Alfried Krupp Fellows 2010/11

1 Inhalt

4 Vorwort 12 Professor Dr. Bert Becker Professor Dr. Bärbel Friedrich, „Globalisierung und Küstenschifffahrt in Wissenschaftliche Direktorin des der Ostsee und in Ostasien“ Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald 24 Professor Dr. William J. Dodd „Die Kultur- und Sprachkritik als Orte oppositioneller Diskurse in der „inneren Emigration“ der NS-Zeit. Problematik, Theorie, close readings“

34 Dr. Stefan Donecker „Migration als Motiv frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit in Nordosteuropa. Grundzüge einer Ideengeschichte menschlicher Mobilität“

46 Professor Dr. Michelle Facos „The Copenhagen Academy and artistic innovation circa 1800“

56 Professor Dr. Ulrich Falk „Wahrnehmungsverzerrungen: Ein Pro- blemfeld (auch) der Rechtsgeschichte. Beobachtet am Beispiel des Konkursrechts und seiner Praxis um 1900“

2 66 Professor Dr. Alexandra Karentzos 116 Exkursion nach Lubmin „Postkoloniale Ironie. Positionen gegen- 3. August 2011 wärtiger Kunst/Theorie“ 118 Abschlussausflug auf die Insel Hiddensee 74 Dr. Gideon Reuveni der Fellows 2010/2011 „Verbraucherkultur und die Entwicklung 1. und 2. September 2011 der modernen jüdischen Identität“ 120 1. Alumni-Treffen 80 Professor Dr. Arndt Schmehl 23. Juni 2011 „Steuerstaaten im Wettbewerb: Schnittstellen zum Steuersystem: Zur 124 Alumni-Fellows Kontextualisierung eines Rechtsgebiets“

90 Privatdozent Dr. Martin Wrede „Ritter und Könige. Die Wege und das Ende der ritterlichen Selbststilisierung der europäischen Monarchie in der Frü- hen Neuzeit“

100 Professor Dr. Reinhard Zimmermann „Caspar David Friedrich. Werkverzeichnis der Gemälde“

110 Fellowlectures der Fellows 2010/2011

3 Professor Dr. Bärbel Friedrich

Wissenschaftliche Direktorin des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald

Vorwort Das Studienjahr 2010/11 war reich an Veran- ton, Indiana, USA, eine besondere Kennerin staltungen, die der Kunst gewidmet waren. der skandinavischen Kunst, hatte sich zum Es ergab sich, dass diese Tendenz auch durch Ziel gesetzt, den Einfluss der Königlichen die fachliche Zusammensetzung der Fellows, Akademie der Künste Kopenhagen auf die die am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Wiederentdeckung der Romantiker Friedrich Greifswald von Oktober 2010 bis September und Runge im 20. Jahrhundert zu recherchie- 2011 zu Gast waren, reflektiert wurde. Unter ren. Frau Facos hat darüber hinaus mehrere den 10 Fellows befanden sich drei Kunsthis- Veranstaltungen am Kolleg initiiert, begin- toriker. nend mit dem internationalen Kolloquium Frau Professor Michelle Facos aus Blooming- „Innovation in Art“, in das sie zu unserer 4 Freude auch in der Region ansässige Künstler Geburtsstätte des Künstlers Platz für Ausstel- einbezog. Dabei kam es zur Begegnung mit lungen und den Aufenthalt junger Künstler. den Usedomer Malern Matthias Wegehaupt Die Caspar-David-Friedrich-Vorlesungen im und Volker Köpp, die über ihre Erfahrungen Sommerprogramm des Kollegs bildeten ei- in der Zeit der Wende berichteten und dar- nen passenden Rahmen für dieses Ereignis, legten, was für einen freischaffenden Künst- in das wiederum die Fellows aktiv eingebun- ler, eingebunden in die Ostseelandschaft, von den waren. Den Reigen eröffnete Professor primärer Bedeutung ist. Die Teilnehmer des Dr. Reinhard Zimmermann aus Trier, der sich Kolloquiums, darunter auch einige Fellows, in dem Kollegjahr das Ziel gesetzt hatte, den hatten tags darauf die Gelegenheit, das Ate- von Professor Helmut Börsch-Supan erstell- lier bzw. die Galerie der Künstler auf der In- ten Werkkatalog der Gemälde Caspar David sel Usedom zu besuchen und darüber hinaus Friedrichs zu aktualisieren. Wie schwierig die Sammlung des Malers Niemeyer-Holstein und kontrovers die Interpretation dieser Bil- zu besichtigen. Ebenfalls von Frau Facos or- der unter kunsttheoretischen und ästheti- ganisiert fand eine kleine Ausstellung mit schen Gesichtspunkten ist, wurde in lebhaf- dem Titel „Facing New Faces of Icons“ statt, ten Diskussionen sichtbar, die im Anschluss die der Künstler Davor Džalto, Professor für an zwei sehr gut besuchte Vorträge stattfan- Geschichte und Theoretische Kunst, persön- den, gekrönt von den Ausführungen Profes- lich eröffnete. Diese Ausstellung war Teil ei- sor Börsch-Supans über die Ruine Eldena im nes Seminars für Studierende der Greifswal- Riesengebirge. Es war erfreulich, zu diesen der Universität. Die positive Rezeption dieser Veranstaltungen auch den jungen Kollegen Veranstaltungen hat uns ermuntert, auch in Professor Dr. Kilian Heck begrüßen zu dür- Zukunft das Kolleg für Ausstellungszwecke zu fen, der nach langer Vakanz die Professur für nutzen. Kunstgeschichte an der Universität Greifs- wald übernommen hatte. Damit wird die in Im Juni 2011 eröffnete die Caspar-David- Vorbereitung befindliche Schwerpunktset- Friedrich-Gesellschaft e.V. das Caspar-David- zung des Kollegs zum Thema „Romantik“ Friedrich-Zentrum. Es bietet nunmehr in der durch weitere Expertise bereichert. 5 Mit zeitgenössischer Kunst, speziell den das auch für heutige Migrationsdebatten Spielarten postkolonialer Kunst, beschäftigte hilfreiche Einblicke verspricht. Herr Donecker sich Frau Professor Dr. Alexandra Karentzos, organisierte ein internationales Kolloquium, ebenfalls aus Trier stammend. Mit ihrem das die Abstammungsmythen und Völkerge- Sohn David hat erstmals ein Säugling Ein- nealogien im frühneuzeitlichen Ostseeraum zug in das Kolleg gehalten. Herr Oberbürger- behandelte. Zum Schluss seines Aufenthaltes meister Dr. König, ein häufiger Besucher und bekannte er, wie sehr ihm die Diskussionen Freund des Kollegs, vermittelte beim Emp- mit anderen Fellows und Kollegen bei der Be- fang der Fellows im Rathaus auch sogleich wältigung seines Vorhabens geholfen hätten. eine Tagesmutter für den kleinen David, so Er erhielt mehrere Angebote für zukünftige dass Frau Karentzos ihre Kollegzeit optimal Forschungstätigkeiten und entschied sich für nutzen konnte. Zum Ende erhielt sie einen das kulturwissenschaftliche Kolleg der Uni- Ruf auf eine Professur an der Technischen versität Konstanz in Rahmen des Exzellenz- Universität Darmstadt. clusters „Kulturelle Grundlagen von Integra- tion“. Geschichte und Philosophie bildeten die fachlichen Verknüpfungspunkte für eine Privatdozent Dr. Martin Wrede vom Histori- weitere Gruppe von Junior- und Seniorfel- schen Institut der Justus-Liebig-Universität lows des Jahrgangs 2010/11. Gießen hat als Historiker und Romanist sei- Dazu zählte Dr. Stefan Donecker, der aus ne Forschung auf den frühneuzeitlichen Pa- Österreich kommend als Skandinavist be- triotismus, die deutsch-französischen Bezie- reits zahlreiche Aufenthalte an osteuropä- hungen und die frühneuzeitliche Monarchie ischen Universitäten absolviert hatte. Sein gerichtet. Seine Kollegarbeit sezierte den Forschungsinteresse richtete sich auf die Königsmord in seinen vielfältigsten Facetten. Wahrnehmung der Migration in der Frühen Bei der Tagung, die er in der Kollegzeit orga- Neuzeit, d.h. zwischen dem 15. und 18. Jahr- nisierte, stand die Monarchie als ritterliches hundert, und ihre Rolle bei der vornationalen Erbe der Frühen Neuzeit im Vordergrund. Identitätsbildung im Ostseeraum ein Thema, 6 Identität und die Entwicklung des modernen Rechtliche Aspekte, wenngleich auf sehr Judentums in Europa waren Gegenstand des unterschiedlichen Ebenen, bildeten die For- Projektes von Dr. Gideon Reuveni, der Ge- schungsinhalte der Professoren Dr. Ulrich schichte, Philosophie und Politische Wissen- Falk und Dr. Arndt Schmehl. Ulrich Falk, schaften an der Hebrew University in Jeru- lange Zeit am Max-Planck-Institut für Eu- salem studiert hat. Nach Beendigung seines ropäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Fellowjahres wurde Gideon Reuveni als Rea- Main tätig, seit 2002 als Professor am Ins- der in Geschichte und Direktor des Centre titut für Unternehmensrecht in Mannheim for German Jewish Studies an die Universität angesiedelt, beschäftigten wahrnehmungs- Sussex berufen, was wiederum zeigt, dass ein und gedächtnispsychologische Phänomene, Aufenthalt am Kolleg für die Karriere eines die sowohl in der Rechtspraxis als auch im Juniorfellows recht förderlich sein kann. geschichtlichen Rückblick zu Verzerrungen führen und selten zur Kenntnis genommen Professor Dr. Bert Becker, in Bochum in den werden. In diesen Rahmen fügte sich die be- Fächern Geschichte und Germanistik promo- eindruckend vorgetragene, viel Aufmerksam- viert, kam weitgereist aus Hong Kong, wo er keit empfangende Greifswalder Rede, die der als Associate Professor Moderne Europäische Lehrer und Mentor von Herrn Falk, Professor Geschichte lehrt. Für ihn bedeutete der Auf- Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Simon im Juni 2011 enthalt in Greifswald eine Rückbesinnung hielt. Ihr Thema lautete „Kohlrauschs Hand: auf die Zeit, als er an mehreren ostdeutschen Hinweise zum Wesen von Verstrickung“ und Universitäten, darunter Rostock, und auch für führte am Beispiel einer im Wissenschaftsbe- die Adenauer Stiftung tätig war. Sein For- reich verankerten Person die Deutungen von schungsvorhaben zielte auf Parallelentwick- Gesten in der Zeit des nationalsozialistischen lungen ab, die zu Beginn der Industrialisierung Machtgefüges vor Auge. die Umstellung von Segel- auf Dampfschiffe im Ostsee- und im asiatischen Raum für den Die wissenschaftliche Karriere des zweiten Handel begleiteten. Rechtswissenschaftlers, Arndt Schmehl, be- gann in Gießen, wo er nach der ersten ju- 7 ristischen Staatsprüfung am Lehrstuhl für ße Aufmerksamkeit. Herr Dodd hatte sich ein Öffentliches Recht und Verwaltungslehre überaus großes Arbeitspensum vorgenommen promoviert wurde. Seit 2006 ist er als Profes- und darüber hinaus aktiv an vielen Kollegak- sor für Finanz- und Steuerrecht in tivitäten teilgenommen. Dies kann für die Ge- tätig. Es gelang ihm, in seiner Fellow Lecture sundheit eine Herausforderung bedeuten. So den Laien weitestgehend zu überzeugen, waren wir alle sehr erleichtert, als Herr Dodd dass die Einkommensteuererklärung nicht nach längerer Krankheit wieder am Kollegle- allein auf einem „Bierdeckel“ deklariert wer- ben teilnehmen konnte und sein Forschungs- den kann, sowie zu zeigen, wie verwoben das projekt fortsetzen konnte. Steuerrecht ist und dass es einer jährlichen Anpassung bedarf, für die ein Expertenkreis Da wären noch drei Veranstaltungen zu nen- zuständig ist, dem auch Herr Schmehl ange- nen, an denen die Fellows lebhaft Anteil nah- hört. Die Hoffnung partieller Erleichterungen men: hat uns Herr Schmehl jedoch nicht vollstän- Zu Beginn des Jahres 2011 stellte Joachim dig genommen; vielleicht hat ihm die Kolleg- Käppner, der Autor der Ende November 2010 zeit Anregungen gegeben, hierfür belastbare erschienenen Biographie über Professor Bert- Konzepte zu entwickeln. hold Beitz und dessen Lebenswerk, das Buch im Rahmen einer Lesung vor, an der auch die Professor Dr. William J. Dodd lehrt deut- Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates sche Sprach- und Literaturwissenschaft der Stiftung Alfried Krupp Kolleg Greifswald in Birmingham und hat uns am Kolleg mit teilnahmen. Dabei hatten die Fellows Gele- seinen Nachforschungen über die Sprache genheit, in Gesprächen noch mehr über ihre der inneren Emigration der NS-Zeit und zur Förderer zu erfahren, und die Beiratsmitglie- modernen Sprachkritik, die er zum Teil in der konnten bei diesem Anlass die Fellows, klausurartigen Archivbesuchen in Marbach an deren Auswahl sie mitgewirkt hatten, in ergänzt hat, tief beeindruckt. Auch eine se- deren wissenschaftlichem Umfeld persönlich mesterbegleitende Vorlesung zu dem Thema kennen lernen. fand bei den Greifswalder Studierende gro- Ein weiteres Ereignis von herausragender 8 Güte war die unter Federführung von Profes- gezeichnet. Zu diesem Ereignis waren sogar sor Dr. Thomas Schweder und weiteren Mit- einige frühere Fellows, die Frau Grummts gliedern der Ernst-Moritz-Arndt Universität, Arbeit kennen und schätzen gelernt hatten, dem Institut für Marine Biotechnologie e.V. angereist. Ein so großartiges Oeuvre hat viele und dem Max-Planck Institut für Marine Mik- Unterstützer, zu denen der großzügige För- robiologie in Bremen durchgeführte internati- derer Herr Professor Beitz, ferner die ehe- onale Tagung über „Mikrobielle Interaktionen malige wissenschaftliche Leitung des Krupp in Marinen Systemen“. Hieran nahm auch ein Kollegs und das nicht ganz alltäglich zu wer- Fellow des letzten Jahres, Dr. Stefan Sievert tende Engagement des Beck Verlages zählen. vom Ozeanographischen Institut in Woodsho- le, USA, teil, der bei dieser Gelegenheit wiede- Die Erfahrung mit den Fellows 2010/11 zeig- rum einen interessanten Vortrag hielt und die te erneut, dass die Gruppe sich nach dem Kontakte zum Kolleg wie auch zur Greifswal- Empfang des Oberbürgermeisters langsam der Arbeitsgruppe von Herrn Schweder ver- ihre neue überschaubare Wirkungsstätte er- tiefte, woraus inzwischen drei Publikationen schließt. Dazu gehörten gemeinsame Film- hervorgegangen sind. abende, Stadt- und Universitätsführung, eine Besichtigung des ehemaligen AKW Lub- Die Buchpräsentation der Zeichnungen von min und die Exploration von Kunststätten, Caspar David Friedrich, zusammengestellt in z. B. auf der Insel Usedom. Erstmals fand ein langer mühevoller Arbeit von dem ehemali- Treffen der gegenwärtigen Fellows mit den gen Caspar-David-Friedrich-Fellow Frau Dr. Alumni statt, die sich im Juni in Greifswald Christina Grummt, bildeten zweifelsfrei einen trafen. Wir erhoffen, dass somit die Bande krönenden Abschluss des Kollegjahres. Die zu dem Kolleg enger werden und die Fel- Entstehungsgeschichte des 1200 Abbildungen lows sich mit dem Kolleg, der Universität und umfassenden Werkes wurde von Frau Grummt der Stadt zunehmend identifizieren. Wie in im Beisein des Cheflektors des Beck Verlages, jedem Jahr fiel die Wahl für einen abschlie- Herrn Dr. Velten, und der Ressortleiterin der ßenden Ausflug auf die Insel Hiddensee, wo Kunsteditionen, Frau Dr. Schumacher, nach- wir zwei Tage in Neuendorf verbrachten, mit 9 Ausflügen auf den Dornbusch, nach Kloster chen Sommer die Heide überflutet hatte. und zum Gerhart-Hauptmann-Museum sowie Warten wir ab, welche Überraschung der einer Führung in die Heide. Dieses Mal hatten Ausflug im nächsten Studienjahr bietet! wir nicht mit dem Sturm zu kämpfen, wohl aber mit dem Wasser, das bei dem regenrei-

10 11 Professor Dr. Bert Becker

Alfried Krupp Senior Fellow April 2011 – September 2011

Kurzvita Bert Becker wurde 1960 in Witten (Ruhr) ge- Die Monographie erhielt 2008 den Research boren. Er studierte Geschichte und Germanis- Output Prize der Faculty of Arts der Uni- tik in Bochum. Nach seiner Promotion über versity of Hong Kong. Er ist Associate Pro- die frühen Beziehungen der DDR zu Großbri- fessor for Modern European History am De- tannien war er wissenschaftlicher Mitarbei- partment of History der University of Hong ter der Konrad-Adenauer-Stiftung in , Kong und leitet seit 2003 das Jebsen History Rostock und Potsdam. Er hatte Lehraufträge Project, das die geschichtswissenschaftliche in Berlin (FU), Frankfurt/Oder und Rostock Erforschung eines europäisch-asiatischen inne, wo er mit einer Biographie über Reichs- Unternehmens zum Ziel hat. kanzler Georg Michaelis habilitiert wurde. 12 Globalisierung und Küstenschifffahrt in Netzwerken, die als informelle Institutionen Kurzbericht der Ostsee und in Ostasien angesehen werden sowie von kulturellen Dimensionen unternehmerischen Handelns Die Lebensgeschichte des Apenrader Ree- integriert die Erweiterte Neue Institutionen- ders Michael Jebsen (1835-1899), der vom ökonomie wichtige Bereiche, die durch eine Schiffsjungen zum Reeder einer Frachtdamp- stärker akteursbezogene Sichtweise – was ferflotte aufstieg - zunächst derjenigen der sich im Rahmen einer Biographie besonders Firma Friedrich Krupp, dann seiner eigenen -, anbietet - der Analyse von Strukturbildungen außerdem nationalliberaler Reichstags- und den handlungsorientierten Bezugsrahmen preußischer Landtagsabgeordneter war, bil- geben. Dazu zählen vor allem das für die Ka- det die Hintergrundfolie für die Erörterung pitalbeschaffung und den Bau seiner Fracht- wirtschaftlicher Handlungsweisen eines Un- dampferflotte ausschlaggebende Netzwerk ternehmers, der sich in der Küstenschifffahrt von Jebsen mit den beiden Hamburger Kaf- in der Ostsee und in Ostasien betätigte und feeimporteuren Diederichsen und dem Kie- für die Darstellung globaler maritimer Poli- ler Werftbesitzer Howaldt sowie das globale tik im weitesten Sinne – von der deutschen Netzwerk mit Kapitänen, Maklern und Be- Parlaments- und Regierungsebene bis hin zur frachtern in Europa und Ostasien. Es läßt sich Konsulatsebene im Ausland -, aber auch für an der Biographie von Jebsen beispielhaft die Analyse von kulturellen Fragen wie fami- zeigen, wie entscheidend Netzwerke für die liären und lokalen Seefahrtstraditionen sowie Globalisierungswelle im 19. Jahrhundert wa- von Normen und Werten, die sich bei Unter- ren und welche Wechselwirkungen mit ihren nehmern des maritimen Gewerbes während höchst komplexen Resultaten zwischen Eu- der Industriellen Revolution ausprägten. Der ropa und Ostasien entstanden. hier gewählte geschichts- und kulturwissen- schaftliche Ansatz hilft, die stark strukturell geprägte Neue Institutionenökonomie um eine subjekt- und handlungsbezogene Sicht- weise zu erweitern. Mit der Einbeziehung von 13 Projektbericht Das umfangreiche Forschungsprojekt wurde (1835-1899), dessen Frachtdampfschiffe seit seit 2003 systematisch entwickelt und kon- den frühen 1880er Jahren in Europa – beson- zentrierte sich im Rahmen der zeitaufwen- ders in der Ostsee – und in Ost- und Südost- digen Vorarbeiten vor allem auf die Sichtung asien fuhren, war es, den lebensgeschichtli- und Auswertung schwer zugänglichen Quel- chen Aspekt als Ausgangspunkt für die stärker lenmaterials in Privathand, vor allem der Jeb- generalisierende Behandlung wichtiger Berei- sen and Jessen Historical Archives in Aaben- che der politischen, ökonomisch-sozialen und raa (dt. Apenrade, Dänemark) sowie öffentlich mentalen Geschichte Deutschlands und Ost- zugänglichen Primärmaterials in mehreren asiens während der Globalisierungswelle im National-, Regional- und Stadtarchiven in 19. Jahrhundert zu nehmen. Es handelt sich Europa und Ostasien. Das Ziel der Biogra- daher bei dem Buchprojekt methodisch gese- phie des Apenrader Reeders Michael Jebsen hen um eine kulturwissenschaftlich-struktu- relle Biographie, die sich als Beitrag zur Erwei- terten Neuen Institutionenökonomie versteht.

