Peter Antes

Der als politischer Faktor Vorwort

Vorwort der Niedersächsischen Kultusministerin In diesen Wochen zieht die Welt- beschäftigen oder nehmen über- religion Islam besonders große Auf- wiegend nur äußere Erscheinungs- merksamkeit auf sich . formen wahr, ohne sich mit seiner Geschichte oder seinem Wesensge- Die aktuellen Ereignisse in der Folge halt zu beschäftigen. Deshalb ist ge- terroristischer Anschläge in den USA rade jetzt der „Dialog der Kulturen“ wirken sich in vielfacher Weise zu- ein besonders wichtiges Erfordernis, mindest mittelbar auch auf unser dem die vorliegende Schrift Rech- Land mit seinem erheblichen Anteil nung trägt. Bereits ihr Titel macht an Menschen muslimischen Glaubens deutlich, dass wir den Islam über aus. seine religiösen Aspekte hinaus in seiner politischen Dimension zu be- Wir alle spüren, dass sich neue greifen haben, im Inneren wie nach Fragen ergeben, die in ihrer Brisanz außen. und Schärfe unvorhersehbar waren. Nicht nur die verantwortlich Han- Lehrkräfte in unseren Schulen und delnden sind jetzt besonders heraus- Einrichtungen der Erwachsenenbil- gefordert. Alle Menschen machen dung brauchen Unterstützung, wenn sich Gedanken und auch Sorgen. sie sich im Rahmen ihres Auftrags mit dem Islam auseinandersetzen, denn Es gehört gerade in solchen Situatio- ihnen werden naturgemäß beson- nen zu den Kernaufgaben politischer ders viele Fragen gestellt. Die von Bildung, mit fundierten Sachinfor- Schülerinnen und Schülern aufge- mationen Beiträge zur öffentlichen nommenen Bilder sowie die Fülle Diskussion und zur Orientierung zu von Informationen aus den elektro- leisten, denn nicht wenige Bürgerin- nischen Medien bedürfen der ver- nen und Bürger sind zur Zeit ver- tiefenden Erläuterung und Inter- ständlicherweise verunsichert. Sie er- pretation in den Lerngruppen. Für warten Aufklärung , die ihnen hilft, die Erfüllung dieser wichtigen sich in einer schwierigen Lage eine pädagogischen Aufgabe ist die Meinung zu erarbeiten und somit Arbeit von Professor Peter Antes be- verhindert, dass Verallgemeinerun- sonders hilfreich. Sie erscheint zum gen und Vorurteile mit gefährlichen richtigen Zeitpunkt. Folgen Platz greifen. Deshalb begrüße ich, dass die Nieder- Jedes verantwortungsbewusste Mit- sächsische Landeszentrale für politi- glied unserer Gesellschaft muss an sche Bildung auf das Informationsbe- dieser Aufklärung interessiert sein, dürfnis einer breiten Öffentlichkeit denn sie ist Voraussetzung für das Zu- zügig reagiert hat und mit dieser Pu- sammenleben in einer kleiner und blikation in ihrer Reihe „Informativ enger werdenden Welt. und Aktuell“ gerade auch den Lehr- kräften in Niedersachsen eine inhalt- Vielen von uns erscheint der Islam liche Orientierung für ihre Arbeit er- fremd. Andere hatten oder haben möglicht, der ich guten Erfolg wün- keine Gelegenheit, sich mit ihm zu sche.

Hannover, Oktober 2001

3 Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 4. Auflage ...... 5 1 Einführung...... 7 1.1 Religiöser Fundamentalismus und Kampf der Kulturen ...... 8 1.2 Der Islam als Herausforderung Europas...... 9 1.3 Das islamische Selbstverständnis...... 10 2 Der Islam zur Zeit Mohammeds ...... 11 2.1 Der Koran als Offenbarung...... 12 2.1.1 Die Offenbarungsgeschichte...... 12 2.1.2 Gott als Autor des Koran...... 13 2.1.3 Islamische Textkritik...... 13 2.2 Monotheismus und Ethik ...... 13 2.2.1 Mohammeds Predigt in Mekka...... 14 2.2.2 Mohammeds Predigt in Medina ...... 15 2.2.3 Die Abrogationsproblematik ...... 15 2.2.4 Die Problematik der konkreten Verordnungen...... 15 2.2.5 Gerechtigkeit ...... 16 3 Die fünf Säulen des Islam ...... 17 3.1 Die Bekenntnisformel (shahada) ...... 17 3.2 Das Gebet (‚alat)...... 17 3.3 Zakat...... 18 3.4 Das Fasten im Monat Ramadan ...... 18 3.5 Die Wallfahrt nach Mekka ...... 20 3.6 Exkurs: Der Djihad ...... 20 4 „Fatalismus“ und menschliche Ordnung ...... 21 4.1 Gottes Allmacht und menschliche Handlungsfreiheit...... 21 4.2 Zur Anthropologie...... 22 5 Die Zeit nach Mohammed...... 23 5.1 Die geographische Ausbreitung ...... 23 5.2 Probleme um die Nachfolge Mohammeds...... 24 5.3 Kalifat und Führungsprinzip...... 24 6 Unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Islam ...... 25 6.1 Rechtsschulen und ihre Institutionen...... 25 6.2 Die Wahhabiten...... 26 6.3 Die Bruderschaften...... 27 6.4 Die Schiiten ...... 27 6.4.1 Die Anfänge...... 27 6.4.2 Die Trauerfeierlichkeiten im Monat Muharram ...... 28 6.4.3 Die Imame und erste Spaltungen in der Schia...... 28 6.4.4 Der Mahdiglaube...... 29 6.4.5 Dualistisches Gedankengut...... 30 6.4.6 Die Verheimlichung des religiösen Bekenntnisses...... 30 7 Die Ethik des Islam...... 31 7.1 Die Ideale der Erziehung des Einzelnen...... 31 7.2 Das Verhältnis der Geschlechter untereinander ...... 32 7.3 Die islamische Wirtschaftsordnung ...... 34 7.4 Das islamische Strafrecht...... 35 7.5 Demokratie und Menschenrechte (einschließlich des Umganges mit Nichtmuslimen) ...... 35 7.6 Das Leben von Muslimen in nicht-islamischen Ländern...... 38 8 Ergebnis und Ausblick ...... 39 8.1 Das Festhalten an der Scharia...... 40 8.2 Der Koran als absoluter Maßstab ...... 40 8.3 Ewig Gültiges und zeitlich Bedingtes im Koran...... 40 8.4 Die Rückkehr zur mekkanischen Botschaft...... 41 8.5 Ein weltlicher Staat...... 41

Verfassernotiz ...... 43

4 Vorwort

Vorwort des Verfassers

Seitdem am 11. September 2001 kann nur noch durch Terroraktionen durch Terroristen das World Trade herbei geführt werden. Die große Centre in New York zum Einsturz ge- Mehrheit dagegen setzt nach wie bracht wurde und das Pentagon in vor auf friedliche Formen der Ver- Flammen aufging und all dies mit änderung, wobei die vorgeschla- islamischen Terroristen aus der Schule genen Wege deutlich zeigen, dass Usama bin Ladens und seiner Qa’ida der Islam alles andere als ein einheit- in Verbindung gebracht wurde, hat licher Block ist, sondern sehr unter- ein bislang alle Erwartungen über- schiedliche Modelle diskutiert und treffendes Interesse an Informatio- teilweise ausprobiert werden. Jeder nen über den Islam eingesetzt, das Rückschlag allerdings scheint denen bewirkt hat, dass Ende Oktober 2001 Recht zu geben, die für gewalt- nahezu die gesamte Fachliteratur same Veränderungen eintreten und zum Thema Islam ausverkauft war. In an friedliche Lösungen nicht mehr dieser Phase des Hungers nach Infor- glauben. mation habe ich mich gerne bereit erklärt, dem Wunsch der Niedersäch- Das vorliegende Heft will den Man- sischen Landeszentrale für politische gel an Information abbauen und Ein- Bildung nachzukommen und die Ab- blicke in die unterschiedlichen Rich- handlung „Der Islam als politischer tungen geben, die unter Muslimen Faktor“ in aktualisierter Form erneut heute diskutiert werden. Für vertief- heraus zu bringen. Ein Vergleich mit te Studien ist auf einschlägige wei- den früheren Auflagen des Buches terführende Literatur in den Anmer- (1980, 1991 und vor allem 1997) wird kungen verwiesen. Auf mehr Veröf- rasch zeigen, wie wenig sich im Be- fentlichungshinweise wurde bewusst reich der Analysen und Tendenzbe- verzichtet, um die Lesbarkeit des Tex- schreibungen über diese zwei Jahr- tes nicht zu gefährden. Literaturhin- zehnte hinweg wirklich verändert weise auf Veröffentlichungen in hat. Noch immer besteht Mangel an orientalischen Sprachen fehlen fast Information im Westen und speziell ganz, weil sie nur für Spezialisten in Deutschland, noch immer sind die brauchbar sind, diese Ausführungen zentralen Konfliktpotenziale – vor jedoch einen solchen Leserkreis nicht allem mit Blick auf die Palästinenser – im Blick haben. nicht gelöst. Das Gefühl der Demüti- gungen und Frustrationen der Mus- Wenn es mit dieser kurzen Ein- lime durch die westliche Überlegen- führung gelingt, grundlegende Erst- heit und die Art des Umganges mit informationen zu bieten und einen ihnen ist eher größer als geringer ge- Einblick in die Vielfalt islamischer worden. Eine echte Veränderung Lebenswirklichkeit zu geben, dann ihrer Lage und eine rasche Lösung, so hat diese Schrift ihren Sinn erfüllt. glauben manche junge Ungeduldige, Nichts wünsche ich mehr als dieses!

Peter Antes Hannover, im Oktober 2001

5 Der Islam als politischer Faktor Der Islam als politischer Faktor

von Peter Antes

1 Einführung wurde jedoch mit dem Einfluss sol- am weitesten fortgeschrittenen cher Vorstellungen auf die interna- Stand in der Entwicklung der Mensch- Mehr als 40 Jahre lang war die Zeit tionale Politik nicht gerechnet. Ob- heitsgeschichte darstellt. nach dem Zweiten Weltkrieg vom wohl allmählich von Journalisten die Ost-West-Konflikt gekennzeichnet. Gefahr einer fundamentalistischen Der Traum von dem homogenen Es gab praktisch nur diese beiden Al- Frontstellung gegen die Modernisie- Weltdorf war rasch verflogen, die ternativen und wer – wo immer in rungsentwicklung in vielen Ländern Wirklichkeit drängte sich den Beob- der Welt – politisch einzuordnen war, beschworen wurde, blieb die große achtern auf und erwies sich als kon- sollte in dieses Schema eingebunden Weltpolitik davon unbeeindruckt fliktträchtiger als dieses idyllische werden. So stark war diese Zweitei- und sah nach wie vor die eigentliche Bild weltweiter Harmonie. Der Golf- lung der Welt, dass selbst der Ver- Problematik im Ost-West-Konflikt. krieg von 1991 lieferte den Beweis, such, „blockfreie Staaten“ zu schaf- Dementsprechend galt: Würde der dass offenbar noch andere Stören- fen, mit großer Regelmäßigkeit dem Ost-West-Konflikt einmal nicht mehr friede in der Welt existieren, um die Verdacht ausgesetzt war, er betriebe bestehen, so wären die wirklichen USA, Frankreich und Großbritannien doch das Geschäft eines dieser bei- Probleme der Welt gelöst. Dies war zusammen mit ihren Verbündeten in den Blöcke, meist das des Ostblocks. jedenfalls eine selten ausgesproche- der Region in militärische Aktionen Es schien, als gäbe es keine Neutra- ne, dennoch aber alles Denken prä- zu stürzen, deren Kalkulierbarkeit er- lität in diesem Zweikampf. Das bibli- gende Erwartung für eine ferne Zu- heblich schwieriger erscheint, als dies sche „wer nicht für mich ist, ist gegen kunft. Es würde, so dachte man, in beim klassischen Ost-West-Konflikt mich“ (Matthäus 12, 30) hatte eine diesem Zweikampf eine Seite als Sie- der Fall gewesen ist. Alle jedenfalls politisch konkrete Entsprechung und gerin übrig bleiben, und jede Seite sind davon überzeugt, dass Saddam bestimmte weltweit das Denken und hoffte, diese zu sein. Hussein, wenn er in den Besitz von Handeln der Politiker. Atomwaffen gelangt, auch dann Schneller als vorhersehbar kam dann nicht vor ihrem Einsatz zurück- Politik war in diesem Spannungsfeld das Ende des Ostblocks mit dem Fall schrecken wird, wenn damit eine von Ost und West der rationale Ver- der Berliner Mauer 1989, der Auflö- ernste Überlebensgefahr für sein ei- such, Bündnisse zu schließen, Sympa- sung des Warschauer Paktes und dem genes Land verbunden ist. Regionale thien zu gewinnen und Gegner des Ende der Sowjetunion im Dezember Krisenherde wie Jugoslawien, Sudan anderen militärisch, wirtschaftlich 1991, so dass eine Vision Wirklichkeit und Tschetschenien bedrohen zudem und politisch zu unterstützen, um wurde, von der viele geglaubt hat- in ihren Kontinenten den Frieden eigene Vorteile auszubauen und wei- ten, sie würden sie zu ihren Lebzei- und zeigen, dass mit dem Ende des teren Machteinfluss zu gewinnen. ten nicht mehr erleben. Stolz rief der Ost-West-Konfliktes nicht alle Pro- Oberstes Prinzip war ein gesunder nordamerikanische Philosoph Francis bleme gelöst sind. Verschärfend Egoismus, der nie die eigene Existenz Fukuyama das „Ende der Geschichte“ wirkt in vielen Konflikten die Religi- aufs Spiel setzte und militärische aus, der Verwirklichung des „global on. Das Beispiel Jugoslawien ist hier- Aktionen nur soweit kritisch werden village“, das der kanadische Vorden- für in doppelter Hinsicht bezeich- ließ, solange das eigene Überleben ker Marshall McLuhan als Bild von nend: zum einen weil tatsächlich die nicht ernsthaft in Gefahr geriet. der Welt als homogenem Dorf ent- ethnische Spaltung eng mit der Reli- Darauf beruhte die nukleare Ab- worfen hatte, schien nun nichts mehr gionszugehörigkeit verbunden ist schreckung ebenso wie das kalkulier- im Wege zu stehen. Die Globalisie- und zum anderen weil in der Wahr- te Risiko eines regional begrenzten rung konnte Realität werden, und nehmung der Öffentlichkeit der reli- Konfliktes im Sinne der so genannten das amerikanische Vorbild durfte in giöse Faktor bei den Muslimen so „Stellvertreterkriege“. allen Bereichen unseres Lebens welt- sehr in die Waagschale geworfen weit nachgeahmt werden. Dement- wird, dass man als Kontrahenten Politik und Wirtschaft waren so sehr sprechend sollten Wirtschaft, Wissen- stets von Serben, Kroaten und Musli- auf diesen ideologischen Dualismus schaft und Technik ebenso wie die men spricht und dabei die religiöse hin ausgerichtet, dass anders geartete Regierungsformen und Lebensstile mit der ethnisch-politischen Ebene Denkvorstellungen zwar zeitweise im Sinne des American Way of Life vermengt, statt konsequent ethnisch für Irritationen sorgen konnten wie umgestaltet werden, weil doch die- (Serben, Kroaten, Bosnier) oder reli- etwa im Falle der schiitischen Macht- ser – wie die meisten Amerikaner giös (Orthodoxe, Katholiken, Musli- übernahme in Iran nach dem Sturz glauben – die besten Standards me) zu argumentieren. Dieses Bei- des Schah im Frühjahr 1979, ernsthaft schlechthin und folglich den bisher spiel ist eines von vielen, wo der Islam

7 Der Islam als politischer Faktor mit Kampf, Krieg und letztlich Terror zunächst auf die revolutionären schi- Gewissens ablehnen kann, in diesem assoziiert wird. Die Horrorvision vom itischen Gruppen, die 1979 unter der Sinne zu den „u‚ul“ der Religion zu religiösen Fundamentalismus und ei- Führung Khomeinis den Schah in Iran stehen, so dass die Frage, ob man für nem damit verbundenen Kampf der gestürzt haben, angewendet, dann diesen Fundamentalismus ist, nur be- Kulturen steigt auf, wird zur Heraus- auf andere islamische radikale Grup- jaht werden kann, wenn man sich forderung Europas – vor allem durch pierungen wie die Moslembrüder in nicht gleich dem Vorwurf, ungläubig den Islam – und wirft die Frage auf, Ägypten oder die Leute vom FIS zu sein, aussetzen will. was das islamische Selbstverständnis (Front Islamique du Salut) in Algerien heute ist. übertragen und schließlich als welt- Es ist heute müßig, die weitere Ver- weites Phänomen in nahezu allen Re- wendung dieses sehr unpräzisen 1.1 Religiöser Fundamentalismus ligionen der Welt diagnostiziert wur- Fundamentalismusbegriffes zu be- und Kampf der Kulturen de. Auf diese Weise wurden recht un- kämpfen. Dafür war seine bisherige terschiedliche Vorstellungen und Kri- Verbreitung viel zu erfolgreich. Was Die seit 1989 grundlegend veränder- tikpunkte zum einheitlichen Ableh- allenfalls noch möglich ist, dürfte die te Weltsituation ist bislang begriff- nungstrend westlicher Ideen und unablässige Erinnerung daran sein, lich noch nicht klar erfasst. Sicher ist, Ideale im Namen der Religion hoch- dass der Begriff wenig als Analysebe- dass es neben den Amerikanern und stilisiert. Was folglich als breit ange- griff taugt, weil er dort vereinheit- Russen noch weitere Akteure im poli- legte Kritik an den Kritikern des licht, wo Differenzierung geboten ist. tischen Weltgeschehen gibt, wenn westlichen Einflusses gedacht war, Politische Reformmodelle von oben man alleine an Japan, China und wurde bald von den so Bezeichneten wie in Iran, Basisreformen wie beim Westeuropa denkt. Dennoch scheint selbst aufgegriffen und übernom- FIS in Algerien von unten und das es so, dass damit bei weitem nicht men mit einem doppelten Effekt: sie Tragen des Kopftuches durch türki- alle und vielleicht auch nicht die lernten ihre Kritikpunkte als Aus- sche oder nordafrikanische Mädchen wichtigsten Konkurrenten im politi- druck eines weltweiten Gegentren- in Westeuropa pauschal als Zeichen schen Machtpoker benannt sind. des zu begreifen und sich selbst da- für „Fundamentalismus“ zu halten, Nicht wenige Beobachter der Szene durch bedeutsamer einzuschätzen als gibt für die Analyse der unterschied- glauben nämlich, dass sich die Reli- zu der Zeit, als sie ihre Kritik nur als lichen Tendenzen, die heute inner- gionen in ganz neuer Weise auf der regionalen bzw. oft sogar lokalen halb des Islam bestehen, nicht viel politischen Bühne zurückmelden, so Protest gegen tatsächliche oder ver- her und sollte deshalb lieber unter- dass Gilles Kepel „Die Rache Gottes“1 meintliche Fehlentwicklungen äußer- bleiben. Gleiches gilt für den Kampf in alledem zu erkennen meint und ten; sie übersetzten bei der Übernah- gegen die Moderne, denn die soge- von der Reconquista (vgl. den Unter- me des Begriffes Fundamentalismus nannten Fundamentalisten sind in titel in der französischen Originalaus- als Eigenbezeichnung diesen in ihre vielen Bereichen (z.B. Internet, Fax, gabe!) der Welt durch Christen, jeweiligen Nationalsprachen und Satellitenfernsehen, Tonkassetten) Juden und Muslime spricht. In einem schufen dadurch eine neue Wirklich- keineswegs antimodern. Was sie ab- anderen von ihm herausgegebenen keit mit ihr eigenen Entwicklungs- lehnen, ist die Überflutung mit west- Buch weist er darauf hin, dass sich die möglichkeiten. Im Falle des Arabi- lichem Gedankengut, sind aber im- Weltpolitik auf „die Politik Gottes“2 schen wirkte sich dies so aus, dass mer dafür, alle technischen Möglich- einstellen muss und nennt dafür Bei- „Fundamentalismus“ ganz wörtlich keiten zur Verbreitung ihrer eigenen spiele. Es scheint, dass die Herausfor- mit „u‚uliyya“ übersetzt wurde und Vorstellungen und Ideale zu nutzen. derung durch den religiösen Funda- folglich einen -ismus bezeichnet, der Demnach geht es bei alledem mehr mentalismus als Kampf gegen die aus den „u‚ul“ („Wurzeln, Funda- um einen Kampf der Ideen als um Moderne3 für den Westen gegenwär- menten“) gebildet wurde. Diese einen Kampf gegen technische Er- tig eine ernstere Bedrohung darstellt Wortbildung hatte aber einen Neben- rungenschaften. als alles, was im Bereich der Ideologi- effekt. Die Form erinnert im Zusam- en als Kritik vorgebracht wird. Aus menhang mit Religion unwillkürlich Auf diesen Kampf der Ideen will sich diesem Grunde ist es unerlässlich, ein an die „u‚ul al-din“ („Die Fundamen- und uns der amerikanische Harvard- klärendes Wort zu diesem Phänomen te der Religion“) und bezieht sich da- Professor Samuel P. Huntington ein- zu sagen. mit auf den klassischen Titel, den vie- stellen. Er analysiert die Welt von le große islamische Theologen im heute so, dass er sieben bis acht Zivi- Religiöser Fundamentalismus4 ist ein Mittelalter ihren Abhandlungen isla- lisationen ausmacht: die sinische (chi- Begriff, der in Anlehnung an eine mischer Theologie gegeben haben. nesisch-konfuzianische), die japani- amerikanisch-protestantische Selbst- Der Begriff ist somit sehr positiv be- sche, die hinduistische, die islami- bezeichnung aus dem Beginn des 20. setzt und die Assoziationen wirken sche, die westliche, die slawisch- Jahrhunderts als Fremdbezeichnung derart, dass eigentlich niemand guten orthodoxe, die lateinamerikanische

1 Vgl. Gilles Kepel: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 1991 (franz. Originalausgabe: La revanche de Dieu. Chrétiens, juifs et musulmans à la reconquête du monde, Paris 1991) 2 Gilles Kepel (Hrsg.): Les politiques de Dieu, Paris 1993 3 Vgl. dazu Martin E. Marty und A. Scott Appleby: Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, mit einem Nachwort von Hans G. Kippenberg, Frankfurt/M – New York 1996 4 Vgl. zum folgenden Jacques Locquin: L’Intégrisme islamique. Mythe ou réalité?, Paris 1997; Peter Antes: Religiöser Fundamentalismus, in Uwe Hartmann und Christian Walther (Hrsg.): Der Soldat in einer Welt im Wandel. Ein Handbuch für Theorie und Praxis. Mit einem Vorwort von Bun- despräsident Roman Herzog, München – Landsberg am Lech 1995 S. 54-60; Fundamentalismus der Moderne? Christen und Muslime im Dialog, hrsg. von Sybille Fritsch-Oppermann, Dokumentation eines Kolloquiums der Evangelischen Akademie Loccum vom 17. bis 19. September 1993, Loccum 1. und 2. Aufl. 1996 (Reihe: Loccumer Protokolle, hrsg. von der Ev. Akademie Loccum 57/94) und Friedemann Büttner: Der fundamentalis- tische Impuls und die Herausforderung der Moderne, in Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 24. Jahrg. (1996) S. 469-492

8 Der Islam als politischer Faktor und möglicherweise noch die 1.2 Der Islam als Herausforderung schee zu errichten oder gar den Ge- afrikanische, die bis auf die westliche Europas betsruf des Muezzin öffentlich für alle primär durch religiöse Vorstel- Der Streit um die Verleihung des Frie- das Mittagsgebet am Freitag, einer lungen geprägt sind und die westli- denspreises des Deutschen Buchhan- Art islamischem Sonntag, zuzulassen. che bedrohen. Als besonders bedroh- dels an die Islamspezialistin Anne- Gleiches gilt bezüglich des Wunsches lich erscheint in diesem Szenario die marie Schimmel hat von der Bekannt- nach islamischem Religionsunterricht islamische, und Huntingtons Angst- gabe des Namens der Preisträgerin in deutschen Schulen oder der Aner- vision ist die Gefahr eines Kampfes im Mai 1995 bis zur Preisverleihung kennung des Islam als Körperschaft der Kulturen („the clash of civilisa- im Oktober 1995 zu mehreren Wellen des öffentlichen Rechts im Sinne ei- tions“)5, der die vorerst letzte Etappe des Protestes in der deutschen ner Gleichstellung des Islam mit den in der Konfliktgeschichte der Öffentlichkeit geführt, die einen tie- christlichen Kirchen. Von einer ver- Menschheit – nach dem Zwist zwi- fen Graben zwischen den deutschen traglichen Vereinbarung des Staates schen Fürsten, dem Kampf zwischen Intellektuellen und der islamischen mit den Muslimen wie in Spanien9 Nationalstaaten ab der Französischen Kultur erkennen ließen. Der Islam oder Frankreich10 ist Deutschland Revolution und dem Kampf zwischen wurde dabei häufig pauschal mit Un- noch weit entfernt, ja die dortigen Ideologien im 20. Jahrhundert – dar- terdrückung, Missachtung der Men- Erfahrungen werden hierzulande stellt. Eine Pikanterie besonderer Art schenrechte, exzessivem Strafrecht noch nicht einmal richtig zur Kennt- ist dabei, dass die arabische Überset- gleichgesetzt. Das immer noch nicht nis genommen, geschweige denn dis- zung von „clash of civilizations“ revidierte Todesurteil von Khomeini kutiert. „‚idam al-hadarat“ lautet, wobei das aus dem Jahre 1989 gegen den Arabische üblicherweise ohne Vokale Schriftsteller Salman Rushdie7 wie die Der Eindruck einer direkten Bedro- und Doppelkonsonanten geschrie- Verletzung der Menschenrechte im hung Europas oder Deutschlands ben wird, so dass das Schriftbild von Namen der islamischen Religion in durch die Muslime widerspricht der „‚idam“ genauso aussieht wie das Iran und die Terroranschläge islami- tatsächlichen Erfahrung insofern, als des irakischen Staatspräsidenten scher Extremisten wurden immer zum einen die meisten Mitbürger „S.addam (Hussein)“ und dadurch der wieder als Belege für die Gefahr des und Mitbürgerinnen islamischen „clash“ im Hauptfeind des Westens Islam für die Welt von heute und Glaubens friedliebende Leute und geradezu personifiziert erscheint. nicht zuletzt auch für Europa keine religiösen Fanatiker sind und genannt. Die Diskussion war so hef- zum anderen die Zahl der Deutschen, Religiöser Fundamentalismus und tig und emotional geführt worden, die zum Islam übertreten, seit Jahren Kampf der Kulturen sind zwei beson- dass es oft gar nicht mehr möglich konstant gering bleibt und in jedem ders gute Beispiele, um zu zeigen, war zu sagen, wogegen sie sich ei- Falle wesentlich niedriger ist als die wie richtige Einzelphänomene gentlich richtete. Eines wurde da- Zahl derer, die in den letzten Jahr- gleichsam wie Mosaiksteinchen zu ei- durch klar: es fehlt an Informationen, zehnten zum Buddhismus übergetre- nem Bild zusammengefügt werden, die den Islam als facettenreiche Wirk- ten sind. von dem völlig offen ist, ob es so der lichkeit vorstellen.8 Wirklichkeit entspricht, denn es kann Der Hinweis auf die friedliebende in der Tat nicht ausgeschlossen wer- In den Medien und in der öffentli- Mehrheit aller Muslime – sowohl den, dass mit diesen richtigen chen Debatte überwiegt bis heute in Europa als auch in den Ländern Mosaiksteinchen falsche Bilder er- der Eindruck, der Islam sei aggressiv mit islamischen Bevölkerungsmehr- stellt werden können.6 Eines ist in je- und Muslime stellten prinzipiell eine heiten – legt die Frage nahe, wie die dem Falle sicher, dass all diese Bilder Gefahr für den europäischen Rechts- Muslime sich selbst und ihre Rolle in Wirkungen haben. Gerade das Hor- staat dar, so dass jeder Fall eines ver- der Welt sehen, welche Vorstellun- rorszenario von Huntington und die meintlichen oder wirklichen Zuge- gen sie vom weiteren Verlauf der Rede vom Fundamentalismus bewir- winns an Einfluss des Islam in Europa Weltgeschichte haben und wieso ken, dass sich viele in Europa und neu die Diskussion anheizt und oft zu es gerade heute so wichtig geworden Amerika vor allem vom Islam bedroht höchst polemischen Reaktionen ge- ist, auf den Islam als Gestaltungsfak- fühlen und in ihm die entscheidende gen den Islam führt. Dies zeigt sich tor für das Leben hinzuweisen, kurz, Herausforderung an der Schwelle vor allem dann, wenn es darum geht, was das islamische Selbstverständnis zum neuen Jahrtausend sehen. irgendwo in Deutschland eine Mo- heute ist.

5 Vgl. dazu das umfangreiche Buch von Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wien – München 1996 und in dieser Argumentationslinie ebenfalls Bassam Tibi: Krieg der Zivilisationen, Hamburg 1995 6 Vgl. dazu als Beleg für solch mögliches Vorgehen Anis Hamideh und Daniel Schwarz: Auge um Auge oder: Die wundersamen Erzählungen eines arabischen „Nahwest-Experten“. Eine Satire, in Verena Klemm und Karin Hörner (Hrsg.): Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours ver- zerrtes Araber- und Islambild, Heidelberg 1993 S. 22-33 7 Vgl. zu dem Buch „die Satanischen Verse“, das Auslöser für Khomeinis Verdammung gewesen ist, die ausgezeichnete Analyse von Heribert Busse: Salman Rushdie und der Islam, in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands 1990 Heft 4 S. 193-215 8 Vgl. dazu z.B. Arnold Hottinger: Islamischer Fundamentalismus, Paderborn – München – Wien – Zürich 1993 und Gernot Rotter (Hrsg.): Die Welten des Islam. Neunundzwanzig Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen, Frankfurt/M 1993 9 Ministerio de Justicia: Acuerdos de cooperación del Estado español con La Comisión Islámica de España, Madrid 1992, wobei bemerkenswert ist, dass die Vereinbarungen mit den Muslimen sich im Detail – sieht man von der Einleitung einmal ab – praktisch nicht von den im selben Jahr ge- schlossenen Vereinbarungen mit den Protestanten („Federación de Entidades Religiosas Evangélicas de España“) und den Juden („Federación de Comunidades Israelitas de España“) unterscheiden. Deutsche Übersetzung in Peter Graf/Peter Antes: Strukturen des Dialogs mit Muslimen in Europa, Frankfurt/M – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1998 S. 101-147, die Vereinbarung mit der islamischen Kommission ebd. S. 132-147 10 Conseil représentatif des Musulmans de France: Charte du Culte Musulman en France, Paris 1995. Deutsche Übersetzung in Graf/Antes, a.a.O. S. 73-100

9 Der Islam als politischer Faktor

1.3 Das islamische Selbstverständnis stark werden und hochkommen zu den Ostblock und über Enteignun- lassen. Als besonders beredtes Zeug- gen von westlichen Monopolgesell- Der Bezug auf den Islam – das ist un- nis derartiger Verschwörungstheori- schaften und Kapitaleignern zu errei- bestreitbar – ist in den letzten Jahren en wird die westliche Unterstützung chen. Der Versuch erzeugte bei vielen in den Ländern mit islamischer Bevöl- Israels angesehen, das gewisser- Arabern auch deshalb positive Erwar- kerungsmehrheit immer häufiger ar- maßen als letztes Überbleibsel kolo- tungen, weil „Sozialismus“ ins Arabi- tikuliert worden. Während früher nialer Bevormundung in der Region sche mit „ishtirakiyya“ übersetzt eher von nationalistischen und sozia- gilt und dessen Auseinandersetzun- wurde, was einen -ismus bezeichnet, listischen Tendenzen als bestimmen- gen mit den Nachbarstaaten und den der auf Partizipation und brüderli- den Trends berichtet wurde, gewin- arabischen Palästinensern im Lande ches Teilen abzielt und folglich – an- nen neuerdings die Stimmen an Ein- als eine lange Geschichte von ders als „ra’smaliyya“ (wörtlich: ein fluss und Gewicht, die den Islam als Demütigungen von Seiten der -ismus der Geldwirtschaft = Kapitalis- Gestaltungselement im politischen Araber empfunden wird. mus) oder „isticmar“ (wörtlich: Bauen Geschehen propagieren. Nicht weni- im eigenen Interesse = Kolonialismus, ge ziehen daraus bei uns den Schluss, 2. Um politisch von den Kolonial- Imperialismus) vorgab, die Hoffnun- dass sich die Muslime massenhaft ge- mächten unabhängig zu werden und gen der Armen und Mittellosen zu gen die Moderne wehren und ins eine eigene wirtschaftlich erfolgrei- erfüllen. Trotz all dieser verbalen Ver- Mittelalter zurück wollen. Vor allem che Entwicklung einzuleiten, wurden sprechungen war der sozialistische in Zeitungen und Zeitschriften mit verschiedene Modelle ausprobiert. Weg in den meisten Ländern nicht großer Breitenwirkung wird bei uns sehr erfolgreich, hatte aber den Vor- undifferenziert einer solchen Ein- Eine wichtige Phase war die des Na- teil, dass ethnische und religiöse Un- schätzung der politischen Lage das tionalismus, der auf politische Unab- terschiede für die aktive Beteiligung Wort geredet, und jeder Bericht von hängigkeit zielte und Staaten schaf- am politischen Geschehen – zumin- einem Anschlag oder Attentat terro- fen wollte, die sich frei entscheiden dest der Theorie nach – keine große ristischer Art im Namen des Islam ver- können. Die Ergebnisse zeigten sehr Rolle spielten. Wirtschaftliche Misser- düstert dieses ohnehin schon wenig rasch, dass mit der politischen Unab- folge im Lande und der Wegfall des optimistische Bild von der politischen hängigkeit aber noch lange keine Ostblocks haben all diese Länder ent- Zukunft der islamischen Welt. wirtschaftlich-technologische ver- weder in eine Annäherung zum so bunden gewesen ist, sondern die genannten Westen (Beispiel: Syrien) Bei dieser Momentaufnahme dessen, wirtschaftliche Entwicklung der Un- oder in die Isolation (Beispiel: Irak) was in der islamischen Welt los ist, terstützung durch die vormaligen geführt. Somit hat dieser Weg seinen werden gewöhnlich drei Faktoren Kolonialmächte bedurfte, wenn sie Vorbildcharakter verloren und ist übersehen, die bei allen aktuellen Erfolge haben wollte. Für viele schien nicht mehr als wegweisende Alterna- Geschehnissen stets mitbedacht wer- ab den fünfziger Jahren des 20. Jahr- tive anzusehen. den müssen: hunderts der sozialistische Weg eine echte Alternative zum Nationalismus Nationalismus und Sozialismus sind 1. Alle Staaten, wie sie heute im Vor- und zugleich ein Versuch zu sein, sich beide an europäischen Vorbildern deren Orient existieren, sind in ihrer vom Einfluss der vormaligen Koloni- orientierte Ideologien und bei ihrem gegenwärtigen Form Produkte der almächte zu befreien. Hinzu kommt, Bemühen, die Länder wirtschaftlich Kolonialpolitik und nach den Vorstel- dass das, was Nation im Sinne des zu entwickeln und nach europäi- lungen der Kolonialmächte (vorzugs- Nationalismus heißt, aus unterschied- schem Muster technologisch und le- weise Großbritannien und Frank- lichen Bevölkerungsgruppen mit oft bensstandardmäßig voranzubringen, reich) so geschaffen worden, wie wir anderen Sprachen und religiösen gescheitert. Die wenigsten Muslime sie im Augenblick kennen.11 Es ist von Ausrichtungen besteht, so dass sind heute bereit, hierin nur Verfah- daher zu verstehen, dass manche wenig Gemeinsames für den Nation- rensmängel zu sehen, sondern der Länder andere Grenzen als die beste- Building-Prozess vorhanden war und weitaus größte Teil der Bevölkerung henden für sich wünschen und auf viel mehr – wie im Falle der Kurden – glaubt, dass dies auf strukturelle Feh- ethnische Verwandtschaften hinwei- für die Proklamation der Unab- ler im System zurückzuführen ist und sen, die diesen Territorialanspruch hängigkeit einzelner Gruppen mit ersehnen eine gesellschaftliche Um- begründen sollen. Hinzu kommt, grenzüberschreitenden Territorialan- orientierung in allen wichtigen Berei- dass mit dieser Entstehungsgeschich- sprüchen sprach als für die aktive chen. te große Ungleichheiten bei der Ver- Unterstützung der Nation, die nach teilung von Reichtum verbunden den unter 1. erwähnten Prinzipien 3. Die unter 2. beschriebene Enttäu- sind, die jenes merkwürdige Missver- der Staatengründung geschaffen schung über die Ergebnisse aller bis- hältnis zwischen höchst ressourcen- wurde. Das Streben nach Unabhän- her versuchten Wege geht einher mit reichen Ländern mit wenig Bevölke- gigkeit wurde somit ernsthaft von der Erfahrung, dass manches sonst rung (z.B. Emirate am Golf) und sol- keiner Seite unterstützt, sondern nur noch, was als recht hoffnungsvoll chen mit viel mehr Bevölkerung, aber dann ins politische Kalkül einbezo- aussah, ebenfalls zu einer herben deutlich weniger Reichtum (z.B. Irak, gen, wenn es den eigenen Herrscher- Enttäuschung wurde. Nur zwei Tatsa- Syrien) erklären. Nicht wenige Men- interessen nützte. chen sollen dies belegen: manch ein schen in diesen Ländern haben den Entwicklungsprojekt hatte negative Eindruck, dass sich der sogenannte Der sozialistische Weg versuchte, die Nebenwirkungen, die so stark waren, Westen gegen sie verschworen habe angestrebte wirtschaftliche Unab- dass der positive Nutzen des Projek- und alles tue, um sie auf keinen Fall hängigkeit durch eine Anlehnung an tes ganz in den Hintergrund getreten

