohnung zurückzufahren, ist unmöglich, alles darin erinnert mich an Simon.“ Rike bekam daraufhin einen riesengroßen Schreck. Dass Isabell sich für längere Zeit bei ihr einquartierte, kam überhaupt nicht in Frage. „Was hältst du denn davon, vorübergehend bei Mutter und Vater einzuziehen, wenn du es in

deinem eigenen Zuhause nicht mehr aushältst? Die haben im oberen Stockwerk drei leer stehende Zimmer. Dort hättest du Platz und Mutter wird sich bestimmt liebevoll um dich kümmern.“ Bella schnaubte und schüttelte heftig den Kopf. „Das würde ich nicht aushalten. Du kennst sie gut genug. Sicher macht sie mir dann von früh bis spät Vorwürfe, weil Simon mich verlassen hat.“ „Das ist Unsinn, du kannst gar nichts dafür, dass er gegangen ist.“ „Das spielt für Mutter keine Rolle, wie du weißt. Sie wird nach einem Schuldigen suchen, den sie fertigmachen kann, und das wäre dann ja wohl ich.“

Rike wiegte nachdenklich ihren Kopf hin und her. Leider konnte sie dem nur schlecht widersprechen. Ihre Mutter würde gewiss nicht nach wahren Gründen suchen, wenn es darum ging,

jemanden für diesen Schlamassel verantwortlich zu machen.

„Es ist nur so, dass ich es nicht gewohnt bin, einen Gast zu haben“, meinte sie zaghaft zu ihrer Schwester. „Aber ich falle dir bestimmt nicht zur Last!“ Rike hatte sich dazu entschlossen, ehrlich zu sein, wenn sie darauf antwortete. Alles andere würde nichts bringen. „Natürlich möchte ich dir helfen. Und wenn du einige Tage bei mir bleiben willst, ist das in Ordnung. Du musst allerdings zugeben, dass wir uns normalerweise nicht besonders gut verstehen und deshalb habe ich einige Bedenken, was unser Zusammenleben angeht.“ „Ich weiß ja, dass ich früher manchmal nicht sehr nett zu dir war. Aber das ist doch unter Schwestern ganz normal. Bitte nimm mir das nicht zu übel. Ich bin sehr froh, dass du

Verständnis für mich hast und mich bei dir wohnen lässt.“ Bella sah sie so geknickt an, dass Rike schon wieder weich wurde. Sie glaubte zwar nicht, dass Schwestern normalerweise so miteinander umgingen, wie Isabell sie häufig behandelt hatte, aber wahrscheinlich musste sie jetzt eben darüber hinwegsehen. Auch wenn ihre Schwester sehr verharmloste, was sie ihr im Laufe der Zeit angetan hatte. „Du bleibst vorerst hier. Einverstanden?“, bot Rike ihr also an. „Ja, sehr gern. Das ist echt lieb von dir.“ Über das Gesicht ihrer Schwester glitt beinahe ein Lächeln.

Trotzdem fasste Rike etwas später den Entschluss, mit ihrer Mutter zu telefonieren und die Lage mit ihr zu besprechen. Innerlich musste sie beinahe über sich selbst grinsen. Wann hatte sie sich eigentlich das letzte Mal freiwillig telefonisch bei ihrer Mutter gemeldet?

Sie war eigentlich fest davon ausgegangen, dass ihre Mutter inzwischen von der Trennung gehört hatte, denn in der Regel entging ihr nichts. Was ihre Kinder ihr nicht erzählten, erfuhr sie von anderen Leuten, denn sie besaß einen sehr großen Bekanntenkreis. Diese Annahme stellte sich jedoch als falsch heraus. Denn als Rike eigentlich eher beiläufig erwähnte, dass Bella nun wohl einige Tage bei ihr bleiben würde, um zu verkraften, dass Simon sie verlassen hatte, ertönte aus dem Hörer ein Aufschrei, den man in Berlin bestimmt die ganze Straße hinauf gehört haben musste.

„Was sagst du da? Aber das ist vollkommen unmöglich!“, schrie ihre Mutter entsetzt ins Telefon. Rike bemühte sich um einen ruhigen Ton, um bei diesem heiklen Thema keine erregten Diskussionen zuzulassen.

„Wenn ich es dir doch sage, Bella kam gestern völlig am Boden zerstört bei mir an. Seitdem liegt sie mehr oder weniger nur heulend auf meiner Couch herum und stopft sich mit Junkfood voll. Simon hat eine andere und ist gegangen.“ „Aber das geht nicht einfach so“, stotterte ihre Mutter.

Rike überlegte, wann sie ihre Mutter jemals so fassungslos erlebt hatte. Selbst als sie selbst damals verkündet hatte, sie bliebe in Ockernried und würde ihrer Familie nicht nach Berlin folgen, war diese nicht dermaßen aus dem Konzept gebracht gewesen.

„Du weißt sehr wohl, dass das ganz und gar nicht unmöglich ist. Die beiden sind nicht einmal verheiratet und was sollte Simon aufhalten?“ „Er ist der Vater des Kindes, das sie in sich trägt“, stellte ihre Mutter empört klar.

„Nach allem, was Bella mir berichtet hat, will er sich trotzdem um das Kind kümmern.“ Ihre Mutter schnaubte. „Wer's glaubt! Das ist die Höhe, wann hat man denn so etwas je gehört.“ „Die beiden sahen auf Omas Geburtstagsparty so glücklich aus, ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich ein derartiges Drama anbahnen könnte.“ „Mir ist das ebenfalls völlig unverständlich. Und warum nur ist Bella zu dir gefahren und nicht zu uns gekommen?“

Für einen Moment herrschte Funkstille. Natürlich war ihrer Mutter vollkommen klar, dass die Schwestern sich nicht einmal ansatzweise nahestanden. Und außerdem war sie wahrscheinlich mächtig gekränkt, weil sie nicht als Erste von Bellas Unglück erfahren hatte.

„Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Ehrlich gesagt verstehe ich das auch überhaupt nicht. Du musst Bella schon selbst nach ihren Beweggründen fragen“, meinte Rike sanft. „Das werde ich“, donnerte es durch die Leitung. „Dein Vater und ich werden uns am Sonnabend auf den Weg nach Ockernried machen.“ Rike klappte die Kinnlade herunter. Sollte das jetzt eine Familieninvasion werden? Du lieber Himmel, da kam ja etwas auf sie zu. „Also gut, Mutter. Kommt her, vielleicht könnt ihr dabei helfen, Bella wieder auf die Beine zu bringen.“ Sie seufzte erst, als sie aufgelegt hatte. Wie sollte sie nur ihre Schwester und ihre Eltern gleichzeitig ertragen können?

16

Rikes Laune befand sich am Freitag weit unter dem Nullpunkt. Die Aussicht, am Wochenende nicht nur ihre Schwester, sondern auch noch ihre Eltern aushalten zu müssen, war mehr als furchterregend. Konnte in ihrem Leben denn nicht einfach alles ruhig und normal laufen? Warum musste sie sich ständig mit ihren Familienangehörigen auseinandersetzen? Sollte sie daran denken auszuwandern? Sie könnte in irgendein Land gehen, das weit genug von ihren Schwestern und Eltern entfernt war und

es ihnen unmöglich machte, ihr andauernd auf die Nerven zu gehen. Sie würden sich nicht ständig ins Flugzeug setzen und sie in Kanada, Australien oder Neuseeland besuchen können. Und es gab in all diesen Ländern bestimmt sogar Orte, in denen es weder einen Zugang zum Telefon noch zum Internet gab. Der Kontakt würde demnach quasi komplett abreißen. Welch himmlische Vorstellung!

Rike schüttelte über sich selbst den Kopf. Natürlich war das absoluter Quatsch, niemals würde sie es schaffen, aus dem kleinen, verschlafenen Ockernried hinaus in die große, weite Welt zu ziehen. Wie sie ehrlich zugeben musste, konnte sie sich auch nicht vorstellen, längere Zeit außerhalb Deutschlands zu wohnen. Hier war sie nun einmal zu Hause, hier war ihre Heimat. Sie musste also in den sauren Apfel

beißen und ihre Familie ertragen. Vielleicht würden ihre Eltern Bella am Sonntag wenigstens mit nach Hause nehmen und sie selbst könnte wieder ihr normales Leben weiterführen. Darauf sollte sie hoffen und sich nicht verrückt machen.

Als Jakob sie in ihrer Mittagspause anrief, freute Rike sich sehr. Trotzdem ging ihr ein Stich durchs Herz, weil sie wusste, dass sie sich im Moment nicht so viel Zeit für ihn nehmen konnte, wie sie es sich gewünscht hätte. „Leider ist meine Schwester noch nicht abgereist“, informierte sie Jakob über den momentanen Stand der Dinge. „Das dachte ich mir schon.“ „Ach ja?“ „Na, ich war davon ausgegangen, dass du dich ansonsten bei mir gemeldet und mir das mitgeteilt hättest.“ „Da hast du recht“, gab Rike zu. „Das hätte ich auf jeden Fall getan.“

„Wie läuft es denn so mit ihr?“, erkundigte sich Jakob mitfühlend, denn er konnte sich vorstellen, dass es Rike gar nicht behagte, sich um ihre Schwester, zu der sie so ein denkbar schlechtes Verhältnis hatte, kümmern zu müssen. „Sie liegt auf der Couch, heult und bedauert sich. Außerdem stopft sie eine Menge ungesunde Sachen in sich hinein und müllt meine ganze Wohnung zu.“ „So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt. Sie muss sich schrecklich fühlen. Wenn man verlassen wird, ist es nie leicht, damit klarzukommen. Aber wenn es dazu noch so plötzlich passiert und man schwanger ist ...“ „Ich habe ja durchaus Verständnis für ihre Situation, nur begreife ich nicht, warum ausgerechnet ich auf einmal zum Rettungsanker werden musste. Außerdem haben sich meine Eltern für morgen angekündigt. Und da habe ich jetzt schon Muffensausen“, erklärte Rike

ihm. „Du Ärmste. Ich glaube, ich muss dich vorher noch ein bisschen trösten. Was hältst du denn davon, wenn ich heute Abend bei euch vorbeikomme?“ Rike war überrascht. Wollte er das tatsächlich? „Meinst du das ist eine gute Idee? Weil doch Bella da ist und sie vielleicht niemanden sehen will.“ „Vielleicht hilft ihr mein Besuch aber dabei, sich ein bisschen zusammenzureißen“, wandte Jakob ein. Rike knabberte auf ihrer Unterlippe herum. So hatte sie das noch gar nicht gesehen. „Möglich wär's.“ „Dann bin ich gegen acht bei euch, in Ordnung?“ „Also gut, ich freue mich sehr, dass du kommst, obwohl dir meine Schwester sicher die Ohren voll heulen wird.“ „Ich werd's überleben“, lachte Jakob.

Tatsächlich hatte Bella erstmals wieder so etwas wie Interesse gezeigt, als

Rike Jakobs Besuch für den Abend angekündigt hatte, was Rike zu der Hoffnung veranlasste, es würde kein gar zu schrecklicher Abend werden. Bella versuchte sogar, die Tränenspuren auf ihrem Gesicht zu entfernen, bevor Jakob eintraf. Außerdem half sie Rike dabei, dass Wohnzimmer in einen präsentablen Zustand zu versetzen, also sämtlichen Müll zu entsorgen und das schmutzige Geschirr in die Küche zu verfrachten.

Jakob war überrascht, dass Bella so einen gefassten Eindruck machte. Er hatte Schlimmeres befürchtet. Deshalb versuchte er sich auch gleich an einem Kompliment, denn er hoffte, es würde Bella guttun. „Du siehst trotz deines Kummers richtig gut aus.“ „Danke.“ Sie bemühte sich um ein Lächeln. „Davon bin ich zwar weit entfernt, aber es bringt ja nichts, sich

vollkommen gehen zu lassen.“ Rike konnte ein Augenrollen nicht vermeiden. Ihrer Meinung nach hatte Bella in den letzten beiden Tagen nichts anderes getan. „Kommt mit in die Küche, wir essen eine Kleinigkeit“, forderte sie Jakob und Bella auf, um damit hoffentlich weiterem schwülstigen Gelaber ihrer Schwester zu entgehen. „Es gibt Abendbrot? Damit hatte ich ja gar nicht gerechnet“, freute sich Jakob aufgeräumt. „Rike kocht zwar nicht gern, aber für dich scheint sie eine Ausnahme gemacht zu haben“, teilte ihm Bella mit. Rike kniff bei dieser blöden Bemerkung die Lippen zusammen. Sie war nahe dran, Bella daran zu erinnern, dass sie auch an den letzten Abenden gekocht hatte, aber dann riss sie sich zusammen und hielt den Mund. Einen Streit wollte sie jetzt auf keinen Fall provozieren, der würde ihr gerade noch fehlen.

Das Abendessen verlief zum Glück harmonisch, woran Jakob einen großen Anteil hatte. Er bemühte sich sehr um Bella, hörte sich ihr Wehklagen an, erteilte unaufdringliche Ratschläge, wie diese mit der Situation umgehen sollte, und machte ihr Mut, dass es ihr bald wieder besser gehen würde. Rike war froh, dass sie sich kaum an dem Gespräch beteiligen musste, es fiel ihr ohnehin schwer, mit Bella zu reden, weil sie nie wusste, ob ihre Schwester überhaupt richtig zuhörte. Jakob jedoch schien Bella geradezu wie hypnotisiert zu lauschen. Sie hing förmlich an seinen Lippen und saugte jedes seiner Worte in sich auf. Außerdem wurde sie nicht müde, ihm kleine Komplimente zu machen, wie einfühlsam er doch sei und was für ein guter Zuhörer und dergleichen mehr. Rike konnte diese Schmeicheleien leider nur schwer ertragen, in ihren Augen waren die Äußerungen ihrer

Schwester nämlich beinahe versteckte Flirtversuche. Und die waren ja nun absolut unangebracht, wenn man vor wenigen Tagen von dem Mann, den man über alles geliebt hatte, verlassen worden war. Jakob dagegen schien es nichts auszumachen, dass Bella ihm in dieser Weise um den Bart ging, denn er ließ in seinen intensiven Bemühungen um sie nicht nach. Das wiederum versetzte Rike einen Stich in der Brust. Allerdings konnte es sich hierbei wohl kaum um Eifersucht handeln, nicht wahr? Das war ganz und gar unmöglich.

