<<

BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks

Sendung vom 11.09.1998

Hans Schlegel im Gespräch mit Christian Mößner

Mößner: Herzlich willkommen, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, bei Alpha- Forum, heute von der „Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung“ in Berlin. Ich befinde mich hier im sogenannten COF. COF steht für „Columbus Orbit Facility“ und ist jener Teil der internationalen Raumstation, den die europäischen Weltraumnationen zum Bau dieser Station beitragen wollen. Ein Mann, der in gar nicht mehr so ferner Zukunft selbst auf diese Station fliegen will, ist der deutsche Astronaut Hans Schlegel. Ich begrüße ihn ganz herzlich zu unserem heutigen Alpha-Forum-extra. Herr Schlegel, bevor wir auf Ihren Werdegang als Astronaut und auf Ihre Mission näher eingehen, wollen wir uns einfach hier in diesem europäischen Forschungslabor umsehen. Wie kann man sich denn die Forschung hier drin vorstellen? Das ist alles noch ziemliche Zukunftsmusik, aber wann soll es denn konkret anfangen? Schlegel: Gebaut wird diese Station in diesem Jahr, bzw. man fängt an, sie zu bauen. Sie wird in fünf Jahren fertiggestellt und dann für die Benutzung freigegeben werden, die dann mindestens zehn Jahre dauern wird. Der europäische Teil, in dessen Modell wir hier stehen, wird erst im Jahr 2002 bzw. 2003 starten, um dann nach der Integration, also nach der Ankopplung an die internationale Raumstation, tatsächlich von europäischen Astronauten besucht zu werden. Und mit diesen Geräten wird dann geforscht werden. Mößner: Nun ist ja das COF, das europäische Labor, nur eines von vielen Forschungslabors, die das ISS, also die internationale Raumstation, haben wird. Vielleicht gehen wir hier einfach einmal weiter, hier ist ja nicht nur ein 1:1-Modell des europäischen Anteils zu sehen, sondern hier sind auch Nachbildungen des japanischen und des amerikanischen Forschungsmoduls, in das wir dann gleich kommen werden. Vielleicht schauen wir uns hier einmal diesen Verbindungsstutzen an. Was bedeutet es denn, wenn sich der Astronaut hier einfach durchziehen kann? Schlegel: Das zeigt eigentlich nur das Leben in der Schwerelosigkeit. Es gibt kein Oben, und es gibt kein Unten: man schwebt einfach. Die Fortbewegung geschieht im wesentlichen durch Vorwärtsziehen, durch die Hände, durch Abstoßen, durch die Beine. Man muß dabei natürlich immer aufpassen, daß man nicht gegen etwas Empfindliches stößt. Mößner: Wie groß soll denn diese Raumstation überhaupt werden? Schlegel: Die äußeren Abmessungen sind ungefähr so groß wie ein Fußballfeld, sie wird ungefähr viermal so groß werden wie die jetzige russische Raumstation . Der Rauminhalt wird 400 Kubikmeter, das Gewicht ungefähr 400 Tonnen betragen. Mößner: Mit wie vielen Flügen sollen denn diese Einzelteile alle zusammengesetzt werden? Denn das ist ja wahrscheinlich ein immenser logistischer Aufwand. Schlegel: Ja, das werden wohl über 50 Flüge sein. Ich bin jetzt auch überfragt, wie viele es genau sein werden. Es wird jedenfalls in den fünf Jahren ungefähr 35 Shuttle-Starts und acht russische Proton-Starts geben. Mößner: Gehen wir noch ein Stück weiter in das amerikanische Forschungslabor hinein. Wie viele Nationen sind denn überhaupt beteiligt an dem Bau dieser Raumstation, und wer zahlt am meisten? Das ist ja ein Faktor, der heutzutage auch nicht mehr ohne Kritik im Raum steht. Schlegel: Es ist das größte internationale Projekt weltweit, und ich bin froh, daß es zustande gekommen ist: zum ersten, weil es Raumfahrtforschung betreibt, die ich für sehr nützlich halte und die wir in Europa ansonsten zu wenig betreiben. Beteiligt sind allen voran die Amerikaner, die Russen, die Japaner, die Europäer und die Kanadier. Die größten Beitragszahler und auch die Systemführer sind dabei ohne Frage die Amerikaner. Mößner: Das heißt, die Amerikaner werden auch die ersten sein, die dann Astronauten in den Weltraum schicken. Schlegel: Nein, das wird eine gemischte Crew sein: zwei Russen und ein Amerikaner, die mit dem Bau der Raumstation Alpha beginnen werden. Ursprünglich war das für den Januar des nächsten Jahres geplant, aber das wird sich jetzt in den Frühsommer hineinschieben. Bill Shephard wird der Kommandant auf der Raumstation sein, der eine Russe wird der Kommandant auf dem Weg nach oben in einer russischen Sojus-Kapsel sein und der andere der Bordingenieur. Mößner: Gut, dann machen wir einmal etwas, das später in der Schwerelosigkeit nicht möglich sein wird: Wir nehmen nämlich einfach Platz. Stichwort „Schwerelosigkeit“: Wann sind Sie denn überhaupt mit diesem Phänomen auf Ihrem Weg zum Astronautenberuf in Kontakt gekommen? Schlegel: Noch bevor ich angefangen habe, als Astronaut zu arbeiten, hat man mich von der damaligen DLR aus gefragt, ob ich nicht an einem Parabelflugprogramm teilnehmen möchte, um mich schon auf die D2- Mission vorzubereiten. Das bedeutet für 25 Sekunden Schwerelosigkeit in einem Flugzeug, das stark in die Höhe gezogen wird. Dann wird die Nase heruntergedrückt, der Antrieb wird herausgenommen, und es geht in den Sturzflug über. Sie müssen sich das wie in einem Fahrstuhl vorstellen, wo einfach der Fahrstuhl um einen herum wegfällt. Da gibt es dann diese 25 Sekunden Schwerelosigkeit, und dabei werden natürlich auch Experimente gemacht. Ich habe damals gedacht, daß das schon die perfekte