11 Vgl. dazu Reinhard Schulze: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 1994

10 Der Islam als politischer Faktor ist; die politische Anbindung einiger chend wird der westlichen Wirt- geltend machen, müssen sich aber Länder an den Westen war nicht sel- schaftsordnung eine islamische, der auch Schwachpunkte vorwerfen las- ten gepaart mit massiver Verfolgung westlich orientierten Herrschaft der sen, die nicht zu entkräften sind. Da- aller Kritiker dieses Weges und hat Unterdrückung eine islamische Regie- raus folgt, dass die gegenwärtige De- somit einen internen Druck im Land rung, dem westlichen Lippenbekennt- batte unter Muslimen in hohem erzeugt, der Zweifel an der tatsächli- nis von Menschenrechten, wie es kon- Maße von der Kenntnis und Interpre- chen Freiheit durch dieses Bündnis kret in diesen Ländern mit ganz ande- tation der einzelnen Phasen der für die großen Massen aufkommen rer Praxis im Umgang mit Andersden- Frühgeschichte des Islam geprägt ließ. Die Berichte von Amnesty inter- kenden erfahren wird, ein islamisch wird. Pointiert gesagt, erscheint das national zeigen, dass sich die mit orientierter Verhaltenscodex gegen- Ringen um eine Antwort auf die westlichen Ländern eng verbündeten übergestellt. Die Hoffnung auf die Fragen von heute wie eine erneute Länder wie die Türkei, Ägypten, islamische Lösung soll daher Abhilfe Positionsbestimmung dessen, was ge- Saudi-Arabien, Algerien oder gegenüber allen Fehlentwicklungen schichtlich vorgebildet ist, wobei der Marokko keineswegs durch eine be- im eigenen Lande schaffen. Rückgriff auf die eigene Tradition als sondere Achtung der Menschenrech- Alternative zum so genannten te auszeichnen, sondern dass Über- Das Ideal ist damit klar: der Islam soll Westen konzipiert ist. Aus diesem griffe durch Staatsorgane, Folter und Lösung für alle Probleme bringen. Grunde wird im folgenden zunächst Todesstrafen durchaus üblich sind Richtig ist, dass die meisten dieser „Der Islam zur Zeit Mohammeds“ be- und folglich Gegenreaktionen auf Probleme von außen in die islamische schrieben, wobei „Die fünf Säulen Seiten der Bevölkerung heraufbe- Welt hineingekommen sind. Die Fra- des Islam“ und „Fatalismus und schwören, denen die Herrschenden ge ist nur, wie man mit dieser Er- menschliche Ordnung“ gesondert mit noch mehr Druck begegnen und kenntnis umgeht und welche Schluss- behandelt werden. Danach werden dadurch den Spielraum für Reformen folgerungen daraus zu ziehen sind „Die Zeit nach Mohammed“ und des Systems im Sinne von mehr Frei- und wie die islamischen Lösungen „Unterschiedliche Gruppierungen in- heit für die Bürger und Bürgerinnen dafür aussehen. Beim Versuch, auf nerhalb des Islam“ betrachtet und sowie größerer Achtung der Men- diese Fragen zu antworten, zeigen ein Kapitel über „Die Ethik des Islam“ schenrechte immer kleiner werden sich schnell große Unterschiede zwi- angeschlossen, um schließlich all die lassen. schen den Muslimen. Die radikalste gewonnenen Einsichten in einem Lösung wäre zu sagen, man müsse al- „Schluss“ zu bündeln, aus dem sich Angesichts dieser Negativentwick- les wieder exportieren, was an Ein- die heute gängigen Vorstellungen lungen, die alle durch Aktionen vom flüssen importiert worden ist, und bezüglich dieses Rückgriffs auf die Westen und der mit ihm im Bunde zum Islam in seiner ursprünglichen Frühzeit des Islam und der damit ver- stehenden Herrschenden eingeleitet Form zurückkehren. Doch selbst bei bundene Versuch, zur ursprünglichen worden sind, richten sich die Hoff- einer solch radikalen Lösung bleiben Form zurückzukehren, ergeben. nungen vieler auf das Reformpoten- Fragen bestehen. Zum einen will zial der eigenen Tradition: des Islam, nämlich niemand auf alle Errungen- der im Mittelalter eine Hochblüte in schaften der Moderne verzichten, allen Bereichen hervorgebracht und was spätestens am Gebrauch der 2 Der Islam somit schon einmal in der Vergan- Waffen deutlich wird, denn niemand zur Zeit Mohammeds genheit nach Meinung vieler schlägt die Waffen Mohammeds vor, bewiesen hat, dass er grundsätzlich sondern alle wollen moderne Waffen Das Idealbild, das die Theologen der zur Schaffung von Höchstleistungen und somit westliche Produkte und unterschiedlichen Richtungen inner- in der Lage ist, wenn nur alle sich die- den Umgang mit ihnen importieren. halb des Islam von der Zeit Moham- sem Ziel verschreiben. „Der Koran ist Gleiches gilt für moderne Transport- meds zeichnen, stellt den Islam als die Lösung“, heißt daher die verkürz- mittel, Elektrizität und Exportge- eine Einheit von Sprache, Sitte te Verheißungsformel des FIS in Alge- schäfte. Doch selbst wenn ganz hypo- (= adab), Religion, Geschichte, Kultur rien, und mehr oder weniger denken thetisch dies alles aufgebbar wäre, und traditionellem Erbe12, kurz – in alle mit dem bisherigen Zustand Un- bleibt immer noch als Frage, was es der klassisch gewordenen Einheit –: zufriedenen in dieser Weise. heißt, zur ursprünglichen Form des als Religion und staatlich-politisches Islam zurückzukehren. Wann war der Gesellschaftssystem (din wa-dawla) Der religiös-islamische Weg wird so- Islam in seiner ursprünglichen Form zugleich dar. Eine Trennung beider mit zum bislang letzten Versuch, ei- existent: zur Zeit von Mohammeds Bereiche ist für die Muslime auch in nen eigenen Weg zum Fortschritt und Offenbarung, zur Zeit der ersten Kali- Zukunft nicht denkbar.13 Damit ent- zur eigenen Entwicklung sowie zur fen, im Mittelalter oder wann und fällt eine Unterscheidung nach dem freien Entfaltung und zur Unabhän- wo? biblischen Motto: „Gebt dem Kaiser, gigkeit gegenüber allen Diktaten und was des Kaisers ist, und Gott, was Vorgaben von außen einzuschlagen, Die Antwort auf diese Fragen fällt Gottes ist” (Matthäus 22, 21). Dem- nachdem alle anderen Wege – wie ge- bei den einzelnen Muslimen unter- gegenüber gilt für den Islam: „er will rade gezeigt – nicht zum erwünschten schiedlich aus, und alle Antworten Mensch und Welt integral erfassen Ergebnis geführt haben. Dementspre- können starke Argumente für sich und kennt darum keine Trennung

12 Anwar al-Djundi: Macalim al-fikr al-carabi al-muca‚ir maca dirasa min al-thakafa al-carabiyya al-muca‚ira fi macarik al-taghrib, Kairo o.J. (um 1965) S. 147ff. Vgl. diesbezüglich auch den Beitrag von Georges C. Anawati: Zur Geschichte der Begegnung von Christentum und Islam, in Der Gott des Christentums und des , hrsg. von Andreas Bsteh, Mödling bei Wien 1978 S. 11–35, bes. 12ff 13 Vgl. u. a. Fu’ad Fakhr al-din: Mustakbal al-muslimin, Kairo 1976 S. 252 14 Josef van Ess: Islam, in Die fünf großen Weltreligionen, hrsg. von Emma Brunner-Traut, Freiburg – Basel – Wien 1974 S. 67–84, hier S. 70

11 Der Islam zur Zeit Mohammeds zwischen Weltlichem und Geistli- 2.1.1 Die Offenbarungsgeschichte auch für die schriftlich fixierten Bot- chem.“14 schaften von Moses und Jesus, Die islamische Sicht der Redaktions- d.h. die Bibel als hl. Schrift. Infolge- So simpel diese Aussage erscheint, so geschichte des Koran unterstützt die dessen haben die „Schriftbesitzer“ problemgeladen ist ihre Implikation innerhalb der islamischen Theologie (Ahl al-kitab), nämlich Juden und in der Moderne, da hier – dem eu- systematisierte und bis heute vertre- Christen, zwar an der Offenbarungs- ropäischen Vorbild der Säkularisie- tene Lehrmeinung von der Offenba- wahrheit teil, doch ist diese Wahrheit rung folgend – die Trennung von Re- rung, die sich weitgehend – zumin- zum Teil getrübt durch mehr oder ligion einerseits und Politik – Recht – dest in den Einzelaussagen – schon weniger gravierende Verfälschun- Wirtschaft etc. andererseits zum Prin- im Koran findet. Danach hat Gott gen. Auf eine einfache Formel ge- zip erhoben wurde. Doch auch für die dem Menschen wiederholt geoffen- bracht, könnte man sagen: die Bibel Zeit Mohammeds selbst liegen die bart, was er vom Menschen will. Dies sei eine Mischung von Dichtung und Dinge nicht so einfach, wie es die geschah zum erstenmal in der Offen- Wahrheit. islamischen Theologen glauben ma- barung an Adam und historisch zum chen wollen. letzten Male durch Mohammed. Die Diese Sicht der Dinge erklärt, wes- lange Reihe der Propheten und Ge- halb jeder weitere Prophet, der die 2.1 Der Koran als Offenbarung sandten erklärt sich dadurch, dass die ursprüngliche Botschaft wiederholt, Botschaft dieser Propheten immer als Künder einer neuen Lehre von Die Argumentation der Theologen wieder Veränderungen erfuhr, weil den Anhängern der früheren Prophe- stützt sich auf den Koran, den sie als die Zuhörer und Überlieferer die ur- ten begriffen wird. In Wahrheit han- von Gott in der vorliegenden Form sprüngliche Botschaft verkürzt und delt es sich dabei nur um das Offen- Mohammed eingegeben und von lückenhaft weitergegeben haben. barwerden der Überlieferungsfehler, ihm dann verkündet ansehen. Sie be- Bei dem Versuch, auffällige Uneben- um die kritische Scheidung von Dich- achten dabei kaum, dass der Koran heiten in der Überlieferung zu über- tung und Wahrheit also und in die- noch kein theologisches oder juristi- winden, kam es häufig zu noch sem Sinne um eine Ent-Scheidung für sches System enthält, sondern ledig- größerer Verstrickung im Irrtum. Als jeden Menschen, die neue Botschaft lich erste Bausteine zu einem solchen, eklatantes Beispiel hierfür gilt die anzunehmen oder abzulehnen. und die frühe Religionsgeschichte christologische Entwicklung inner- des Islam zeigt sehr deutlich, dass mit halb des Christentums. Der einmal Was bisher relativ subjektiv klingt, Hilfe ein und desselben Koran durch- fälschlich eingeschlagene Weg führte wurde historisch nach Auffassung der aus unterschiedliche Theologien und nach islamischer Vorstellung – weit Muslime konkret in der Botschaft Rechtsschulen entwickelt werden über das Neue Testament hinaus – in Mohammeds. Diese Botschaft – im konnten und tatsächlich auch ent- eine dogmatische Verirrung, die aus Koran gesammelt –, „dies ist die standen sind.15 islamischer Sicht viel gravierender Schrift, an der nicht zweifeln ist, (ge- und verhängnisvoller ist als all das, offenbart) als Rechtleitung für die Völlig fremd ist den Muslimen – und was im Neuen Testament selbst be- Gottesfürchtigen“ (Koran 2, 1). Im bis zur Stunde auch den meisten reits an ansatzweisem Irrtum fest- Gegensatz zu den früheren Prophe- Islamwissenschaftlern des Westens – geschrieben ist. Der Grundirrtum, der ten und Gottesgesandten aber, so be- eine Vorstellung, die von John Wans- hier von den Muslimen angeprangert tonen die islamischen Theologen, sei brough formuliert wurde und derzu- wird, besteht – um es mit der Sprache Mohammed mit dem ausdrücklichen folge der Koran selbst als Nieder- moderner christlicher Bibelauslegung Auftrag aufgetreten – wie historisch schlag bestimmter, durchaus hetero- zu sagen – darin, dass die Apostel sich vor ihm schon Mani (216 – 277)! –, gener „Gemeindetheologien“ des nicht damit begnügten, die Botschaft diese Botschaft aufschreiben zu las- frühen Islam anzusehen sei und da- des historischen Jesus von Nazareth sen. Die Sammlung dieser Texte, die mit in seiner heutigen Form nur sehr zu wiederholen, sondern stattdessen in 114 Suren (= Kapiteln) von sehr un- indirekt auf den Propheten selbst ihn selbst als den Heiland, den Mes- terschiedlicher Länge eingeteilt und zurückgehe.16 Stattdessen ist es üb- sias, den Christus verkündigten. Der rein formal nach abnehmender Län- lich, eine relativ kurze Redaktionsge- Übergang vom verkündigenden Je- ge (Ausnahme: die kurze erste Sure, schichte anzunehmen. Danach wären sus zum verkündigten Christus aber al-fatiha = die eröffnende) geordnet die Verkündigungen Mohammeds ist nach Auffassung des Koran und sind, bleibt durch die schriftliche Fi- teilweise schon zu Mohammeds Leb- der Muslime eine unzulässige Ak- xierung von Verfälschungen, wie sie zeiten und in größerem Ausmaß in zentverschiebung mit erheblichen frühere Offenbarungen erfuhren, den ersten Jahren nach Mohammeds dogmatischen Folgen, kurz: eine Ver- verschont. Folgerichtig sind fürder- Tod (632 n. Chr.) gesammelt worden. fälschung (tahrif). hin keine Wiederholungen der ur- Die Endredaktion des heute vorlie- sprünglichen Botschaft durch neue genden Koran sei unter dem 3. Kali- Der Vorwurf der Verfälschung der Propheten mehr erforderlich. Jeder fen Uthman (644 – 656) erfolgt. göttlichen Offenbarung trifft somit kann diese Botschaft ohne Verfäl- Nachher habe der Koran keine weite- nicht nur die mündliche Weitergabe schung durch Rezitieren des Koran ren Umformulierungen mehr erlebt. prophetischer Verkündigung, er gilt wiederholen.

15 Vgl. dazu Tilman Nagel: Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1994 oder sehr viel ausführlicher W. Montgomery Watt u. Alford T. Welch: Der Islam I. Mohammed und die Frühzeit – Islamisches Recht – Religiöses Leben, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1980; W. Montgomery Watt u. Michael Marmura: Der Islam II. Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1985 und Annemarie Schimmel u.a.: Der Islam III. Islamische Kultur – Zeitgenössische Strömungen – Volksfrömmigkeit, Stuttgart – Berlin – Köln 1990 16 John Wansbrough: Quranic Studies. Sources and Methods of Scriptural Interpretation, London 1977. Vgl. dazu u.a. Kurt Rudolph: Neue Wege der Qoranforschung?, in Theologische Literaturzeitung 105 (1980) S. 2ff

12 Der Islam zur Zeit Mohammeds

2.1.2 Gott als Autor des Koran Die Frage nach dem „historischen letztgenannten dagegen oft im Stile Mohammed“ soll hier nicht weiter präziser Einzelanweisungen. Damit Mohammed schließt somit die lange behandelt werden. Die Ausführun- ist zugleich die inhaltliche Seite Reihe der Propheten ab, er besiegelt gen sollen lediglich zweierlei deutli- berührt. In Mekka stehen, so will es sie und wird deshalb „das Siegel der chen machen: zum einen sollen sie scheinen, mehr „theologische Frage- Propheten“ genannt. Der von ihm zeigen, dass Mohammed zum Ideal- stellungen“ im Vordergrund. Es geht verkündete Text ist also nicht von ihm bild verschiedener Tendenzen stili- neben allgemeinen ethischen Regeln verfasst. Er hat Gott selbst zum Autor siert wurde und daher unterschiedli- im Sinne der 10 Gebote vornehmlich und führt dafür ein rein „profanes“ che Züge wichtig wurden, und zum um das Bekenntnis des einen und Argument an, nämlich die Unnach- anderen soll verständlich werden, einzigen Gottes und um die Frage ahmlichkeit seiner Sprache, das gött- weshalb die Muslime eine historisch- der Auferstehung; in Medina kom- lich schöne Arabisch des Koran.17 Kein kritische Untersuchung des Koran ab- men zu diesen Aussagen konkrete Mensch, so wird gesagt, sei fähig, lehnen und den europäischen Islam- Verhaltensregeln für den zwi- arabische Sätze von der Qualität wissenschaftlern übelnehmen, dass schenmenschlichen Bereich hinzu. der Sätze des Koran zu formulieren. sie den Koran als Werk Mohammeds Dieses einzigartige Sprachwunder, ansehen.20 das im übrigen den Philologen der islamischen Welt wie der westlichen 2.2 Monotheismus und Ethik Wissenschaft zahllose Verständnis- 2.1.3 Islamische Textkritik probleme aufgibt, wird um so Es muss hier eigens betont werden, wunderbarer, wenn zutrifft, dass Lediglich in einer Hinsicht gibt es ei- dass das Bekenntnis eines einzigen Mohammed selbst relativ ungebildet ne ansatzweise historisch-kritische Gottes nicht generell neu war auf der war, eine Verfasserschaft für den Betrachtungsweise des Koran: Es hat arabischen Halbinsel, wie dies oft Koran also schon aufgrund von sich eingebürgert, dass die Muslime islamische Theologen glauben ma- Mohammeds Bildung für ihn selbst die einzelnen Suren (wie aus der chen möchten, indem sie rundweg ausscheidet. So wird verständlich, Reclam-Übersetzung des Koran er- die Zeit vor Mohammed als die Zeit dass immer wieder – vor allem in der sichtlich) im wesentlichen den beiden der Unwissenheit (djahiliyya)21 ab- frühen Zeit des Islam – die Biogra- Hauptverkündigungsphasen im Le- qualifizieren. Seit langem gab es phen versucht haben, Mohammeds ben Mohammeds zuordnen. Dem- Juden (allein 2 jüdische Stämme Ungebildetheit zu unterstreichen. entsprechend sind die „mekkani- wohnten in Medina), und es gab Man wurde nicht müde zu betonen, schen Suren“ die, die in der Zeit von auch Christen sehr unterschiedlicher dass er weder lesen noch schreiben 610 – 622 n. Chr. von Mohammed in Prägung im Bereich des heutigen konnte, was allerdings für eine ad- seiner Geburts- und Heimatstadt Königreiches Saudi-Arabien. Claus äquate Einschätzung der poetischen Mekka verkündet wurden. Die „me- Schedl22 hat in einer umfangreichen Begabung von Beduinen relativ be- dinensischen Suren“ sind dann die, Studie zeigen können, wie stark ge- langlos sein dürfte. Erst durch die die nach der Hidjra (= Auswande- rade die Passagen des Koran über Je- Auseinandersetzung mit Christen, rung; zugleich Beginn der islami- sus Anspielungen auf und Gedan- die Mohammeds Bedeutung im Ver- schen Zeitrechnung) in der Zeit von kengänge von Thesen enthalten, die gleich zu Jesus aufgrund fehlender 622 – 632 n. Chr. in Medina verkün- durchaus innerhalb des orientali- Wunder herabwürdigen wollten, ge- det wurden. schen Christentums vertreten wur- wann das Mohammedbild Züge eines den und sicherlich in der Umwelt des Wundertäters, was mit den Aussagen Schaut man sich die Suren sprachlich Propheten Mohammed nicht gene- des Koran über Mohammed nicht in und inhaltlich genauer an, so fällt rell unbekannt gewesen waren, so Einklang gebracht werden kann. Des auf, dass sich die mekkanischen dass der Prophet mit seiner Botschaft weiteren gewann das Mohammed- Suren deutlich von den medinensi- etwas verkündet hat, was auch bild neue Züge in der islamischen schen unterscheiden. Die erst- tatsächlich von seinen Adressaten Mystik18 wie auch in der Moderne.19 genannten sind wortgewaltig, die verstanden wurde.

17 Vgl. hierzu den Art. Icdjaz, in The Encyclopaedia of Islam, new edition, Leiden – London (vol. I ab 1960ff), im folgenden EI abgekürzt, hier EI III S. 1018–1020. Gott als Autor des Koran zu sehen bedeutet, dass der Text in der vorliegenden Form sakrosankt ist. Nach islamischer Auffassung ist das Wort Gottes im Koran „Buch“ geworden, so dass diese „Inlibration“ des Wortes Gottes mit der „Inkarnation“ des Wortes Gottes in Jesus Christus verglichen werden kann. Aus diesem Grunde reagieren die Muslime auf jeden Versuch einer literarkritischen oder historisch kritischen Untersuchung des Koran sehr empfindlich, wie es sich wieder einmal seit 1995 im Streit um das Buch von Nasr Hamid Abu Zaid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt/M 1996 gezeigt hat. Dort, wo Umschriften für orientalische Wörter benutzt werden und dabei nicht auf im Deutschen gängige Weisen der Umschrift zurückgegriffen wird, folgt die Transkription im Text wie in den Anmerkungen – von Zitaten abgesehen – den Regeln der EI. 18 Vgl. dazu Annemarie Schimmel: Und Muhammad ist Sein Prophet. Die Verehrung des Propheten in der islamischen Frömmigkeit, München, 2., ver- besserte Aufl. 1989 S. 51ff 19 Vgl. etwa Antonie Wessels: A Modern Arabic Biography of Muhammad. A Critical Study of Muhammad Husayn Haykal’s Hayat Muhammad, Lei- den 1972 20 Die beiden wichtigsten Darstellungen des Lebens von Mohammed in deutscher Sprache sind Rudi Paret: Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz, 7. Aufl. 1991 und Maxime Rodinson: Mohammed, Luzern – Frank- furt a. M. 1975. Vgl. dazu Peter Antes: Muhammad, in Peter Antes (Hrsg.): Große Religionsstifter. Zarathustra, Mose, Jesus, Mani, Muhammad, Nanak, Buddha, Konfuzius, Lao Zi, München 1992 S. 91–114 21 Vgl. hierzu den Art. Djahiliyya, in EI II S. 383f 22 Claus Schedl: Muhammad und Jesus. Die christologisch relevanten Texte des Koran, Freiburg 1978

13 Der Islam zur Zeit Mohammeds

Während Juden und Christen wohl Wie wir gesehen haben, waren das tan hat, wird er es zu sehen bekom- schon seit längerer Zeit in dieser po- Judentum und das Christentum men. Und wenn einer (auch nur) das lytheistischen Umgebung mono- bekannt, wenn auch in bisweilen et- Gewicht eines Stäubchens an Bösem theistische Glaubensvorstellungen was abirrenden Erscheinungsformen. getan hat, wird er es (ebenfalls) zu vertraten, ohne dadurch grundlegen- Aber es waren fremde Ideologien, an sehen bekommen.“ (Koran 99, 6 – 8) de Änderungen in den Anschauun- die Mächte gebunden, die um die Be- gen ihrer Zeitgenossen zu bewirken, herrschung der Arabischen Halbinsel Die Predigt Mohammeds in Mekka scheint die Zeit Mohammeds von ei- im Streit lagen. Sie besaßen das Pre- war nicht sehr erfolgreich gewesen. nem gewissen Umbruch im Denken stige des Ausländischen, ihres unbe- Lediglich eine kleine Schar Getreuer geprägt zu sein. Es entwickelte sich streitbar der Stammesreligion überle- folgte ihm. Die Ablehnung und der eine merkantile Wirtschaft. genen Niveaus, ihrer Bande mit hoch- Widerstand der Mekkaner wuchs, so angesehenen Zivilisationen. Aber dass Mohammed allmählich mit dem „Ein Auflösungsprozess der Stam- sich zu ihnen bekennen war gleich- Gedanken zu spielen begann, seine mesgesellschaft begann. Die großen bedeutend mit einer politischen Par- Heimatstadt zu verlassen. Märkte wie jener von Okas blühten. teinahme, und dieser Schritt war für Dort begegnete man Arabern aller den arabischen Stolz ziemlich demü- „Es gelang dem Propheten, von Stämme und Ausländern. Der Rah- tigend. Es gab Leute, die tastend Mekka aus mit einigen Bewohnern men des Staates war gesprengt. neue Wege suchten, sich von frem- von Medina Verbindung aufzuneh- den Ideen leiten ließen, um die men und sie für seinen Glauben zu Eine intellektuelle und moralische Macht der zahllosen Stammesgott- gewinnen. Während der Pilgerfahrt Wandlung begleitete ganz selbstver- heiten in Frage zu stellen und nur des Jahres 621 wurde eine vorläufige, ständlich diesen wirtschaftlichen und den alleinigen zu fürchten, der während der des Jahres 622 eine end- sozialen Wandel. Man stellte fest, dem höchsten christlichen und jüdi- gültige Abmachung getroffen. Die dass unersättliche Individuen Erfolg schen Gott so nahe stand.“23 Neubekehrten von Medina, An- hatten. Es waren nicht mehr die tra- gehörige der beiden führenden ditionellen Eigenschaften der Söhne In dem so umschriebenen Umbruch Stämme Aus und Óazrag, bekannten der Wüste, die den Erfolg gewähr- scheint die Verkündigung Moham- sich in aller Form zur Gemeinschaft ten. Die Habgier, die Gewinnsucht meds alle wichtigen Erwartungen der der Gläubigen und erklärten sich waren bedeutend dringender von- Araber erfüllt zu haben. Es ist für die- außerdem bereit, die kollektive nöten. Die eitlen und eingebildeten sen Umbruch kennzeichnend, dass Schutz- und Trutzpflicht, die eigent- Reichen rühmten sich ihres Aufstiegs, Mohammeds Verkündigung nicht lich seiner Sippe Hasim oblag, ihrer- der nunmehr ihr eigener war und konkurrenzlos war. Von einigen wei- seits zu übernehmen. Dadurch waren nicht mehr der des Stammes. Die teren wissen die islamischen Historio- die Voraussetzungen gegeben für ei- Blutsbande lockerten sich und verlo- graphen zu berichten: der bekannte- ne regelrechte Auswanderung der ren gegenüber den auf Interessenge- ste davon ist Musailima, eine verächt- muslimischen Gemeinde und über- meinschaft gegründeten Banden zu- liche Verkleinerungsform für Masla- haupt für deren Fortbestand. Bald nehmend an Bedeutung. ma, der als Prophet gleichzeitig mit darauf begaben sich die mekkani- Mohammed bei den BanuHanifa in schen Gläubigen in kleinen Gruppen Von nun an tauchten jenseits des Yamama aufgetreten ist.24 und möglichst unauffällig auf den Stammeshumanismus neue Werte Weg nach Medina, gefolgt von Mo- auf. Die Armen, die Jungen, die hammed in Begleitung Abu Bekrs, Rechtschaffenen mochten wohl an- 2.2.1 Mohammeds Predigt in Mekka des nachmaligen ersten Kalifen (Sep- gesichts der Selbstherrlichkeit der tember 622). Das war die berühmte Emporkömmlinge leiden. Man emp- Mohammeds Predigt in Mekka war Higra. Man übersetzt diesen arabi- fand dunkel, dass das alte Stammes- – wie vermutlich die des Musailima – schen Ausdruck oft ungenau mit ideal, in dessen Namen man diese konzentriert auf das Bekenntnis des ,Flucht‘, sollte aber eher ,Auswande- Leute hätte kritisieren können, sei- einen Gottes25 und auf eine allgemei- rung‘ oder noch besser ,Emigration‘ nen Wert eingebüßt hatte. Nun ne Moral, der der einzelne entspre- dafür sagen. Mohammed ist aus sei- wandte man sich den universalisti- chen sollte, um im Gericht nach dem ner Vaterstadt nicht eigentlich geflo- schen Religionen zu, den Religionen Tode bestehen zu können: „An je- hen. Er hat sich – allerdings unter des Individuums, jenen, die nicht nem Tage werden die Menschen dem Zwang der Verhältnisse – von ihr mehr den ethnischen Verband betra- (voneinander) getrennt hervorkom- losgesagt; er hat die natürlichen Be- fen, sondern darauf abzielten, das men, um ihre (während des Erdenle- ziehungen zu seiner Sippe und sei- Heil einer jeden menschlichen Person bens vollbrachten) Werke zu sehen. nem Stamm abgebrochen, um unter in ihrer unvergleichlichen Einmalig- Wenn dann einer (auch nur) das Ge- den Bewohnern von Medina eine keit zu erlangen. wicht eines Stäubchens an Gutem ge- neue Heimat und zugleich eine neue

23 Rodinson, a.a.O. S. 43f 24 Vgl. hierzu den Art. Musailima, in J. A. Wensinck u. J. H. Kramers (Hrsg.): Handwörterbuch des Islam, Leiden 1941 S. 548f. Der Ausdruck „hanif“ wird im Koran zum terminus technicus, um einen Monotheisten zu bezeichnen, der weder Jude noch Christ ist. Zu den Propheten parallel zu Mohammed vgl. auch Art. Islam, in Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von G. Krause u. G. Müller, Berlin – New York Bd. 16 (1987) S. 315–358, hier S. 318 25 Gewöhnlich legt man diese Predigt im Sinne eines monotheistischen Bekenntnisses aus. Vielleicht hat aber Rodinson, a.a.O. S. 99 recht, wenn er für die erste Predigtphase Mohammeds nur ein henotheistisches Bekenntnis annimmt.