Als Jakob sich endlich entschied aufzubrechen, war Rike merkwürdigerweise sehr erleichtert, denn er würde dadurch wenigstens den Klauen ihrer Schwester entkommen. „Kommst du noch bis zur Haustür mit?“, fragte Jakob Rike allerdings

lächelnd, bevor er die Wohnung verließ. „Gern.“ Rike warf einen Blick auf ihre Schwester, die sich schon wieder in einen Trauerkloß verwandelt hatte. „Ich bin gleich wieder bei dir, Bella.“ „Geh nur, ich komme auch ohne dich klar.“ Der schnippische Ton klang bereits sehr nach der Schwester, die Rike kannte. Offenbar war diese bereits auf dem Wege der seelischen Gesundung. Jakob und Rike verließen also wortlos die Wohnung und standen dann vor der Haustür, ohne dass einer von ihnen Anstalten gemacht hätte, diese zu öffnen. „Bald haben wir wieder mehr Zeit für uns allein“, tröstete Jakob. „Es tut mir leid, dass ich im Grunde eher deine Schwester aufgebaut habe als dich.“ „Ich weiß ja, dass du es nur gut gemeint hast, indem du dich so intensiv mit meiner Schwester beschäftigt hast.“ „Dann bist du mir nicht böse, weil

ich dich gar nicht groß beachtet habe?“ Rike schüttelte leicht den Kopf. „Da bin ich aber erleichtert.“ Jakob zog sie in seine Arme und gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. Rike ließ es geschehen und genoss, dass er sie so zärtlich küsste. Offenbar interessierte er sich noch immer sehr für sie, mochte er sich den Abend über auch eher mit Bella unterhalten haben. Sie spürte, wie von seinen Lippen flüssiges Glück in sie hineinfloss, und versuchte, jede einzelne Sekunde seines Kusses, so intensiv wie sie konnte, in sich aufzunehmen.

17

Rike hatte gerade den Kuchen aus dem Backofen genommen und auf ein Rost zum Abkühlen gestellt, als es an der Wohnungstür klingelte. Rasch legte sie ihre Topflappen beiseite, um öffnen zu gehen. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte, dass ihre Eltern offenbar gerade angekommen waren, oder ob sie lieber die Hände deswegen ringen sollte. Ihre Schwester hatte am Morgen auf die Ankündigung, dass Mutter und Vater heute zu Besuch kämen, sehr unwirsch

reagiert. „Hätte ich mir ja denken können, dass du dein Plappermaul nicht halten kannst“, hatte sie Rike ziemlich sauer angeschnauzt. Dann hatte sie ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie ihnen am liebsten aus dem Weg gehen wollte, denn Vorwürfe könnte sie zur Zeit einfach nicht ertragen. Rike wusste, dass es unmöglich wäre, vor ihren Eltern davonzulaufen. Ihrer Meinung nach sollte Isabell ihnen also besser ohne Theater entgegentreten. Vielleicht würde es ja gar nicht darauf hinauslaufen, dass ihre Eltern Isabell die Schuld an der gescheiterten Beziehung gaben. Undenkbar war es allerdings nicht, so viel war klar.

„Mutter, Vater, kommt doch rein“, bat Rike, als sie die Tür geöffnet hatte. „Wir wollten euch zum Mittagessen einladen“, bemerkte ihre Mutter, sobald sie in den Flur getreten war. „Es scheint mir also wenig sinnvoll zu sein, wenn wir

uns erst ins Wohnzimmer setzten.“ Das war zwar überraschend gekommen, aber eigentlich war etwas Derartiges zu erwarten gewesen. „Gut, dann sage ich Bella, dass sie sich fertigmachen soll.“ Lange würde das sicher nicht dauern, denn in Erwartung ihrer Eltern hatte sich ihre Schwester schon am Morgen in Schale geschmissen und auch ausgiebig geschminkt.

Es dauerte dann schließlich sogar nur eine Viertelstunde, bis sie im „Dorfkrug“ Platz genommen hatten. Hier arbeitet Rikes bester Freund Felix normalerweise als Koch. Heute jedoch hatte er seinen freien Tag, weshalb sie ihm auf keinen Fall begegnen würden, was vielleicht auch ganz gut war, denn weder hielten ihre Eltern viel von Felix noch konnte dieser ihre Sippschaft leiden.

Bisher hatten sich sowohl ihre Mutter

als auch ihr Vater ausschließlich auf Smalltalk verlegt, was Rike begrüßte. Es schien nämlich ganz vernünftig zu sein, Isabell vorerst noch ein wenig in Ruhe zu lassen. Die zeigte sowieso eine Leichenbittermiene und schien sich nur äußerst widerwillig auf den Restaurantbesuch eingelassen zu haben.

„Ich weiß, du bist inzwischen viel feinere Lokale gewöhnt“, meinte Rike zu ihrer Mutter, denn sie hatte deren recht kritische Blicke, die durch den „Dorfkrug“ gewandert waren, durchaus bemerkt. „Ich habe mich schon damals nie mit diesem Ambiente anfreunden können“, stellte diese ein wenig hochnäsig fest. „Man hätte allerdings vermuten können, dass sich irgendwann mal was verändert. Aber die Zeit bleibt in Ockernried offensichtlich stehen.“ Sie rümpfte die Nase. „Weswegen ich einfach nicht verstehen kann, Friederike, dass du

unbedingt hier wohnen bleiben willst.“ Rike zuckte kaum merklich zusammen. Hatte sie tatsächlich angenommen, dass dieses Thema ausnahmsweise einmal nicht zur Sprache kommen würde, wenn ihre Eltern anrückten? Sie brauchte jedoch nur wenige Sekunden, um ihre Fassung wiederzugewinnen.

„Ach, Mutter, du weißt doch, dass ich mich in Ockernried wohlfühle. Ich brauche keine großen Aufregungen in meinem Leben. Und auf noble Restaurants kann ich ganz gut verzichten. Ich könnte es mir sowieso nicht leisten, dort essen zu gehen. Der 'Dorfkrug' wird wohl immer eine typische Dorfgaststätte bleiben, was ich überhaupt nicht schlimm finde.“ „Wenigstens servieren sie einem vernünftige Portionen“, brummte Rikes Vater. „Das muss man ihnen lassen.“ Rike schmunzelte. Natürlich war es

ihrem Vater wichtig, einen gut gefüllten Teller zu bekommen, ihre Mutter hatte ihn nämlich schon seit längerer Zeit zu Hause auf Diät gesetzt, sodass er jede Gelegenheit nutzte, sich mal ordentlich den Bauch voll zu schlagen.

„Nun, Bella, meinst du nicht, es wäre jetzt endlich an der Zeit, uns zu erklären, was zwischen Simon und dir vorgefallen ist?“, fragte ihre Mutter Bella mit säuselndem Ton. Rike allerdings fiel darauf nicht herein. Ihre Mutter mochte sanft klingen, aber wirklich mitfühlend war diese mit Sicherheit nicht. Isabell hatte bisher nur mürrisch am Tisch gesessen und sich nicht am Gespräch beteiligt. Jetzt blieb ihr jedoch nichts anderes mehr übrig, als zu antworten. „Da gibt es nicht viel zu erklären, er hat sich in eine andere Frau verliebt und meinte, er könne deshalb nicht länger mit mir zusammen sein. Ich

konnte ihn nicht aufhalten, als er seinen Koffer packte und ging.“

Rike hasste es, dass sie ausgerechnet hier im Restaurant über dieses Thema reden mussten. Ganz bestimmt gab es mehr als eine Person im Raum, die mitbekam, worüber sie sprachen. Und ihre Familie war im Ort immer noch bekannt. Die Leute würden also zwangsläufig darüber klatschen, dass Isabell von ihrem Partner verlassen worden war. Ihre Mutter bildete sich zwar viel auf ihre guten Umgangsformen ein, merkte jedoch nicht einmal ansatzweise, dass sie es besser hätte bleiben lassen sollen, Bella in der Öffentlichkeit auszufragen.

„Aber hat er denn gar nicht an sein Kind gedacht? Er kann wohl kaum wollen, dass es ohne eine richtige Familie aufwächst.“ Bella konnte sich nun nicht länger

beherrschen und brach in Tränen aus. Das war zu erwarten gewesen, da ihre Mutter ja unbedingt auf diesem Thema beharren musste. „Hör auf zu heulen“, befahl ihre Mutter sofort. „Davon wird nichts besser.“ Doch Bella war nicht in der Lage, auf Knopfdruck mit dem Weinen aufzuhören. Stattdessen stand sie auf und rannte aus dem Gastraum.

„Meine Güte, was für ein Benehmen“, schimpfte die Mutter. „Ihr geht es im Moment wirklich nicht gut, denn sie liebt Simon schließlich noch. Außerdem hat sie wegen ihrer Schwangerschaft sowieso nah am Wasser gebaut“, versuchte Rike ihre Schwester in Schutz zu nehmen. „Aber es wurden noch niemals Probleme gelöst, indem man einfach davongerannt ist“, beschwerte sich ihre Mutter.

Bella kam zehn Minuten später mit stark geröteten Augen wieder herein und setzte sich wortlos. Ihre Mutter benötigte gerade mal eine Minute, um zur nächsten Attacke auszuholen. „Du solltest mit uns zurück nach Berlin kommen, dort können dein Vater und ich uns am besten um dich kümmern.“ Bella schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall werde ich mit euch gehen. Ich will bei Rike bleiben.“ „Aber du hast nicht richtig darüber nachgedacht, erstens fällst du deiner Schwester zur Last und zweitens ist es von hier aus nur schlecht möglich, ein paar wichtige Dinge mit Simon zu klären.“ Bei der Erwähnung ihres Ex-Partners begannen Bellas Tränen wieder zu kullern. „Ich will ihn nicht sehen. Und irgendetwas mit ihm zu besprechen, ist mir im Augenblick sowieso nicht möglich.“

Rike seufzte stumm. Sie hatte gehofft, dass Bella nachgeben würde, sobald ihre Mutter auftauchte. Sonst hatte sich ihre Schwester deren Wünschen eigentlich immer ohne großen Widerspruch gefügt. Diesmal jedoch schien Bella ihren eigenen Willen durchsetzen zu wollen und das bedeutete, dass sie Isabell weiterhin auf dem Hals haben würde.

„Ist das dein letztes Wort?“ Ihre Mutter klang empört. Sie wollte nur das Beste für ihre jüngste Tochter, warum stellte diese sich dermaßen bockig an? „Ja, Mutter, ich bleibe vorerst in Ockernried.“

Als sie nach dem Mittagessen wieder in Rikes Wohnung angekommen waren, verabschiedete sich Bella schnell und ohne viele Worte von ihren Eltern und verschwand im Bad. Offenbar ging sie davon aus, dass diese gleich das Weite suchen würden.

Rike hingegen lud ihre Eltern halbherzig zum Kaffee ein. Diese schienen sich jedoch einig darin zu sein, dass ein längerer Aufenthalt in Ockernried unnötig sei, da die Mission, Bella nach Hause zu holen, gescheitert war.

„Es ist lieb von dir, uns das anzubieten“, meinte ihre Mutter in einem gnädigen Ton. „Aber uns hält hier nichts mehr. Ich erwarte von dir, dass du deine Schwester zur Vernunft bringst, damit sie schnellstens nach Berlin zurückkehrt.“ Rike schluckte. Sie würde nichts lieber tun als das. Sie wusste nur leider nicht wie. „Isabell wird sich bestimmt in einigen Tagen langweilen und dann beschließen, nach Hause zu fahren.“ „Du musst ihr auf jeden Fall ordentlich ins Gewissen reden.“ Rike nickte. „Also gut, dann belassen wir es

vorerst dabei und telefonieren in ein paar Tagen, sollte sich bis dahin noch kein Fortschritt abgezeichnet haben“, meinte ihre Mutter hoheitsvoll. Daraufhin verließen ihre Eltern die Wohnung und Rike war zwar erleichtert, weil sie sie nun nicht mehr ertragen musste, jedoch auch enttäuscht, weil Bella nicht mit ihnen gefahren war.

18

Das dauernde Gequengel und Genörgel von Bella war schier unerträglich. Vor allem ging es dabei merkwürdigerweise gar nicht darum, dass Simon sie verlassen hatte, was sehr ungerecht war. Nein, Bella nahm wieder und wieder die Worte ihrer Mutter auseinander und empörte sich stets aufs Neue, dass diese über ihr Leben bestimmen wollte, obwohl sie schon seit vielen Jahren erwachsen war. Allmählich reichte es Rike. Sie konnte die Litanei einfach nicht mehr hören.

Erstens wusste sie über das unmögliche Verhalten ihrer Mutter längst Bescheid und zweitens wollte sie einfach nicht andauernd an den Besuch ihrer Eltern erinnert werden. Außerdem fand sie, dass Bella sich langsam lieber Gedanken darüber machen sollte, wie es in ihrem Leben nun weitergehen sollte. Es war schließlich unmöglich, einfach zusammenzubrechen und darauf zu hoffen, dass alles von selbst gut würde. Bella war Anwältin und konnte nicht wochenlang zu Hause bleiben, nur weil es in ihrem Leben einen Schicksalsschlag gegeben hatte. Zumindest wäre eine Trennung kein hinreichender Grund dafür, selbst wenn es schmerzlich war, dass der Vater des Kindes, das man in sich trug, einen verlassen hatte. Ihre Arbeit würde Bella sicher helfen, schneller über Simon hinwegzukommen. Also sollte sie sie schleunigst wieder aufnehmen, dies war jedenfalls Rikes

Meinung.

Bella jedoch hatte Rike erklärt, ihr Hausarzt hätte sie für die nächsten beiden Wochen krankgeschrieben, da sie aufgrund der Schwangerschaft keine weitere Aufregung mehr erleben durfte. Und wenn sie in der Kanzlei von ihrem persönlichen Unglück berichten würde, worum sie nicht herumkäme, bliebe diese nicht aus.

Rike mochte sich gar nicht ausmalen, wie sie es aushalten sollte, wenn Bella diese beiden Wochen komplett hier bei ihr verbringen wollte. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie ihre Schwester noch so lange ertrug. Wenn sie doch nur mit jemandem darüber reden und ihren ganzen Frust und ihre Sorgen abladen könnte. Doch Maria war an diesem Wochenende mit ihrer Familie zu den Schwiegereltern gefahren und Felix hatte sich mit ein

paar Kumpeln auf den Weg zu einem Open-Air-Rockfestival gemacht. Ihre anderen Freundinnen wollte Rike nicht mit ihren Familienangelegenheiten belästigen. Bliebe noch Jakob. Der wusste ohnehin über Bellas Situation Bescheid und würde wahrscheinlich sowieso erfahren wollen, wie der Elternbesuch verlaufen war. Rike beschloss deshalb kurzerhand, einfach bei ihm vorbeizugucken. Es war noch nicht so spät, dass ein Besuch unpassend wäre. Vielleicht hatte sie Glück und träfe ihn an.

Ihre Schwester fiel allerdings aus allen Wolken, als sie diese davon in Kenntnis setzte, sich mit Jakob treffen zu wollen. „Du kannst mich nicht einfach allein lassen“, rief diese entsetzt. „Und warum nicht? Helfen kann ich dir in deinem Kummer sowieso nicht. Und ehrlich gesagt brauche ich

unbedingt noch ein wenig frische Luft.“ „Ich dachte, du bist für mich da“, schmollte Bella. „Habe ich denn nicht den gesamten Nachmittag mit dir verbracht?“, fragte Rike genervt. „Ganz zu schweigen davon, dass ich Mutter und Vater deinetwegen ertragen musste.“ „Ich bin dir also schon jetzt zu viel.“ „Bella, bitte lass mich ohne großes Gezeter gehen. Ich werde nicht lange fort sein, aber ich brauche jetzt auch mal ein paar Minuten nur für mich, okay?“ Bella ließ sie daraufhin ohne ein weiteres Wort stehen und ging in die Küche. Rike überlegte nicht lange und zog sich ihre Jacke über. Es würde bestimmt schon ziemlich frisch draußen sein. Dann verließ sie ihre Wohnung und hatte seit Stunden zum ersten Mal wieder das Gefühl, sie könne durchatmen. Und sie glaubte nun auch, dass ihr Leben schon bald in Ordnung kommen würde.