Simulation sei, in Wirklichkeit hat das dann später mit der Schwerelosigkeit, wie wir sie im Erdorbit empfinden, überhaupt nichts zu tun. Mößner: Was sind die wesentlichen Unterschiede? Kann man denn Schwerelosigkeit, wie Sie es geschildert haben, echt simulieren? Schlegel: Ja, selbstverständlich. Diese 25 Sekunden sind schon echte Schwerelosigkeit. Das ist genauso, wie wenn Sie vom Drei-Meter-Brett springen: Da haben Sie auch eine Sekunde lang Schwerelosigkeit, da können Sie auch Experimente machen, und das waren auch wirklich die ersten Experimente in der Schwerelosigkeit. Sie können eine wissenschaftliche Nutzlast 100 Meter tief vom Fallturm herunterfallen lassen: Das sind fünf Sekunden Schwerelosigkeit. Sie können einen Parabelflug mit einer Rakete machen: Das sind 15 bis 18 Minuten. Texus und Maxus heißen diese Programme, die durchgeführt werden: Es werden Experimente darauf geflogen. Was aber wie z. B. biologische Systeme längere Schwerelosigkeit braucht, wird dann tatsächlich mit einem Labor in die Erdumlaufbahn gebracht. Auch auf der russischen Raumstation MIR können Sie Jahre von Schwerelosigkeit haben. Der Unterschied dabei ist einfach die Zeitdauer. Während dieser 25 Sekunden in dem Flugzeug paßt sich der menschliche Organismus so gut wie gar nicht an die Schwerelosigkeit an: Da gibt es momentane Reflexe, die sich ändern – das war es dann aber auch schon. Wenn Sie dann allerdings Minuten oder Stunden in der Schwerelosigkeit verbringen, dann ändert sich alles. Das erleben Sie eben nur in der Erdumlaufbahn. Es ist z. B. so, daß kein hydrostatischer Druck mehr auf die Körperflüssigkeit ausgeübt wird, die, wenn wir hier so sitzen, von der Erdschwere in die Beine und in die Arme gezogen wird. Statt dessen wird die Körperflüssigkeit wegen der Elastizität der Bindegefäße in den Extremitäten in den Oberkörper gebracht. Das heißt, Sie haben auf einmal ein aufgedunsenes Gesicht, die Schultern ziehen sich nach oben, weil es keine Schwerkraft mehr gibt und die Muskeln nicht mehr dagegen halten müssen. Die Arme sind dann genauso wie die Beine etwas relaxter und nicht mehr so ausgestreckt. In dieser Haltung müssen Sie sich erst einmal zurechtfinden. Auch ihre ganzen inneren Organe sind verschoben, und das führt bei einigen Menschen zu Anpassungsschwierigkeiten, bei anderen wiederum geht das relativ schnell. Ich denke aber doch, daß sich alle nach vier bis fünf Tagen gleichermaßen daran gewöhnt haben und dann anfangen, in dieser Schwerelosigkeit normal zu leben. Mößner: Gehen wir noch einmal ganz zurück zu der Mission, die Sie geflogen sind: Das war 1993, die D2-Mission. Gehen wir ganz zu den Anfängen zurück: Hat der Physiker Hans Schlegel schon immer die Absicht gehabt, Astronaut zu werden, oder gab es da einen Moment, der irgendwie die Initiativzündung gegeben hat? Schlegel: Ich habe mich schon immer sehr für Raumfahrt interessiert. Das lief allerdings nur so nebenbei. Ich war zehn Jahre alt, als Gagarin flog und damit zum ersten Mal ein Mensch im Orbit war. Ich war 18 Jahre alt, als Armstrong auf dem Mond landete. Ich habe das natürlich mit Begeisterung verfolgt und auch die Bücher dazu gelesen, aber ich habe natürlich nicht zu träumen gewagt, selbst einmal in der Schwerelosigkeit leben und arbeiten zu können. Demzufolge war das eigentlich nie ein Traum. Statt dessen war es so, daß ich meinen normalen Berufsweg gegangen bin und die Physik als meine Studienrichtung gewählt habe. Ich habe Experimentalphysik gemacht, weil ich gerne und sehr vielfältig experimentiere. Bei der damals stattfindenden D1-Mission habe ich festgestellt, daß deutsche Astronauten dort in der Erdumlaufbahn mit dabei sind, in der Schwerelosigkeit experimentieren und dabei die Kristalle züchten, die ich auf der Erde untersuche. Sie machten genau diese Laborarbeit, diese physikalischen Experimente, die ich selbst auf der Erde auch gemacht habe. Da habe ich mir dann vorgenommen: Wenn noch einmal Astronauten gesucht werden, werde ich mich melden. Mößner: Nun war der Weg dorthin kein einfacher Weg. Die Auswahlkriterien sind sehr streng: Was haben Sie aus der heutigen Sicht diese Ausbildungsphase betreffend noch in Erinnerung? Man muß sich auf so einen Shuttle-Flug ja doch mehrere Jahre vorbereiten. Schlegel: Ob die Auswahl streng ist, weiß ich nicht, sie ist jedenfalls langwierig. Man wird viele Tage durch die Mühle gedreht und muß dabei verschiedene psychologische Tests und objektive Leistungstests absolvieren. Es gibt dann noch einen ausgedehnten medizinischen Test über drei Tage, bei dem das Innerste nach außen gekehrt wird. Ganz zum Ende gibt es noch einmal eine subjektive Endauswahl, bei der dann tatsächlich diejenigen ausgewählt werden, die die Chance bekommen. Ich habe eigentlich von Prüfung zu Prüfung immer gedacht: "Du hast dein Bestes gegeben, und es reicht wohl nicht, denn es gibt bestimmt viele Menschen, die das besser können." Ich hatte dann aber jedesmal das Glück, tatsächlich noch mit ausgewählt zu werden. Als zweiten Punkt haben Sie die Ausbildung angesprochen: Die ist in der Tat sehr langwierig, denn in unserem Falle ging es ja erst einmal darum, Fußgänger zu Astronauten zu machen. Dazu gehören gewisse allgemeine Trainingseinheiten wie das Erlangen einer gewissen körperlichen Fitneß und das Erlernen von Wissenschaften, die in der Erdumlaufbahn gefragt sind, wie