Der biographische Ansatz soll dazu beitragen, die stark strukturell geprägte Neue Instituti- onenökonomie um eine subjekt- und hand- lungsbezogene Sichtweise zu erweitern. Das ist auch nützlich für die Analyse von Netz- werken, die einen zentralen Bestandteil in der Wirtschaftsgeschichte der Neuen Institutio- nenökonomie bilden. Mit der Einbeziehung von Netzwerken, die als informelle Instituti- onen angesehen werden sowie der kulturellen Schiffsreeder und Reichs- Dimensionen wirtschaftlichen und unterneh- tagsabgeordneter Michael merischen Handelns integriert die Erweiterte Jebsen (ca. 1895) Neue Institutionenökonomie wichtige Berei- 14 che, die durch eine stärker akteursbezoge- ne Sichtweise – was sich im Rahmen einer Biographie besonders anbietet – der Analyse von Strukturbildungen den handlungsorien- tierten Bezugsrahmen geben. Die subjekt- bezogene Kommunikation und Interaktion soll dabei im Rahmen der Netzwerkanalysen Dampfschiff Mathilde stärker gewichtet werden. Ein biographisches (1891 von Blohm & Voss Individuum, wie der Reeder Michael Jebsen, in Hamburg erbaut) der erscheint als Teil von verschiedenen Netzwer- Partenreederei M. Jebsen ken, in denen er im Rahmen seines unterneh- (Apenrade) im Hafen von merischen Handelns ständig kommunizierte Hongkong (ca. 1892) und interagierte. Schiffe der Jebsen-Flotte herstellte und mit stetigen Aufträgen für seinen Schiffbaube- Betrachtet man Jebsens umfangreiche Ge- trieb versorgt wurde, bis hin zum Kohlen- schäftskorrespondenz über einen Zeitraum großhändler und Reeder Heinrich Diederich- von fast fünfundzwanzig Jahren (1875-1899), sen in Kiel, der zum wichtigsten Partner der so wird als sein wichtigstes Netzwerk ein Kreis Jebsens bei der wirtschaftlichen Erschließung von engen Geschäftsfreunden in Hamburg der deutschen Chinakolonie Kiautschou wur- und Schleswig-Holstein, das durch verwandt- de, entstand in den 1880er Jahren ein Drei- schaftliche Beziehungen unterstützt wurde, ecksnetzwerk zwischen Apenrade, Hamburg sichtbar. Angefangen mit den Brüdern Carl und Kiel, das entscheidend zum wirtschaftli- und Gustav Diederichsen in Hamburg, die in chen Erfolg der Reederei Jebsen beitrug. der bedeutenden Kaffeeimportfirma Theodor Wille tätig waren und das nötige Kapital für Ein zweites bedeutendes Netzwerk bildeten Jebsens erste Dampferbauten lieferten, über die Mitreeder, d. h. die Besitzer von Schiffs- den mit ihnen familiär verbundenen Werft- parten in den Dampfern von Jebsen, die für besitzer Georg Howaldt in Kiel, der die ersten die Aufbringung des nötigen Kapitals bei 15 Neubauten unentbehrlich waren. Der damals es sich in Europa i. d. R. um alteingesessene an der Ostsee nicht unübliche Widerstand Schiffsmakler und Handelshäuser handel- gegen die Einführung der Dampftechnolo- te, waren es in Ostasien vor allem stark di- gie führte 1878 zu dem Phänomen, dass die versifizierte deutsche Kaufmannshäuser mit meisten Investoren in den ersten Dampfer Agenturen für verschiedene Firmen, welche von Jebsen außerhalb von Apenrade rekru- mit westlichen und chinesischen Befrach- tiert werden mußten. Dabei spielte das erste tern zusammenarbeiteten und für die Reede- hier vorgestellte Netzwerk eine maßgebende rei Jebsen regelmäßig Frachtaufträge gegen Rolle, aber auch Jebsens gute Kontakte zu Kommissionszahlungen vermittelten. Mit ih- leitenden Mitarbeitern der Firma Friedrich nen gab es Routinekontakte, die sich per Brief Krupp in Essen, deren Erztransportdampfer- oder Telegramm abspielten, wobei durch die flotte er von 1874 bis 1882 von Vlissingen starke Konkurrenz im Frachtenmarkt Kon- bzw. Rotterdam aus managte. Weil in Par- flikte nicht ausblieben. Die überkommene tenreedereien – eine Frühform der Aktienge- Geschäftskorrespondenz von Jebsen besteht sellschaft – die Dividenden für jedes einzelne zum einem großen Teil aus Schreiben an diese Schiff halbjährlich an die jeweiligen Par- Netzwerkpartner, denen der Reeder aber zu- teninhaber ausgeschüttet wurden, war ein nehmend misstraute, weil es ihm aus der wei- regelmäßiger Kontakt des Korrespondenz- ten Entfernung heraus nicht möglich war, das reeders mit seinen Mitreedern erforderlich, konkrete Handeln vor Ort nachzuvollziehen. um Gewinne und Verluste zu begründen und eventuelle Reparaturen oder Neubauten von Als viertes Netzwerk können die Kapitäne Schiffen einvernehmlich abzusichern. der Jebsen-Dampfer bezeichnet werden, mit denen Michael Jebsen von Apenrade aus in Ein drittes Netzwerk waren die Geschäfts- regelmäßigem Brief- und Telegrammkontakt partner in europäischen und asiatischen stand, wobei es hier neben technischen und Häfen, die entweder vom Reeder selbst oder Personalfragen vor allem um die Besorgung von seinen Dampferkapitänen zwecks neuer lukrativer Frachtaufträge – oft, aber nicht Frachtverträge kontaktiert wurden. Während immer im Zusammenspiel mit den Agentur- 16 häusern vor Ort – ging. Wegen der Dauer über seinen Sohn Jacob mittels Privatbrie- des Briefverkehrs zwischen Europa und Ost- fen, so dass von einem voll ausgebildeten asien hatten die in Asien fahrenden Kapitä- Netzwerk im engeren Sinne nicht gesprochen ne eine höhere Eigenverantwortlichkeit für werden kann. den Abschluss von Frachtverträgen als in europäischen Gewässern, so dass ihrem Ver- Über sein Reedereigeschäfts hinaus hielt ständnis für chinesische Mentalitäten eine Michael Jebsen acht Jahre (1890-1898) das große Bedeutung zukam. Entsprechend häu- Mandat als Reichstagsabgeordneter der fig ermahnte und kritisierte der in Apenrade Nationalliberalen Partei für den Wahlkreis weilende Reeder seine Kapitäne, sich mit ver- Apenrade-. Obwohl sich nur eine lässlichen Befrachtern auf guten Fuß zu stel- beschränkte Anzahl von Briefen – vor allem len, um auch in Krisenzeiten lohnende Auf- während der drei Wahlkämpfe geschrieben – träge zu erhalten – eine Geschäftsstrategie, erhalten hat, lässt sich doch ein kleines Netz- die letztendlich entscheidend zum Erfolg der werk von nationalliberalen Fraktionskollegen Reederei Jebsen in Ostasien beitrug. im Reichstag und von nationalliberalen Par- teifunktionären im Wahlkreis erkennen, das Die hier vorgestellten Netzwerke von Jebsen in unregelmäßigen Abständen kontaktiert wurden mit der Firma Jebsen & Co, Hong- wurde. Allgemeine und besondere Fragen kong, ein von seinem ältesten Sohn Jacob der Handelsschiffahrt und der Kriegsmarine und dessen Geschäftspartner Johann Heinrich dominierten Jebsen Wirken auf Reichsebe- Jessen 1895 gegründetes Unternehmen sowie ne, in welchen er sich als Fachmann zeigte, der 1898 vollzogenen Schaffung der Part- doch über ein politisches Hinterbänklerda- nerschaftsfirma Diederichsen, Jebsen & Co., sein nicht hinauskam. Seine politische Arbeit Tsingtau, ein Joint-venture zwischen Heinrich hatte bereits 1883 mit der Wahl zum ehren- Diederichsen, Jacob Jebsen und Johann Hein- amtlichen Senator (Erster Beigeordneter) des rich Jessen, um ein fünftes Netzwerk ergänzt. Apenrader Magistrats begonnen, eine kom- Der Kontakt von Michael Jebsen mit diesen munalpolitische Aufgabe, bei der er sich vor beiden Firmen lief aber fast ausschließlich allem auf die dringend notwendige Frage der 17 Strukturanpassung der traditionell von der tisches Ansehen mit Kapitalkraft kombinierte. Segelschiffahrt geprägten Stadt konzentrier- Wie sich aus seinen Korrespondenzen ergibt, te und um den Hafenausbau bemühte. Nach betrachtete er den deutsch-dänischen Na- der Niederlage in der Reichstagswahl von tionalitätenkonflikt vor allem als politische 1898 gelang es Jebsen im Folgejahr für den Auseinandersetzung mit der sich zunehmend Wahlkreis Flensburg als Abgeordneter in den nationaler gebenden dänischorientierten Be- preußischen Landtag einzuziehen, doch be- völkerungsmehrheit in Nordschleswig. endete sein unerwartet plötzlicher Tod diese Tätigkeit schon nach einer Session. In den Die Darstellung und Analyse der hier vorge- beiden zuletzt genannten politischen Funkti- stellten Netzwerke auf Grundlage der um- onen standen kommunalwirtschaftliche und fangreichen und oft schwer lesbaren Korres- regionale schleswig-holsteinische Fragen im pondenzen von Jebsen bildete einen wichtigen Vordergrund, wobei außer der stets domi- Schwerpunkt des Biographieprojekts. Da nierenden Beschäftigung mit der Handels- effiziente Netzwerke den Informationsfluss schiffahrt auch der Nationalitätenkonflikt optimieren und zum Erfolg unternehmeri- zwischen Deutschen und Dänen in Nordsch- scher und politischer Tätigkeit entscheidend leswig eine wichtige Rolle spielte. Das dafür beitragen, kommt der Betrachtung der Netz- bestehende Netzwerk von Jebsen umfaßte werkfunktionen eine hohe Bedeutung zu. die politisch aktiven Mitglieder des „Deut- So besaßen ökonomische Zwecke für einen schen Vereins für das nördliche Schleswig“ Reeder wie Michael Jebsen naturgemäß die und der „Knivsberg-Gesellschaft“, ein Verein höchste Priorität: Diese Funktionen reichten zur Errichtung eines Bismarckdenkmals auf vom Verkauf von Schiffsparten und der damit einer Anhöhe nördlich von Apenrade. Mit erreichten Kapitalbeschaffung für Schiffs- der Übernahme des Vorsitzes der Ortsabtei- neubauten über die Einholung und Übermitt- lung des Deutschen Vereins und der Knivs- lung von Marktinformationen zum europäi- berg-Gesellschaft avancierte der Reeder zum schen und asiatischen Frachtengeschäft bis erstrangigen Vertreter der deutschgesinnten hin zum Erfahrungsaustausch über techni- Bevölkerung der Region, wobei er sein poli- sche Neuentwicklungen im Dampferbau, die 18 Konkurrenzsituation in der deutschen und der älteste Sohn in das Geschäft eintrat, was asiatischen Küstenschiffahrt und über Verän- mit der von Jacob Jebsen und einem Ver- derungen der globalen wirtschaftlichen und wandten als Teilhaber gegründeten Firma politischen Lage mit ihren möglichen Einflüs- Jebsen & Co, Hongkong, – anfangs eine reine sen auf das Reedereigeschäft. Diese multiplen Agentur für die eigenen Dampfer, später ein ökonomischen Funktionen verringerten die diversifiziertes Im- und Exporthaus – im Jah- ökonomische Unsicherheit des Reeders und re 1895 realisiert wurde. Auch andere Söhne erhöhten massiv seine Chancen für zukünf- sowie nähere und entfernte Verwandte wur- tige weitere Aktivitäten wie die Expansion den je nach Möglichkeit in das Unternehmen der Flotte und Erschließung neuer Märkte für integriert. Da die Ausbildung eines familiären Frachtgeschäfte – typische Merkmale einer Netzwerks innerhalb der Firma aber erst in Globalisierungsphase. Die oben vorgestellten den letzten Lebensjahren von Michael Jebsen fünf Netzwerke – interregional, international erfolgte, kam der Pflege der Dreiecksnetz- und interkontinental geknüpft – dienten also werks mit den engen Geschäftsfreunden in im wesentlichen der Finanzierung und Kapi- Hamburg und Kiel eine erstrangige Bedeu- talverflechtung des Unternehmens sowie der tung zu. Zahlreiche Briefe und Briefkopien Wissensvermittlung über technologische und aus der Feder des Reeders zeigen seine regel- geschäftliche Neuerungen im weiteren Um- mäßigen Kontakte, die er mit diesen Netz- feld der Firma: Sie bilden auf diese Weise eine werkpartnern pflegte, aber auch häufige Netzwerkökonomie mit dem Reeder im Zen- Reisen nach Hamburg und Kiel oder gemein- trum. same Feiern und Urlaube. Einheiratungen im Familiendreieck Jebsen-Diederichsen-How- Nicht zu unterschätzen sind die sozialen aldt sorgten für eine weitere Intensivierung. Funktionen der Netzwerke, zu denen die Be- Netzwerke übten auch bedeutende ord- wahrung des Familienstatus im Unternehmen nungspolitische Funktionen aus, wobei es und die Netzwerkpflege gehören. So war es im Reedereigeschäft vor allem um das viel- für ein Familienunternehmen wie der Reede- fältige Zusammenspiel zwischen dem örtlich rei Jebsen geradezu selbstverständlich, dass ansässigen Reeder und den weit entfernt 19 fahrenden Kapitänen ging, aber auch um die schen dem in Schleswig-Holstein befindlichen Regelsysteme auf den Schiffen, also um das Reeder und seinen in Asien fahrenden Damp- Verhältnis zwischen Kapitän, Offizieren und ferbesatzungen ist das Funktionieren dieses der Mannschaft. Die extensive Auswertung Netzwerkes um so beachtlicher. der Korrespondenzen machte es möglich, diese Regeln und Normen der Netzwerköko- Im Zusammenhang mit den ordnungspoliti- nomie für ein Reederei-Unternehmen in der schen Zwecken der Netzwerke stehen deren europäischen und asiatischen Küstenschif- kulturelle Funktionen, also die Herausbildung fahrt systematisch zu untersuchen sowie das eines Wertesystems, innerhalb dessen ein komplexe Funktionieren (und gelegentliche Reeder wie Jebsen agierte. Man findet hier Nicht-Funktionieren) anhand von Fallbei- typische Grundmuster von Unternehmern der spielen darzustellen und zu analysieren. An- Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert gefangen mit der Anheuerung des Kapitäns, wieder, die mit Attributen wie Sparsamkeit, der Maschinisten und Steuerleute für einen Ordentlichkeit, Bürgerlichkeit, Zuverlässigkeit neuen Dampfer war Jebsen in fast alle Fragen und Pflichterfüllung umschrieben werden des Schiffsbetriebs involviert, also auch in können. Bei Jebsen, der als Schiffsjunge auf detaillierte technische Fragen, in das Frach- Segelschiffen anfing und über alle Weltmeere tengeschäft vor Ort oder in die Beschaffung fuhr, auch als Dampferkapitän in Südamerika der Kohlen. Seine Hauptaufgabe lag in der und schließlich als Flottenmanager der Firma Setzung von Normen und Regeln für den Krupp tätig war, traten internationale Ge- ökonomisch effizienten Betrieb, deren Ein- wandtheit, vielfältige Sprachkenntnisse und haltung er streng überwachte und deren ein großes Fachwissen über alle möglichen Nichteinhaltung er mit Sanktionen belegte. Aspekte des Reedereigewerbes, Schiffsbetrie- Das von ihm eingeführte Regelsystem im bes und Frachtgeschäfts hinzu. Mit diesen Netzwerk mit den Kapitänen seiner Dampfer Eigenschaften versehen war Jebsen geradezu bildete eines der interessantesten und bisher ein Prototyp eines Reeders im 19. Jahrhun- kaum erforschten Aspekte des Projekts. Ge- dert, dessen Wertematrix durch das Interagie- rade aufgrund der großen Entfernung zwi- ren innerhalb seiner Netzwerke entscheidend 20 geprägt wurde. An seiner Person lässt sich Die gute Arbeitsatmosphäre im Kolleg gepaart zeigen, wie kulturell geprägte Handlungsori- mit dem ausgezeichneten Buchlieferdienst der entierungen über Netzwerkkontakte auf das Universitätsbibliothek kamen meinem Projekt geschäftliche und politische Wirken eines Un- zweifelsohne sehr zu Gute. Besonders erwäh- ternehmers einwirkten. Im politischen Bereich, nen möchte ich die vorzügliche Betreuung also Jebsens Reichstags- und Landtagstätig- durch die Mitarbeiter des Kollegs, vor allem keit, sorgten die von Schiffahrtsvertretern seitens von Dr. Suhm, Frau Klaus und Dr. ha- im weitesten Sinne entscheidend geprägten bil. Cramm, aber auch von Herrn Hausmeis- kulturellen Faktoren für eine Dominanz sei- ter Rienow und Herrn Behnke am Empfang, nes vom unternehmerischen Standpunkt be- von denen allen ich auch viel über Greifswald stimmten Denkens und Handelns. und seine Umgebung lernte. Höhepunkte der Kolleg-Aktivitäten waren zweifellos die wö- Während die thematischen Kapitel der Bio- chentlichen Fellow Lunches, die – oft in der graphie in den Jahren 2009/10 größtenteils unterhaltsamen Gegenwart von Professor in Hongkong fertiggestellt wurden, diente das Friedrich – zum Kennenlernen der anderen sechsmonatige Senior Fellowship des Alfried Fellows und der Mitarbeiter des Kollegs sehr Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald vor al- beitrugen, und für die ich mich ausdrücklich lem der Fertigstellung des Projekts. Dazu ge- bedanken möchte. Auch von einigen Vorträ- hörten die Erschließung und Einarbeitung von gen am Kolleg lernte ich. Mit Angehörigen des älteren und neueren Sekundärmaterialien zur Historischen Instituts und rund fünfzig Stu- Maritim- und Wirtschaftsgeschichte aus den denten der Universität kam ich durch meine reichen Beständen der Universitätsbibliothek, wöchentliche Vorlesung zur Geschichte der die Abfassung der Einleitung und des Resü- britischen Chinakolonie Hongkong in Kon- mees der Biographie sowie eine komplette takt, wobei ich hoffe, daß die Veranstaltung Durchsicht des Manuskripts. Außerdem konn- zur weiteren Internationalisierung des Hoch- te mit dem Verlag Ludwig (Kiel) eine feste schulstandorts Greifswald beitrug. Insgesamt Vereinbarung über die Veröffentlichung des gesehen war es eine sehr schöne Zeit an der Buches im Herbst 2012 getroffen werden. Ostsee, die durch die perfekt organisierten 21 Fellow-Ausflüge auf die Insel Hiddensee und zum früheren KKW Lubmin gekrönt wurde.

22 Becker, B.: Michael Jebsen (1835-1899). Ree- Becker, B., Die britische Chinakolonie Hong- ausgewählte derei und Politik in Schleswig-Holstein und kong in der Globalisierungsphase des 19. Veröffentlichungen Ostasien. Eine Biographie. Kiel 2012 (ca. 500 Jahrhunderts, in: Seehafenstädte im Prozeß Seiten) [erscheint 11/2012]. der Globalisierung. Hamburg –Europa – Chi- na. Ergebnisse des III. Europäischen Kon- Becker, B., Globalisierung und Küstenschif- gresses für Welt- und Globalhistorie 2011 in fahrt in der Ostsee und in Ostasien, in: London, hg. v. Helmut Stubbe da Luz / Hubert Blätter für deutsche Landesgeschichte 148 Bonin / Michael Bertram. Hamburg 2012 [in (2012) [in Vorbereitung]. Vorbereitung].

23 Professor Dr. William J. Dodd

Alfried Krupp Senior Fellow Oktober 2010 – Oktober 2011

Kurzvita William John Dodd wurde 1950 in Gates- Senior Research Fellowship gewährt (2000- head, England geboren und ist Professor of 2002). Seine Forschungsinteressen gelten Modern German Studies an der University der Schnittstelle zwischen Sprach- und Li- of Birmingham, England. Er studierte Ange- teraturwissenschaft mit einem Schwerpunkt wandte Linguistik in Manchester und Modern in der deutschen Diskursgeschichte im 20. Languages in Leeds, wo er mit einer Arbeit Jahrhundert. Er ist Mitglied des Wissen- über Kafkas Dostojewski-Rezeption promo- schaftlichen Beirats der Zeitschrift aptum. viert wurde. Für das Forschungsprojekt über Dolf Sternbergers politische Sprachkritik im “Dritten Reich” wurde ihm ein Leverhulme 24 Die Kultur- und Sprachkritik als Orte op- anhand von close readings untersucht: Zum Kurzbericht positioneller Diskurse in der „inneren Emi- einen der Sprachdiskurs in der Frankfurter gration“ der NS-Zeit. Problematik, Theorie, Zeitung bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1943, close readings und zum anderen Sternbergers kulturkriti- sche Publikationen, vor allem sein 1938 er- Das Projekt setzt sich mit der Frage ausein- schienenes Buch Panorama oder Ansichten ander, wie man nichtnazistische Texte, die im vom 19. Jahrhundert. Festzuhalten ist, dass „Dritten Reich“ veröffentlicht wurden, iden- sowohl die Sprache als auch die Kulturland- tifizieren und evaluieren kann. Damit werden schaft und das kulturelle Erbe zunehmend grundsätzliche Fragen aufgeworfen, wie: Wo- als ersatzpolitische Gegenstände fungierten, ran erkennt man einen ideologisch nichtkon- über die man noch versuchte die Welt und formen Text? Welche Formen des Ausdrucks die Weltanschauung des Nationalsozialismus gab es, um Distanz, Dissens oder gar Kritik in Frage zu stellen. zu signalisieren? Welche Begriffe sind bei der Nicht zwischen, sondern in den Zeilen sol- Evaluierung solcher Texte angebracht – wie ist cher Texte wurden nichtkonforme und kriti- zu unterscheiden, zum Beispiel, zwischen Wi- sche Botschaften transportiert. Was und wie derstand, Opposition und anderen Begriffen transportiert wurde und wie man es heute wie Resistenz, Widerspruch, Ablehnung? Kann würdigen kann, wird hier untersucht. Der man überhaupt von einer positiven Leistung Versuch, den Stellenwert eines solchen Textes solcher Texte reden angesichts der damals zu rekonstruieren, verpflichtet auch zu dem herrschenden Sprachlosigkeit? Konnte man Versuch, ihn in seinem gesamtgeschichtli- überhaupt in der Öffentlichkeit eine solche chen Kontext zu sehen. Die Methode, die Sprachlosigkeit überwinden? hier entwickelt wird, ist also die einer zeitge- Vor dem Hintergrund solcher Grundsatzde- schichtlich orientierten Rekonstruktion des batten über das Verhalten in der sogenann- ursprünglichen Schreib- und Leserverhaltens ten „inneren Emigration“ werden Texte, die in und „zwischen den Zeilen“. zwei verwandten Diskursen zuzuordnen sind,

25 Projektbericht Zwei parallel verlaufende Buchprojekte angemessene Perspektive gebracht und die konnten vorangebracht werden, die unten Leistungen der publizistischen “inneren Emi- dargestellt werden. Gegenüber meinen frü- granten” von denen der echten Widerstand heren Arbeiten auf diesem Gebiet (z.B. in dem Leistenden differenziert werden. Buch über Sternbergers Sprachkritik dieser Zeit) gewannen für die theoretische Heran- Panorama oder Ansichten vom 19. Jahr- gehensweise vor allem zwei Begriffe eine hundert (1938): Die Mobilmachung eines erhöhte Bedeutung. Der Begriff der Sprach- resistenten Kulturdiskurses losigkeit, wie er von Gerhard Bauer in seinem Buch über Sprache und Sprachlosigkeit im Zu dem geplanten Buchprojekt konnte ein “Dritten Reich” (1986) herausgearbeitet wird, umfangreicher Kommentar zu Sternbergers wird konsequent als grundlegende Charakte- Panorama-Buch erstellt werden. Wie an- risierung des Kommunikationsmilieus im Na- deren “sprachlosen” Gegnern des Regimes tionalsozialismus akzeptiert. Damit wird bei dient Sternberger ein kulturphilosophischer aller Brillanz und Tapferkeit einiger Autoren Diskurs als Ort des verschleierten Kommen- festgehalten: Von einer versuchten, nicht aber von einer tatsächlichen Überwindung dieser Sprachlosigkeit kann die Rede sein, die durch Gewalt etabliert und erst durch Gewalt beseitigt werden konnte. Ferner wird für das Spektrum der Verhaltensweisen, die von ei- ner opponierenden geistigen Haltung zeu- gen, die aber nicht als Akte des Widerstands bezeichnet werden können, der von Martin Broszat erläuterte Begriff der Resistenz als Oberbegriff adoptiert. Damit soll eine ter- minologische Konstante eingebracht, die Rhetorik vom “geistigen Widerstand” in eine Panorama: Cover 26 tars. Die Kulturlandschaft, die hier gemustert Sozialdarwinismus in Politik und Wirtschaft ist wird, ist eine bürgerliche, vor allem aus der hier kaum verschleiert herauszulesen, eine Kritik, zweiten Hälfte des Jahrhunderts, an der Züge die sich nachweislich auf den Nationalsozialis- herausgelesen werden, die “zwischen den Zei- mus erstreckt. Schon 1935, am Tag nach der Ver- len” nicht als vergangen und überwunden, kündung der Nürnberger Rassengesetze, war von sondern als weiterbestehende Teile der Ge- Sternberger in der Frankfurter Zeitung ein Auf- genwart oder als Stationen auf den Weg in satz über Darwin erschienen, der zur Genese des die Gegenwart gedeutet werden. So wird zum Buchs gezählt werden muss und als Kommen- Beispiel am Jugendstil ein präfaschistischer tar zu den neuen Gesetzen zu lesen ist. In „Ein Biologismus festgemacht, der nach Darwin merkwürdiges Jubiläum“ (17.9.1935) wird der um sich gegriffen hat und der Rückzug des „merkwürdige“ Zufall registriert, dass heute vor Bürgertums aus der Welt der Politik in das genau einhundert Jahren Darwin die Galapagos- ornamentierte Innere des Hauses. Behandelt Inseln betrat, auf denen er seine Theorie formu- werden u.a. auch Aspekte der Malerei, der lieren würde: „Ohne Darwin kein Nietzsche, ohne Technik, der populären Wissenschaft, des mit Nietzsche zum Beispiel – wahrscheinlich – kein der Entwicklung der Eisenbahn aufkommen- Mussolini! Schon sind wir mitten in der Politik den exotischen Tourismus. Alle diese Erschei- des gegenwärtigen Moments, wenn auch gewiß nungen werden nach der übergeordneten mit einigen Sprüngen, einigen Auslassungen, Metapher als Panoramen gesehen (wofür An- Abkürzungen und Vereinfachungen, denn es wa- ton von Werners 1883 in Berlin gebautes Pan- ren ohne Zweifel krümmere Gänge, in denen sich orama von der Schlacht bei Sedan das Muster jener Ruck von Galapagos durch die Geschichte liefert), die den betrachtenden Bürger in eine des 19. Jahrhunderts bis in unsere eigene fortge- “Genre-Szene” des falschen Bewusstseins ein- pflanzt hat“. wickeln. Das zentrale Kapitel ist Darwin ge- Zu untersuchen ist an diesem Diskurs die Art und widmet, dessen Lehre von der Natürlichen Weise, wie in solcher Öffentlichkeit eine Kultur- Zuchtwahl (“mit Fug groß geschrieben”) als landschaft wertend vorgeführt wird und mit wel- das gemütliche Panorama eines Imperialisten chen rhetorischen Mitteln. Auch sollen die Zeit- und Rassisten dargestellt wird. Eine Kritik am bezüge, soweit dies noch geht, wiederhergestellt 27 Der Mensch hat das Wort, Frankfurter Zeitung 16.05.1937 werden. Ob zum Beispiel in diesem Darwin- so nicht aufrechterhalten. Vielmehr ist die- Kapitel verschleierte Aussagen zu finden ser Streit als ein frühes Zeugnis für den Riss sind über den Konkurrenzkampf innerhalb in der Diskursgemeinschaft der Nazi-Gegner der „Spezies“ NSDAP, etwa zwischen SS und nach 1933 zu sehen. SA – was Sternberger durchaus zuzutrauen ist. Indem man Sternbergers Buch als Ex- Der Mensch hat das Wort: Facetten eines emplar eines codierten antifaschistischen resistenten Diskurses Diskurses zu lesen lernt, die dem Versuch entspringt, die angeordnete Sprachlosig- Der plakative Titel dieses Projekts ist einer keit zu überwinden bzw. zu umgehen, fällt ganzseitigen Aufmachung in der Frankfur- neues Licht auf den vertrackten Zwist mit ter Zeitung vom 16. Mai 1937 entnommen. dem im Pariser Exil lebenden, sich usurpiert Die untersuchten Beiträge aus der Zeitung wähnenden Walter Benjamin. Benjamins zum Gegenstand Sprache weisen unter sich Vorwurf des „geglückten Plagiats“ und der eine große Verschiedenheit aus, auch in dem Kompromittiertheit Sternbergers lässt sich Grad der Resistenz. Es lassen sich aber eini- 28 ge wesentliche Merkmale feststellen, die zur Beiträgen, auch in denen, in denen Gewagtes allgemeinen Charakteristik dieses Sprach- ausgesagt wird, die allgemeine Sprachlosig- diskurses gehören: der punktuelle Ansatz keit erkennbar, die zu umgehen es galt. als notwendiges Korrelat einer „Politik der Nadelstiche“; ein um den „Zustand der Spra- Als „resistenter“ Topos eignet sich der Gegen- che“ kreisender Diskurs des Verfalls; die Kla- stand Sprache noch mehr als die Kultur im ge gegen Unbekannt; der Glaube an Sprache Allgemeinen, an der sie auch einen wesentli- als Mittel der Selbstentlarvung; eine Meta- chen Teil hat, weil sie im wahrsten Sinne des phernsprache, die Sprache als Sinnbild für Wortes jedermanns Sache ist. Jeder Deutsch- Freiheit und Demokratie erscheinen lässt so- sprechende ist Mitglied einer Kommunika- wie eine metonymische Anwendung, die man tionsgemeinschaft, ist als Produzent und als Scharnierfunktion bezeichnen kann. In als Rezipient an sprachlichen Mitteilungen vielen Beiträgen merkt man hinter der Ten- beteiligt. Die Kompetenz, über die man als denz zur Verallgemeinerung einen engen Be- Sprachteilnehmer verfügt, bezieht sich fer- zug zum zeitgenössischen Sprachbrauch und ner nicht nur auf das Produzieren und Rezi- eine listige Berichterstattung, die die Spra- pieren von sprachlichen Ausdrücken, auf ak- che als Scharnier durch Sprache bezeichne- tives und passives Teilnehmen am täglichen ten, eigentlich indiskutablen Sachverhalten Austausch der sprachlichen Kommunikation, benutzt und auf diese Weise eine durchaus sondern auch, wie die moderne Sprachwis- brisante Regimekritik möglich macht. Vor senschaft betont, auf die Fähigkeit über die allem in der Wortkritik, in Kommentaren zu Sprache zu reflektieren und sich über sie als einzelnen Vokabeln findet man manchmal Gegenstand zu äußern – sei es mit Bezug auf haarsträubende Hinweise auf das, was mit den Sprachgebrauch eines Individuums, ei- dem neuen Wortgebrauch bezeichnet wird ner Gruppe oder auf ein kognitiv aufgefass- oder verschleiert werden soll, nach dem Mot- tes Sprachsystem. Diese Kompetenzen, vor to: „Ein Wort ist niemals bloß ein Wort, es allem wohl die der Sprachreflexion, beste- ist stets der genaue Name einer Realität“ hen allerdings als Potential, das betätigt und (Sternberger). Nichtsdestoweniger ist in allen entwickelt werden kann, in Wirklichkeit aber 29 unterschiedlich entwickelt worden ist. So se Sprache so erfasst wurde, mitzusprechen. gesehen, entsteht eine Spannung zwischen Einem getarnt resistenten Sprachdiskurs bie- der Sprache als Allgemeinbesitz einerseits tet sich damit die Möglichkeit an, hintergrün- (mit Mauthner zu sprechen, als die einzige dig über einen außersprachlichen Tatbestand wahrlich demokratische Institution der Men- zu reden, indem es ihr vordergründig um die schen) und andererseits als unterschiedlich sprachliche Formulierung an sich geht. Die- verteilter Diskursmasse in der real bestehen- se resistente Nutzung der Scharnierfunktion, den Gesellschaft. Gegen Letztere lässt sich wie sie in der Frankfurter Zeitung öfters zu immer ein resistenter Sprachdiskurs entfal- beobachten ist, läuft in genau der entgegen- ten, die auf das „demokratische“ Wesen von gesetzten Richtung zu der Linie, die vom Pro- Sprache verweist und auf die Fähigkeit auch pagandaministerium durch Tagesparolen und eines passiven Rezipienten, über das Rezi- Sprachregelungen verordnet wurde, ist also pierte kritisch nachzudenken. als der Versuch erkennbar, eine vom Regime Aus dieser Denkfigur von Sprache als Allge- angestrebte „gleichgeschaltete“ Semantik zu meingut lässt sich eine übergeordnete Meta- unterwandern. Wie Walter Dirks bemerkte: pher gewinnen von der Sprache als Sinnbild „In der Tat, wer es versteht, die Sprache zu re- von Freiheit und Demokratie. Man vergleiche geln, regelt viel mehr, die Ideologien, und im die Versinnbildlichung des ABC in Sternber- Totalfall das Gefühlsleben und das Weltbild. gers „Zwischen A und B“ (28.4.1936) nicht Wir wollten dem widerstehen“. als vorgegebener Zwangsordnung („Wer A Als Beispiel einer in diesem Sinne praktizier- sagt, muss auch B sagen!“), sondern als Frei- ten Wortkritik kann Gerhard Storz’ Glosse heitsquelle durch individuelles Kombinieren. „Der Angeber“ (23.3.1941) dienen, in dem die Parallel zu diesem metaphorischen Diskurs Verdrängung des damals für Storz noch pri- ergibt sich auch zwanglos ein Potenzial einer mären Sinnes von Angeber, nämlich „Denun- resistent metonymischen Denkfigur aus dem ziant“, zugunsten des bis dahin sekundären Verhältnis zwischen Sprache und Welt. Über „Prahler“ konstatiert wird – eine semantische Sprache zu sprechen bedeutet oft, über eine Verschiebung, die seitdem gilt. Logischerweise außersprachliche Wirklichkeit, die durch die- kann diese Entwicklung zwei Erklärungen ha- 30 ben. Entweder ist das Bezeichnete nicht mehr es im Text heißt, „erstaunlicherweise“ nicht vorhanden, oder es besteht weiter, wird aber mehr gebe!) verdiene nicht die Bezeichnung nicht mehr mit diesem Wort bezeichnet. Bei- durch ein gutdeutsches Wort – so die „amt- de Vorgänge könnten das rasche Aufsteigen liche“ Linie – und deshalb gehöre Denunzi- des sekundären Sinnes („Prahler“) erklären, ant zu den „schwer ersetzbaren Fremdwör- der das so oder so entstandene Vakuum füllt. tern“. Aber wenn Denunziant tatsächlich in Indem Storz die erstere, politisch sichere Er- der deutschen Sprache „schwer ersetzbar“ klärung travestiert, deutet er hämischerweise ist, bedeutet das nicht, dass das Designa- auf die letztere als die eigentliche Erklärung: tum doch genug vorhanden ist, um bezeich- „Der Sprachreiniger aber möchte sich bald net zu werden? Bei aller Brisanz fällt jedoch dem Übelstand gegenüber sehen, dass ‚De- auf, dass Storz die wohl in allen Schichten nunziant‘ zu den schwer ersetzbaren Fremd- geläufigste Vokabel gerade nicht erwähnt, wörtern gehört. Dann wird ihm vielleicht der nicht erwähnen darf, nämlich Spitzel. Die sprachdeutende Kulturhistoriker mit dem Be- Thematisierung dieser Vokabel hätte den co- merken trösten, die gemeine Handlungsweise dierten Klartext eindeutig durchschimmern dessen, den die Römer ‚delator‘ nannten, sei lassen und wäre für den Autor gefährlich erstaunlicherweise so selten geworden, dass gewesen. Die Selbstzensur zeugt also von ei- sie die Bezeichnung durch ein deutsches Wort ner Sprachlosigkeit, die nicht zu überwinden gar nicht mehr verdiene”. Mit glatter Ironie war. Oder konnte man sie doch umgehen? und bravem Nachsagen des herrschenden Könnte es sein, dass der kompetente Leser, Diskurses wird den Alltagserfahrungen von der die Ironie der Glosse verstand und der Millionen von Deutschen schlicht widerspro- für den verschleierten Klartext empfänglich chen. Storz kann auch der Versuchung nicht war, ohne weiteres die von Storz vorgeführ- widerstehen, den seit dem „Führererlass“ vom te Wortliste um diese Vokabel zu erweitern 19. November 1940 politisch ausgeschalte- imstande war, und dass auf diese Weise ihre ten Sprachpuristen des Deutschen Sprach- Tabuisierung auch durchbrochen wäre? Mit vereins einen Seitenhieb zu versetzen. So anderen Worten: Man las die Glosse im pri- ein undeutsches Benehmen (das es aber, wie vaten Kreis, legte sie nieder, und sagte sich: 31 Spitzel. In diesem Fall schließt sich für den esoterischen Leser der hermeneutische Kreis, die Scharnierfunktion von Sprache wird voll entfaltet. Den Kern dieses Projekts bildet eine kom- mentierte Sammlung von ca. sechzig Texten verschiedener Gattungen (Glosse, Rezension, philosophischer Essay, Redaktionskommen- tar, Berichterstattung von Reden usw.), der eine typologische Einleitung vorangestellt wird.