Ihre Schwester konnte ihr nicht ewig auf die Nerven gehen und verschwände über kurz oder lang.

Jakob wirkte überrascht, als er Rike die Tür öffnete. „Mit dir hatte ich gar nicht gerechnet.“ Er klang jedoch sehr erfreut. „Ich vermutete, deine Eltern und deine Schwester hätten dich in Beschlag genommen.“ Rike schüttelte den Kopf. „Meine Eltern sind schon nach dem Mittagessen gefahren und meine Schwester kaut mir seitdem ein Ohr ab, ich brauchte einfach mal ein bisschen Abstand. Sie fand das zwar nicht so toll, aber schließlich habe ich auch noch ein eigenes Leben.“ „Willst du reinkommen oder hättest du Lust auf einen Abendspaziergang?“, fragte er. Rike überlegte. „Wenn ich ehrlich bin, würde ich lieber noch ein bisschen draußen herumwandern. Ich habe den ganzen Tag nur in der Bude gehockt.“

„Klingt prima, ich habe überhaupt nichts dagegen, mir noch ein wenig die Beine zu vertreten.“

Wenig später liefen die beiden Hand in Hand den Uferweg am See entlang. „Hier ist es wunderschön“, meinte Jakob. „Das stimmt. Es ist so friedlich am Wasser. Und ich mag die Gerüche.“ „Ich habe mich gleich in Ockernried verliebt, als ich diesen See gesehen habe.“ Rike freute sich über diese Bemerkung. Ein Mann, der das liebte, was die Natur zu bieten hatte, konnte nur ein guter sein, oder?

Eine Weile liefen sie stumm nebeneinander her, dann brach Rike schließlich das Schweigen. „Ich wünschte mir, meine Schwester würde so schnell wie möglich wieder aus meinem Leben verschwinden. Aber was soll ich

machen, ich kann sie ja nicht einfach vor die Tür setzen! Und die Hoffnung, dass meine Eltern sie dazu überreden könnten, mit ihnen zu fahren, hat sich leider zerschlagen.“ „Ich hatte deiner Mutter eigentlich mehr Überredungskünste zugetraut.“ Rike nickte. „Es war schon komisch. Sonst bekommt sie immer ihren Willen. Aber Bella hat sich dermaßen stur gezeigt, so kenne ich sie im Umgang mit meiner Mutter gar nicht.“ „Deine Eltern waren sicher nicht erfreut darüber, dass Bella ihren eigenen Willen durchgesetzt hat.“ „Das ist noch harmlos ausgedrückt. Ich glaube, bei beiden hat es unter der Oberfläche vor lauter Wut gebrodelt. Aber sie haben sich ja gut im Griff und hatten ihren Zorn unter Kontrolle. Allerdings war das wohl der Grund, dass sie abgerauscht sind, ohne noch einen Kaffee mit uns zu trinken und meinen selbstgebackenen Kuchen zu probieren.“

„Du warst wahrscheinlich trotzdem froh, dass du sie los warst.“ „Eigentlich schon, es wäre mir nur lieber gewesen, sie hätten Bella eingepackt und mitgenommen.“ Rike seufzte. „Ich wüsste wirklich gern, wie lange ich diese dämliche Situation noch ertragen muss.“ Jakob drückte ihr aufmunternd die Hand. „Das wird wieder, jetzt bloß nicht den Mut verlieren.“ „Ich bin sehr froh, dass ich dir mein Herz ausschütten kann.“ Jakob lächelte. „Und ich genieße es, mit dir zusammen zu sein.“ Dann zog er sie zu sich heran und nahm sie in seine Arme. In Rikes Innerstem zog sich vor freudiger Erwartung alles zusammen. Gleich würde er sie küssen und sie konnte seine samtigen Lippen schon spüren, noch bevor er sie tatsächlich auf ihren Mund gedrückt hatte. Wie gut es ihr tat, von ihm gehalten

zu werden. Sie fühlte sich so sicher und geborgen. Seine Umarmung gab ihr Kraft und Zuversicht. Sie war dankbar und glücklich, dass er für sie da war und sich um sie kümmerte.

19

Am Montagmorgen musste Rike noch immer lächeln, als sie an Jakobs Zärtlichkeiten dachte. Er hatte sie so liebevoll in den Armen gehalten und erst sanft, dann leidenschaftlicher geküsst, sodass Rike sich nun endgültig in ihn verliebt hatte. Es war wunderbar zu wissen, dass es von nun an wieder jemanden in ihrem Leben gäbe, mit dem sie am liebsten die ganze Zeit über zusammen wäre, der sie hielte, der sie tröstete, wenn sie es benötigte, und ihr seine Liebe schenkte.

Jakob und sie verstanden sich wirklich prima und konnten viel miteinander lachen. Rike hatte außerdem das Gefühl, als würde sie ihn schon ewig kennen, so vertraut war er ihr. Am liebsten hätte sie am Morgen sofort zum Telefon gegriffen, um seine Stimme zu hören. Aber das ging selbstverständlich nicht, sie musste sich beherrschen, wenigstens bis zur Mittagspause. Und dann war da ja leider noch immer Bellas Anwesenheit. Rike hatte das dringende Bedürfnis, irgendetwas zu unternehmen, um ihre Schwester zur baldigen Abreise zu bewegen. Ihr fiel nur partout nichts ein.

Als für kurze Zeit keine Kundschaft im Laden war, rief Rike deshalb Maria an. Vielleicht wusste die einen Rat. Meistens hatte diese nämlich irgendwelche Ideen, auf die sie selbst niemals käme.

„Hast du ein schönes Wochenende gehabt?“, fragte Maria fröhlich. Sie freute sich, dass Rike sich mitten am Tag bei ihr gemeldet hatte, das kam nämlich so gut wie nie vor. „Ja und nein“, meinte Rike. „Ich habe gestern Abend einen schönen Spaziergang mit Jakob unternommen und ehrlich gesagt mag ich ihn immer lieber. Aber meine Eltern waren am Samstag wegen Bella da, und du weißt ja, wie sie sind. Leider ließ sich meine Schwester nicht dazu bewegen, mit ihnen nach Berlin zurückzukehren. Deshalb rufe ich an, ich dachte, du wüsstest möglicherweise etwas, wie ich sie wieder loswerde.“ „Ach, du Schreck, so auf die Schnelle fällt mir nichts ein.“ Maria überlegte. „Was hältst du denn davon, wenn wir uns kurz vor zwei bei Felix treffen, die Tagessuppe essen und das Problem dort besprechen?“ „Klingt nach 'nem guten Plan.“

Als sie gegen zwei im „Dorfkrug“ eintrafen, war die Gaststube schon leer. Die Mittagszeit war ja auch beinahe vorüber, aber so hätten sie vielleicht das Glück, dass Felix sich ein paar Minuten zu ihnen setzen konnte. „Ich liebe Spargelcremesuppe“, schwärmte Rike. „Da hast du ja Glück, dass sie die heute als Tagessuppe anbieten.“ „Am Samstag konnte ich sie leider nicht nehmen, meine Mutter hätte mir das Vergnügen sowieso verdorben, weil sie der Meinung ist, dass da mehr Mehlpamps als Spargel drin ist.“ Rike schüttelte den Kopf. „Wir wissen schließlich von Felix, dass es sich ganz und gar nicht so verhält, nicht wahr?“ Maria grinste.

Felix kam aus der Küche zu ihnen, sobald sie den letzten Löffel gegessen hatten. „Hat's euch geschmeckt?“ „Die Suppe war wie immer ein

Gedicht“, meinte Rike schwärmerisch. Er strahlte. „Das freut mich.“

Maria beschloss, keine Zeit zu verlieren und gleich zum Thema zu kommen, das sie seit Rikes Anruf beschäftigte. „Felix, setz dich für fünf Minuten zu uns. Es gibt ein Problem.“ Der schaute seine beiden Freundinnen überrascht an, tat aber, worum Maria ihn gebeten hatte. „Wo brennt's denn?“ „Weiß er das mit Bella überhaupt schon?“, fragte Maria Rike. „Ja, wir haben am Donnerstag kurz telefoniert.“ „Ist sie etwa immer noch da?“, fragte Felix entgeistert. Rike nickte betrübt. „Mutter und Vater haben es nicht geschafft, sie davon zu überzeugen, dass sie bei ihnen weit besser als bei mir aufgehoben ist. Und Bella hat sich so bockig angestellt und sich mit Händen und Füßen gegen

Mutters Forderungen gewehrt.“ „Hat Isabell denn wenigstens angedeutet, wie lange sie deine Gastfreundschaft noch in Anspruch zu nehmen gedenkt?“, erkundigte sich Felix. „Sie hat mir nur mitgeteilt, dass ihr Arzt sie für volle zwei Wochen krankgeschrieben hat, wobei das natürlich nicht unbedingt bedeuten muss, dass sie vorhat, so lange hier zu bleiben.“ „Tsss“, pfiff Felix durch seine Zähne. „Zwei Wochen sind 'ne Ewigkeit, wenn du Bella am Hacken hast.“ „Was soll ich denn bloß machen?“, jammerte Rike. „Ich kann sie doch nicht einfach vor die Tür setzen.“ „Und ob“, fand Maria. „Da wäre ich eiskalt. Stell ihr ein Ultimatum, sag ihr, sie kann nur bis Mittwoch bleiben, dann war sie immerhin eine komplette Woche bei dir, das muss reichen.“ „Ganz so hart kann Rike nicht sein“, widersprach Felix ihr. „Bella ist

immerhin schwanger, da muss man schon etwas mehr Rücksicht nehmen, finde ich.“ „Mein Gott, sie ist nur schwanger, nicht krank. Und außerdem steht sie ja nicht kurz vor der Entbindung. Sie hat ihr Zuhause in Berlin. Je eher sie sich damit beschäftigt, ihr Leben neu zu ordnen, desto besser. Und das kann sie in Ockernried wohl kaum.“

Rike war durchaus Marias Meinung, aber sie wusste auch, dass sie ihrer Schwester kein Ultimatum stellen konnte. Sie käme sich dermaßen herzlos und grausam vor. „Ich weiß nicht, Maria. Auch wenn ich Bella nicht einmal gut leiden kann, ich bringe es nicht übers Herz, sie einfach rauszuschmeißen. Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben, sie auf eine sanftere Art loszuwerden.“

Daraufhin saßen die drei minutenlang

schweigend am Tisch. Jeder dachte intensiv darüber nach, wie man Isabell auf schonende Art und Weise dazu bringen konnte, wieder nach Berlin zurückzugehen.

„Ob es was bringt, mit Simon zu reden?“, schlug Felix schließlich vor. „Wie meinst du das denn? Glaubst du, er überlegt es sich anders und kehrt zu Bella zurück?“ Rike konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. „Das vielleicht nicht. Aber er kann ihr bestimmt klarmachen, dass sie in ihrem schwangeren Zustand in Berlin in der Nähe eurer Eltern besser aufgehoben ist.“ „Das Problem wird nur sein, dass sie ihn gar nicht anhören würde. Sie will nichts mehr von ihm wissen.“ „Was durchaus verständlich ist“, warf Maria ein. „Ich würde den Mann zum Mond schießen, der mich erst schwängert und anschließend einfach

sitzen lässt.“ „Dann muss eben eine neue Liebe her“, entschied Felix. Maria fing an zu lachen. „Und wo willst du hier in Ockernried einen Mann für Isabell herzaubern?“ Rike schüttelte bloß den Kopf. „Isabell ist bestimmt in der Lage, sich schon jetzt wieder zu verlieben. Ich habe ja gesehen, wie sie mit Jakob umgegangen ist. Es hat nicht viel gefehlt und man hätte glauben können, sie flirte mit ihm. Aber deine Idee, Felix, hat einen ziemlichen Haken. Wenn sie in Ockernried eine neue Liebe findet, dann zieht sie womöglich wieder hierher zurück. Und das kann wohl kaum in meinem Sinne sein.“ „So weit hatte ich nicht gedacht“, räumte Felix ein. „Wir können dir da vorerst wohl leider nicht helfen, Rike“, stellte Maria nüchtern fest. „Aber wir bleiben am Ball, sowie uns etwas einfällt, sagen wir dir

Bescheid.“ Felix nickte dazu. Dann mussten sie alle drei leider wieder an die Arbeit.

Rike hatte es gut getan, mit ihren Freunden zusammen zu sein, auch wenn diese keine Lösung für ihr Problem mit Bellas unerwünschter Anwesenheit gefunden hatten. Nach Ladenschluss beschloss sie jedoch, mit ihrer älteren Schwester zu telefonieren. Hier im Geschäft war sie ungestört, Bella konnte nicht mithören. „Rufst du wegen Isabell an?“, fragte Susann prompt, als sie abgenommen hatte. Rike atmete tief durch. Es war typisch für ihre Schwester, mit der Tür ins Haus zu fallen, ohne erst einmal ein paar nette Begrüßungsworte loszuwerden. „Ich dachte, du hättest möglicherweise eine Idee, wie wir ihr helfen können?“

Susann schnaubte. „Tut mir leid, ich habe einen anspruchsvollen Job zu erledigen und dazu noch eine Familie mit drei Kindern zu versorgen. Ich habe weder die Zeit noch die Kraft, die Tränen meiner jüngsten Schwester zu trocknen. Außerdem hat sie ja bei dir Schutz und Halt gesucht, da wird sie meine Hilfe kaum in Anspruch nehmen wollen.“ „Ja, ich verstehe“, meinte Rike resignierend. Das war recht deutlich gewesen, auf ihre ältere Schwester konnte sie nicht zählen, wenn es um Bella ging. Eigentlich hätte sie das wissen müssen, sie kannte den Egoismus Susanns schließlich gut genug. „Dann bis bald mal wieder.“

Rike richtete sich auf und atmete tief durch. Dieses Telefonat hätte sie sich wirklich sparen können, aber wenigstens hatte sie es versucht. Und unterkriegen lassen würde sie sich trotzdem nicht,

irgendwann würde sie Isabell schon wieder loswerden.

20

Jakob beschloss am Dienstagabend, bei Rike vorbeizufahren, immerhin hatte er sie gestern gar nicht gesehen und inzwischen schreckliche Sehnsucht nach ihr, um sie zu fragen, ob sie nicht noch eine kurze Runde mit dem Rad mit ihm drehen wollte. Zwar war es schon Abend, aber es dämmerte noch nicht. Allmählich merkte man, dass der Sommer Einzug ins Land hielt und ihnen damit auch wieder schöne lange Tage bescherte.

Jakob war ein wenig erstaunt, als ihm Bella und nicht Rike die Wohnungstür öffnete, aber vielleicht war Rike ja gerade im Bad. „Jakob, wie schön, komm doch rein, ich kann ein bisschen Gesellschaft gut gebrauchen“, empfing Bella ihn freundlich. Er trat ein, denn er ging noch immer davon aus, dass Rike ihn gleich ebenfalls begrüßen würde. „Du wolltest sicher Rike sehen, aber die ist nach der Arbeit nach Karstow zum Einkaufen gefahren, sie kommt bestimmt erst in einer Stunde oder so zurück“, belehrte ihn Bella jedoch gleich darauf eines Besseren. „Ach so“, meinte er ratlos. „Dann sollte ich besser wieder gehen.“ „Nein, bitte nicht. Warte doch hier auf sie. Ich kann Unterhaltung gebrauchen, denn ich bin schließlich den lieben langen Tag allein in Rikes Wohnung“, bettelte Isabell.