14 Der Islam zur Zeit Mohammeds

Stätte der Wirksamkeit zu finden. Er ner Amme) zum Stillen geben wollt, Der Hinweis auf diese Präzedenz- ist, kurz gesagt, nach Medina emi- ist es keine Sünde für euch (dies zu fallslösungen und die Abrogations- griert.“26 tun), wenn ihr das, was ihr (als Lohn problematik macht deutlich, dass für das Stillen?) ausgesetzt habt, in mit der Sammlung der Verkündi- rechtlicher Weise aushändigt. Und gungstexte und der Redaktion des 2.2.2 Mohammeds Predigt in Medina fürchtet Gott! Ihr müsst wissen, dass Koran bei weitem noch kein ferti- Gott wohl durchschaut, was ihr tut.“ ges Handbuch der islamischen Die Gemeinde von Medina ist das Ur- (Koran 2, 233) Ethik oder Rechtsverordnungen bild der islamischen Gemeinschaft vorlag. Es war folglich die Aufgabe (umma) überhaupt. Nicht die Bluts- Eine solche Verkündigung – und das der ersten Theologen- und Juristen- bande, also Sippen- und Stammeszu- wissen auch die islamischen Koran- generationen des frühen Islam, aus gehörigkeit, zählen, sondern die ge- kommentatoren – erging gewöhnlich den koranischen Bausteinen ein meinsame Religion wird zum ge- aus einem konkreten historischen kohärentes System zu entwickeln, meinschaftsstiftenden Faktor. Nur so Anlass. Allerdings nahm die Lösung und zwar sowohl hinsichtlich der ist zu verstehen, dass bis heute der des konkreten Problems dann meist Individualethik als auch hinsichtlich Abfall vom Glauben als ein Akt ge- die deklamatorische Form eines der Gesellschaftslehre. Der Verlauf gen die Gemeinschaft ausgelegt und Grundsatzurteils an. Am bekann- der Geschichte zeigt, dass mehrere entsprechend hart bestraft wird.27 Zu- testen diesbezüglich ist sicherlich Rechtsschulen entstanden sind, die gleich wird verständlich, dass nun die die Antwort des Propheten auf die als legitime Schulen auf korani- Regeln des menschlichen Zusammen- Verdächtigung seiner Lieblingsfrau scher Basis von allen Muslimen bis lebens konkret und wirklichkeitsnah Aischa, sie habe ihn betrogen, indem heute anerkannt werden. formuliert werden. sie sich einem anderen Mann hinge- geben habe. Mohammed hat sie von Im Gegensatz zum Christentum, das diesem Verdacht aber freigespro- 2.2.4 Die Problematik der bekanntlich am Rande des römischen chen, weil – wie Koran 4, 15 seither konkreten Verordnungen29 Reiches entstanden ist und die ersten grundsätzlich fordert – vier Zeugen Jahrhunderte seines Bestehens ohne erforderlich sind, die im konkreten Die Offenheit des Koran für spätere öffentliche Anerkennung zugebracht Falle nicht verfügbar waren. Systematisierungen besagt nicht, hat, hatte der Islam seit der Hidjra dass die Vorgaben im Koran weni- politischen Erfolg. Er konnte sich ger verbindlich seien oder gar nicht mehr mit allgemeinen Aufru- 2.2.3 Die Abrogationsproblematik außer Acht gelassen werden könn- fen – vergleichbar denen der Berg- ten, sofern es sich nicht gerade um predigt – begnügen, sondern war in Aufgrund der erwähnten Präzedenz- Fragestellungen im Zusammen- den Realismus praktikabler Lösun- fallslösungen konnte es durchaus hang mit den erwähnten Abroga- gen hineingedrängt. Wie sehr die vorkommen, dass in einer konkreten tionen handelt. Zu den unumstößli- Anweisungen der medinensischen Situation eine Anweisung erfolgte, chen Vorgaben gehören viele, die Zeit ins Detail gehen, mag folgende die in einem gleichartigen Fall später eine deutliche Verbesserung ge- Koranstelle zeigen: „Und die Mütter anders ausfiel. Sind beide Anwei- genüber der vorislamischen Zeit (die von ihren Gatten entlassen sind) sungen im Koran enthalten, so hebt darstellen. Dazu zählen sicherlich sollen ihre Kinder zwei volle Jahre – ähnlich wie bei unserem Umgang die Verbesserungen des Loses der stillen. (Das gilt) für die, die das Stil- mit verschiedenartigen Anordnun- Waisen und die Sicherung ihres len ganz zu Ende führen wollen. Und gen in unterschiedlichen Testamen- Vermögens sowie eine Klärung der der Vater (der betreffenden Kinder) ten eines Verstorbenen – die zeitlich rechtlichen Stellung der Frau. Aller- ist verpflichtet, (während dieser Zeit) spätere die frühere auf28, d. h., dass dings, so erscheint es uns Eu- ihren Unterhalt und ihre Kleidung in Abrogationen koranischer Anwei- ropäern von heute, war dieser Fort- rechtlicher Weise zu bestreiten. Von sungen zu Lebzeiten Mohammeds schritt gegenüber der vorislami- niemand wird mehr verlangt, als er durchaus möglich waren und tatsäch- schen Zeit wohl nur ein relativer, (zu leisten) vermag. Eine Mutter soll lich auch vorkamen. Problematisch der seinerseits wieder überholt nicht wegen ihres Kindes schikaniert wurde dieses Vorgehen erst für die werden kann. Demgegenüber hal- werden, und ein Vater nicht wegen Zeit nach dem Tode Mohammeds, als ten ihn die meisten Muslime von des seinen. Und der Erbe (des Vaters) die Schiiten unter der Voraussetzung, heute für absolut, so dass beispiels- hat (für den Fall, dass dieser stirbt) dass ihr Führer () zugleich auch weise emanzipatorische Postulate dieselbe Verpflichtung (gegenüber Kalif ist, diesem ebenfalls ein solches von ihnen nur noch sehr einge- der stillenden Mutter). Und wenn die Recht für die umma zuschrieben, schränkt aufgenommen werden. beiden nach gegenseitiger Überein- während die überwiegende Mehr- kunft und Beratung (das Kind vor der heit der Muslime, die Sunniten (heu- Ein ähnliches Problem stellt sich im angegebenen Zeit) entwöhnen wol- te ca. 95 % aller Muslime), eine sol- Strafrecht. Handabhacken, Aus- len, ist es keine Sünde für sie (dies zu che Möglichkeit nicht mehr ein- peitschungen, Steinigungen usw. tun). Und wenn ihr eure Kinder (ei- räumten. erscheinen uns heute nicht mehr als

26 Paret, a.a.O. S. 111f 27 Vgl. hierzu z.B. S. A. Rahman: Punishment of Apostasy in Islam, Lahore 1978 28 Dies gilt auch für rein dogmatische Fragen wie die zeitweilige Zulassung der Verehrung dreier Göttinnen als „Töchter Allahs“, die später als „Ein- flüsterungen des Teufels“, also als „satanische Verse“ zurückgewiesen wurden, vgl. dazu Paret, a.a.O. S. 65–68 und S. 103f 29 Im folgenden werden nur einige Beispiele aus dem vielfältigen Bereich der islamischen Ethik erwähnt. Systematisch wird das Ganze unten im Kapitel „Die Ethik des Islam“ vorgestellt

15 Der Islam zur Zeit Mohammeds vertretbare Strafen. Viele islami- Beutearmee Muawijjas eine Frau rechtigkeit“, so wird argumentiert, sche Theologen aber sehen darin aus den (ethnischen oder religiö- soll die Grundlage des Staates und – im Gegensatz zum „humanen“ sen) Minoritäten schlecht behan- der Leitfaden für die Wirtschaft Strafvollzug – wahre Abschre- delt hatte, war er so unglücklich wie für jeden anderen Bereich ckungsstrafen, die keineswegs will- darüber und sein Mitgefühl war sein.33 Willkür ist demnach ausge- kürlich, sondern nach klar kalku- derart stark berührt, dass er in ei- schlossen. Jeder weiß, was ihm pas- lierbaren Regeln verhängt werden. ner Rede erklärte: ,Wenn nach ei- siert, wenn er das Gesetz übertritt; Mit aller Schärfe hat dies Ayatollah nem solchen Vorfall ein Mann vor er weiß auch, dass ihm nichts pas- Khomeini (gest. 1989) so formu- Gram stirbt, kann man ihm keinen siert, wenn er sich an die Anweisun- liert: „Wir brauchen einen Regie- Vorwurf machen.‘ Ali, der von einer gen des Gesetzes hält, und er ge- rungschef, der im Dienste der Ge- derartigen Feinfühligkeit war, war winnt aus der strikten Einhaltung setze und nicht seiner Launen oder aber dennoch fähig gewesen, sein des Gesetzes eine Rechtssicherheit, Leidenschaft steht; einen Herrscher, Schwert zu ziehen und die Übeltä- die ihn froh macht. Für den Fall der für den alle gleich sind, der nicht ter in Stücke zu hauen. Das ist Alis Übertretung des Gesetzes nützen Einzelne bevorzugt, sondern seine Gerechtigkeit.“31 ihm – anders als in der „westlichen“ (eigene) Familie mit denselben Au- Rechtssprechung – keine juristi- gen sieht, der die Hände seines Gerechtigkeit ist hier eine eigen- schen Kniffe oder raffinierte Pro- Sohnes abhackt, wenn er stiehlt, ständige Kategorie, die die Anwen- zesspraktiken. „Die Gerechtigkeit und seine Brüder und Schwestern dung im Sinne eines automatischen des Islam ist einfach und leicht. Sie hinrichtet, wenn sie mit Heroin Mechanismus voraussetzt. Sie ist löst alle Probleme des Straf- und Zi- handeln. Er darf nicht verfahren deshalb vielleicht am ehesten mit vilrechts auf die angenehmste, ein- wie gewisse Leute, die einen für dem Verhalten von Eltern ver- fachste und schnellste Art, die 10 Gramm Heroin umbringen, gleichbar, die ihr Kind wegen Fehl- denkbar ist. Es genügt, dass sich ein während sie zulassen, dass die verhaltens gehörig züchtigen, ohne islamischer Richter, begleitet von Händlerbanden und der Import im dass sie selbst – und oft auch das zwei oder drei Gehilfen, mit Feder- großen Stil florieren.“30 Was gefor- Kind – den Eindruck haben, ein sol- halter und Tintenfass in eine Stadt dert ist, heißt auf eine einfache For- ches Verhalten mindere ihre Liebe begibt, um über jeden beliebigen mel gebracht: gegenüber dem Kind. Zu Proble- Fall sein Urteil zu sprechen und es men führt das Verhalten dann – um sofort vollstrecken zu lassen. Hal- im Sinne Khomeinis dieses Beispiel ten Sie dagegen, was das gegen- 2.2.5 Gerechtigkeit weiterzudenken –, wenn beispiels- wärtig die westliche Gesellschaft an weise ein Mann oder eine Frau im- Zeit und Geld kostet mit all diesen im Sinne einer absoluten Gleichbe- mer nur das angetretene Kind Prozeduren, die ein Urteil im Na- handlung. Nur so ist zu verstehen, züchtigt, das eigene aber beim sel- men von Grundsätzen, die dem Is- dass Khomeini sagt: „Die, die die ben Fehlverhalten ohne Strafe da- lam fremd sind, umgeben.“34 Strafen verhängen, dürfen die An- vonkommen lässt. Solches – auf den weisungen des Gesetzes nicht über- Staat übertragen – war im Iran der Die Einhaltung des Gesetzes gilt in treten, d. h., sie dürfen nicht einen Pahlavis gang und gäbe, obwohl allen Bereichen und umfasst zahl- einzigen Peitschenhieb mehr ver- sich – wie die Schulbücher zeigen32 – reiche Einzelvorschriften. Dazu teilen als vom Gesetz vorgeschrie- der Schah als Vater des Landes fei- gehören ebenso sehr die Speisevor- ben, und sie dürfen die Schuldigen ern ließ, dem angeblich die gleiche schriften (z. B. Ablehnung des Ge- nicht beleidigen. Fürsorge eignete und die gleiche nusses von Götzenopfer- und Liebe entgegenbracht werden soll- Schweinefleisch, von gefallenen Nachdem Ali zwei Dieben die Hand te, wie dies für den Familienvater Tieren und Blut) wie das bekannte abgehackt hatte, behandelte er sie idealiter zutrifft. Verbot des Weintrinkens, des mit Güte und empfing sie mit sol- Glückspiels und des Wuchers.35 Un- cher Liebenswürdigkeit, dass die Gleiches Recht für alle war und ist ter den Geboten sind besonders be- Angeklagten ihn zu verehren be- daher die Forderung der islami- kannt die sogenannten fünf arkan gannen; oder als er hörte, dass die schen Theologen, und „wahre Ge- (= Pfeiler oder Säulen) des Islam.

30 Ayatollah Seyyed Ruhollah Khomeyni: Pour un gouvernement islamique, Paris 1979 S. 117 31 Khomeyni, a.a.O. S. 76f. Als ein Beispiel aus der Geschichte kann dienen der Text über Saladin in Francesco Gabrieli: Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, München 1975 S. 136f 32 Vgl. hierzu Peter Antes: Religiöse Erziehung in Iran, in Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans Robert Roemer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ulrich Haarmann und Peter Bachmann, Beirut 1979 S. 35–43 (Reihe: Beiruter Texte und Studien, Bd 22) 33 Vgl. dazu u.a. Mu‚tafa Kamal Wa‚fi: Al-nuzum al-islamiyya al-asasiyya, Kairo o. J. (um 1976) S. 33f u. 62ff oder Muhammad al-Khidr Husayn: Rasa’il al-i.slah, Damaskus 1971 S. 79ff. Allgemein hierzu vgl. Adel Th. Khoury: Begegnung mit dem Islam. Eine Einführung, Freiburg – Basel – Wien 1980 S. 78 34 Ayatollah Khomeiny: Principes politiques, philosophiques, sociaux et religieux. Extraits de trois ouvrages majeurs de l’Ayatollah, Paris 1979 S. 25f. Bei den „zwei oder drei Gehilfen“ habe ich „exécuteurs“ (Henker) mit Blick auf die Allgemeinheit der Prozesse sehr abgeschwächt übersetzt. Die Wirklichkeit in Iran lässt Zweifel an dieser abgeschwächten Übersetzung als berechtigt erscheinen, vgl. dazu Andreas Kohlschütter: Henker von Allahs Gnaden. Grausam und gnadenlos: der Revolutionsrichter Khalkhali, in Die Zeit Nr. 34 vom 5. August 1980 S. 5. Die spätere Entwicklung in Iran sowie in Afghanistan und anderswo, wo islamische Gerichtsbarkeit angewendet worden ist, bestätigen diese traurige Bilanz. 35 Damit ist nach klassischer Auslegung ein Zinsverbot ausgesprochen. Allerdings haben es die Muslime historisch durch geeignete „Kniffe“ (arab.: hila, pl. hiyal) dann doch oft erreicht, zum gewünschten Ziel zu gelangen, vgl. dazu Joseph Schacht: An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964 S. 78ff, 114, 200 u.ö.

16 Die fünf Säulen des Islam

3 Die fünf Säulen des Propheten Mohammed als „Moham- für Islam und Muslim gebräuchlich Islam medaner“ zu bezeichnen. Man folgt ist, ist völlig falsch und irreführend. dabei zwar einem für viele Religio- Sie wird von allen Muslimen auf das Die fünf Säulen des Islam werden von nen zutreffenden Brauch, der aber schärfste abgelehnt. Für sie ist allen Muslimen anerkannt. Es sind nach Meinung der Muslime beim Muhammad kein Gott, sondern der dies im Einzelnen: Islam, dessen Prophet nur als letzte aus der langen Reihe von Pro- „Sprachrohr Gottes“ aufgefasst und pheten des Islam.“36 dessen Verfasserschaft (oder Mitver- 3.1 Die Bekenntnisformel (shahada) fasserschaft) beim Koran kategorisch abgelehnt wird, fehl am Platze ist. 3.2 Das Gebet (‚alat) Die erste Pflicht des Muslim ist es, die Der bekannte islamische Theologe shahada zu sprechen: „Ich bezeuge, Maudoodi stellt diese Eigentümlich- Es handelt sich hierbei um ein rituel- es gibt keine Gottheit außer Gott; ich keit so dar: les Gebet, das in festgelegten For- bezeuge, Mohammed ist der Gesand- meln zu bestimmten Zeiten gebetet te Gottes.“ „Nahezu jede Religion der Welt ist werden muss. Im Koran selbst sind als entweder nach ihrem Begründer Zeiten des Gebetes nur der Morgen, Es erübrigt sich hier, all das zu wie- oder nach dem Volk, bei dem sie der Abend und die Nacht für die derholen, was über den Monotheis- ihren Ursprung nahm, benannt wor- mekkanische Zeit und der Morgen, mus und die Rolle Mohammeds in- den. Das Christentum beispielsweise der Mittag und der Abend für die nerhalb des Islam gesagt wurde. Zur leitet seine Bezeichnung vom Namen medinensische Zeit zu belegen. Das Übersetzung aber sei zunächst eine des Propheten Jesus Christus ab, der später übliche fünfmalige Gebet lässt Bemerkung erlaubt. Statt des be- Buddhismus von seinem Begründer sich im Koran nicht belegen.37 Dage- kannten Wortes „Allah“ wird hier Gautama Buddha, der Zoroastrismus gen geht die äußere Form dieser kul- „Gott“ in der Übersetzung verwandt. von seinem Stifter Zoroaster und der tischen Handlung mit dem Wechsel Dies soll deutlich machen, dass Judaismus von dem Namen des Stam- von Stehen, Beugung und Nieder- „Allah“ kein Eigenname ist, sondern mes Juda aus dem Land Judäa, wo er werfen38 sicherlich auf den Prophe- von arabischsprechenden Juden und entstanden ist. Ähnlich ist es im Falle ten zurück, der darin gewisse syrisch- Christen gleichermaßen für „Gott“ anderer Religionen. christliche Gebetssitten nachahmte. gebraucht wird. So empfanden es „Damit war zugleich ein sichtbarer wohl auch die Perser, als sie ganz Doch nicht so beim Islam. Diese Reli- Ausdruck für die Stellung des Musli- selbstverständlich das persische Wort gion genießt die Auszeichnung, nicht men zu Allah, dem Unterwerfung „khoda“ (anstatt des arabischen an eine bestimmte Person oder ein fordernden Herrn, gefunden. Zur „Allah“ für „Gott“) beibehielten. Al- Volk gebunden zu sein. Das Wort richtigen Ssalat gehört eine rituelle lerdings ist dieses Vorgehen inner- Islam deutet keinerlei derartige Ver- Waschung, die notfalls mit Sand vor- halb der islamischen Welt heute kon- bindung an, denn es bezieht sich we- genommen werden kann (4, 46). Als trovers. In Indonesien beispielsweise der auf irgendeinen Mann noch ein Gebetsrichtung (qibla) hat Moham- entschied man sich für das arabische Volk oder ein Land. Es wurde nicht med erst in Medina die Ka’aba von „Allah“. Die Problematik hängt u. a. von Menschengeist erfunden und be- Mekka endgültig festgelegt. Das Amt damit zusammen, dass man im Ge- schränkt sich auf keine bestimmte des Vorbeters (Imam) hat der Prophet gensatz zu unserem Wort „Gott“ von Gemeinschaft. Der Islam ist eine welt- zeitlebens selbst wahrgenommen; zu „Allah“ keinen Plural bilden kann, umfassende Religion, deren Zweck es neubekehrten Beduinenstämmen wodurch dieses Wort unvermeidliche ist, im Menschen islamische Eigen- sandte er einen seiner Getreuen als Züge eines Eigennamens erhält. schaften und islamische Geisteshal- Lehrer und Imam (Annahme des tung zu schaffen und weiterzubilden. Islams und Ausübung der Ssalat war Auch Muslime in Deutschland behar- Islam ist genaugenommen ein Eigen- gleichbedeutend). Der Betplatz ren oft auf der Verwendung des Wor- schaftswort. Wer immer diese Eigen- (masdschid, mussalla) war ein freier tes „Allah“ und wehren sich gegen schaft besitzt, welcher Rasse oder Ge- Platz unter offenem Himmel; in den Gebrauch des Wortes „Gott“. meinschaft, welchem Land oder Volk Mekka wahrscheinlich abseits in den Der Grund ist, dass viele „Gott“ als zu er auch angehören mag, ist ein Mus- Bergen, in Medina in den Höfen der unpräzise empfinden, weil sie nicht lim. Wie der Qurcan (Koran), das Hei- Häuser, in erster Linie in dem des wissen, ob damit Jesus, Gott Vater, lige Buch der Muslimen, sagt, hat es Propheten selbst. Aus dem Ort der Heilige Geist oder alle drei in ei- bei allen Völkern und zu allen Zeiten (masdschid) entwickelte sich dann nem gemeint sind, während ihrer gute und rechtschaffende Menschen die ,Moschee’ (,Ort der Anbetung Meinung nach „Allah“ klar angibt, gegeben, die diese Eigenschaften be- bzw. Niederwerfung‘), vielfach unter wovon die Rede ist. saßen; sie alle waren und sind Musli- Verwandlung christlicher Kirchen men.“ (Damaskus, Jerusalem). Die Sitte des Schließlich sei noch eine Bemerkung Gebetsrufes (adhan) vom in Nachah- erlaubt, die zumindest indirekt mit Und in einer Anmerkung wird zusätz- mung von Signal- und Kirchentür- der shahada zusammenhängt. In un- lich verdeutlicht: „Die Bezeichnung men entstandenen Turm (minara, seren Breiten ist es üblich, die Anhän- ,Mohammedanismus‘ bzw. ,Moham- ,Leuchtturm‘, Minarett) wird eben- ger des Islam in Anlehnung an den medaner‘, die in westlichen Ländern falls auf Mohammed zurückgeführt.

36 Beide Zitate bei Sayyid Abu-l-Acla Maudoodi: Weltanschauung und Leben im Islam, London (The Islamic Foundation) 1978 S. 15 37 Vgl. dazu die Einleitung von Kurt Rudolph (im folgenden als „Rudolph“ zitiert) in der Leipziger Reclam-Ausgabe des Koran von 1980 S. 22f. Zum Gebet im Islam im Allgemeinen vgl. W. Montgomery Watt u. Alford T. Welch: Der Islam I. S. 262ff 38 Vgl. dazu Peter Antes u. Günter Biemer (Hrsg.): Weltreligionen im Religionsunterricht – Sekundarstufe II, München 1975 S. 49ff

17 Die fünf Säulen des Islam

Im Unterschied zu Juden- und Chri- Was ist es, das uns freiwillig solche anderen Aufgaben betrifft. Doch die stentum führte der Prophet in strengen Gebote erdulden lässt? Es Schlimmsten sind jene Muslime, die Medina den Freitag, der vermutlich ist nichts anderes als der Glaube an sich nicht scheuen, während dieses zugleich Markttag war, als Haupt- Gott und die Furcht vor Ihm und dem heiligen Monats in aller Öffentlich- gebetstag (,Versammlungstag‘, jaum Tag des Jüngsten Gerichts. Während keit zu essen und zu trinken. Diese al-dschum’a, genannt) ein (siehe 16, unseres Fastens unterdrücken wir je- Menschen zeigen durch ihr Beneh- 125; 62, 10).“39 den Augenblick aufs neue unser Ver- men, dass sie sich nicht im geringsten langen und unsere Begierde und be- um die Weisungen Gottes kümmern, 3.3 Zakat zeugen, indem wir dies tun, dass an Den als Schöpfer und Erhalter zu Gottes Gesetz den Vorrang vor unse- glauben sie vorgeben. Doch nicht nur Zakat ist die sog. Almosensteuer, ren menschlichen Trieben hat. Dieses das, sie beweisen durch ihren Unge- „die Mohammed in Anlehnung an Pflichtbewusstsein und diese Geduld, horsam auch, dass sie keine aufrichti- die jüdische und christliche Sitte die ununterbrochenes Fasten einen gen, zuverlässigen Mitglieder der schuf, jedoch erst in Medina zu einer vollen Monat lang in uns erwecken, Muslim-Gesellschaft sind, oder viel- festen, geregelten Form zum Zweck helfen uns, unseren Glauben zu festi- mehr, dass sie eigentlich gar nicht da- der Gemeindeerhaltung ausbaute. In gen. Die Strenge und Disziplin, die zu gehören. Es liegt klar auf der Mekka ist Zakat noch die freiwillige dieser Monat uns abverlangt, bringt Hand, dass man von solchen Heuch- Wohltätigkeit für die Notleidenden uns in direkte Berührung mit den Tat- lern nur das Schlechteste erwarten (70, 25 ff.; 107, 2 f.; 92, 18 ff.; 19, sachen und dem Ernst des Daseins kann, soweit es Gehorsam dem Ge- 13 ff.), die auch später noch als das und hilft uns, unser Leben während setz gegenüber und Würdigung des Ideal angesehen wird. Gute Werke der übrigen Zeit des Jahres ganz auf in sie gesetzten Vertrauens be- sind nur im Glauben gültig (40, 43; die aufrichtige Unterwerfung unter trifft.“43 16, 99).“40 Gottes Willen auszurichten. Die massiven Äußerungen Maudoo- 3.4 Das Fasten im Monat Ramadan Doch noch von einem anderen Ge- dis lassen die gesellschaftlichen Im- sichtspunkt aus übt das Fasten einen plikationen des Fastengebotes er- „Unsicher ist, inwieweit das Fasten großen Einfluss auf unsere Gesell- kennen. Sie legen nahe, dass vor (ssaum) schon in Mekka zur festen schaft aus, denn alle Muslimen, ohne allem wohl dieser Aspekt für die Mo- Sitte geworden ist. In Anbetracht der Ansehen ihres Standes, müssen das tivation des Einzelnen nicht ohne Er- asketischen Einstellung der Urge- Fasten während desselben Monats folg ist. Mögen auch die Drohungen meinde kann man es vielleicht als einhalten. Dies hebt die grundsätzli- mit dem Jüngsten Gericht für den ei- freiwillige Praxis voraussetzen. Die che Gleichheit aller Menschen hervor nen oder anderen noch relativ be- rituelle Ausgestaltung erfolgt jedoch und trägt somit wesentlich zur Schaf- deutungslos sein, mangelndes Solida- erst in Medina (2, 179 f.). Auch hier- fung eines Gefühls der Liebe und ritätsbewusstsein lässt sich keiner bei nahm sich Mohammed anfangs Brüderlichkeit unter ihnen bei.“42 gerne vorwerfen. Psychologisch ge- die jüdische Fastenpraxis (vergl. 2, schickt läuft die Propaganda für das 179.180), nach dem Bruch mit den Wieder taucht der Gedanke der Fasten vor allem auf der Basis des So- medinensischen Juden offenbar das Gleichheit aller Menschen auf, und lidaritätsargumentes. Wenn von Ma- manichäische dreißigtägige Fasten, die erwähnte Vorstellung von der Ge- rokko bis Indonesien alle wie ein zum Vorbild und verlegte es in den rechtigkeit, die beim Islam im Vorder- Mann fasten, wer will da schon aus- Monat Ramadan (2, 183 erlaubt grund steht, wird so noch von einer scheren? Alle sind in zunehmendem nachträglich das Essen zur Nachtzeit, anderen Seite her beleuchtet. Ob Maße bestrebt, den „Schwächlin- wie es heute üblich ist). In diesem arm oder reich, ob Edelmann oder gen“ von Europäern und Amerika- Monat (der neunte Monat des islami- Bettelmann, im Ramadan müssen sie nern, die bereits nach dem Aufstehen schen Mondjahres) soll auch der alle von Sonnenaufgang bis Sonnen- schon ihre Cola brauchen, zu zeigen, Koran in der ,Nacht der Bestimmung‘ untergang auf jede Nahrungsauf- dass der islamische Glaube die Men- (lailat al-qadr) herabgesandt worden nahme verzichten. Solange man ei- schen von solch triebhaftem Verlan- sein (vgl. Sure 97).“41 nen weißen Bindfaden von einem gen frei, d. h. unabhängig macht. schwarzen unterscheiden kann, wie Über die Praxis sagt der Pakistaner abgekürzt die kasuistisch-scholasti- Fasten bedeutet in diesem Sinne Maudoodi, was noch heute gilt: sche Formel heißt, steht die Schar der „nicht das Beachten sinnloser Speise- „Während dieser Zeit essen wir von Menschen ohne Standesunterschiede vorschriften. Es dient auch nicht zu- der Morgendämmerung bis zum Ein- wie eine einzige Kampfesreihe vor vörderst einem irgendwie medizi- bruch der Nacht auch nicht das ge- Gott. Wer ausschert, macht sich man- nisch begründeten Vorteil für den ringste Bröselchen, noch trinken wir gelnder Solidarität schuldig. „Auf je- Körper oder die Gesundheit. Es ist einen einzigen Tropfen Wasser, wie ne, die dieses außerordentlich wichti- vielmehr Ausdruck der Freiheit, es hungrig oder durstig wir uns auch ge Gebot nicht befolgen, kann man legt Zeugnis ab von der Vorherr- fühlen mögen oder wie verlockend sich auch nicht mit Sicherheit verlas- schaft der freien Willensentschei- uns eine Speise auch erscheinen mag. sen, soweit es die Erledigung ihrer dung gegenüber den Trieben und Be-

39 Rudolph S. 23 40 Rudolph S. 23 41 Rudolph S. 23f. Im Gegensatz zur Sicht der Muslime wird bei diesen Aussagen Mohammed als Verfasser des Koran angesehen. Seine Anweisun- gen werden mit den Koranaussagen gleichgesetzt. Dies gilt für die anderen Zitate aus Rudolph entsprechend. 42 Maudoodi, a.a.O. S.135f 43 Maudoodi, a.a.O. S. 136

18 Die fünf Säulen des Islam dürfnissen der Natur, es ist ein Zei- zurückgehen. Sofern dies gesichert net vielerlei Schwierigkeiten. Schon chen der Beherrschung des Körpers, ist, steht es im Belieben des Einzel- rein äußerlich: die Kantine im Betrieb eben Selbstbeherrschung.“44 nen, ob er fastet oder nicht. oder die Mensa der Universität sind nur am Tage geöffnet. Die Arbeits- Es liegt auf der Hand, dass das Fasten Zeitungsmeldungen zufolge, wie sie kollegen und Freunde können nicht im Monat Ramadan den gewöhnli- sich seit Jahren häufen, ist zur gegen- verstehen, dass die Muslime weder chen Lebensrhythmus der Muslime wärtigen Praxis festzustellen, dass essen noch trinken, ja noch nicht ein- stark verändert. Nach Sonnenunter- die Zahl der Fastenden in der islami- mal eine Zigarette mitrauchen sollen, gang und vor Sonnenaufgang pflegt schen Welt kontinuierlich ansteigt. und dies – wie sie als „aufgeklärte“ man sich durch ausgiebiges Essen Grobe Schätzungen gehen davon Europäer meinen – wegen einer „an- und Trinken von den Mühen des aus, dass ca. 50 – 70 % der volljähri- tiquierten religiösen Vorschrift.“ Tages zu erholen bzw. für diese im gen Männer und Frauen das Fasten Voraus zu stärken. So wird die Nacht im Ramadan tatsächlich einhalten. Die äußeren Probleme und die Tatsa- – zumindest teilweise – zum Tage. Die Teilweise ist es auch in den letzten che, dass man in unserer Gesellschaft übliche Nachtruhe ist verkürzt, die Jahren zu Exzessen gekommen. Radi- als Muslim praktisch allein steht, lö- Leistungsfähigkeit am Tage redu- kale Moslembrüder stürmten in Ma- sen bei vielen einen ernsten Konflikt ziert. Dies wirkt sich besonders stark rokko und Algerien Gasthäuser; die aus. Mehr als zu jeder anderen Zeit aus, wenn der Ramadan in die Som- dort speisenden Touristen wurden des Jahres spüren die Muslime im merzeit fällt. Wie alle Monate des zum Verlassen der Lokale aufgefor- Ramadan, dass sie die anderen, die islamischen Jahres wandert auch der dert. Normalerweise jedoch wird den umma brauchen. Sofern sie das Fas- neunte Monat Ramadan durch alle Fremden zugestanden, heimlich (d. h. ten überhaupt durchhalten, so – von Jahreszeiten. Der Grund hierfür ist, etwa in Lokalen mit vorgezogenen Einzelausnahmen einmal abgesehen dass die islamische Zeitrechnung Vorhängen) ihre üblichen Essenszei- – nur, weil sie sich einig wissen mit – wenigstens in der arabischen Welt – ten einzuhalten. Allerdings häufen vielen anderen, die in derselben Si- dem Mondjahr folgt45, welches be- sich die Berichte von Reisenden, die tuation stehen, die man täglich sieht, kanntlich praktisch um 11 Tage kür- sagen, dass es zunehmend schwerer mit denen man sozusagen „zusam- zer ist als das Sonnenjahr, so dass sich wird, in der arabischen Welt, in Iran, men“ fastet, indem man mit ihnen in der Monatsbeginn eines jeden islami- Pakistan und anderen islamischen dem Falle abends zusammen ist, um schen Monats jährlich im Vergleich Ländern während des Ramadan gemeinsam zu essen und zu trinken, zur Rechnung des Sonnenjahres des geöffnete Gaststätten und Trinkhal- sich von der Mühe des vergangenen Vorjahres um 11 Tage nach vorne ver- len – vor allem in ländlichen Gegen- Tages erholend und für die Entbeh- schiebt. Besonders gravierend wirkt den – zu finden. Die Tatsache, dass rungen des kommenden wappnend. sich dies natürlich auf das Fasten im das Fasten vor allem als Zeichen der Diese Essen aber – vor allem die vor Ramadan aus. Solidarität gesehen wird, weist auf Sonnenaufgang – können z. B. in einen weiteren wichtigen Problem- deutschen Studentenwohnheimen Seit langem stellt die Einhaltung des kreis hin: die Einhaltung des Fastens ihrerseits wieder zu Problemen Fastens die islamischen Staaten vor setzt praktisch die islamische Ge- führen, da sich andere dadurch häu- große wirtschaftliche Probleme, da meinschaft (umma) voraus. Nahezu fig im Schlaf gestört fühlen. während dieser Zeit infolge der ge- unmenschlich wird das Fasten in minderten Leistungsfähigkeit der nichtislamischer Umgebung, also Die Aussagen zeigen, dass das Fasten Leute auch die Produktion nicht in außerhalb des „Hauses des Islam“. im Ramadan für den Einzelnen wie vollem Umfange gewährleistet ist. Dies wissen alle Muslime, die dort le- für die islamischen Länder insgesamt Die Unfallquote steigt unproportio- ben. Eine Art Sonderfall ist die islami- große Probleme aufwirft. Eine Gene- nal an. Der frühere tunesische Präsi- sche Diaspora, beispielsweise die tür- raldispens für ganze Länder, wie sie dent Habib Bourguiba hatte deshalb kischen Gastarbeiter in der Bundesre- der Bourguiba-Vorschlag vorsah, vor einigen Jahren einen anderen publik Deutschland. Ihre Zahl ist in- scheint in absehbarer Zeit kaum Weg versucht. Er hat vorgeschlagen, zwischen so groß, dass sie nur schwer wahrscheinlich. Ja, die gegenwärtige Tunesiens Bemühen, die Unterent- als einzelne, die außerhalb der umma sogenannte Reislamisierungswelle wicklung im Lande zu bekämpfen, als leben, angesehen werden können. begünstigt die Theologen, die jeden „heiligen Krieg“ zu deklarieren und Als Gruppen aber können sie bereits Gedanken an eine Reform als satani- die dadurch mögliche Dispens vom kleine, aber homogene islamische sches Machwerk des „Westens“ be- Fasten bis zum erfolgreichen Ab- Gemeinden bilden. Dann treffen die kämpfen. Dennoch scheint es auf schluss dieses Kampfes für sein Land Dispensregelungen, die für Muslime Dauer wenig wahrscheinlich, dass die in Anspruch zu nehmen. Die Rechts- auf Reisen außerhalb des „Hauses mit dem Fasten verbundenen Proble- gelehrten und das Volk versagten in der Islam“ gelten, nicht mehr zu. Pro- me nicht ernsthaft diskutiert werden diesem Punkt jedoch dem Präsiden- bleme mit dem Ramadan haben in mit dem Ziel, irgendwann einmal ten die Gefolgschaft. So mussten sich unseren Breiten auch die islamischen trotz alledem auch in der islamischen Bourguiba und viele andere Staats- Studenten und Geschäftsleute. Welt eine modifizierte Regelung zu chefs bis heute mit der Forderung be- finden, die dem Koran und den Erfor- gnügen, die Produktion dürfe Wer in unserer Welt des Abendlandes dernissen der modernen Welt glei- während des Fastenmonats nicht den Ramadan einhalten will, begeg- chermaßen Rechnung trägt. Es

44 Peter Antes: Religionen – Heilmittel gegen Streß?, in Sein und Sendung. Vierteljahrschrift für Priester und Laien 10. Jahr 1978 (43. Jahr der „Sanctificatio nostra“) S. 61–69, hier S. 65 45 Vgl. Art. Kalender. V. Islamischer K., in Lexikon für Theologie und Kirche, begr. von Michael Buchberger, hrsg. von Walter Kasper…, Freiburg i. Br. – Basel – Rom – Wien: Herder, 3. völlig neu bearbeitete Aufl. (im folgenden zitiert als LThK) Bd 5 (1996) col. 1147