32 Dodd, W. J.: Gedanken zu (musik)sprachlichen Dodd, W. J.: “... dem Kaiser gegeben was des ausgewählte Verhaltensmustern in der “Sprachlosigkeit” Kaisers ist“: Walter Benjamin’s Reading of Veröffentlichungen der Gewaltherrschaft‘. In: Thomas Phleps/ Wie- Dolf Sternberger’s “Tempel der Kunst“ (1937), land Reich (Hgg.), Musik-Kontexte. Festschrift in: Nigel Harris and Joanne Sayner (Hgg.), The für Hanns-Werner Heister, Monsenstein & Text and its Context. Studies in Modern Ger- Vannerdat, Münster 2011, 165-177. man Literature and Society Presented to Ro- nald Speirs on the Occasion of his 65th Birth- Dodd, W. J.: Jedes Wort wandelt die Welt. Dolf day, Oxford: Lang, 2008, 63-77. Sternbergers politische Sprachkritik. Wall- stein Verlag, Göttingen, 2007. Eine Veröffent- Dodd, W. J.: Dolf Sternberger und die Sprache, lichung der Deutschen Akademie für Sprache in: Michael Borchard (Hg.), Dolf Sternberger: und Dichtung. Zum 100. Geburtstag. Konrad Adenauer-Stif- tung, Sankt-Augustin/ Berlin 2007, 35-48. Dodd, W. J.: Die antifaschistische Sprachkritik der ersten Nachkriegszeit, aus heutiger Sicht gesehen, in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkri- tik und Sprachkultur 03/2008, 257-271.

33 Dr. Stefan Donecker

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2010 – September 2011

Kurzvita Stefan Donecker wurde 1977 in München punkt seiner Forschungen stehen Fragen der geboren. Er studierte Geschichte und Skan- Geistes- und Begriffsgeschichte während der dinavistik in Wien und Umeå (Schweden) und Frühen Neuzeit, mit einer regionalen Schwer- promovierte 2010 am Europäischen Hoch- punktsetzung auf Skandinavien und den Ost- schulinstitut in Florenz mit einer Dissertation seeraum. Seit dem Wintersemester 2011/12 ist über Gelehrtenkultur und Geschichtsbilder Stefan Donecker am Kulturwissenschaftlichen im frühneuzeitlichen Baltikum. Zuletzt war Kolleg der Universität Konstanz in Rahmen er als Lehrbeauftragter an der Leopold-Fran- des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen zens-Universität in Innsbruck und der Univer- von Integration“ tätig. sität Lettlands in Riga beschäftigt. Im Mittel- 34 Migration als Motiv frühneuzeitlicher ße sich lange fortsetzen. Und die Urteile, die Kurzbericht Gelehrsamkeit in Nordosteuropa. über eine mobile Lebensweise gefällt wur- Grundzüge einer Ideengeschichte mensch- den, waren mindestens ebenso verschieden- licher Mobilität artig wie die beteiligten Gelehrten: Je nach Position und Präferenz des Autors konnten In der aktuellen gesellschaftspolitischen Dis- Migranten als moralisch verkommene Va- kussion gibt es kaum ein Thema, das derma- gabunden gebrandmarkt oder als kühne Pi- ßen intensive Emotionen hervorruft wie die oniere glorifiziert werden. Ausgehend von Frage der Migration. All die irrationalen Ängs- der Gelehrtenkultur Nordosteuropas, dem te, die Stereotypen und Pauschalurteile, die intellektuell stimulierenden Spannungsfeld Migrantinnen und Migranten entgegenge- zwischen dem norddeutsch-hanseatischen bracht werden, haben aber eine lange Vorge- Raum und dem schwedischen Herrschafts- schichte. Im Zuge meines Forschungsprojekts gebiet, habe ich versucht die Bedeutung bin ich der Frage nachgegangen wie Gelehrte menschlicher Mobilität im gelehrten Schrift- während der Frühen Neuzeit, vor allem im 16. tum zwischen Humanismus und früher Auf- und 17. Jahrhundert, das Phänomen Migrati- klärung herauszuarbeiten – um dadurch die on wahrgenommen haben. heutige Migrationsdebatte zu ihren frühneu- Migration und Mobilität spielten in un- zeitlichen Wurzeln zurückzuverfolgen. terschiedlichen Spezialgebieten gelehrter Literatur eine Rolle: Chronisten und Ge- schichtsschreiber spekulierten über die Völkerwanderungen der Vergangenheit, Ethnographen sammelten Berichte über no- madische Ethnien in der Neuen Welt, Theo- logen diskutierten das biblische Buch Exodus und den „Fluch des Kain“, den Gott zu ewiger Wanderschaft verdammt hatte – die Liste lie-

35 Projektbericht Der Aufstieg rechtspopulistischer Partei- beitsbedingungen am Alfried Krupp Wissen- en, der sich seit den 1980er Jahren in fast schaftskolleg kommen durfte und mich von allen Ländern Europas vollzieht, stützt sich anregenden Diskussionen mit den anderen primär auf die Instrumentalisierung des Mi- Fellows inspirieren lassen konnte, habe ich grationsbegriffes. Xenophobie, Antiislamis- versucht, die Vorgeschichte unserer heutigen mus und Rassismus dominieren mittlerweile Migrationsdebatte während des 16. und 17. den gesellschaftspolitischen Diskurs in einer Jahrhunderts zu umreißen. Diese Grundzüge Intensität, die eine sachliche Debatte über einer Ideengeschichte menschlicher Mobilität Einwanderungspolitik kaum mehr zulässt. bilden den ersten Schritt eines umfassenden Doch die negative Wahrnehmung von Mig- Forschungsvorhabens, das die Geschichte des rantinnen und Migranten ist alles andere als Migrationsbegriffs von der Antike bis in die neu: Vorbehalte gegenüber mobilen Lebens- Gegenwart zum Inhalt haben soll. formen ziehen sich seit Jahrhunderten als Konstante durch die europäische Geistesge- schichte. Diskursfelder Das Forschungsprojekt, das ich dank der großzügigen Förderung der Stiftung Alfried Um die Bedeutung von Mobilität für die Geis- Krupp Kolleg während meines Aufenthaltes tesgeschichte der frühen Neuzeit angemessen in Greifswald umsetzen konnte, beschäftigte zu behandeln, ist es nötig eine große Band- sich mit den Bedeutungsinhalten des Mig- breite an Themenfeldern zu berücksichtigen. rationsbegriffs und seiner ethischen Bewer- Die res publica litterarum, die „Gelehrtenre- tung im Schrifttum der Frühen Neuzeit. Wie publik“ des 16. und 17. Jahrhunderts, entwi- haben Gelehrte des 16. und 17. Jahrhunderts ckelte keine einheitliche, kohärente Migrati- das Phänomen Migration wahrgenommen, onstheorie – aber sie war sich der Bedeutung und welche theoretischen Reflexionen haben räumlicher Mobilität als einer Grundkonstan- sie über menschliche Mobilität angestellt? te der conditio humana absolut bewusst. The- Im Laufe eines sehr erfreulichen Jahres, in oretische Reflexionen und Beurteilungen von dem ich in den Genuss der exzellenten Ar- Mobilität und Migration finden deshalb in ei- 36 ner Vielzahl unterschiedlicher Spezialdiskurse Betrachtungsweise, die weit von der indi- ihren Ausdruck. vidualisierten Perspektive moderner Mig- rationsforschung, in deren Mittelpunkt der Migrant bzw. die Migrantin als Person steht, entfernt scheint. Zu den wichtigsten Berei- chen innerhalb des gelehrten Schrifttums, in denen Migration thematisiert wurde, zählt deshalb die Aufarbeitung historischer Völ- kerwanderungen. Chronisten beschäftigten sich intensiv mit den Wanderungen und Ko- lonisationsbewegungen vergangener Zeiten, um die Herkunft der Völker und Reiche Euro- pas zu ergründen.

Ethnographie Eine nomadische Lebensweise gehörte seit der antiken Ethnographie zu den charakte- ristischen Merkmalen vermeintlich barba- Die „Völkerwanderung“ aus der Sicht der Humanis- rischer Völker. Während der Frühen Neuzeit ten. Langobarden und Heruler in Wolfgang Lazius‘ wurde dieser Topos vor allem auf außereuro- „De gentium aliquot migrationibus“ (1557) päische Ethnien angewandt, mit denen Ent- decker und Kolonisten in Übersee in Berüh- Historiographie rung kamen. Nomadentum galt als Indiz für Im Sprachgebrauch frühneuzeitliche Gelehr- Primitivität und Rückständigkeit und wurde ter bezeichnete der Begriff der Migration auch als Begründung herangezogen, um den primär die Wanderungen ethnischer Groß- Indigenen das Recht auf Landbesitz abzu- gruppen. Im Mittelpunkt ihres Interesses sprechen: Da eine mobile Lebensform nach standen ganze Stämme und Völker – eine Ansicht frühneuzeitlicher Gelehrter keine le- 37 gitime Landnutzung darstellte, konnten eu- negativ gezeichnete Figur ist, wurde eine be- ropäische Siedler daraus eine Berechtigung sondere Neigung zu rastloser Wanderschaft herleiten, sich das Land der Indigenen anzu- attestiert. eignen und dessen Bewohner zu vertreiben. Abgesehen von der Schriftexegese waren frühneuzeitliche Theologen auch aufgrund Theologie tagesaktueller Ereignisse gezwungen, zu Fra- Die frühneuzeitliche Bibelexegese war mit gen der Migration Stellung zu nehmen. Die einer ambivalenten Haltung der Heiligen Vertreibung konfessioneller Minderheiten, Schrift zu menschlicher Mobilität konfron- vor allem protestantischer Exulanten die tiert. Einerseits bot das Buch Exodus die pro- im Zuge der Gegenreformation katholische totypische Vorlage für eine von Gott gewollte Territorien verlassen mussten, wurde in der Völkerwanderung. Am Vorbild des wandern- zeitgenössischen Literatur und Publizistik in- den Gottesvolkes orientierte sich die Selbst- tensiv rezipiert, wobei die Schriften, die sich wahrnehmung vieler religiöse Bewegungen mit konfessionell bedingter Migration be- der frühen Neuzeit, wobei die puritanischen schäftigen teilweise eher einer persönlichen „Pilgerväter“ in Nordamerika zweifellos das Bekenntnisliteratur, zum Teil aber auch dem bekannteste und markanteste Beispiel einer gelehrten Schrifttum zuzuordnen sind. ideellen Bezugnahme auf Exodus darstellten. Anderseits konnten alttestamentarische Be- Bettelbekämpfung und Sozialgesetzgebung lege ebenso gut herangezogen werden, um Einen völlig anderen Zugang zum Thema wei- zu argumentieren, dass Migration und Mo- sen die zahlreichen juristischen Traktate auf, bilität moralisch verwerflich und sündhaft die sich mit Vaganten und fahrenden Bettlern seien. Als Präzedenzfall wurde dabei auf beschäftigen. Die Mobilität dieser Menschen Kain verwiesen, den Gott als Strafe für sei- wurde als Bedrohung der sozialen Ordnung nen Brudermord zu einem Leben als ewiger interpretiert; für einen nicht unerheblichen Wanderer verurteilt hatte. Auch Ham, dem Teil frühneuzeitlicher Rechtsgelehrter stellte zweite Sohn Noahs, der im Gegensatz zu sei- eine nichtsesshafte Lebensweise bereits per nen Brüdern im Buch Genesis eine deutlich se ein Verbrechen dar. Die gelehrte Litera- 38 tur zu mobilen keineswegs auf Randgruppen und soziale Unterschichten Unterschichten beschränkt. Für junge Män- verfolgte des- ner aus gut situierten Familien war es üb- halb einerseits lich, im Zuge einer adeligen „Kavalierstour“ den Zweck, oder einer studentischen peregrinatio aca- die „fahrenden demica Europa zu bereisen, soziale Kontak- Leute“ in be- te zu knüpfen und ihre Ausbildung zu ver- stimmte Typen vollkommnen. Aus Leitfäden und Ratgebern von „Gaunern“ entstand eine reichhaltige Literatur zur ars zu klassifizie- apodemica, der Kunst des Reisens, die neben ren, legitime praktischen Ratschlägen auch theoretische von illegitimer Reflexikonen über Mobilität und deren sozial Vagierende Unterschichten. Bettelei zu opportune Formen enthielt. Rembrandt van Rijn, u n t e r s c h e i - Die Bettler an der Haustür den und durch Ambivalente Beurteilungen menschlicher (1648). diese Systema- Mobilität tisierung die für akademische Eliten schwer Nach dieser kurzen Übersicht drängt sich verständliche Gegenwelt der Straße zu er- die Frage auf, ob es überhaupt zielführend schließen und begreifbar zu machen. Dar- ist aus dem gelehrten Schrifttum der frühen über hinaus wurden konkrete Maßnahmen Neuzeit einen Migrationsbegriff herauslesen diskutiert, durch die die Mobilität der Vagan- zu wollen. Zwischen den einzelnen Diskurs- ten eingeschränkt werden sollte – wobei die feldern bestanden keine oder nur minimale Bandbreite von karitativer Fürsorge bis zur Berührungspunkte, sodass man wohl eher Internierung und Disziplinierung in Zucht- von parallelen, von einander unabhängigen und Arbeitshäusern reichte. Konzeptualisierungen menschlicher Mobi- lität ausgehen sollte – und somit von ver- Apodemik schiedenen Begriffen von Migration in den Mobilität war während der frühen Neuzeit unterschiedlichen Fakultäten und Speziali- 39 sierungen der res publica litterarum. die Welt streifen, moralisch überlegen seien. Als Fazit lässt sich zunächst eine äußerst In frühneuzeitlichen Texten lässt sich aber ambivalente Haltung frühneuzeitlicher Ge- auch eine entgegengesetzte, positive Be- lehrter gegenüber menschlicher Mobilität wertung von Mobilität nachweisen. Der Prä- konstatieren: Die Mehrzahl der Autoren be- zedenzfall des alttestamentarischen Exodus gegnete dem Phänomen der Migration mit machte eine kategorische Verurteilung von Unbehagen und tendierte dazu, den betei- „Völkerwanderungen“ unmöglich. Auch die ligten Menschen Gottlosigkeit, Barbarei und biblischen Patriarchen galten als maximi apo- andere unziemliche Eigenschaften zu unter- demici, als große Reisende, die in ihren Wan- stellen. Diese negative Einstellung findet in derungen der Vorsehung Gottes folgten. Pauschalurteilen über vagierende „Gauner“ Zu den charakteristischen Elementen früh- ebenso ihren Ausdruck wie in theologischen neuzeitlicher Geschichtsschreibung zählte zu- Reflexionen über den „Fluch des Kain“ oder dem eine ausgeprägte Faszination für Fragen in ethnographischen Abhandlungen über die der Herkunft und der Abstammung. In allen Primitivität barbarischer Nomaden in der Ländern Europas waren Gelehrte bestrebt, die Neuen Welt. Ursprünge ihrer Völker, Reiche und Dynastien Besonders im deutschen Humanismus resul- zu ermitteln und möglichst weit in die Ver- tierten die Vorbehalte gegenüber mobilen gangenheit zurückzuverfolgen – bis zu den Lebensformen in einer Aufwertung von Ter- gentes, die man aus dem griechisch-römi- ritorialität und Standorttreue. In Anlehnung schen Schrifttum kannte, und wenn möglich an Tacitus, der die Germanen als Indigene in bis zu Noah und seinen Söhnen. Migration ihrem Land charakterisiert hatte, konnten zählt zu den charakteristischen Motiven der- deutsche Humanisten ihren patriotischen artiger Völkergenealogien: Der Ursprung der Stolz dadurch untermauern, dass ihre Vor- eigenen Vorfahren wurde oft in einem fernen fahren ihrem Land stets treu geblieben seien, Land vermutet, und die Wanderungen, die sie der Verlockung von Wanderschaft und Mi- unternehmen mussten um schließlich an ihren gration widerstanden hätten und damit all Bestimmungsort zu gelangen, wurden in der den unsteten Vagabunden, die ziellos durch humanistischen Historiographie ausführlich 40 thematisiert. Von einer Verurteilung von Mo- zeitlichen Denken erschöpft sich aber nicht bilität ist in frühneuzeitlichen Abstammungs- in einem banalen Gegensatzpaar von „Wir hypothesen keine Rede – im Gegenteil, den und die Anderen“. Bei näherer Betrachtung Reichsgründern, Siedlern und Pionieren wur- wird deutlich, dass Migration solange akzep- den generell Tatkraft und Tugendhaftigkeit tabel oder sogar begrüßenswert ist, solange attestiert. Ein typisches Beispiel für eine Auf- sie sich in einem klar begrenzten zeitlichen wertung von Migration im Zuge einer genea- Rahmen vollzieht. Das gilt für die zeitweilige logischen Identitätsstiftung bietet etwa die Mobilität von Studenten und Handwerks- schwedische Historiographie des 16. und 17. gesellen, von denen erwartet wird, dass sie Jahrhunderts, die sich auf die Gothi externi, sich nach ihrer Wanderzeit dauerhaft nie- die wandernden Goten, als Vorfahren berief. derlassen, ebenso wie für historische Völker- Der Gegensatz zwischen einer negativen und wanderungen und Kolonisierungen, die als einer positiven Einschätzung von Migration zielgerichtete Prozesse mit dem Endpunkt lässt sich einerseits als Gegensatz zwischen der Landnahme konzipiert wurden. Sobald Fremd- und Selbstwahrnehmung deuten. Die Mobilität aber zu einem Dauerzustand wird Wanderungen der Anderen sind grundsätzlich – bei nomadischen Ethnien oder vagierenden verdächtig – egal ob es sich um Vagabunden Unterschichten – verliert sie ihre Berechti- und „Gauner“ auf den Straßen Europas oder gung und wird als Indiz für zivilisatorische um indigene Nomaden in Amerika handelt. Rückständigkeit oder moralische Devianz in- Wenn sich die beteiligten Gelehrten hingegen terpretiert. mit den „Migranten“ identifizieren konnten – Völkerwanderungen von Stämmen, die man Die Trennlinie zwischen einer positiven und als eigene Vorfahren ansah, oder Reisen von negativen Deutung von Migration verläuft adeligen Kavalieren und Studenten, die wie somit, zusammenfassend gesagt, entlang die Gelehrten selbst der sozialen Elite ange- zweier Gegensatzpaare: Selbst- und Fremd- hörten – ist an deren Mobilität nichts auszu- wahrnehmung bzw. zeitweilige und per- setzen. manente Mobilität. Um die Nuancen dieser Die Beurteilung von Migration im frühneu- Ambivalenz zu untersuchen, hatte ich mei- 41 nen Forschungsaufenthalt am Alfried Krupp (1598), eine Dissertatiuncula de migrationi- Wissenschaftskolleg einer regionalen Fall- bus populorum des schwedisch-deutschen studie gewidmet – der Beurteilung räumli- Gelehrten Johannes Loccenius (1628) sowie cher Mobilität im gelehrten Schrifttum des die Schrift De gentium quarundam ortu […] Ostseeraumes im 16. und 17. Jahrhunderts. et migrationibus des Dänen Johannes Janus Die Region ist besonders geeignet um die Alanus (1628). Vielschichtigkeit frühneuzeitlicher Migrati- onsbegriffe zu verdeutlichen, da sie im Span- Im Laufe des Jahres als Junior Fellow am Al- nungsfeld zwischen dem deutschen Huma- fried Krupp Wissenschaftskolleg konnte ich nismus – mit seiner Verklärung von Indigenat die konzeptuellen Grundlagen einer Ideenge- und Territorialität und der damit einherge- schichte menschlicher Mobilität während der henden negativen Bewertung von Migration Frühen Neuzeit formulieren, die eine weite- – und der schwedischen Gelehrtentradition re Beschäftigung mit der Vorgeschichte der mit ihrer Glorifizierung der wandernden und heutigen Migrationsdebatte ermöglicht. Im erobernden Goten stand. Mittelpunkt meiner Arbeit standen Sichtung Mobilität spielt, wie erwähnt, in einer Rei- und Bestandsaufnahme der oft schwer zu he unterschiedlicher gelehrter Spezialdis- überschauenden und durch bibliographische kurse eine Rolle; Schriften, die sich explizit Hilfsmittel kaum erschlossenen Originaltexte; und ausschließlich mit Migration befassen mittlerweile befinde ich mich in der erfreuli- sind während der frühen Neuzeit aber ver- chen Position, weitere Forschungen auf eine gleichsweise rar. Es ist meiner Ansicht nach solide Quellenbasis stützen zu können. Zudem kein Zufall, dass drei dieser seltenen mono- entstanden mehrere Aufsätze, von denen ei- graphischen Texte zu Migration eben in jener nige das Thema in seinen Grundzügen skiz- Kontaktzone zwischen deutscher und skan- zieren, während sich andere auf die Fallstudie dinavischer Gelehrsamkeit entstanden sind: Nordosteuropa konzentrieren. Dank der guten das Traktat De migrationibus et mutationi- Zusammenarbeit mit den Lehrstühlen für Nor- bus gentium von Johannes Bugenhagen dem dische bzw. Osteuropäische Geschichte konn- Jüngeren, dem Sohn des Doktor Pomeranus ten Inhalte des Forschungsprojektes auch in 42 die Lehre an der Ernst-Moritz-Arndt Univer- Zusammenfassend gesagt freut es mich, sität eingebunden werden. Den Höhepunkt und gleichzeitig würdigen Schlusspunkt des Forschungsprojektes bilde- te aber das internationale Fachkolloquium „Abstammungsmythen und Völkergenealo- gien im frühneuzeitlichen Ostseeraum“ im September 2011, das ich gemeinsam mit den Lehrstuhlinhabern für Nordische und Ost- europäische Geschichte, Professor Jens E. Olesen und Professor Mathias Niendorf, am Krupp Kolleg veranstalten durfte. Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler aus sie- ben Ländern diskutierten die erstaunlichen Abstammungshypothesen, die während des 16. und 17. Jahrhunderts in Nordosteuropa formuliert wurden: die römische Herkunft Plakat zum internationalen der Litauer, die Amazonen in Mecklenburg, Kolloquium Abstammungs- mythen und Völkergenea- die vermeintliche „Wiederentdeckung“ des logie im frühneuzeitlichen versunkenen Atlantis in Schweden – die Kre- Ostseeraum, Alfried Krupp ativität frühneuzeitlicher Gelehrter kannte Wissenschaftskolleg kaum Grenzen. Anhand derartiger, aus heuti- (6. bis 7.9.2011) ger Sicht kurioser, aus einer frühneuzeitlichen nach einem Jahr in Greifswald ein positives Perspektive aber absolut plausibler Abstam- Resümee ziehen zu können. Auch wenn der mungsmythen, konnte die Rolle des Völker- Optimismus etwas verfrüht erscheint, hoffe wanderungsmotivs in der Historiographie des und glaube ich wichtige Grundlagen zu einer 16. und 17. Jahrhunderts in all ihren Facetten kritischen Geschichte des Migrationsbegriffs beleuchtet werden. erarbeitet zu haben, die vielleicht in Zukunft 43 dazu beitragen kann xenophobe Diskurse zu hinterfragen und die irrationalen Aspekte der Integrationsdebatte in die richtige Perspekti- ve zu rücken. Dem Kuratorium, Vorstand und Beirat der Stiftung Alfried Krupp Kolleg, die das Forschungsprojekt ermöglicht haben und den wunderbaren Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Wis- senschaftskolleg, die es zu einem dermaßen erfreulichen Erlebnis haben werden lassen, gebührt mein herzlicher Dank!

44 Donecker, S. (Hg.): Abstammungsmythen Donecker, S.: Alt-Livland zwischen römischen ausgewählte und Völkergenealogien im frühneuzeitlichen Kolonisten und jüdischen Exilanten. Genea- Veröffentlichungen Ostseeraum (= Publikationen des Lehrstuhls logische Fiktionen in der Historiographie des für Nordische Geschichte 15). Greifswald 17. Jahrhunderts. Zeitschrift für Ostmitteleu- 2012 [in Vorbereitung]. ropa-Forschung 60 (2011) [im Druck].

Donecker, S.: The Ambivalence of Migration Donecker, S.: Wallachian Settlers in the Bal- in Early Modern Thought. Comments on an tic Sea Region. A Humanist Tale of Migration Intellectual History of Human Mobility. In: and Colonization, and its Implications for the Michaela Messer / Renée Schroeder / Ruth Mental Maps of Early Modern Europe. Revista Wodak (Hg.): Migrations. Interdisciplinary Română de Studii Baltice şi Nordice 3 (2011). Perspectives. Wien 2011 [im Druck].

Donecker, S.: Migration und ihre Folgen als Motiv frühneuzeitlicher Historiographie und Ethnographie. Anmerkungen zur Vor- geschichte der aktuellen Migrationsdebatte. Innsbrucker Historische Studien 29 (2011) [im Druck].