Jakob fühlte sich eigentlich nicht besonders wohl in Bellas Gegenwart, ohne dass noch jemand anders anwesend war, aber er wollte Rikes Schwester auch nicht einfach schnöde vor den Kopf stoßen.

„Möchtest du ein Glas Wein, ich gieße dir eins ein?“, fragte Isabell und zog Jakob sofort mit sich in die Küche. Sie hatte ihre Chance gewittert, als Jakob nicht gleich protestiert und das Weite gesucht hatte. Jakob ergab sich seinem Schicksal und hakte die Radtour innerlich ab, selbst wenn Rike in wenigen Minuten erschiene, hätte sie nach einem derart langen Tag vermutlich gar keine Lust mehr, noch loszufahren. Also konnte er genauso gut ein Glas Wein mit Bella trinken und darauf hoffen, dass Rike bald auftauchte, damit er wenigstens noch ein paar Worte und hoffentlich auch Küsse mit ihr

austauschen konnte.

Bella schien die Situation förmlich zu genießen. Sie lächelte ihn an und zeigte sogar einen recht aufreizenden Augenaufschlag, als sie mit Jakob anstieß. „Darauf, dass du vorbeigekommen bist“, säuselte sie ihm zu. Jakob fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut, aber bestimmt verstand er die Signale nur falsch und Bella flirtete nicht mit ihm. Sie wollte wahrscheinlich bloß nett sein. Außerdem konnte sie sich so kurz nach ihrer zerbrochenen Liebe sicher nicht schon wieder einem anderen Mann zuwenden wollen. Das war in seinen Augen absolut undenkbar.

„Es geht mich ja nichts an, aber meinst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, wenn du Wein trinkst?“, fragte er Bella. „Warum?“ Sie sah irritiert auf ihr

Glas. „Wegen der Schwangerschaft.“ „Ach so“, winkte sie ab. „Ich belasse es bei diesem einen Glas. Du hast selbstverständlich recht, Alkohol ist schädlich fürs Baby. Aber es gibt eben auch in einer Schwangerschaft manchmal Situationen, in denen man nicht auf einen Schluck verzichten mag.“ Jakob sagte nichts weiter dazu, dachte sich jedoch seinen Teil. Er war sich sicher, dass Rike keinen einzigen Tropfen anrühren würde, sobald sie von ihrer Schwangerschaft erführe. Was allerdings Bella anging, nun, er konnte ihr wohl kaum irgendwelche Vorschriften machen.

„Und wie geht es bei dir nun weiter? Hast du schon Pläne geschmiedet?“, fragte Jakob, denn er wollte Rikes Schwester gern ein wenig aus der Reserve locken. Die zog einen Schmollmund. „Ich

kann mich im Moment gar nicht darauf konzentrieren, über irgendetwas Wichtiges nachzudenken. Immer wenn ich es versuche, gebe ich auf, weil es mir nicht gelingt, einen klaren Gedanken zu fassen.“ „Es ist natürlich ein ziemlicher Schlag ins Gesicht, wenn man so schnöde verlassen wird“, gab Jakob zu. „Es kam so unerwartet“, schniefte Bella. „In dem einen Augenblick war noch alles in Ordnung, im nächsten Moment sagt mir Simon, dass er mich nicht mehr liebe.“ „Du musst dich damit trösten, dass er sowieso nicht der richtige Mann für dich war. Welche Frau will schon einen Kerl an ihrer Seite haben, dessen Gefühle so schnell wechseln?“ „Ich will ihn nicht wieder zurück, aber es tut sehr weh, dass ich ihm offenbar so wenig bedeutet habe.“

Jakob kam es ein bisschen so vor, als

wenn Bella eigentlich nur an ihrem angeknacksten Ego litt und sie sich mehr oder weniger bloß gekränkt fühlte, dass sie wegen einer anderen sitzengelassen worden war. Sie schien Simon nicht wirklich zu vermissen. „Du musst jetzt an dein Kind denken. Und an deine Arbeit natürlich auch. Du bist doch eine erfolgreiche Anwältin“, schmeichelte er ihr. Vielleicht konnte er auf diese Weise den Ehrgeiz in Bella wecken und erreichen, dass sie doch anfing daran zu denken, wieder nach Berlin zurückzukehren, um dort zu arbeiten.

Zumindest hatten seine Worte ein Strahlen auf ihr Gesicht gezaubert. „Ich bin selbstverständlich erfolgreich in meinem Beruf“, gab sie zu. „Aber ich wünsche mir trotzdem ein Privatleben, in dem alles rund läuft.“ „Du wirst bald einen anderen Partner finden, du bist sehr hübsch und

intelligent, was will ein Mann mehr.“ „Hör auf mir zu schmeicheln“, verlangte Bella verschämt. „Ich hoffe bloß, dass das Baby kein Grund für einen Mann sein wird, mich abzulehnen.“

Jakob wusste, dass viele Männer sich weigern würden, ein Kind von einem anderen Mann großzuziehen. Die würden sich von Bella fernhalten, sobald sie davon erführen. Aber es gab auch anständige Kerle, die das Kind, das Bella mit in eine Beziehung bringen würde, akzeptieren konnten. „Ich denke, das wird sich alles finden, aber du musst versuchen, wieder auf die Beine zu kommen und mit deinem Leben da weiter zu machen, wo du aufgehört hast, als Simon dich vor vollendete Tatsachen gestellt hat.“

Bella war inzwischen aufgestanden und hatte nach Jakobs Weinglas

gegriffen, sie wollte es offenbar noch einmal füllen. Dann machte sie eine merkwürdige Bewegung nach vorn, wie als ob sie umgeknickt wäre und landete etwas unsanft auf seinem Schoß.

In diesem Moment betrat Rike die Küche, die so leise die Wohnungstür geöffnet hatte, dass die beiden sie nicht gehört hatten. Sie sah Isabell auf Jakobs Schoß sitzen und schnappte nach Luft. „Du lässt nichts anbrennen, was?“, zischte sie ihrer Schwester wütend zu, bevor sie sich umdrehte und den Raum verließ.

Bella sprang sofort wieder auf ihre Beine und lief ihr hinterher. „Es ist nicht so, wie du denkst.“ „Ach, der Klassiker, es ist nicht so wie du denkst“, ahmte Rike die Stimme ihrer Schwester nach. Sie hatte so laut gebrüllt, dass Jakob sie sogar in der Küche hatte hören

können. Wie um alles in der Welt sollte er Rike erklären, was passiert war? Würde sie ihm jemals glauben, dass er gar kein Interesse an Isabell hatte und selbst noch immer sehr verwirrt und bestürzt darüber war, dass diese so plötzlich auf seinem Schoß gelandet war? Er beschloss, ebenfalls zu Rike zu gehen, denn es war ratsam, gleich mit ihr zu reden, bevor sie sich in irgendetwas hineinsteigerte, was nie da gewesen war.

Die Frau, die er liebte, stand mit hochrotem Kopf im Flur und warf ihrer Schwester hasserfüllte Blicke zu. „Ich muss an die Luft“, erklärte sie und verließ die Wohnung. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.

„Ich gehe ihr hinterher und erkläre ihr alles“, meinte Jakob bestürzt zu Bella. „Bleib du lieber hier und ruhe dich aus. Du kannst keine Aufregung gebrauchen.“

Dann ging er ohne weitere Worte.

Rike stand verloren vor der Haustür und blickte in die Ferne. „Hast du Lust noch eine Runde mit dem Rad mit mir zu drehen?“, fragte Jakob sie vorsichtig, denn es fiel ihm nichts Besseres ein, um erst einmal in Kontakt zu ihr zu kommen. Sie sah ihn an und schluckte. Was sie gerade gesehen hatte, musste sie sehr verletzt haben!

„Möchtest du dich nicht lieber um Bella kümmern?“, fragte sie ihn schließlich heiser. „Auf keinen Fall“, erklärte er ihr. „Es gibt eine gute Erklärung für das, was du gesehen hast. Und die möchte ich dir gern geben, wenn du dich ein wenig beruhigt hast. Lass uns erst ein Stück fahren und dann setzen wir uns an den See und unterhalten uns.“ Rike nickte stumm. Sie fühlte sich

elend und es würde ihr nicht besser gehen, wenn sie Jakob jetzt ignorierte.

21

Während sie in einem gemütlichen Tempo zum See hinunter radelten, kam Rike innerlich langsam zur Ruhe. Sie hoffte darauf, dass Jakob ihr eine gute Erklärung geben konnte, warum Bella auf seinem Schoß gesessen hatte. Auf ihre Schwester war sie noch immer mordsmäßig wütend. Dass sie Jakob gegenüber nicht genauso empfand, war merkwürdig. Er hatte doch bestimmt auch seinen Anteil daran, dass Bella ihm so nah gekommen war?

Auf dem Uferweg war nichts los, sodass sie nicht absteigen und die Räder schieben mussten. Sie konnten bis zum Picknickplatz ungehindert durchfahren. Dort hielt Jakob an und schaute fragend zu Rike hinüber. Diese nickte. Der Platz war für ein längeres Gespräch gut geeignet, denn es gab hier ganz bequeme Bänke, auf denen man Platz nehmen konnte. Rike setzte sich einfach und wartete darauf, dass Jakob das Wort ergreifen würde. Den Blick auf den See hinaus fand sie sehr beruhigend und sie hoffte, dass sie sich nicht gleich wieder aufregen würde, sobald sie erfuhr, was vorhin in ihrer Wohnung geschehen war.

„Ich wollte dich spontan zu einer kleinen Radtour einladen, aber du warst nicht zu Hause“, begann Jakob zu erzählen, sobald er sich neben Rike gesetzt hatte. „Eigentlich hatte ich gar nicht vor zu bleiben, aber Bella bettelte

förmlich darum, dass ich ihr Gesellschaft leiste, immerhin sei sie den ganzen Tag allein gewesen. Außerdem meinte sie, ich könne doch auf dich warten. Und ich fand, das sei ein gutes Argument, denn ich wollte dich so gern sehen.“

Rike blieb stumm, sie sah ihn nicht einmal an, was Jakob irritierte, denn er konnte nicht einschätzen, was gerade in ihr vorging. Ob sie ihm glaubte, was er ihr berichtete?

„Mir war ehrlich gesagt trotzdem nicht ganz wohl dabei, mit Bella allein zu sein. Ich bin mir bei ihr nie sicher, ob sie nur nett sein will oder andere Absichten hat. Jedenfalls drückte sie mir ein Glas Wein in die Hand, ich hatte gar keine Chance nein zu sagen und dann saßen wir in der Küche und redeten. Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie nach Berlin zurückgehen sollte, weil sie als Anwältin sicher viel zu tun hat.

Und wenn man erfolgreich ist, kann man sich ja nicht wochenlang verkriechen.“

Jakob überlegte, ob er Rikes Hand nehmen sollte. Er hätte gern körperlichen Kontakt zu ihr hergestellt. Doch er entschied sich dagegen. Er musste erst wissen, wie sie seine Schilderung aufnahm.

„Ich weiß eigentlich gar nicht genau, wie es passiert ist. Aber Bella war aufgestanden und griff nach meinem Glas, um es erneut zu füllen. Dann muss sie umgeknickt sein oder vielleicht gestolpert und landete plötzlich auf meinem Schoß. Ich hatte selbst noch nicht einmal begriffen, was passiert war, als du schon in der Küchentür standest.“ Jakob hörte auf zu reden, weil er ohnehin nicht wusste, was er sonst noch hätte sagen können. Er hoffte nur, dass Rike ihm keine Schuld an dem gab, was in der Küche geschehen war.

Rike sagte nichts, spielte dafür jedoch nervös mit dem Saum ihres Shirts. Man konnte ihrem Gesicht nicht ablesen, was sie fühlte. Vermutlich überlegte sie, ob sie Jakobs Aussage Glauben schenken sollte.

„Meine Schwester ist bestimmt nicht ganz zufällig auf deinem Schoß gelandet, obwohl sie etwas anderes behaupten wird“, meinte sie schließlich leise. „Das kann ich dir nicht sagen, vielleicht hat sie es so geplant, aber ich würde meine Hand diesbezüglich nicht dafür ins Feuer legen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich mich zu Bella nicht hingezogen fühle, was auch immer ihre Absichten sein mögen.“ „Komischerweise glaube ich dir das sogar. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du mit ihr rummachen wolltest.“ „Dann bist du also nicht böse auf mich?“

Rike sah ihn an. „Nein, eigentlich nicht. Was soll ich dir vorwerfen? Dass du meine Schwester für einen guten Menschen hältst, obwohl sie ein durchtriebenes, falsches Luder ist, das sich einen Dreck darum schert, dass ich mich in dich verliebt habe?“ Sie sah sehr traurig aus. „Ich verspreche dir, dass ich mich künftig von ihr fernhalten werde. Es wäre besser gewesen, ich hätte schon im Vorfeld auf mein Bauchgefühl gehört“, versprach Jakob. Dann nahm er endlich Rikes Hand und streichelte sie sanft. „Ich möchte einfach glauben, dass du sie nicht irgendwie ermutigt hast, aber natürlich bin ich mir da trotzdem etwas unsicher, so gut kenne ich dich schließlich noch nicht“, gab Rike zu. „Das kann ich voll und ganz verstehen. Woher willst du auch wissen, dass ich zu den Männern gehöre, die absolut treu sind, wenn sie in einer Beziehung stecken? Ich kann dich nur

darum bitten, mir zu vertrauen.“ Rike nickte. „Bisher hast du mich noch nicht enttäuscht. Und ich kenne meine Schwester gut genug, um zu ahnen, dass dieser plumpe Annäherungsversuch sehr wahrscheinlich ausschließlich auf ihr Konto geht.“ „Hundertprozentig.“

Rike seufzte. Sie war nicht enttäuscht von Jakob, aber sie hätte sich trotzdem gewünscht, diese Episode wäre ihr erspart geblieben. „Wie werde ich meine Schwester bloß los?“ „Sag ihr, sie könne nur noch bis Sonntag bleiben“, schlug Jakob vor. „Sie wird mir die Ohren vollheulen, dass sie es noch nicht schafft, nach Berlin zurückzugehen.“ „Aber sie kann nicht von dir erwarten, dass du ihr ewig einen Unterschlupf zur Verfügung stellst.“ „Sie denkt an sich, nicht an mich.“

Jakob runzelte die Stirn. „Vielleicht solltest du dir im Umgang mit ihr ebenfalls mal eine gesunde Portion Egoismus zulegen!“ Rike stöhnte. „Das sagst du so leicht. Ich bin eben jemand, der keinen Streit will. Und wenn ich sie rausschmeiße, wird sie Zeter und Mordio schreien.“ „Dazu hat sie kein Recht“, fand Jakob. „Ich käme mir so gemein vor, wenn ich ihr die Pistole auf die Brust setzte.“ „Glaubst du denn, sie wird von allein darauf kommen, dass sie in Ockernried nicht länger erwünscht ist?“ Rike zuckte ratlos mit den Schultern. „Irgendwann muss sie doch in ihr altes Leben zurückkehren.“ „Das könnte in einer Woche sein oder in einem Monat.“ „So lange halte ich es mit ihr nicht aus, auf keinen Fall.“ Jakob streichelte liebevoll mit seinen Fingern über Rikes Wange. „Dann

solltest du endlich etwas unternehmen“, meinte er sanft. „Soll sie wütend werden, na und?“

Rike lächelte. Es tat so gut, Jakob neben sich zu haben. Das allein gab ihr schon viel Kraft. Sie beugte sich ein wenig zu ihm hinüber und hoffte, er würde sie küssen. Jakob begriff sofort, was sie von ihm wollte, und hatte absolut nichts dagegen. Schließlich hatte er sich seit vorgestern danach gesehnt, sie endlich wieder in seinen Armen zu halten. „Du wirst sehen, es kommt alles wieder in Ordnung, das verspreche ich dir“, flüsterte er ihr noch leise zu, bevor er sich dann ausgiebig ihrem Mund widmete.