z. B. Astronomie, Erdbeobachtung oder Robotik. Dann ging es um die Wissenschaften, die unsere Experimente beinhalten. Das sind die Physik, die Flüssigkeitsphysik, die Chemie, die Materialwissenschaft, die Medizin oder die Biologie. Das war unheimlich vielfältig, und es mußten viele Vorlesungen gehört und Seminare besucht werden, um sich in dieses Szenario einarbeiten zu können. Dann wurde irgendwann gesagt, es findet tatsächlich die D2- Mission statt und ihr vier bereitet euch für diese Mission vor. Das hieß, wir haben dann die konkreten Experimente – 90 an der Zahl – in ihrer experimentellen Fragestellung kennengelernt und versucht zu durchschauen, was denn überhaupt der Hintergrund der Experimenthypothese ist, um im Fall der Versuchsdurchführung in kritischen Zuständen richtig reagieren zu können – natürlich immer in Absprache mit dem Wissenschaftlerteam am Boden. Aber es ging schon auch darum, an exponierter Stelle auch einmal selbständig zu entscheiden. Das heißt, es war nicht damit getan, Handgriffe zu lernen, sondern man mußte sehr genau den Hintergrund kennenlernen. Das hat insgesamt eben sechs Jahre gedauert, bevor wir geflogen sind. Mößner: Wie intensiv haben Sie den spektakulärsten Moment einer solchen Mission noch in Erinnerung – das ist ja wohl der Moment, wenn die Booster zünden und dieses Shuttle mit einer enormen Energie in den Himmel abhebt? Was hat man fünf Jahre später noch für Erinnerungen daran? Schlegel: Als erstes habe ich in Erinnerung, daß ich das zweimal erlebt habe, obwohl ich nur einmal geflogen bin. Denn beim ersten Mal waren die Triebwerke schon gezündet: Sie wurden schon geschwenkt, das Shuttle bewegte sich schon, vibrierte, und es gab einen Riesenlärm. Auf einmal ging die Alarmsirene los. Wir hatten ein defektes Ventil, die Triebwerke wurden sofort wieder abgestellt, und wir mußten dann innerhalb von Sekunden entscheiden, ob wir einen Notausstieg machen müssen oder ob wir in Ruhe alle Systeme abschalten und alle Luken ganz normal öffnen können, um dann allmählich und ganz kontrolliert das Shuttle zu verlassen. Gott sei Dank war alles normal, und einen Monat später erlebten wir dann den wirklichen Start. Wir waren viel besser vorbereitet als beim ersten Mal, da wir ja gelernt hatten, daß auch unvorhergesehene Dinge beherrschbar sind von den Menschen um uns herum: Das sind viele Hunderte von Menschen, die zur Durchführung so einer Mission immer nötig sind und die eigentlich selten in der Presse erscheinen, die aber für das Gelingen der Mission genauso wichtig sind wie der exponierte Astronaut. Wir hatten also gelernt, daß diese vielen hundert Menschen tatsächlich professionell und gut zusammenarbeiten und auch unvorhergesehene Fälle eindeutig und souverän beherrschen. Wir sind dann also mit Zuversicht eingestiegen und hatten natürlich trotzdem – und das ist der Kern Ihrer Frage – eine Anspannung im Bauch. Andere Menschen sagen dazu Angst, aber Angst hört sich immer nach “unkontrollierbar“ an. Bei uns war es so, daß man eben Respekt vor der Situation hatte: Man sitzt auf mehreren tausend Tonnen flüssigem Treibstoff. Jeder vernünftige Mensch hat davor Respekt – hat davor Angst – und ist trotzdem oder gerade deswegen voll darauf konzentriert, was um ihn herum passiert: Was sind die Parameter? Wie entwickelt sich die Situation? Welche Parameter sind nicht ganz normal? Was kann als nächstes passieren? Was muß ich in dem Fall tun? Wie komme ich aus dieser Situation heraus? Das heißt, der Mensch ist mit all seinen Kapazitäten voll damit beschäftigt, diese Situation und alle möglichen sich daraus entwickelnden Situationen zu beherrschen, so daß eigentlich für diese Angst – in dem Sinne von unkontrolliertem Hegen von Befürchtungen – gar kein Platz vorhanden ist, das gibt es da gar nicht. Aber es gab natürlich schon eine richtige Anspannung im Bauch. Als dann aber tatsächlich die Feststoffraketen zündeten, und wir unter noch größerem Lärm und unter noch größeren Vibrationen abhoben und immer schneller wurden – Sie spüren diese Beschleunigung –, ließ auf einmal die Anspannung doch nach. Ein Rest an Anspannung mußte allerdings schon noch vorhanden sein, denn es ging ja immer weiter. Die Feststoffraketen, die zwei Minuten brennen, sind ja auch nicht die harmlosesten Dinger. Als dann nach zwei Minuten diese Feststoffraketen abgebrannt waren und abgesprengt wurden, ging natürlich ein "Aha" durch die gesamte Crew und jeder hat kräftig ausgeatmet, denn jetzt kommt der Teil des Fluges, der auch im Falle eines Versagens tatsächlich beherrschbar wäre oder zumindest nur in eine Situation führen würde, die nicht unbedingt zu einem Unglück führen müßte. Es gibt dann eine ganze Aneinanderkettung von "Aha"-Erlebnissen, von schönsten Erlebnissen. Dann, nach achteinhalb Minuten, ist man in der Schwerelosigkeit: Man fühlt sich plötzlich nach vorne geworfen, liegt auf einmal in den Gurten. Die Gurte drücken einen nicht mehr zurück, sondern man drückt die Gurte aus dem Sitz und man hat auf einmal Luft zwischen dem Sitz und dem Rücken – das ist der Moment, in dem die Schwerelosigkeit eintritt. Dann natürlich zu erfahren, wie man sich daran anpassen kann, welche Empfindungen man dabei hat, wie man mit den Aufgaben klarkommt, die einem gestellt und die für jede Minute festgelegt sind, ist schon spannend. Denn es gilt, eine Aufgabe zu erfüllen: Wir gehen da hoch, um