45 Professor Dr. Michelle Facos

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2010 – September 2011

Kurzvita Michelle Facos was born in Buffalo 1955. (California, 2008) and An Introduction to She is professor of the History of Art and Nineteenth-Century Art (Routledge 2011). adjunct professor of Jewish Studies at Indi- Michelle Facos has received awards from ana University, Bloomington, where she has the American-Scandinavian Foundation, the taught since 1995. She received her Ph.D. in American Philosophical Society, Fulbright, 1989 from the Institute of Fine Arts, New and the Alexander von Humboldt-Stiftung. York University with a dissertation entitled Nationalism and the Nordic Imagination: Swedish Art of the 1890s. Her recent pub- lications include: Symbolist Art in Context 46 The Copenhagen Academy and artistic (Gedanken über die Nachahmung der grie- Kurzbericht innovation circa 1800 chischen Werke in Malerei und Bildhauer- kunst, 1755) conceptually rather than lite- In the late eighteenth and early nineteenth rally, and centuries several painters and sculptors who studied at the Copenhagen Academy of Art 3) the political mandate to create a distinct- (Det Kongelige Danske Kunstakademi) pro- ly Danish school of art. The works of pain- duce inventive art works that transgressed ters Nicolai Abildgaard, Jens Juel, Christof- contemporary norms and anticipated broader fer Eckersberg, and Caspar David Friedrich, artistic trends by decades. This was due in lar- and the sculptor and Winckelmann protégé ge part to the singular confluence of several Johannes Wiedewelt evidence the indepen- factors: dent creativity that would later become the 1) a visual practice that emphasized careful- hallmark of modern artistic practice and ly observing and recording the natural world which are often attributed to French artists. (partly the result of the Institute for Natural History being housed in the same building, Charlottenborg Palace, as the Art Academy),

2) the interpretation of the influential teachings of Johann Joachim Winckelmann 47 Projektbericht My project seeks to explain the unusual Jens Juel number of atypical and innovative works of art created by teachers and students at the While Jens Juel’s Stormy Weather (1770s, Sta- Copenhagen Academy around 1800. Inspired tens Museum for Kunst, Copenhagen) con- by the first royal academy of art, the French forms to genre painting because it represents Academy, founded in 1648 and housed in the common people in an everyday situation, it is Louvre, Det Kongelige Danske Kunstakademi unusual because his fellow artists focused on (Copenhagen Academy), was established in awe-inspiring forces of nature rather than on 1754 and housed in Charlottenborg Palace human reactions to it. Juel recorded people in Copenhagen. The mandate of art acade- running for shelter in a storm, a scene with mies was to produce art that glorified the no apparent academic precedent at a time nation and its ruler and created a uniform when conforming to established patterns and high standard of art training. To this end was the rule for artists seeking success. He five acceptable categories of subject matter also anticipated an important idea of Edgar were established: history, portraiture, genre, Degas (1834-1917): to represent random but landscape, and still life. By 1800, the public’s rarely recorded moments of everyday life. Juel ability to understand a painting or sculp- communicates the visual effects of wind and ture depended partly on how precisely it fit fear. His scientific interest was inspired by a one of these categories. Copenhagen artists variety of experiences. In Hamburg, where he viewed these categories differently, often studied for five years, Juel began sketching taking conceptual approaches that antici- landscapes and for ‘my own pleasure’. Thus pated later artistic developments elsewhe- predisposition for the real was strengthened re. This becomes clear in the case of works during his 1765-66 studies in Copenhagen, a of art produced by Jens Juel (1745-1802), time when the Institute for Natural History Johannes Wiedewelt (1731-1802), Nicolai was also housed in Charlottenborg Palace. Abildgaard (1743-1809), Caspar David Fried- There researchers studied natural phenome- rich (1774-1840), and Christoffer Eckersberg na, an interest shared by Juel. Another in- (1783-1853). fluence came in 1776-77 when Juel lived in 48 Rome where outdoor sketching was a com- ted that no comparably simple, geometric mon artistic activity and another in Geneva sculptures were produced until Minimalism beginning in 1777, when Juel befriended the emerged in the 1960s. The 54 commemo- naturalist Charles Bonnet. Bonnet published rative sculptures in the park of the former observations about the relationship between hunting palace at Jægerspris are among the the nervous system and external stimuli. All most singular commemorative projects in of these experiences reinforced Juel’s inte- Western art. The sculptures were commissi- rest in natural phenomena. In paintings like oned during a turbulent moment in Danish Stormy Weather and Landscape with Aurora history and formed part of a xenophobic da- Borealis, Juel captured fleeting moments, a nification of Danish culture and politics. The practice associated with the French Impressi- Jægerspris project commemorated great men onists who began painting in the 1860s. Alt- in Danish and Norwegian history – Norway hough primarily known as a portrait painter, had been ruled by since the Kal- Juel’s interest in recording atypical moments mar Union in 1523. The project expressed with careful attention to the effects of light a desire to honor significant accomplish- and atmosphere influenced a generation of ments in the humanistic, political, and sci- students (including Eckersberg and Friedrich) entific fields and to keep these deeds a living who studied with him between 1786, when part of Danish historical memory. It was also he began teaching at the Copenhagen Aca- part of an effort to spread knowledge and demy, and his death in 1802. to culturally enhance Denmark beyond the city limits of Copenhagen. These sculptures Johannes Wiedewelt are rigorous in their geometry and restrai- ned in their ornamentation. Just how unu- The memorial sculptures in made in Jæger- sual they are becomes apparent when they spris Park in the 1770s by Johannes Wiede- are compared to a similar project in France. welt were so radical that they had no impact In 1775 the Comte d’Angiviller, director ge- whatsoever on art immediately following; neral of the French Art Academy, initiated a sculpture historian Horst W. Janson has no- project to commemorate the Great Men of 49 France, all of which were full-length portrait cantly, however, Goethe’s Stein represents an sculptures with the figure dressed in contem- abstract concept with an abstract form, while porary costume. Wiedewelt’s monument to Wiedewelt was apparently the first sculptor to the 16th-century astronomer Tycho Brahe, commemorate an individual with a conceptu- for instance, is radically different, conceptu- al monument. al rather than descriptive: a sphere balanced atop a rectangular form in a manner that Nikolai Abildgaard anticipates the elegantly abstract sculptures of Constantin Brancusi (1876-1957) created Nicolai Abildgaard’s Wounded Philoctetes more than a century later. Were it not for the (1775, Statens Museum for Kunst, Copenha- now barely visible inscription on the sphere, gen) is a hybrid work remarkable in several one would never guess this to be a comme- ways. First, the scene is reduced to a single morative monument to Brahe. Wiedewelt’s monumental figure, a kind of reduction and innovative approach could not be predicted pathos that do not occur again until 1793, based on his traditional training. However a when French artist Jacques-Louis David pain- scholarship enabled him to move to Rome in ted a memorial portrait of his recently-assas- 1754 where he met Johann Joachim Winckel- sinated friend, the physician and politician mann, whose 1755 essay Gedanken über die Jean-Paul Marat (Royal Museums of Fine Arts, Nachahmung der griechischen Werke in Ma- Brussels). Abilgaard conveyed Winckelmann’s lerei und Bildhauerkunst suggested to Wie- idea that: “So wie die Tiefe des Meeres allezeit dewelt the notion that art should represent ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wü- ideas rather than actions, concepts rather ten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren than appearances. The Brahe monument ex- der Griechen bei allen Leidenschaften eine emplifies Winckelmann’s ideals of ‘edle Ein- große und gesetzte Seele.” Philoctetes gras- falt und stille Größe‘ and is coincidentally ps his snake-bitten foot with a power evident similar to Stein des guten Glücks, designed from his tensed muscles. His profound phy- by Johann Wolfgang Goethe and installed at sical suffering, the result of the snake bite, his Gartenhaus in Weimar in 1777. Signifi- and his psychological suffering, the result of 50 abandonment by his Troy-bound comrades, is or political intrigue, Abildgaard chose a mo- evident in his teary and rolled back eyes, his ment of despair – the protagonist is aban- open mouth and his wind-blown hair. Signifi- doned, alone, and in pain. Philoctetes is a cantly, Abildgaard painted this image around hybrid anomaly in the 1770s that anticipa- the same time – 1776 - as Friedrich Maximili- tes a trend which became increasing popular an Klinger coined the term Sturm und Drang during the nineteenth century as artists and in his play of the same name. Such an image patrons became dissatisfied with the expres- of extreme psychological and physical tor- sive limitations of academic standards and ment in a figure compressed into such a small categories. space does not occur again until Goya pain- ted Saturn Devouring His Children on a wall Caspar David Friedrich in his house in the early 1820s (now Prado, Madrid). Der Wanderer über dem Nebelsee is one of Abildgaard did conform to contemporary ex- Friedrich’s most familiar paintings. Joseph pectations in three ways: choosing a classi- Leo Koerner has analyzed the back-facing cal subject (Homer), demonstrating mastery figure as one who draws the viewer’s ima- of human anatomy, and basing Philoctetes’s gination through the picture plane into the posture on a famous ancient sculpture, the fictive space of the painting. But it is not Belvedere Torso, then as now in the Vatican only the viewer who imaginatively occupies collection in Rome. The idea of depicting suf- the subject’s space and gazes at his view, but fering was not unusual at the time, but the the painter of the picture, Friedrich himself. conventional pictorial mode for suffering was This is his magisterial view of a constructed Baroque, with diagonal movement, twisting landscape composed of either the Zittauer- forms, and depictions of violence. Abildg- gebirge or Elbsandsteingebirge in the middle aard was more innovative and deviated from ground and perhaps the Riesengebirge in the Caspar David Friedrich, Der contemporary expectations in his choice of distance. They are shrouded in fog, resulting Wanderer über dem Nebel- subject: rather than choosing a typical Neo- in another of Friedrich’s innovations: a spati- see, about 1818 classical moment of inspiring heroic behavior al disjunction between the subject’s space in 51 the foreground and the view, with no con- Christoffer Eckersberg necting elements allowing plausible physical access to that space. Friedrich used this de- This synthesis of conceptual simplicity based vice in many of his paintings. Some explain on Winckelmann’s Neoclassical ideal and an the purpose of the missing connective space Enlightenment fascination with careful obser- and the dimly viewed distance as symbolic vation of natural phenomena were the chief of the unbridgeable spiritual gap between hallmarks of Copenhagen Academy art. They this world and the next. But it might simply were expressed and perpetuated by Denmark’s result from careful observation of nature: in most famous early nineteenth-century pain- Greifswald, for instance, fog creates and ex- ter, Christoffer Eckersberg, the so-called fa- aggerates the distance between objects that ther of Danish Golden Age (Biedermeier) are near and those that are a bit further off, painting. The ear- although certainly not distant: some days liest and most re- the east end of the Nikolaikirche is clearly markable example visible from Lappstraße but the west tower is of this distilled and shrouded in fog. Friedrich’s ability to notice detailed realism is and utilize this common perception and to Eckersberg’s pain- transform it into a carrier of meaning may be ting of a beggar, indebted to his training with Juel and Wie- painted during dewelt in Copenhagen. The ideas of Winckel- his stay in Rome mann taught by Wiedewelt to imitate the from 1813 to 1816 Greeks by stripping away unnecessary detail (Statens Museum and exuding “edle Einfalt und stille Größe” for Kunst, Copen- impressed Friedrich, as did Juel’s enthusiasm hagen). From a Christoffer Eckersberg, Roman for careful description of nature and every- Beggar, 1815 compositional and day experiences. Friedrich combined these technical point of ideas to create an innovation startling in its view Eckersberg’s Roman beggar is comparab- simplicity and profound in its possibilities. le to David’s 1893 portrait of Marat. Both are 52 detailed, realistic depictions of a single figu- a more egalitarian attitude toward subject re situated in an unarticulated empty space, matter and considered the lower classes as where dramatic lighting creates a mood of fitting subjects. Eckersberg’s attitude also seriousness, monumentality, and three-di- characterized Impressionism’s recording of mensionality. In fact, Eckersberg studied in neglected aspects of modern life, especially Paris with David from 1811 to 1813 and was ones that were part of the artist’s everyday undoubtedly familiar with the Marat pain- experience. This attitude was considered ra- ting. What is extraordinary about Eckersberg’s dical in 1859 when Manet painted Absinthe image is the fact that he applied this treat- Drinker (Ny Carlsberg Glyptothek, Copenha- ment to an anonymous and unimportant per- gen), which depicts a low life figure similar son. It is a painting whose subject falls bet- to Eckersberg’s in a similarly shabby yet di- ween the cracks of genre - the depiction of gnified manner. common people in unremarkable situations – and portraiture. For it to be a portrait, this Conclusion beggar would have to be given a name – the Roman Beggar Orlando Furioso, for instance. The Copenhagen Academy fostered a visual But he was not. Eckersberg’s Roman Beggar, practice that emphasized carefully obser- violated the rules for portraiture because the ving and recording the natural world, com- figure is anonymous. By painting this Roman bined with Winckelmann’s ideas regarding beggar with the dignity and attention usually simplification, concentration, and dignity reserved for portraiture Eckersberg seemed to produce art works that transgressed con- to question the existing aesthetic hierarchy temporary norms, anticipated artistic trends according to which individuals on the lowest by decades, and encouraged an independent rung of the social ladder were unworthy of creativity that would later become the hall- such privileged attention and distinguished mark of modern artistic practice. presentation. This attitude characterized Re- alism, an artistic movement that emerged several decades later. Realist artists adopted 53 ausgewählte Facos, M.: An Introduction to Nineteenth- Facos, M.: Wildly, Modestly Modern: The Veröffentlichungen Century Art (London: Routledge, 2011). North American Reception of the Scandina- vian Exhibition of 1912, co-author, in: Lumi- Facos, M.: Home as Political Statement: Carl nous Modernism: Scandinavian Art Comes Larsson’s Sundborn, in: Carl Larsson. Exhi- to America. Exhibition catalogue (New York: bition catalogue (Helsinki: Finnish National American-Scandinavian Foundation, 2011). Gallery, 2011). Website: www.19thcenturyart-facos.com

54 55 Professor Dr. Ulrich Falk

Alfried Krupp Senior Fellow September 2010 – August 2011

Kurzvita Ulrich Falk ist seit 2001 Inhaber des Lehr- ropäische Rechtsgeschichte; einen Ruf an die stuhls für Bürgerliches Recht, Rhetorik und Universität Münster lehnte er ab. Seine Er- Europäische Rechtsgeschichte an der Uni- kenntnisinteressen reichen von der antiken versität Mannheim. Als Dekan und Direktor Gerichtsrhetorik über die frühneuzeitliche am Institut für Unternehmensrecht gab er Rechtspraxis und -lehre (Zivilrecht, Straf- dort den Anstoß zur Gründung des Zentrums recht) bis zur Rechtspraxis und -wissenschaft für Insolvenz und Sanierung. Seit 2009 ist im 19. Jahrhundert und der juristischen Zeit- er zudem Lehrbeauftragter für Rhetorik an geschichte. der Universität Luzern. Von 1992-2000 war er Referent am Max-Planck-Institut für Eu- 56 Wahrnehmungsverzerrungen: Ein Problem- und -praxis zum Konkursrecht um 1900. Am Kurzbericht feld (auch) der Rechtsgeschichte. Beobach- Wissenschaftskolleg hat sich der Fokus mei- tet am Beispiel des Konkursrechts und sei- ner Beobachtung dramatisch erweitert, zu- ner Praxis um 1900 rück zum Anfang des 19. Jahrhunderts und weiter bis zu den frühneuzeitlichen Funda- Der Titel meines interdisziplinären Projekts ist menten des Konkursrechts im gemeineuro- sperrig, sein Gegenstand in vieler Hin-sicht päischen Recht des 17. und 18. Jahrhunderts. erläuterungsbedürftig. Die einschlägigen Dieser Weg hinein in den Quellenberg der Stichworte sind auf Anhieb nur Experten ver- Jahrhunderte war mühsam und zeitaufwen- ständlich. Ausgangspunkt sind Befunde der dig. Die vorläufige Auswertung der wich- wahrnehmungs- und gedächtnispsychologi- tigsten Primärquellen, auch der lateinisch- schen Forschung, die auf Daniel Kahnemann sprachigen, habe ich abgeschlossen. Mit der (Nobelpreis 2002), Amos Tversky und Baruch Thesenbildung bin ich gut vorangekommen. Fischoff zurückgehen. Im Anschluss an diese Rund 250 Manuskriptseiten habe ich bereits Pionierarbeiten haben zahllose Studien nach- ausgearbeitet. Sehr viel Text- und auch For- gewiesen, dass Denken, Entscheiden und Er- schungsarbeit bleibt freilich noch zu leisten. innern zahlreichen Verzerrungen unterliegen, Einer Bewertung des Ertrags in eigener Sache die eine lästige Gemeinsamkeit aufweisen: Sie muss ich mich – eingedenk drohender Ver- sind schwer zu vermeiden; anfällig sind so- zerrungen (selfserving bias, overconfidence, gar ausgewiesene Experten. In vielen Berei- controll illusion, consensus bias) enthalten. chen der deutschen Rechtswissenschaft wird Ich darf aber versichern, dass ich mein Bestes die Herausforderung, die in diesem kogniti- versucht habe. onspsychologischen Befund liegt, noch kaum wahrgenommen. Als konkretes Beobachtungsfeld hatte ich ein relativ kleines Gebiet vorgesehen, das mir durch eigene Vorarbeit gut vertraut war: Die deutsche Gesetzgebung, Rechtswissenschaft 57 Projektbericht In der Zeitschrift für deutschen Civilprozess de gelegt werden. Wir müssen fragen, wann erschien im Jahr 1888 ein wichtiger Aufsatz und aus welchen Gründen ist das entstanden, zur europäischen Konkursrechtsgeschichte: was wir gegenwärtig Konkursverfahren nen- Die Entwickelung des Konkursverfahrens nen, wann und aus welchen Ursachen sind in der gemeinrechtlichen Lehre bis zu der die Merkmale hervorgegangen, die jetzt das Deutschen Konkursordnung vom 10. Feb- Wesen desselben ausmachen.“ (S. 25). ruar 1877 (Bd. 12, S. 24-96). Der Verfasser Ähnliche Prämissen finden sich, weniger war Wilhelm Endemann (1825-1899), sei- scharf formuliert, in anderen einflussreichen nerzeit Professor zu Bonn. Endemann bot ein Arbeiten aus jener Zeit, namentlich bei Jo- „übersichtliches Bild“ der Herausbildung des sef Kohler (1849-1919), Professor zu Berlin. Konkursverfahrens in der frühen Neuzeit. In Es liegt auf der Hand, dass ihr Vorgehen mit vorbildlicher Klarheit legte er seine begriffli- heutigem Methodenverständnis kollidieren chen und methodischen Prämissen offen. An kann. So rügt der Rechtshistoriker Wolfgang der Spitze stand die Definition dessen, was Forster, ein durch seine Habilitationsschrift er als Kern der Konkursordnung von 1877 bestens ausgewiesener Experte der Konkurs- ansah: Ein Verfahren, das bei Zahlungsunfä- rechtsgeschichte, mit Blick auf Kohler den higkeit oder Überschuldung eines Schuldners „Zirkelschluss, dass für die Entwicklung wich- allen beteiligten Gläubigern aus dem gesam- tig ist, was, vom gedachten Endpunkt der ten Vermögen des Schuldners „thunlichst Entwicklung aus gesehen, für diese wichtig weitreichende und gerechte Befriedigung sein soll“ (Konkurs als Verfahren, 2009, S. 87 verschaffen“ soll (S. 24). Diesen Primat opti- Fn. 502). Aus kognitionspsychologischer Pers- maler Gläubigerbefriedigung und -­gleichheit pektive springt ins Auge, dass sich Endemann erklärte Endemann als maßgeblich nicht nur und Kohler in besonderem Maße dem Risiko für das geltende Recht, sondern ebenso für der Rückschauverzerrung (hindsight bias) die Rechtsgeschichte: ausgesetzt hatten. „Soll geschildert werden, wie das Konkurs- Ein Pionier dieser Forschung ist der Psycho- verfahren sich herausgebildet hat, so kann loge Baruch Fischoff. Er hat schon 1975 auf nur der heutige Begriff desselben zu Grun- die Relevanz seiner Studien gerade auch für 58 die Geschichtswissenschaft hingewiesen: Das vermeidbares Phänomen, von dem auch Ex- Wissen um den Ausgang historischer Ereig- perten betroffen sind. Der Rückschaueffekt nisse, um geschichtliche Verläufe und Kausa- kann durch weitere Effekte verstärkt werden, litäten suggeriere den trügerischen Eindruck gegen die auch Wissenschaftler keineswegs von Zwangsläufigkeit. Dadurch drohe ein immun sind: zum Beispiel die intuitive Ab- unbewusster Determinismus, der die Einsicht neigung gegen Zweideutigkeiten (ambiguity in die Offenheit komplexer historischer Prob- aversion), die Verknüpfungsillusion (cluste- lemlagen – zum Beispiel von Kriegen – trübe. ring illusion), die Selbstbedienungsverzer- Dieser Effekt, den Fischoff als creeping deter- rung (selfserving bias) und die Bestätigungs- minism bezeichnete, hindere daran, aus der verzerrung (confirmation bias). Zu näheren Vergangenheit wirklich zu lernen (Hindsight ≠ Ausführungen ist im vorliegenden Bericht Foresight, Journal of Experimental Psycholo- leider kein Raum. gy, vol. 1, p. 288-299). Nach mehreren Jahr- Inwieweit aber wurden die Resultate, zu zehnten intensiver empirischer Forschung ist denen Kohler und Endemann gelangt sind, dieser Befund wohl unabweisbar: Der Mensch tatsächlich von derartigen Störfaktoren neigt als rückschauender Betrachter intuitiv beeinträchtigt? Um Antworten auf diese dazu, die Wahrscheinlichkeit systematisch zu schwierigen Fragen verantworten zu kön- überschätzen, mit der bestimmte Ereignisse nen, bin ich in der Durchführung meines eintreten konnten, wenn er über das Wissen Projekts nicht umhin gekommen, mich auch verfügt (oder zu verfügen glaubt), dass diese mit den rechtshistorischen Quellen intensiv Ereignisse tatsächlich eingetreten sind (seien). auseinanderzusetzen, die für Endemann und Zugleich unterschätzt er die Wahrscheinlich- Kohler von maßgebender Bedeutung waren. keit alternativer Verläufe und Ereignisse oder Dies führte mich tief hinein in den Berg der blendet sie gänzlich aus. Im Bann des Ergeb- Primär- und Sekundärquellen des 17.-19. niswissens meint er, schon immer gewusst Jahrhunderts. zu haben, dass sich gerade diese Ergebnisse Forster ist in seiner Habilitationsschrift (Kon- einstellen mussten (knew-it-all-along ef- kurs als Verfahren) zu einem vernichtenden fect). Es handelt sich um ein robustes, schwer Urteil über Kohlers Thesen gelangt, ohne 59 wahrnehmungspsychologische Fragen zu und wirtschaftlicher Erschütterungen aufge- berühren (Endemann erwähnt er fast nur staut hatte. Seine historische Mission lag in in Fußnoten). Den Kern dieses Urteils bil- der Erhaltung adliger Erb- und Landgüter, die det die Widerlegung der Deutung, die Koh- der Verschuldungskrise des spanischen Adels ler einem Schlüsselwerk der europäischen im 17. Jahrhundert zum Opfer zu fallen droh- Konkursrechtsgeschichte zugewiesen hat- ten. Forster geht so weit, von der Erfindung te, dem Labyrinthus creditorum concur- eines sanierenden Konkurses zu sprechen. rentium des Francisco Salgado de Somoza Forsters Buch hatte mich, als ich es 2009 (1595-1665). Forsters Beweisführung ist erstmals las, schlagartig überzeugt. Kohlers eine dogmengeschichtliche, die durch die Gegenposition zur Deutung des Labyrinthus – Einblendung politischer, ökonomischer und eine extrem kritische – erschien mir danach gesellschaftlicher Faktoren enorm hinzuge- fast absurd. Mich beschäftigte seinerzeit nur winnt. Dadurch gelingt ihm eine radikale noch die Anschlussfrage, wie eine solch krasse Neubewertung des Labyrinthus, der erst- Fehlleistung – wenn man will: der Fall Kohler mals 1651 erschien. Die Ausgabe 1653, die – überhaupt erklärbar ist. Wie konnte ein so am MPI für Europäische Rechtsgeschichte quellenkundiger Rechtsgelehrter auf eine so verfügbar ist, umfasst 772 Textseiten in abwegige Deutung verfallen? Etwa aus wahr- einem stattlichen Folioband. Der Verfasser, nehmungspsychologischen Gründen? In diese Richter am königlichen Gerichtshof zu Val- Richtung schien mir Forsters These zu weisen, ladolid, war ein Kronjurist des spanischen dass Kohlers Deutung des Labyrinthus und Königs Philipp IV. In Forsters Untersuchung seiner Wirkungsgeschichte von seinem eige- erweist sich der Labyrinthus – restlos anders nen konkursrechtspolitischen Standpunkt im als bei Kohler – als vollkommen zweckratio- Deutschen Kaiserreich an der Schwelle zum nal und zielführend. Das Verfahrensmodell, 20. Jahrhundert beherrscht gewesen sei. das dem Labyrinthus zugrunde lag, befrie- Kohlers Standort war für mein Projekt am digte – so Forster – einen akuten, für das Wissenschaftskolleg selbstverständlich sehr Königtum unabweisbaren Bedarf, der sich von Interesse. Forsters Buch, das im Wesent- in einer langen Phase heftiger politischer lichen eine viel ältere Epoche betrifft, wollte 60 ich nur eine rühmende Rezension im Umfang anspruchsvollen Vorhaben verbunden sind, von wenigen Seiten widmen. Dazu hatte ich realistisch abzuschätzen. Es handelt sich um – wie ich meinte – die Hauptarbeit schon bei eine spezielle Ausprägung des generellen der Erstlektüre geleistet. Meine Analysen zu Phänomens der Selbstüberschätzung (over- Kohler, Endemann und deren Hauptquellen confidence), eines der meistuntersuchten erzeugten jedoch unvermutete Zweifel und Phänomene der Urteilspsychologie. Schließ- Einwände, auf die Forsters Buch keine oder lich bin ich in meinem Ringen mit dem Fall nur andeutende Antworten vorhielt. Mein Kohler, der wider Willen auch zu einem Fall Rezensionsvorhaben hat sich dadurch immer Forster geworden war, zu folgenden Thesen weiter verzögert und ausgewachsen. gelangt: Aus Tagen wurden Wochen und Monate. Die anfangs üppig vorhandene Zeit, die ich (1) Das Verfahrensmodell, das Salgados Werk konzentriert in die Analyse von Quellen des zugrunde liegt, war in der Tat präzise auf die späten 19. Jahrhunderts investieren wollte, Fortführung und Entschuldung einer elitären vor allem auf konkursrechtliche Urteile des Gruppe von Schuldnern – des grundbesitzen- Reichsgerichts, schmolz zusammen. Auch die den und staatstragenden Adels – ausgerich- Auswertung der internationalen Forschungs- tet. literatur zum Problemkomplex der biases, die ich auf breiter Basis hatte vornehmen wolle, (2) Diese Funktion war nicht nur Kohler ver- musste ich beschneiden. Stattdessen wander- borgen geblieben, sondern dem gesamten te mein Blick ruhelos zwischen konkursrecht- deutschsprachigen Schrifttum zu Salgado. lichen Texten aus drei Jahrhunderten hin und Von einer Zentrierung des Verfahrens auf die her. Selbstbeobachtend war mir bewusst, dass Interessen der Gläubiger, auf ihre tunlichst meine Arbeitsweise zum drastischen Beispiel weit reichende und gerechte Befriedigung im für ein Phänomen taugt, dass man in der kog- Sinne Endemanns, konnte im Labyrinth der nitionspsychologischen Literatur als planning konkurrierenden Gläubiger überhaupt keine fallacy bezeichnet: Das Unvermögen, den Rede sein. Zeitbedarf und die Schwierigkeiten, die mit 61 (3) Das spanische Verfahrensmodell hatte ei- (6) Forsters Rekonstruktion weist einen blin- nen Zuschnitt, den man im deutschen Voll- den Fleck auf: Das Labyrinth war darauf streckungsrecht seit dem 19. Jahrhundert als berechnet, die Verzichts- und Vergleichsbe- Zwangsverwaltung in Grundstücke zu be- reitschaft der Gläubiger zum Besten der sa- zeichnen pflegt. Diesen Begriff benutzt Fors- nierungsbedürftigen Schuldnerelite zu maxi- ter nicht, er schwingt aber in seiner Analyse mieren. mit. Erläuterung: Alle beteiligten Gläubiger wur- den in kostenträchtige Prozesse gezwungen (4) Forsters Neubewertung des Labyrinthus und darin auf Jahre gefangen gehalten. Auf ist zu radikal ausgefallen. Sie hat die schwar- Befriedigung, in welcher Höhe auch immer, ze Farbe, die Kohler reichlich aufgetragen durften sie erst am Ende des gesamten Ver- hatte, in strahlendes Weiß verwandelt. Zu fahrensgangs hoffen. Jenen Gläubigern, die erinnern ist gegenüber beiden daran, dass über finanzielle Reserven verfügten, blieb der Grundton der Geschichte grau ist, grau es natürlich unbenommen, die Durststrecke in unendlichen Schattierungen. durchstehen zu wollen. Wirtschaftlich an- geschlagene Gläubiger und diejenen, die ein (5) Endemanns und Kohlers Wahrnehmung Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag der Konkursrechtsgeschichte des 17. und fürchteten, konnten sich dagegen gezwun- 18. Jahrhunderts wurde durch Rückschau- gen sehen, ihre Forderungen gegen die Sanie- verzerrungen beeinträchtigt. Bei Kohler ka- rungsschuldner fallen zu lassen, um den An- men in erstaunlicher Stärke die Phänomene walts- und Gerichtskosten zu entgehen. Dass der übersteigerten Urteilssicherheit (over- sich Verfahrenskosten bei langjährigen Pro- confidence) und der Ambiguitätsaversion zessen horrend aufsummen und den Wert der (ambiguity aversion) und der Bestätigungs- Klagesumme um ein Mehrfaches übersteigen verzerrung (confirmation bias) hinzu. Die konnten, zählte zu den chronischen Schwä- wissenschaftliche Kardinaltugend der Skep- chen frühneuzeitlicher Gerichtsbarkeit. Zur sis auch gegenüber eigenen Überzeugungen Routine damaliger Parteivertreter gehörte es, und Vermutungen war seine Sache nicht. Gegner schon vorprozessual mit solchen Dro- 62 hungen unter Druck zu setzen. Als Alternative lers Deutung des Labyrinthus als „unrealis- kam ein vom Schuldner geplanter Zwangs- tisch“ und „wirklichkeitsfern“ verworfen (S. vergleich (pactum remissorium) in Betracht, 365). der Forderungsverzichte und Umschuldungen verknüpfen konnte. Ein solcher Vergleich war (7) Die Besonderheit des Labyrinthus, alle auch in Konkursprozessen möglich, die schon Gläubiger unter Druck zu setzen, muss mit- Jahre gedauert hatten, sobald die Mehrheit bedacht werden, wenn man die Effizienz des der Gläubiger zu bereuen begann, sich auf Verfahrensmodells in der zeitgenössischen den Gang ins Labyrinth eingelassen zu ha- spanischen Verfahrenspraxis untersuchen ben. Die Entwertung der Geldschulden durch will. Man muss Kohlers Argumentation – re- Inflation konnte dann das Übrige tun. Dem duziert auf ihren sachlichen Kern, befreit von Risiko, dass der Konkursprozess unliebsame ihrer maßlosen Übertreibungen – mit Fors- Fortschritte machte, konnte professionell ters Rekonstruktion zusammendenken, um beratene Schuldner vorbeugen: Zu den an- zu einem Gesamtbild zu gelangen, das der waltlichen Standardtechniken gehörte auch hochgradigen Ambivalenz des spanischen die Prozessverschleppung. Schuldner, die über Konkursverfahrens gerecht wird. Aus Gläubi- sozialen Einfluss verfügten, konnten Stroh- gersicht konnte dieses Verfahren alptraum- männer einsetzten, die sich unter die wahren hafte Züge annehmen. Gläubiger mischten. Diese verdeckten Inter- essenvertreter konnten, von den Beratern des (8) Von all dem zu trennen ist die Anschluss- Schuldners instruiert, eigene Forderungen frage nach der Wirkungsgeschichte des Laby- vorschützen, konkurrierende Forderungen rinthus in den deutschsprachigen Territorien frivol bestreiten und die Prozessbereitschaft des Alten Reichs seit Mitte der 50er Jahre des der wahren Gläubiger schikanös untergraben. 17. Jahrhunderts (also kurz nach Ende des Forster hat solche Möglichkeiten, die in der 30jährigen Krieges). Der zwangsverwaltende Grauzone zwischen legitimer und illegitimer Zuschnitt des Verfahrens und sein Potenti- Interessendurchsetzung liegen, nicht erkenn- al zur Maximierung der Konzessionsbereit- bar ins Kalkül gezogen. Zugleich hat er Koh- schaft der Gläubiger im Schuldnerinteresse 63 sind dabei von hoher Relevanz. dungen zwischen der Praxis der höchsten Ge- richte des Alten Reichs, die Moser auf 1558 (9) Die künftige Forschung muss detailgenau Textseiten referiert, und der höchstrichterli- prüfen, wie die Rezeptionsverläufe im Alten chen Praxis in Spanien, die dem Labyrinthus Reich und seinen einzelnen Territorien kon- zugrunde liegt. Treffen wird man dabei auf kret beschaffen waren. Das Gleiche gilt für frühneuzeitliche Fundamente des Rechts der die daran schließende Verfahrenspraxis bis Insolvenz von Hoheitsträgern, im Extremfall zum Ende des Alten Reichs. Eine unerschöpf- der Insolvenz ganzer Staaten. In diesem Kon- liche Quelle ist ein zweibändiges Werk des text bedürfen die rund 250 Manuskriptseiten großen Johann Jacob Moser (1701-1785): und die Exzerpte, die ich am Wissenschafts- Das Reichs-Ständische Schuldenwesen. Zu kolleg erstellen konnte, noch sehr vieler Er- rekonstruieren gilt es hier die Querverbin- gänzungen.