22

Am Dienstagabend sprach Rike nicht mehr mit Bella, als sie nach Hause kam. Sie hörte sich nur angewidert deren gestammelte Erklärung an, sie sei so blöd umgeknickt, dass sie auf Jakobs Schoß gelandet war. Rike hatte hierzu nur genickt und war ohne einen Kommentar ins Bett gegangen. Es brachte ohnehin nichts, Bella etwas zu unterstellen, was sie nicht beweisen konnte. Vielleicht wäre es klug gewesen, Bella sofort das Ultimatum wegen des

Auszugs zu stellen, doch irgendwie hatte Rike an diesem Abend nicht mehr die nötige emotionale Kraft dafür aufgebracht. Rike verschob die große Aussprache, denn es würde eine werden, da war sie sich ganz sicher, auf den nächsten Tag. Dann musste sie allerdings Nägel mit Köpfen machen, denn so konnte es nicht weitergehen.

Am Mittwoch suchte Rike Trost bei Maria, bevor sie sich an die schwierige Aufgabe machen würde, Bella mit dem Ende ihrer Geduld zu konfrontieren. „Ich bin entsetzt“, erklärte Maria, nachdem Rike ihr die Ereignisse des letzten Abends geschildert hatte. „Sie hat sich Jakob an den Hals geworfen? Ich kann nicht glauben, dass sie so fies sein kann.“ „Sie selbst beteuert natürlich, es sei nicht so gewesen. Ein Stolperer führte dazu, dass sie auf ihm landete.“

„Das klingt sehr unwahrscheinlich. Aber möglich wäre es natürlich, weshalb du kaum etwas anderes behaupten kannst.“ „Ich denke mir meinen Teil.“ „Nun wirst du sie aber endlich rauswerfen, oder?“ „Deshalb rufe ich an“, meinte Rike kleinlaut. „Jakob und ich haben darüber gesprochen, ich soll ihr sagen, dass sie allerhöchstens noch bis Sonntag bleiben kann. Und ich hatte gehofft, du sprichst mir vor diesem schwierigen Gespräch noch etwas Mut zu.“ „Du musst dir endlich ein Herz fassen, Kleines. Du tust nichts Unrechtes. Deine Schwester kann nicht erwarten, dass sie ewig bei dir wohnen darf und nach einem solchen Vorfall wie dem gestrigen, muss sie einsehen, dass du die Nase von ihr voll hast.“ „Die sieht nie etwas ein.“ „Dann eben nicht“, schimpfte Maria. „Soll sie doch wüten und schimpfen.

Hauptsache, sie packt ihre Sachen und lässt dich endlich in Ruhe.“ „Mir graut es trotzdem vor der Konfrontation.“ Maria stöhnte. „Du bist einfach zu gut für . Natürlich ist es unangenehm, Tacheles zu reden, aber wer das eine will, muss das andere mögen. Du musst da jetzt durch, wenn du endlich wieder deinen Frieden haben willst.“ „Ich kann dich ja anrufen, wenn ich jemanden brauche, der mich tröstet, wenn ich es hinter mir habe, oder?“ „Selbstverständlich. Noch besser, komm vorbei, wenn du anschließend allzu deprimiert bist.“ „Gut, dann will ich tapfer sein. Oh, ich hasse solche Auseinandersetzungen.“

Rike klopfte das Herz bis zum Hals, als sie am Abend ihre Wohnung betrat. Es brachte nichts, das Gespräch mit Bella länger hinauszuschieben.

„Wir müssen reden“, meinte sie deshalb auch ohne Umschweife zu ihrer Schwester, als sie das Wohnzimmer betreten hatte, das schon wieder aussah wie ein Saustall.

Bella lag bei Rikes Eintreten auf der Couch. Tat sie eigentlich den ganzen Tag über nichts anderes, als hier herumzulümmeln? Nach Rikes Ansage setzte sie sich allerdings überrascht auf. „Ich habe dir gesagt, dass ich nur gestolpert bin“, verteidigte sie sich sofort, als ahnte sie, dass Rike ihr nun doch noch Vorwürfe wegen des gestrigen Vorfalls machen würde. „Es fällt mir schwer, das zu glauben“, meinte Rike ernst. „Aber das ist nur ein Grund, warum ich es nicht länger ertrage, mit dir gemeinsam in einer Wohnung zu leben. Dieser ganze Zustand muss ein Ende haben.“ Sie machte eine weitgreifende Geste und deutete auf die Unordnung im Raum.

„Ich habe dir in den ersten schweren Tagen nach der Trennung Asyl gewährt, aber nun ist es an der Zeit, dass du wieder gehst. Ich möchte dich nicht länger als bis Sonntag hier haben. Meine Geduld ist am Ende.“

Isabell starrte sie ungläubig an. Offenbar hatte sie mit einer solchen Forderung gar nicht gerechnet. „Du wirfst mich raus?“ „So würde ich es nicht bezeichnen.“ Rike schüttelte den Kopf. „Aber es ist an der Zeit, dass du dein Leben wieder aufnimmst. Und das bedeutet ja wohl, dass du nach Berlin zurückgehen musst. Außerdem will ich mein eigenes Leben wiederhaben, das sich mehr als fremd anfühlt, seit du hier eingezogen bist.“ „Du schmeißt mich wirklich raus!“, erklärte Isabell tragisch. „Wie konnte ich auch erwarten, dass du Verständnis für meine Situation aufbringst?“ „Das habe ich getan, nur wünsche ich

mir das Gleiche von dir.“ Isabell kniff die Augen zusammen. „Ich verstehe dich nicht. Dir geht es gut, du lebst glücklich und zufrieden und hast einen Mann, der dich liebt. Du bist weder schwanger noch gerade verlassen worden, wofür soll ich also Verständnis haben?“

Allmählich reichte es Rike. „Du denkst doch immer nur, alle Leute wären bloß für dich da. Du bist natürlich die Einzige, der es schlecht geht. Alles muss sich deshalb um dich drehen. Ob ich es gut finde, dass du einfach in mein Leben eingedrungen bist, kümmert dich nicht die Bohne. Aber ich will dein Geheule nicht länger ertragen, von dem Dreck, den ich hier Abend für Abend vorfinde, ganz zu schweigen. Und außerdem möchte ich mir sicher sein, dass du dich Jakob nicht wieder an den Hals wirfst, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Und das passiert ganz gewiss nicht, wenn

du in Berlin lebst.“

Bella begann nun zu heulen. Vielleicht dachte sie, dass die Tränen Rike noch umstimmen konnten. „Schick mich nicht einfach weg, ich ertrage es nicht, von hier fort zu müssen. Bitte.“ Rike war inzwischen jedoch schon so aufgebracht, dass sie sich nicht von den kummervollen Blicken ihrer Schwester einwickeln ließ. „Du kannst noch bis zum Sonntag bleiben, dann ist endgültig Schluss.“ Bella schluchzte laut auf. „Nein, dann gehe ich gleich. Wenn du mich nicht länger ertragen kannst, muss ich meine Sachen packen. Offenbar bin ich eine derartige Zumutung für dich, dass du keinen anderen Ausweg weißt, als mich vor die Tür zu setzen.“

Rike biss sich auf die Lippen. Beinahe hätte sie Bella davon abgehalten, ihre Siebensachen zusammenzusuchen und

sie gebeten, sich heute Abend nicht mehr auf den Weg zu machen. Dabei war es doch eigentlich das, was sie sich seit Tagen inständig wünschte. Rike zwang sich dazu, hart zu bleiben. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie kam sich sehr grausam vor, weil sie ihrer Schwester Paroli geboten hatte.

„Ich werde dich nie wieder wegen irgendetwas behelligen“, warf Bella ihr wenig später an den Kopf, bevor sie mit ihrem Koffer die Wohnung verließ. Als die Tür ins Schloss gefallen war, kullerten auch bei Rike ein paar Tränen. Sicherlich musste sie nur weinen, weil die schreckliche Anspannung nun endlich weg war. Sie beschloss, gegen das mulmige Gefühl in ihrem Bauch vorzugehen, sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil Bella so spät noch nach Berlin aufgebrochen war, indem sie das Wohnzimmer aufräumte. Wenn erst alle Spuren, die

Bella hier hinterlassen hatte, beseitigt wären, würde sie sich bestimmt besser fühlen.

Aber selbst nachdem das Wohnzimmer wieder tipptopp aussah, fühlte sich Rike sehr angeschlagen. Eigentlich hatte sie ja gedacht, es sei am hilfreichsten für sie, nach der Auseinandersetzung zu Maria zu fahren, um sich von ihr trösten zu lassen. Nun bemerkte sie allerdings überrascht, dass sie sich eher nach Jakobs Anwesenheit sehnte. Wie hatte er es nur geschafft, in der kurzen Zeit, in der sie sich kannten, einen derart großen Platz in ihrem Herzen zu erobern?

Jakob brauchte nach ihrem Anruf gerade mal fünf Minuten, um bei Rike zu sein. „Sie ist wirklich weg?“, fragte er ungläubig. „Ja“, lächelte Rike. „Man kann es sich kaum vorstellen, oder?“

„Donnerwetter. Ich hätte nicht vermutet, dass sie so reagiert. Eher hätte ich geglaubt, dass Bella es bis zum Schluss aussitzt und darauf hofft, dass du die Frist bis zu ihrem Auszug verlängerst.“ „Sie war wütend und trotzig und dachte sich wahrscheinlich, sie wird's mir zeigen.“ Rike seufzte. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil sie so spät noch los ist. Hoffentlich fährt sie vorsichtig, sie war ja ziemlich erregt.“ „Es ist doch noch hell draußen, die Uhrzeit ist also eigentlich nicht von Belang. Und wenn sie erstmal auf der Autobahn ist, muss sie sowieso nur schnurgeradeaus fahren. Was soll ihr da schon passieren?“ Rike nickte. „Hast recht. Ich gehe nur nicht gern im Streit auseinander, mit niemandem, nicht einmal mit meiner ungeliebten Schwester.“ „Ich habe da eine gute Idee, wie ich dich wieder auf andere Gedanken

bringen kann“, meinte Jakob daraufhin und lächelte. Rike wusste ganz genau, worauf er anspielte, und war mehr als froh, dass er gekommen war.

23

Rike sprang alarmiert auf, als es ganz plötzlich an der Tür klingelte. „Bella ist zurückgekommen, ich wusste doch, dass sie sich nicht einfach so verzieht.“ Jakob sah sie besorgt an. Er war sich so sicher gewesen, dass Isabell tatsächlich abgereist war. Aber Rike kannte ihre Schwester natürlich besser als er.

Als Rike jedoch die Tür öffnete, erlebte sie eine Überraschung und wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert

war. Es standen nämlich zwei Polizisten vor ihr. Die Angst legte sich wie eine erdrückende Klammer um ihr Herz. „Geht es um meine Schwester?“ „Sind Sie Friederike Gebauer?“, erkundigte sich einer der Polizeibeamten. „Ja.“ „Mein Name ist Ralf Scholz. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Schwester vorhin einen Autounfall hatte.“ „Mein Gott, ist sie ...“ „Sie wurde dabei verletzt und ins Krankenhaus nach Karstow gebracht. Da Sie noch in der Lage war, uns Ihren Namen und Ihre Adresse zu nennen, können wir Sie jetzt unverzüglich davon in Kenntnis setzen.“ Rike nickte wortlos und versuchte zu begreifen, was sie gehört hatte. „Sie werden im Krankenhaus genauere Informationen über den Zustand Ihrer Schwester erhalten.“ „Ja, natürlich.“

Rike war noch immer benommen, nachdem sich die Polizisten verabschiedet hatten und gegangen waren. Jakob kam auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Da der Polizeibeamte so laut gesprochen hatte, war es unvermeidlich gewesen, alles mitzuhören. „Warum nur habe ich sie weggeschickt?“, flüsterte Rike mit erstickter Stimme. „Hätte ich das nicht getan, wäre nichts passiert.“ „Es bringt nichts, sich jetzt Vorwürfe deshalb zu machen. Du hast nichts Unrechtes getan. Lass uns ins Krankenhaus fahren, du willst sicher wissen, wie es Bella geht.“ „Ich hoffe so sehr, dass sie nicht schlimm verletzt ist.“

Während der kurzen Fahrt nach Karstow hatten die beiden kaum miteinander gesprochen. Jakob konnte verstehen, dass Rike lieber ihren

Gedanken nachhängen wollte. Sie mochte ihrer Schwester nicht besonders nahestehen, aber es handelte sich dennoch um eine Familienangehörige, der etwas Schlimmes zugestoßen war. Selbstverständlich machte sie sich deshalb Sorgen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie herausgefunden hatten, dass Bella gerade operiert wurde und sie vorerst nicht viel in Erfahrung bringen konnten. Sobald die Operation überstanden wäre, käme ein Arzt zu ihnen und würde ihnen mitteilen, welche Verletzungen ihre Schwester davongetragen hatte und wie es ihr jetzt ging.

Rike lief im Warteraum ruhelos auf und ab. Wie sollte sie diese schreckliche Situation nur ertragen? Jakob hatte sich gesetzt und sah ihr zu. Er wusste, dass er im Augenblick

nichts sagen konnte, was Rike die Sorgen nehmen würde.

Nach einer Weile setzte sich Rike dann aber doch neben ihn. „Ich hasse es, warten zu müssen.“ Jakob nahm ihre Hand. „Auch das geht vorüber. Vielleicht hat es deine Schwester gar nicht so schlimm erwischt.“ „Meinst du? Aber sie wird operiert.“ „Schon, aber das muss nicht heißen, dass sie um ihr Leben ringt.“ Rike schnappte nach Luft. Auf die Idee, dass es um Leben und Tod gehen könnte, war sie noch gar nicht gekommen. Sie konnte sich gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn Isabell sterben würde. Nein, das war vollkommen ausgeschlossen.