etwas durchzuführen. Das ergibt schon eine Anspannung: Kann ich das überhaupt? All diese Vorbereitung: War sie ausreichend? Sind die Fertigkeiten, die ich mir angeeignet habe, gut genug, um diese Situationen beherrschen zu können? Wenn dann von Minute zu Minute die Erkenntnis wächst, daß es funktioniert, daß es genau so ist, wie man sich vorbereitet hat – das ist dann tatsächlich die erste große Entspannung, die man in der Schwerelosigkeit hat. Mößner: Wie schnell schafft man es überhaupt, sich diesen immensen Aufgaben zu stellen und 80 Experimente abzuwickeln in einer Zeit von knapp zwei Wochen? Schlegel: Zehn Tage. Mößner: Oder ist man zunächst einmal nur versucht, den Kopf aus der Fensterluke zu strecken und von diesem Anblick völlig erschlagen zu sein? Schlegel: Es waren 88 Experimente in zehn Tagen. Wir arbeiteten im Zwei-Schicht- Betrieb: jeweils zwei Wissenschaftler zwölf Stunden lang und dann die anderen zwei mit allen Übergabeformalitäten, die dazu gehören usw. Es ist vollkommen richtig, was Sie sagen: Man ist in der Schwerelosigkeit, man ist 300 Kilometer von der Erde entfernt, und man ist natürlich versucht, aus dem Fenster zu schauen und den Ausblick zu genießen. Aber im Vordergrund steht: Man hat fast sechs Jahre darauf hingearbeitet. Aber nicht nur man selbst hat lange dafür gearbeitet. Gearbeitet haben dafür vor allem auch die Wissenschaftler am Boden, die sich diese 88 Experimente in mühevoller Arbeit ausgedacht und die die dazugehörigen Experimenthypothesen herausgearbeitet haben, um den Experimentaufbau so zu gestalten, daß die Natur möglichst aussagekräftig unsere Fragen beantwortet. Und nun mache ich so ein Experiment in einer Stunde, in zwei Stunden oder in fünf Stunden. Dieser Druck, daß man dieses Experiment, das man optimal unterstützen muß, nicht zum Scheitern bringt, diese Konzentration von einem Experiment zum anderen, zwölf, 13 Stunden lang: Das ist eigentlich das herausragende Erlebnis, und darauf konzentrierten wir uns sofort. Wir: Das waren die amerikanischen Astronauten, die mehr dafür Sorge tragen mußten, daß der Shuttle einwandfrei arbeitete, daß die Systeme nacheinander richtig eingeschaltet wurden, und das waren wir, die zwei deutschen Astronauten, denen die zwei amerikanischen Astronauten zur Seite gestellt waren, um in einem Labor – so ähnlich wie in diesem hier – dann tatsächlich die Experimente auszuführen, eins nach dem anderen in den kritischen Phasen zu beobachten und zu verändern, denn es lief nicht alles so, wie vorher geplant - aber deswegen machten wir auch die Experimente: weil wir die Antworten der Natur noch nicht kennen. Das ist eigentlich das, was einen die zehn Tage vorwärtsgetrieben hat, so daß der zugegeben wunderschöne Blick aus dem Fenster – ich habe in den zehn Tagen vielleicht zwei, zweieinhalb Stunden am Fenster gesessen – tatsächlich zu kurz gekommen ist. Aber die amerikanischen Kollegen, die den Shuttle gesteuert haben, hatten mehr Zeit, zwischendurch auch einmal mit Hasselblad-Kameras Bilder im Format 6 x 6 zu machen: Das waren Negative mit einer enorm kontrastreichen Auflösung. Diese Bilder, 6000 an der Zahl, habe ich mir wie meine anderen Kollegen auch nach der Mission angeschaut und dann erst erkannt, was wir alles versäumt haben, weil wir nicht die ganze Zeit aus dem Fenster schauen konnten. Übrigens noch eine interessante Anmerkung: Das Raumlabor hat gar kein Fenster. Das heißt, dort, wo wir unsere tägliche Arbeit machten, konnten wir gar nicht hinausschauen. Das konnten wir dann abends vor dem Zu-Bett-Gehen aus dem Midflight-Deck. Mößner: Bei 88 Experimenten hat man nicht viel Zeit zum Abschalten. Was macht man denn in der Freizeit, wenn man abschalten kann? Schlegel: Die Freizeit war wirklich knapp. Wie gesagt, wir hatten zwölf Stunden normalen Dienst. Dann gab es vorher und nachher eine halbe Stunde lang ein sogenanntes „hand-over“, also die Übergabe der Dienstgeschäfte, der Experimente. Dann gab es noch eine Stunde, in der man nebenbei ein Experiment alleine machte. Dann mußte man natürlich essen und Körperhygiene betreiben, wie z. B. die Toilette benutzen - das gehörte ja auch zum Experiment. Dann hatte man tatsächlich einmal hier eine Viertelstunde, dort eine Viertelstunde, um in ein Gespräch mit einem Kollegen einzutreten. Ich erinnere mich genau, daß es am vierten Tag war, als ich das erste Mal mit der anderen Schicht – es gab jeden Tag nur so zwei oder drei Stunden, in denen wir uns begegnen konnten – einen Austausch hatte über irgendwelche persönlichen Empfindungen. Der Kontakt mit den Mitfliegern, der Blick aus dem Fenster und dann immer vor dem Schlafengehen – nachdem ich mein Tagebuch geführt und mir den Plan für den nächsten Tag angeschaut hatte – ein bißchen Musik zu hören: Das war es dann auch schon. Meistens bin ich nicht über das erste Lied hinausgekommen und eingeschlafen. Mößner: Was macht die Familie in der Zeit? Wie oft hat man da Kontakt? Schlegel: Wir, die Familie und ich, hatten innerhalb dieser zehn Tage einmal ein Telefongespräch. Wir hätten uns eigentlich täglich über den Computer einen Brief schreiben können, aber auch diese Zeit war eigentlich kaum vorhanden. Zehn Tage sind aber auch keine so lange Zeit. Die Möglichkeit war aber gegeben. Die Familie hat den Start in Cap Kennedy miterlebt und die Zeit in Florida natürlich recht schön verbracht, um mich dann