19 Die fünf Säulen des Islam scheint, dass die Muslime in der Di- den kann. Erstere ist die gewünschte dem sieben Dirham – oder drei Dir- aspora exemplarisch die Probleme Pflicht (3, 90 f.). Die Nichtteilnehmer ham (der Erzähler wusste es nicht si- durchleben, die unweigerlich auch in feiern das Fest als ,Fest der Schlach- cher). Wenn du das tust, so ersetzt es Zukunft die der islamischen Kernlän- tung‘ (später türk. bairam) vom 10. die Wallfahrt.“50 der sein werden. Die Verwerfung des bis 14. des Wallfahrtsmonats zu Hau- „Westens“ und der Rückgriff auf „die se, wie es heute noch geschieht.“46 Die Mehrheit der Muslime betrachtet gute alte Zeit“, die im übrigen oft solche Ratschläge im wahrsten Sinne weder so gut war noch so alt ist, wie Die Verpflichtung zum Hadjdj be- des Wortes als Ersatzlösungen. Sie er- behauptet, werden allein zur Lösung steht für jeden volljährigen Muslim, sehnt, tatsächlich einmal im Leben der Probleme nicht ausreichen. So Mann wie Frau, einmal im Leben, so- dabei zu sein. Dank der modernen unwahrscheinlich dies zum gegen- fern die Verhältnisse dies gestatten. Technik und des Massentourismus wärtigen Zeitpunkt reislamisierender Gedacht ist hierbei vor allem an aus- können viele Muslime zu durchaus Tendenzen erscheinen mag, so wird reichende finanzielle Mittel, die vor- erschwinglichen Preisen im Wall- auch für diesen Teil der Welt gelten, handen sein müssen, um eine solche fahrtsmonat zu den heiligen Stätten dass Verdrängungen von Problemen Fahrt zu unternehmen. Stehen diese in Saudi-Arabien reisen. Bekanntlich noch nicht deren Lösung bedeuten, nicht zur Verfügung, so können Er- sind diese Stätten keinem Nicht- sondern vielfach ein eruptives Wie- satzhandlungen vorgenommen wer- muslim zu betreten erlaubt. dererscheinen zur Folge haben. den. Besonders die Mystiker47, die so- genannten Sufis, haben immer wie- Politisch führt die Wallfahrt zur Be- 3.5 Die Wallfahrt nach Mekka der betont, dass es weniger auf die gegnung vieler Regierungschefs und physische Anwesenheit in Mekka als Politiker der islamischen Welt. All- Jedem Karl-May-Leser ist der Ehrenti- vielmehr auf die richtige Einstellung jährlich findet so eine Art islamisches tel des Hadjdji geläufig. Ihn darf ankomme. So sagt etwa Hudjwiri Gipfeltreffen statt. Mit Sorgfalt und führen, wer an den Wallfahrtszere- (gest. zwischen 1072–77 n. Chr.): „Es Spannung verfolgt die Bevölkerung monien der großen Wallfahrt gibt zwei Arten von Wallfahrten, in den Ländern, die zum „Haus des (hadjdj) in Mekka und cArafat zur eine in der Abwesenheit (von Gott), Islam“ zu rechnen sind, diese Treffen. Wallfahrtszeit teilgenommen hat. die andere in der Gegenwart (Gottes). „Das Gebot der ,Wall- oder Pilger- Wer in Mekka von Gott abwesend ist, 3.6 Exkurs: Der Djihad fahrt‘ (haddsch) geht auf einen alten ist in der gleichen Lage, wie wenn er vorislamischen Brauch des Besuches in seinem eigenen Haus von ihm ab- Zu den fünf Säulen des Islam fügt des altarabischen Heiligtums, der wesend ist, denn eine Abwesenheit man oft noch eine weitere hinzu: die Ka’aba in Mekka, zurück. Die Urge- ist nicht besser als die andere, und Verpflichtung zum „djihad“. Etymo- meinde nahm anfänglich am her- wer in seinem eigenen Haus bei Gott logisch meint „djihad“ eine besonde- gebrachten Ka’abakult teil (106, 3; gegenwärtig ist, ist in der gleichen re „Anstrengung“. Doch schon zu 108, 2), und Mohammed hat mit ihm Lage, wie wenn er in Mekka gegen- Mohammeds Lebzeiten konnte diese nie einen Bruch vollzogen. Von Medi- wärtig ist, denn eine Gegenwart ist Anstrengung durchaus militärischer na aus war er bestrebt, den kulti- nicht besser als die andere.“48 Bishr Natur sein. Es war ein „Glaubens- schen Besuch des mekkanischen Hei- al-Hafi (gest. 841 n. Chr.) rief einen krieg“, ein „Kampf um Gottes ligtums für seine Anhänger zu er- Mann, der sich zur Wallfahrt ent- Willen“ gegen die Ungläubigen, den möglichen (vgl. 48, 27). Abraham schlossen hatte, dazu auf, „das dafür der Prophet in Medina energisch pro- wurde von ihm zum Stifter des Hei- ersparte Geld verschuldeten und ar- pagierte (vgl. Koran 9, 5 ff. 14.29; ligtums erklärt, vielleicht in Anleh- men Muslimen zu geben.“49 Und der 2, 187 f.; 4, 76 – 80.91.96; 8, 40; nung an alte Legenden, und die Ge- berühmte Mystiker Halladj (hinge- 9, 44 ff.). Den Gefallenen wird (wie betsrichtung nach Mekka eingeführt. richtet 922 n. Chr.) sah für die, die am den christlichen Märtyrern) das Para- Nach der Eroberung Mekkas säuber- Reisen verhindert waren, einen Er- dies zuteil (Koran 8, 66; 9, 112; te Mohammed die Ka’aba vom ,Göt- satzritus vor, der nur eine Vorberei- 4, 97 f.; 3, 163; 2, 149). Seine juristi- zendienst‘ (9, 28) und reformierte tungszeremonie für eine Armenspei- sche Ausfaltung im Sinne des „hl. ,Wallfahrt‘ (haddsch) und ,Umlauf‘ sung gewesen zu sein schien. Nach ei- Krieges“ erhielt „djihad“ sicherlich (umra) in seinem Sinne (vgl. 5, 1 ner kurzen Beschreibung des Ritus durch die im islamischen Recht (fikh) – 3.95 – 98; 22, 28 – 30.34f. 37 f. 66; heißt es in einer Halladj zugeschrie- geläufige Grobeinteilung der Welt in 2, 192 ff.153). Den Ungläubigen ist benen Schrift: „Dann rufe dreißig zwei Lager: „das Haus des Islam“ (dar der Aufenthalt seitdem in Mekka ver- Waisen herbei und bereite für sie so al-Islam) und „das Haus des Krieges“ boten (9, 28). Die ,große Pilgerfahrt‘, gut du kannst ein Mahl und setze es (dar al-harb). Zur Verteidigung des der eigentliche Haddsch, findet seit ihnen in deinem Hause vor, während „Hauses des Islam“ und zur Auswei- dieser Zeit nur im Monat des Haddsch du selbst sie bedienst. Wenn sie ge- tung seines Bereiches im Sinne der (dhu’l-Hiddscha) statt, während die gessen haben und noch dasitzen, Einführung der islamischen Ordnung ,kleine Wallfahrt‘ oder der einfache dann ziehe ein Hemd an und gib je- ist der „djihad“ als probates Mittel ,Umlauf‘ jederzeit ausgeführt wer- gefordert.51

46 Rudolph S. 24 bzw. ausführlicher W. Montgomery Watt u. Alford T. Welch: Der Islam I. S. 327ff 47 Vgl. Art. Islam. III. Mystik, in LThK Bd 5 (1996) col. 624f 48 Zit. bei Richard Gramlich: Die schiitischen Derwischorden Persiens. Zweiter Teil: Glaube und Lehre, Wiesbaden 1976 S. 120 49 Vgl. Gramlich, a.a.O. S. 120 50 Zit. bei Gramlich, a.a.O. S. 121 51 Vgl. dazu in EI II die Art. Dar al-Harb S. 126, Dar al-Islam S. 127f bzw. für die tributpflichtigen und befriedeten Gebiete die Art. Dar al-cAhd S. 116 und Dar al-Sul. h S. 131 sowie für die Gesamtproblematik den Art. Djihad S. 538–540

20 Die fünf Säulen des Islam

Maudoodi schreibt hierzu: „Die ten. Der Verlauf der Geschichte zeigt, werden, bleibt diese ungeduldige außerordentliche Opferbereitschaft, dass sie sich hierbei – jedenfalls was jüngere Generation ein dauerhaftes selbst das eigene Leben hinzugeben, die Christen angeht – weitgehend Reservoir, um neue Terroristen zu re- müssen alle Muslime aufbringen. verrechnet haben.55 krutieren. Für die westliche Welt ist Wenn sich jedoch ein Teil der Musli- der Terrorismus deshalb eine neue men erbietet, am Dschihad teilzu- In neuester Zeit wird der „djihad“- Herausforderung, weil das bisheri- nehmen, so ist damit die ganze Ge- Begriff gerne in übertragener Bedeu- ge Verteidigungskonzept auf Ab- meinde von ihrer Verantwortung tung verwandt. Der Hinweis auf schreckung beruhte und dabei davon entbunden. Tritt aber niemand frei- Bourguibas Vorschlag, das Fasten im ausging, dass der Gegner sich selbst willig hervor, dann ist jeder einzelne Ramadan auszusetzen, ließ einen nicht in eine tödliche Gefahr bringen, verantwortlich. Dieses Zugeständnis solchen Wortgebrauch erkennen. sondern sein Überleben gesichert ha- wird in dem Moment für die Bürger „Djihad“ heißt dann oft Kampf ge- ben will. Genau diese Annahme gilt eines islamischen Staates ungültig, gen Hunger, Elend und Rückschritt- für die Terroristen nicht; sie sind ger- wenn dieser von Nichtmuslimen an- lichkeit. Daneben besteht die Idee ne bereit, ihr Leben zu riskieren, gegriffen wird. In diesem Fall muss je- eines militärischen Kampfes für die wenn ihr Gegner dadurch Schaden der zum Dschihad bereit sein. Wenn Sache des Glaubens weiterhin auch leidet. Damit sind die Waffen der Ab- das angegriffene Land nicht stark ge- noch. schreckung stumpf geworden und nug ist, um sich allein zu verteidigen, die herkömmlichen Abschreckungs- dann ist es die religiöse Pflicht der In terroristischen Kreisen wird seit konzepte wirkungslos. Ein neues benachbarten Muslim-Länder, ihm Ende der neunziger Jahre des 20. Konzept ist nötig, um einer solchen zu helfen; doch wenn auch sie zu Jahrhunderts der Begriff „djihad“ zu- Gefahr wirksam zu begegnen. Wich- schwach sind, dann müssen die Musli- nehmend auch als ideologische tig ist dabei, den Dialog mit allen me der ganzen Welt den gemeinsa- Rechtfertigung von Terroranschlägen Dialogwilligen fortzusetzen und ihre men Feind bekämpfen. In all diesen gebraucht. Dadurch wird angedeu- Anliegen und Nöte ernst zu nehmen, Fällen ist der Dschihad eine genauso tet, dass es sich bei den Attentätern um die gewaltbereiten Extremisten unerlässliche und primäre Pflicht der nicht um – wie in der westlichen Pres- auch unter den Muslimen zu isolieren betroffenen Muslime wie das tägli- se meist gesagt – „Selbstmordat- und sich zudem in Zukunft weiterhin che Gebet oder das Fasten. Wer dem tentäter“ handelt, sondern nach Aus- der Unterstützung durch die islami- zu entkommen sucht, ist ein Sünder, weis dieser gewaltbereiten Extremi- schen Theologen zu versichern, dass ja, seine Behauptung, ein Muslim zu sten um „Glaubenskämpfer“, die in die Übertragung des djihad-Begriffes sein, wird dadurch zweifelhaft.“52 ihrer „Anstrengung“ (djihad) für die auf die Terroraktionen der Extremi- gerechte Sache soweit gehen, dass sten und Fanatiker keine zulässige Die Ausführungen Maudoodis zeigen sie ihr Anliegen für wichtiger erach- Interpretation der religiösen Termi- die eminent politischen Implikatio- ten als den Erhalt des eigenen Lebens nologie ist. nen dieses „djihad“-Begriffes. Es ist und deshalb in diesen Kreisen als wichtig, deshalb eigens darauf hinzu- „Märtyrer“ verehrt werden. Die offi- weisen, dass die Muslime bei ihrem zielle Theologie des Islam lehnt eine Missionseifer wesentlich mehr staats- solche Ausweitung und Verwendung politische Interessen verfolgt haben des djihad-Begriffes als Fehlinterpre- 4 „Fatalismus“ als beispielsweise die Christen. Indivi- tation ab. Dessen ungeachtet, und menschliche dualbekehrungen, das Heil für den kommt sie immer wieder vor und Ordnung Einzelnen also, standen bei weitem wirkt vor allem unter jüngeren Men- nicht so sehr im Vordergrund.53 So ge- schen (die Mehrheit der Menschen in standen sie den „Schriftbesitzern“, den Staaten mit islamischer Bevölke- 4.1 Gottes Allmacht und d. h. den Juden, Christen und Zoroas- rungsmehrheit zählt hierzu!) ausge- menschliche Handlungsfreiheit triern, eine Art „Gastrecht“ (dhimma) sprochen attraktiv. Solange sich die innerhalb des „Hauses des Islam“ zu, (wirtschaftlichen und oft auch politi- Djihad setzt in jedem Falle – ob belegten diese Leute allerdings mit schen) Zustände in vielen Ländern militärisch oder übertragen verstan- einer „Kopfsteuer“54 in der Erwar- mit islamischen Bevölkerungsmehr- den – ein großes Maß an Eigeninitia- tung, dass ihnen ihr Glaube so „teu- heiten nicht ändern und der Jugend tive und wenig Passivität voraus. Eine er“ sei, dass sie diese Steuer entrich- keine Zukunftsperspektiven eröffnet solche Vorstellung vom Islam aber wi-

52 Maudoodi, a.a.O. S. 140 53 Vgl. dazu Peter Antes: Toleranz und Missionspraxis unter den anderen Religionen, in Konrad Hilpert u. Jürgen Werbick (Hrsg.): Mit den Anderen leben. Wege zur Toleranz, Düsseldorf 1995 S. 181–197, hier S. 187ff u. 193ff sowie ders.: Religionsgeschichtliche Überlegungen zu religiösen Wahr- heitsansprüchen, in Christlicher Glaube in multireligiöser Gesellschaft. Erfahrungen – Theologische Reflexionen – Missionarische Perspektiven, hrsg. von Anton Peter, Immensee 1996 S. 129–143, hier S. 139–141 (Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Supplementa vol. 44) 54 Vgl. dazu den Art. Djizya, in EI II S. 559–567. Zum Status dieser Nichtmuslime innerhalb des islamischen Reiches im allgemeinen vgl. den Art. Dhimma in EI II S. 227–231 und Antoine Fattal: Le Statut légal des non-musulmans en pays d’Islam, Beyrouth 1958 sowie Adel Théodor Khoury: Toleranz im Islam, München – Mainz 1980 55 Zur außerordentlich schwierigen Problematik des Untergangs des Christentums in bestimmten Gegenden des islamischen Reiches vgl. z.B. für die Berber Ulrich Schoen: Die Kirche der Berber – Über die mutmaßlichen Gründe ihres Aussterbens, in Fides po mundi vita. Missionstheologie heute. Hans-Werner Gensichen zum 65. Geburtstag, hrsg. von Theo Sundermeier, Gütersloh 1980 S. 91–110. Zur Situation des Christentums in Ägypten und im Vorderen Orient vgl. Andrea Pacini (Hrsg.): Comunità cristiane nell’islam arabo. La sfida del futuro, Torino (Fondazione Giovanni Agnelli) 1996 56 v. Ess, a.a.O. S. 76

21 „Fatalismus“ und menschliche Ordnung derspricht der landläufigen Mei- während durch die „Aneignung“ der Anthropologie nichts verloren hat, nung, der Islam predige den Fatalis- Mensch die Tat als seine, eben eine und der Lehre über den Menschen, mus, „und magische Vokabel ist das gute oder böse übernimmt, eine Vor- die klassischerweise im Islam inner- Wort ‚kismet‘, das man meist vermut- stellungsweise, die auch der christli- halb des islamischen Rechts (fikh) ab- lich aus Karl May bezieht – in islami- chen Theologie des scholastischen gehandelt wird. Innerhalb der Theo- schen Quellen taucht es nie auf.“56 Mittelalters keineswegs fremd ist logie kommt der Mensch nur sozusa- Dennoch ist das Problem der Vorher- (vgl. die Lehre vom concursus divinus gen ganz zufällig, nämlich indirekt bestimmung57 nicht unbekannt und simultaneus). dort vor, wo es beispielsweise um hat den Islam durch viele Jahrhun- Gottes Allmacht und seine Gerechtig- derte hindurch beschäftigt. Der Eine derart abgewogene Formel keit mit dem Korrelat der menschli- Koran selbst ist in dieser Frage noch führte im Bewusstsein der einfachen chen Handlungsfreiheit oder wo es unentschieden. Einerseits vertritt er Leute leicht zu Überbetonungen in um Gott als Schöpfer geht. mit aller Verve Gottes Allmacht in der einen oder anderen Hinsicht. Ihr dem Sinne, dass Gott wirklich alles wohnt gewissermaßen die Tendenz Als Schöpfer hat Gott den Menschen macht; andererseits fordert er den inne, Gottes uneingeschränkte erschaffen; er hat ihn erschaffen als Menschen auf, das Gute und von Schöpfertätigkeit einseitig zu apo- Mann und Frau. Deshalb sind auch Gott Gebotene zu tun. Ethisches Han- strophieren. Dieser Tendenz war zu- die religiösen Pflichten für Mann und deln aber hat nur Sinn, wenn der sätzlich förderlich, dass die islami- Frau weitgehend die gleichen. Im Ge- Mensch auch die Fähigkeit hat, so zu schen Theologen der ascharitischen gensatz zu einem weitverbreiteten handeln. Nur dann ist er für seine Ta- Schule jede Naturgesetzlichkeit ab- Irrglauben bei uns hat der Islam näm- ten verantwortlich und kann im Ge- lehnten, indem sie von der perma- lich niemals gelehrt, der Mann habe richt dafür Lohn und Strafe erwarten. nenten Neuerschaffung der Welt eine Seele, die Frau aber nicht. Viel- Da Gott gerecht ist, so argumentier- durch Gott in jedem Augenblick aus- mehr sieht der Islam Mann und Frau ten im frühen Islam die Muctaziliten, gingen und deshalb das, was wir vor Gott als gleich an. Dem entspricht könne er sich nicht willkürlich bei sei- „Naturgesetz“ nennen, lediglich als allerdings nicht eine Gleichstellung nem Urteil über die Taten der Men- eine „Gewohnheit“ Gottes, alles im- von Mann und Frau in der Gesell- schen hinwegsetzen, andererseits mer wieder auf gleiche Weise zu er- schaft.58 Die Probleme im Zusam- setze eine solche Beachtung der Ta- schaffen, ansahen, einen „Bruch der menhang mit der Emanzipation und ten einen zumindest relativ frei han- Gewohnheit“ (= Wunder) aber stets die Sorgen der Orientalen diesbezüg- delnden Menschen voraus. einkalkulierten. Es muss offenblei- lich sind hinreichend bekannt und ben, ob diese Sichtweise der Welt die brauchen noch nicht an dieser Stelle Zur klassischen Formel wurde für die Entwicklung einer Naturwissenschaft abgehandelt zu werden. Ein Blick in offizielle Theologie der Sunniten, im modernen Sinne innerhalb des die islamische Geschichte zeigt je- also der überwiegenden Mehrzahl „Hauses des Islam“ verhindert hat doch, dass vieles von dem, was heute der Muslime, bis heute die einer be- oder nicht. Historisch auffallend je- als gute, alte islamische Tradition gilt, stimmten theologischen Schule, die denfalls ist, dass die Araber, die einst oft gar nicht so alt ist, wie die Theo- auf al-Ashcari (gest. 935 n. Chr.) zu- die Kultur und Philosophie der Grie- logen und Rechtsgelehrten dies glau- rückgeht und nach ihm ascharitische chen aufgenommen, weitergeführt ben machen wollen. Auch die korani- Schule genannt wird. Diese Formel und schließlich an die Westeuropäer schen Belegstellen geben oft – bei versucht, Gottes Mitwirkung beim weitergegeben haben, dann den kritischer Prüfung – gar nicht so viel Handeln des Menschen deutlich zu Kontakt zur hiesigen Weiterentwick- her, wie es ihre Verfechter gerne hät- machen und andererseits die Verant- lung eben dieser Kultur verloren ha- ten. Dies gilt hinsichtlich der Ver- wortung dafür allein dem Menschen ben. schleierung ebenso wie für viele wei- zu übertragen. Demnach – um es an tere Bereiche. einem Beispiel zu zeigen – gibt Gott dem Mörder die Kraft, den Mord aus- 4.2 Zur Anthropologie Der Koran schildert – wie die Bibel – zuführen – er lässt den Täter z.B. kurz die Erschaffung des Menschen als ein vor der Tat weder ohnmächtig wer- Die Ausführungen zum Verhältnis direktes Schöpfungswerk Gottes und den noch die Treppe herunterfallen von Gottes Allmacht und der mensch- widerspricht somit direkt den moder- und trägt insofern zum Gelingen die- lichen Handlungsfreiheit erwecken nen Vorstellungen von Evolution. ses Unternehmens bei –, andererseits den Eindruck, als sei der Mensch Auch ansonsten bleibt er dem frühe- liegt die Verantwortung für den – wie in der christlichen Theologie – ren Weltbild verpflichtet. Aus christli- Mord allein beim Mörder, der den auch innerhalb der islamischen Theo- cher Sicht müsste daher der Konflikt Mord will und sich dadurch das, was logie zusammen mit Gott im Zentrum zwischen einer fundamentalistischen er an Tötungsaktion mit Gottes Hilfe des Geschehens. In Wirklichkeit un- Theologie und der modernen Natur- zustande bringt, „aneignet“. Gott terscheidet der Islam aber sehr deut- wissenschaft vorprogrammiert sein. bleibt so die eigentliche und erste Ur- lich zwischen dem Bereich der Theo- Wenn ich richtig sehe, ist dieser Kon- sache von allem, was geschieht, logie, der Lehre über Gott, in der die flikt im Bereich des Islam ausgeblie-

57 Vgl. W. Montgomery Watt: Free Will and Predestination in Early Islam, London 1948; W. Montgomery Watt u. Michael Marmura: Der Islam II. Politische Entwicklungen und theologische Konzepte S. 72ff u.ö. sowie die entsprechenden Kapitel und Literaturangaben bei Louis Gardet: Dieu et la destinée de l’homme, Paris 1967 und F. M. Pareja: Islamologie, Beyrouth 1957–63 58 Aus der unübersehbaren Fülle von Literatur zum Thema Frau und Islam seien hier nur drei Titel genannt: Wiebke Walther: Die Frau im Islam, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1980; dies.: Die Frau im Islam, in Annemarie Schimmel u.a.: Der Islam III. Islamische Kultur – Zeitgenössische Strö- mungen – Volksfrömmigkeit S. 388f und Annemarie Schimmel: Meine Seele ist eine Frau. Das Weibliche im Islam, München 1995

22 „Fatalismus“ und menschliche Ordnung ben.59 Die islamischen Theologen der neren, notwendigen Zusammen- ren oder allenfalls durch rückwärts- Gegenwart äußern sich entweder gar hang. Deshalb bestand das Pro- gewandte „Reformen“ (z. B. Ibn nicht zu diesem Problemkreis, oder gramm vieler Reformer des Islam in Taimiyya, 1328 gest.) auszeichnete.60 sie übernehmen ohne spezielle Har- der Vergangenheit und bis in die Ge- Erst die sogenannten Reformtheolo- monisierungsversuche die Aussagen genwart darin, die ursprüngliche Be- gen wie Muhammad cAbduh (gest. der modernen Naturwissenschaft. geisterung wieder zu entfachen. 1905) und Rashid Rida (gest. 1935) Anders ist dies im Zusammenhang Dann sei, so glaubten und glauben setzten wieder einen gewissen Neu- mit den Ergebnissen der Geschichts- sie, auch der politische Erfolg gewiss, anfang. Unrichtig ist aber die These wissenschaft und der Archäologie, weil alle genannten Merkmale des von der Stagnation, wenn sie für den die gewisse Aussagen des Koran in frühen Islam sich gegenseitig bedin- Islam insgesamt zutreffen soll, weil Frage stellen und somit ins Umfeld ei- gen und grundsätzlich, d. h. auch für durch sie in Vergessenheit gerät, dass ner historisch-kritischen Koranexege- heute, Gültigkeit haben. neue Gebiete für den Islam hinzuge- se gehören. Die Auseinandersetzung wonnen wurden, deren literarische mit der modernen Wissenschaft liegt Produktion für die Theologie- und so im Bereich von Disziplinen, bei de- Kulturgeschichte nicht minder be- nen wir gewöhnlich gar keinen Kon- deutend ist als die der Kernländer, fliktstoff vermuten, während die 5 Die Zeit nach wenngleich Sprachbarrieren in den klassischen Streitpunkte zwischen Mohammed Kernländern wie übrigens bei den der christlichen Theologie und der meisten europäischen Islamwissen- modernen Naturwissenschaft dort re- 5.1 Die geographische Ausbreitung schaftlern eine Rezeption dieser lativ belanglos sind. Islamliteratur weitgehend verhindert Es ist hier nicht der Ort, die vierzehn- haben. Für die meisten Muslime ist der hundertjährige Theologie- und Kul- Koran jedoch weniger ein dogmati- turgeschichte des Islam nachzuzeich- Bei den neuhinzugekommenen Ge- sches Lehrbuch mit genauen Er- nen. Rein formal teilt man diese Zeit bieten ist vor allem an den pakista- klärungen über Gott und die Welt als gerne in zwei gleichlange Perioden nisch-indischen Subkontinent zu vielmehr ein Orientierungsrahmen ein. Davon ist die erste, also die denken, der Nordindien beispielswei- für das rechte, Gott wohlgefällige ersten 700 Jahre, durch starke Aus- se allein durch seine Architektur so Tun (vgl. Koran 2, 2). Sich darauf ein- breitung des Islam gekennzeichnet. stark geprägt hat, dass Reiseprospek- lassen bedeutet für die Muslime nicht Die sogenannten Kernländer, also te für Indien gewöhnlich nicht durch nur den Willen Gottes erfüllen, son- die arabisch-persisch-türkische Welt das Bild eines Hindubauwerkes, son- dern zugleich die hoffnungsvolle Er- werden für den Islam gewonnen; dern durch die Abbildung des Taj Ma- innerung an eine erfolgreiche Früh- durch Spanien und Süditalien steht hal die Touristen anzulocken versu- phase, die sich – so glaubt man – der Islam unmittelbar vor den Toren chen. Trotz der Teilung des Subkonti- dann wiederholen wird, wenn man der westeuropäischen Länder. Es sind nents in Pakistan (und neuerdings sich so verhält wie die Muslime nach diese Kernländer, an die man bei uns Bangladesch) und Indien leben noch der Auswanderung nach Medina. zunächst denkt, wenn vom Islam die heute in Nordindien ungefähr 200 Rede ist, und man hat sich deshalb Millionen Muslime. Über Indien hin- Die Zeit Mohammeds war seit der angewöhnt, die zweite Periode, also aus reicht der Islam in den südost- Auswanderung nach Medina in der die weiteren 700 Jahre als Phase der asiatischen Raum, dessen bedeu- Tat vom Erfolg gekennzeichnet, und Stagnation und des Niedergangs zu tendste Islamstaaten heute Malaysia dieser Erfolg verließ die Gemeinde bezeichnen, die in der Kolonialisa- und Indonesien sind. In Indonesien auch nach dem Tode Mohammeds tion ihren krönenden Höhepunkt allein leben heute mehr Muslime zunächst nicht. Im Geschichtsbe- fand. Richtig daran ist, dass in diesen als in allen arabischen Ländern wusstsein der Muslime schwingt des- Kernländern eine gewisse Stagnation zusammen. Zeitungsberichte über halb stets ein gerüttelt Maß Nostal- de facto eingetreten war, dass der Religionskämpfe auf den Philippinen gie nach der guten alten Zeit mit. Höhepunkt der islamischen Theolo- erinnern uns zusätzlich regelmäßig Es war eine Zeit großer politischer gie und Philosophie in der Zeit vom an die dort lebenden Muslime. und militärischer Erfolge des Islam, 10. bis 13. Jahrhundert (al-Ghazali, die Zeit seiner atemberaubenden der im Mittelalter bei uns unter dem Mit Afrika südlich der Sahara kam in Ausbreitung und die Zeit eines unge- Namen Algazel bekannte, wohl der Neuzeit ein weiterer Kontinent schmälerten Einsatzes für die Religi- berühmteste Theologe der Sunniten, unter den Einflussbereich des Islam. on, eine Zeit großer Begeisterung ist 1111 n. Chr. gestorben) lag, Die Zahl der Muslime nimmt dort und Erfülltheit. Die meisten Muslime während sich die spätere Zeit durch ständig zu. Die Beziehungen der sehen all diese Elemente in einem in- Wiederholungen der klassischen Leh- schwarzafrikanischen Muslime zu

59 Von besonderem Erfolg ist diesbezüglich bis heute das Buch des inzwischen zum Islam konvertierten französischen Arztes Dr. Maurice Bucaille: Bibel, Koran und Wissenschaft. Die Heiligen Schriften im Licht moderner Erkenntnis, München 1989, das in viele orientalische Sprachen übersetzt ist und in vielen Ländern der islamischen Welt weite Verbreitung gefunden hat. In ihm wird die These vertreten, dass die Bibel an zahlreichen Stel- len zu den Aussagen der Naturwissenschaften im Widerspruch steht, während die Aussagen des Koran mit denen der Naturwissenschaften voll- ständig vereinbar seien, was etwa bei der Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria lediglich dadurch belegt wird, dass bei Einzellern Parthogenese nachgewiesen wurde und somit geschlossen werden könne, dass prinzipiell eine solche nicht unmöglich zu sein braucht. 60 Tilman Nagel: Geschichte der islamischen Theologie S. 263 äußert an dieser These Zweifel, weil die große Zeitspanne vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart nur wenig Beachtung gefunden hat. Seiner Meinung nach ist hier noch viel zu tun und möglicherweise dann festzustellen, dass diese Ära bei weitem nicht nur eine Ära des Niederganges gewesen ist, wie es die islamischen Theologen und in ihrem Gefolge bislang die meisten Islamforscher behaupten, sondern dass auch in dieser langen Zeit das Ringen in theologischen Fragen weitergegangen ist und manch interessanten Neuansatz gebracht hat.

23 Die Zeit nach Mohammed den islamischen Kernländern sind ge- USA ein, und schließlich ist noch das sich als „Nachfolger“ (arab.: khalifa, wöhnlich gut, und es ist bekannt, starke Ansteigen der Zahl der Musli- eingedeutscht: Kalif) präsentierte. dass schwarzafrikanische Politiker, me innerhalb der europäischen Ge- Allen vier rechtgeleiteten Kalifen, wenn sie Muslime sind, mit der Un- meinschaft zu erwähnen.62 In Frank- also Abu Bakr (632–634), Umar terstützung ihrer arabischen Glau- reich ist der Islam vornehmlich durch (634–644), Uthman (644–656) und Ali bensbrüder rechnen können. die Einwanderer aus Algerien und (656–661), waren nur kurze Regie- Marokko die zweitstärkste Religion. rungszeiten beschieden, da der Über die Gründe der raschen Aus- Gleiches gilt aufgrund der großen Kampf um die Leitung der umma im- breitung des Islam in Schwarzafrika Zahl von Türken für die Bundesrepu- mer wieder aufflackerte. Dies gilt erst ist viel geschrieben worden. Sicher- blik Deutschland. In Großbritannien recht für das Kalifat der umayyadi- lich kommen mehrere Faktoren zu- nimmt die Zahl der Araber, Pakistanis schen Dynastie in Damaskus sammen, die alle eine Rolle spielen. und der indischen Muslime ständig (661–750) und das der abbasidischen Da ist zunächst das Bedürfnis vieler zu. Hinzu kommen immer mehr Asyl- Dynastie im Bagdad (749–1258), als Afrikaner, die ihren Stamm zugun- suchende und Flüchtlinge, so dass der der Islam durch zeitweilige Gegenka- sten besserer Verdienstmöglichkeiten orientalische Charakter bestimmter lifate (z. B. in Cordoba oder durch die verlassen haben, nach einer universa- Städte oder Stadtteile unmittelbar Fatimiden in Ägypten) vor eine inne- len Religion im Gegensatz zu der re- ins Auge springt. Mit diesen Men- re Zerreißprobe gestellt war. Auf die lativ lokal begrenzten Stammesreligi- schen kommen natürlich auch deren spezielle Problematik der Schiiten on. Der Islam entspricht dieser Erwar- Sorgen und Nöte. Politische Parteiun- wird noch eigens eingegangen. tung. Er befreit vom Minderwertig- gen der Heimatländer werden in die keitskomplex einer sogenannten neue Wohngegend transferiert, ja Wichtig in diesem Zusammenhang ist „primitiven“ Religion, ist von den Gepflogenheiten, wie sie im Heimat- zu sehen, dass der Kalif oberster Herr Weißen als Hochreligion anerkannt land selbst oft nicht oder nicht mehr der politischen wie religiösen Ge- und im Gegensatz zum Christentum, in dieser Form existieren, feiern meinde war. Im Gegensatz zum Pro- der Religion des weißen Mannes, plötzlich neue Triumphe und stellen pheten aber stand der Kalif unter nicht mit dem „odium“ der Koloniali- die Gastländer vor ungeahnte dem Gesetz des Koran; das Recht, sation behaftet, auch Rassendiskrimi- Schwierigkeiten. Insofern wird uns frühere Anweisungen zu abrogieren, nierung ist ihm fremd, und dann der Islam – nicht nur mit Blick auf die hatte er nicht. Insofern war er auch schenkt er durch seine Konzeption Ölländer, sondern auch im eigenen nicht oberster Gesetzgeber. Wie je- von der umma dem, der dem Stam- Lande – noch lange beschäftigen. der andere Gläubige musste er sich mesdenken entflohen ist, eine ihm Gottes Willen, wie er im Koran geof- gemäße neue Geborgenheit, denn 5.2 Probleme um die Nachfolge fenbart und von den Theologen und schließlich ist ja der Islam selbst aus Mohammeds Rechtsgelehrten für die konkrete Si- der Umbruchsphase von einer Stam- tuation adaptiert erläutert wurde, mes- und Sippengesellschaft zu einer Die starke Verbindung von Religion unterwerfen. Viele moderne Theolo- universalistischen Religion als erfolg- und Politik wirft sehr spezielle Säku- gen sehen hierin ein islamisches Ge- reiche Antwort für viele hervorge- larisierungsprobleme in der Welt von genmodell zu westlichen Demokra- gangen. Nicht zuletzt werden auch heute auf, und die Ausführungen tievorstellungen. Ihrer Meinung nach die Einfachheit der Glaubensvorstel- über Mohammeds Rolle in Medina hat nämlich die legislative Volkssou- lungen und die Praxis der Poly- haben deutlich gemacht, dass die veränität eindeutig dort ihre Grenze, gamie61 eine nicht unbedeutende Einheit von Politik, Gesellschaft und wo sie Gottes Gebote aufzuheben Rolle bei der Entscheidung für den Religion für die erste Zeit konstitutiv oder zu verändern droht. Einziger Islam spielen. war. Doch bereits durch den Tod Gesetzgeber ist somit – rein islamisch Mohammeds 632 n. Chr. kam die jun- gedacht – Gott allein. Kein Mensch Abschließend sei noch an weitere ge Islamgemeinde in eine sehr und kein Volk kann sich dieses Recht Einflusssphären des Islam erinnert: da schwere Krise, da Mohammed kei- anmaßen. ist zunächst der beträchtliche Anteil nerlei Anweisungen für den Fall sei- von Muslimen in den Nachfolgestaa- nes Ablebens hinterlassen hatte. Dass Es liegt nahe, dass der Kalif historisch ten der Sowjetunion, die sprachlich die neu entstandene umma nicht so- die Theologen begünstigte, die sei- und kulturell eine starke innere Be- gleich wieder zerfiel und dass es auch nen Handlungsspielraum weit ausge- ziehung teils zur Türkei, teils zu Iran nicht zu dem befürchteten Racheakt legt haben. Und manch ein Kalif hat aufweisen. Zu erwähnen sind auch oder Putschversuch der vom Po- den subtilen Argumentationsweisen die Muslime in der Volksrepublik Chi- lytheismus zum Islam übergetrete- der Theologen, die alle auch Rechts- na, über die gegenwärtig nur schwer nen Mekkaner kam, ist – nach Aussa- gelehrte waren , etwas nachgeholfen sichere Informationen zu erhalten ge der arabischen Historiker – Abu nach dem bewährten Zuchtmittel sind. Eine gewisse Sonderstellung Bakr zu verdanken, der sehr rasch die Zuckerbrot und Peitsche. Allerdings nehmen die „Black Muslims“ in den Leitung der umma übernahm und musste er stets darauf bedacht sein,