64 Falk, U. (Hrsg.): Fallstudien zur zivilrechtli- Falk, U.: Studien zur Rechtsgeschichte des ausgewählte chen Judikatur des Reichsgerichts um 1900, Konkurses zwischen Fortführung und Liqui- Veröffentlichungen Karlsruhe 2011. dation . Als Monographie in Vorbereitung; rund 250 Falk, U.: Rezension zu Björn Laukemann, Die Manuskriptseiten liegen bereits vor; der Um- Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters. fang des Werks wird aber erheblich größer Eine rechtsvergleichende Untersuchung, Tü- ausfallen. Erscheinen soll es in der Schriften- bingen 2010, in: Juristenzeitung 2011, S. 464 reihe Rechtsprechung des MPI für Europäi- f. sche Rechtsgeschichte; wann die Fertigstel- lung erfolgt sein wird, kann ich derzeit nicht Falk, U.: Nachfragen zum Konkurs als Ver- zuverlässig abschätzen, auch wegen der Un- fahren. Besprechungsaufsatz zu Wolfgang gewissheiten, die aus der Einbindung in eine Forster: Konkurs als Verfahren. Francisco beantragte DFG-Forschergruppe erwachsen: Salgado de Somoza in der Geschichte des Interdisziplinäre Forschung zum deutschen Insolvenzrechts, Köln Weimar Wien 2009; in Verwaltermodell – Teilprojekt 1. Ich bin zu- Vorbereitung zum Druck für: Zeitschrift der gleich Sprecher der elfköpfigen Projektgrup- Savigny-Stiftung, Germanistische Abteilung. pe. Derzeit befindet sich die Projektskizze, von mir eingereicht im Februar 2011, noch in der DFG-Begutachtung.

65 Professor Dr. Alexandra Karentzos

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2010 – September 2011

Kurzvita Alexandra Karentzos (geb. 1972) ist Professo- ter. Visual Humor in Ideas of Race, Nationality, rin für Mode und Ästhetik an der TU Darm- and Ethnicity“ am Dartmouth College, Hano- stadt. Sie studierte Kunstgeschichte, Archäo- ver/USA. Sie ist Mitbegründerin und Vorstand logie, Psychologie und Pädagogik an der des Centrums für Postcolonial und Gender Ruhr-Universität Bochum. Von 2002 bis 2004 Studies an der Universität Trier und Mitbe- war sie wissenschaftliche Assistentin bei den gründerin und -herausgeberin der Zeitschrift Staatlichen Museen zu Berlin und von 2004- Querformat. Zeitgenössisches. Kunst. Popu- 2011 Juniorprofessorin für Kunstgeschichte lärkultur. an der Universität Trier. 2007 war sie Fellow in der Forschungsgruppe „No Laughing Mat- 66 Postkoloniale Ironie tik betrachtet werden, Identitätssetzungen, Kurzbericht Positionen gegenwärtiger Kunst/Theorie Grenzmarkierungen und Fundamentalismen spielerisch zu hinterfragen. Das Projekt un- Die Globalisierung bedeutet für die Kunst- tersucht erstmals die visuellen Strategien, die geschichte eine besondere Herausforderung, mit diesen Konzepten verbunden sind, und weil sich in der globalisierten und postko- versteht sich damit als Beitrag zu den post- lonialen Kunst eine Vielstimmigkeit mani- kolonialen Visual Culture Studies. festiert, die einseitig-europäische Sichtwei- sen relativiert und mit Außenperspektiven konfrontiert. Wie verändert sich auch die europäische Kunst(geschichte) angesichts globaler Vernetzungen? In postkolonialen künstlerischen Positionen etwa liegt eine radikale Kritik von westlichen Ordnungs- schemata, nach denen sich Wissen struktu- riert. Ironie kann als ein Mittel dieser Kri- 67 Projektbericht Die Spannungsverhältnisse des Kolonialismus und Humor zu denjenigen Begriffen gehö- zwischen Eigenem und Fremdem sind zentra- ren, mit denen heutige Kunst diskutiert wird, les Thema postkolonialer Theoriebildung; so fehlte bisher eine systematische Untersu- beschreibt Edward Said etwa die konfliktge- chung der jeweiligen visuellen Strategien im ladene Ökonomie des kolonialen Diskurses als Kontext von Fremdheitsdiskursen. Was Ironie Spannung zwischen dem synchronischen Be- für solche Werke auszeichnet, ist vor allem dürfnis nach Identität und dem Gegendruck ihr spielerischer Umgang mit Sinnkonstruk- der Diachronie der Geschichte – im Sinne ten und ihr Potential zur Reflexion. Zentral von Veränderung und Differenz. Zwischen für mein Projekt war die Frage, mit welchen diesen Polen bildet die Mimikry nach Homi Verfahrensweisen die künstlerischen Arbeiten K. Bhabha einen „ironischen Kompromiss“, konkretisieren, was Bhabha „Mimikry“ nennt. insofern sie als Wiederholung der Autorität Allerdings sollte den Kunstwerken keine bloß der kolonialen Identität zugleich eine Abwei- illustrative Funktion im Rahmen postkoloni- chung und Differenz impliziert. Mit Bhabhas aler Theoriedebatten zugeschrieben werden; Begriff der Mimikry ist mithin eine Wider- vielmehr galt es, die künstlerischen Arbeiten standsstrategie gemeint, mit der rassistische als eigenständige Beiträge in den Diskussio- Stereotype verspottet, umgeschrieben und nen zu betrachten: In die Fremdheitsdebat- transformiert werden können. Die verfehlte ten eingelassene kritische Kunst und Wissen- Wiederholung dient als subversive Technik schaft stehen im Austausch miteinander, sie und strategische Intervention. rezipieren sich wechselseitig und stellen sich Ziel des geplanten Forschungsprojekts war jeweils ihre Komplexität zur Verfügung. es die Bedeutung von Ironie für postkolo- Ein mehrfach vorgebrachter Vorwurf gegen niale Debatten um Eigenes und Fremdes zu die postkoloniale Theoriebildung ist, dass sie untersuchen: Beispiele gegenwärtiger Kunst noch immer von einem westlichen Beob- wurden daraufhin betrachtet, wie sie sich in achterstandpunkt ausgeht und von dort aus den Spannungsverhältnissen positionieren einen hierarchischen Blick auf die so genann- und ethnische Identitätssetzungen ironisch ten Peripherien fortschreibt. Daher war es hinterfragen. Obwohl die Stichworte Ironie unbedingt notwendig in dem Projekt, diese 68 00-MS flash final complete.xp 3/4/08 3:39 PM Page 78

Abb. 1: Arab Image Foundation (Walid Raad und Akram Zaatari), ID: Women – Classified ac- cording to type of shirt. Portraits from Studio Anouchian. Tripoli, Leba- non 1935-70 (Mapping Sitting 2002)

eurozentrische1.313-339 Perspektive zumindest inso- 1. Mimikry von Archiven. Andere Ordnungen fern zu überwinden, als die außereuropäische des Wissens Theoriebildung und Kunstproduktion berück- sichtigt wurde. Dazu wurden Beispiele aus Im ersten Teil ging es um die Frage, inwie- unterschiedlichen Kontexten herangezogen – fern in postkolonialen künstlerischen Positio- zumal zeitgenössische Kunst global agiert. Die nen eine radikale Kritik von westlichen Ord- Verschiedenheit der ausgewählten Beispiele nungsschemata liegt, nach denen sich Wissen diente gerade dazu, die Vielstimmigkeit des strukturiert. Beispiele waren die Arbeiten der postkolonialen Diskurses unter dem Stichwort Fondation Arabe pour l’image (FAI), die his- der Ironie zu verdeutlichen. torische Fotografien aus dem Nahen Osten sammelt und ausstellt, und der Atlas Group, 69 die fiktive Fotoarchive produziert. Es galt zu Eigenes und Fremdes abgegrenzt werden und zeigen, welches Potential von „Grundlagen- die den Kolonialismus bestimmen. kritik“ darin angelegt ist und inwiefern die Kunst Grundstrukturen von Zuordnungen, 2. Die Ungenießbarkeit des Lachens. Kul- Zuschreibungen und ethnischen Ausschluss- turanthropophagie in der zeitgenössischen mechanismen offen legt und in Frage stellt. Kunst Um die künstlerischen Arbeiten einordnen zu können, war es zentral, die Rolle von Bild- Gerade der in Brasilien aufkommende Begriff medien und insbesondere der Fotografie bei der „Kulturanthropophagie“ bietet ein be- der Wissensproduktion über fremde Kulturen sonderes Potential zur Reflexion kolonialisti- zu berücksichtigen. Insbesondere war eine scher Machtverhältnisse. Vorstellungen von historische Rückvergewisserung notwendig: Kannibalismus waren ein wirkungsmächtiges Denn im 19. Jahrhundert etabliert sich die Instrumentarium des Kolonialismus, mit dem Fotografie als ein Medium der Erfassung des die Unmenschlichkeit anderer, so genannter Fremden in Form eines „optischen Enzyklo- ‚primitiver‘ Kulturen exemplifiziert wurde. pädismus“, um mit Allan Sekula zu sprechen. Einflussreich waren zum Beispiel illustrierte Zweitens konnte ich zeigen, wie die künstle- Reiseberichte, wie Hans Stadens „Warhaftig rischen Projekte der FAI und der Atlas Group Historia und beschreibung eyner Landtschafft solche traditionellen Formen der Fotografie der Wilden/Nacketen/Grimmigen Mensch- ironisch aufgreifen und zum Lachen anregen. fresser Leuthen/in der Newenwelt America Damit bieten diese künstlerischen Arbeiten, (…)“ (1557) oder Theodor de Brys dreibändige drittens, ein Potential zur Infragestellung Sammlung „America“ (1592). Brasilianische von Wissenssystemen: Die Wissensprodukti- Künstlerinnen und Künstler des 20. Jahrhun- on durch Fotografie wird kritisch vorgeführt derts eignen sich dieses Thema an, das dazu und vor allem das anthropologische und eth- diente, koloniale Machtstrategien zu legiti- nographische Wissen über Andere ironisiert. mieren, und wenden den Begriff „Anthro- Somit ist in den Werken eine radikale Kritik pophagie“ metaphorisch an. So forderte der von Ordnungsschemata angelegt, mit denen Schriftsteller Oswald de Andrade in seinem 70 1928 erschienenen „Anthropophagischen Meireles, Mauricio Dias und Walter Riedweg, Manifest“ die europäischen Einflüsse regel- Dennis Feser und Kara Walker ließen sich die- recht zu verschlingen und sie so in eine ei- ser Form der Ironie zuordnen. genständige brasilianische Identität zu ver- wandeln. Diese Form des „Kannibalismus“ 3. Verkehrte Ordnungen. Hyperaffirmation wird durch den so genannten „Tropikalismus“ von Stereotypen ironisch und antiessentialistisch gewendet. Aufschlussreich war es, gerade dieses deonto- ‚Stereotypisierung‘ kann nach logisierende Stuart Hall als Repräsentati- Konzept in onspraxis, als signifizierende Verhältnis Praxis verstanden werden. Sie zur heutigen „schreibt symbolisch Grenzen kulturwis- fest, und schließt alles aus, was senschaft- nicht dazugehört“ (Das Spek- lichen und takel der Anderen). Um solche konstrukti- Festschreibungen zu unterlau- vistischen fen, operieren postkoloniale Künstlerinnen Parastou Forouhar, Swanri- T h e o r i e - und Künstler mit einer Übercodierung der der, Fotografie von Annet- bildung zu Zeichen, die eine ironische Brechung vor- te Hornischer, 2004 setzen. Aus- führen. Die Bilder zeigen so deutlich die Kli- gehend von schees, dass sie sie als Klischees vorführen, Hélio Oiti- wie es einer Beobachtung zweiter Ordnung cicas „Tro- im Sinne Niklas Luhmanns entspricht. Kli- picalismo“ der Dennis Feser, colonial/ schee ist hier auch im wörtlichen Sinne zu desire, 14-teilige Bild-/Textse- 1960er Jahre verstehen als identische Druckform, die sich rie, Pigmentprints, 2007 wurde der Blick beliebig oft wiederholen lässt. Mit ihren auf verschiedene zeitgenössische künstleri- Techniken reflektieren die künstlerischen Po- sche Positionen gerichtet: Arbeiten von Cildo sitionen die mediale Produktion von Fremd- 71 heitsstereotypen, wie etwa von Vorstellungen migrantischer oder religiöser Andersheit. Der Fokus der Untersuchung richtete sich insbe- sondere auf Computeranimationen und Ins- tallationen der Künstlerin Parastou Forouhar, auf Filme der Regisseurin Belmin Söylemez sowie der Künstler Marcel Odenbach und Shahram Entekhabi.

72 Karentzos, A.; Reuter J. (Hg.): Schlüsselwerke Karentzos, A.: Postcolonial Laughter. Humor ausgewählte der Postcolonial Studies, Wiesbaden: VS Ver- as the Strategy of the Arab Image Found- Veröffentlichungen lag für Sozialwissenschaften (im Erscheinen). ation, in: David Bindman, Angela Rosenthal, Adrian Randolph (Hg.): No Laughing Matter. Karentzos, A.: Postkoloniale Ironie. Positionen Visual Humor in Ideas of Race, Nationality, gegenwärtiger Kunst/Theorie. (Monographie and Ethnicity. London, New York: Routledge in Vorbereitung). 2011 (im Druck).

Küssen, Themenheft der Zeitschrift Querfor- Karentzos, A.: Artikel zum Lemma „Reisen“, mat. Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumlexikon. Heft 5/2012, hg. von Alexandra Karentzos, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell- Stefan Donecker, Sabine Kampmann, Birgit schaft (WBG) 2011 (im Druck). Käufer, Alma-Elisa Kittner, Thomas Küpper, Jörg Petri, Ulrike Stoltz. Karentzos, A.: Die Unmöglichkeit der Über- setzung. Lisl Pongers Filme Passagen und Karentzos, A.: Lisl Ponger’s ‚Passages‘ – In- Déjà vu im Spannungsfeld von Tourismus between Tourism and Migration, in: Sven und Migration, in: Bettina Dennerlein/Elke Kesselring, Gerlinde Vogl, Susanne Witzgall Frietsch (Hg.): Identitäten in Bewegung. Mi- (Hg.): Tracing the Mobilities Regimes. Farn- gration im Film. Bielefeld: transcript 2011, S. ham, UK: Asghate 2011 (im Druck). 95-121.

73 Dr. Gideon Reuveni

Alfried Krupp Junior Fellow November 2010 – September 2011

Kurzvita Gideon Reuveni studied history, philosophy modern Jewish identity in Europe. Since Sep- and political science at the Hebrew Univer- tember 2011 he is Reader in History and the Di- sity Jerusalem. He is the author of Reading rector of the Centre for German Jewish Studies Germany: Literature and Consumer Culture at the University of Sussex/England. in Germany before 1933 (2006) and co-edi- tor of several other books on different as- pects of Jewish history. His current area of research is the intersection of Jewish history and economics. Presently he is working on a book on consumer culture and the making of 74 Verbraucherkultur und die Entwicklung der halten jüdische Begriffe der Zugehörigkeit Kurzbericht modernen jüdischen Identität vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Be- ginn des 21. Jahrhunderts hervorgebracht Antisemitische Stereotype von Juden als Ka- und verstärkt hat. Indem ich die Geschich- pitalisten haben die Erforschung der ökono- te der Europäischen Juden vom Standpunkt mischen Dimension der jüdischen Vergan- des Konsums aus betrachte, hoffe ich, die genheit geradezu lahmgelegt. Figuren des Forschung über die üblichen zwei Ansätze jüdischen Händlers und Bankiers durchziehen hinauszutragen, gemäß denen entweder die das 19. und 20. Jahrhundert. Wirtschaftliche Integration oder der Ausschluss von Juden Zusammenhänge waren indes stets zentral hervorgehoben wird. für jüdisches Leben und das Bild vom Juden- tum in der Welt. Juden haben nicht nur Geld verdient, sondern es auch ausgegeben. Meine Untersuchung ist diesem wesentlichen und bislang vernachlässigten Koordinatensystem des Konsums, der Identitätsbildung und der Geschichte der Juden gewidmet. Es sollen der Platz und die Rolle des Konsums innerhalb der jüdischen Gesellschaft erforscht werden. Ferner wird untersucht, wie das Konsumver- 75 Projektbericht During my stay at the Krupp Kolleg I made ducts and services. I also show how the rise of significance progress with my book project now entitled “Consumer Culture and the Making of Modern Jewish Identity.” I fini- shed drafting large sections of the study and secured a book contract with the Cambridge University Press. In addition, I finally found the time to finalize the work on two separate edited volumes dealing with different aspects of the multifaceted interplay between Jews and the economy. I also finished writing two further essays, one on the concept of cultu- ral economy to be published in a Festschrift for Prof. Moshe Zimmermann and a short piece on Jewish Bankers that is scheduled to be published in a volume on Salomon Heine.

The major parts of my study that I realized in Greifswald are a chapter of Politics of Je- wish Consumption as well as the last chapter Anzeige Schokoladenfabrik Erich Hemann, 1930 of my study Picturing the Jewish Consumer. Focusing on the interwar period, the later antisemitism in pre-Holocaust Europe boosted sections of my study examine the role and the politicization process of consumption. In function of consumption in the framework this context I do not only deal with the calls to of new notions about Jewish politics. Here I boycotts Jewish owned businesses and the att- look at advertisements and marketing cam- empts exclude Jews as costumers by different paigns demonstrating how marketing practi- providers, but also call attention to how Jews ces utilize politics to promote different pro- as consumers reacted to antisemitsm forging 76 what we may now call Jewish buycotts. That embroidery, flags, postcards, and calendars. is, an active attempt to alert Jewish consu- Tourism to Palestine is a further example of mer against antisemitic tendencies of certain how the Zionist movement appropriated the companies, and to organize Jews as a discrete new consumer culture for its political pur- consumer group to buy only designated pro- poses. The Zionist newspaper Jüdische Rund- ducts or services of particular providers that schau proclaimed that every returning visitor explicitly express their interest in Jewish cli- from Palestine ents. This exploration demonstrates how poli- was to become tics informed consumer choices turning con- an apostle of sumption to a highly charged activity, and a the building of site for political action. This process by which Erez Israel and consumption became a new resource of poli- to help for- tical mobilization serves as the backdrop for ge a connec- scrutinizing how Jewish political parties— tion between particularly the Zionist movements—utilized the land and consumption in order to promote their poli- the Diaspora. tical agenda. The Zionist political campaigns During the in- were grounded in marketing principles such terwar period, as branding of political leaders and issues, we find sever- targeted advertising, and staged media events al examples of Briefmarkenwer- which were all part of the commercialization advertisements bung für die Tomor processes and the emergence of a new con- in the Jewish Margarine sumer culture at the beginning of the 20th press exclu- century. Thus for example the Zionist message sively addressing Zionist consumers, some underwent a visualization process that was of them even displaying consumption as a reflected in the image of Herzel and other Zi- performative act in which consuming is dis- onist leaders displayed on a variety of objects: played as an integral and active part of the cigarette packets, plates and cups, carpets, Zionist project. The Jewish National Fund 77 distributed children’s games and even got of goods, and give voice to their experiences involved in the insurance business in order as consumers. For this purpose I use a more to mobilize new supporters thus making con- qualitative body of source material, including sumption to an important political site. diaries and literary accounts. At the Jewish Museum in Berlin I locate the family diaries of The chapter ‘picturing the Jewish Consumer’ the perfume company owner Ludwig Scherk, is perhaps the most challenging, at least diaries that contain commentated lists of the in terms of locating sources, on the Jewish presents the family gave and received over a world of goods and spending habits. This sec- period of more than ten years, from the end tion of my study seeks to depict the Jewish of the First World War to the mid 1930s. The- consumer. Special research institutes like the se kinds of personal account provide a better Bureau für die Statistik der Juden and YIVO understanding of how Jewish middle class fa- (Yidisher Visnshaftlekher Institut, or the Je- milies conceived of themselves as consumers wish Scientific Institute) started collecting as well as of the meanings they ascribed to documentation on the social and economic their respective material world. position of the Jews at the beginning of the last century. This material focuses primarily on the question of income as well as on the occupational structure of Jewish society. The statistical data collected by these institutions does not divulge information on the spen- ding habits of Jews. Fortunately, other sour- ces such as household books, family pictures, and lists of personal belongings compiled by Nazi officials comprise further evidence on the spending behaviour of Jewish individuals and groups. In this section of my study I also explore how Jews made sense of their world 78 Reuveni, G.: Consumer Culture and the Ma- Reuveni, G.: Geldverleiher, Unternehmer und ausgewählte king of Modern Jewish Identity (under con- Angestellter Jüdische Bankiers — Ein Über- Veröffentlichungen tract with Cambridge University Press). blick, A conference on Salomon Heine will be published in 2012. Reuveni, G.: Dan Diner, and Yfaat Weis (eds.), The Historian as Translator: Festschrift for Reuveni, G.: Buy Jewish: Advertising, Jewish Prof. Moshe Zimmermann (Göttingen: Van- Ethnic Marketing, and Consumer Ambiva- denhoeck & Ruprecht, 2012). lance in Weimar Germany, Publications of the Center for German Jewish Studies, Uni- Reuveni, G.: The Bridge, the Door and the versity of Sussex. Cultural Economy Approach to History, in: Gideon Reuveni, Dan Diner, and Yfaat Weis (eds.), The Historian as Translator: Festschrift for Prof. Moshe Zimmermann (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012).