bei der Landung wieder in Empfang zu nehmen. Nur sind wir dann aber wegen schlechten Wetters nicht in Florida gelandet, sondern in Kalifornien. Mößner: Sie hatten ja im Grunde genommen immer ein großes Faible für die Wissenschaft, für die Experimente, die Sie durchführen mußten. Wenn die Leute normalerweise mit Raumfahrt in Berührung kommen, sehen sie die schwebenden Astronauten und die Schwierigkeiten, die man im täglichen Leben hat. Kommen wir einmal zu den Experimenten, die gemacht wurden. Das Ganze ist nun fünf Jahre her: Von welchen Experimenten würden Sie sagen, daß sie aus Ihrer Sicht die wichtigsten gewesen sind? Welche waren am spannendsten für Sie? Schlegel: Da muß ich ein bißchen ausholen. Es waren 88 Experimente, und ich durfte eigentlich keine Vorliebe haben, denn ich mußte ja, ob das das erste oder das zehnte Experiment an diesem Tag am Ende meiner Schicht war, immer genau gleich zu hundert Prozent konzentriert sein, um das Experiment mit Erfolg durchführen zu können. Im Vorfeld gab es daher keine Lieblingsexperimente. Im nachhinein muß ich schon sagen, daß mir die materialwissenschaftlichen Experimente besonders am Herzen lagen, das ist die Ecke der Experimentalphysik, aus der ich komme: Wie also tatsächlich die verschiedenen Schmelzöfen funktionieren, um Halbleiter einer besonderen Reinheit, einer besonderen Güteperfektion im Gitter zu erzeugen. Das fand ich sehr spannend, da hatte ich den meisten Hintergrund. Sehr interessant fand ich die biologischen Experimente, die eigentlich danach gefragt haben, was unsere Evolution in der Schwerkraft ausmacht: Ist Evolution nur unter Schwerkraft möglich, oder ist die Fortpflanzung des Lebens auch in Schwerelosigkeit möglich? Letztlich ging es auch um die Frage, woher wir kommen: Kommen wir von der Erde, oder kommen wir von einem anderen Planeten? Woher und wohin gehen wir? Welche Möglichkeiten sind im All gegeben? Als dritte Gruppe möchte ich natürlich noch die technologischen Experimente herausgreifen, die mein Experimentatorherz ansprechen: die Benutzung des Roboterarms in der Schwerelosigkeit unter einem vorhersagenden Rechneralgorithmus, der es ermöglicht, auch viele hunderttausend Kilometer entfernte Roboter in der Schwerelosigkeit zielgenau und sozusagen wie in „real-time“ zu steuern, also wie direkt sofort vor Ort. Dann sind natürlich die medizinischen Experimente aus dem Grund besonders herausragend, weil wir sie nicht nur durchführten, weil wir nicht nur die Operatoren waren, sondern weil wir sie auch an uns selbst durchgeführt haben. Da war ich Versuchsobjekt und –subjekt in einem. Das sind eben Dinge, mit denen ich vorher als Physiker nicht in Verbindung kam. Das heißt, wir lernten, uns selbst Blut abzunehmen. Ich bin mit einem Katheder, der bis kurz vors Herz ging, gestartet. Ich habe in der Schwerelosigkeit eineinhalb Liter Kochsalzlösung in meinen Blutkreislauf infundiert. Das sind alles Dinge, die doppelt anstrengend sind, weil die Unversehrtheit des eigenen Körpers in Frage gestellt ist, bzw. genauer gesagt, eben nicht in Frage zu stellen ist: Das heißt, ich mußte sehr aufpassen. Zum anderen bin ich aber, weil ich selbst das Versuchsobjekt bin, auch unmittelbar emotional betroffen. Darüber hinaus sind all die Experimente, die Erfolg hatten, natürlich die besonders herausragenden gewesen. Es waren diejenigen Experimente, bei denen wir es im Verlauf der Mission geschafft haben zu sagen: "Wir haben hier so interessante Ergebnisse, bitte führt diese oder jene Experimentänderung doch an dem Zusatztag, den wir am Schluß haben, noch einmal durch." Das heißt, ich war natürlich besonders beeindruckt vom Jubel, der aus dem Kontrollzentrum nach oben durch den Telefonkontakt kam, als dann tatsächlich dieses oder jenes Experimentergebnis im Sicheren war, sprich die Daten auf der Erde waren. Mößner: In diesem Zusammenhang muß folgende Frage kommen, und das fragt man sich ja auch, gerade wenn man sich mit den Ergebnissen der bemannten Raumfahrt auseinandersetzt: Wo fanden diese Experimente auch eine Umsetzung für die Wissenschaft auf der Erde? Schlegel: Ich hatte das ja vorhin schon anzudeuten versucht: Es wird sehr oft der Fehler gemacht zu sagen: "Die fliegen zehn Tage im Orbit, machen 90 Experimente, und dafür geben wir so und so viel Geld aus." Das ist aber nur die Spitze des Eisberges. Ein Experiment, das in so einer Mission durchgeführt wird, wird meistens von einer Wissenschaftlergruppe ausgedacht, die zwischen zwei und zehn Leuten stark ist. Diese Leute haben nicht nur die Idee und sagen, "so, jetzt macht mal!", sondern sie müssen auch für die Erde nachweisen, daß ihre Experimenthypothese, ihre Idee, tatsächlich wertvoll ist. Sie müssen ein Proposal schreiben, einen Vorschlag. Sie müssen Referenzexperimente auf der Erde nachweisen, um zu zeigen, welcher Effekt nun in der Schwerelosigkeit besonders erfolgversprechend ist. Dann gibt es die Phase, daß dieses Experiment tatsächlich umgesetzt werden kann: Da ist dann die Industrie oder sind die Hochschulen gefragt, die die Geräte bauen müssen, um diese Experimentidee in die Tat umsetzbar zu machen. Dann braucht es die Menschen, die mit diesem Gerät umgehen lernen. Das sind nicht nur die Astronauten, sondern auch die Bodenbegleitteams, die am Boden über den Fortgang des Experiments wachen und sogar ein Referenzexperiment am Boden mit einem