„Sie wird mich hassen, weil sie den Unfall hatte, nachdem ich sie fortgeschickt habe.“

„Isabell mochte dich davor auch nicht besonders gern, was macht das jetzt also für einen Unterschied?“ „Ich fühle mich zwar schuldig“, seufzte Rike, „aber trotzdem könnte ich es nicht ertragen, wenn sie mich für den Unfall verantwortlich machte.“ „Das kann sie gar nicht tun. Sie hat am Steuer gesessen. Und sie hat auch die Entscheidung getroffen, heute Abend noch nach Berlin aufzubrechen.“ „Trotzdem bin ich der Auslöser für ihren überstürzten Aufbruch gewesen.“ „Es bringt nichts, wenn du dir deshalb Vorwürfe machst.“ Rike lehnte sich leicht an Jakobs Schulter. „Ich bin so froh, dass du mir Gesellschaft leistet. Allein würde ich es nicht durchstehen, auf den Arzt zu warten.“ „Das würdest du schaffen, du bist eine starke Frau. Aber ich kann wirklich verstehen, dass du in so einer Situation am liebsten nicht allein sein möchtest.“

Eine Stunde später hatte sich noch immer nichts getan und die beiden saßen müde im Wartezimmer. Mittlerweile war es schon recht spät geworden und unter normalen Umständen wären sie längst im Bett gewesen und hätten geschlafen. „Nun kann es nicht mehr lange dauern“, meinte Jakob. „Meinst du?“ „Ich habe natürlich absolut keine Ahnung. Aber ich hoffe eigentlich, dass bald jemand kommt und uns Bescheid sagt, wie es deiner Schwester geht.“ „Jetzt ist es auf jeden Fall zu spät, noch bei meinen Eltern anzurufen“, meinte Rike, die sich davor fürchtete, schlimme Nachrichten überbringen zu müssen. „Bist du dir da sicher? Ich kann mir gut vorstellen, dass deine Mutter einen Anfall bekommt, wenn du sie erst morgen früh darüber informierst, was vorgefallen ist.“ „Ob sie heute Nacht um zwei erfährt,

wie es Bella geht, oder erst morgen früh um sieben, macht doch keinen Unterschied. Vater und sie werden sowieso nicht mitten in der Nacht aufbrechen, um so schnell wie möglich nach meiner Schwester zu sehen.“ „Du kennst sie besser als ich, aber ich hätte gedacht, dass du sie über so etwas wie einen Unfall besser sofort informieren solltest.“ Bella seufzte. „Ich hätte vorhin schon anrufen können. Vielleicht wäre das besser gewesen als abzuwarten. Aber was hätte ich denn sagen sollen? Wir wissen noch gar nichts über Bellas Zustand.“ „Natürlich kann man so einen Anruf leichter tätigen, wenn man gleich verkünden kann, ihr müsst keine Angst haben, sie hat die Operation recht gut überstanden und wird wieder völlig gesund.“ Rike nickte. Sie wünschte sich im Moment nichts sehnlicher, als dass sie diese Worte ihren Eltern gegenüber

benutzen könnte, wenn sie sie schließlich anriefe.

24

Rike blickte auf, als ihre Mutter aus dem Krankenzimmer kam. Es durfte immer nur jeweils ein Besucher zu ihrer Schwester, die zwar ansprechbar, von der Operation jedoch noch sehr geschwächt war. Sie selbst hatte kurz mit Bella gesprochen, nachdem diese heute Morgen aus der Narkose erwacht war. Sie war sehr erleichtert gewesen, dass ihre Schwester ihr wegen des Unfalls keine Vorwürfe machte, hatte aber trotzdem das Gefühl gehabt, dass Bella

sie nicht unbedingt bei sich haben wollte, weshalb sie sie sehr schnell wieder verlassen hatte. Nun war ihr Vater an der Reihe, seiner jüngsten Tochter einen kurzen Besuch abzustatten. Er nickte seiner Frau zu und ging durch die Tür.

„Du hättest uns unverzüglich benachrichtigen sollen, als der Unfall passiert war. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn Bella die Operation nicht überstanden hätte“, beschwerte sich ihre Mutter sofort, als sie neben Rike Platz genommen hatte. „Es war bereits mitten in der Nacht, als wir hier endlich erfahren haben, wie stark verletzt sie war und weswegen sie operiert werden musste. Und ihr hättet auch nichts weiter tun können, als dazusitzen und zu warten. Sie war doch unmittelbar nach der Operation noch gar nicht ansprechbar“, verteidigte sich Rike.

Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht und war daher völlig übermüdet. Deshalb hatte sie auch überhaupt keine Lust, mit ihrer Mutter über irgendwelche Dinge zu diskutieren.

Nachdem sie in der Nacht die Nachricht von Bellas gut überstandener Operation erhalten hatten, waren Jakob und sie wieder zurück nach Ockernried gefahren, denn es war unmöglich gewesen, ihre Schwester zu besuchen, die noch narkotisiert war und im Aufwachraum lag. Sie hatten erfahren, dass Bella durch den heftigen Aufprall, sie war auf der Landstraße gegen einen Baum gefahren, eine Fehlgeburt gehabt hatte. Außerdem waren ein Arm und ein Bein gebrochen gewesen. Beim Arm hatte ein Gips zur Behandlung gereicht, aber beim Bein war wegen der komplizierten Verletzung eine Operation unvermeidlich gewesen. Bella würde jedoch wieder ganz

gesund werden, was eine große Erleichterung für Rike darstellte. Dennoch würde der Verlust des Babys Isabell natürlich sehr treffen, vielleicht sogar aus der Bahn werfen. Und sie war wegen Simon ja ohnehin schon in einem ziemlich labilen psychischen Zustand. Rike hatte sich jedenfalls wegen all der Vorwürfe, die sie sich selbst wegen Bellas Unfall machte, die ganze restliche Nacht über nur in ihrem Bett hin und her gewälzt und keinen Schlaf gefunden.

„Ich kann einfach nicht begreifen, wie du sie nach eurem Streit hast gehen lassen können. Sie muss so durcheinander gewesen sein, dass sie nicht konzentriert fahren konnte.“ Rike biss sich auf die Lippen. Ihre Mutter musste die Vorwürfe, die sie sich selbst ohnehin schon machte, nicht noch verstärken. „Wir haben uns nicht gestritten und ich habe von Bella auch nicht verlangt, dass sie noch am selben

Abend meine Wohnung verlässt. Sie war allerdings der Meinung, dass sie auf der Stelle nach Berlin zurückfahren müsse. Ich hätte sie nicht aufhalten können.“ War das jedoch wirklich wahr? Hätte sie Bella tatsächlich nicht daran hindern können, so überstürzt aufzubrechen? Wenn sie sich darum bemüht hätte, Bella den überstürzten Aufbruch auszureden, wäre der Autounfall bestimmt vermeidbar gewesen, aber das konnte sie ihrer Mutter nie und nimmer sagen. „Du hättest sie davon abbringen müssen, loszufahren, sie war nach eurer Auseinandersetzung viel zu erregt“, beharrte ihre Mutter auf ihrer Meinung.

In diesem Augenblick trat zum Glück Jakob in den Warteraum und beendete vorerst das Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Er hatte Rike versprochen, so schnell er konnte, wieder zu ihr ins Krankenhaus zu eilen, aber selbstverständlich hatte er seiner Arbeit

heute nicht komplett fernbleiben können.

„Es hat geklappt, ich habe den Nachmittag ausnahmsweise frei bekommen“, rief er froh, als er herangekommen war. „Mein Chef hatte Verständnis dafür, dass du ein wenig seelische und moralische Unterstützung brauchst.“ Dann begrüßte er Rikes Mutter. Die gab Jakob zwar die Hand, richtete sich aber gleich darauf an ihre Tochter. „Du hast mir nicht einmal erzählt, dass ihr inzwischen ein Paar seid“, zeterte sie prompt los. „In dem ganzen Drama um Bellas Trennung von Simon war das nicht so wichtig, Mutter. Du hättest schon noch davon erfahren.“ Die schnaubte. „Wahrscheinlich am Sankt Nimmerleinstag.“ „Wie hat Bella es eigentlich aufgenommen, dass sie das Baby

verloren hat?“, wechselte Rike geschickt das Thema, denn sie hatte keine Lust, weiter mit ihrer Mutter über ihre angeblichen Versäumnisse zu reden. „Mit mir wollte sie nicht darüber reden.“ „Ich glaube, sie ist einfach froh, dass sie den Unfall überlebt hat und alles in allem glimpflich davongekommen ist.“ „Du meinst, sie nimmt den Verlust des Babys gar nicht so schwer?“, fragte Rike ungläubig. „Isabell machte einen sehr gefassten Eindruck auf mich, aber ich kann mir vorstellen, dass sie den Verlust erst richtig empfindet, wenn sie sich wieder erholt hat.“ Rike runzelte die Stirn. Ihr kam die Reaktion ihrer Schwester unnatürlich vor. Sie selbst hätte Rotz und Wasser geheult, wenn sie ein Baby vor dessen Geburt verloren hätte. „Das wäre denkbar“, sagte sie dennoch. „Mich hat der Verlust meines Enkelkindes dagegen bis ins Mark

getroffen. Und daran gebe ich vor allem dir die Schuld“, erklärte ihre Mutter grimmig. Rike schluckte. Sie musste ihre Tränen zurückhalten. Warum nur konnte ihre Mutter sie nicht in Frieden lassen? Jakob allerdings sprang ihr bei. Er sah nicht ein, dass Rike immer für alles büßen sollte. „Das können Sie nicht tun. Immerhin ist Bella eine erwachsene Frau und als solche hat sie die Entscheidung getroffen, noch am Abend nach Hause zu fahren. Sie hat den Unfall gebaut, nicht Rike.“ Die Mutter sah ihn finster an. „Das sehen Sie vielleicht so. Aber Rike hätte ihre Schwester daran hindern sollen, einfach loszufahren. Das hat sie nicht getan und das kreide ich ihr selbstverständlich an.“ „Da du dieser Meinung bist, brauche ich ohnehin nichts mehr zu meiner Verteidigung vorzubringen.“ Rike stand auf. Sie wusste, dass es sinnlos war, mit

ihrer Mutter zu diskutieren. Dann sah sie Jakob an. „Ich denke, ich fahre jetzt nach Hause und lege mich ein bisschen hin. Bella hat deutlich gemacht, dass sie die Besuchszeit lieber mit meinen Eltern verbringen will. Und ich muss dringend etwas Schlaf nachholen.“ Sie verabschiedete sich kurz angebunden von ihrer Mutter und wandte sich zum Gehen. Jakob folgte ihr selbstverständlich.

Als sie das Krankenhaus verlassen hatten und in Jakobs Auto eingestiegen waren, brach Rike in Tränen aus. „Brauchst du ein Taschentuch?“, fragte Jakob mitfühlend. „Im Handschuhfach müsste eine Packung liegen.“ „Nein, danke“, schniefte Rike. „Ich habe eins dabei.“ „Nimm dir bloß nicht zu Herzen, was deine Mutter gesagt hat.“ „Weshalb muss sie immer so gemein

sein? Und warum kann ich mir nicht endlich mal ein dickes Fell zulegen und ihre dummen Bemerkungen einfach abschütteln?“, platzte es aus Rike heraus. „Sie behandelt dich wirklich mies, das muss ich sagen. Aber ich denke, du nimmst es hin, weil sie eben deine Mutter ist. Und ihre Kränkungen treffen dich besonders hart, weil du dir wünschst, dass sie dich liebt und nicht ständig kritisiert.“ „Ich weiß nicht, was ich von meiner Mutter erwarte“, erklärte Rike tonlos. „Aber irgendwie scheine ich die Hoffnung nie aufgegeben zu haben, dass sie sich mir gegenüber eines Tages normal verhält und mich nicht mehr stets und ständig niedermacht.“ „Auf jeden Fall ist es dir nicht egal, was sie zu dir sagt und auch nicht, wie sie über dich denkt, sonst hättest du den Kontakt zu ihr längst abgebrochen.“ „Vermutlich.“ „Ich denke, du solltest dich jetzt

erstmal hinlegen und ein paar Stunden schlafen. Danach sieht die Welt gleich wieder freundlicher aus.“ „Würdest du bei mir bleiben, während ich schlafe?“ Jakob lächelte. „Gern. Ich kann es mir ja auf deiner Couch bequem machen.“

25

Drei Wochen später war Rike mehr als froh darüber, dass seit einiger Zeit endlich wieder der normale Alltag in ihrem Leben eingekehrt war. Bellas Krankenhausaufenthalt hatte sich glücklicherweise nicht sehr lange hingezogen. Und da ihre Schwester sich nun nicht mehr länger sträubte, von den Eltern mit nach Berlin genommen zu werden, war Rike sie endgültig losgeworden. Für einen kurzen Augenblick hatte Rike nämlich befürchten müssen, Bella würde

es sich noch einmal anders überlegen, denn diese deutete an, die nötige Ruhe zur Genesung fände sie am wahrscheinlichsten in Ockernried. Doch dann musste sich Isabell daran erinnert haben, dass sie hier nicht länger willkommen war, und kam schnell wieder von dem Gedanken des Bleibens ab.

Mit ihren Eltern hatte Rike nicht sehr viel Zeit verbringen müssen. Diese hatten sich für die Dauer von Bellas Krankenhausaufenthalt ein Hotelzimmer in Karstow genommen und waren gar nicht nach Ockernried gekommen. Nur im Krankenhaus waren sie wenige Male aufeinandergetroffen und Rike hatte zugesehen, dass sich ihre Begegnungen nicht zu lange ausdehnten und dann bloß wieder zu Vorhaltungen ihr gegenüber führten.

Bella hatte die Fehlgeburt locker

weggesteckt und das kam in Rikes Augen einer gewissen Kaltschnäuzigkeit gleich. Ihre Schwester hatte ihre Gleichgültigkeit damit erklärt, dass das Kind von Simon gewesen sei. Und da sie nicht mehr mit ihm zusammen sei, was sollte sie dann mit seinem Baby? Auf der rationalen Ebene mochte Bella sogar recht haben. Dennoch bezweifelte Rike, dass ihr selbst eine solche Argumentation in den Sinn gekommen wäre, hätte sie ähnliches durchlebt.

Dass Bella so schnell gesundete, trug jedoch dazu bei, dass Rike allmählich kaum noch Schuldgefühle empfand, weil ihre Forderung nach dem Auszug ihrer Schwester deren übereiltes Fortfahren zur Folge gehabt und damit höchstwahrscheinlich den Unfall provoziert hatte. Mit den Vorwürfen der Mutter kam sie inzwischen einigermaßen zurecht,

denn Jakob hatte ihr bewusst gemacht, dass von der Meinung ihrer Mutter letztendlich gar nicht viel für sie abhing.

Auch Maria und Felix hatten sich darum bemüht, Rike in dieser schwierigen Zeit beizustehen und sie von ihren ziemlich deprimierenden Gedanken bezüglich ihrer Schwester abzubringen. Rike war wieder einmal klargeworden, dass es im Leben manchmal mehr zählte, auf gute Freunde bauen zu können und sich nicht auf Eltern oder Geschwister verlassen zu müssen, die einem emotionale Unterstützung gaben.

Und nun war endlich Friede in ihrem Leben eingekehrt. Sie musste nur noch einmal wöchentlich den obligatorischen Anruf ihrer Mutter über sich ergehen lassen, ansonsten hatte sie mit ihrer Sippe nicht viel zu tun. Dafür nahm ihre Beziehung zu Jakob

einen immer größeren Raum ein. Sie sahen sich täglich und hatten inzwischen auch schon einige Male beim jeweils anderen übernachtet.