79 Professor Dr. Arndt Schmehl

Alfried Krupp Senior Fellow April 2011 – September 2011

Kurzvita Arndt Schmehl, geboren 1970 in Herborn, dort den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Fi- studierte Rechtswissenschaften in Gießen. nanz- und Steuerrecht inne. Seit 2010 ist er Nach Referendariat und Promotion habili- Prodekan für Studium und Lehre der Fakultät tierte er sich 2003 in Gießen für Öffentliches für Rechtswissenschaft. Schmehl lehrte auch Recht, Finanz- und Steuerrecht und Verwal- in Madison/Wisconsin, Valparaiso, St. Peters- tungswissenschaft. Dissertation, Habilitati- burg, Prag und Peking. Seine Arbeitsgebiete onsschrift und Lehrveranstaltungen wurden sind Steuer- und Abgabenrecht, Öffentliche mit Universitätspreisen ausgezeichnet. Nach Finanzen, Verwaltungsrecht und ausgewähl- Vertretungen in Augsburg und München kam te Gebiete des Umwelt- und Wirtschafts- er 2005 an die Universität Hamburg und hat rechts. 80 Steuerstaaten im Wettbewerb organisiert, in denen die Steuerordnung zen- Kurzbericht trale Funktionen für die öffentliche Aufga- „The power to tax is the power to govern.” benerfüllung unter Nutzung der volkswirt- Das entspricht nach wie vor der Vorstellung schaftlichen Leistungsstärke und als Mittel der Staaten – die Steuerhoheit und somit die der Verteilungsgerechtigkeit ausfüllen soll. Beherrschung sowohl einer starken eigenen Der Steuerwettbewerb wird in den Wirt- Finanzierungsquelle wie auch eines wirksa- schaftswissenschaften bereits perspektiven- men innerstaatlichen Lastenverteilungsmo- reich diskutiert, während eine übergreifende dus gelten ihnen als ureigenster Bereich ein- rechtswissenschaftliche Reflexion hierzu bis- zelstaatlicher Souveränität. her überwiegend ein Desiderat geblieben ist. Doch ist dies durch Globalisierung, Transna- In dem Vorhaben werden daher die rechts- tionalisierung und Europäisierung brüchig normativen Entwicklungen untersucht, die geworden: Denn als Akteure mit großem auf der zunehmend forcierten Eigenschaft Einfluss auf die einzelstaatlichen Steuer- der Steuerrechtsordnungen als Faktoren des rechtsordnungen treten nun auch interna- zwischenstaatlichen Wettbewerbs beruhen. tional agierende Steuerpflichtige durch ihre Verfügungsmacht über den Ort wirtschaftli- cher Aktivität, konkurrierende Staaten durch ihre auf deren Gewinnung, die Anziehung von Steuersubstrat und die Sicherung be- stehender Steueransprüche gerichteten Ziele und Staatenzusammenschlüsse insbesondere durch die Definition gemeinsamer Interessen auf. Der dabei entstehende internationale Steu- erwettbewerb ist folgenreich, sind doch die entwickelten Sozialstaaten sowohl tatsäch- lich als auch normativ als „Steuerstaaten“ 81 Projektbericht Steuerstaaten im Wettbewerb die Staatlichkeit selbst ruinöse Wettbewerb durch reine Niedrigsteuerstrategien, bleibt Die entwickelten Sozialstaaten sind zugleich am ehesten deshalb aus, weil die Aufrecht- weitgehend als Steuerstaaten organisiert. erhaltung sozialstaatlicher und anderer Leis- Durch Globalisierung, Transnationalisie- tungsniveaus dem eine Grenze setzt. Zwischen rung und Europäisierung übt der Faktor des Staaten mit hochentwickelter Sozial- und zwischenstaatlichen Wettbewerbs hierauf Rechtsstaatlichkeit und infrastruktureller erheblichen Einfluss aus, indem die Eigen- Standortqualität ist der Steuerwettbewerb schaften der Steuerrechtsordnungen als Fak- deshalb wesentlich weniger ein Steuersatz- toren des zwischenstaatlichen Wettbewerbs wettbewerb als vielmehr ein auch mit den forciert werden. Die Rechtswissenschaft Mitteln des Steuerrechts selbst ausgetra- steht also vor der Aufgabe, die Wettbewerbs- gener Wettbewerb um Steuersubstrat, also funktion der Besteuerung in das Rechtsden- um die Ansiedlung von Wirtschaftskraft und ken zu integrieren. Der sechsmonatige Auf- damit auch von Steuerfaktoren – beherrscht enthalt am Wissenschaftskolleg war daher von dem Gedanken, dass es dazu eines ge- dem Vorhaben gewidmet, sich der damit eigneten, im Vergleich zu anderen Staaten verbundenen rechtsnormativen Entwicklung aber wettbewerbsfähigen Kompromisses zwi- zuzuwenden. Dazu wurde eine Vorgehens- schen Steuerbelastung und Standortqualität weise gewählt, welche die Schauplätze des bedarf. Anhand einer Durchsicht des Steuer- Steuerwettbewerbs im Steuerrecht auf einer rechts auf die Frage, wie das Wettbewerbspa- mittleren Abstraktionsebene erkundet, um radigma durch diesen „Trade-Off“ die Steuer- sowohl rechtliche Greifbarkeit als auch zu- systematik beeinflusst, wurde deutlich, dass sammenfassenden Überblick zu ermöglichen. zwei Regelungstypen besonders wichtig sind: Mit dem ersten Typ versucht der Gesetzgeber Steuerwettbewerb und Gesetzessystematik Anreize zu schaffen, Steuersubstrat anzuzie- hen oder dessen Verlagerung zu vermeiden. Das vielfach als Folge des Steuerwettbe- Es entstehen dadurch Differenzierungen in werbs befürchtete „race to the bottom“, für der Steuerlast, deren Begründung weder in 82 der Annahme einer unterschiedlichen finan- verfolgt, wettbewerbsinduzierte Steuerarbi- ziellen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichti- trage zu verhindern. Auf eine Steuerwett- gen noch in einem rein außersteuerlich be- bewerbssituation im Verhältnis zum Ausland gründeten Verhaltenslenkungsziel liegt. Die wird dabei durch Regelungen reagiert, die genannten Differenzierungen stützen sich verhindern sollen, dass Gewinne in Niedrig- auf die tatsächliche oder angenommene un- steuerländer verlagert, Verluste aus derselben terschiedliche Mobilität der Steuerfaktoren steuerlich relevanten Tätigkeit aber im Hoch- sowie die unterschiedliche Einschätzung der steuerland belassen werden. Auf den ersten Notwendigkeit und den unterschiedlichen Blick gehören diese Regelungen nicht hier- politischen Willen dazu, ihnen steuerliche her, auf den zweiten hingegen schon, denn Anreize im Vergleich zum Ausland zu bieten, sie sind nur als Reaktionen auf das niedrigere um diese Faktoren einschließlich ihrer Bei- Steuerniveau in anderen Ländern zu erklä- träge zur volkswirtschaftlichen Leistung und ren. Auch diese Perspektive bewirkt – ähnlich zu den Steuergrundlagen im Inland zu hal- wie schon der zuvor genannte Regelungstyp ten. Fiskalzweck und Lenkungszweck fallen –, dass ein gewohntes Argument der steuer- in eins. Eine Folge ist, dass die herrschende rechtlichen Diskussion hier nicht weiterhilft: Unterscheidung zwischen Fiskalzweck- und Üblicherweise würde versucht, Vorschriften Lenkungszwecknormen nicht in der Lage ist, dieser und ähnlicher Art als Normen der diese Entwicklung hinreichend realitätsge- Missbrauchsvermeidung zu betrachten. Ihre recht zu beschreiben; sie trägt daher nichts Rechtfertigung würde demzufolge daran ge- Wesentliches zur Lösung bei. Es bedarf daher messen, ob sie geeignet, notwendig und er- eines alternativen Theorieangebots zur Erklä- forderlich sind, dem Missbrauch steuerlicher rung dieser Differenzierungen: Dies kann das Gestaltungsmöglichkeiten durch den Steuer- Abstellen auf Anreize und andere Steuerwir- pflichtigen zu begegnen. Dies greift hier je- kungen sein, also letztlich eine stärker fol- doch nicht: Die ins Auge gefassten Praktiken genorientierte Betrachtungsweise als bisher. bestehen keineswegs in nur vorgeschobenen, Mit dem zweiten Typ von steuerwettbe- sondern in echten, wirtschaftlich werthal- werblichen Regelungen wird das Anliegen tigen Transaktionen und nutzen zudem ein 83 Steuergefälle, das als Ausdruck unterschied- ten Schwäche auf die Verfassung richten, licher Besteuerungshoheiten als systemge- findet in einem auf die beschriebene Weise recht angesehen werden muss, so dass sie nicht nur, aber auch steuerwettbewerblich nicht mit dem Rechtsinstitut missbräuchli- geprägten Steuerrecht einen zusätzlichen chen Verhaltens zu fassen sind. Das deshalb Anlass. Daraufhin lässt sich eine Diskussion notwendige alternative Erklärungsangebot beobachten, in der die Relevanz des Steuer- läuft auch hier auf eine Argumentation mit wettbewerbs als Rechtfertigungsgrund für Anreizen und anderen Steuerwirkungen hi- steuerrechtliche Ungleichbehandlungen teils naus. grundsätzlich bestritten, von anderen Stim- Der Steuerwettbewerb in seiner realistischen men hingegen grundsätzlich bejaht wird. Fassung des Steuersubstratwettbewerbs ge- Die Positionierungen lassen sich auf die Ebene hört angesichts dieser Befunde auch zu den einer Allgemeinen Staatslehre zurückverfol- Hindernissen, die einer radikalen Vereinfa- gen: Ist es nicht bereits ein Widerspruch zum chung des Steuersystems in der politischen Staatsbegriff, den Staat eben nicht nur fak- Praxis entgegenstehen. tisch, sondern auch mit rechtlichen Folgen als „Anbieter“ einer Steuerordnung zu begreifen, Steuerwettbewerb und Verfassungsrecht und macht der Staat sich damit nicht zu sehr angreifbar? Es ist eine Fragestellung, deren Die ohnehin notorische Schwäche der Steu- Gewicht soeben aus einem anderen Zusam- ersystematik gegenüber dem politischen Pro- menhang heraus, der der Staatsschuldenkri- zess der Steuergesetzgebung, wird durch die se, ebenfalls deutlich geworden ist. Dabei ist demnach unumgängliche Öffnung für das die Zustimmung für Haltungen, nach denen Wettbewerbsparadigma nicht kleiner, aber der Staat letztlich versuchen sollte, „über den auch nicht, wie gelegentlich befürchtet wird, Märkten zu stehen“, sicherlich erheblich brei- größer. Das Verhältnis wird aber um eine Fra- ter geworden als zuvor. Indes führt dies im ge reicher, denn dass sich die Hoffnungen Ergebnis dennoch nicht dazu, steuerwettbe- auf ein auf Steuergerechtigkeit gerichtetes werbliche Argumente aus der verfassungs- rechtliches Regulativ wegen der genann- rechtlichen Beurteilung von Steuergesetzen 84 auszuschließen: Denn die wirtschaftspoliti- grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkei- sche Grundlegung der Steuern liegt, wenn ten und der Beihilfenkontrolle als Teil des man diese richtigerweise als der verfassungs- EU-Wettbewerbsrechts ein ausgesprochen rechtlichen Bindung weitgehend vorgelagert hohes Gewicht darauf, dass sie auf unein- betrachtet, in der Hand des Gesetzgebers. geschränkte Mobilität von Wirtschafts- und Wenn daraufhin auch steuerwettbewerblich damit Steuerfaktoren gerichtet sind und dass konzipierte Normen auftreten, so würde es auch das Steuerrecht dieser Mobilität nicht einen nicht gerechtfertigten Verlust an prak- im Wege zu stehen hat. Zu erwarten wäre tischer Durchsetzungskraft des allgemeinen angesichts dessen, dass die von den Verträ- Gleichheitssatzes bedeuten, diese nicht we- gen und Verfassungen grundsätzlich be- nigstens daraufhin zu prüfen, ob sie gemes- wahrte mitgliedstaatliche Steuersouveräni- sen am steuerwettbewerblich orientierten tät europarechtlich so weit wie möglich auf Regelungsziel immerhin folgerichtig sind. einen Steuersatzwettbewerb verwiesen wird, Der Umbau der Steuersysteme im Blick auf die inhaltlichen Unterschiede zwischen den die Standortkonkurrenz kann auf diese Wei- mitgliedstaatlichen Steuergesetzen hingegen se wenigstens verfassungsrechtlich begleitet zurückgedrängt werden. werden. Indes zeigte sich, wie sehr dies davon abhängt, ob eine positive Steuerharmonisierungskom- Steuerwettbewerb und Europarecht petenz zugunsten der EU besteht, was nur bei den indirekten Steuern der Fall ist. Wo Für das Europarecht sollte sich der Steuer- eine solche Entwicklung hingegen mangels wettbewerb als besonders wichtiger Topos Gesetzgebungskompetenz der EU nur auf das aufdrängen, aus zwei Gründen: Die Kom- materielle Primärrecht der EU-Verträge und mission bewertet den Steuerwettbewerb dessen Anwendungsvorrang gesetzt werden als Ausdruck von Standortwettbewerb ge- müsste, trifft sie auf das Hindernis, dass der nerell positiv, und sowohl die Kommission in der Kompetenzverteilung angelegten Me- als auch der Europäische Gerichtshof legen chanik eines Mehr-Ebenen-Systems auch bei der Auslegung der Grundfreiheiten für auf diesem Weg nicht zu entgehen ist. Denn 85 wenn die Frage der Abgrenzung der Besteue- Ergebnis internationaler Verhandlungen – für rungsbefugnisse Sache der Koordination der ihre Gebietsansässigen unabhängig davon Mitgliedstaaten bleibt, ist es unausweichlich, bejahen dürfen, ob der Gewinn im Ausland dies auch den europäischen Grundfreihei- erwirtschaftet wurde, und auch unabhän- ten entgegenhalten zu können. Die jüngere gig davon, ob ein solcher Gewinn auch dort Rechtsprechung des Europäischen Gerichts- bereits besteuert wurde. Das dies bisher völ- hofes hat dies daher im Ergebnis nach Jahren kerrechtlich akzeptiert wird, trägt wesentlich der Unsicherheit ausgesprochen treffend ge- zum Bestehen eines Interesses und Anreizes sehen, denn die Anerkennung der Wahrung bei, zugunsten der Attraktivität des Standor- einer ausgewogenen Aufteilung der Besteue- tes sowohl als Ansässigkeits- als auch als Tä- rungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten tigkeitsort in Verhandlungen einzutreten, um als Rechtfertigungsgrund für verhältnismä- eine zweifache Besteuerung zu verhindern. ßige Beschränkungen der Binnenmarktfrei- Das Netz der Doppelbesteuerungsabkommen heiten findet dadurch ihren Grund. ist deshalb ein maßgeblicher Faktor des Staa- tenwettbewerbs durch Steuerwettbewerb. Steuerwettbewerb und Völkerrecht Umso schwerer wird gemeinhin der Einwand gewichtet, dass die bisher wohl überwiegen- Das internationale Steuerrecht wird von zwi- de Auffassung einen unilateralen Verstoß schenstaatlichen Verträgen geprägt, die sich gegen diesen bilateralen Verträge („treaty bilateral an der wechselseitigen Abgrenzung overriding“) als zwar völkerrechtswidrig, aber der Besteuerungshoheiten versuchen. Das innerstaatlich dennoch wirksam behandelt: traditionell dominierende Ziel dieser Verträge Denn indem sich demach im Konfliktfall eine ist es, die Doppelbesteuerung zu vermeiden. einseitige Abweichung vom Vertragsinhalt Dies geschieht allerdings auf der Basis der je- durchsetzt, bleibt einem kooperativen zwi- weils unilateral geschaffenen Druckposition schenstaatlichen Verhalten die rechtliche für die Verhandlungen, wonach die Staaten Absicherung, die für einen funktionierenden ein eigenes Besteuerungsrecht grundsätzlich fairen Steuerwettbewerb förderlich wäre, – also vorbehaltlich einer Einschränkung als teilweise versagt. Die zunehmende Kritik an 86 der Annahme der innerstaatlichen Wirksam- dischen Vorfrage zusammenhängen dürfte: keit eines solchen einseitigen treaty overri- Die dominanten steuerrechtlichen Diskur- ding, die sich vor allem auf den Grundsatz se sind von Struktur vorgeprägt, dass ihnen der Völkerrechtsfreundlichkeit der einzel- die Reflexion der essentiellen wechselsei- staatlichen Rechtsordnung stützt, über- tigen Bezugnahmen von Recht und seinen zeugt dennoch nicht: Denn sie zieht nicht dynamischen Umwelten vielfach nicht in ausreichend in Betracht, dass die Annahme der notwendigen Rundumsicht gelingt. Den eines regelmäßigen allgemeinen Vorrangs Gründen und Lösungsmöglichkeiten für die- von Völkervertragsrecht gegenüber dem in- ses Phänomen wurde daher ebenfalls nach- nerstaatlichen Recht keineswegs das einzi- gegangen – so ist meine Greifswalder Fellow ge rechtliche Mittel zur Effektivierung der Lecture entstanden, und der Gedanke wur- völkerrechtlichen Vereinbarungen ist und de gefasst, hieran für ein kooperatives For- dass es bereits das schärfste denkbare die- schungsprojekt anzuknüpfen – dessen Ziel ser Mittel wäre, indem es die Basis der Bin- es wäre, Kontextualisierung als rechtswis- dung von der Willensübereinkunft auf eine senschaftliches Programm zu behaupten, am Souveränitätsübertragung umstellen würde, Beispiel des Steuerrechts zu konturieren und was jedenfalls bei Verträgen vom Typ der daraus entsprechende Impulse für den steu- Doppelbesteuerungsabkommen bisher nicht erwissenschaftlichen Diskurs zu erzeugen. angenommen werden kann. …und eine kleine persönliche Schlussbe- Schnittstellen zum Steuersystem: Zur Kon- merkung sei gestattet: textualisierung eines Rechtsgebiets Erst vor einem Monat endete meine allzu Bei der Bearbeitung des Projekts ist gleich kurze Zeit am Kolleg. Schon jetzt vermisse eingangs deutlich geworden, dass eine ich es! maßgebende Ursache für das beschriebe- ne rechtswissenschaftliche Desiderat mit einer wissenschaftspolitischen und metho- 87 ausgewählte Der Wettbewerb der Steuerstaaten und seine Basisstationen für Mobilfunknetze: Bau- und Veröffentlichungen rechtlichen Spuren. Manuskript noch nicht immissionsschutzrechtliche - Bedingungen abgeschlossen, Fertigstellung geplant für der Versorgung mit Telekommunikations- 2012. Infrastruktur. Unter Mitarbeit von Vincent Ludewig. In: Jura 2011, S. 669-678. Während des Aufenthalts wurden außerdem folgende Publikationen maßgeblich weiter- Das Umweltrecht und der Aufstieg der Aqua- bearbeitet: kultur. Regelungen für die Produktionsbedin- gungen der Intensivfischzucht: Schottland Kritische Bestandsaufnahme der Grund- und Chile im Vergleich. Hauptautoren: Hen- steuer. Vortrag bei der 36. Jahrestagung der rik Flatter und Sarah Maria Wack, Projektlei- Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft in tung und Co-Autorenschaft Arndt Schmehl. Speyer. In: Kommunalsteuern und -abgaben, In: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts DStJG 35, herausgegeben von Joachim Wie- 2012, herausgegeben von Bernd Hecker, land (erscheint 2012). Reinhard Hendler, Alexander Proelß und Peter Reiff (erscheint 2012). Die öffentliche Entsorgungswirtschaft zwi- schen Gewährleistungsauftrag und europä- „Mitsprache 21“ als Lehre aus „Stuttgart 21“? ischem Wettbewerb. In: 16. Symposion des Zu den rechtspolitischen Folgen veränderter Instituts für Umwelt- und Planungsrecht der Legitimitätsbedingungen. In: Staat, Verwal- Universität Leipzig und des Helmholtz-Zen- tung, Information, Festschrift für Hans Peter trums für Umweltforschung am 14. und 15. Bull zum 75. Geburtstag, herausgegeben von April 2011, herausgegeben von Kurt Faßben- Veith Mehde, Ulrich Ramsauer und Margrit der und Wolfgang Köck, Baden-Baden 2011, Seckelmann, 2011, S. 347-364. S. 93-115.

88 89 Privatdozent Dr. Martin Wrede

Alfried Krupp Junior Fellow April 2011 – September 2011

Kurzvita Martin Wrede, geboren 1969, studierte Ge- derstipendiat des Historischen Kollegs. 2009 schichte und Romanistik an den Universi- wurde er in Gießen habilitiert mit einer Ar- täten Paris, Marburg, Nantes und Münster. beit unter dem Titel „Ohne Furcht und Tadel Anschließend war er Wissenschaftlicher Mit- – für König und Vaterland. Frühneuzeitlicher arbeiter an der Universität Osnabrück und Hochadel zwischen Familienehre, Ritterideal wurde dort 2001 promoviert. 2001–2007 und Fürstendienst“ (erscheint 2012). 2010/11 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am war er Gastprofessor und Professurvertreter SFB Erinnerungskulturen der Universität an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gießen, seit 2007 lehrt er dort als Akade- mischer Rat (auf Zeit). 2007/08 war er För- 90 Ritter und Könige. Die Wege und das Ende und es wird insbesondere betrachtet, wie sich Kurzbericht der ritterlichen Selbststilisierung der euro- militärische Professionalisierung und ritter- päischen Monarchie in der Frühen Neuzeit. liches Ideal auf der monarchischen Ebene vertrugen bzw. wie sie sich nicht vertrugen. „Ritter“ hat die Geschichtswissenschaft seit Der Roi-Chevalier wurde seit dem 17. Jahr- jeher gerade unter Kaisern und Königen aus- hundert zum Roi-Connétable, der nicht nur gemacht, in der Frühen Neuzeit vorzugsweise „Haltung“ zeigte, sondern jederzeit opera- „letzte Ritter“. Dieses Projekt soll Formen und tive wie organisatorische Entscheidungen Wandlungen der ritterlich-heroischen Selbst- traf oder zu treffen vorgab. Denn die Con- stilisierung der europäischen Monarchie nétablerie war zumeist nur imaginiert, und zwischen Vergangenheitsorientierung und die Imagination ließ sich mit der zunehmend Anpassungsnotwendigkeit herausarbeiten. geforderten militärischen Expertise immer Seinen Ausgangspunkt findet es bei den „ewi- schwerer in Übereinstimmung bringen. Aus gen“ literarischen Vorbildern des Rittertums dieser Diskrepanz ergibt sich ein abschlie- – auch und gerade in seiner „königlichen“ Va- ßender Blick ins 19. Jahrhundert, in dem die riante. Ein erster Schwerpunkt liegt bei den Monarchen tendenziell zu Darstellern oder gekrönten Rittern der Renaissance, bei denen gar „Militärschauspielern“ wurden, deren jedoch nicht nur die bekannten westeuropä- Glaubwürdigkeit mal höher ausfallen konn- ischen Modelle zu bedenken sind, sondern te – etwa bei den Kaisern Franz Josef oder auch die Aufnahme des Ideals an der europä- Wilhelm I. – , mal geringer – etwa bei den ischen Peripherie, etwa in Nordosteuropa. Ge- Königen Ludwig III. von Bayern oder Eduard fragt wird aber ebenso nach Gegenmodellen VIII. von England – , und die in zumindest bzw. Alternativen und nach Krisenmomenten einem sehr bezeichnenden Fall mit ihren des heroischen Musters. Es wird nachgezeich- Darstellungen jenseits jeder Glaubwürdigkeit net, wie verschiedene europäische Dynastien zumindest in Deutschland zur finalen Diskre- mit dem ritterlichen Erbe der Monarchie um- ditierung der Monarchie nicht unwesentlich gingen – welche Erinnerungskultur sie aus- beitrugen – das ist der Fall Wilhelm II. bildeten – , was vom miles Christianus blieb, 91 Projektbericht Die gegenwärtige Frühneuzeitforschung ist ragt natürlich Franz I. Selbstverständlich gekennzeichnet von neuem Interesse am fügte sich prominent auch Heinrich VIII. von Adel, aber auch an der Monarchie. Das Pro- England in dieses Bild, deutlich weniger pro- jekt verbindet beide Themenkreise, indem es minent aber auch die skandinavischen oder die Frage nach der gemeinsamen ideellen polnischen Monarchen sowie die deutschen „ritterlich“-heroischen Grundlage von König und italienischen Territorialfürsten. All die- und Adel ins Auge fasst, ausgehend von den se Herrscher kultivierten dabei gezielt auch „letzten Rittern“ (Maximilian I.) bis hin zu den Aspekt der „Spätblüte“, d.h. der aus dem den „allerletzten“ (Gustav III. von Schweden). Adel auf die Ideale des Rittertums gerichte- ten Nostalgie. Distinktion erwuchs gerade aus Hierbei geht es um ein gesamteuropäisches der Vergangenheitsbindung bzw. aus der „Un- Phänomen. Für Kaiser Maximilian I. war die gleichzeitigkeit“. ritterliche Selbststilisierung in jeder Hinsicht axiomatisch, sie war ein tragendes Moment Nun war die Geschichte königlichen Ritter- seiner Herrschaft und begründete seinen tums bzw. der „ritterlichen Monarchie“ eben- Nachruhm; auch Karl V. entwarf sich gezielt sowenig mit der Abdankung Karls V. (1555) als „miles Christianus“ – nicht nur im be- oder dem Turniertod Heinrichs II. von Frank- rühmten Reiterporträt Tizians. Beide Habs- reich (1559) zu Ende wie die Geschichte der burger lernten und profitierten dabei vom ritterlich-heroischen Selbststilisierung der Glanz des „ritterlich“ akzentuierten bzw. sti- Monarchie. In England beginnt das eigentli- lisierten burgundischen Hofes; Karl V. moch- che, elisabethanische „revival of chivalry“ erst te in seinem Selbstverständnis sogar eher in diesen Jahren, auf dem Kontinent gerieren Burgunder gewesen sein als Habsburger. sich die Monarchen zwischen Stockholm und Madrid weiterhin chevaleresk. In Deutschland Für die politische Gegenseite, d.h. das Frank- sind dies vor 1618 besonders die Fürsten der reich der Valois-Könige, spricht man zwi- protestantischen Union; ohne ritterliche Ide- schen Karl VIII. und Heinrich II. von einer ale – wozu noch immer auch religiöser Impe- Abfolge von vier „rois-chevaliers“ – heraus tus gehört – ist das „böhmische Abenteuer“ 92 des Kurfürsten von der Pfalz nicht richtig zu fenbar ersetzt durch den Roi-Connétable, verstehen. Auch noch das spätere 17. Jahr- von dem „Entscheidung“ in Taktik, Strate- hundert ist in den frühen Jahren der Regie- gie und Organisation erwartet werden darf rungen Leopolds I. und Ludwigs XIV. gekenn- – und zwar tendenziell Allein-Entscheidung. zeichnet von einem öffentlichen Wettstreit Es wirkt nun eine mal reale (Wilhelm III. von beider Monarchen nicht nur um Rolle und England, Karl XII. von Schweden, Friedrich II. Titel des ranghöchsten Fürsten, sondern auch von Preußen), mal imaginierte (Ludwig XIV., um den des ersten Ritters der europäischen Kaiser Joseph II.) Roi-Connétablerie, die für Christenheit – ein Wettbewerb, in dem auch lange Zeit stilbildend wird. Karl XI. von Schweden mitzuspielen versucht. In den Jahrzehnten des späteren 18. Jahr- Nach etwa 1680 scheint dies freilich zu en- hunderts erscheint der Monarch zudem mehr den bzw. sich in entscheidender Weise zu und mehr als „Staatsdiener“, schließlich als wandeln: Die abstrakt-ritterliche, aus der „Landesvater“. In den Niederlanden hatte Vergangenheit schöpfende Selbststilisierung das schon die ältere Selbstinszenierung des wird konkret-militärisch, auf die Gegenwart Statthalterhauses Oranien vorweggenom- zielend und „Leistungen“ betonend: Der he- men, die militärisches „Verdienst“ an „Dienst“ roische Monarch tritt nun als siegreicher am Vaterland koppelte, und dort, wo die Mo- Feldherr auf, nicht mehr in allegorisierter narchie diese Entwicklung nicht oder zu spät Rüstung, sondern in profaner Uniform. Mo- mitvollzog, wie in Frankreich, gereichte es narchisches Charisma wird militärisch insze- ihr erkennbar zum Schaden. Die Nachfolger niert und an reale Erfolge gebunden, sei es die Ludwigs XIV. zeigten kein oder zu geringes „Überquerung des Rheins“ (Ludwig XIV. 1672), militärisches Engagement, besaßen wenig gefeiert im Gemälde Van der Meulens, sei es Expertise, suchten keine heroische Haltung. die Schlacht von Dettingen (Georg II. 1743), Ludwig XV. erschien selten in Uniform, Lud- monumentalisiert in Händels „Tedeum“. Der wig XVI. praktisch gar nicht. Beide identifi- Roi-Chevalier, der sich durch „Haltung“ und zierten sich selber nur unzureichend mit der Vorbild auszeichnete, wird in dieser Zeit of- Armee und die Armee identifizierte sich nur 93 noch eingeschränkt mit den Monarchen. In- Herrschaft. Herrscherinnen besaßen naturge- sofern die letzten Bourbonen auch nicht zu mäß eingeschränkte Möglichkeiten zur he- pflichtbewußten „Landesvätern“ wurden, roischen Selbstinszenierung. Elisabeth I. von verfehlten sie das monarchische Rollenmo- England und Kaiserin Maria Theresia etwa, die dell gleich doppelt und trugen so zur Desta- bekanntesten und bedeutendsten Beispiele, bilisierung der Monarchie erheblich bei. scheinen hier in unterschiedlichen Rahmen- bedingungen im allgemeinen auch unter- Daß der Monarch das heroische Rollenmo- schiedliche Wege gegangen zu sein. Erstere dell verfehlte, brachte ihm publizistische stiliserte sich einerseits zur unerreichbaren Mißbilligung, bedeutete aber vor allem eine „hohen Frau“, andererseits zur Glaubens- und Vertrauenskrise zwischen Krone und Adel. Seelenheldin ganz eigener Art. Letztere ent- Monarchisches „Rittertum“, königliches wickelte zwar den Typus der Landesmutter Feldherrntum waren gerade auch Momente weiter und zeigte sich gerade auch im Kreise des Einfügens der Monarchie in ein traditi- ihrer Familie, legte jedoch durchaus Wert auf onsbestimmtes gemeinadeliges Normensys- Nähe zur Armee. tem, sie zeigten im Übrigen den Monarchen ausdrücklich im Glanz der Vergangenheit. Ein Schwerpunkt des Projekts liegt jedoch Freilich ist nicht zu verkennen, daß es auch ausdrücklich auf dem Ende der Karriere des vor dem 18. Jahrhundert bewusst und aus- „Königs als Ritter“. Dies wird einerseits durch geprägt nichtheroische Monarchen gegeben einen Prozeß der „Absorption“ und Monopo- hatte, die sich und ihre Krone betont saka- lisierung des Rittertums durch den absoluten ral entwarfen, wie der letzte Valois, Heinrich Monarchen bewirkt, zumal in seiner französi- III. von Frankreich, oder betont „friedlich“, schen Ausprägung. „Ruhm“ erwirbt praktisch die Wahrung von Ordnung und Recht beto- allein der Monarch, Siege werden nur von ihm nend, wie die frühen Stuarts in England und selbst erfochten – jedenfalls in der Außen- Kaiser Leopolds I. in der ersten Hälfte seiner darstellung. Dieser Anspruch aber kollidierte Regierung. Zu denken ist auch an ein struk- – dies ist der andere Faktor, der das Karrie- turelles Gegenmodell, nämlich die weibliche reende des ritterlichen Königs nach sich zog 94 – mit dem bereits genannten Moment der InternatIonale Fachtagung 10. bIs 12. März 2011 Professionalisierung: Er erweist sich im 18. Jahrhundert – und dies nun weithin sichtbar – als faktisch nicht mehr einzulösen; Fried- rich II. von Preußen stellt eine Ausnahmeer- scheinung dar. Natürlich wurden am Ende der Frühen Neuzeit an den Monarchen nun auch andere Anforderungen gerichtet als ritterlich-heroische bzw. militärische. Sicht- Die heroische bares Arbeiten am „Glück“ der Untertanen war gefordert, Friedensliebe dafür durchaus Monarchie geschätzt. Das überkommene Ideal des rit- Königtum und ritterliches erbe terlichen, wehrhaften Königs allerdings mehr in der Frühen neuzeit Plakat zur internationalen oder weniger offen zu dementieren, führte in ronald g. asch (Freiburg im breisgau/Frankfurt am Main) susan doran (oxford) FrIedrIch edelMayer (Wien) MarIa golubeva (riga) chrIstoph KaMpMann (Marburg) Johannes Koll (Wien) JoachIM Krüger (greifswald) Fachtagung „Die heroische Jean-MarIe le gall (paris) nIcolas le roux (lyon) MathIs leIbetseder (berlin) olaF MörKe (Kiel) eine Sackgasse, es war eigentlich unmöglich. MathIas nIendorF (greifswald) Jens olesen (greifswald) MatthIas pFaFFenbIchler (Wien) lena rangströM (stockholm) glenn rIchardson (london) dIetMar rIeger (gießen) MatthIas schnettger (Mainz) Monarchie. Königtum und Karl-heInz spIess (greifswald) thoMas staMM-KuhlMann (greifswald) MartIn Wrede (gießen/berlin) ritterliches Erbe in der Frü- Wissenschaftliche leitung PD Dr. Martin Wrede (gießen/Berlin) tagungsort alfried Krupp Wissenschaftskolleg greifswald · Martin-luther-straße 14 · D-17489 greifswald inforMation unD anMelDung alfried Krupp Wissenschaftskolleg greifswald · D-17487 greifswald hen Neuzeit“, Alfried Krupp telefon +49 (0) 3834 / 86 -19001/ 19029 · telefax +49 (0) 3834 / 86 -19005 · [email protected] · www.wiko-greifswald.de eine internationale fachtagung des alfried Krupp Wissenschaftskollegs greifswald, gefördert von der alfried Krupp von Bohlen und halbach-stiftung, essen, Wissenschaftskolleg (10. bis Konferenz „Die heroische Monarchie“ der gerda-henkel-stiftung, Düsseldorf, sowie dem institut français d‘histoire en allemagne, frankfurt am Main. 12.03.2011) Angelehnt an das Forschungsprojekt fand magne. Ausgehend von der Gegenüberstellung vom 10. bis zum 12. März 2011 im Alfried- des heroischen Schlachtentodes des kreuzfah- Krupp-Kolleg eine internationale Fachtagung renden Königs Sebastian I. in Marokko, 1578, u.d.T. „Die heroische Monarchie. Königtum und der Planung eines solchen Todes für Wil- und ritterliches Erbe in der Frühen Neuzeit“ helm II. im deutschen Generalstab 1918, umriss statt. Sie wurde in großzügiger Weise geför- das Programm sowohl den Gestaltwandel des dert von der Stiftung Alfried-Krupp-Kolleg Heroischen wie auch des auf den Monarchen sowie von der der Gerda-Henkel-Stiftung bezogenen Heroenkultes. Vorgeschlagen wur- und dem Institut français d’histoire en Alle- de der Terminus der „heroischen Monarchie“, 95 um ritterliches Renaissancekönigtum und Ruhm. Denn für dieses „neue“ Heldentum Roi-Connétablerien des 17. und 18. Jahrhun- qualifizierte in besonderer Weise der Solda- derts zu verklammern. Es war vergleichend tentod, verstanden und glorifiziert als Opfer zu fragen, wie viel Heroismus ein Monarch für das Gemeinwesen. Dies aber kam – bis benötigte und welchen er benötigte - ob 1918 – für den Monarchen schlechterdings monarchischer Heroismus unbedingt mili- nicht in Frage. An dieser Inkompatibilität tärisch zu sein hatte. Dennoch erschien es werde erkennbar, dass das Konzept der he- besonders interessant, gerade den ritterlich- roischen Monarchie hinter dem der martiali- kriegerischen Habitus eines Herrschers zu schen Nation verblasste. untersuchen, zu fragen, inwieweit dieser durch militärische Expertise gedeckt oder be- Die Tagung formulierte keine Erfolgsge- glaubigt sein musste, letztlich auch wie viel schichte, sondern eine Problemgeschichte militärischen „Unruhm“, wie viel Niederlage der heroischen Monarchie der Frühen Neu- ein Herrscher und eine Herrscherinszenie- zeit bzw. die Geschichte der heroischen Mon- rung vertragen konnten. Hingewiesen wurde archie als Herausforderung des frühneuzeit- auf das Verhältnis von Heroismus und Virili- lichen Königtums. Die Herausforderung lag tät sowie auf die hierauf gerichteten Erwar- zunächst im 16. Jahrhundert, in der bewußt- tungshaltungen der Untertanen, besonders seinsprägenden Allgegenwart des ritterli- der adeligen Eliten. Zwar etablierte dann die chen Ideals, das in irgendeiner Weise einge- Aufklärung das Konzept des „großen Man- löst werden wollte. Sie lag aber gerade auch nes“ mit einer gewissen Distanz nicht nur zur in den Entwicklungen, die die Monarchie wie (hohen) Geburt, sondern auch zur überkom- auch das Militärwesen in der Frühen Neuzeit menen, spezifisch militärisch-kriegerischen nahmen, etwa im Hinblick auf Zentralisie- Definitionvon Ruhm und Größe, doch das rung und Bürokratisierung von Herrschaft gelebte militärische Heldentum selber wur- – damit also Ent-Personalisierung – aber de opferreicher: Seit dem 18. Jahrhundert auch in den dynastischen Unwägbarkeiten: konnten auch gemeine Soldaten zu Heroen Weibliche Herrscher, Kinderlosigkeit von aufsteigen, doch war dies i.d.R. posthumer Monarchen. Als besondere Herausforderung 96 an das „Ritterliche“ in der heroischen Monar- zeigte etwa die Flucht Friedrichs V. von der chie wurde aber – natürlich – gerade auch die Pfalz oder auch noch die Wilhelms II. Das Konfessionsspaltung, die die gemeinchristli- heroische Moment hielt die Fürstengesell- che Grundlage des chevaleresken Ideals zu- schaft aber auch zusammen, es integrierte mindest infrage stellte. Die Reaktion des Kö- sie in Konkurrenz – etwa zwischen Franz nigtums auf die Herausforderungen lässt sich I., Heinrich VIII. und auch Karl V. –, d.h. es dahingehend systematisieren, dass in einer machte die Konkurrenz erlebbar und (auch heroisch auftretenden Herrschaft nicht das jenseits von Schlachtfeldern) austragbar, Idealbild des Rittertums fortgeschrieben, son- oder es integrierte sie auch in überkonfes- dern das Heroische transformiert wurde: Die sioneller Gemeinschaftsstiftung. Das hero- heroische Monarchie ließ sich durchaus nicht ische Grundmuster galt – in seiner ganzen auf die Darstellung von Rittertum reduzieren; Vielfältigkeit – für alle Herrscher gleicher- Könige mussten nicht unbedingt in eigener maßen. Person in vorderster Front kämpfen, sie konn- ten auch in anderer Hinsicht Einsatz, Tatkraft und Entschlossenheit demonstrieren. Oder sie konnten heroisch auftreten, indem sie Mär- tyrertum darstellten, in Anspielung auf den leidenden Christus (etwa bei Christian IV. von Dänemark, bei Heinrich III. von Frankreich wie auch bei Karl I. von England). Die frühneuzeit- liche Monarchie nahm also die heroische He- rausforderung an und konnte auch gar nicht anders, denn das heroische Moment war und blieb eine zentrale Grundlage des Königtums. Es besaß eine gewisse Variationsbreite, aber das antiheroisches Handeln wirkte eindeutig, direkt und unmittelbar delegitimierend: Dies 97 ausgewählte Herausgeber: Die heroische Monarchie. Rit- Ohne Furcht und Tadel – Für König und Va- Veröffentlichungen terliches Erbe, religiöse Grundlage, militäri- terland. Frühneuzeitlicher Hochadel zwi- sche Herausforderung, 15.-19. Jh. (= Beihef- schen Familienehre, Ritterideal und Fürsten- te der Historischen Zeitschrift, 61) (erscheint dienst (= Beihefte der Francia, 75) Ostfildern 2012). 2012 (im Druck).