gleichen Gerät zur gleichen Zeit mit dem gleichen Probenmaterial bzw. mit einem Probenmaterial, das aus der gleichen Charge kommt, durchführen. Die Experimentergebnisse können dann sein: eingefrorene Blutproben, eingefrorene Speichelproben, Halbleiterkristalle, Aufnahmen vom Mikroskop, Aufnahmen von Wachstumszuständen, fixierte Pflanzen. All das wird dann auf der Erde weiter untersucht mit Elektronenmikroskopen, Röntgenanlagen, und was es sonst noch für die einzelnen Wissenschaften an Analysemöglichkeiten gibt. Da hat ja jede Wissenschaftsrichtung eine eigene Batterie von Analysemöglichkeiten. Diese Experimente in der Schwerelosigkeit sind eingebettet in die Forschung, die an Hochschulen und an Großforschungseinrichtungen in der Industrie läuft. Da kann man dann nicht sagen, dieses Experiment und dieses Ergebnis sind Frucht der bemannten Raumfahrt. Irgendwo spielen auch – das hatte ich vorhin schon erwähnt – Schwerelosigkeitszeiten in Parabelflügen, in Raketenflügen, die Experimente in den Falltürmen eine Rolle. Auch dort werden Vorversuche durchgeführt. Die fließen genauso mit ein. Diese ganze Experimentumgebung befruchtet die dahinter stehende Wissenschaftsrichtung - und Teil dieser Wissenschaftsrichtung kann sein: Forschung unter Bedingungen der Schwerelosigkeit. Das ist aber nicht losgelöst, sondern mit den brennenden Fragestellungen unserer Zeit verbunden und korreliert. Zum Beispiel im medizinischen Bereich: Was bringt den Körper dazu, frisch operierte Organteile abzustoßen? Das ist eine ganz wesentliche Frage des Flüssigkeitshaushalts des Körpers. Wir erleben in der Schwerelosigkeit eine Umverlagerung der Flüssigkeit in den Oberkörper. Wohin geht diese Flüssigkeit genau? In die Zellen, zwischen die Zellen? Wie ist der Abbaumechanismus, welche hormonalen Steuerungsmechanismen spielen eine entscheidende Rolle? In der Vorbereitung dieses Experiments – im Vorfeld des eigentlichen Fluges – ist tatsächlich ein Hormon gefunden worden, das das wesentlich beeinflußt und das regelt, wie dieser Flüssigkeitsabbau und damit die Abstoßung von möglichen Fremdkörpern geschieht. Das ist nur ein Beispiel, das ich näher zu erläutern versucht habe. Aber eigentlich haben Sie das in jeder Forschungsrichtung: die enge Verknüpfung zwischen Experimenten in der Schwerelosigkeit und den normalen Experimenten, die eben unter Schwerkraftbedingungen stattfinden. Um es aber etwas konkreter zu sagen: Wir betreiben wohl im wesentlichen, in der überwiegenden Zahl – bzw. haben betrieben –, Experimente der Grundlagenforschung. Das heißt, das ist eine Forschung, die pures Grundlagenwissen weiterbringt. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Experimenten, die sich mit dem Technologietransfer beschäftigen: Wie sind die Erkenntnisse, die ich aus diesen Grundlagenexperimenten gewonnen habe, anzuwenden, einzusetzen in alltäglichen Prozessen? Zum Beispiel das Kristallwachstum, z. B. der Roboter, von dem ich gesprochen habe. Diese Erkenntnisse gehen heute zum Teil ein in die Benutzung von Robotern bei Operationen an Menschen. Die Grundidee meiner Antwort ist: Wir können aus meiner Sicht Schwerelosigkeitsforschung nicht von anderer Forschung trennen. Ich denke, daß wir in der Schwerelosigkeitsforschung in der Vergangenheit viele Ansätze und Ideen hatten, die uns hier auf der Erde weitergebracht haben. Das gilt besonders für die Medizin, das gilt aber auch vor allen Dingen in den Materialwissenschaften. Ein weiteres abschließendes Wort dazu, das damit zusammenhängt: Es wird auch immer der Unterschied zwischen bemannter und unbemannter Raumfahrt gemacht. Das ist meines Erachtens genauso miteinander verwoben. Wir könnten uns den momentan reibungslosen, ja fast serienmäßigen Start von Wettersatelliten, Telekommunikationssatelliten, Erdbeobachtungssatelliten nicht vorstellen, wenn wir nicht diese Entwicklung der bemannten Raumfahrt in Ost und West gehabt hätten, die uns erst in vielen Entwicklungsschritten - Miniaturisierung der Elektronik, der Mechanik, Verbesserung der Antriebskonzepte – in diese Situation gebracht hätte. Mößner: Sie haben ja neben dieser D2-Mission 1993 auch noch eine zweite Mission mitgemacht – allerdings als Ersatzmann –, nämlich die MIR97-Mission im letzten Jahr. Wenn Sie Vergleiche ziehen – sowohl vom Training her als auch von den Lebensumständen: Wie würde dieser Vergleich aussehen? Auf der einen Seite die USA, in der allgemeinen Lesart immer als High- Tech-Land dargestellt, und auf der anderen Seite das gute alte Rußland mit einer Raumstation MIR, die ja schon einige Schwächeanfälle hinter sich hat: Wie haben Sie denn das in Ihrer Trainingsphase erlebt? Wie haben Sie auch diese ganze Diskussion rund um die russische Raumfahrt erlebt? Schlegel: Zum einen muß ich vorwegschicken, daß natürlich das Verhältnis zu Rußland zumindest bei den Menschen meiner Generation – ich bin Jahrgang 1951 – doch geprägt ist von der jüngsten europäischen Geschichte. Wir hatten tatsächlich den Ost-West-Konflikt, und ich lebte in Westdeutschland. Im Einflußbereich der Russen lag die damalige DDR. Meine Eltern sind damals aus der DDR geflüchtet. Das alles ist mein Hintergrund. Ich bin also mit erheblichen – das sage ich jetzt, damals habe ich natürlich gedacht, ich habe keine Vorurteile – Vorurteilen nach Rußland gegangen. Ich habe aber in Rußland gelernt, daß nach meiner Sicht die