61 Bekanntlich ist es den Muslimen erlaubt, gleichzeitig (bei uns ist das nur nacheinander möglich!) mit bis zu vier Frauen legal verheiratet zu sein. In der Praxis aber war die überwiegende Mehrheit der Muslime in den Kernländern stets monogam, denn erstens gab es nicht so viele Frauen, und zweitens waren nur wenige Männer in der Lage, die für den Unterhalt mehrerer Frauen erforderlichen Geldmittel aufzubringen. 62 Vgl. zu den Muslimen in den USA, in Großbritannien und Frankreich Gilles Kepel: Allah im Westen. Die Demokratie und die islamische Herausforde- rung, München 1996 sowie zum Islam in Westeuropa im allgemeinen Jørgen S. Nielsen: Muslims in Western Europe, Edinburgh 1992; Peter Antes: Islam in Europe, in Sean Gill, Gavin D’Costa and Ursula King (Hrsg.): Religion in Europe. Contemporary Perspectives, Kampen 1994 S. 46–67; W.A.R. Shadid u. P. S. van Koningsveld (Hrsg.): Religious Freedom and the Position of Islam in Western Europe. Opportunities and Obstacles in the Acquisi- tion of Equal Rights (with an extensive bibliography), Kampen 1995 und dies. (Hrsg.): Political Participation and Identities of Muslims in non-Muslim States, Kampen 1996

24 Die Zeit nach Mohammed sich mit der Theologenschar insge- einzige Mittel, um Volksdemokratie eine detaillierte Analyse der einzel- samt nicht zu überwerfen. Es gibt zu erreichen. Jedes andere Regie- nen Länder mit all ihren Strömungen nämlich Beispiele genug, die zeigen, rungssystem außer den Volkskon- vorgelegt werden soll. Das würde dass dann – trotz Geheimpolizei und gressen ist undemokratisch. Alle heu- den Rahmen dieser Darstellung und Gewaltherrschaft – die Macht des Ka- te in der Welt vorherrschenden Syste- die Fähigkeiten eines einzelnen er- lifen gefährdet und der Putsch in me sind undemokratisch, es sei denn, heblich übersteigen. Wer das erwar- greifbare Nähe gerückt war. So war sie nähmen diese Methoden an. tet, sei auf die großen Gesamtdar- die Geschichte des Islam immer wie- Volkskongresse sind das Ende der stellungen66 und die weiterführende der bestimmt vom Spannungsfeld Massenbewegung auf ihrer Suche Literatur in den Anmerkungen bzw. der politischen Entscheidungsgewalt nach Demokratie. Volkskongresse die in diesen Arbeiten angegebene einerseits und den Theologen/ und Volkskommitees sind die endgül- Literatur verwiesen. Ziel dieser Aus- Rechtsgelehrten andererseits, und tige Frucht des Kampfes der Völker führungen kann es nur sein, auf dies auch noch dann, als neben den um Demokratie.“65 Viele Fragen blei- einige Aspekte hinzuweisen, die bei Kalifen rein „irdische“ Inhaber der ben dabei offen. So erfährt man z. B. der Beurteilung der Lage nicht ver- Staatsgewalt wie regional die Könige nichts darüber, wie diese Volkskon- gessen werden sollen. oder allgemein der Sultan getreten gresse handlungsfähig bleiben sol- waren. Am 3. März 1924 hat Atatürk len, wenn nicht alle Leute dasselbe Die Unterschiede wurden bisher noch das Kalifat abgeschafft, und obwohl wollen und Mehrheitsentscheidun- nicht zur Sprache gebracht. Es wurde es immer wieder Stimmen zugunsten gen als Diktatur gebrandmarkt sind. statt dessen versucht, die Sichtweise seiner Wiedereinführung gegeben herauszuarbeiten, die – über alle Un- hat, ist seither nie wieder jemand als Ein Blick auf die islamischen Staaten terschiede hinweg – allen Muslimen Kalif von allen Muslimen anerkannt mit solchen Einheitsparteien zeigt, weitgehend eigen ist. Trotz alledem worden. Die umma ist also ohne dass sie im Innern letzlich ebenso we- darf auch dabei nicht übersehen wer- sichtbares organisatorisches Ober- nig stabil sind, wie es die Regierungs- den, dass manche Akzentsetzung von haupt. Auch die Weltmoslemliga mit zeiten der Kalifen waren. Man muss einzelnen Muslimen anders vorge- Sitz in Mekka kann diese Rolle nicht sozusagen permanent mit der Gefahr nommen würde, als es hier geschah. übernehmen. eines Staatsstreiches oder Putsches Doch in der Grundtendenz, so glaube rechnen. Ein weiteres Erbe der klassi- ich, dürften sich die meisten Muslime 5.3 Kalifat und Führungsprinzip schen Zeit des Islam dürfte in dem in dem bislang Gesagten ausgespro- kontinuierlichen Versuch der Regie- chen fühlen. A. G. Samarbakhsh63 hat den Gedan- rungen von Bagdad, Damaskus und ken in die Diskussion gebracht, dass Kairo zu sehen sein, eine Art Führer- die Einheitspartei mit ihrem meist rolle in der islamischen Welt zu über- diktatorisch regierenden Führer in nehmen. Das Bestreben, die eigene 6 Unterschiedliche vielen islamischen Ländern als ideale Nation auf die umma hin auszuwei- Gruppierungen Adaptation auf nationaler Ebene von ten, kommt in den vielfältigen innerhalb des Islam dem betrachtet werden könne, was Staatsverschmelzungsvorschlägen die islamische Tradition im Regie- zum Ausdruck, die immer wieder in 6.1 Rechtsschulen und ihre rungsstil des Kalifen ihr Eigen nann- den letzten Jahrzehnten gemacht Institutionen te. Der Raïs oder Zaïm hätte dann die worden und dort, wo sie probiert Rolle des Kalifen; die Nation träte an worden sind, ohne Erfolg geblieben Die politische, gesellschaftliche und die Stelle der umma; die Massenun- sind. religiöse Entwicklung der umma kon- terstützung ersetze die parlamentari- frontierte die Muslime recht bald mit sche Demokratie westlichen Typs, der Nur andeutungsweise ist bisher an- Problemen, die im Koran weder Libyens Staatschef Gaddafi sogar vor- geklungen, dass es innerhalb des gelöst noch angesprochen worden wirft, im Grunde genommen eine Islam in Vergangenheit und Gegen- waren. Man interessierte sich deshalb Diktatur zu sein: „Ein politischer wart sehr unterschiedliche Gruppie- für das Verhalten Mohammeds, die Kampf, dessen Ergebnis der Sieg ei- rungen gibt, die bis heute relevant sogenannte sunna des Propheten, nes Kandidaten mit 51% Stimmenan- sind. Denn es ist bei weitem nicht so, und seine Aussprüche, die er kund- teil ist, führt zu einem als Demokratie dass es sich beim Islam um ein homo- gab, wenn er nicht den Koran ver- bemäntelten diktatorischen Regie- genes Denkmodell oder Glaubensge- kündete. Offenbar hatte Mohammed rungsapparat, da 49% der Wähler- bäude handelt. Dies gilt nicht nur mit subjektiv eine deutliche Trennung schaft von einem Herrschaftsinstru- Blick auf den Unterschied zwischen vorgenommen zwischen dem, was er ment regiert werden, für das sie nicht Sunniten und Schiiten, sondern auch als „Sprachrohr Gottes“ zu verkün- gestimmt haben, sondern das ihnen für die Sunniten allein, weshalb wir den hatte, und dem, was er gewisser- auferlegt worden ist. Das ist Dikta- nun im nächsten Kapitel diesen Un- maßen als Privatmann sagte. Diese tur.“64 Demgegenüber heißt sein Re- terschieden einige Beachtung schen- letzteren Aussprüche sind als zept: „Volkskongresse“. Sie „sind das ken wollen. Dies heißt nicht, dass „Hadithe“ bekannt und gesammelt.

63 A. G. Samarbakhsh: Socialisme en Irak et en Syrie, Paris 1978 S. 26ff 64 Zit. bei Heinz Gstrein: Marx oder Mohammed? Arabischer Sozialismus und islamische Erneuerung, Freiburg – Würzburg 1979 S. 23 65 Zit. bei Gstrein, a.a.O. S. 24 66 Als Grundorientierung kann außer F. M. Pareja (Hrsg.): Islamologie, Beyrouth 1957–1963, zur historischen Entwicklung noch dienen die zweibän- dige Geschichte des Islam in Fischer Weltgeschichte und The Cambridge History of Islam (2 vols.) sowie Udo Steinbach u. Rüdiger Robert (Hrsg.): Der Nahe und Mittlere Osten. Politik – Gesellschaft – Wirtschaft – Geschichte – Kultur, Opladen, 2 Bde, 1988 und Werner Ende u. Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München, 4. Aufl. 1996

25 Unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Islam

Allerdings stellte sich bald heraus, gedeutscht: Scharia(t)) aber durch gebiet: Ägypten, Palästina, Libanon, dass zahlreiche Aussprüche und Ver- Richter ersetzt wurde, die an juristi- Saudi-Arabien, Jemen, Irak und haltensweisen als die Mohammeds in schen Fakultäten europäischen Stils Indonesien). Als 5. legitime Rechts- Umlauf gebracht wurden, die nicht ausgebildet sind und nach europäi- schule (madhhab) wollen viele Musli- authentisch waren, sondern im schem Recht urteilen. De facto me die schiitische ansehen und damit Dienste ganz bestimmter späterer herrscht nämlich in den meisten isla- die Vorstellung, der Islam bestehe Entscheidungen erfunden wurden. mischen Ländern gegenwärtig eine aus unterschiedlichen Konfessionen Eine Hadithkritik wurde deshalb not- Art Mischgesetzgebung, da mit Aus- oder Sekten (wie das Christentum), wendig. Ihr methodisches Vorgehen nahme des Familien- und Erbrechtes bewusst ablehnen. bestand vor allem darin, durch Prü- sowie der Verwaltung der religiösen fung der Glaubwürdigkeit der Tra- Stiftungen (wakf) viele andere Berei- Die Nennung der Hauptverbreitungs- denten dieser Aussagen (isnad) die che einer zivilen Gesetzgebung west- gebiete der einzelnen Rechtsschulen Authentizität der Aussagen selbst zu lichen Musters unterstehen.69 Hierin zeigt deutlich, dass durchaus mehr bestätigen. Die Wahrscheinlichkeit gründet der stets unausgestandene als eine Schule in einem Land vertre- der Aussage aufgrund innerer Grün- Konflikt zwischen denen, die solche ten sein können. Die Zugehörigkeit de spielte dabei nur eine untergeord- Zurückdrängungen der Scharia gene- zu der einen oder anderen ist für den nete Rolle. In jedem Falle trat damals rell als Sünde und gegen Gottes An- einzelnen Muslim nicht zufällig. Er für viele neben den Koran die sunna weisungen gerichtet ablehnen, und wird praktisch in sie hineingeboren, (inklusive Hadithe) des Propheten als denen, die keinen einzigen Bereich weil er dem madhhab folgt, dem weitere Quelle des islamischen mehr dem Kadi überlassen wollen, so auch seine Eltern angehören. Rechts. Man nennt die Verfechter dass beide Gruppen eigentlich mit dieser Position deshalb „Sunniten“. dem status quo unzufrieden sind und 6.2 Die Wahhabiten eine Änderung des de-facto-Zustan- Koran und sunna allein reichten je- des in ihrem Sinne anstreben. Ange- Eine besonders radikal-konservative doch noch nicht aus, um die neu auf- sichts dieser Polarisierung droht das Richtung innerhalb der hanbaliti- tretenden Probleme zufriedenstel- Pendel zur Zeit zugunsten der Scha- schen Schule ist die von Muhammad lend zu lösen. Deshalb gestatteten ria-Anhänger auszuschlagen. Nicht Ben Hanbal al-Wahhab (1703–1787), viele Rechtsschulen zusätzlich die Be- nur in Iran – auch in der Türkei, in die gegen alle „Neuerungen“ zu Fel- rufung auf den Konsens (idjmac)67 Ägypten und in Algerien – versuchen de zieht und Staatsdoktrin in Saudi- der Gemeinde, um Lehren einzu- besonders konservative Gruppen wie Arabien ist. Die „Ablehnung jeder führen, die weder im Koran noch in etwa die „Moslembrüder“70 eine Än- über den Koran und die früheste der sunna enthalten sind. Hierzu derung der Gesetze und letztlich die Überlieferung, die Sunna, hinausge- gehören beispielsweise die Zulassung totale Wiedereinführung der Scharia henden religiösen Entwicklung und der „Heiligenverehrung“ und ein ge- durchzusetzten. Verwerfung von Koranexegese zu- wisser Gräberkult, die beide bis heu- gunsten wörtlicher Auslegung und te etwa von der strengen Hanbali- Im Laufe der Geschichte haben sich Befolgung wurden von Abd al- Schule als unzulässige „Neuerungen“ vier Rechtsschulen herausgebildet, Wahhab und seinen Anhängern, den abgelehnt werden. Schließlich ver- die heute von allen Muslimen als le- Wahhabiten, zu praktischen Lebens- wenden die meisten Rechtsschulen gitim anerkannt werden, weshalb regeln gemacht: Verbot von Tabak, noch den Analogieschluss (kiyas), mit man korrekterweise bei ihnen nicht Rasieren und Fluchen unter Strafe dessen Hilfe neu auftretende Proble- von „Sekten“ sprechen kann. Sie rei- von bis zu 40 Peitschenhieben; das me anhand ähnlicher Entscheidun- chen von der sehr rigorosen, konser- Glaubensbekenntnis allein macht gen gelöst werden können. Die An- vativen Schule des Ibn Hanbal (gest. niemand zum Muslim, sein Leben wendung dieser Methoden obliegt 855 n. Chr.; Hauptverbreitungsge- und seine Werke müssen dem Glau- innerhalb der Rechtsschulen dem biet: Saudi-Arabien, Libanon, Syrien) ben entsprechen; Rosenkränze zum Mufti, der durch ein juristisches über die Schulen des Abu Hanifa Betrachten der Namen Allahs und Grundsatzurteil (fatwa ) den Fall ge- (gest. 767 n. Chr.; Hauptverbreitungs- der Bau von Moscheen mit Minaret- nerell löst.68 gebiet: Jordanien, Türkei, Afgha- ten und Verzierungen sind untersagt. nistan, Pakistan, Indien, Turkvölker Von großer Bedeutung für die Her- Während der Mufti allein für Grund- der ehemaligen Sowjetunion, China ausbildung der wahhabitischen Be- satzurteile zuständig ist, obliegt die und Indochina) und des Malik (gest. ter- und Streitergemeinde wurden konkrete Rechtsprechung dem Kadi, 798 n. Chr.; Hauptverbreitungsge- aber die Verpflichtung zum gemein- der an theologischen Hochschulen biet: Marokko, Algerien, Tunesien, samen, öffentlichen Gebet, dem ausgebildet ist, im Zuge einer fort- Sudan, Kuweit, Bahrain) bis zur Salat, sowie Einschränkung des pri- schreitenden Zurückdrängung des liberalsten, der Schule des Schafici vaten Besitzrechtes zugunsten der Religionsgesetzes (fikh/sharica, ein- (gest. 845 n. Chr.; Hauptverbreitungs- Gemeinde und der Bedürftigen.“71

67 Vgl. dazu Art. Idjmac, in EI III S. 1023–1026 68 Das Studium solcher Fatwas ist landeskundlich höchst aufschlussreich, vgl. dazu Johannes Benzing: Islamische Rechtsgutachten als volkskundliche Quelle, Mainz – Wiesbaden 1977. Als Beispiele für Ägypten lassen sich dort (S. 7) Fatwas anführen, denen zufolge 1951 der Genuss von Pepsi-Cola und Coca-Cola und 1953 die Verwendung von Mikrofonen und Lautsprechern bei Gottesdiensten für unbedenklich erklärt wurden. 69 Vgl. Norman Anderson: Law Reform in the Muslim World, London 1976 S. 86ff 70 Vgl. dazu Gstrein, a.a.O. S. 26f; den Art. al-Ikhwan al-Muslimun, in EI III S. 1068–1071 bzw. den Art. al-Banna’, in EI I S. 1018f; zur Frage der Paral- lelität im Denken bei Khomeini und den Muslimbrüdern vgl. Khalil Samir: Khomeini e i „Fratelli musulmani“. Un ritorno integrale alle radici dell’Islam, in Civiltà Cattolica 131 (1980) S. 445–458 71 Gstrein, a.a.O. S. 11

26 Unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Islam

Manche von diesen strengen Regeln geeignet ist, die weitverbreiteten sonst in ihren Familien und Berufen erscheint heute in Saudi-Arabien Minderwertigkeitskomplexe gegen- lebenden Brüdern … Libyen als reli- leicht gemildert (so hat z.B. die große über Gebildeten und vor allem Aus- giös-geistige und damit auch politi- Moschee in Mekka Minarette), insge- ländern aus dem „Westen“ abzubau- sche Einheit ist eine moderne Schöp- samt aber gelten diese Anweisungen en und durch ein Gefühl des Stolzes fung des Sanussi-Ordens.“72 Die Idea- nach wie vor. Selbst Ausländer müs- auf die eigene Tradition zu ersetzen. le dieses Ordens wurden jedoch in sen sich in einem gewissen Maße diesem Jahrhundert immer weniger beugen, indem auch sie etwa keinen Bei ihrer Islampropaganda beschrän- sichtbar, weil die Ordensoberen all- Alkohol kaufen können oder die ken sich die Saudis nicht nur auf die mählich zu Feudalherren wurden Frauen nicht Auto fahren dürfen. Die islamische Welt. Sie versuchen auch und eine erbliche Monarchie einge- ultrakonservative Theologenschaft die Übersetzung islamischen Propa- richtet haben, die 1969 gestürzt wur- wacht mit Argusaugen über die Ein- gandamaterials in westliche Spra- de. Die Ideale der Umstürzler, deren haltung der Gebote und rügt deshalb chen zu fördern, stellen Geld zur Führung Gaddafi übernahm, glei- immer offener die luxuriöse Lebens- Gründung von Zentren und Institu- chen in vielem den ursprünglichen führung vieler Prinzen. Nach all dem, ten zur Verfügung und haben sogar Idealen des Sanussi-Ordens. was im Zusammenhang mit der Be- durch riesige Geldangebote – wenn setzung in der großen Moschee von auch ohne Erfolg – die Herstellung Das Beispiel Libyen zeigt in besonde- Mekka vom Dezember 1979 bekannt und das Zeigen des Filmes „Tod der rer Weise, welche Bedeutung in der geworden ist, scheinen gerade diese Prinzessin“ in England immer wieder islamischen Welt die Sufi-Orden ha- Theologenkreise eine wichtige Rolle zu verhindern versucht. ben. Wir haben uns angewöhnt, dabei gespielt zu haben. Es ist un- „Sufi“ mit „Mystiker“ zu übersetzen schwer zu erkennen, dass hier ein Der Ölreichtum verleiht so der wah- und fassen darunter eine Reihe recht Problem liegt, das die politische Sta- habitischen Richtung innerhalb der unterschiedlicher religiöser Denk- bilität des Landes dauerhaft bedroht. islamischen Welt eine unproportional und Erfahrungstraditionen.73 Die po- hohe Bedeutung. Ja, selbst westliche litische Bedeutung dieser Bruder- Der immense Reichtum an Petro- Unternehmen scheuen nicht mehr schaften aber ist bislang nur an Ein- dollars ermöglicht es den Saudis, davor zurück, in leitende Stellen ih- zelbeispielen untersucht worden, ob- ihren Glaubensvorstellungen auch rer saudi-arabischen Niederlassungen wohl klar ist, dass in der Vergangen- außerhalb ihres Staatswesens zum vorzugsweise die ihrer Leute zu brin- heit wie in der Gegenwart diese – oft Durchbruch zu verhelfen. So finan- gen, die zum Islam übergetreten sind wie Geheimbünde agierenden – Or- zieren sie in vielen islamischen Län- und die man in saudi-arabischen Di- densrichtungen eine große Bedeu- dern traditionelle Unternehmungen plomatenkreisen gerne spöttisch „Öl- tung haben.74 An historischen Bei- und helfen durch enorme Druckkos- muslime“ nennt. spielen sei auf die Assassinen in der tenzuschüsse, dass vor allem solche Kreuzfahrerzeit, auf den Orden des Bücher geschrieben und veröffent- 6.3 Die Bruderschaften Scheich Safi aus Ardabil, dem es zu licht werden, die die Rückkehr zum Beginn des 16. Jahrhunderts gelang, ursprünglichen Islam (in konservati- Ölreichtum ist auch die Ursache für in Iran die Macht an sich zu reißen ver Rekonstruktion) fordern und alle die Bedeutung einer anderen Rich- und die Dynastie der nach dem Grün- „Neuerungen“ als schädlich bekämp- tung des Islam: des Sanussi-Orden der Safi benannten Safawiden zu fen. Vertreter der Linie der soge- Libyens. Sidi Muhammad Ben Ali gründen, und auf die Marabuts in nannten „Reformtheologen“ haben al-Sanussi (1791–1859) „sah in seiner Marokko verwiesen. In der Gegen- es infolgedessen immer schwerer, et- ‚‘, seinem Orden, die Quintes- wart spielen die Tarikas immer noch was unter das Volk zu bringen. senz der bereits bestehenden vierzig in den meisten islamischen Ländern größeren Derwischgemeinschaften. eine nicht unbedeutende Rolle. Be- Was hier vom Buchmarkt gesagt wur- Wie diese legte er bei seinen Novizen sonders politisch relevant sind sie de, gilt in noch stärkerem Maße von zunächst größten Wert auf das be- zweifellos in Schwarzafrika, in der Produktion von Schallplatten und trachtende Gebet, den Zikr, lehrte Afghanistan und in den Nachfolge- Kassetten, es hat auch Geltung für sie, den Gottesnamen ‚Ja Latif‘ (Oh staaten der islamischen Sowjetrepu- Rundfunk- und Fernsehsendungen, Gütiger!) im Herzen bis zu tausend- bliken. Dort sind sie durch ihre stren- die insgesamt in einer Gesellschaft mal zu wiederholen. Mehr noch als gen Aufnahmeregeln und Probezei- mit hoher Analphabetenrate mehr die anderen Derwischorden, für die ten ziemlich gesichert gewesen vor Einfluss haben dürften als gelehrte es zum Unterschied vom buddhisti- Unterwanderung durch Spitzel. In Bücher. Hinzu kommt, dass die Ge- schen und auch christlichen Monasti- vielen Tarikas wird so erneut deut- dankengänge dieser konservativen zismus immer nur ein ‚Kloster auf lich, dass der Islam zwischen Geistli- Theologen für die meisten einfachen Zeit‘ und nie eine dauernde oder chem und Weltlichem keine Tren- Leute vertraut und verständlich klin- prinzipielle Aszese, Enthaltsamkeit nung kennt. Politische, ja konkret mi- gen und von daher gerne aufgegrif- und Keuschheit gibt, entwickelte Sa- litärische Aktivitäten sind deshalb ei- fen werden, zumal die dort stets be- nussi den sozialen Charakter seiner nigen Tarikas – falls erforderlich – schworene Überlegenheit des Islam Gemeinschaft als Kommunität von nicht fremd.

72 Gstrein, a.a.O. S. 19f 73 Vgl. dazu das erwähnte Buch von Gramlich und als eine Art Einführung Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, München 3. Aufl. 1995 und dies.: Sufismus und Volksfrömmigkeit, in dies. u.a.: Der Islam III. Islamische Kultur – Zeitgenössische Strö- mungen – Volksfrömmigkeit S. 157–266 sowie Art. Islam. III. Mystik, in LThK Bd 5 (1996) col. 624f 74 Vgl. dazu z.B. die Beteiligung des Nakshbandi-Ordens an politischen Umstürzen vom Kaukasus bis China, wie sie in den Artikeln Islam in …, in Mircea Eliade (Hrsg.): The Ecyclopedia of Religion, New York – London 1987 (im folgenden zitiert als ER) Bd 7 S. 360–395 erwähnt werden.

27 Unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Islam

Mit dem Hinweis auf die Sufis bewe- 6.4.1 Die Anfänge nach Auffassung der Kharidjiten gen wir uns – aus der Sicht der Theo- zulässig war. Zur Bedrohung wurde logen der Sunna – am Rande der Or- Die Anfänge der schiitischen Ge- diese Konkurrenz, als Ali (beerdigt in thodoxie, dort, wo das gesamte Reli- schichte reichen zurück bis in die er- Najaf im Irak) 661 n. Chr. durch gionsgesetz (Scharia) des Islam für et- sten Jahre nach dem Tode Moham- Muawijja abgesetzt wurde und Alis was Äußerliches gehalten wird, dem meds. Es stellte sich, wie bereits er- Nachkommen keine Chance hatten, eine innere Seite (batin) entspricht, wähnt, die Frage, was an die Stelle an die Macht zu kommen. Die An- die erst das wahre Verständnis der der unmittelbaren Anweisungen hänger Alis, des Schwiegersohnes göttlichen Offenbarung ermöglicht Gottes, wie sie durch Mohammed an von Mohammed, gaben dennoch und durch die mystischen Lehren ver- die Gemeinde ergingen, treten sollte. nicht auf. Sie taten sich zusammen, mittelt wird. Im Klartext besagt diese Die weitaus größte Mehrheit der bildeten die „Partei Alis“ (arab.: innere Seite oft das Gegenteil der Muslime, der Sunniten, glaubte, alle Shica cAli, kurz Shica bzw. Schia ge- äußeren, d.h. die Mystik ist jener Be- Probleme unter Berufung auf den nannt; ein solcher Parteigänger heißt reich innerhalb des Islam, der Koran und die sunna des Propheten dementsprechend shici bzw. Schiit) nichtorthodoxe Gedanken in Hülle lösen zu können. Andere sahen die und versuchten mit allen Mitteln und Fülle bietet und zulässt, eine Art Ersatzinstitution für das Eingreifen ihren Führer (Imam) an die Macht zu freidenkerischer Tradition, und von Gottes erfüllt von „einer weitgehend bringen. Ihrer Meinung nach musste daher nimmt es nicht wunder, dass durch eine Person, den Imam, getra- der Imam, der nicht mit dem norma- die Sufis immer wieder von den genen Leitung des muslimischen len Vorbeter (= Imam) in jeder Mo- Theologen argwöhnisch beobachtet Staates. Diese personale Staatslen- schee zu verwechseln ist, unmittelbar und teilweise auch verfolgt wurden. kung durch einen charismatischen aus der Familie des Propheten stam- Herrscher, der mit göttlicher Inspirati- men. Somit kamen nur Ali und des- Für unseren Zusammenhang ist dabei on die ihm anvertraute Gemeinde sen Nachkommen als charismatische nur wichtig festzuhalten, dass die Su- behütet und dem Heil entgegen- Führer in Frage. fis immer wieder im Verdacht stan- führt, nennen wir das Imamat. Es bil- den, keine echten Muslime zu sein. det einen diametralen Gegensatz zu Diese Imamatskonzeption impliziert, Der Ausdruck „Sufi“ wurde bisweilen den Verhältnissen bei den Óarigiten, dass die ersten drei Kalifen eigentlich fast zu einem Schimpfwort, um die bei denen im Idealfall allein das im nur Usurpatoren des Kalifates von Ali zu bezeichnen, die nicht mehr „auf Koran niedergelegte Gotteswort gewesen sein können. Es ist jedoch der Linie waren“. Hinzu kommt, dass herrschen soll. Es ist leicht einzuse- fraglich, ob es in diesem Sinne schon sich die Sufis sowohl aus der Gruppe hen, dass sich die Idee des Imamates eine Partei Alis vor der Umayyaden- der Sunniten als auch aus der der als lebenstüchtiger erwies als diese zeit gegeben hat. In der Umayyaden- Schiiten rekrutierten und dadurch ei- Versuche einer Gesellschaftsordnung zeit nun erklärten die Schiiten ne nicht ungefährliche Richtung mit rein auf dem Boden des Koran. Das zunächst Alis Sohn Hasan und nach bisweilen sehr konkreten, für Außen- Imamat kann sich eher dem Wechsel dessen Tod (669 n. Chr.) den anderen stehende nicht immer erkennbaren der Zeit, neuen Umständen und Er- Sohn Alis Huseïn zum rechtmäßigen politischen Zielen waren und sind. fordernissen anpassen als das ein für Führer der Gläubigen und behaupte- allemal festgelegte Gotteswort. Des- ten damit die Unrechtmäßigkeit des 6.4 Die Schiiten sen Verfechter, die Óarigiten, ver- Kalifen in Damaskus. Die Truppe schwanden daher auch schon im Huseïns wurde geschlagen, und Die letzte Gruppierung innerhalb des zweiten Jahrhundert weitgehend aus Huseïn selbst fand 680 n. Chr. in Islam, die hier angesprochen werden den islamischen Zentralländern und Kerbela (Irak) den Tod. Die Erinne- soll, ist die der Schiiten.75 Ins allge- konnten sich nur in Rückzugsgebie- rung an diesen Tod wird von den meine Bewusstsein trat diese Gruppe ten halten, während die Idee des Schiiten im Trauermonat Muharram vornehmlich durch die sogenannte Imamates manche großartige Bewe- gefeiert. „islamische Revolution“ in Iran, und gung in der islamischen Welt hervor- es besteht leicht die Gefahr, dass man rufen sollte.“76 6.4.2 Die Trauerfeierlichkeiten im unter dem Eindruck der aktuellen Er- Monat Muharram eignisse in Iran die Rolle ihrer Theolo- So stellten allein die Befürworter des gen allgemein zu negativ bewertet. Imamates eine ernsthafte Konkur- Besonders bekannt und berühmt sind Es kann hier nicht darum gehen, all renz für die islamische Gemeinde dar, die Trauerumzüge mit den Passions- das nachzuzeichnen, was zur gegen- die durch die Institution des Kalifates spielen (tacziya), die am 10. Muhar- wärtigen Situation geführt hat. Wie die umma handlungsfähig erhalten ram, dem Aschura-Tag, ihren Höhe- bei allen anderen Gruppierungen und durch die Hinzunahme der punkt finden, wenn drei Sorten von müssen wir uns auch bei den Schiiten sunna des Propheten als zusätzlicher Prozessionen stattfinden: die der auf einige wenige Grundlinien be- Rechtsquelle (daher: Sunniten) mehr Brustschläger, der Kettengeißler und schränken. Handlungsspielraum für Neuentwick- der Säbelgeißler.77 lungen geschaffen hatte, als dies

75 Vgl. dazu die beiden wichtigen Bücher von Heinz Halm: Die Schia, Darmstadt 1988 und ders.: Der schiitische Islam: von der Religion zur Revolu- tion, München 1994 76 Tilman Nagel: Rechtleitung und Kalifat. Versuch über eine Grundfrage der islamischen Geschichte, Bonn 1975 S. 48 77 Vgl. dazu Ibrahim al-Haidari: Zur Soziologie des schiitischen Chiliasmus. Ein Beitrag zur Erforschung des irakischen Passionspiels, Freiburg 1975 S. 42–48 und Halm: Der schiitische Islam S. 73ff

28 Unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Islam

Politisch sind diese Trauerfeierlich- sondern Zain al-Abidin (gest. 712 n. unsere Zeit die Drusen und die Grup- keiten höchst brisant, weil häufig Chr.) als Imam verteidigte. Nach sei- pe um den Agha Khan. Ismailiten Gedichte vorgetragen werden, die nem Tod kam es zur ersten Spaltung gibt es heute vor allem noch in Iran, – in chiffrierter Form, verfremdet und der Schiiten, weil Zaid (gest. 740 n. Afghanistan und im pakistanisch- verlegt in die Zeit Huseïns – die kon- Chr.) und Muhammad al-Bakir (gest. indischen Bereich. Die Nachfolge krete Not der Bevölkerung zum Aus- 731 n. Chr.) das Imamat gleicher- Djacfars durch Ismacil und damit auch druck bringen. Als Beispiel sei hier maßen beanspruchten. Den An- durch dessen Sohn Muhammad wur- ein solches Gedicht aus dem Irak aus- hängern Zaids, den „Zaiditen“ oder de jedoch von vielen abgelehnt. Die- zugsweise angeführt, das 1965 in „Fünferschiiten“, gelang es schließ- se traten statt dessen für Musa al-Ka- Kerbela vorgetragen wurde und bei lich (etwa um 864 n. Chr.) am Kaspi- zim (gest. 799 n. Chr.) als Djacfars dem die allgemeine Stimmung sowie schen Meer einen Staat zu errichten, Nachfolger ein. Ihre Imamenreihe die revolutionäre Sprengkraft dieser der fast drei Jahrhunderte hindurch setzt sich fort durch Ali al-Rida Feiern gleichermaßen deutlich wer- Bestand hatte; kurz nach der Bildung (gest. 818 n. Chr.) als 8., Muhammad den: des kaspischen Zaiditenstaates hat al-Djawad (gest. 835 n. Chr.) als 9., der Imam Yahya b. al-Huseïn im Ali al-Hadi (gest. 868 n. Chr.) als 10. „O Husain, Dir klagen wir unsere Lage! Jemen die Unabhängigkeit erklärt und Hasan al-Askari (gest. 874 n. Chr.) Auf uns liegt die Herrschaft der (893 n. Chr.) und die zaiditische Herr- als 11. Imam. Mit Ausnahme Alis, des Gemeinen, oh, der Du uns Zuflucht ge- schaft begründet, die erst 1962 durch 1. Imam, der als 4. Kalif für kurze Zeit währst! einen Putsch der Militärs und die Ver- der umma aller Muslime vorstand, Das Gesetz des Abu Sufyan (Umayyaden) treibung des Imam beendet wurde. hat kein anderer Imam je die Herr- hat Macht über das Land errungen. Allerdings schafften es diese zaiditi- schaft erobern können. Fast alle star- Auf uns liegen Unterdrückung und schen Imame wohl nur, so viele Jahr- ben eines unnatürlichen Todes, der Tyrannei, oh, der Du uns Zuflucht ge- hunderte an der Macht zu bleiben, nach Meinung der Schiiten stets währst! … weil dort eine sehr praxisnahe Ima- durch die Kalifen und deren Helfers- Wir gedulden uns nicht mehr, matslehre vertreten wurde. Vom helfer verursacht war. wir tragen die Schande nicht! Imam wurde nämlich nur gefordert, Die Lage des Volkes muss unbedingt dass er von Ali abstammt (also Alide Mit dem Tode des 11. Imam trat nach geändert werden! war). Dabei war sowohl die Linie Überzeugung seiner Anhänger inso- Erwarten wir noch Tapfere, zerschlagen über Hasan als auch die über Huseïn fern eine radikal neue Situation ein, wir die Tyrannei und beseitigen die zulässig. Auch wurde von ihm keine als der rechtmäßige Nachfolger und Dunkelheit, so dass Licht wird …? … unmittelbare Amtsnachfolge oder Sohn Hasans, Muhammad, damals Lasst uns weiter sprechen, denn die gar eine ausdrückliche Ernennung ein Kind von ungefähr 6 Jahren, zwar Scheu ist aufgehoben, durch den Vater verlangt. Der Imam die Nachfolge als 12. Imam antrat, Millionen Familien klagen vor Hunger! musste lediglich ein kriegerisch und aber kurz danach verschwand, in offi- Wo ist das Gute, wo? theologisch versierter Alide sein. zieller Terminologie: „entrückt wur- Wird davon etwas uns erreichen?“78 Wurde er von einem anderen besiegt de“. Während seiner „Abwesenheit“ oder abgesetzt, so braucht der neue (ghayba) wurde seine Gemeinde von Es liegt auf der Hand, dass solche Herrscher nur Alide zu sein und Schiiten, die man daher „Zwölfer- Aussagen oft die Gemeinten und ihre konnte damit schon als rechtmäßiger schiiten“81 oder „Imamiten“ nennt, Organe zu entsprechenden Reaktio- Imam anerkannt werden, ja es durfte zunächst von einem Stellvertreter nen veranlassen. Wird ein Schiit bei durchaus einmal mehrere Imame (wakil) geleitet, doch seit auch dieses derartigen Prozessionen, die oft die gleichzeitig geben. Prinzip nach dem 4. Wakil nicht mehr Form von Massendemonstrationen realisierbar war, kam es zu einer neu- mit regelrechten Straßenschlachten Der Ahnherr der Zaiditen, Zaid, so en Form von „Abwesenheit“, die annehmen, verwundet oder gar wurde gesagt, erhob den Imamatsan- man im Unterschied zu der ersten, getötet, so weiß man, dass er sein spruch zusammen mit Muhammad „kleinen“, nun die „große Abwesen- Blut für Huseïn vergossen hat und al-Bakir, auf den in der nichtzaiditi- heit“ nennt. Während dieser Zeit ist mit ihm am großen Lohn des Paradie- schen Linie Djacfar al-Sadik (gest. 765 der 12. Imam weiterhin am Leben (ei- ses teilnimmt. Es herrscht infolgedes- n. Chr.) folgte.79 Die Nachfolge ne Art Kyffhäusermotiv!), und die sen häufig eine geradezu frenetische Djacfars ihrerseits führte zu einer Imamiten glauben, dass er dereinst Begeisterung und Opferbereitschaft. weiteren, folgenschweren Spaltung wiederkommen wird, um dann den der Schia. Die einen hielten Ismacil, Endsieg für die gerechte Sache 6.4.3 Die Imame und erste der jedoch noch vor dem 6. Imam gegen alle Usurpatoren der Macht zu Spaltungen in der Schia Djacfar gestorben war, für den recht- erringen. Deshalb trägt dieser 12. mäßigen 7. Imam. Man nennt sie des- Imam auch den Beinamen „Mahdi“. Die Tatsache, dass noch heute viele halb „Ismailiten“ oder „Siebenerschi- des Todes von Huseïn gedenken, be- iten“.80 Zu ihren zahlreichen Unter- Die politische und theologische Ent- sagt, dass die Partei Alis auch nach gruppen gehören u.a. historisch die wicklung der Imamiten in der Zeit Huseïns Tod nicht aufgegeben hat, Karmaten und die Fatimiden, bis in der großen Abwesenheit, die bis heu-