Einleitung: Ritter, Feldherrn, Schauspieler. Adel und Krone, Hof und Staat. Neue fran- Die mehr oder weniger heroische Monarchie zösische Forschungen zur französischen der Frühen Neuzeit. In: Ders. (Hg.): Die heroi- Frühneuzeit. In: Zeitschrift für historische sche Monarchie (erscheint 2012). Forschung 37 (2010), S. 441–462.

Der Rock des Königs und des Königs Rock. Monarch, Hof und Militär in Frankreich nach Ludwig XIV. In: Ders. (Hg.): Die heroische Mo- narchie (erscheint 2012).

98 99 Professor Dr. Reinhard Zimmermann

Alfried Krupp Senior Fellow Oktober 2010 – September 2011

Kurzvita Geboren 1952 in Kamenz (Sachsen). Studi- se Gast- und Vertretungsprofessuren, seit um der Kunstgeschichte, Philosophie und 2002 apl. Professor an der Universität Trier. Vorgeschichte in Marburg und Heidelberg, Arbeitsschwerpunkte: Kunst der Goethezeit, Promotion 1985 in Marburg mit einer Arbeit insbesondere Romantik, Kunst der Klas- über das Thema Künstliche Ruinen. Studien sischen Moderne und der Nachkriegszeit, zu ihrer Bedeutung und Form. Habilitation Kunsttheorie, Gartenkunst, Burgenbau. 1996 in Tübingen mit einer Arbeit über das Thema Die Kunsttheorie von Wassily Kan- dinsky. Wissenschaftlicher Angestellter in Tübingen, Hochschuldozent in Trier, diver- 100 Caspar David Friedrich: Zeit ist, diese mittlerweile angesammelten, Kurzbericht Werkverzeichnis der Gemälde aber sehr verstreuten Funde und Ergebnis- se für das grundlegende Auskunftswerk zu Das Arbeitsvorhaben besteht in einer Neu- Caspar David Friedrich auszuwerten und ihre bearbeitung des Oeuvrekatalogs der Gemäl- wesentlichen Ergebnisse darin einzuarbeiten. de, der Druckgraphik und der bildmäßigen Nur ein verlässliches, auf den neuesten Zeichnungen von Caspar David Friedrich, das, Stand gebrachtes und ausführlich kommen- von Helmut Börsch-Supan bearbeitet, 1973 tiertes Werkverzeichnis kann der Friedrich- erschienen ist und seither die maßgebliche Forschung das Material an die Hand geben, Basis aller seriösen Caspar-David-Friedrich- das sie benötigt, um zu tragfähigen weiteren Forschung darstellt: Ergebnissen zu kommen. Dabei ist es selbst- Börsch-Supan, Helmut/ Jähnig, Karl Wilhelm: redend nicht das Ziel eines solchen Buches, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgra- einen bestimmten Forschungsstand oder eine phik und bildmäßige Zeichnungen. München bestimmte Sicht auf Friedrich festzuschrei- 1973. ben, sondern alles Wesentliche festzuhalten, 37 Jahre nach der Publikation dieses Stan- Forschungswege durchsichtig zu machen dardwerks, das eine der großen Leistungen und auch auf kontroverse Interpretationen der deutschen Nachkriegskunstgeschichte nach Gebühr hinzuweisen. darstellt, ist eine Neuherausgabe aus mehre- Im aktuellen Projekt geht es zunächst nur um ren Gründen dringend geboten. Abgesehen den eigentlichen Katalogteil des Buches (S. davon, dass das Buch schon seit langem ver- 224-498), während der biographische und griffen ist, hat sich die Friedrich-Forschung, dokumentarische Teil (S. 11-223) einer an- auch angeregt durch das Jubiläumsjahr 1974, schließenden Neubearbeitung bedürften. das 200. Geburtsjahr des Künstlers, seither stark entwickelt, war äußerst lebendig und ertragreich, hat Neufunde, neue Datierungen, Analysen und Interpretationen wie auch Kon- troversen hervorgebracht, so dass es an der 101 Projektbericht 1. Vorbereitende Arbeiten versehen und listenartige Einträge, die bei Börsch-Supan kompakt in einem Textblock Vor Beginn des Stipendienjahrs habe ich untergebracht waren, der besseren Bearbeit- mittels eines OCR-Programms (ABBYY Fine- barkeit wegen zeilenweise angeordnet. Dies Reader) den zu überarbeitenden Text in eine sei im Folgenden anhand eines Einblicks in WORD-Datei umgewandelt; dabei wurden den konkreten Überarbeitungsvorgang bei- aus 255 großformatigen Buchseiten ca. 700 spielhaft dargestellt. Durchstreichungen ge- DIN A4-Manuskriptseiten mit insgesamt 563 ben meine Kürzungen und Unterstreichungen von Börsch-Supan registrierten Nummern. meine Hinzufügungen, Änderungen oder auch Trotz der hohen Leistungsfähigkeit des OCR- temporäre Anmerkungen an; der nicht ausge- Programms war eine langwierige Nachbear- zeichnete Text ist Börsch-Supans Originaltext. beitung nötig, zum einen wegen des kom- plizierten Layouts der Vorlage, zum anderen a) Kopfeinträge in 3 Zeilen (fett gedruckt): wegen zahlreicher Einlesefehler. Außerdem Werkkatalog-Nummer; Bildtitel; Datierung habe ich angelegt: ein Verzeichnis der Lite- (diese fehlte bei Börsch-Supan an dieser Stel- ratur ab 1973 mit den Nachträgen bis 1973 le). Im Beispiel ist der Bildtitel neu formuliert: (zur Zeit ca. 800 Einträge), eine detaillierte BS 304 tabellarische Biographie Friedrichs, das Ver- Böhmische Berglandschaft mit Kleis Riesenge- zeichnis der Bildgegenstände, eine Datei zur birgslandschaft (Harzlandschaft, Gebirgsland- Aufnahme neu aufgefundener Quellentexte schaft) sowie eine Übersichtstabelle der Werke. um 1823

2. Anlage des Katalogteils b) Grunddaten: Technik, Format, Aufbewah- rungsort. Im Beispiel ist eine Differenz bei der Zunächst habe ich die Werkeinträge nach Inventarnummer notiert: einheitlichen Prinzipien neu gestaltet – die Öl auf Leinwand. einzelnen Abschnitte deutlicher vonein- 35 x 48,8 cm. ander getrennt sowie mit Überschriften Hamburg, Kunsthalle, Nr. Hamburger Kunst- 102 halle, Inv. Nr. 1053 [Grohn, Leppien, Hoch: den, H 498, Sumowski 1970: Abb. 211. [Nicht 1052] die gleiche Ansicht! Nach Richter 2009 b Aussicht von der Bastei] c) Provenienz: 1895 Greifswald, bei Heinrich Friedrich, ei- Verschollene Zeichnung: nem Neffen des Malers (Aubert 1895/96); – Gipfel links im Mittelgrund möglicherweise 1904 von Anna Siemssen, geb. Friedrich, = Kat. 105, 122, 124 und 166. Greifswald, erworben. e) Es folgt der Kommentar (hier wieder BS d) Soweit vorhanden, folgen die Aufzählun- 304): gen der überlieferten oder zu erschließenden Kommentar: Vorzeichnungen. Da es bei BS 304 hierzu kei- Nach Aubert stammt nen Eintrag gibt, stammt das folgende Bei- das Motiv „ohne Zwei- spiel von dem Bild Wanderer über dem Ne- fel aus Böhmen“, nach belmeer (BS 250). Niemeyer (Brief vom 17. 12. 1930 an die Zeichnungen: Kunsthalle, siehe Kat. – Felsen im Vordergrund = 3. 6. 1813 (Fels- 1969) und Hermann block vom Fuß der Kaiserkrone in der Säch- Stehr (Ausstellungskat. sischen Schweiz), Dresden, H 607, Sumowski 1934) ist wahrschein- 1970: Abb. 195 (Mitteilung Jähnig); lich der Blick von Warmbrunn auf die – Felsen links dahinter mit Abänderungen = Vorhöhen des Riesen- Riesengebirgslandschaft, 13. 5. 1808 (Gamrigfelsen bei Rathen), Dres- gebirges und die Schneekoppe dargestellt, Caspar David Friedrich den, ehem. Sammlung Friedrich August II., H was durch ein Gutachten von Dr. Sender 499, Bernhard 859; vom Geographischen Institut der Universität Hamburg bestätigt wurde (Kat. 1969). – Berge im Hintergrund = 12. 8. 1808, Dres- Nach der ersten Bestimmung durch Andreas 103 Aubert 1895 als Sommerlandschaft aus Böh- Demnach dürfte dem Bild eine verscholle- men und darauf folgenden wechselnden Zu- ne Zeichnung vom 13. 7. 1810, dem Tag, an ordnungen zum Harz oder zum Riesengebir- dem sich Friedrich in Warmbrunn aufhielt, ge (Blick von Warmbrunn auf die Vorhöhen zugrunde liegen. Die Verwandtschaft in Mal- des Riesengebirges und die Schneekoppe, in weise und Kolorit mit BS 298 und 302/303 1973 übernommen) ist mit dem Hinweis auf legt eine Entstehung um 1823 nahe. Die ver- die Ansicht des Kleis in Nordböhmen bei Hoch schollene Naturzeichnung könnte während 1987 die topographische Grundlage geklärt. der vermutlichen Wanderung Friedrichs in Dargestellt ist der nordböhmische Basaltberg den böhmischen Teil des Lausitzer Gebirges Kleis bei Haida aus südöstlicher Richtung; 1803 entstanden sein (Hoch 1987). rechts im Hintergrund der Hamrichberg bei Svor. Die flache Ebene des Vordergrundes ist f) Den Schluss bildet das Literaturverzeichnis so in der Wirklichkeit nicht vorhanden und (hier gekürzt; Börsch-Supan führt weitere 12 dürfte ähnlich wie auf BS 189 eine Zutat Titel an). Zu den (im Katalog durchweg vorge- Friedrichs sein, um die Wirkung des Berg- nommenen) Änderungen gehören: die Weg- hintergrunds zu steigern (Hoch 1987). Durch lassung des Kürzels „S.“ vor den Seitenanga- den unvermittelten Kontrast des ebenen ben, die Ausschreibung und Kursivsetzung des Vordergrundes, der rechts mit einem inten- Zeitschriftentitels („Zeitschrift für Bildende siv gelben Kornfeld abschließt, wird trotz Kunst“ statt „Zeitschrift f. Bild. Kunst“) und suggestiver Naturnähe in der farbigen und die Ausschreibung der Präposition „bei“ (statt atmosphärischen Gestaltung eine transzen- „b.“). dente Bedeutung des Gebirges, besonders der Schneekoppe des Kleis als Gottessymbol, Literatur: veranschaulicht. Dem blauen Gebirge ist die – Aubert 1895/96: Sp. 292 (Sommerland- intensiv grüne Ebene als irdischer Bereich schaft aus Böhmen, zwanziger Jahre, hohe gegenübergestellt. Das gelbe Kornfeld be- Bewertung der Qualität) deutet das Lebensstadium der Reife, das dem Tod nahe ist (vgl. BS 302). – Zeitschrift für Bildende Kunst (1896): bei S. 104 240 (farbige Heliogravüre) – Grohn/ Reichert/ Schaar 1974 (Grohn): Nr. 203: lehnt die Datierung von Börsch-Supan – Sauerlandt 1908: Taf. 30 (1820) als nicht überzeugend ab und hält an der- jenigen von Sumowski 1970: 80 fest (siehe – Hamann 1914: 26 f. (Harzlandschaft, 1811) dort).

– Aubert 1915: Abb. 19 (Riesengebirge) – Grundmann 1974: 95 f., 103: vermutet Um- setzung des Blicks von Warmbrunn auf die – Wolfradt 1924: 164 (Analyse der Kompo- Schneekoppe; ein möglicher Bezugspunkt sei sition) BS 504, von dem das Bild eine sehr freie Va- riante darstellen würde; die Verbindung zur – Denecke 1928: 13 (Harzlandschaft mit Bro- Realität des Riesengebirges liege nur noch cken) in der Dominanz der Schneekoppe und der Sargdeckelform des Reifträgers. – Grundmann 1931: 81 (denkt an Blick von Warmbrunn zum Riesengebirge, vermisst je- – Neidhardt 1974 b: Nr. 42. doch im Bergkontur die Ähnlichkeit mit dem Riesengebirge und vermutet eher eine An- – Hoch 1987: 136-138: aufgrund eines Ver- sicht aus dem Harz) gleichsfotos überzeugende Identifikation als [...] nordböhmische Landschaft mit Blick zum Kleis; der Berg stehe im Goldenen Schnitt. g) Daran schließt sich jetzt die Ergänzung als Ergebnis der aktuellen Recherchen an, in der – Leppien 1993: 38-41: um 1830, an zwei Regel die Anführung der neuen Literatur mit Stellen Blumen mit roten Blüten; Nebel- kurzer Benennung des jeweiligen Forschungs- schwaden vor der Bergzone; einzelne Bergrü- beitrags, sofern ein solcher vorhanden ist cken scharf voneinander getrennt; auf einem (ansonsten wird nur der Titel genannt): Bergrücken eine Hütte mit hellem Schorn- stein; sichere Lokalisierung nicht möglich. 105 Gegen Interpretation der hinteren Bergkup- Erkenntnisse wie im Beispiel die Lokalisie- pe als Gottessymbol; Gebirge eher als noch rung des Landschaftsmotivs zu verarbeiten. betretbare Zone zwischen dem Irdischen und Schwieriger wird es bei abweichenden Inter- dem Himmlischen zu verstehen. pretationen, da hier jeder Einzelfall individuell beurteilt werden muss. Im Beispiel ist Leppi- 3. Zur Forschung seit 1973 ens Widerspruch zur Interpretation des Ber- ges als Gottessymbol zu bewerten. Da diese Aus den in der Ergänzung dokumentierten Interpretation aber nicht nur durch zahlreiche Beiträgen der Zeit nach 1973 ergeben sich Vergleichsbeispiele im Oeuvre Friedrichs sowie die wesentlichen Überarbeitungspostulate, durch die ikonographische Tradition abgesi- hier die erneute Überprüfung der Datierung chert, sondern auch von Karl-Ludwig Hoch in aufgrund des Widerspruchs von Hans-Wer- seinem Buch von 1987 ausdrücklich bestätigt ner Grohn, die Identifikation der zugrunde- worden ist, erscheint hier keine Änderung an- liegenden Ansicht durch Karl-Ludwig Hoch gezeigt. Trotzdem wird der Einwand Leppiens sowie die Ablehnung der Interpretation des im Blick auf die Zielsetzung der Arbeit, ab- Berges als Gottessymbol samt einigen De- weichende Auffassungen zu dokumentieren, tailbeobachtungen durch Helmut R. Leppi- notiert. en. Damit soll das mögliche Missverständnis Noch schwieriger wird es bei mit großem An- vermieden werden, als würde im Beispiel eine spruch auftretenden Deutungen, die aus der komplett abgeschlossene Überarbeitung de- in der Regel die Motivik gar nicht oder nur monstriert werden und nicht ein „Werkstatt- selektiv berücksichtigenden Betrachtung einblick“. weniger Werke weitgreifende und scheinbar Dies ist freilich nur ein kleiner Ausschnitt tiefgründige Thesen über das Wesen der Fried- aus dem großen Spektrum der innerhalb der richschen Kunst ableiten. Gerade Caspar Da- Friedrich-Forschung seit 1973 vorgetrage- vid Friedrich ist in den letzten Jahren vielfach nen neuen Erkenntnisse und Auffassungen, Objekt solcher Spekulationen geworden, de- auf die jeweils unterschiedlich zu reagieren ren Losungen wie „Selbstreflexion des Bildes“ ist. Am leichtesten sind natürlich empirische oder „Medialität“ als gängige Topoi der aktu- 106 ellen literatur- und kunstwissenschaftlichen deren Forschungsrichtung der 1970er Jahre Diskussion erkennbar sind, aber keine Rück- mit einer politischen beantwortet. bindung in der Gedankenwelt des Künstlers Es sei mir erlaubt, abschließend meine Posi- haben. Es wäre ein wesentliches Verdienst der tion bezüglich dieser Kontroverse zu umrei- Neuausgabe des Werkverzeichnisses, die In- ßen. Die politische Interpretation – Friedrich terpreten auf den Boden der Friedrichschen war Demokrat und Patriot – muss bei jedem Bildwelt mit ihrer typischen Thematik und Einzelbild abgewogen werden, doch scheint Motivik und seiner – nachweisbaren! – Ge- auch mir im ganzen eine stärkere Berück- dankenwelt zu verweisen. sichtigung der poli- tischen Dimension, 4. Kontroverse als sie Börsch-Supan zugestanden hat, ge- In diesen Zusammenhang gehört auch die boten. Bei der Frage sofort mit Erscheinen des Buches 1973 auf- der Bedeutungs- gebrochene Kontroverse um die Deutung der offenheit dagegen Kunst Friedrichs, die bis heute die Forschung ist ihm im Grund- belastet. Börsch-Supan hatte durch eine kon- sätzlichen m. E. nur sequente ikonographische Analyse der Bilder beizustimmen. Ich deren eindeutige Lesbarkeit behauptet, wo- habe 2002 in einem bei er eine fast durchweg christliche, um das Aufsatz (siehe Li- Thema von Tod und Auferstehung kreisende teraturverzeichnis) Gedankenwelt herausarbeitete. Dieser Auf- alle diesbezüglichen authentischen Äuße- Frau vor untergehender fassung, die der gängigen Romantik- und rungen Friedrichs ausgewertet und gezeigt, Sonne, Caspar David Friedrich, um 1818 Friedrichvorstellung widersprach, wurde dass er seine Bilder nicht bedeutungsoffen, die These von der Bedeutungsoffenheit der sondern als Mitteilungen einer bestimm- Kunst Friedrichs, die keine eindeutigen In- ten Botschaft konzipiert hat – unbeschadet terpretationen zulasse, entgegengestellt; die der von ihm selbst in Betracht gezogenen christliche Ausdeutung wurde von einer an- Möglichkeit, dass der Betrachter eigene, von 107 denjenigen des Künstlers abweichende Ge- 5. Fazit danken mit dem Bild in Verbindung bringt. In einem am 7. Februar 2011 am Wissen- Am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in schaftskolleg gehaltenen Vortrag habe ich Greifswald konnte ich ein Jahr lang in ge- diese Problematik an einem Einzelbeispiel schützter Atmosphäre und unter bestmög- (Frau vor der untergehenden Sonne im Es- lichen Arbeitsbedingungen die Überarbei- sener Folkwang-Museum) ausführlich disku- tung des Werkkatalogs vorantreiben, immer tiert und die fundamentale Bedeutung der unterstützt von den Mitarbeitern und vom ikonographischen Analyse für das Verständ- Autor des Werkes, Helmut Börsch-Supan, nis der Kunst Friedrichs aufgezeigt: Während der mir seine Materialien zur Verfügung eine am ersten Eindruck orientierte „globa- stellte und mir jederzeit mit seinem uner- le“ Sicht des Bildes verständlicherweise eher reichten Expertenwissen weiterhalf. Trotz eine aufgehende Sonne assoziiert, führt die des gut vorbereiteten, im Verlauf effektiven genaue motivische Analyse – vor allem auf- Vorgehens bei der Überarbeitung konnte grund des Vorhandenseins von nicht weniger diese jedoch wegen der Masse des zu verar- als sieben Todessymbolen – zu einer Deutung beitenden Materials sowie der Kompliziert- als untergehende Sonne und damit zum Ver- heit einiger Detailfragen nicht im vorge- ständnis des Bildes als Aussage über den Tod sehenen Umfang fertiggestellt werden, so im Kontext des christlichen Glaubens. Nur dass weitere Arbeitsphasen zur Neubearbei- nebenbei sei bemerkt, dass die Auffassung tung des Buches von 1973 erforderlich sind. Börsch-Supans mittlerweile von jüngeren Wissenschaftlern (Lambert Büsing, Thomas Noll, Christian Scholl) ausdrücklich bestätigt und weiter untermauert wird. Es ist zu hof- fen, dass die Überarbeitung des Werkkata- logs das Ihre zur Befriedung der Kontroverse beitragen wird.

108 Das Geheimnis des Grabes und der Zukunft. Carl Blechen und Caspar David Friedrich. ausgewählte Caspar David Friedrichs „Gedanken“ in den Religiöse Aspekte im Werk Blechens. In: Veröffentlichungen Bilderpaaren. In: Jahrbuch der Berliner Muse- Schneider, Beate/ Wegner, Reinhard (Ed.): Die en 42 (2000): 183-253. neue Wirklichkeit der Bilder. Carl Blechen im Spannungsfeld der Forschung. Berlin 2009: „Kommet und sehet“. Caspar David Friedrichs 152-170. Bildverständnis und die Frage des „offenen Kunstwerks“. In: Aurora 62 (2002): 65-93. Probleme der Romantik-Definition in der bil- denden Kunst. In: Scholl, Christian (Ed.): Was Von der Romantik zur Abstraktion? Die Eso- ist romantisch an der romantischen Kunst? terik und die historischen Grundlagen der Im Druck (erscheint voraussichtlich Winter abstrakten Kunst. In: Wagner, Christoph (Ed.): 2011/12). Esoterik am Bauhaus. Eine Revision der Mo- derne? [Regensburger Studien zur Kunstge- schichte, 1]. Regensburg 2009: 55-72.