Russen Europäer sind, obwohl die meisten Russen das abstreiten, und uns geschichtlich und in ihrer ganzen Mentalität doch sehr nahe stehen. Ich habe gelernt, daß in Rußland ein sehr hohes Niveau der naturwissenschaftlichen Bildung vorhanden ist, daß eine hohe Kultur bei den Menschen vorherrscht. Ich mußte also auf vielen Gebieten mein Weltbild tatsächlich neu ordnen. Ich habe die russische Sprache erst dort gelernt. Das ist jetzt zweieinhalb Jahre her: Das geht immer noch schlecht und ist holprig genug, aber ich kann mich mit jedem Russen, der willens ist, sich mit mir auseinanderzusetzen, tatsächlich unterhalten. Dann, nach dieser Eingewöhnungsphase und der Erkenntnis, daß der Russe vielleicht nicht so schnell und so oberflächlich freundlich wie der Amerikaner schlechthin ist – das ist ein Vorurteil, aber es trifft meistens zu –, als ich also diese Barriere hinter mich gebracht hatte, habe ich festgestellt, daß wir doch ganz viele Gemeinsamkeiten haben - Russen, Europäer, Deutsche wie auch Amerikaner – und daß wir in der Raumfahrt sowieso zusammenarbeiten. Nun komme ich auf das Thema zu sprechen, wie der Unterschied im Training, wie vielleicht auch der Unterschied in der Qualität – das habe ich so herausgehört aus der Frage – ist. Ich denke, man kann die heutige russische Raumfahrt nicht mit der amerikanischen vergleichen. Die amerikanische Raumfahrt, so wie ich sie geflogen bin, ist der Shuttle: Wir haben 11 Tonnen, das sind 11000 Kilogramm, wissenschaftliche Nutzlast hochgebracht, damit gearbeitet und sie wieder auf die Erde heruntergebracht. Mit dem russischen Raumfahrtsystem Sojus können Sie außer dem Kosmonauten, also dem Astronauten, zehn Kilogramm wissenschaftliche Nutzlast hochbringen und zehn Kilogramm, also gerade einmal eine volle Aktentasche, wieder mit herunterbringen. Da haben Sie aber den Vorteil, daß Sie das Experiment Wochen, Monate oder Jahre laufen lassen können. Damit wir überhaupt genügend Experimentgeräte oben hatten, hatten wir ein separates Raumschiff, ein Nutzlastraumschiff, nach oben geschickt. Was ich sagen will, ist folgendes: Die Systeme sind völlig andere. Da ist die Langzeitstation, der Raumflug auf der MIR. Und das kann man nun mit dem Shuttle einfach nicht vergleichen. Aber Sie haben vollkommen recht. Die russischen Raumfahrtlösungen sind ein bißchen mechanischer, allerdings auch genial einfach, wirklich nahezu genial. Die amerikanische Realisierung ist mehr auf High-Tech aufgebaut, sprich, sie ist mehr computerisiert und besteht auch aus einer hochwertigeren Mechanik – aber aus meiner Sicht nicht in diesem ausgetüftelten Stadium, wie ich das auf der russischen Seite kennengelernt habe. Menschlich ist vielleicht noch ganz interessant, daß ich irgendwie die Russen bewundere bzw. es einfach nicht verstehe, wie Menschen das können. Auf der einen Seite haben meine russischen Kollegen mit der wohl entwickelten, wohl gewarteten, gut funktionierenden Infrastruktur der Raumfahrt in Rußland zu tun. Und auf der anderen Seite ist es so: Wenn sie aus ihrem Berufsgebäude heraus und in ihre Privatwohnungen gehen, dann kommt da noch nicht einmal sauberes Wasser aus der Wasserleitung, oder sie bekommen kein vernünftiges heiles Fenster, oder der Eisschrank funktioniert nur unter ganz bestimmten Randbedingungen, so daß man dauernd daran herumbasteln muß. Genauso funktionieren ihre Autos nicht auf einem Niveau, wie das bei uns der Fall ist. Diese Fähigkeit der russischen Seele, wie ich fast sagen möchte, mit den unterschiedlichen Niveaus morgens und nachmittags klarzukommen und darüber nicht zu verzweifeln, muß besonders herausgehoben werden. Sie sprachen auch die etwas in die Jahre gekommene MIR an. Ich habe ausgesprochene Hochachtung vor der Leistung, die Raumstation MIR nun im dreizehnten Jahr in der Schwerelosigkeit im Erdorbit zu halten. Sie müssen daran denken, das war für fünf Jahre ausgelegt, und es hat klaglos zehn Jahre funktioniert. Nun, im elften und zwölften Jahr, gab es tatsächlich viele Vorkommnisse, bei denen wir gesehen haben: Diese oder jene Komponente kommt an den Rand ihrer Lebensdauer. Oder es gab auf einmal Erkenntnisse darüber, daß z. B. im internen Regulierungssystem tatsächlich falsche Legierungen benutzt worden sind, so daß auf einmal eine Elektrochemie passierte und Korrosion entstand. Das sind aber Fehler, die jetzt sofort, im Moment, in die Konstruktionen der internationalen Raumstation Alpha eingehen. Daß wir Feuer an Bord der MIR hatten, daß wir diese Kollision hatten: Das zeigt alles, daß die Notfallszenarien, die bis jetzt nie gebraucht wurden, tatsächlich nützlich sind und funktioniert haben – beziehungsweise man hat gesehen, wo Schwachpunkte sind und wo das in der Zukunft verbessert werden muß. Für mich ist es, so ironisch das klingt, tatsächlich ein Glücksfall gewesen, daß die Raumstation MIR nun in einem Alter ist, in dem sie tatsächlich besonderer Zuwendung bedarf. Von dieser Zuwendung lernen wir nämlich immens. Es geht ja doch immerhin darum, die menschliche Präsenz in der Schwerelosigkeit außerhalb der Erde weiterzutreiben – jetzt, Gott sei Dank, in einem internationalen Maßstab. Mößner: Die internationale Raumstation – unabhängig davon, daß die Langzeitforschungen bislang auf der MIR gemacht wurden – hat ja auch eine Funktion in der internationalen Öffentlichkeit. Muß hier die Raumfahrt eine Funktion