78 Zit. bei Haidari, a.a.O. S. 189f 79 Im folgenden übernehme ich – teilweise bis in die Formulierung hinein – Passagen meines Beitrages: Die Schiiten. Zur Geschichte einer Opposi- tionsbewegung innerhalb des Islams, in Stimmen der Zeit 197. Bd, 104. Jahrg. (1979) S. 445–456 80 Vgl. dazu den Art. Ismaciliyya, in EI IV S. 198–206 sowie Art. Schiism: Ismaciliyah, in ER Bd 13 S. 247–260 81 Vgl. dazu Art. Schiism: Ithna cAshariyah, in ER Bd 13 S. 260–270

29 Unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Islam te andauert, ist vor allem hinsichtlich während der großen Abwesenheit glaubt – „die Erwartung“ die innere der Anfangszeit in der Forschung des 12. Imam nicht zu reiner Passi- Antriebskraft der Geschichte ist und noch weitgehend ungeklärt. Sicher vität und Abwartehaltung verurteilt zwangsläufig auf die Vollendung ist, dass die Imamiten wie alle Schi- sind, sondern durchaus das Recht, un- hinführt. Jede gelungene Revolution iten häufig im Untergrund leben und ter gewissen Umständen sogar die ist damit ein Stück antizipierter Ver- um ihr Leben bangen mussten, sie Pflicht haben, im Namen der Religion änderung zur Verwirklichung dieses waren so etwas – um es mit moderner politisch aktiv zu werden. „Ihr, die Endzustandes. Der Glaube an die Begrifflichkeit zu sagen – wie die Tapferen des Islam, sollt in einfacher Imame, verbunden mit der Erwar- „Sympathisanten“ im Bereich des Sprache die (einzelnen Glaubens-) tung der Wiederkunft des verborge- Politterrors, und es musste für sie wie Wahrheiten erklären und aus diesen nen 12. Imam, gehört zu den Beson- eine Befreiung sein, als Mitglieder Arbeitern, Bauern und Studenten derheiten imamitischer Theologie im des Safi-Ordens in Persien an die Kämpfer machen. Alle werden sie Vergleich zur sunnitischen. Eine wei- Macht kamen und Schah Ismacil Kämpfer werden.“83 tere, allgemeine Besonderheit der (1502–1524) dort die Zwölferschia Schiiten im Verhältnis zu den Sunni- zur Staatsreligion machte. Die Schiiti- ten ist ihre Betonung der göttlichen sierung Persiens ging langsam und 6.4.4 Der Mahdiglaube Gerechtigkeit und damit zusammen- nicht ohne Einbußen auf seiten der hängend der menschlichen Hand- Sunniten und vor allem ihrer Theolo- Der politische Erfolg dieser Aktionen lungsfreiheit. gen vor sich. Gemessen am heutigen hebt das eigentliche Ziel der Ge- Staat Iran betrifft sie ohnehin nur das schichte, die Wiederkunft des Mahdi, persischsprechende Zentralgebiet. nicht auf, bedeutet aber eine teilwei- 6.4.5 Dualistisches Gedankengut Gum, Isfahan, Täbris und Teheran se Vorwegnahme der künftigen Herr- wurden zu Hochburgen imamitischer schaft. Insofern bleibt alles Denken Eine derartige Betonung der mensch- Theologie, die im Gegensatz zu de- zielgerichtet bis zur Wiederkunft des lichen Handlungsfreiheit legt sich nen in Najaf und Kerbela im benach- Mahdi. allein durch den Verlauf der Ge- barten Land (heute: Irak) mit sunniti- schichte nahe. Schließlich traten die scher Oberherrschaft nicht um staat- Im Lichte dieses Mahdi-Glaubens Schiiten, wie sie glauben, für die ge- liche Anerkennung ringen mussten. wurden immer wieder in Iran ge- rechte, gottgewollte Sache: den Jene hingegen konnten sich oft noch schichtstheologische Entwürfe vor- Imam als Leiter der umma ein. Der nicht einmal der staatlichen Duldung gelegt. So sah etwa der bekannte politische Erfolg aber gehörte – sieht sicher sein. Bis heute ist so Iran das Ayatollah Taleghani in der weltpoliti- man von Ali einmal ab – seinem Geg- einzige Land, in dem die Zwölfer- schen Entwicklung ein Anwachsen ner: dem Kalifen. Theologisch führte schia die offizielle Mehrheitsreligion der Bereitschaft für den Empfang des dies zu einer immer größeren Ideali- des Landes ist. Die Zwölferschia wird Mahdi in der Gesellschaft.84 Der sierung des Imam. So lehrt man bei- in Stellvertretung für den verborge- erste Premierminister der islamischen spielsweise in der Zwölferschia, der nen Imam von den obersten geistli- Republik, Medhi Bazargan, hält Imam sei von jedem Irrtum und jeder chen Würdenträgern geführt. Diese ebenfalls den Universalstaat des er- Sünde gänzlich frei. Während der führen neuerdings die Bezeichnung warteten Mahdi für die ideale Erfül- Prophet nach Vorstellung der Sunni- „Ayatollah“ (eine kontrahierte Form lung aller bisherigen Menschheitser- ten durchaus menschliche Grenzen für Ayat Allah = Zeichen Gottes)82 wartungen. Ohne Hoffnung auf eine und Schwächen hat, ist nach Mei- und bilden einen engeren Kreis von bessere Zukunft ist kein Schritt zur nung der Imamiten im Imam ein in- führenden Gelehrten, der sich aus Reform der bestehenden Zustände neres Licht wirksam, mit dem Irrtum den Religionsgelehrten (Mudjtahids) möglich. Alle politischen Revolutio- und Sünde unvereinbar sind. Demge- rekrutiert. Dabei spielt die Größe der nen und historisch-sozialen Umwäl- genüber wurde der tatsächliche Gefolgschaft eines Gelehrten eine zungen der letzten Jahrhunderte, so Machthaber, der Kalif, zum Inbegriff wichtige Rolle. Einer aus diesem Kreis sagt er, waren von der Hoffnung auf des Bösen und Sündhaften. Neupla- von „Gleichen“ hat es immer wieder eine bessere und gerechtere Welt ge- tonisches Gedankengut und der tra- geschafft, als eine Art „erster unter tragen. Gleichheit und Gerechtigkeit ditionelle Dualismus der persischen ihnen“ (primus inter pares) und da- wurden angestrebt. Deshalb besei- Zoroastrier lieferten das theoretische mit führender Ayatollah anerkannt tigte die industrielle Revolution die Konzept, um den Machtkampf zwi- zu werden. Ungerechtigkeiten des Feudalismus schen dem Imam und dem Kalifen (in und die Leibeigenschaft, allerdings späterer Zeit: den bösen Herrschern) Diese Rolle fiel in neuester Zeit be- entstanden damit neue Ungerechtig- zum kosmischen Kampf zwischen kanntlich bis zu seinem Tode (1989) keiten: die des Kapitalismus, die nun dem Prinzip des Guten und dem des dem Ayatollah Ruhollah Khomeini ihrerseits beseitigt werden müssen Bösen auszuweiten, so dass gerade zu. Khomeinis theologisches Ver- usw. Es scheint daher, dass – wie Ali der Bereich der Politik zum Kampf- dienst ist es, glaubhaft nachgewie- Sharicati (gest. 1977), der Theoretiker platz par excellence zwischen den sen zu haben, dass die Imamiten der intellektuellen Jugend Irans85 Mächten des Lichtes und denen der

82 Vgl. dazu Art. A¯ yatullah, in EI Suppl. Fasc. 1–2 S. 103f 83 Khomeyni: Pour un gourvernement S. 119 84 Vgl. dazu und zum folgenden Mohammed Serdani: Der verborgene Imam. Eine Untersuchung der chiliastischen Gedanken im schi- itischen Islam nach Ibn Babuya (gest. 991): Kamal al-din wa-tamam al-nicma, phil. Diss. Bochum 1979 S. 33ff 85 Zu Sharicati allgemein vgl. On the Sociology of Islam. Lectures by Ali Sharicati, transl. by Hamid Algar, Berkeley 1979. Das im Text erwähnte Buch findet sich in dieser Sammlung nicht, sondern wird vorgestellt bei Serdani, a.a.O. S. 36–38

30 Unterschiedliche Gruppierungen innerhalb des Islam

Finsternis wurde. Die Identifizierung melbegriff für „Ketzer“, „Rebellen“ schulen nachgezeichnet wurde, oder politischer Gruppen mit abstrakten und „Aufrührer“. Und viele, deren durch den Verweis auf einen inspi- Prinzipien wie „Finsternis“ und Theorien im offiziellen Islam der Sun- rierten Führer, wie es die Schiiten vor- „Licht“ ermöglichte eine politische na keinen Platz mehr hatten, sind schlugen. Der Grund hierfür lag dar- Schwarzweißmalerei von großer Ein- dementsprechend von selbst in die in, dass der Koran zwar viele Bereiche fachheit. Sie feuerte die Bedrängten Schia „abgewandert“86, wodurch sie des menschlichen Lebens berührte an, in einem beispiellosen Einsatz der im Ernstfall eine gewisse Rücken- und somit tendenziell erkennen ließ, Herrschaft des Guten zum Durch- deckung hatten, zumindest gab es dass die göttliche Weisung alle Berei- bruch zu verhelfen. Leute, die ihren Tod rächten. che menschlicher Existenz erfaßte, dass aber eine systematische Erstel- 6.4.6 Die Verheimlichung des All dies macht deutlich, dass es sich lung eines generellen Verhaltens- religiösen Bekenntnisses bei der Schia um ein sehr heteroge- kodex aus dem Koran alleine nicht zu nes Phänomen handelt, das kaum auf erbringen war. Wollte man diesen ha- Dieser Einsatz und eine gewisse Ver- einen Nenner zu bringen ist. Mit ben, so musste man weitere Richtlini- herrlichung des Martyriums (bei- ihren zahlreichen Untergruppen en einführen. Das Ergebnis war ein spielsweise im Muharram) steht in stellt die Schia neben den mystischen relativ flexibles, für alle Bereiche wei- einem augenscheinlichen Gegen- Bruderschaften das facettenreichste sungsgebendes System87, das sich satz zum Gebot der Verheimlichung Spektrum des Islam dar. Allein die Er- durch die Jahrhunderte ziemlich gut des religiösen Bekenntnisses (arab.: eignisse in Iran und Afghanistan zei- bewährt hat und das erst durch die takiyya, pers.: kitman). Eigentlich ist gen, dass all diese Untergruppen eine Auseinandersetzung der Muslime mit dies ein allgemeines Zugeständnis, wichtige Rolle für ein besseres Ver- der modernen Welt zum Problem ge- das für alle Muslime gilt, bei den Sun- ständnis des Islam in der Gegenwart worden ist. Aus der Fülle der Aspek- niten aber nie sehr wirksam gewor- spielen, und es wird leicht verständ- te, die in diesem facettenreichen Sy- den ist. Wenn dem Muslim ob seines lich, dass alle möglichen Interessen- stem zusammengefasst sind, werden Glaubens Gewalt oder Schaden gruppen versuchen, mindestens eine im Folgenden nur die Punkte heraus- droht, so darf er seinen Glauben ver- dieser außerordentlich vielfältigen gegriffen, die heute besondere Auf- leugnen, sofern er ihn in seinem Her- Gruppierungen gegen die anderen merksamkeit erlangt haben, weil sie zen weiterhin bewahrt. Die Schiiten zu unterstützen, um so die politische gewissermaßen wie im Prisma die halten diese Verheimlichung unter Instabilität zu erreichen, von der sie Frage aufwerfen, was davon typisch bestimmten Voraussetzungen nicht sich selbst Vorteile versprechen. islamisch und somit gottgewollt ist nur für erlaubt, sondern sogar für ge- und folglich in jedem Falle verteidigt boten. werden muss.

Dies klingt zunächst recht sympa- 7 Die Ethik des Islam Sechs Bereiche werden auf diese Wei- thisch. Die Praxis lehrt jedoch, dass ei- Die Ausführungen des voraufgehen- se als besonders diskussionswürdig ne solche Verheimlichungspflicht den Kapitels haben die unterschiedli- herausgegriffen: die Ideale der Erzie- auch den Gegnern sehr bald bekannt chen Gruppierungen innerhalb des hung des Einzelnen, das Verhältnis wird, so dass es bei Verfolgungen Islam vorgestellt und auf diese Weise der Geschlechter untereinander, die kein Entrinnen mehr gibt. Der der deutlich gemacht, dass der Islam alles Frage einer islamischen Wirtschafts- Schia Verdächtige gesteht entweder andere als ein einheitlicher Block ist, ordnung, das islamische Strafrecht, ein, dass er Schiit ist, und muss dann dem historische Entwicklungen und Demokratie und Menschenrechte verurteilt werden, oder er leugnet verschiedene Auslegungstraditionen (einschließlich des Umganges mit es und beweist dadurch seine Zu- fremd sind. Schon bald nach dem Nichtmuslimen) sowie die Frage nach gehörigkeit, weil er „Verheimli- Tode Mohammeds war klar, dass die dem Leben von Muslimen in nicht- chung“ üben muss. Tausende und Berufung auf den Koran alleine kein islamischen Ländern. Abertausende mussten so im Lauf der Allheilmittel zur Lösung anstehender islamischen Geschichte ihr Leben als Probleme gewesen ist. Schnell stellte 7.1 Die Ideale der Erziehung des „Schiiten“ lassen. Von vielen wissen sich heraus, dass man andere Wege Einzelnen wir bis heute nicht, ob sie tatsächlich beschreiten musste, sei es durch die Schiiten waren. Die Bezeichnung Hinzunahme weiterer Rechtsquellen, Die Ideale der Erziehung richten sich „Schiit“ wird dadurch zu einem Sam- wie es für die Entstehung der Rechts- darauf, Kinder zu anständigen Mit-

86 Ein solches Abwanderungsphänomen lässt sich sogar für eine ganze theologische Richtung: die muctazilitische Theologie nachweisen, vgl. dazu Wilferd Madelung: Imâmism and Muctazilite Theology, in Le Shîcisme Imâmite. Colloque de Strasbourg (6. – 9.5.1968), Paris 1970 S. 13–29 87 Vgl. dazu die wichtigsten Zusammenstellungen islamischer Ethik in der chronologischen Reihenfolge der Veröffentlichung: M. A. Draz: La Morale du Koran. Etude comparée de la morale théorique du Koran, suivie d’une classification de versets choisis, formant le code complet de la morale pratique, Le Caire 1950; Toshihiko Izutsu: The Structure of the Ethical Terms in the Koran. A Study in Semantics, Tokyo 1959; Miskawayh (320/21- 420): Traité d’Ethique (Tahdib al-’aªlaq wa tathir al-’a’raq), trad. franç. avec introduction et notes par Mohammed Arkoun, Damas 1969; Mohammed Arkoun: Contribution à l’étude du lexique de l’éthique musulmane, en Bulletin d’Etudes Orientales [Institut Français de Damas] XXII (1969) S. 205-237; Afzalur Rahman: Muhammad. Blessing for Mankind, London 1979; Moral coránica, in Livio Tescaroli: El Corán y el Islam. Presentación y revisión: Mikel de Epalza, Madrid – Barcelona 1980 S. 74-91; Jan Hjärpe: Politisk Islam, Stockholm 1980; Peter Antes: Ethik und Politik im Islam, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1982; ders.: Islamische Ethik, in Peter Antes u.a.: Ethik in nichtchristlichen Kulturen, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1984 S. 48-81 (Neudruck als: Ethik und Politik im Islam, in Peter Antes u.a.: Der Islam. Religion – Ethik – Politik, Stuttgart – Berlin – Köln 1991 S. 58-97); Sigrid Weiner: Maschallah. Islam und Alltag in der Türkei, Donauwörth 1985; Ludwig Hagemann: Ethik/Moral, in Adel Theodor Khoury – Ludwig Hagemann – Peter Heine: Islam-Lexikon, 3 Bde, Freiburg – Basel – Wien 1991 S. 215-233; Peter Antes: Los problemas actuales de la ética islámica, in Awraq. Estudios sobre el mundo árabe e islámico contemporáneo, Madrid: lnstituto de cooperación con el mundo árabe, vol. XIV (1993) S. 11-45: Peter Heine: Kulturknigge für Nichtmuslime. Ein Ratgeber für alle Bereiche des Alltags, Freiburg – Basel – Wien 2. Aufl. 1994, Annemarie Schimmel. Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des lslams. München 1995

31 Die Ethik des Islam gliedern der islamischen Gemein- mit Priorität durchsetzen wollen, Die große Frage ist, ob der beschrie- schaft zu machen. Dies bedeutet, während das klassische Erziehungs- bene Prioritätskonflikt und die De- dass sie lernen, zum einen ihren ideal des Islam lehrt, die Priorität in batte über die Erziehungsmethode Glauben ernst zu nehmen und zum der Gemeinschaft zu sehen und not- den religiösen Bereich berührt. Ein anderen sich Gott wohlgefällig in falls die eigenen Interessen denen Vergleich mit früheren Zeiten bei uns allen Lebenslagen zu verhalten. Zu der Gemeinschaft unterzuordnen. wird schnell zeigen, dass die Erwar- den besonders geschätzten Tugen- Exemplarisch wird dies in unserer Ge- tungen auch in Europa nicht sehr an- den gehören dabei Gehorsam, De- sellschaft bei Musliminnen türkischer ders lagen (man denke nur an Kö- mut, Dankbarkeit, Geduld und Be- Herkunft deutlich, wenn die Familie nigshäuser) und dass die dazu einge- harrlichkeit sowie Ehrfurcht. Gott, so erwartet, dass das Mädchen keinen setzten Erziehungsmittel ebenfalls wird immer wieder betont, „liebt die zu intimen Umgang mit einem deut- große Ähnlichkeiten zu denen der Hochmütigen nicht“ (Koran 16, 23 schen Jungen pflegt, um gar nicht islamischen Welt aufwiesen. Aus die- und ähnlich Koran 31, 18 und Koran erst in die Versuchung einer eventu- sem Grunde liegt der Schluss nahe, 4, 36). ellen Ehe mit ihm zu geraten. Nach dass es sich bei alledem mehr um kul- islamischem Recht darf nämlich eine turelle Probleme als solche der Religi- Das Ideal des Gehorsams und der De- Muslima keinen Nichtmuslim heira- on handelt. Dafür spricht auch, dass mut findet seinen sichtbaren Aus- ten, während der Muslim eine Ehe in zunehmendem Maße etwa reiche druck in der Bereitschaft des Kindes, mit einer „Schriftbesitzerin“ (z.B. Familien in den Golfstaaten ihre Kin- sich in die Gemeinschaft einzufügen Jüdin oder Christin) eingehen darf, der in englische Prestigeinternate und den Anweisungen der Erwachse- ohne dass diese ihren Glauben aufge- schicken und dabei erwarten, dass sie nen, insbesondere innerhalb der Fa- ben muss. Die Kinder aus dieser Ehe dort die Besten sind. Modernes Kon- milie, Folge zu leisten. sind selbstverständlich Muslime. Der kurrenzdenken scheint sich für sie deutsche Junge wird normalerweise mit den Idealen der islamischen Er- Dieses Ideal ist durch die modernen nicht verstehen, dass sich das tür- ziehung durchaus vereinbaren zu las- Lebensformen in dreierlei Hinsicht in kische Mädchen den Wünschen ihrer sen, während andere das unverän- Frage gestellt: Familie beugt, und denken, die derte Festhalten an den bisherigen Eltern des Mädchens gehe diese Idealen als Gebot der Religion be- Das moderne Schulsystem sowie das Beziehung eigentlich nichts an, da greifen und darin ein Zeichen islami- moderne Wirtschaftsleben sind auf es sich doch um eine individuelle scher Identität sehen. Konkurrenz mit anderen ausgerich- Angelegenheit zwischen ihm und tet. Es gilt, möglichst der Beste zu dem Mädchen handele. Der daraus 7.2 Das Verhältnis der Geschlechter sein und sich mit anderen im Wett- folgende Konflikt lässt sich meistens untereinander streit zu messen. Bei Bewerbungen deshalb nicht verbal ausdiskutieren, muss man die eigenen Fähigkeiten weil unterschiedliche Prioritäten ge- Ein besonders heikler Bereich eventu- deutlich herausstellen und ein gerüt- setzt werden: der Deutsche besteht eller Veränderung ist das Verhältnis telt Maß an Selbstbewusstsein bekun- auf seiner individuellen Priorität, die der Geschlechter untereinander. den, um eine reale Chance gegen- türkische Familie dagegen auf der über anderen Konkurrenten zu haben. Priorität zugunsten der Gemein- Wer einen historischen Vergleich zwi- In der Wirtschaft geht es vorzugswei- schaft, hier: der Familie, der sich alle schen Europa und dem islamischen se um Wettbewerb, das „survival of innerhalb derselben unterzuordnen Orient anstellt, wird nur in wenigen the fittest“, was sich nur schwer mit haben. Punkten auf wesentlich andere Vor- den Idealen von Bescheidenheit, stellungen vom Verhältnis zwischen Demut und Zurückhaltung verträgt. Nicht selten bedienen sich Eltern, vor den Geschlechtern stoßen. Beide Ge- allem Väter, bei der Lösung solcher sellschaften – die jüdische hier nicht Während die klassische Erziehung Konflikte gewaltsamer Erziehungs- zu vergessen! – sind in historisch den Egoismus verteufelt und statt maßnahmen. Schläge als Strafe ha- greifbarer Zeit durch eine deutliche dessen Demut und Gehorsam als Tu- ben in den meisten Kulturen eine Vormachtstellung des männlichen genden in den Vordergrund stellt, lange Tradition, sie werden heute in Familienoberhauptes gekennzeich- empfiehlt die moderne Psychologie, der deutschen Gesellschaft vielfach net. Der Mann vertritt seine Familie die eigenen Interessen zu artikulie- als Erziehungsmethode abgelehnt, so nach außen. Dementsprechend sagt ren und ihre Verwirklichung selbstbe- dass türkische Eltern, die dadurch Schiller (gest. 1805) im Lied von der wusst zu betreiben. Konsumverhal- den Gehorsam ihrer Kinder erzwin- Glocke vom Knaben: „Er stürmt ins ten und Kapitalismus sind ohne stark gen wollen, nicht nur wegen der er- Leben wild hinaus“, und kurz danach artikulierte Eigeninteressen nicht wähnten Prioritäten, sondern auch kommt Schiller auf das Haus zu spre- denkbar und wollen folglich mehr noch bezüglich der angewendeten chen und präzisiert: „Und drinnen den Menschen, der seine eigenen In- Methoden in die Kritik geraten und waltet die züchtige Hausfrau, die teressen durchsetzt, als einen, der dem Vorwurf ausgesetzt werden, sie Mutter der Kinder.“ Mit dieser Rol- sich stets der Gemeinschaft unterzu- wollten die Persönlichkeitsentwick- lenverteilung ist das klassische Ver- ordnen bereit ist. lung ihrer Kinder stoppen und statt hältnis der Geschlechter untereinan- dessen ihren eigenen Willen ohne der eindeutig umschrieben. Dem ent- Angesichts der Alternative: Einzelner Rücksicht auf die Psyche der Kinder spricht die rechtliche Vorrangstellung – Gemeinschaft wird der moderne durchsetzen. des Mannes, denn wie in der Scharia Mensch stets seine eigenen Wünsche hat auch im Code Napoléon der

88 Vgl. dazu Wiebke Walther: Die Frau im Islam, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1980 S. 23 89 Helmuth v. Moltke: Unter dem Halbmond. Erlebnisse in der alten Türkei. 1835–1839, hrsg. von Helmut Arndt, Stuttgart – Wien 1984 S. 80

32 Die Ethik des Islam

Mann in wichtigen Fragen das alleini- ge Alter kommen – Anspruch darauf, worden ist. Pauschal Iässt sich fest- ge Entscheidungsrecht (z.B. bei der ihrerseits Respekt und Gehorsam von stellen, dass Islam von vielen in Euro- Wahl des Wohnortes). Wie der Koran den Frauen und Mädchen nach ihnen pa mit Unterdrückung der Frau, Poly- (4, 34) fordert auch das preußische innerhalb dieser Hierarchie einzufor- gamie und Patriarchalismus gleichge- Landrecht Gehorsam von der Frau dern. setzt wird, während für viele Musli- gegenüber ihrem Mann und gesteht me im Orient Emanzipation der Frau diesem das Recht zu, die ungehorsa- Meist wird übersehen, dass die tradi- in westlichen Ländern mit Libertina- me Frau zu schlagen.88 Die Ehe, so tionelle Verteilung der Macht in der ge und Prostitution gleichbedeutend stellt Helmuth v. Moltke fest, „ist im Familie an ökonomische Vorausset- ist. Das Gespräch über die Stellung Orient rein sinnlicher Natur“ und zungen gebunden ist, die mit der der Frau muss daher beiden Vorurtei- fügt wohl nicht ganz ohne Sympa- Rolle des Vaters als Ernährer zusam- len gleichermaßen Rechnung tragen. thie hinzu, dass der Türke „über das menhängen. Ist diese Rolle nicht exi- Ein fruchtbarer Dialog ist erst mög- ganze ‚Brimborium‘ von Verliebtsein, stent, so zeigt sich leicht ein anderes lich, wenn die Verfechter/innen der Hofmachen, Schmachten und Über- Bild. Klassisch hierfür ist vielleicht die Emanzipation aufhören, die islami- glücklichsein“ hinweggeht und Rolle der Kaufmannswitwe Khadidja, schen Frauen – oft auch gegen ihre gleich zur Sache kommt.89 Anders ist die ihr Geschäft allein geführt, den Neigung – „retten“ und auf ihren ei- in jedem Fall, dass der Koran die Po- jungen Mohammed bei sich einge- genen Weg einschwören zu wollen, lygamie, genauer: die Vielweiberei stellt, ihm nachher die Ehe vorge- und wenn die Vertreter/innen der so- (Polygynie) bis maximal vier Frauen schlagen und ihn schließlich geheira- genannten islamischen Tradition auf- gleichzeitig gestattet, was in Europa tet hat. Manche Gelehrte haben die- hören, jegliche Änderung des tradi- legalerweise nicht möglich war, se und einige andere kleine Episoden tionellen Verhaltens als Sittenverfall wenn auch die Vielweiberei in der zum Anlass genommen zu vermuten, und moralische Verderbtheit zu Praxis viel weniger verbreitet gewe- dass die vorislamische Gesellschaft brandmarken. Dies ist schon deshalb sen ist, als uns Erzählungen vom und zumindest matrilokal, wenn nicht so- wichtig, weil sich die sittenlose Eu- über den Orient glauben machen gar matriarchalisch gewesen war. An- ropäerin in der arabischen Erzähl- wollen, denn für die meisten Musli- dere glauben dagegen, dass es sich und Theaterliteratur ebenso stereo- me gilt, was v. Moltke von den Tür- um eine recht willkürliche Männer- typ wiederfindet wie Harem und ken sagt: es gibt „nur sehr wenig Tür- gesellschaft gehandelt habe, der erst Schleier92 in der europäischen bezüg- ken, die reich genug wären, um mehr der Koran Grenzen gesetzt hat: lich des islamischen Orients. Sicher als eine zu heiraten‘’.90 durch die Begrenzung der Vielweibe- ist, dass die Frau in der modernen rei auf maximal vier Ehefrauen Welt viel stärker in den Produktions- Es mag mit Blick auf das Leben in der gleichzeitig; durch die Festlegung ei- prozess und ins Berufsleben einbezo- orientalischen Großfamilie dahinge- nes Erbrechtes für Frauen, das verhin- gen ist, als dies früher der Fall war, stellt bleiben, ob man die Rollenver- derte, dass Frauen nach dem Tode und dass sich dadurch auch das Ver- teilung zwischen Mann und Frau des Mannes wie sein übriger Besitz hältnis der Geschlechter untereinan- patriarchalisch nennen soll oder an männliche Erben übergingen; der verändert hat. Diese Veränderun- nicht vielleicht zutreffender von ei- durch das Recht zur Zeugenaussage gen lassen sich auch im Orient nicht ner Schwiegermutterkultur sprechen vor Gericht, wenn auch das Wort der mehr aufhalten. Die Frage ist nur, in- will, bei der alle Macht bei der Mut- Frau nur halb soviel gilt wie das eines wieweit diese Veränderungen sich ter der Söhne liegt, die über ihre Söh- Mannes; durch die Festlegung einer auch im Umgang miteinander und in ne Gehorsam von den Schwieger- Brautgabe zur Sicherung des Lebens- der Kleidung niederschlagen wer- töchtern und deren Kindern – vor al- unterhaltes im Falle der Scheidung den. In vielen Ländern mit islamischer lem den Mädchen – fordert. Sicher (Verstoßung). Bevölkerungsmehrheit wird auf viele ist, dass auch zwischen den Frauen in Frauen ein solcher Sozialdruck aus- der Großfamilie eine eindeutige Die Forderung nach Emanzipation geübt, dass sie sich auch dann dem Hierarchie der Herrschaft und Macht- der Frau, die auch vor den Ländern äußeren Verlangen beugen, wenn sie befugnisse besteht, der sich die jüng- mit islamischer Bevölkerungsmehr- selbst nicht von dessen Richtigkeit sten und zuletzt dazugekommenen heit nicht halt gemacht hat91, be- überzeugt sind. Wesentlich schwieri- besonders beugen müssen. Erst im wirkt, dass die Frage der Rechte der ger ist dies für die in Westeuropa le- Laufe der Jahre haben sie – vornehm- Frau zu einem besonders heiklen benden Musliminnen, von denen lich wenn ihre Söhne ins heiratsfähi- Thema im Dialog der Kulturen ge- nicht wenige unter der Diskrepanz

90 Ebd. S. 80 91 Vgl. dazu zusätzlich zu den Titeln in Anm. 58 auch Frauen in der arabischen Welt. Erzählungen, hrsg. von Suleman Taufiq, München 1988; Ursula Spuler-Stegemann: Die Darstellung der Probleme der Frau in der türkischen Literatur, in: Darstellung der Probleme der Frau in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Beiträge zum Symposium 6.–7. Juli 1990 der Philipps Universität Marburg. S. 57–76; Erdmute Heller u. Hassouna Mosbahi: Hinter den Schleiern des Islam. Erotik und Sexualität in der arabischen Kultur, München 1993; Nilüfer Göle: Republik und Schleier. Die muslimische Frau in der modernen Türkei, Frankfurt am Main 1995; Malek Chebel: Die Welt der Liebe im Islam, München 1996 92 Zur vielfältigen Literatur zum Thema Schleier allgemein vgl. Alfred Jeremias: Der Schleier von Sumer bis heute, Leipzig 1931. Zum Islam im be- sonderen vgl. Abul A’la Maududi: Purdah and the Status of Woman in Islam, transl. and ed. by al-Ashcari, Lahore, 4 ed. 1979 und Susanne Ender- witz: Der Schleier im Islam – Ausdruck von Identität?, in Identität. Veränderungen kultureller Eigenarten im Zusammenleben von Türken und Deutschen, hrsg. von Christoph Elsas, Hamburg 1983 S. 143–173 (mit einer Diskussion aller entsprechenden Koranverse). Interessant wäre in die- sem Zusammenhang einmal dem Ursprung der Schleiermoden in Europa nachzugehen, vgl. dazu im Modehandbuch von Ludmila Kybalová, Olga Herbenová u. Milena Lamarová: Das große Bilderlexikon der Mode. Vom Altertum zur Gegenwart, Gütersloh – Berlin – München – Wien, 2. Aufl. 1975 das Kapitel „Schleier“ S. 364f oder Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wil- helmshaven, 5. Aufl. 1980 mit den Referenzen zum Stichwort „Schleier“ im Index S. 451. Auch bezüglich des Neuen Testamentes ist die Frage re- levant, vgl. dazu Max Küchler: Schweigen, Schmuck und Schleier, Freiburg – Schweiz 1986