Heute Abend hatte Jakob sie in ein hübsches Lokal in Potsdam eingeladen. Sie würden in einem eleganten Hotel übernachten und wollten es sich richtig gut gehen lassen. „Ich kann nicht glauben, dass wir tatsächlich hier sind“, strahlte Rike. „Da habe ich dir nicht zu viel versprochen, oder?“ „Nein, ganz und gar nicht.“ Rike musste zugeben, dass die Schwärmerei Jakobs bezüglich der Inneneinrichtung des Restaurants absolut nicht übertrieben gewesen war. „Manchen mag das Ambiente vielleicht ein bisschen zu sehr retro erscheinen, aber mir gefällt's“, verkündete er prompt noch einmal. „Vor allem diese Wandlampen sind

wunderschön.“ „Und das warme weiße Licht ist so angenehm und taucht das Restaurant in eine sehr romantische Stimmung.“ Rike griff lächelnd nach seiner Hand. „Gegen ein bisschen mehr Romantik in meinem Leben habe ich nichts einzuwenden.“ Er lachte. „Davon hast du wohl in den letzten Wochen noch nicht genug bekommen.“ Rike errötete. „Doch, eigentlich schon. Besonders schön fand ich den Abend am See, als wir uns schließlich unter die warme Decke gekuschelt haben, weil uns allmählich kalt wurde.“ „Das waren wunderbare Momente. Und wir haben so wenig dafür gebraucht.“ „Den See, den Sonnenuntergang ...“ „Den Becher Wein in der Hand und die Decke natürlich.“ Das war auch der Augenblick gewesen, in dem Rike zum ersten Mal

gespürt hatte, dass ihre Liebe zu Jakob wirklich ernst war und dass sie sich gut vorstellen konnte, ihr Leben mit ihm dauerhaft zu teilen.

„Trotzdem ist es schön, mal richtig fürstlich essen zu gehen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.“ „Weshalb ich ja die Idee mit diesem Restaurant hier hatte“, stimmte Jakob ihr zu. „Natürlich freue ich mich auf morgen genauso“, meinte Rike. Sie hatten nämlich vor, sich am Sonntag Potsdam anzusehen, das sie zwar alle beide schon kannten, aber man konnte in dieser wunderbaren Stadt schließlich immer wieder Neues entdecken. „Wir werden uns einen schönen Tag machen“, versprach Jakob. „Und du willst ganz bestimmt kein Museum besuchen?“, flachste Rike. „Das tue ich dir nicht an. Jedenfalls nicht an einem schönen Sommertag.

Wenn die Sonne den ganzen Tag über scheint und wir Temperaturen von über fünfundzwanzig Grad erreichen, kann ich dich doch nicht in muffige Ausstellungen mitschleppen.“ Rike kicherte. „Freut mich zu hören, dass du Rücksicht auf mich nimmst.“ „Wenn wir es im Winter mal her schaffen, kommst du da aber nicht drum herum“, prophezeite Jakob. „Meinetwegen.“ Rike seufzte. „Ein waschechter Kulturbanause bin ich ja nicht, es ist nur so, dass ich geschichtlich, archäologisch oder wie auch immer absolut ungebildet bin.“ Jakob sah sie liebevoll an. „Das macht überhaupt nichts. Erstens kann ich dir alles erklären und zweitens fände ich es schön, wenn du den Zeugnissen der Geschichte einfach nur aufgeschlossen gegenüber stehen würdest.“ „Das kann ich dir versprechen. Neugierig war ich schon immer und ein

gewisser Wissensdurst ist irgendwo tief in mir ebenfalls vergraben.“ Jakob freute sich darüber, dass Rike nichts ablehnte, was ihm selbst sehr wichtig war. Er wollte sie an seinem gesamten Leben teilhaben lassen und nicht nur einem Teil. Und dazu gehörte nun einmal seine Leidenschaft für die Archäologie.

„Werden wir später noch ein Dessert essen?“, fragte Rike Jakob, während sie auf das Essen warteten. „Ich wüsste nicht, was dagegen spräche“, meinte er. „Es sei denn natürlich, die Portionen des Hauptgerichts sind so riesig, dass wir anschließend gar nichts mehr in uns hineinbekommen.“ „Ich hatte nämlich gelesen, dass sie Tiramisu anbieten, und das liebe ich“, gab Rike schmunzelnd zu. „Echt? Ich auch.“ Rike schüttelte den Kopf. „Ich muss

mich immer wieder wundern, wie ähnlich wir uns sind.“ Das stimmte voll und ganz. Bezüglich vieler Kleinigkeiten waren sie einer Meinung. Sie liebten die gleichen Dinge und lehnte andere hingegen alle beide ab. „Das ist ein gutes Zeichen finde ich.“ Jakob strahlte über das ganze Gesicht. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du nach Ockernried gezogen bist. Anderenfalls hätten wir uns wahrscheinlich nie kennen gelernt.“ „Was das angeht, glaube ich an das Schicksal.“ „Vielleicht sind wir füreinander bestimmt“, flüsterte Rike. Jakob drückte ihre Hand. Gern hätte er sie geküsst, aber das ging hier im Restaurant natürlich nicht. „Ich kann mir das sehr, sehr gut vorstellen.“

26

Das Wochenende in Potsdam war wirklich himmlisch gewesen, aber eine Woche später hatten sie beschlossen, in Ockernried zu bleiben und nicht irgendwo hinzufahren. Jakob würde nämlich sowohl am Samstag als auch am Sonntag an intensiven Proben mit seiner neuen Band teilnehmen. Solch ein Probenmarathon wurde notwendig, weil sich die Bandmitglieder erst aufeinander einspielen mussten. Außerdem war es wichtig, das Repertoire durchzugehen und Feinheiten

abzustimmen. Jakob hatte erst ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er deshalb nicht so viel Zeit wie sonst mit Rike verbringen konnte. Aber die hatte glücklicherweise nur gelacht und gemeint, sie hätten schließlich immerhin noch die Abende. Außerdem war sie der Meinung gewesen, es wäre sowieso ungesund, sich andauernd von allen Freunden oder Bekannten fernzuhalten und womöglich sogar abzukapseln, selbst wenn sie beide ihre Zweisamkeit momentan so sehr genossen. Es war wunderschön, verliebt zu sein. Und weil Jakob der Gedanke daran, dass er während der Proben von Rike getrennt sein würde, nicht gefiel, kam er kurzerhand auf die Idee, sie doch zur Probe einzuladen. Rike war anfangs skeptisch gewesen und hatte Zweifel gehabt, ob die anderen Bandmitglieder damit einverstanden

seien. Jakob hatte sie diesbezüglich allerdings schnell beruhigt. Gegen Probepublikum konnte keiner etwas haben.

Also hatte Rike zugestimmt und nun saß sie hier im Probenraum auf einer verbeulten Metallkiste und lauschte den Klängen, die die Band produzierte. Sie spielte überwiegend gängige Rocktitel und Rike wippte gut gelaunt im Rhythmus der Musik mit. Außerdem wurde sie nicht müde, Jakob dabei zuzuschauen, der professionell mit seiner Gitarre herumhantierte. Er sah heute Nachmittag tatsächlich wie ein Rocker aus, denn er trug eine zerrissene Jeans und ein schwarzes Logo-T-Shirt. Außerdem waren seine Haare wüst verstrubbelt, was seinem sonst eher braven Aussehen etwas Verwegenes verlieh. Es war schön, dass Rike heute eine ganz neue Seite des Mannes, den sie

liebte, kennen lernte. Sie hatte zwar von ihm erfahren, dass ihm das Musikmachen unheimlich viel bedeutete, ihn jedoch in Aktion zu erleben, war eine ganz andere Geschichte.

Als er dann bei einem Lied auch noch begann die zweite Stimme zu singen und sie zum ersten Mal in ihrem Leben seine kräftige, samtige Bassstimme vernahm, zogen sich ihre Eingeweide zusammen und sie spürte plötzlich schieres Glück in sich. Es war komplett um sie geschehen. In ihr vibrierte und pulsierte alles. War sie wirklich mit diesem wunderbaren Mann zusammen? Hatte sie das alles nicht nur geträumt? Noch vor wenigen Wochen war ihr Leben so leer gewesen, wie ihr erst jetzt richtig bewusst wurde. Was hatte sie denn sonst in all den Stunden gemacht, in denen sie jetzt ihre Zeit mit Jakob verbrachte?

Und wie intensiv hatte sich ihre Beziehung entwickelt, seit Bella aus dem Krankenhaus entlassen worden war? Dieser Moment hatte irgendwie einen Befreiungsschlag für Rike dargestellt. Sie konnte ihr Leben ab diesem Zeitpunkt endlich wieder ohne familiäre Verpflichtungen leben, von gelegentlichen Telefonaten abgesehen. Jakob war ihr so wichtig, dass sie ihre Probleme, die sie mit der Familie hatte, am liebsten komplett ausgeblendet hätte. Das war allerdings nicht möglich. Es gab immer wieder Augenblicke, in denen es aus ihr hervorbrach, dass sie niemals so eine harmonische Beziehung zu ihren Schwestern und Eltern haben konnte wie andere Menschen. Jakob war immer sehr verständnisvoll, wenn Rike ab und zu dieses Thema zur Sprache brachte. Er wusste natürlich, dass er nicht dazu beitragen konnte, ihr Verhältnis zu ihren Familienmitgliedern zu verbessern.

Doch er konnte ihr dabei helfen, mit der vorhandenen Situation, wie sie nun einmal war, umzugehen. Mit der Zeit, so hoffte er, würde es Rike gelingen, sich ein noch dickeres Fell gegen die stets und ständig lauernden Kränkungen durch ihre Familie zuzulegen.

Als die Band eine Pause machte, kam Jakob gleich auf Rike zu, die daraufhin von ihrer Kiste sprang. „Ihr wart so klasse, ehrlich!“ Jakob musste schmunzeln, als sie ihm so stürmisch um den Hals fiel. „Dann fandest du also, wir haben uns schon ganz gut angehört?“ „Mehr als gut, die Musik war phantastisch.“ „Schön, dass du das sagst. Aber es gab einige Dinge, die noch nicht geklappt haben.“ „Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Jakob freute sich über Rikes Enthusiasmus und gab ihr einen langen,

intensiven Kuss. „Komm, ich stelle dir die Bandmitglieder vor.“ Er nahm Rikes Hand und zog sie mit sich.

„Das ist Franz, unser Schlagzeuger. Und die beiden da drüben sind, Micha, der Keyboarder, und Kalle, er spielt den Bass.“ Die Männer murmelten ein Hallo und nickten Rike zu. „Wie heißt eigentlich eure Band?“, wollte Rike wissen. Jakob kratzte sich den Hinterkopf und dachte nach. „Das Problem kam zwar schon zur Sprache, gelöst haben wir es noch nicht.“ „Aber der Name ist wichtig, denkst du nicht?“ „Vielleicht nicht so wichtig, wie man immer annimmt. Es sollte auf jeden Fall ein Name sein, mit dem wir uns identifizieren können und mit dem auch unser potentielles Publikum etwas anfangen kann.“

„Habt ihr denn einige Ideen?“ „Black diamonds“, rief Franz rüber. „Ist immer noch mein Favorit.“ Rike zog eine leichte Schnute. „Klingt ganz okay.“ „Hat aber nicht genug Bedeutung“, erklärte Micha, der inzwischen herangekommen war. „Der Name müsste irgendwie ein bisschen mehr über uns aussagen.“ „Und wenn ihr einen deutschen Namen wählt? Oder muss es unbedingt ein englischer sein?“ „Deutsch wäre vollkommen in Ordnung“, meinte Jakob. „Während ihr spielt, kann ich mal darüber nachdenken, ob mir ein geeigneter Name einfällt, was meint ihr?“ „Wir sind für Vorschläge offen“, nickte Micha. „Vielleicht hast du ja die richtige Idee. Aber ich finde, wir sollten jetzt weitermachen“, forderte Franz. „Je eher wir durch sind, umso schneller kommen

wir an unser Feierabendbier.“ Jakob gab Rike noch schnell einen Kuss und griff dann wieder nach seiner Gitarre.

Nach der Probe, die noch volle drei Stunden gedauert hatte, schlenderten Rike und Jakob ganz entspannt und gelassen zum Auto, denn die Probe hatte in Karstow stattgefunden. Die zehn Kilometer bis hierher hätten sie zwar prinzipiell mit dem Fahrrad zurücklegen können, vor allem bei diesem schönen Sommerwetter, aber da Jakob seine Gitarre mitschleppen musste, war das nicht in Frage gekommen. „Ich bin froh, dass wir jetzt nach Hause fahren“, freute sich Rike. „Erstens habe ich einen Megahunger und zweitens bin ich ganz steif von dem Herumhocken auf der Metallkiste.“ „Die sah auch überhaupt nicht bequem aus“, meinte Jakob mitfühlend. „Ich fand eure Probe wirklich

interessant und es hat mir großen Spaß gemacht, dir beim Gitarrespielen zuzusehen. Aber trotzdem glaube ich nicht, dass ich mich so schnell wieder in diesen dunklen Proberaum zwängen werde.“ „Kann ich verstehen. Wenn man selbst mit dem Proben beschäftigt ist, bemerkt man die düstere Atmosphäre gar nicht so sehr. Man konzentriert sich mehr auf die Musik. Bei Auftritten sieht das dann schon wieder anders aus. Da hat man das Publikum im Blick und ist auf die Reaktionen gespannt.“ „Ist schon mal 'ne Frau wegen deines Spiels ausgerastet?“, fragte Rike grinsend. „Oh ja. Da flogen sogar BHs und Slips auf die Bühne.“ „Iiih, ist ja widerlich.“ „Manche Frauen haben einfach keine Schamgrenze“, meinte Jakob kopfschüttelnd. „Werden diese Damen nach dem Auftritt aufdringlich?“

„Das kommt hin und wieder schon vor, aber ich hatte bis jetzt Glück und bin von solch einer Anmache stets verschont geblieben.“ „Man hat es als Musiker offensichtlich gar nicht leicht, selbst wenn man nur hobbymäßig in einer Band spielt.“ Jakob winkte ab. „Alles in allem dominiert zum Glück das Spiel. Das ganze Drumherum ist eigentlich eher nebensächlich.“ „Meinst du, ihr könntet auf Marias Geburtstagsfeier auftreten?“ „Wann hat sie denn?“ „In drei Wochen und es soll eine Gartenparty werden, da wäre Livemusik ideal.“ Jakob überlegte. „Müsste klappen, wenn die Jungs nichts anderes vorhaben. Vor allem haben wir dann ja wohl höchstwahrscheinlich nicht gleich ein Riesenpublikum vor uns. Für einen ersten Gig wäre der Geburtstag also eine

prima Gelegenheit.“ Rike beugte sich zu Jakob hinüber und küsste ihn sanft. „Du bist echt spitze, weißt du das?“ Der wurde daraufhin rot. „Quatsch, ich bin ein ganz normaler Mann.“ „Das würde ich so aber nicht sagen“, flüsterte Rike heiser. Jakob wurde bei ihrem Vibrato in der Stimme ganz heiß. „Ich glaube, wir sollten schleunigst nach Hause fahren.“ Rike sah ihn nur zustimmend an und nickte langsam.