erfüllen, die sich die Politik erwünscht, d. h., hat hier die bemannte Raumfahrt auch einen Vorbildcharakter? Schlegel: Wir müssen uns nichts vormachen: Alles, was der Staat unternimmt, alles, was die Gesellschaft unternimmt und was einigermaßen ein nennenswertes Budget hat - und dazu gehört auch die Raumfahrt -, ist natürlich letztlich beeinflußt und gewollt durch die Politik: Das ist unser System, und ich bin froh, daß es so ist. Ich bin froh, daß wir die Politik beeinflussen können. Es ist tatsächlich so und war auch in der Vergangenheit so, daß die Raumfahrt und auch die bemannte Raumfahrt natürlich militärisch und letztlich auch politisch gewollt war. Nun ist die politische Zielsetzung sicherlich so geworden, wie wir Europäer sie immer schon gehabt haben. Wir haben schon immer, zumindest in der DLR und in der ESA, in der Europäischen Raumfahrtagentur, die friedliche Weltraumforschung vorangestellt: Das war unser Ziel, dafür haben wir das getan. Nun ist es tatsächlich so, daß wir weltweit zusammenarbeiten. Ich denke, weil es ein ehrgeiziges Ziel ist, weil es ein Ziel ist, das die Menschen auf der Straße sofort fasziniert, ja sogar polarisiert, weil die einen denken, daß da zu viel Geld ausgegeben wird, und die anderen - wie ich - denken, daß es eigentlich zu wenig Geld ist, daß es besonders in Deutschland zu wenig Geld ist - weil das also so ist, ist es von öffentlichem Interesse. Wenn wir das international zusammen machen, haben wir die Chance – so wie ich meine kleinen Vorurteile abgebaut habe – in einem großen Rahmen unsere gegenseitigen Vorurteile abzubauen und vielleicht einmal so zu leben, wie wir die Welt eigentlich aus dem Weltraum sehen, nämlich ohne Grenzen, ohne Erkenntnis darüber, welche Religion oder welche Hautfarbe die Menschen haben, die da gerade unter mir sind. Wir leben nämlich in einem großen Raumschiff, die Erde ist eigentlich nichts anderes als ein großes Raumschiff, mit dem wir sorgfältig, sprich in Frieden, umgehen müssen. Mößner: Es gibt mittlerweile nun schon viele Bücher von berühmten Raumfahrern, die beim Blick auf die Erde sehr bewegende Worte gefunden haben. Wenn Sie heute, fünf Jahre danach, die Gelegenheit hätten, in eines der Bücher ein eigenes Zitat hineinzuschreiben, was würden Sie da hineinschreiben? Schlegel: Das ist schwierig, denn ich habe sehr viel gelesen. Ich beschäftige mich eigentlich schon seit 30 Jahren damit. Ich habe auch viele Bücher über Weltraumfahrt und dabei eben auch viele dieser Aussprüche gelesen. Als ich dann tatsächlich zehn Tage in der Schwerelosigkeit war, wußte ich gar nicht mehr, ob das mir in den Sinn gekommen ist oder ob ich mich wieder an etwas Gelesenes erinnert habe. Ich würde sagen, daß das Wichtigste, das ich originär daraus gezogen habe, folgendes ist: Viele der logischen Schlußfolgerungen, der logischen Aussagen wie z. B. der Grenzenlosigkeit oder der Endlichkeit des Erdballs stellen intellektuell eine Seite der Medaille dar. Aber zu erkennen, daß das eigentlich ganz tief aus dem Bauch heraus kommen muß, daß das etwas ist, das die Basis unserer Lebens darstellt, das habe ich dort erfahren. Das möchte ich eigentlich den Menschen weitergeben. Das ist kaum möglich durch ein geschriebenes Wort, das geht vielleicht durch ein gesprochenes Wort, bei dem man wirklich darlegen kann, daß man diesen Eindruck hatte: Auf dem kleinen Raumschiff, auf dem man täglich alles in Ordnung hält, um zu überleben und um das Zusammenleben reibungslos zu gestalten, erkennt man dann, daß man in eineinhalb Stunden um die Erde kreist. Das ist sehr schnell, aber wiederum auch sehr langsam, denn in den 90 Minuten sieht man 40 Minuten lang nur Wasser, nur Ozeane. Da, auf diesem Raumschiff, wächst die Erkenntnis, daß man nur das Beiboot vom großen Raumschiff ist, vom Mutterraumschiff Erde. Das ist der Gedanke, der für mich zentral ist. Mößner: Noch ein Wort in die Zukunft gerichtet: Wie groß schätzen Sie denn die Wahrscheinlichkeit ein, jetzt noch einmal fliegen zu können? Sie müssen ja nun in die USA und sich auf den möglichen Flug auf der internationalen Raumstation vorbereiten. Schlegel: Man kann das bejahen, aber es ist nur eben sehr verkürzt. Im Moment steht die Integration der nationalen europäischen Astronauten in ein gemeinsames europäisches Astronautenteam an. Das ist beschlossen, und jetzt muß es umgesetzt werden. Ich bin einer der Kandidaten, der europäischer Astronaut werden und in dieser Eigenschaft dann im August dieses Jahres die Missionsspezialistenausbildung in den USA beginnen soll, um dann nach eineinhalb Jahren mit meinen Hintergrundkenntnissen der russischen und der amerikanischen Raumfahrt-Infrastruktur als europäischer Astronaut einen Raumflug auf dem Shuttle zu machen – und dann später vielleicht in einem zweiten oder dritten Schritt, je nachdem, wie sie es wollen, auch auf dieser internationalen Raumstation Alpha ab dem Jahr 2003 zum Einsatz zu kommen. Mößner: Herr Schlegel, ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute und bedanke mich für dieses Gespräch. Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, das war Alpha-Forum von der „Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung“ in Berlin mit dem deutschen Astronauten Hans Schlegel. Ich bedanke mich für Ihr Interesse – vielleicht, wenn Sie Lust haben, demnächst mehr zu diesem Thema.

© Bayerischer Rundfunk