33 Die Ethik des Islam zwischen den Tugendkatalogen von dieser ergeben, ist bislang eine offe- Zentral für alle drei Themenkomple- zu Hause und den Sitten innerhalb ne Frage. Sicher ist, dass vieles von xe ist der Glaube der Muslime, dass der Gesellschaft sehr leiden. Sichtbar dem, was man früher für selbstver- Gott der Herr der Welt und der wird dies in Fragen der zulässigen ständlich hielt und deshalb auch Mensch sein Diener ist, dem der Kleidung (z.B. Hosen oder Rock für nicht hinterfragte, heute auch bei Koran zur Rechtleitung für sein Tun Mädchen, Kopftuch oder nicht). vielen Muslimen und Musliminnen an gegeben ist. Evidenz eingebüsst hat und deshalb Es ist in diesem Zusammenhang nicht entweder mit Vehemenz als gottge- Daraus folgen zunächst mit Blick auf unwichtig sich zu erinnern, dass wollt verteidigt wird oder bereits mit das Eigentumsrecht drei Grundsatz- deutsche Schulen bis in die sechziger Modifikationen versehen worden ist. bestimmungen95: Jahre dieses Jahrhunderts hinein ge- Von kaum etwas wird man beim ge- wöhnlich reine Jungen- bzw. naueren Hinsehen guten Gewissens Eine erste Grundsatzbestimmung, die Mädchenschulen gewesen sind. Da- behaupten können, dass es in seiner sich aus dem Glauben an Gott den mals wäre es für die meisten deut- bisherigen Form auf jeden Fall beibe- Herrn der Welt ergibt, ist, dass der schen Eltern undenkbar gewesen93, halten werden wird. Ein Vergleich Mensch nur Nutznießer und Verwal- dass Jungen und Mädchen in ein und der Sitten zeigt, dass die Praxis von ter von irdischen Gütern ist, nicht derselben Klasse – möglichst noch ge- Land zu Land recht verschieden ist, aber deren Eigentümer in dem Sinne, mischt sitzend – unterrichtet würden. hinzu kommen noch Unterschiede in- dass er vollkommen über sie nach Gemeinsame Klassenfahrten waren nerhalb der einzelnen Länder zwi- freiem Gutdünken verfügen kann, sie für die meisten Eltern damals unvor- schen Stadt und Land oder innerhalb also gebrauchen und mißbrauchen stellbar gewesen, es sei denn, es war der Städte zwischen verschiedenen kann, wie es ihm beliebt. totale Geschlechtertrennung zugesi- Bevölkerungsschichten. Selbst dort, chert. Völlig ausgeschlossen war ein wo man wie etwa in der islamischen Daraus folgt als wirtschaftspolitische gemeinsamer Sportunterricht gewe- Republik Iran kämpferisch und oft Vorgabe: Privateigentum ist im Islam sen. So gesehen, erscheinen viele For- aggressiv für die Aufrechterhaltung sehr hoch geschätzt, weil Gott der Ei- derungen muslimischer Eltern in eu- traditioneller Verhaltensweisen ein- gentümer von allem ist. Der Mensch ropäischen wie außereuropäischen tritt, tut man es mit Hilfe von Frauen- verwaltet die Güter nur treuhände- Ländern nicht ganz unbegreiflich, organisationen (z.B. Women’s Solida- risch. Deshalb erfährt das Privat- sondern nur als verspätet vertretene rity Association of Iran), deren eigentum dann eine Einschränkung, Positionen dessen, was die meisten Existenz in der Vergangenheit unbe- wenn das Gemeinwohl, die mas.laha, deutschen Eltern der ersten Genera- kannt war, so dass auch in solchen auf dem Spiele steht. Da das Ge- tion der Bundesrepublik Deutschland Fällen Frauen in anderer Bewusst- meinwohl nicht genau definiert ist, für selbstverständlich hielten. Ange- seinsverfassung als früher agieren, lässt sich im islamischen Recht nicht sichts des raschen Wandels in unserer denn man tritt dort heute bewusst immer eine klare Linie zwischen dem eigenen Gesellschaft innerhalb von antiwestlich bzw. antimodern auf, privaten und dem öffentlichen Eigen- drei bis vier Jahrzehnten ist besonde- was etwas anderes ist als die Praxis tum ziehen. Wichtig sind als Prinzi- re Vorsicht geboten zu sagen, was für vor Eintritt in die Moderne, in der das pien Brüderlichkeit und Gerechtig- Muslime an Wandel möglich ist und traditionelle Verhalten alternativlos keit. was nicht. selbstverständlich gewesen ist. Die zweite Grundsatzbestimmung Theologisch gesehen – das muss hier 7.3 Die islamische sieht den Menschen als Diener und noch einmal gesagt werden – sind Wirtschaftsordnung Stellvertreter bzw. Sachwalter Got- Mann und Frau vor Gott gleichge- tes auf Erden (vgl. Koran 2, 30). Er hat stellt. Beide sind von Gott geschaffen Ein besonders umstrittenes Gebiet deshalb den höheren geistigen Zie- und haben vor ihm die gleichen islamischer Ordnungsvorstellungen len seiner Berufung zu entsprechen Pflichten, Gutes zu tun, die Gebote betrifft die Wirtschaftsordnung.94 Es und soll sich nicht allein an materiel- Gottes zu halten und Gott zu loben. wird in den diesbezüglichen Veröf- len Gelüsten und Bedürfnissen orien- Beide werden am Jüngsten Tage auf- fentlichungen meist die Ansicht ver- tieren. erweckt und vor Gottes Gericht ste- treten, als gäbe es umfassende Hand- hen, um für ihre Taten Rechenschaft bücher zu dieser Thematik, in denen Diese Grundsatzbestimmung bedingt abzulegen. Beide erwarten Gottes nahezu alle Bereiche geregelt seien. als wirtschaftspolitische Vorgabe: Für Urteil und hoffen auf seine Barmher- In Wirklichkeit ist der Befund erheb- viele muslimische Rechtsgelehrte gilt zigkeit, um ins Paradies zu gelangen. lich weniger bedeutsam. Die Bestim- bei der Nutzenmaximierung nicht Welche Konsequenzen sich aus alle- mungen beziehen sich vor allem auf nur die materielle Bedürfnisbefriedi- dem für die irdische Gesellschaft und Fragen des Eigentums, auf Zins/Wu- gung als Orientierung, sondern zu- die Stellung von Mann und Frau in cher und auf die zakat. gleich eine geistig-religiöse Bedürf-

93 Wie anders diese Zeit im Vergleich zur heutigen gewesen ist, beschreibt in überzeugender Weise Thomas Ziehe: Zeitvergleiche. Jugend in kultu- rellen Modernisierungen, Weinheim – München 1991 und bezüglich des deutschen Katholizismus Michael Klöcker: Katholisch – von der Wiege bis zur Bahre. Eine Lebensmacht im Zerfall?, München 1991 94 Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf Samir Saleh: Realisationsansätze islamischer Wirtschaftsauffassungen und deren Implikationen am Beispiel Saudi-Arabien, rer.pol.Diss., die Ende 1996 an der Universität Oldenburg eingereicht und 1997 angenommen worden ist und in der de- tailliert alles, was an tatsächlich vorliegenden Entwürfen zur islamischen Wirtschaftsordnung in der Theorie wie in der Praxis besteht, gesichtet und analysiert wird. 95 Bei einigen der folgenden Ausführungen folge ich Samir Saleh. Darüber hinaus sei noch verwiesen auf Volker Nienhaus: Islam und moderne Wirt- schaft, Graz – Wien – Köln 1986

34 Die Ethik des Islam nisbefriedigung als Ziel, die sich u.a. die wirtschaftspolitische Diskussion schiede und betont, als Instrument in einem selbstlosen Verhalten ge- im gegenwärtigen Islam. Der Ver- der geistigen Reinheit zu einem ge- genüber Mitmenschen, freiwilligen such, riba als Wucher zu deklarieren, wissen Ausgleich zwischen Reich Spenden und sozialen Abgaben wird von den meisten islamischen und Arm beizutragen, wobei der Rei- zeigt. Um eine optimale Nutzenmaxi- Wirtschaftstheoretikern abgelehnt. che vom Geiz durch das Geben und mierung sowohl des Individuums als Zins gilt für sie nur dann als erlaubt, der Arme von Neid und Missgunst auch der Gesellschaft zu erreichen, wenn er als Rate des Profits verstan- durch das Empfangen gereinigt wird. sieht eine islamische Ordnung die den wird und die Möglichkeit des Aufgrund des religiös-ökonomischen Produktion als Mittel der Zielerrei- Verlustes gegeben ist. Als Umge- Charakters der zakat als einer der chung vor. Die Produktion selber un- hungsformen sind vor allem drei in fünf Säulen des Muslim hinkt der Ver- terliegt den Prinzipien der islami- der Diskussion: gleich mit dem europäischen Steuer- schen Rechtsquellen und muss folg- system, weil dieses beliebig verän- lich die Erzeugung von nützlichen a) musharaka geht von einem Kapi- dert werden kann. Durch die Ausle- Gütern zum Ziele haben, die der Ge- talgeber und einem Unternehmer gung der zakat in wirtschaftspoliti- sellschaft als ganzer zugute kommen. aus. Beide bringen Kapital ein. Die scher Hinsicht sind die Aussagen zum Produktivkräfte und Ressourcen dür- Kapitalgeber sind mitspracheberech- islamischen Wirtschaftssystem er- fen nicht verschwendet werden, weil tigt, der Gewinn verteilt sich auf bei- staunlich flexibel und auf die heuti- der Mensch nur ein Nutzungsrecht de nach einem vorher vereinbarten gen Bedürfnisse bezogen. Der Bezug für die von Gott gewährten Güter Prozentsatz. Den Verlust tragen bei- ist durchaus dem der katholischen hat. Es wird nicht davon ausgegan- de in Höhe ihrer Einlage. Die Kapital- Soziallehre vergleichbar, die in ent- gen, dass die Produktionsfaktoren ei- geber haften in Höhe ihrer Einlage. scheidenden Fragen heute Aussagen nem historischen Wandel unterlie- der Kirchenväter bemüht, denen die gen, sondern vielmehr einem ethi- b) mudaraba geht von einem Kapital- gegenwärtigen Wirtschaftspraktiken schen Rahmen entsprechen müssen, geber und einem Unternehmer (Ge- ebenso unbekannt waren wie innerhalb dessen sie zu operieren ha- schäftsführer) aus. Nur ein Kapitalge- Mohammed. ben. ber bringt Kapital ein. Der Kapitalge- ber hat kein Mitspracherecht. Der Es ist damit zu rechnen, dass die er- Die folgende wirtschaftspolitische Gewinn wird nach einem vereinbar- wähnten Angaben aus dem Bereich Vorgabe hängt damit zusammen: Der ten Satz aufgeteilt. Den Verlust trägt der Wirtschaftsordnung weiter präzi- Boden hat in der islamischen Ökono- der Kapitalgeber in Höhe seiner Ein- siert und um viele neue Facetten an- mie einen hohen Stellenwert. Die lage. Der Geschäftsführer bekommt gereichert werden, die vor allem dem menschliche Arbeit ist dagegen nicht dafür keinen Lohn. Der Kapitalgeber Ziel dienen, eklatante Fehlentwick- auf derselben Stufe angesiedelt, weil haftet in Höhe seiner Einlage. lungen, die durch westliche Wirt- es sich hierbei nicht um einen materi- schaftspraktiken ausgelöst werden, ellen Faktor handelt. Die Arbeit ist c) murabaha ist ein doppelter Kauf- zu stoppen oder zumindest abzumil- dazu da, auf eine gerechtere Art und vertrag. Ein Kapitalgeber kauft Ware dern und im Namen des Glaubens, Weise die materielle Lage zu verbes- bei einem Unternehmer und verkauft ethische Vorgaben einzubringen, die sern. Kapital ist im Gegensatz zu Bo- sie an den Unternehmer gegen Preis sicherstellen sollen, dass fachliche den und Arbeit kein wirklicher der Ware + Unkosten des Kapitalge- Kompetenz alleine nicht ausreicht, Grundfaktor zur Produktion, sondern bers + Gewinnaufschlag des Kapital- sondern moralische Qualitäten nicht leistet nur einen produktiven Beitrag gebers. Die Zahlungen an den Kapi- minder wichtig sind, wenn eine Ar- zur Produktion. talgeber können in Raten erfolgen. beit als gut und eine Fachkraft als In diesem Zusammenhang werden qualifiziert ausgewiesen sein will. Die dritte Grundsatzbestimmung auch Leasinggeschäfte angewendet. geht davon aus, dass der Mensch als Die Kritiker sehen darin einen Weg, 7.4 Das islamische Strafrecht Diener Gottes frei ist, seinen Aktions- den Zins durch die Hintertüre wieder rahmen innerhalb des von Gott fest- einzuführen. In der Praxis überwie- Für Fehlverhalten sind je nach Schwe- gelegten Rahmens zu gestalten. Da- gen heute bei den islamischen Ban- re des Vergehens Strafen vorgese- raus folgt eine unbedingte Gebun- ken, dem einzigen Sektor, auf dem hen, die in zwei große Gruppen ein- denheit an die koranischen Hand- der Versuch einer islamischen Wirt- geteilt werden können: hadd-Strafen lungsvorgaben, die stets beachtet schaftsordnung ernsthaft gemacht für Unzucht, falsche Anklage wegen werden müssen. Jede Systematisie- wird, die Verträge nach dem muda- Ehebruchs und für Diebstahl bzw. rung dieser Vorgaben (also das isla- raba-Modell. noch härtere Strafen für Raub und mische Recht: Scharia/fikh) muss von Raubmord; neben den hadd-Strafen ihnen ausgehen und neu auftretende In der Praxis – das zeigt die Arbeit gibt es die taczir-Strafen, deren Art Fragen innerhalb der dadurch zu- von Saleh – lässt sich kein bedeuten- und Strafmaß ins Ermessen des Rich- grunde gelegten Logik zu beantwor- der Unterschied zum westlichen ters gestellt sind, während der Koran ten versuchen. Banksystem ausmachen, weil sich die selbst das Strafmaß der hadd-Strafen anderen Verfahren bislang bei wei- bestimmt, wie es aus dem berühmt- Die in der westlichen Literatur über tem als weniger brauchbar im inter- berüchtigten Beispiel des Handab- den Islam am besten bekannte wirt- nationalen Geldverkehr gezeigt ha- hackens bei Diebstahl (vgl. Koran 5, schaftspolitische Vorgabe betrifft das ben. 38) hinreichend bekannt ist. Zinsverbot, das ursprünglich auch im Christentum und Judentum gegolten Die zweifellos wichtigste wirtschafts- Für viele Menschen in der westlichen hat. Zins und Zinsumgehung bestim- politische Vorgabe betrifft die zakat: Welt ist ein solches Strafmaß inhu- men jedenfalls in sehr hohem Maße Zakat akzeptiert Einkommensunter- man. Einige islamische Korankom-

35 Die Ethik des Islam mentatoren und Rechtsgelehrte in lität zu wehren, was nach Meinung im Koran steht und dass dieser auch der Vergangenheit empfanden dies vieler Muslime infolge des sogenann- ansonsten nur wenige Prinzipien für wohl auch so, als sie darangingen, ten humanen Strafvollzugs zuge- die Staatsführung enthält. die Bedingungen zu präzisieren, un- nommen hat, wofür sie Kriminalitäts- ter denen diese drastischen, in der statistiken aus den USA und West- „Unmittelbar aus dem Koran, von damaligen Welt aber keineswegs europa gerne als Beleg zitieren. dessen über 6000 Versen ohnedies unüblichen Strafen zu verhängen nur rund 200 Normcharakter tragen, sind. Anders als moderne Menschen, Wie in anderen Bereichen ist somit lassen sich für ein Staatswesen die ihnen missliebige Anordnungen auch hinsichtlich der Strafverfahren tatsächlich nur drei Elemente isolie- einfach streichen möchten, fühlten die Meinung der Muslime keines- ren: sich in früheren Zeiten die Menschen wegs eindeutig. Viele treten für ei- an die Rechtsvorschrift als solche ge- nen Abschreckungsstrafvollzug ein – das Präsidialprinzip, wonach an der bunden, milderten aber ihre Grau- und glauben, dass die hadd-Strafen Spitze des Staates nicht ein Kollegi- samkeit dadurch ab, dass sie die dafür besonders geeignet sind, ande- um oder Politbüro, sondern ein Messlatte, unter der sie zur Anwen- re wollen ihre Anwendung generell Staatschef (Kalif oder Amir) zu ste- dung kamen, soweit anhoben, dass unterbinden, wieder andere wollen hen hat, der als Nachfolger des Pro- dieser Fall praktisch nicht zu oft ein- sich nicht prinzipiell festlegen, son- pheten, nicht aber als ,Stellvertreter getreten ist. Ähnliche Verfahrenswei- dern wünschen eine Art Mischgesetz- Gottes‘, im päpstlichen Sinne fun- sen sind auch aus dem Christentum gebung, bei der beide Positionen je giert; und dem Judentum bekannt. nach Bedarf zum Zuge kommen kön- nen. – das Konsultationsprinzip, wonach Diesen Umgang mit den Vorschriften exekutive wie legislative Funktionen gilt es zu bedenken, wenn man mit 7.5 Demokratie und Menschenrechte auf der Grundlage von Konsultation Muslimen ins Gespräch kommen will, (einschließlich des Umganges mit (schura) auszuüben sind; weil er die Chance eröffnet, von einer Nichtmuslimen) prinzipiellen Änderung koranischer – das Prinzip des Islam als Staatsreligi- Vorgaben abzusehen. Hinzu kommt, Viele Berichte über den sog. islami- on. Dies erfordert, dass das Staats- dass sich auch innerhalb des Islam an- schen „Fundamentalismus“ vermit- oberhaupt Muslim ist und die gesam- dere Tendenzen abzeichnen, die die teln den Eindruck, dass die islamische te Rechtsordnung am Koran als ober- traditionellen hadd-Strafen als histo- Vorstellung vom Staat unversöhnlich stem ‚Grundgesetz‘ ausgerichtet risch gerechtfertigt, unter heutigen der westlichen Vorstellung eines de- wird, natürlich auch hinsichtlich des Bedingungen aber nicht mehr ver- mokratischen Staates gegenüber- Minoritätenschutzes. tretbar ansehen. Als markantestes steht. Das westliche Denken wird da- Beispiel darf diesbezüglich eine bei durch das biblische Prinzip cha- Mittelbar kann aus diesen Grund- mündliche Äußerung von Dr. Tanta- rakterisiert: „Gebt dem Kaiser, was lagen das demokratische Prinzip her- wi, des Scheikh des Azhar, der bedeu- des Kaisers ist, und Gott, was Gottes geleitet werden, indem man aus den tendsten religiösen Autorität Ägyp- ist“ (Matthäus 22, 21), was im Klar- Rechten der Umma als solcher und tens und einer der wichtigsten der text besagt, dass Staat und Religion dem Gerechtigkeitsgebot des Koran islamischen Welt, gelten, der bei ei- als deutlich voneinander getrennt darauf schließt, dass die erwähnten ner Begegnung mit deutschen Islam- anzusehen sind, während der Islam obligatorischen Konsultationen nicht experten im Frühjahr 1997 in Wolfen- auf der Einheit beider durch die For- nur beratend, sondern bindend zu büttel öffentlich erklärt hat, dass der mel: „din wa-dawla“ (Religion und sein haben.“97 Übertritt eines Muslim zu einer ande- Staat) beharrt und sich somit einer ren Religion, auf den bisher die To- säkularen Gesellschaft verweigert. Die Wirklichkeit in der islamischen desstrafe stand, heute durchaus als Bei genauerem Hinsehen sind die Po- Welt ist von solchen Prinzipien weit freie Entscheidung in Glaubensfra- sitionen der Muslime jedoch differen- entfernt. Was tatsächlich anzutreffen gen akzeptiert werden könne, sofern zierter. Zu Recht merkt der zum Islam ist, sind: „auf Stammesloyalität ge- dieser Übertritt nicht als Akt gegen übergetretene deutsche Diplomat gründete Scheichtümer; auf Einpar- den Islam eingesetzt werde. Wie dies Murad Wilfried Hofmann diesbezüg- teiensystem beruhende Regime; Mi- dann in der Praxis in Ägypten umge- lich an: „Die maßgebliche Formel litärdiktaturen mit charismatischen setzt wird, bleibt nach wie vor im Ein- heißt nicht ‚Religion ist Staat‘, son- Führern; Monarchien; Theokratien. zelfall abzuwarten. Bezeichnend ist dern ‚Religion und Staat‘. Damit wird Das Leben in einer wahren Demokra- nur, dass sich wohl im Bereich der unwillkürlich anerkannt, dass beides tie ist Muslimen bisher nur in der hadd-Strafen einiges bewegt, ohne nicht identisch ist, sondern dass es Diaspora vergönnt.“98 dass generell behauptet werden um unterschiedliche Bereiche geht, kann, die Zeit für drastische Straf- die allerdings auf islamische Weise in Angesichts dieser Wirklichkeit hat Fa- maßnahmen sei generell abgelaufen. harmonische Beziehung zueinander tema Mernissi recht, wenn sie den Teilweise werden sie im Zuge von gebracht werden müssen.“96 Gegensatz zwischen Europa und der Reislamisierungstendenzen sogar islamischen Welt so ausdrückt: „Der wieder bewusst eingeführt, nicht sel- Mit Blick auf die heutige Diskussion Westen lässt, indem er unablässig ten auch mit dem Argument, da- ist wichtig zu sagen, dass die bekann- von Demokratie redet, das Phantom- durch einer Zunahme der Krimina- te Formel: „din wa-dawla“ so nicht schiff mit all jenen wieder auftau-

96 Murad Wilfried Hofmann: Der Islam als Alternative, mit einem Vorwort von Annemarie Schimmel, München 1992 S. 114 97 Hofmann, a.a.O. S. 115f 98 Hofmann, a.a.O. S. 118

36 Die Ethik des Islam chen, denen die Köpfe abgeschlagen und der aus ihm resultierenden Her- dass das Staatsoberhaupt ein Muslim, wurden, weil sie sich weigerten zu ausforderung in Teilhabe mittels Un- der Islam die Staatsreligion und der gehorchen, lässt den Kampf zwischen terwerfung.“101 Auf diese Weise wird Koran oberste Verfassungsnorm ‚dem Schwert und der Feder‘ wieder- an gesellschaftspolitischen Beispielen ist.“104 auferstehen, insbesondere den der ebenso wie anhand der Entwicklun- intellektuellen Kadis, die auf Gerech- gen im Bereich der Wissenschaften, Der Hinweis auf die Menschenrechte tigkeit, der Sufis, die auf Freiheit ver- Schönen Künste (Dichtung, Musik, berührt ein weiteres Kontrovers- sessen waren, der Dichter, denen es Architektur, Kleinkunst, Malerei) und thema zwischen Europa und der immer gelungen war, ihre Individua- der Mystik deutlich, warum und wie- islamischen Welt. Bassam Tibi hat lität auszudrücken gegen die Kalifen so auf Phasen eines blühenden die Problematik auf den Punkt ge- und ihre Scharia (sarica), die sehr au- Neuaufbruchs im zähen Kampf mit bracht, wenn er schreibt: „Im Islam toritäre Auslegung des göttlichen den Institutionen der „Allmacht“ oft haben die Muslime, als Gläubige, Gesetzes.“99 Sie hat dabei eine islami- – bis in die Gegenwart hinein – die Pflichten/fara’id vis-à-vis der Gemein- sche Tradition im Auge, für die eine Tilgung jedes der Herausforderung schaft/Umma, aber keine individuel- merkwürdige Entsprechung gilt: „Es verdächtigen Elementes durch Unter- len Rechte im Sinne von rechtlichen dreht sich um sechs Schlüsselworte, werfung folgte, bis es zum Stillstand Ansprüchen. Damit Menschenrechte die zwei Seiten ein und derselben und der damit verbundenen Stagna- als individuelle Rechte im Islam eta- Gleichung darstellen: din (Religion), tion gekommen ist.102 bliert werden können, ist es notwen- ictiqad (Glaube) und taca (Gehorsam). dig, die Betonung auf die Pflichten Auf der anderen Seite haben wir: ra’y So gesehen, steht der Verwirklichung aufzugeben und ein Konzept von in- (persönliche Meinung), ihdat (Er- eines wahrhaft demokratischen dividuellen Rechten einzuführen.“105 neuerung, Modernisierung) und Staates in den Ländern der islami- In diesem Zusammenhang ist es je- ibda’ (Schöpfung). Der Konflikt be- schen Welt eine lange Geschichte an- doch hilfreich, sich daran zu erin- ruht auf der Tatsache, dass der zwei- dersgearteter Herrschaften im Wege, nern, dass die Rede von den Men- te Pol über Jahrhunderte hinweg mit nicht aber ein religiöses Prinzip. Als schenrechten lange Zeit auch inner- dem Zeichen des Negativen, des Sub- Beleg dafür können auch die Muslime halb christlicher Kreise in Europa als versiven versehen war.“100 Mit „All- dienen, die in westeuropäischen Aufklärungsgut bekämpft wurde macht und Mächtigkeit“ umschreibt Demokratien leben und diese ohne und etwa in der römisch-katholi- Christoph Bürgel dieses Spannungs- Vorbehalte unterstützen. „Allerdings schen Kirche erst seit dem Pontifikat verhältnis, das seiner Meinung nach ist islamische Demokratie nicht als un- von Papst Johannes XXIII. (1958- für das Verständnis dessen, was sich beschränkte Volkssouveränität zu 1963) ein Heimatrecht innerhalb der seit Jahrhunderten im Bereich des verstehen. Ein muslimisches Parla- Theologie gefunden hat. Entwicklun- Islam politisch, wissenschaftlich und ment hat – wie andere Parlamente gen in diese Richtung sind also inner- kulturell abgespielt hat, typisch ist. auch – die Verfassung, hier also die halb von Religionen nicht generell „Allmacht“ steht dabei für Gott und koranischen Normen, Scharia im eng- ausgeschlossen, wie im übrigen u. a. alle irdischen Entscheidungsfunktio- sten Sinne, zu beachten. In diesem die „Erklärung zum Weltethos“ von nen und -träger der Religion, weitgespannten Rahmen wäre es frei, 1993106 beweist, die auch von einigen während „Mächtigkeit“ auf konkre- staatliche Organisation, Wirtschafts- Muslimen mitunterzeichnet wurde te Gegebenheiten und Sachzwänge verfassung, Strafrecht etc. konkret und dadurch als Beleg dafür gelten hinweist. Der kulturelle Entwick- auszugestalten, da der Koran in die- kann, dass sie nicht prinzipiell dem lungsprozess läuft daher nach Bür- ser Hinsicht ein Höchstmaß an Flexi- islamischen Glauben widerspricht. gels Meinung darauf hinaus, „die ir- bilität gewährt.“103 Ja, Murad W. dass andere dagegen Front machen, dischen Mächtigkeiten der Kontrolle Hofmann glaubt in Anlehnung an ist bei solch neu einzuschlagenden der Allmacht zu unterwerfen. Das Muhammad Asads islamische Staats- Wegen nur allzu verständlich. Man- führt im politischen Bereich zu Theo- lehre, „dass der ideale islamische che wenden sogar ein, es handele kratie und Ausübung sakraler Gewalt Staat eine rechtsstaatliche, parlamen- sich bei der gesamten Debatte um ei- [...]. Im Bereich der Wissenschaften tarische Republik mit einer Verfas- ne neue Form der Kolonialisierung, und Künste ist das angestrebte Ziel, sung ist, die in allen wesentlichen was Tibi zu der Bemerkung veran- das freilich erst nach Jahrhunderten Punkten (Gewaltenteilung, Men- lasst: „Die erste Frage ist die, ob es erreicht wurde, ebenfalls eine reli- schenrechte, Parteienpluralismus,) gerechtfertigt ist, das nicht-westliche giöse Durchdringung und damit Um- westlichen Verfassungen entsprechen kulturelle System des Islam anhand wandlung des paganen Charakters könnte, solange festgelegt bleibt, von ethischen Maßstäben der westli-

99 Fatema Mernissi: Die Angst vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie, Hamburg – Zürich 1992 S. 30 100 Ebd. S. 59 101 Johann Christoph Bürgel: Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München 1991 S. 361 102 Vgl. ebd. S. 362 103 Hofmann, a.a.O. S. 116 104 Ebd. 105 Bassam Tibi: Die Ethik von Menschenrechten als internationale Moralität. Islamisches Recht/Schari’a versus Menschenrechte im Übergang zum 21. Jahrhundert, in Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht, hrsg. von Herbert Huber, Asendorf 1993 S. 299-332, hier S. 316. Zur Menschenrechtsproblematik im Islam vgl. auch Ann Elisabeth Mayer: Islam and Human Rights. Tradition and Politics, Boulder/Col. 1991 und Kevin Dwyer: Arab Voices. Human Rights Debate in the Middle East, Berkeley 1991 106 Vgl. dazu Hans Küng u. Karl-Josef Kuschel (Hrsg.): Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, München – Zürich 1993

37 Die Ethik des Islam chen Kultur zu beurteilen, wie dies sche Version mit denen in europäi- Ideologien (z.B. Atheisten) haben im hinsichtlich der internationalen Men- schen Sprachen, so treten deutliche klassischen Konzept der Scharia kei- schenrechtsnormen der Fall ist. Mei- Unterschiede zwischen ihnen auf.110 ne Existenzberechtigung, für sie ner Ansicht nach gehört die Ethik der Nur auf einen solchen sei hier hinge- blieb traditionell nur die Alternative: Menschenrechte zum Kernstück un- wiesen, weil er die sprachliche Aus- Bekehrung zum Islam oder Tod. In serer globalen Zivilisation.“107 Mit drucksmöglichkeit berührt. Der Satz: Geschichte und Gegenwart war diese Blick auf den dadurch möglichen Ko- „alle Menschen sind vor dem Gesetz Position immer umstritten. Sie führte lonialismusvorwurf sagt Tibi: „Neben gleich“ stellt für die Übersetzung ins in Indien während der Herrschaft der der schon betonten Notwendigkeit Arabische ein großes Problem dar. islamischen Moghuls (1526–1858) einer Reform des islamischen Rechts Für „Gesetz“ gibt es nämlich zwei zeitweise zu radikalen Verfolgungen müssen Muslime zuallererst zwischen Wörter: sharica und kanun. Sharica der Hindumehrheit, teilweise setzte der Dominanz des Westens und (also: Scharia) meint das koranisch sich aber auch eine tolerante Haltung der Universalität der internationa- begründete Religionsgesetz, nach durch, die sich heute vor allem auf len menschenrechtlichen Rechtsstan- dem zwar zwischen Schwarzen und den Koranvers: „in der Religion gibt dards unterscheiden. Es ist möglich, Weißen kein Unterschied, wohl aber es keinen Zwang“ (2, 256) stützt. Die den einen Aspekt zu kritisieren (das zwischen Muslimen und Nichtmusli- Geschichte der Bahais in den Ländern heißt politische Hegemonie) und zu- men und in etwa zwischen Mann und der islamischen Welt weist ähnliche gleich den anderen (die Ethik der kul- Frau ein solcher gemacht wird. Unterschiede im Umgang der Musli- turellen Moderne) zu akzeptieren. K. anun dagegen ist ein aus dem me mit ihnen auf. Wesentlich tole- Menschenrechtsstandards basieren griechischen „kanon“ abgeleitetes ranter sieht die klassische Rechtslehre auf der Voraussetzung universeller Fremdwort, das als Bezeichnung für den Umgang mit den „Schriftbesit- Rechtsnormen und ethischer Werte, staatliche Gesetzesvorschriften dient zern“ (vor allem Juden und Christen), und sie sollten nicht mit politischer und keinen Bezug zum Religionsge- denen ein Existenzrecht innerhalb Macht und hegemonialer Herrschaft setz hat. Der Satz: „alle Menschen der islamischen Gemeinde zugespro- verwechselt werden.“108 sind vor dem Gesetz gleich“ be- chen wird, weil sie als Vorläuferreli- kommt also einen je verschiedenen gionen zum Islam betrachtet werden, In den letzten Jahrzehnten hat es Sinn, wenn man „Gesetz“ durch denen gegenüber der Islam den Vor- mehrere Versuche gegeben, islami- „sharica“ oder durch „kanun“ wie- zug hat, dass er nach dem Glauben sche Menschenrechtserklärungen zu dergibt. Im erstgenannten Falle, der der Muslime die an die Menschen er- verfassen. Ihre Tendenz ist zu sagen, bei der erwähnten allgemeinen is- gangene göttliche Offenbarung im dass seit mehr als 1400 Jahren durch lamischen Menschenrechtserklärung Koran in Reinformat bewahrt und so- den Koran einige Rechte für die Men- Anwendung findet, ist inhaltlich ge- mit alle Überlieferungsfehler, die schen festgelegt sind, die in Europa sagt, dass die Aussage nur für be- die Schriftbesitzer nach der islami- erst durch die Französische Revoluti- stimmte Bereiche zutrifft und die in schen Sichtweise der Offenbarungs- on ihre juristische Form gefunden ha- der arabischen Fassung hinzugefüg- geschichte (vgl. oben die Offenba- ben und die ihrerseits dann wieder ten Koranzitate verdeutlichen dies rungsgeschichte) noch immer tradie- weiterentwickelt worden sind, so auch, indem etwa der Rassismus ren, beseitigt hat. Der anerkannte dass gilt: es gibt „zwischen Islam und zurückgewiesen wird; im Falle der Rechtsstatus ist der der dhimmis, der Menschenrechtsdoktrin keine we- Verwendung von „kanun“ wird der historisch nicht immer respektiert sentlichen Widersprüche. Im Gegen- islamische Bezug von vornherein aus- worden ist, weil vielfach andere poli- teil: Der Islam ist ein (komplementä- geschlossen, weil bewusst eine welt- tische Konstellationen eine Rolle res) Menschenrechtssytem (sic!).“109 liche, säkulare Terminologie gewählt spielten. Die religiöse Differenziert- ist, für die inhaltlich die völlige heit als eigentliches Unterschei- In der konkreten Umsetzung sind die Gleichheit aller vor dem Gesetz dungsmerkmal klingt auch in moder- Probleme allerdings größer als in der kein Problem darstellt, nur eine isla- ner Terminologie noch nach: „So- theoretischen Diskussion, und viele mische Menschenrechtserklärung ist wohl im Persischen als auch im Türki- Gruppierungen fordern für sich, was eine solche Aussage dann nicht. schen lauten die Wörter für ‚national‘ sie anderen Gruppierungen nicht in und ‚Nation‘ milli und millet, gehen gleicher Weise zugestehen wollen. Das zuletzt genannte Beispiel be- also auf die alte milla oder millet, Hinzu kommen terminologische rührt das Problem der Minderheiten die ‚religiös-politische Gemeinschaft‘, Schwierigkeiten, die auf historisch und ihrer Rechte. Die diesbezügliche zurück. In der laizistischen türkischen anders ausgerichtete Traditionen hin- klassische Position ist klar: es gibt Republik ist selbst heute noch ‚Nati- weisen. Als Beispiel sei hier die „all- im Prinzip vier Kategorien von on‘ millet, ‚Nationalismus‘ milliyet gemeine islamische Menschenrechts- Menschen: Heiden (Polytheisten), und ‚Nationalität‘ milliyetçi.“111 erklärung“ erwähnt, die 1981 vom „Schriftbesitzer“, Muslime und Ver- Internationalen lslamrat verabschie- treter neuerer Religionen und Ideolo- Das klassische Modell des Schutzrech- det und in drei Sprachen (Arabisch, gien. Die Heiden und die Vertreter tes für die „Schriftbesitzer“ bedeutet Englisch, Französisch) veröffentlicht neuerer Religionen (z.B. Bahais) und im Sinne einer demokratischen Ge- worden ist. Vergleicht man die arabi- sellschaft, dass die Schriftbesitzer

107 Tibi, a.a.O. S. 319 108 Tibi, a.a.O. S. 315 109 Hofmann, a.a.O. S. 161 110 Vgl. dazu Allgemeine islamische Menschenrechtserklärung, übers. von Martin Forstner, Cibedo-Dokumentation (Frankfurt/M) Nr. 15/16 vom Juni/September 1982 111 Bernard Lewis: Die politische Sprache des Islam, Berlin 1991 S. 74