Epilog

Die Band „Fernweh“ feierte einen Riesenerfolg, als sie ihre Musik auf Marias Geburtstagsparty zum Besten gab. Rike war so stolz auf ihren Jakob, dass das Grinsen gar nicht mehr von ihrem Gesicht verschwand. „Vielleicht sollte ich das Gitarrespielen lernen“, stellte Felix fest, nachdem er die Jungs auf der Bühne eine Weile beobachtet hatte. „Warum? Du bist ja nicht einmal besonders musikalisch“, neckte Rike ihn. „Danke für das Kompliment.“

Rike schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken. „Nun komm schon, du weißt, dass ich recht habe. Du hast dafür andere Qualitäten.“ Felix seufzte. „Mit einem leckeren Essen lockst du inzwischen keine Frau mehr hinter dem Ofen hervor.“ „Mist, denn kochen kannst du wirklich gut. Meinst du, die Frauen würden auf dich fliegen, nur weil du Gitarre spielen kannst?“ „Könnte ich mir gut vorstellen.“ Felix deutete auf einige Teenager, die direkt vor der Bühne standen und die Bandmitglieder förmlich anhimmelten. Rike verdrehte die Augen. „Wir reden von Frauen.“ „Schon gut, ich werde die Gitarre nicht spielen, war eine blöde Idee.“ Felix nahm einen großen Schluck von seinem selbstgezapften Bier. Das schmeckte direkt aus dem Fass super, wie er zugeben musste. „Hast du irgendwelche Neuigkeiten aus Berlin?“

„Keine interessanten.“ Rike schüttelte den Kopf. „Bella hat inzwischen einen Neuen, Leon, einen typischen Karriere- Fuzzi. Vom Baby redet sie gar nicht mehr, es ist beinahe so, als sei sie nie schwanger gewesen. Das muss ich alles nicht verstehen. Und meine Eltern sind zufrieden, dass meine Schwester nun wieder ein Leben nach ihren Wünschen führt.“ „Nur du bist nach wie vor das schwarze Schaf der Familie!“ Rike zuckte mit den Schultern. „So ist es und so wird es auch immer bleiben. Aber ich habe das Gefühl, dass ich besser damit umgehen kann, je älter ich werde. Außerdem habe ich ja euch, Maria, dich und jetzt natürlich Jakob. Ihr seid meine richtige Familie.“ „Genau, lass dich bloß nicht unterkriegen.“ „Ich versuche, so wenig wie möglich an meine Eltern und meine beiden Schwestern zu denken und mich lieber

auf mein eigenes Leben zu konzentrieren.“ Felix freute sich darüber. Er wollte nämlich, dass es Rike gut ging. „Schau mal, Jakob macht eine Pause.“ „Super.“ Rike sprang auf. „Dann werde ich ihm entgegengehen.“

Felix beobachtete, wie die beiden sich umarmten und küssten, als hätten sie sich seit Monaten nicht gesehen. In diesem Moment wusste er ganz genau, dass diese zwei füreinander bestimmt waren. Manchmal sorgte das Schicksal tatsächlich für unfassbares Glück!

Hinweis

Alle Namen, Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Liebe Leserinnen und Leser, ich hoffe, Ihnen hat diese Geschichte von Rike und Jakob gefallen. Wenn Sie Spaß beim Lesen hatten, dann würde ich mich freuen, wenn Sie dieses Buch Ihren Freunden und Bekannten weiterempfehlen und sich in Rezensionen, Blogs oder Tweets positiv dazu äußern. Ich freue mich über Ihre Meinung zu dieser Geschichte, schreiben Sie mir bitte, wenn Sie Fragen haben, wie Ihnen das Buch gefallen hat oder wenn Sie mir etwas mitteilen möchten.

Mit herzlichen Grüßen Katie Blue

Kontakt: [email protected]

Leseprobe

"Sommer der Erinnerungen"

Prolog

Pia packte mit einem bangen Gefühl ihren Koffer. Sie machte sich große Sorgen um ihre Großmutter. Warum hatte sich diese denn nicht schon viel eher gemeldet? Nein, ihre Oma hatte erst abgewartet, ob sich ihr Gesundheitszustand von allein wieder bessern würde. Erst später hatte sie offensichtlich realisiert, dass sie nicht ohne Hilfe auskäme und ihre Enkelin angerufen. Da Pia wusste, dass ihre Großmutter sie niemals gebeten hätte, zu ihr zu kommen, wenn die Lage nicht absolut ernst wäre, war sie mehr als beunruhigt. Wie schlecht ging es ihrer Oma

wirklich? Am Telefon hatte Pia leider keine genaueren Einzelheiten erfahren, doch ihre Großmutter hatte insgesamt sehr müde und abgekämpft geklungen. Pia hatte daher nicht gezögert und ihrer Großmutter versprochen, sofort Urlaub zu nehmen und sich auf den Weg zu ihr nach Parenthin zu machen. Obwohl sie ihre Oma regelmäßig besuchte, fühlte sie sich auch diesmal merkwürdig, weil sie wieder in ihre Heimatstadt fahren würde. Es kam Pia immer so vor, als machte sie eine Zeitreise, wenn sie dorthin kam, wo sie aufgewachsen war und ihre Jugend verbracht hatte. Nach ihrem Studium hatte sie niemals ernsthaft darüber nachgedacht, für immer in ihre alte Heimat zurückzukehren. Der Kleinstadtmuff konnte ihr gestohlen bleiben. Dennoch verband sie wichtige Erinnerungen mit ihrem Heimatort, einige wunderschöne, aber auch sehr schmerzliche.

Pia wusste genau, dass diese auflebten, sobald sie das Ortseingangsschild erreicht hatte, was innerhalb der nächsten Stunden geschehen würde, denn das passierte ja jedes Mal.

1

Es war früher Nachmittag, als Pia Parenthin schließlich erreichte. Die Sonne schien unbarmherzig vom Himmel herab. Dieser Sommer wollte einfach nicht enden, doch auch wenn sich die meisten Menschen Abkühlung und Regen wünschten, war es wirklich erstrebenswert, sich nach den kalten und nassen Herbsttagen zu sehnen? Pia jedenfalls liebte den Sommer sehr, obwohl sie in den letzten Monaten erheblich mehr als in den Jahren zuvor hatten schwitzen müssen und die Bauern

inzwischen über die anhaltende Dürre klagten. Parenthin lag wie ausgestorben. Nur vereinzelt lief mal ein Bewohner auf einem Gehweg entlang und auch das geschah sehr gemächlich, denn die Hitze legte jegliche Antriebskraft lahm.

Wenn der Anlass, wieder in ihre Heimatstadt zurückzukehren, nicht ein solch beunruhigender gewesen wäre, hätte Pia es vermutlich sogar genießen können, durch die altbekannten Straßen zu fahren, nach vertrauten Ecken zu schauen und Neues in Augenschein zu nehmen. Doch da sie nur hierher gefahren war, weil ihre Großmutter so krank war, dass sie Hilfe brauchte, konnte Pia leider nicht völlig unbeschwert durch den Ort fahren. Trotzdem kamen ihr unweigerlich Bilder in den Kopf. So vieles hatte sie in Parenthin erlebt. Die große Eiche vor

der Apotheke zum Beispiel stand wie eh und je majestätisch da und Pia erinnerte sich automatisch daran, wie sie unter ihr als kleines Mädchen Eicheln im Herbst eingesammelt hatte, um daraus kleine Figuren zu basteln. Und in den Springbrunnen am Marktplatz waren zwei Freundinnen und sie während ihrer Teenagerzeit nach einem Diskobesuch für ein kühles Bad hineingesprungen. Das war ein herrlich verbotenes Vergnügen gewesen. Alle drei hatten sie gegickelt und gegackert, aber dennoch Angst gehabt, jemand könnte ihre frevlerische Tat entdecken, dies melden und die Polizei käme, um sie zu verhaften.

Dann fuhr Pia am Tante-Emma- Laden vorbei, der seit einigen Monaten nun endgültig geschlossen hatte. In ihm hatte sich Pia, solange sie sich erinnern konnte, stets mit Süßigkeiten eingedeckt.

Hier hatte es manchmal besondere Sachen gegeben und nicht nur die übliche Schokolade aus dem Supermarkt. Dieses Kapitel war jetzt allerdings abgeschlossen und auch wenn Pia Süßigkeiten immer noch liebte und zu einer Praline niemals nein gesagt hätte, hatten Zuckersachen nicht mehr die große Bedeutung von einst für sie.

Ganz anders verhielt es sich dagegen mit dem Buchladen. Pia war froh, dass es ihn immer noch gab und er sich in den Zeiten des Online-Buchhandels offensichtlich halten konnte. Es war einfach zu gemütlich, in dem geräumigen Eckgeschäft zu stöbern und nach neuem Lesestoff Ausschau zu halten. Außerdem erfuhr man im Buchladen stets alle Neuigkeiten, die Parenthin betrafen, denn das Geschäft stellte für den Ort die Klatschumschlagzentrale dar.

Als Pia am Park vorbeifuhr, wurde ihr etwas wehmütig ums Herz zumute. Sie konnte nicht vermeiden, dass ihr Bilder von einem Mann und ihr in den Sinn kamen, wie sie beide händchenhaltend die Wege entlang spaziert waren. Alexander und sie waren zwei Jahre lang ein Liebespaar gewesen und damals hatte sie geglaubt, er sei ihre Liebe fürs Leben, denn sie nahm an, sie wären füreinander bestimmt. Dann war in ihrer Beziehung allerdings etwas schrecklich schiefgegangen und dieser Traum hatte sich sehr schnell zerschlagen. Pia hatte ewig ihre Wunden geleckt und viel Zeit gebraucht, um überhaupt über Alex hinwegzukommen. Noch heute tat es ihr mächtig weh, wenn sie an die Ereignisse von damals dachte, weshalb sie sich eilig daran machte, die Bilder und Erinnerungen in ihrem Kopf zu verscheuchen.

Als sie in die Straße einbog, in der ihre Großmutter lebte, atmete sie auf. In der schmalen Nebenstraße standen viele kleine Einfamilienhäuschen. Die Vorgärten sahen sehr gepflegt aus. Pia stellte ihr Auto am Straßenrand ab und stieg aus. Sie blinzelte, weil die Sonne sie blendete und überlegte, ob sie den Koffer gleich mitnehmen oder erst später holen sollte. Sie war noch nicht zu einem Entschluss gekommen, als sie hinter sich eine laute und sehr kräftige Stimme hörte. „Pia-Schatz, ich bin so froh, dass du gekommen bist.“ Pia drehte sich um und entdeckte Sigrid, eine Nachbarin ihrer Oma, die vor kurzem in den Ruhestand gegangen war. Selbstverständlich kannte Pia sie schon seit Kindertagen, denn in dieser Straße lebten seit Jahren die gleichen Einwohner. „Hallo, Sigrid.“

„Wie geht es dir, Pia? Du siehst gut aus.“ Sigrid ließ die Gelegenheit nicht verstreichen, gleich ein bisschen Smalltalk mit der Enkelin ihrer Nachbarin zu machen, die sie schließlich nur sehr selten zu sehen bekam. „Danke der Nachfrage. Bei mir ist alles in Ordnung. Aber wie ich hörte, mit Oma leider nicht. Deshalb bin ich da. Ich hatte zum Glück noch ein paar Tage Resturlaub, die ich unkompliziert nehmen konnte.“ Sigrid nickte betrübt. „Deiner Großmutter geht es schon seit einer ganzen Weile nicht so gut. Umso besser, dass du jetzt gekommen bist, um bei ihr zu sein.“ „Das versteht sich doch von selbst. Und bei euch? Alles okay?“ „Ja, natürlich. Ich bin ständig unterwegs, immer auf den Beinen.“ Sigrid lachte. „Du weißt doch, Rentner haben viel um die Ohren.“ „Dein Mann hat jetzt endlich so viel

Zeit für den Garten, wie er sich immer gewünscht hat, oder?“ Pia lächelte, denn Sigrids Mann war ein Hobbygärtner par excellence. „Rudi buddelt den lieben langen Tag herum. Manchmal kann ich mir das schon nicht mehr angucken. Ich frage mich wirklich, ob wir jemals einen kompletten Garten ohne frisch aufgeworfene Erde zu sehen bekommen.“ Sigrids Augen blitzten, denn selbstverständlich war sie froh darüber, dass ihr Mann eine Beschäftigung gefunden hatte, die ihn erfüllte und glücklich machte.

„Ich werde dann mal.“ Pia deutete auf das Haus ihrer Großmutter. „Natürlich, geh nach deiner Oma sehen. Ich hoffe allerdings, du kommst in den nächsten Tagen mal auf ein Stück Kuchen und einen Kaffee vorbei. Es gibt mit Sicherheit ein paar Neuigkeiten auszutauschen.“

„Das lässt sich ganz bestimmt einrichten.“ Pia lächelte. Dann drehte sie sich um und lief auf die Haustür ihrer Großmutter zu. Den Koffer konnte sie nachher noch holen, hatte sie beschlossen.

Auf ihr Klingeln hin hörte sie erst nichts, dann ein wenig Gepolter und schließlich ein Schlurfen. Endlich öffnete sich die Tür und Pia bekam einen riesigen Schreck. War dieses Gespenst mit dem grauen und eingefallenen Gesicht etwa ihre Oma? „Schön, dass du kommst, Kleines“, meinte ihre Großmutter zu ihr und Pia schnappte nach Luft. „Ja, ich weiß, ich biete keinen schönen Anblick, aber ich bin in den letzten Wochen auch kaum an die Luft gekommen. Und die Hitze macht mir enorm zu schaffen“, fuhr sie fort. „Ich bringe dich sofort wieder ins Bett“, meinte Pia, denn sie hatte

bemerkt, dass sich ihre Oma kaum auf den Beinen halten konnte. „Wird wohl besser sein.“

Im Schlafzimmer ihrer Großmutter stand die Luft. Das Bett sah zerwühlt aus und müsste unbedingt frisch gemacht werden. „Ich schlage vor, ich gehe uns einen schönen Tee kochen“, meinte Pia, als ihre Oma sich hingelegt hatte, „und dann erzählst du mir, woran genau du eigentlich leidest und wie ich dir am besten dabei helfen kann, wieder gesund zu werden.“ „Willst du wirklich einen heißen Tee bei diesem Wetter trinken?“ Pia sah ihre Oma verdutzt an. „Du bist doch die leidenschaftliche Teetrinkerin von uns beiden. Ich wollte dir dabei nur Gesellschaft leisten.“ „Ach, Kind, mach dir in der Hitze nicht die Mühe. Hole uns einfach zwei Gläser Wasser und setz dich zu mir.“

Pia nickte erstaunt. „Gut, wenn dir das reicht.“ Sie verließ verdutzt das Schlafzimmer. So etwas hatte es ja noch nie gegeben. Seit wann verzichtete ihre Großmutter auf ihren geliebten Tee, Wetter hin oder her? Sehr beunruhigt und die Stirn runzelnd ging Pia in die Küche, um das Wasser zu holen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, das spürte sie.

Bereits erschienen

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