109 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Montag Eintritt15. frei November 2010 Eintritt22. frei November 2010 19:30 Uhr 19:30 Uhr Dr. Stefan Donecker Professor Dr. Ulrich Falk „Fluch des Kain“. Wahrnehmungsverzerrungen: Migration als Motiv frühneuzeitlicher Ein blinder Fleck (nicht allein) der Gelehrsamkeit in Nordosteuropa rechtshistorischen Forschung Kaum ein Thema vermag in der aktuellen politischen De- Der Vortrag unternimmt einen interdisziplinären Rundgang. batte dermaßen intensive Emotionen hervorzurufen wie die Das Ausgangsgebiet ist die wahrnehmungs- und gedächt- Frage der Migration. Doch die irrationalen Ängste, Stereo- nispsychologische Forschung. Sie hat in zahllosen Studien typen und Pauschalurteile, die Migrantinnen und Migranten nachgewiesen, dass menschliches Denken, Entscheiden und entgegengebracht werden, haben eine lange Vorgeschichte. Erinnern systematischen Verzerrungen unterliegt, die läs- Der Vortrag geht der Frage nach, wie Gelehrte während der tige Gemeinsamkeiten aufweisen: Diese Verzerrungen sind Frühen Neuzeit, zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, das schwer zu vermeiden, wirken in bestimmte Richtungen und Phänomen der Migration wahrgenommen haben. Je nach treffen auch Experten, die in ihrem jeweiligen Fachgebiet Position und Präferenz des Autors konnten Migranten als bestens qualifiziert sind. Das Zielgebiet ist die deutsche moralisch verkommene Vagabunden gebrandmarkt oder als Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, die diese Problematik kühne Pioniere glorifiziert werden. Anhand exemplarischer weithin noch nicht einmal zur Kenntnis nimmt. Betroffen ist Quellen aus Nordosteuropa soll jene ambivalente Beurtei- aber auch die Geschichtswissenschaft, namentlich von der lung menschlicher Mobilität im gelehrten Schrifttum zwi- Rückschauverzerrung (hindsight bias). schen Humanismus und früher Aufklärung verdeutlicht wer- den – um dadurch die heutige Migrationsdebatte zu ihren Ulrich Falk (*1957 in Darmstadt) forschte seit 1994 am Max-Planck-Insti- tut für Europäische Rechtsgeschichte, seit 2002 als Professor für Bürgerli- frühneuzeitlichen Wurzeln zurückzuverfolgen. ches Recht, Rhetorik und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Mannheim und Direktor am dortigen Institut für Unternehmensrecht. Stefan Donecker (*1977) studierte Geschichte und Skandinavistik in Wien Er arbeitet epochenübergreifend auf unterschiedlichen Problemfeldern, und Umeå. 2010 promovierte er am Europäischen Hochschulinstitut in z. B.: Hexenprozesse in der Frühen Neuzeit; Geschichte der Strafvertei- Florenz im Rahmen des Boccaccio Intellectual History Programme. Sein digung; Entscheidungen des Reichsgerichts und Bundesgerichtshofs zum Forschungsinteresse richtet sich vor allem auf Nordosteuropa während des Insolvenzrecht. 16. und 17. Jahrhunderts, insbesonders in Hinblick auf Fragen der Geistes- und Begriffsgeschichte sowie der vornationalen Identitätsbildung. Stefan Donecker wurde 2007 mit dem Deutsch-Baltischen Studienpreis ausge- Moderation: Dr. Christian Suhm zeichnet und unterrichtete zuletzt an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck und der Universität Lettlands in Riga. Moderation: Professor Dr. Jens Olesen

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110 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Montag 10. Januar 2011 7. Februar 2011 Eintritt frei 19:30 Uhr Eintritt frei 19:30 Uhr Professor Dr. William John Dodd Professor Dr. Reinhard Zimmermann Die versuchte Überwindung von „Frau vor der aufgehenden Sonne“ Sprachlosigkeit: Zur Leistung oppositionel- oder „Frau vor der untergehenden ler Diskurse der „inneren Emigration“ in der Zeit des Nationalsozialismus Sonne“? Gibt es die „richtige“ In- Welche Möglichkeiten des öffentlichen Widerspruchs gibt es in terpretation der Bilder Caspar David Zeiten der „Sprachlosigkeit“? Kann man überhaupt unter solchen Friedrichs? Umständen von einer Kommunikationsgemeinschaft reden? Das Lesen und Schreiben „zwischen den Zeilen“ war (nicht nur) In der Caspar-David-Friedrich-Forschung wird nicht nur im 20. Jahrhundert eine notwendige Fertigkeit in Diktaturen immer wieder über die Interpretation einzelner Bilder ge- (nicht nur in Deutschland). Das Forschungsprojekt, in das der stritten, sondern es stehen sich auch zwei einander aus- Vortrag einen Einblick gewähren soll, untersucht die Leistungen schließende Auffassungen bezüglich der Frage gegenüber, und Grenzen zweier verwandter Diskurse, der Sprachkritik und ob es für die Werke des Greifswalder Künstlers überhaupt der Kulturkritik, als Orte des öffentlichen Widerspruchs und Ein- eine „richtige“ Interpretation geben kann. Während Helmut spruchs gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Es geht von Börsch-Supan, der Verfasser des Werkkatalogs der Gemäl- close readings aus und will damit zu einem besseren Verständnis de, diese Frage bejaht, verstehen andere Forscher Friedrichs der Begriffe „innere Emigration“, „Sprachlosigkeit“ und „geistige Bilder als deutungsoffene Kunstwerke, die nicht auf ein- Opposition“ (die zu unterscheiden ist von „Widerstand“) beitra- deutige Aussagen festgelegt werden dürfen. Das Bild „Frau gen, wie auch zu den Besonderheiten dieser Diskurse in ihrem vor der untergehenden (oder aufgehenden?) Sonne“ ist zur Verhältnis zu den „für die Schublade“ gedachten Zeugnissen Diskussion dieser Problematik bestens geeignet. Der Vortrag dieser Zeit und zu den im Exil entstandenen Diskursen. möchte nicht nur die Frage nach der richtigen Interpretati- on dieses Bildes beantworten, sondern auch die Hintergrün- William John Dodd (*1950) ist Professor of Modern German Studies an der Uni- de der noch immer andauernden Kontroverse beleuchten. versity of Birmingham, England. Seine Forschungsinteressen gelten der deut- schen Sprach- und Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt im 20. Jahr- Reinhard Zimmermann (*1952 in Kamenz) ist Dozent hundert. Er ist der Autor von mehreren Publikationen zu Kafka (auch zu Kafkas für Kunstgeschichte an der Universität Trier. Seine Dostojewski-Rezeption), zur Literatur der „inneren Emigration“ der NS-Zeit und zur modernen Sprachkritik. Mit der Gewährung eines Leverhulme Major Research Arbeitsschwerpunkte liegen in der Kunst der Romantik und der Fellowships (2000-2002) begann er, Diskurse über die Sprache im „Dritten Reich“ Moderne, mit einem Fokus auf die Werke Caspar David Friedrichs anhand von Dolf Sternbergers Nachlass und einer Untersuchung u.a. der Frank- und Wassily Kandinskys, die er unter kunsttheoretischen und furter Zeitung zu erforschen. Er legte 2007 eine Studie über Sternbergers politi- ästhetischen Fragestellungen analysierte. Darüber hinaus sche Sprachkritik vor. beschäftigt er sich mit architekturgeschichtlichen Themen vor allem im Bereich Burgenbau und Gartenkunst. Moderation: Professor Dr. Jürgen Schiewe Moderation: Professor Dr. Jens E. Olesen

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111 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Montag 11. April 2011 2. Mai 2011 Eintritt frei Eintritt frei 18:30 Uhr 18:30 Uhr Privatdozent Dr. Martin Wrede Dr. Gideon Reuveni Königsmord. Oder: Wie man einen The Geldjude Revisited. legitimen Monarchen loswird Die „Strecke“ des frühmodernen Königsmords ist beachtlich. Consumer Culture and the Monarchen wurden erstochen, erschossen, erwürgt und enthauptet, d. h. rechtsförmig hingerichtet. Daneben gab es den glorreichen Making of Jewish Identity Schlachtentod als monarchisches „Berufsrisiko“. Aber die Strecke war keineswegs gewaltig, die Verlustquote der Monarchen deutlich Antisemitic stereotypes of Jews as Capitalist have paralyzed geringer als die der tatsächlichen oder vermeintlichen Königsmörder. research into the economic dimension of the Jewish past. Deren Kopf saß in der Regel sehr viel lockerer als der ihrer potentiellen Opfer. The figure of the Geldjude haunted the nineteenth and Der Vortrag will zunächst versuchen, „Typen“ des frühneuzeitlichen twentieth centuries. But the economy has been central to Königsmords herauszuarbeiten und damit die Bedingungen, unter Jewish life and the Jewish image in the world. Jews were denen er sich – trotz aller Risiken – doch mehrfach vollziehen not only moneymakers but also money-spenders. Aim of konnte. In einem zweiten Schritt soll dann ein exemplarischer Fall this presentation is to offer an insight into this crucial and eingehender betrachtet werden. Ziel ist es, zu zeigen, dass ein neglected axis of consumption, identity, and Jewish history Königsmord nur dann wirklich erfolgreich war, wenn nicht nur der in Europe. It will show how the advances of modernization Körper des Königs, sondern auch sein Nachruhm zerstört werden and secularization in the modern period increased the im- konnte. portance of consumption in Jewish life, making it to a sig- nificant factor in the process of re-defining Jewishness. Martin Wrede (*1969) studierte Geschichte und Romanistik an den Universi- täten Paris, Marburg, Nantes und Münster. Anschließend war er als Wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück tätig. Dort wurde er 2001 zum Thema Das Reich und Gideon Reuveni studied history, philosophy and political science at seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwi- the Hebrew University Jerusalem. He is the author of Reading schen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg promoviert. Seit 2001 Germany: Literature and Consumer Culture in Germany before 1933 ist er Mitarbeiter am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität (2006) and co-editor of several other books on different aspects of Gießen, wo er 2009 habilitiert wurde. Martin Wrede verfasste zahlreiche Jewish history. His current area of research is the intersection of Aufsatzpublikationen in deutschen und internationalen Zeitschriften zum Jewish history and economics. Presently he is working on a book frühneuzeitlichen Patriotismus/ Nationalismus, zur Kultur- und Mentalitäts- on consumer culture and the making of modern Jewish identity in geschichte des europäischen Adels, zu den deutsch-französischen Beziehun- Europe. gen und zur frühneuzeitlichen Monarchie. Dr. Christian Suhm Moderation: Dr. Christian Suhm Moderation:

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112 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Montag 23. Mai 2011 6. Juni 2011 Eintritt frei Eintritt frei 18:30 Uhr 18:30 Uhr Professor Dr. Bert Becker Professor Dr. Arndt Schmehl Globalisierung und Küstenschiff- Schnittstellen zum Steuersystem: fahrt in der Ostsee und in Ostasien Zur Kontextualisierung und Die Globalisierungsphase im langen 19. Jahrhundert hatte Diskursivierung eines Rechtsgebiets profunde Konsequenzen für Wirtschaftsregionen weltweit und Das Steuerrecht soll systematisch geordnet, einfach veränderte traditionelle Gewerbe, Lebensstile und Gesellschaften. und verständlich sein. Zugleich ist das Steuerrecht aber Im Zuge der globalen Transportrevolution war es nicht allein multifunktional für vielfältige gesellschaftliche und wirt- die von Historikern mit Vorliebe erforschte Eisenbahn, die neue schaftliche Lenkungs- und Gerechtigkeitsziele geöffnet und Maßstäbe bei der Geschwindigkeit und Verlässlichkeit von betrifft ein außerordentlich breites Spektrum von Lebens- Reisen setzte, sondern auch das von der Geschichtswissenschaft sachverhalten: Denn fast alles hat auch eine ökonomische Seite wenig beachtete Frachtdampfschiff, das entlang der Küsten und fast an jedem wirtschaftlichen Sachverhalt können Steuern zwischen Hafenstädten hin und her pendelte und flexibel im anknüpfen. Vor allem die Einkommensteuer als die wichtigste interregionalen und interkontinentalen Verkehr eingesetzt werden allgemeine Jedermann- und Unternehmensteuer ist daraufhin konnte. Seine sukzessive Einführung durch kapitalkräftige sowohl von dem Systembedürfnis als auch von der Vielfalt der Netzwerke bedeutete mittel- und langfristig das Ende der Bezüge besonders geprägt. So gesehen, rücken die Schnittstellen traditionellen gewerblichen Segelschiffahrt und den Beginn der in den Mittelpunkt des Interesses. Der Vortrag geht deshalb Industrialisierung der Reederei. Als Triebkräfte der Globalisierung der Einbettung der Einkommensteuer in ihre Kontexte anhand zerstörten Dampfschiffe beispielsweise die Segelschiffahrt in der ausgewählter Beispiele nach. Ostsee und bedrohten die Dschunkenschiffahrt in Ostasien. Auf diese Weise kamen Abwehr- und Adaptionsprozesse in Gang, Arndt Schmehl (*1970) studierte Rechtswissenschaft an der Universität Gie- die spezifische Wege der Interaktion zwischen dem Universalen ßen. Nach seiner ersten juristischen Staatsprüfung war er als Wissenschaft- und dem Lokalen zeigten und zu komplexen Resultaten für die licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Universität Gießen tätig, wo er 1998 promoviert wurde. Anschlie- Akteure führten. ßend folgte die zweite juristische Staatsprüfung mit dem Schwerpunktbe- reich Verwaltung. Von 1994 bis 2004 war er Wissenschaftlicher Assistent Bert Becker (* 1960) studierte Geschichte und Germanistik an der Ruhr- am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Gießen, wo er sich ha- Universität Bochum, wo er 1990 auch promoviert wurde. An der Rostocker bilitierte. Bevor er 2006 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Finanz- und Universität habilitierte sich Bert Becker 2004. Seit 2007 ist er Associate Steuerrecht an der Universität Hamburg übernahm, hatte Arndt Schmehl an Professor of Modern European History an der University of Hong Kong. der Universität Augsburg sowie an der LMU München die Professuren für Desweiteren war er Direktor der Konrad Adenauer Stiftung in Rostock und Öffentliches Recht vertreten. Desweiteren ist er Vertrauensdozent der Studi- Postdam und lehrte Neuere und Asiatische Geschichte an der Freien Uni- enstiftung des deutschen Volkes sowie der Studienförderung der Friedrich- versität in Berlin, der Universität Rostock sowie der Universität Viadrina in Ebert-Stiftung. Frankfurt/Oder. Moderation: Dr. Christian Suhm Moderation: Professor Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann

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Stiftung Alfried Krupp Kolleg Greifswald · 17487 Greifswald Stiftung Alfried Krupp Kolleg Greifswald · 17487 Greifswald Telefon 03834 86-19001 · Telefax 03834 86-19005 Telefon 03834 86-19001 · Telefax 03834 86-19005 www.wiko-greifswald.de · [email protected] www.wiko-greifswald.de · [email protected]

113 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Montag 27. Juni 2011 18. Juli 2011 Eintritt frei Eintritt frei 18:30 Uhr 18:30 Uhr Juniorprofessor Dr. Alexandra Karentzos Professor Dr. Michelle Facos Geänderter Termin! The Copenhagen Academy and Andere Kunstgeschichten. Ironische Artistic Innovation in the Age of Spielarten postkolonialer Kunst Die Globalisierung bedeutet für die Kunstgeschichte eine Friedrich and Runge besondere Herausforderung, weil sich in der globalisierten und postkolonialen Kunst eine Vielstimmigkeit manifestiert, The Royal Academy of Art in Copenhagen has largely been die einseitig-europäische Sichtweisen relativiert und mit omitted from the narrative of late eighteenth- and early Außenperspektiven konfrontiert. Wie verändert sich auch die nineteenth-century art because its students produced europäische Kunst(geschichte) angesichts globaler Vernetzungen? works that deviated from French norms. It was only in the In postkolonialen künstlerischen Positionen etwa liegt eine twentieth century that Friedrich and Runge were restored, radikale Kritik von westlichen Ordnungsschemata, nach denen largely because of their relevance to Neoromanticism, sich Wissen strukturiert. Ironie kann als ein Mittel dieser Kritik Symbolism, and Surrealism. Although the Danish Academy betrachtet werden, Identitätssetzungen, Grenzmarkierungen und was structured on the same principles as academies in Paris Fundamentalismen spielerisch zu hinterfragen. Beispiele sind die and London, it encouraged innovation at a time when all Arbeiten der Fondation Arabe pour l’image (FAI), die historische other European art academies promoted conformity. In this Fotografien aus dem Nahen Osten sammelt und ausstellt, und way, the Danish Academy was avant garde before such a Walid Raads Atlas Group, die fiktive Fotoarchive produziert. concept even existed. It is time to integrate Copenhagen Alexandra Karentzos (*1972) ist Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der artists such as Nicolai Abildgaard, Jens Juel, and Johannes Universität Trier. Sie studierte Kunstgeschichte, Archäologie, Psychologie und Wiedewelt, as well as Friedrich and Runge, into the story Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2002 bis 2004 war sie wissen- schaftliche Assistentin bei den Staatlichen Museen zu Berlin. 2007 war sie Fellow in of modern art’s development and to evaluate them in the der Forschungsgruppe „No Laughing Matter. Visual Humor in Ideas of Race, Natio- broader socio-cultural context of which they were a part. nality, and Ethnicity“ am Dartmouth College, Hanover/USA. Alexandra Karentzos ist Mitbegründerin und Vorstand des Centrums für Postcolonial und Gender Studies an Michelle Facos (*1955) is professor of the History of Art and adjunct pro- der Universität Trier und Mitbegründerin und -herausgeberin der Zeitschrift „Quer- format. Zeitgenössisches. Kunst. Populärkultur.“ Zu ihren Publikationen zählen u.a. fessor of Jewish Studies at Indiana University, Bloomington, where she has Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2011 (in Vorber., Mithg.); Topo- taught since 1995. She received her Ph.D. in 1989 from the Institute of Fine logien des Reisens. Tourismus – Imagination – Migration / Topologies of Travel. Tourism Arts, New York University with a dissertation entitled Nationalism and the – Imagination – Migration, Trier 2010 (Mithg.); Fremde Männer – Other Men. kritische Nordic Imagination: Swedish Art of the 1890s. Her recent publications include: berichte 4/2007 (Mithg.); Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst Symbolist Art in Context (California, 2008) and An Introduction to Nineteenth- und Literatur, Bielefeld 2006 (Mithg.) sowie Kunstgöttinnen. Mythische Weiblichkeit Century Art (Routledge, 2011). Michelle Facos has received awards from the zwischen Historismus und Secessionen, Marburg 2004. American-Scandinavian Foundation, the American Philosophical Society, Fulbright, and the Alexander von Humboldt Stiftung. Moderation: Professor Dr. Eckhard Schumacher Moderation: Professor Dr. Kilian Heck

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114 115 Ausflug nach Lubmin schine, wobei die Wassererhitzung und der Dampfdruck nicht durch Kohlenverbrennung Datum: 4. August 2011 erzeugt werden, sondern durch atomare Brenn- Ort: Lubmin, Energiewerke Nord GmbH stäbe. Durch die jüngste Katastrophe im japa- nischen Fukushima sensibilisiert, gab es selbst- Bert Becker redend viele Fragen zur Sicherheit der Anlage. Zwar hatte es in der DDR nie ernstere Störfälle Mit dem Namen Lubmin verband sich wohl bei gegeben, doch war der Supergau im sowjeti- den meisten Fellows, die an einem herrlichen schen Tschernobyl 1986 noch in der Erinnerung Sommertag zusammen mit Christin Klaus und vieler. Die vielen technischen Einzelheiten wa- Rainer Cramm, den Kolleg-Mitarbeitern in die- ren zwar interessant, doch besonders die Art ses schön gelegene Ostseebad fuhren, die Erin- und Weise ihres Vortrages: Aus den Worten nerung an eines der Kernkraftwerke der DDR. des Erklärers klang ein nicht zu überhörender Und in der Tat war die inzwischen stillgelegte Stolz heraus, trotz der vielfach widrigen wirt- Anlage das Ziel unseres Ausflugs, der mit einer schaftlichen Umstände in der DDR diese Anlage guten Mittagsmahlzeit in einer Gaststätte an so gut wie möglich – auch in harten Wintern der Seepromenade eingeleitet wurde. Anschlie- – produktiv und leistungsfähig erhalten und ßend ging es zu diesem gigantischen Kern- damit die Stromversorgung für einen großen kraftwerk sowjetischen Typs, von dessen insge- Teil der Menschen und der Industrie in der DDR samt drei stillgelegten Blöcken der dritte noch gesichert zu haben. In solchen Zwischentönen so aussieht, als könne er jederzeit in Betrieb tat sich ein interessanter Einblick in ein Stück genommen werden. Mit Schutzhelmen ver- ostdeutscher Identität auf, die vom Leben und sehen führte ein Mitarbeiter, der auch früher Arbeiten in der DDR geprägt ist. Für jene Fel- – also zu DDR-Zeiten – dort gearbeitet hatte, lows, die in Westdeutschland oder Westeuropa in das Innere des Blocks und gab sachkundige aufwuchsen, ging daher der Erkenntniswert des Erklärungen ab, die auch für Laien – wie wohl Ausflugs nach Lubmin über die Aufklärung zum die meisten Fellows – meistenteils verständlich Betrieb eines Kernkraftwerks hinaus auf eine waren. Im Grunde handelt es sich bei einem historisch-politische Ebene, die auf jeden Fall Kernkraftwerk nur um eine große Dampfma- erkenntnisfördernd war. 116 117 Abschlussausflug auf die Insel Hiddensee der Strand, allerdings ohne die Wege durch die Fellows 2010/2011 Heide erkunden zu können, die teils noch un- ter Wasser standen. Dann zurück im Hotel – einige haben den Abstecher zum Leuchtturm Datum: 1. bis 2. September 2011 Dornbusch noch gemacht – tranken wir am Orte: Neuendorf, Hotel Heiderose Abend feierlich ein Glas Sekt, bekamen eine Kloster schöne kleine Überraschung und genossen ein stattliches Essen. Die Älteren gingen früh ins William J. Dodd Bett, von der körperlichen Ertüchtigung des Tages ermüdet, die Jüngeren suchten (vergeb- Als einer der Höhepunkte des Jahres werden lich) die Discoszene und gaben sich mit einem zwei schöne, sonnige Septembertage auf der weiteren Gläschen zufrieden. Insel Hiddensee lange in der Erinnerung blei- ben. Allerdings sah es nicht so sonnig aus, als Am folgenden Tag machten einige eine Tour zu wir am Morgen des 1. September in die Taxen Fuß durch die Heide, während andere den Bus einstiegen, die uns nach Stralsund brachten. nach Kloster nahmen, von dort den Pfad zum Auch bei der Überfahrt auf der Fähre gab es Leuchtturm, den Waldküstenweg nach Klos- einen trüben Nieselregen, der die wagemuti- ter, zur Führung durch das Gerhart-Haupt- gen Mitglieder der Truppe jedoch nicht vom mann-Haus, und einen langsamen, lockeren Deck treiben konnte. Aber als wir in Neu- Spaziergang den Strand entlang zurück zum endorf ankamen und mit der Pferdekutsche Hotel machten. Entspanntes Plaudern beim zum Hotel fuhren, war plötzlich Sommer- Kaffee, bevor die Kutsche uns abholte. Eine wetter, als ob es von Christin Klaus bestellt schöne Stunde auf der Fähre, gemütliches worden war. Beisammensein bei herrlichem Sonnenschein.

Nach einer Erfrischung bestiegen wir die be- stellten Fahrräder für eine Tour auf der In- sel, über Vitte, Kloster und den westlichen 118 119 2. Alumni-Treffen fan Frank verwöhnte uns mit allerlei Delika- tessen und ließ unser Wiedersehen zu einem Datum: 23. Juni 2011 Gaumenschmaus werden. Ein besonderes Orte: Putbus Highlight war das Zusammentreffen der ak- Insel Vilm tuellen Fellows des Jahrgangs 2010/11 mit den Alumni. Es wurden viele Geschichten über Greifswald, das Dasein als Fellow und das „Le- Alumni-Teilnehmer: ben danach“ – als Alumni – ausgetauscht. Der Abend (und für einige auch die Nacht) klang Privatdozent Dr. Rainer Bayreuther im „Mitt‘n Drin“ aus, wo noch andere altbe- Juniorprofessor Dr. Gregor Betz kannte Greifswalder zu uns stießen und die Professor Dr. Michael Bohne heitere Runde mit neuen Geschichten würz- Dr. Martin Hoffmann ten. Hochschuldozent Dr. Marco Iorio Der nächste Tag führte uns zunächst mit dem Dr. Christian Kuhn Zug nach Putbus auf Rügen. Dort erwartete Dr. Anja Reichert-Schick uns am Bahnhof bereits ein Gästeführer, der Dr. Stefan Sievert die Gruppe mit allerhand Zahlenmaterial ge- Privatdozent Dr. Florian Steger spickt und fachkundig durch die klassizisti- Dr. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann sche Residenzstadt des Fürsten Wilhelm Malte zu Putbus geleitete. Die „weiße Stadt“ er- schloss sich uns während eines zweistündigen Von Urwald-Buchen, schnaubenden Spaziergangs, der am ehemaligen Standort Dampfloks und allerhand Leckereien des heute verschwundenen Schlosses ende- te. Dort angekommen waren wir dem Gäste- Anja Reichert-Schick führer bereits so ans Herz gewachsen, dass er sich nicht mehr von uns trennen wollte und Unser zweites Alumni-Treffen begann am eine Geschichte nach der anderen zum Bes- Freitagabend in der kulinarisch vertrauten ten gab. Dadurch wurde die Zeit zum Essen im Atmosphäre des Restaurants „Le Croy“. Ste- Marstall des Schlossparks etwas knapp, aber 120 alle waren froh über die Stärkung; denn der Revue passieren und schon Vorfreude auf eigentliche Höhepunkt des Tages erwartete das nächste Treffen aufkommen zu lassen. uns noch. Taxen brachten uns in Windeseile An diesem Abend trennten sich schließlich zum Kleinbahnhof in Putbus. Aus der Fer- - durchaus mit viel Wehmut - unsere Wege, ne näherte sich dann bald schnaubend und allerdings in dem guten Wissen, 2012 wieder pfeifend unser zweiter Zug: der Rasende Ro- zurückkehren zu können, um in entspann- land. Auch wenn bei der gemütlichen Fahr- ter Atmosphäre neue Alumni kennenzuler- weise alle Spekulationen über die Herkunft nen und mit lieb gewonnenen Kollegen Ge- des Namens der Schmalspurbahn unbefrie- schichten auszutauschen. digend blieben, genossen wir doch die zwar Abschließend sei den Mitarbeitern und Mit- kurze aber dampfgewaltige Fahrt in histori- arbeiterinnen des Kollegs, allen voran Chris- scher Atmosphäre. In Lauterbach erwartete tin Klaus, ganz herzlich gedankt, nicht nur uns schließlich ein weiteres Transportmittel. für die hervorragende Organisation des Nun war es ein Schiff, das die Alumni über Alumni-Treffens, sondern auch für die char- einen kleinen Teil des Rügenschen Boddens mante Begleitung unserer Gruppe. zur Insel Vilm bringen sollte. Auf einer drei- stündigen geführten Wanderung hatten wir die einmalige Gelegenheit, die Geheimnisse dieser bereits von DDR-Funktionären als Ur- laubsdomizil geschätzten Insel zu erkunden. Sie beeindruckte mit ihrem vielfältigen For- menschatz, ihren Steilküsten und vor allem ihren urwüchsigen Buchen und Eichen, die einen solch enormen Umfang haben, dass man sich zu zweit dahinter verstecken konn- te. Am frühen Abend brachten uns Schiff und Zug wieder zurück nach Greifswald, wo wir die Gelegenheit nutzten, beim „Alten Fritz“ in angenehmer Müdigkeit unsere Erlebnisse 121 122 123 Alumni-Fellows Professor Dr. Nuhu G. Obaje des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs University in Keffi, Nigeria

Jahrgang 2007/2008 Dr. Agnieszka Pufelska Universität Potsdam Dr. Safia Azzouni Max-Planck-Institut für Wissenschaftsge- Professor Dr. Tilman Seidensticker schichte Berlin Friedrich-Schiller-Universität Jena

Professor Dr. Hartmut Bobzin Privatdozent Dr. Florian Steger Friedrich-Alexander-Universität Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Erlangen-Nürnberg

Privatdozent Dr. Frank Dietrich Dr. Annette von Stockhausen Universität Leipzig Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Professor Dr. Dietrich von Engelhardt TU München Professor Dr. Stefan Voigt Universität Hamburg Dr. Christina Grummt Bern, Schweiz Jahrgang 2008/2009 Dr. Marina Gurskaya Jekaterinenburg, Russland Privatdozent Dr. Rainer Bayreuther Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Professor Dr. Jan C. Joerden Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder Dr. Andreas Bedenbender Ruhr-Universität Bochum 124 Professor Dr. Michael Bohne Dr. Anja Reichert-Schick SRH Hochschule für Wirtschaft und Medien, Universität Trier Claw Professor Dr. Luise Schorn-Schütte Professor Dr. Giovanna Brogi Bercoff Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frank- Universität Mailand furt/Main

Professor Dr. Jörg Frey Professor Dr. Wilfried von Bredow Universität Zürich Philipps-Universität Marburg

Dr. Martin Hoffmann Universität Hamburg Jahrgang 2009/2010

Professor Dr. Hanna Liss Professor Dr. Michael Baurmann Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Hochschuldozent Dr. Marco Iorio Juniorprofessor Dr. Gregor Betz Universität Potsdam Universität Karlsruhe Universität Bielefeld Dr. Christian Kuhn Professor Dr. Mark A. Meadow Otto-Friedrich-Universität Bamberg University of California at Santa Barbara, Universität Leiden, Niederlande Professor Dr. Li Xinrong Chinese Academy of Sciences, Lanzhou, China Privatdozent Dr. Maria Elisabeth Reicher Universität Graz, Schweiz Professor Dr. Hans J. Markowitsch Universität Bielefeld

125 Dr. Dr. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann Dr. Stefan Donecker Universität Bukarest, Rumänien Kulturwissenschaftliches Kolleg der Universi- tät Konstanz Dr. Stefan M. Sievert Woods Hole Oceanographic Institution Professor Dr. Michelle Facos (WHOI) in Massachussetts, USA Indiana University Bloomington, USA

Dr. Barbara Ventura Professor Dr. Ulrich Falk Universität Bremen Universität Mannheim

Professor Dr. Bettina von Jagow Professor Dr. Alexandra Karentzos Universität Erfurt Technische Universität Darmstadt

Professor em. Dr. Dr. h.c. Hermann Wagner, Dr. Gideon Reuveni PhD University of Sussex, England München Professor Dr. Arndt Schmehl Universität Hamburg Jahrgang 2010/2011 Privatdozent Dr. Martin Wrede Professor Dr. Bert Becker Universität Gießen University of Hong Kong, China Professor Dr. Reinhard Zimmermann Professor Dr. William J. Dodd Universität Trier University of Birmingham, England

126 127 Abbildungsnachweis Dr. Rainer Cramm, Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald: 117, 119, 122 Courtesy of the artist: 71 CV-Zeitung 5, 1930: 76 Professor Dr. William J. Dodd: 28 Jebsen and Jessen Historical Archives, , DK: 14, 15 Christin Klaus M. A., Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald: 117, 119, 122, Umschlag hinten Katja Kottwitz M. A., Stralsund: 43, 95 Wolfgang Lazius: De gentibus aliquot migrationibus [...] (Francofurti: Wecheli heredes, 1600): 39 Mapping Sitting. On Portraiture and Photography. A Project by Akram Zaatari and Walid Raad, hg. von Karl Bassil, Zeina Massri, Akram Zaatari, Walid Raad, exh. cat. Palais des Beaux-Arts Brussels, Beirut: Mind the Gap and Fondation Arabe pour l’Image 2002, pl. 1.205-231, Courtesy of the Arab Image Foundation: 63 Vincent Leifer, agentur van ryck: 4, 12, 24, 34, 46, 56, 66, 74, 80, 90, 100 Umschlag vorn Dr. Gideon Reuveni: 77 Professor Dr. Arndt Schmehl, Universität Hamburg: 117 www.museum-joanneum.at: 37 www.philipphauer.de: 51 www.prometheus.uni-koeln.de: 52, 103, 107 www.wallstein-verlag.de: 26, 28

128 129 Impressum Redaktion: Christin Klaus unter Mitarbeit von Rainer Cramm, Marcus Hoffmann, Siri Hummel und Christian Suhm Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald

Gestaltung: Christin Klaus Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald

Druck: Druckhaus Panzig, Greifswald

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