38 Die Ethik des Islam

Menschen zweiter Klasse und keines- meinschaft leben und dauerhaft dazu- Islam, worunter die im Zusammen- wegs den Muslimen gegenüber gehören, hat zur Rede von der islami- hang mit Eheschließungen und die als gleichgestellt sind. Aus diesem Grun- schen Diaspora geführt. Sie ist inso- Folge langer Orientaufenthalte pro- de haben sich etwa die Christen, die fern irreführend, als die meisten dieser portional bei weitem die zahlreichsten in diesem Jahrhundert politisch in Muslime aus politischen und ökonomi- sind. Echte Missionserfolge erzielt den Ländern mit islamischer Bevölke- schen Gründen nach Westeuropa eigentlich nur die mystisch ausgerich- rungsmehrheit aktiv geworden sind, übergesiedelt sind und die, die aus re- tete Ahmadiyyah-Bewegung. Aufs den sogenannten „linken Parteien“ ligiösen Gründen kamen, sind ge- Ganze gesehen aber muss man sagen, angeschlossen und für den Nationa- wöhnlich nicht gekommen, um sich dass die Zahl der Konversionen zum lismus und Sozialismus engagiert.112 primär als „Gläubige“ oder „Muslime“ Islam trotz anders lautender Berichte Es versteht sich somit von selbst, dass hier niederzulassen. Alle Versuche der in der Presse bislang recht bescheiden sich die Schriftbesitzer mit dem klas- Theologen, solche langfristigen Auf- geblieben ist und etwa in der Bundes- sischen Modell nicht mehr abfinden, enthalte in nicht-islamischer Umge- republik Deutschland nur einen Bruch- was manchen Muslimen kaum ein- bung zu problematisieren, haben teil von den Konversionen ausmacht, leuchtet, weil sie glauben, das Mo- kaum jemanden zur Rückkehr in die die Europäer in den letzten Jahrzehn- dell habe sich in der Vergangenheit Heimat bewegen können. Erst allmäh- ten zum Buddhismus vollzogen haben. bewährt. Andere suchen nach neuen lich reifte daher in den Herkunftslän- Wegen und wehren sich dagegen, dern die Idee, diese „Ausgewander- Der Islam in Westeuropa ist folglich immer wieder mit klassischen Vorstel- ten“ als eine Art Botschafter oder vorzugsweise ein Einwanderungsphä- lungen und Entwürfen konfrontiert Außenposten für die Belange der Her- nomen, für das es in der islamischen zu werden, ohne dass wirklich neue kunftsländer zu nutzen. Dementspre- Geschichte praktisch keine Vorbilder Modelle erkennbar sind.113 Die Frage chend gibt es heute den Versuch der gibt. Die Scharia geht vom Leben der der Partizipation von Nichtmuslimen Türkei, den Muslimen türkischer Her- Muslime in Gesellschaften mit islami- im islamischen Staat ist somit nach kunft Ratschläge für ihr Verhalten in schen Bevölkerungsmehrheiten aus, wie vor ein zentraler Prüfstein dafür, der Gesellschaft zu geben. Anderer- die Situation von Muslimen in Ländern inwieweit Muslime sich zur demokra- seits betrachtet sich der König von Ma- mit nicht-islamischen Bevölkerungs- tischen Staatsform im modernen Sin- rokko gewissermaßen als Kalif für Eu- mehrheiten wird dort nicht themati- ne bekennen und inwieweit sie das, ropa und versucht in diesem Sinne sei- siert. Das einzig historisch relevante was sie an Partizipation und Gleich- nen Einfluss geltend zu machen. Dane- Vorbild, das deshalb auch heute bis- berechtigung in der sogenannten ben gibt es – vor allem in Frankreich – weilen so diskutiert wird116, ist die Be- Diaspora fordern, auch ihrerseits dort ernstzunehmende Versuche, einen völkerung islamischen Glaubens, die zuzustehen bereit sind, wo sie in der Islam europäischen Zuschnitts zu nach der Reconquista 1492 in Spanien Mehrheit sind. entwickeIn, der alle Vorherrschafts- verblieben ist. Die Besonderheit dieser ansprüche aus islamischen Ländern historischen Ausgangslage ist jedoch 7.6 Das Leben von Muslimen in ablehnt und einen eigenen Weg nicht zu übersehen und macht eine nicht-islamischen Ländern einschlagen möchte. Der bekannteste Parallelisierung mit der heutigen Si- Vertreter dieses europäischen Islam tuation höchst problematisch. Daher In den letzten Jahrzehnten haben sich ist der Pariser Professor Mohamed lautet die korrekt gestellte Frage: Dür- in Westeuropa mehrere Millionen Arkoun. fen Muslime auf Dauer in einem nicht- Muslime niedergelassen, von denen islamischen Land leben? vor allem in Frankreich und Großbri- Bei all diesen Richtungskämpfen in- tannien viele heute die französische nerhalb des europäischen Islam spie- Hagemann und Khoury sind dieser Fra- bzw. britische Staatsangehörigkeit ha- len die zum Islam übergetretenen Eu- ge nachgegangen und haben die Ant- ben114, so dass es nicht abwegig ist zu ropäer eine eher untergeordnete Rol- worten der muslimischen Gelehrten sagen, dass die Muslime zur europäi- le. Obwohl es in den letztenJahren vor auf diese Frage notiert. Ihr Fazit lautet: schen Wirklichkeit hinzugehören, was allem in Frankreich die eine oder ande- es „dürfen also die Muslime nach der nicht gleichbedeutend zu sein braucht re spektakuläre Konversion zum Islam überwiegenden Meinung der Gelehr- mit der Entwicklung einer multikultu- gegeben hat (man denke hier an den ten auf Dauer in nicht-islamischen Län- rellen Gesellschaft.115 Arzt Dr. Maurice Bucaille oder an den dern, in denen die Muslime Religions- Philosophen Roger Garaudy), handelt freiheit genießen, leben.“117 Damit Die Tatsache, dass Millionen von Musli- es sich insgesamt immer nur um relativ sind noch nicht alle Fragen der konkre- men in Staaten der Europäischen Ge- wenige Übertritte von Europäern zum ten Lebensgestaltung gelöst. Das Er-

112 Vgl. diesbezüglich zu Ägypten und Syrien den Beitrag von Bernard Bottiveau: Il diritto dello stato-nazione e lo status dei non musulmani in Egitto e in Siria, in Pacini, a.a.O. S. 121ff sowie weitere Beiträge in diesem Sammelband. 113 Auch Hofmann, a.a.O. S. 198 weist auf die tolerante Vergangenheit im Vergleich zu Europa damals hin, nennt aber kein modernes islamisches Modell eines gleichberechtigten Umgangs mit Nichtmuslimen im islamischen Staat. 114 Vgl. dazu neben der in Anm. 62 genannten Literatur noch Montserrat Abumalham (Hrsg.): Comunidades islámicas en Europa, Madrid 1995 und Islams d’Europe. Intégration ou insertion communautaire?, dirigé par Robert Bistolfi et François Zabbal, Paris 1995 115 So glaubt etwa Helmuth Schweitzer: Der Mythos vom interkulturellen Lernen. Zur Kritik der sozialwissenschaftlichen Grundlagen interkulturel- ler Erziehung und subkultureller Selbstorganisationen ethnischer Minderheiten am Beispiel der USA und der Bundesrepublik Deutschland, Münster – Hamburg 1994, dass die Übertragung amerikanischer Erfahrungen auf Deutschland aus historischen wie aktuellen Gründen nicht ak- zeptabel ist, weil in Deutschland von einer multikulturellen Gesellschaft nicht die Rede sein kann. 116 Vgl. dazu Maribel Fierro: La emigración en el islam, in Abumalham, a.a.O. S. 71- 84 117 Ludwig Hagemann u. Adel Theodor Khoury: Dürfen Muslime auf Dauer in einem nicht-islamischen Land leben? Zu einer Dimension der Integra- tion muslimischer Bürger in eine nicht-islamische Gesellschaftsordnung, Würzburg – Altenberg 1997 S. 123; ähnlich auch Political Participation (Anm. 62) S. 95ff

39 Ergebnis und Ausblick gebnis aber zeigt, dass in dieser Rich- dass sich dadurch eine Art Neugrup- Tat durch viele Jahrhunderte hin- tung weitergedacht werden kann, pierung unter den Muslimen ab- durch den Muslimen geholfen, den denn es gilt: „Trotz der Menge der zeichnet, die in Zukunft vielleicht Verhaltenskodex und die gültigen noch näher zu klärenden Fragen brau- ebenso bedeutsam sein wird wie die Rechtsnormen so festzulegen, dass chen sich die Muslime in den Ländern oben beschriebenen Gruppierungen, sie bestens praktikabel gewesen sind. der westlichen Welt nicht in eine ab- die ihrerseits eine Antwort auf kon- Dabei wird in Diskussionen um die lehnende und verschlossene Haltung krete Probleme einer bestimmten Scharia heute meist übersehen, dass zu begeben, die ihnen jede Chance für Entwicklungsphase innerhalb des sie historisch nahezu nie mit der kon- die Entfaltung ihres Glaubens Islam gewesen sind. Sicher ist, dass kreten Rechtsordnung im Lande versperren würde. Diese Entfaltung die Antwort auf die Frage, wie der identisch gewesen ist. Ebenso wie des islamischen Glaubens und Lebens islamische Weg heute aussehen soll, Frankreich, Spanien und Italien dem in einer nicht-islamischen Gesellschaft je nach Muslim und Muslima ver- römischen Recht folgen, aber die Ge- hängt entscheidend mit der Ausarbei- schieden ausfällt, und sicher ist auch, setzgebung dieser Länder dennoch tung von Lösungen, die die Diaspora- dass dabei die Herkunft dieser Gläu- durchaus unterschiedliche Einzelvor- Situation der Muslime berücksichtigt, bigen im Sinne der traditionellen Zu- schriften enthält, ist es mit der Scha- zusammen.“118 gehörigkeit zu den Gruppierungen ria und den konkreten Landesgeset- innerhalb des Islam offenbar eine viel zen unter der Scharia in der Vergan- Um der Aufgabe einer Entfaltung des geringere Rolle spielt als persönliche genheit gewesen. Auf diese Weise ist islamischen Glaubens und Lebens in ei- Vorlieben hinsichtlich der Bereit- es möglich gewesen, sowohl dem ner nicht-islamischen Gesellschaft adä- schaft, auf die Moderne einzugehen. Prinzip als auch den regionalspezifi- quat entsprechen zu können, bedarf Vier islamische und eine weltliche schen Bedürfnissen gleichermaßen es sowohl der Flexibilität bei der Position sollen die unterschiedlichen Rechnung zu tragen. Koranauslegung als auch einer umfas- Ausrichtungen im folgenden charak- senden Gesellschaftsanalyse, damit terisieren, die heute unter Muslimen Als zweiter Pluspunkt soll hier der eine inhaltliche Bestimmung dessen anzutreffen sind. Sie decken bei wei- systematische Charakter der Scharia gelingt, was es unter den Rahmenbe- tem noch nicht das ganze Spektrum genannt werden. Im Unterschied dingungen eines modernen Staates in der Möglichkeiten ab, stecken aber zum Koran, der zwar eine Fülle von der westeuropäischen Gesellschaft ungefähr den Gesamtrahmen ab, in- Einzelanweisungen aus allen mögli- heißt, islamische Identität zu leben. nerhalb dessen sich die vielfältigen chen Bereichen der Ethik (z. B. nicht Positionen heute bewegen. lügen, nicht stehlen), des Rechts (z. B. Zeugenaussagen vor Gericht, 8.1 Das Festhalten an der Scharia Erbschaftsregelungen, strafrechtliche 8 Ergebnis und Bestimmungen wie die sog. hadd- Für viele Muslime – allen voran Strafen) und der Sitte (z. B. richtiges Ausblick Khomeini und seine Anhänger – ist es Grüßen, richtiges Betreten von Häu- Die voraufgehenden Kapitel haben eine unbestreitbare und nicht zu dis- sern) enthält, bietet die Scharia ein gezeigt, dass sich im Laufe der Jahr- kutierende Tatsache, dass Gottes Wil- System, aus dem systematisch neu hunderte Lebensweisen herausgebil- len am deutlichsten im System der auftretende Probleme gelöst werden det haben, die sich auf islamisch-ko- Scharia zum Ausdruck gebracht ist können. Dies gelingt, weil – wie oben ranische Weisungen für alle Bereiche und deshalb auf jeden Fall in dieser beschrieben – neben dem Koran des menschlichen Lebens berufen, in Komplexität aufrechterhalten wer- noch weitere Rechtsquellen (z.B. die vielen Ausformungen aber weit über den muss. Das System hat sich ihrer sunna des Propheten, der idjmac/Ge- das hinausgehen, was im Koran Meinung nach nicht nur viele Jahr- lehrtenkonsens, der kiyas/Analogie- selbst konkret angeordnet ist. Wenn hunderte hindurch bewährt und schluss und manch andere Rechtsvor- folglich Muslime heute – unter völ- große Flexibilität bei der Anpassung stellung der damaligen Zeit) benutzt lig veränderten Lebensbedingungen an neu auftretende Situationen be- werden, so dass neben Koranischem und in Auseinandersetzung mit der wiesen, sondern es ist in seinem Kern auch Nichtkoranisches, ja neben Isla- Herausforderung durch die moderne auch koranisch abgesichert und so- mischem auch Nichtislamisches Ver- Welt – bestimmen wollen, welche mit durch einen Offenbarungsan- wendung findet und in der Gesamt- Formen der Adaptation und der spruch legitimiert. schau jenes System liefert, aus dem Zurückweisung sie bezüglich solcher die Scharia ihre Stärke gewinnt. Ansprüche zu wählen haben, so kann Die hier formulierte Position kann dies nicht ohne Bezug auf das Ge- mindestens zwei Pluspunkte für sich Damit ist zugleich eine wichtige wordene und den entsprechenden verbuchen, sie hat aber auch wenig- Schwachstelle angesprochen, die historischen Werdegang geschehen. stens eine Schwachstelle, die den den Gegnern des heutigen Festhal- Der Blick zurück in die Geschichte Gegnern dieser Position nicht ent- tens an der Scharia nicht entgangen wird damit zum Bezugspunkt für die gangen ist. ist. Sie wenden dagegen ein, dass die Reformfähigkeit und die Reformwil- Scharia nicht in gleicher Weise bin- ligkeit der Muslime.119 Es scheint, Als erster Pluspunkt kann in diesem dend sein kann, wie dies für den Sinne gelten: das System hat in der

118 Hagemann-Khoury, a.a.O. S. 124 119 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Peter Antes: Islam, in Peter Antes (Hrsg.): Die Religionen der Gegenwart. Geschichte und Glauben. München 1996 S. 66-87. Für die aktuellen Ereignisse sei verwiesen auf die jährlich neu erscheinenden Nachschlagewerke: Der Fischer Weltalmanach. Zahlen. Daten, Fakten (Frankfurt/M); Harenberg aktuell. Lexikon der Gegenwart. Fakten, Trends und Hintergründe (Dortmund) und Der Fischer Atlas zur Lage der Welt. Globale Trends auf einen Blick (Frankfurt/M)

40 Ergebnis und Ausblick

Koran als Gottes geoffenbartes Wort 8.3 Ewig Gültiges und zeitlich gerungen sind mit Bezug auf diese gilt. Alles Nichtkoranische und erst Bedingtes im Koran Schwachstelle möglich: entweder recht das Nichtislamische kann ihrer man vertritt wie die Moslembrüder Meinung nach revidiert werden und Der Hinweis auf die Abrogationen im die Forderung, der Koran müsse braucht nicht um jeden Preis vertei- Koran ist für manch andere Gruppe ohne Abstriche als ganzer akzeptiert digt und festgehalten zu werden. innerhalb des Islam – allen voran für werden, oder man geht – wie die An- Das Festhalten am Koran reicht dem- die Ismailiten um den Agha Khan – hänger von Mahmud Muhammad nach aus, um wahrhaft Muslim zu ein Indiz dafür, dass es durchaus auch Taha – auf die mekkanische Botschaft sein. Ein Festhalten an der Scharia ist zeitlich Bedingtes im Koran gibt, das zurück. dafür nicht notwendig. von der ewig gültigen Botschaft deutlich unterschieden werden muss. Beim näheren Studium des Koran, so 8.4 Die Rückkehr zur mekkanischen 8.2 Der Koran als absoluter Maßstab glauben sie, gibt es dafür noch weite- Botschaft re Beispiele, wenn beispielsweise von Das unbeirrte Festhalten am Koran, Sklaven in der Gesellschaft die Rede Nicht wenige Intellektuelle der isla- wie es etwa die Moslembrüder in ist, ohne dass heute irgend jemand mischen Welt sympathisieren heute Ägypten und Syrien fordern, hat als ernsthaft fordert, diese wieder einzu- mit der Auslegung von Mahmud Pluspunkt den Offenbarungsan- führen, nur um den koranischen Muhammad Taha, der 1985 als grei- spruch des Koran für sich zu verbu- Gegebenheiten zu entsprechen. ser Religionsgelehrter wegen seiner chen. Es kann sich auf Gottes Offen- Folglich darf davon ausgegangen „häretischen Lehren“ im Sudan zum barung als nicht mehr hinterfragbare werden, dass nicht alles gleicher- Tode verurteilt und hingerichtet wor- Wahrheit und Weisung berufen. maßen verbindlich ist. Gott, so wird den ist. Sein Vergehen bestand nach Folglich fühlt man sich stark im Glau- gesagt, ist ein guter Pädagoge, der Meinung seiner Gegner darin, zu leh- ben und verweist darauf, dass im den Menschen auf dem Stand ihrer ren, dass Mohammed nie einen isla- Koran alle Lösungen enthalten sind, Entwicklung und Vorstellungswelt mischen Staat, d. h. eine umma, ge- oder wie es im Slogan des FIS in Alge- seine ewige Botschaft offenbart, so gründet hätte, wenn seine Botschaft rien formuliert wird: „Der Koran ist dass Ewiges und Zeitliches im heuti- in Mekka angenommen worden wä- die Lösung.“ gen Text miteinander verwoben vor- re. In der Tat betreffen die Haupt- liegen. Die Aufgabe der Interpretati- punkte der mekkanischen Suren den Der Blick in die Frühgeschichte des on ist es demnach, dies mit Blick auf Glauben an den einen und einzigen Islam hat jedoch gezeigt, dass der heute wieder zu trennen und allein Gott und den Glauben an das Gericht Koran schon damals nicht die Lösung am ewig Gültigen der Botschaft fest- nach dem Tode, bei dem die Taten für alle Probleme gewesen ist, wes- zuhalten. Eine solche Sichtweise der Menschen von Gott beurteilt halb man noch andere Rechtsquellen kann den Koran als sehr modern aus- werden. Gesellschaftspolitisch ist die- hinzunehmen musste. Der damals legen, indem vieles, was uns heute se erste Botschaft von Mekka120 da- deutlich bemerkte Schwachpunkt eher fremd oder unzeitgemäß vor- durch gekennzeichnet, dass als „Mus- lässt sich auch heute nicht deklama- kommt (man denke etwa an be- lime“ alle wahren Monotheisten und torisch aus der Welt schaffen: der stimmte Aussagen über die Stellung nicht nur die Muslime im Sinne der Koran enthält kein System, aus dem der Frau in der Gesellschaft oder an Anhänger des Islam bezeichnet wer- systematisch alle neu auftretenden die hadd-Strafen bei bestimmten den, dass noch nicht vom djihad als Probleme zu lösen wären. Hinzu Vergehen), als zeitlich bedingte Vor- militärischem Konzept die Rede ist, kommt, dass der Koran infolge be- stellungen einer vergangenen Zeit dass Ungleichheit zwischen Männern reits intern vorfindbarer Abrogatio- beiseite gelassen werden kann. und Frauen noch unbekannt ist, dass nen offenbar auslegungsbedürftig Polygamie (selbst Mohammed lebt in ist, wenn es darum geht, klarzustel- Methodologisch ist diese Auffassung dieser Zeit mit seiner Frau Khadidja len, welche Anweisungen absolut nicht problemlos. Es erhebt sich die monogam) und die Verschleierung und für alle Zeiten gelten. Frage, nach welchen Kriterien diese der Frau noch nicht vorkommen, ja Scheidung innerhalb des Koran vor- dass letztlich wirtschaftlich, politisch Viele Moslembrüder wissen um diese genommen werden soll. Die Antwort und sozial ideale Verhältnisse im Sin- Schwierigkeiten, übergehen sie im darauf wird nicht durch den Koran ne der Gleichheit aller untereinander Augenblick aber noch, weil sie nur gegeben, sondern scheint weitestge- herrschen. Alles ändert sich nach der selten so unter Realitätsdruck stehen, hend in den Präferenzen der Inter- Auswanderung Mohammeds nach dass sie eine Lösung für konkrete Fra- preten zu liegen, so dass dieses ein- Medina. Hier wird gleich zu Beginn gen bieten müssen. In den meisten sichtige Unterscheidungskriterium ein Vertrag mit den Juden geschlos- Fällen beschränkt sich ihre Forderung letztlich willkürlicher Handhabung sen, der nachher zum Muster für den auf die Einsetzung einer islamischen ausgeliefert und in keiner Weise Umgang der Muslime mit den Regierung, der dann im politischen koranisch abgesichert ist. „Schriftbesitzern“ wird. Die Termino- Alltagsgeschäft all die Schwachstel- logie „Muslim“ wird auf die Anhän- len des Prinzips auffallen und nach Die damit angedeutete Schwachstel- ger des Islam eingegrenzt, der djihad Lösungen schreien werden, die beim le im Umgang mit dem Koran ist nimmt teilweise die Form eines Ver- Kampf um die Macht noch vernach- den Gegnern dieser Vorgehensweise teidigungskampfes für die Sache lässigt und auf später vertagt werden durchaus bewusst und wird auch von Gottes an, Männer und Frauen wer- können. ihnen so artikuliert. Zwei Schlussfol- den unterschiedlich in den Rechtsvor-

120 Vgl. zum folgenden Mahmoud Mahamed Taha: The Second Message of Islam. Translation and Introduction by Abdullahi Ahmed An-Nacim. Syracuse 1987

41 Ergebnis und Ausblick schriften behandelt (z. B. Erbrecht: die, die sich dazu bekennen. Die Re- mus als theoretisches Staatskonzept eine Frau erbt halb soviel wie ein aktionen auf die Vollstreckung des für Muslime nicht tot ist, sondern Mann; Prozessrecht: die Aussage ei- Todesurteiles zeigen, dass sie von nach wie vor zum Gesamtspektrum ner Frau ist halb soviel wert wie die Glückwunschtelegrammen an die su- der Möglichkeiten gehört. eines Mannes), die Polygynie wird danesische Regierung über Protest- gestattet, sofern die Zahl der legalen schreiben bis zu Verdammungsurtei- So gesehen, sind die Muslime kein Ehefrauen nicht vier überschreitet len reichen. Deutlich wird dadurch, einheitlicher Block, wie uns gerne die u.v.a.m. dass die Muslime keineswegs ein ein- glauben machen wollen, die von der heitlicher Block sind und unter ihnen Gefahr des religiösen Fundamentalis- Taha folgert aus all diesen Unter- viele sind, die durchaus in Anlehnung mus oder sogar vom Kampf der Kul- schieden, dass es einen prinzipiellen an Taha der Idee eines weltlichen turen mit dem Hauptfeind Islam re- Unterschied zwischen der ersten Bot- Staates viel Positives abgewinnen den. Bei dieser einseitigen Wahrneh- schaft von Mekka und der zweiten können. mung dessen, was in der Welt des von Medina gibt. Seiner Meinung Islam vor sich geht, entsteht der Ein- nach ist die erste die ewig gültige, druck122, dass die Kulturen der islami- ursprüngliche Offenbarung, wäh- 8.5 Ein weltlicher Staat schen Völker als einheitlicher Block, rend die zweite eine Adaptation die- ohne historische Wandlungsfähigkeit ser ersten unter den konkreten Rah- Tahas Interpretation liefert die theo- erscheinen und dass die islamische menbedingungen einer beduinisch logische Begründung für die Tren- Kultur als etwas grundsätzlich ande- geprägten Stammesgesellschaft ist. nung zwischen Weltlichem und Geist- res als andere Kulturen dargestellt Insofern ist der Vergleich dieser bei- lichem, die klassisch ohne einen sol- wird. Ein derart „islamophobes“ Bild den Botschaften ein wichtiges her- chen religiösen Bezug im Konzept wird die Muslime nur noch als Bedro- meneutisches Kriterium, um zu er- der Säkularisierung à la Atatürk hung wahrnehmen, die ihren Glau- fahren, wie die Umsetzung der ewig (gest. 1938) vertreten worden ist. ben vornehmlich für politische und gültigen Botschaft in konkrete histo- Dieses Konzept ist vorzugsweise die militärische Ziele missbrauchen, die rische Bedingungen erfolgt ist, und Konsequenz aus der Einsicht der Mi- westliche Gesellschaft ablehnen und um zu prüfen, was daraus für die Um- litärs gewesen, dass der technolo- folglich die Einstellung zum Islam setzung dieser Botschaft in die Rah- gisch-wirtschaftliche Fortschritt des leicht in Rassenhass gegen sie um- menbedingungen des modernen Westens ohne Übernahme westlicher schlagen lassen können, was national Staates zu lernen ist. Die erwähnten Praktiken nicht aufzuholen ist.121 Das wie international schlimme Folgen Beispiele lassen erahnen, dass Taha Konzept wurde besonders radikal in haben würde. dabei ungewöhnliche Wege geht der Türkei durchgeführt, indem die und zu recht modernen Adaptatio- arabische Schrift für das Türkische Die Wirklichkeit, das hat diese kleine nen übergeht, die mit vielem aufräu- abgeschafft und statt dessen die La- Schrift gezeigt, ist wesentlich vielfäl- men, was bisher die meisten Muslime teinschrift eingeführt worden ist, der tiger. Diese Aussage negiert nicht die hindert, angstfrei und großzügig auf Staat auf eine laizistische Grundlage Existenz von Gruppen und Grüpp- die Herausforderungen der Moderne gestellt wurde und sich vor allem das chen, die den Westen ablehnen oder einzugehen. Militär immer wieder zur Verteidi- bekämpfen, aber sie übertreibt auch gung des Laizismus in die Politik ein- nicht deren Bedeutung und verweist Als Fazit kann gesagt werden, dass gemischt hat. Es bleibt abzuwarten, statt dessen auf all die vielen, die sich Taha im Großen und Ganzen den mo- ob die Folgen aus den Parlaments- um andere Weisen, mit der Moderne dernen Staat mit dem Prinzip der wahlen vom Dezember 1995 und die zurechtzukommen, redlich mühen Trennung zwischen Religion als reli- damit verbundene stärkere Ausrich- und dafür Entwürfe vorlegen. Dass giöser Überzeugung der Einzelnen tung auf die islamische Welt hin eine hierbei in den letzten Jahren die sog. und Staat als öffentlich-rechtlicher Änderung dieses grundsätzlichen Be- islamischen Lösungen stärker in den Organisation der Interessen der Ge- kenntnisses zum Laizismus nach sich Vordergrund getreten sind, hat vor meinschaft ebenso bejaht wie die ziehen werden. Zudem bleibt offen, allem damit zu tun, dass die vom We- Gleichheit aller Bürger/innen vor inwieweit das türkische Modell unter sten übernommenen Modelle meist dem Gesetz und die Anerkennung den Turkvölkern in den Nachfolge- nicht das gehalten haben, was sie der Menschenrechte. staaten der ehemaligen Sowjetunion versprochen hatten, und somit Ent- an Bedeutung gewinnen und zur täuschung statt Zufriedenheit auf Es versteht sich fast schon von selbst, Nachahmung einladen wird. seiten der Betroffenen die Folge war. dass viele andersdenkende Muslime In solchen Phasen der Enttäuschung Tahas Koraninterpretation für un- Viele Türken – vor allem unter den im ist der Gedanke, anderes zu versu- zulässig halten und es nicht legitim Ausland lebenden – stehen zum chen, nur allzu verständlich. An neu- finden, in dieser Weise einen Gegen- Laizismus und halten sich dennoch en Angeboten aber mangelt es, zu- satz zwischen der mekkanischen und für überzeugte Muslime. Sie doku- mal die bislang stärkste Alternative der medinensischen Botschaft zu mentieren zusammen mit anderen zum westlichen Kapitalismus und konstruieren. Sie lehnen diesen An- Muslimen nordafrikanischer Her- Staatsmodell: der sozialistische Weg, satz schlichtweg ab und verfolgen kunft in Frankreich, dass der Laizis- kläglich im Ostblock gescheitert ist.

121 Vgl. dazu entstehungsgeschichtlich das nach wie vor nicht überholte Buch von Joseph S. Szyliowicz: Education and Modernization in the Middle East, Ithaca 1973, in dem die Modernisierungsbemühungen in Ägypten, Iran und der Türkei seit dem 19. Jahrhundert behandelt werden. 122 Im Folgenden werden die Vorurteile gegenüber dem Islam aufgezählt, die in Islamophobia, its features and dangers. A consultation paper, hrsg. durch die Runnymede Commission on British Muslims and Islamophobia, London (The Runnymede Trust, 133 Aldersgate Street, London EC1A 4JA) 1997 S. 8 zusammengestellt worden sind.

42 Ergebnis und Ausblick

Die Frage, die sich heute stellt, eine ernste Anfrage an die Entwick- in der islamischen Welt und unter scheint daher nicht so sehr die nach lung der modernen Welt, bei der für den Muslimen im eigenen Land einer anderen Ideologie im Sinne ei- viele und offensichtlich immer mehr wachsam zu verfolgen, die verschie- nes theoretischen (auch theologi- Menschen die negativen Nebenwir- denen Positionen in ihrer Unter- schen) Konzeptes zu sein als vielmehr kungen deutlich zu überwiegen be- schiedlichkeit wahrzunehmen und die, wie es gelingen kann, der ginnen, so dass sie fundamentale sich zu fragen, wie sie wirksam selbst großen ZahI der Ausgegrenzten und Korrekturen im Gesamtkurs fordern. eine Kurskorrektur vornehmen kön- auf der Strecke Gebliebenen, der rie- Solange dies so fortbesteht, wird die nen, um die negativen Nebenwirkun- sigen Zahl der durch die Geburtenra- islamische Lösung als Gegenmodell gen des modernen Entwicklungskon- ten in der Dritten Welt immer zahl- zum westlichen Import attraktiv blei- zeptes abzubauen bzw. zu verhin- reicher werdenden Jugendlichen be- ben. Die „islamische Lösung“ wirkt dern. gründet Hoffnung auf Partizipation wie ein Zauberstab für die Lösung al- und Mitgestaltung zu machen und ler Probleme, sie verliert jedoch an Kooperation und Dialog sind folglich sie nicht hoffnungs- und mutlos wer- Glanz und Eindeutigkeit, wo es dar- angesagt und nicht die Konfrontati- den zu lassen. In der Situation eines um geht, inhaltlich zu sagen, was on im Sinne eines Westens, der gegen scheinbar alle erdrückenden Arbeits- konkret zu tun ist. Alle Länder, die den Rest der Welt steht. Die einzig marktes123 bleibt für die Verlierer of- auch nur zum Teil einen islamischen reale Alternative besteht darin, unter fenbar nur noch die moralische Sys- Weg ausprobiert haben, mussten Wahrung religiöser, ethnischer und temanklage und die Forderung nach rasch erkennen, dass die Wirklichkeit kultureller Identitäten zu lernen, mit- Verbesserung der Lebensbedingun- ihnen bald sehr pragmatische Lösun- einander zu leben, wenn wir nicht gen für die Mehrheit der Ausge- gen auferlegt hat, weil sich die wah- gemeinsam untergehen wollen. Die grenzten. Die „Rache Gottes“124 ist ren Probleme nicht mit den Kampf- überwiegende Mehrzahl der Musli- es, dass diese Aufgabe die Religionen parolen gegen die Missstände haben me ist dazu ohne Wenn und Aber be- übernehmen und den Ausgegrenz- bewältigen lassen. Daraus folgt, dass reit, wenn sie nicht – wie so oft in den ten ihre Stimme leihen. Auf diese die Forderungen nach islamischen letzten zweihundert Jahren – den Weise bringen sich die Religionen Lösungen in Zukunft sicherlich noch Eindruck haben muss, dass all dies le- – und allen voran der Islam – wieder stärker werden, dass aber auch die diglich der Versuch sei, sie auf neue ins politische Geschehen ein und Enttäuschungen nicht ausbleiben Weise kulturell, sozial, wirtschaftlich werden zum politischen Faktor. Das werden, wenn klar wird, dass der und politisch abhängig zu machen. Gehör, das die religiöse Predigt bei Rückgriff auf den Islam nicht alle Ob diese Zukunftsaufgabe zum Woh- immer mehr Menschen heute findet, Probleme zufriedenstellend lösen le aller bewältigt werden kann, ist ist somit nicht einfach ein Paradig- kann. Die westlichen Länder sind da- eine offene Frage, auf die sich nur menwechsel im Sinne religiöser Ideo- her gut beraten, die Entwicklungen gut islamisch antworten lässt: Allahu logisierungsmöglichkeiten, sondern aclam = Gott weiß es am besten!

123 Vgl. dazu die düsteren Prognosen von Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Mit einem Nachwort von Martin Kempe, Frankfurt – New York 1995 124 Vgl. oben Anm. 1 u. 2 und zudem Peter Antes: Religions and Politics. Facts and Perspectives, in Religioni e Società Nr. 26, anno XI, Torino/Italia, settembre-dicembre 1996 S. 5–13

43 Der Islam als politischer Faktor

Der Verfasser:

Dr.phil.Dr.theol. Peter Antes ist Universitätsprofessor für Religionswissenschaft im Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hannover und hat als Spezialgebiete neben Methodenfragen in der Reli- gionswissenschaft vor allem aktuelle Probleme der islamischen Ethik sowie Religionen und religiöse Gemeinschaften im heutigen Europa. 1942 in Mannheim geboren, studierte er Religionswissenschaft, kath. Theologie und Orientalistik in Freiburg/Br. und Paris, promovierte in Religionsgeschichte zum Dr.theol. und in Islamkunde zum Dr.phil. und wurde für „Religionsgeschichte und Vergleichende Religionswissenschaft“ in Freibug/Br. habilitiert. Seit 1973 ist er Professor in Hannover. Zusätzlich ist er seither durch Vorträge und Gastprofessuren (darunter Bossey/Genf, Hamburg und Mitaka/To- kyo) weltweit tätig. Von 1988-1993 war er 1. Vorsitzender der „Deutsche(n) Vereinigung für Religionsgeschichte e.V.“ und war von 1993-1997 stellvertretender Vorsitzender dieser Vereinigung. Von 1995-2000 war er Vizepräsident der weltweit wirkenden „International Association for the History of Religions“, seit 2000 ist er deren Präsident. Neben vie- len Publikationen auf Deutsch stehen andere auf Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Unter all diesen sei hier insbesondere auf folgende in Buchform auf Deutsch hingewiesen:

Ethik und Politik im Islam, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: W. Kohlhammer Verlag 1982

Jesus zur Einführung, Hamburg: Junius 1998 (Reihe: Zur Einführung; 169)

Mach’s wie Gott, werde Mensch. Das Christentum, Düsseldorf: Patmos 1999 (Reihe: Weltreligionen) und mit anderen zusammen:

Der Islam. Religion – Ethik – Politik, Stuttgart-Berlin-Köln: W. Kohlhammer 1991

Große Religionsstifter. Zarathustra, Mose, Jesus, Mani, Muhammad, Nanak, Buddha, Konfuzius, Lao Zi, München: Beck 1992

Die Religionen der Gegenwart. Geschichte und Glauben, München: Beck 1996

Strukturen des Dialogs mit Muslimen in Europa, Frankfurt/M-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Peter Lang 1998 [Europäische Bildung im Dialog. Religion-Sprache-Identität, Bd 6]

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