Von Ferneyhough Zum Barock. Polyfunktionales Komponieren
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Von Ferneyhough zum Barock Polyfunktionales Komponieren im Zeitalter des Internet von Alexey Shmurak Ich bin Komponist. Dank etablierter staatlicher Förder eher unwichtig. Radikal hat sich auch meine Einstellung systeme brauchten Künstler lange Zeit überhaupt nicht zur Interpretation verändert – von eher geringer Bedeu darüber nachzudenken, warum, für wen und weshalb sie tung zu ihrer absoluten Vorrangstellung seit Mitte der sich mit Kunst beschäftigen. In meinem Land, so scheint Zehnerjahre. Außerdem verschob sich meine Identität es, hat dieses System so funktioniert (und funktioniert vom „Komponisten“ zum „Interpreten“ in den unter immer noch), weil jahrzehntelang unveränderte Regeln schiedlichen Funktionen als „Pianist“ oder „Keyboarder“, immer nur reproduziert wurden und werden. Musikin „Performer“ und „Sänger“, die ich auch oft miteinander stitutionen, Wettbewerbe verschiedener Disziplinen und kombiniere. Altersstufen, vom Staat geförderte Künstlerverbände und Während der letzten drei Jahre habe ich ein Sololied Festivals – all das macht es möglich, dass man ständig in Projekt entwickelt, „Die hysterische Dogge“, das sich all eine Art Zeitreise auf einer MöbiusSchleife eintauchen mählich aus einer witzigen Unterhaltung für Freunde in kann. Wer sich im Inneren der hermetischen Welt der eine ernste künstlerische (kompositorische) Aussage ge akademischen Musik befindet – in Bezug auf den realen wandelt hat. Der Begriff „Lied“ ist hier wörtlich zu neh Raum des Klingenden, des Zuhörens, andere Kunstfor men: Es handelt sich um Lieder für Stimme mit Klavier men und menschliche Aktivität (auf das „Leben“) über oder Keyboard/SynthesizerBegleitung, häufig in Stro haupt – lässt sich zu Recht mit einem Vogel Strauß ver phenform, auf eigene oder fremde Texte, mit der zusätz gleichen, der seinen Kopf in den Sand steckt, oder mit ei lichen Möglichkeit von Arrangements für andere Beset nem Mönch, der sich vor dem weltlichen Leben hinter zungen. schützende Klostermauern zurückgezogen hat. All das ist gewissermaßen eine Beschreibung von au Zweifel an der Zweckmäßigkeit dieser Abgeschieden ßen. Hier möchte ich dagegen den Akzent auf die inne heit kamen mir (und wohl auch anderen) etwa zeitgleich ren Prozesse der Reflexion und meine weiteren Vorha mit der Verbreitung des Internets Mitte der Nullerjahre. ben setzen. In den neun Jahren mit Anschluss ans Inter Das Entstehen immer wieder neuer Gemeinschaften und net haben sich meine Werte (und folglich auch meine Verbindungen, das Aufflammen, Brennen und Erlö Methoden) mehrfach grundlegend verändert. Ich werde schen von Tendenzen hatte den Charakter kaleidoskopar versuchen, diese Veränderungen in vier Abschnitten dar tig sich verändernder Muster angenommen. zustellen. Nachdem ich mich auf diese Weise in der Ukraine und Suche nach Kommunikation dem näheren Ausland (Russland, Polen, Weißrussland, Deutschland, Niederlande, Georgien, Armenien) vernetzt In den ersten Jahren am Konservatorium habe ich aus hatte, konnte ich mich mit anderen Spielern auf diesem Bequemlichkeit neoklassische Vorbilder benutzt, die Feld austauschen (Ensembles, Websites, Künstlergrup meine jugendlichen Versuche – getragen von der Liebe pen). Mit einigen Gleichgesinnten beteiligte ich mich an zur Musik von Prokofjew und Schostakowitsch – ganz der Gründung eines Ensembles für Neue Musik, an Kom natürlich fortsetzten. Als ich zur gleichen Zeit mehr und ponistenWorkshops, elektroakustischen Performance mehr neue Musik kennenlernte, die auf völlig anderen Projekten und verschiedenen Festivals. Dem Zeitgeist Prinzipien aufgebaut ist, strapazierte das auf Entwick entsprechend experimentierte ich unter anderem mit un lung und Kontrast beruhende Konzept meiner Musik das gewöhnlichen Instrumenten, alternativen Aufführungs Material zunehmend, anstatt ihm Gehör zu schenken. räumen (Fabriken, Straßen, Cafés) und audiovisuellen Die Widersprüche nahmen überhand und verlangten Formaten. Dieser Abschnitt meines Lebens scheint und nach einer Lösung. Im Frühling 2008 beschloss ich un ist wohl tatsächlich typisch für einen jungen Komponis ter dem Druck des eigenen Nichtakzeptierens, Nichtver ten, der über sich selbst spricht. stehens, Nichtanerkennens meiner Arbeiten, meine Ver In den letzten Jahren habe ich allerdings angefangen, fahrensweise zu ändern. mich von dieser eher konventionellen MakroGemeinde Die technische Herausforderung sah jetzt so aus: Ich abzusondern und meine Interessen auf (eigene) Soloauf sollte die überlastete Syntax „auf Null“ stellen, mich von tritte beziehungsweise Projekte mit höchstens drei oder den üblichen Denkmustern wie Kontrapunkt, motivischer vier Teilnehmern zu verlagern, wobei der mündliche Arbeit, Sequenzierungen sowie zunehmender Komplexi Kommentar für mich eine immer größere Rolle spielt. tät von Harmonik und Klangdichte befreien, die Einheit Die traditionelle Grenzziehung zwischen dem Künstler der Klanginformation erfassen und eigene Formen (wie mit elitärem Anspruch und dem Publikum wurde dagegen in einem Inkubator) entstehen lassen. Inspiriert wurde MusikTexte 148 Seite 69 ich dabei vom späten Skrjabin, vom reifen (allerdings Dabei war mein musikalisches Ergebnis in klangfarbli nicht dem späten) Grisey, von Andriessens „De Staat“ cher wie auch tonalharmonischer Hinsicht sehr weit von und „De Tijd“ sowie vom reifen (allerdings nicht dem Pärt entfernt. Ich vermied es, in die Trägheit einer kon späten) Sylwestrow. Dabei hat mich zunächst nicht ge kreten „Sprache“ zu verfallen, indem ich mich bemühte, stört, dass ich möglicherweise Mimikry geübt und mich für jedes Werk eine – wenngleich äußerst bescheidene – mehr hinter der Fassade bereits fertiger Methoden ver (für mich) neue Gesetzmäßigkeit zu finden, mit unver steckt habe, statt zu eigenen Aussagen zu gelangen. brauchten Anspielungen auf einige konventionelle Mus Die Folge war, dass für mich Merkmale wie allmähli ter. che Entwicklung, Vorsicht (sogar Zaghaftigkeit) im Um Schon bald (gegen Ende 2012) entdeckte ich zu mei gang mit dem Material und die Abwesenheit von Zufall, nem tragikomischen Leidwesen, dass ich, sobald ich mich Folgerichtigkeit und traditioneller Logik bezeichnend von dem einem Trend abgewendet hatte, schon wieder in wurden. Der Schwerpunkt lag auf der Vertikalen („Har einen anderen geraten war. Nachdem ich einige europäi monie“), während die Arbeit mit der Linie (Melodie) nun sche und amerikanische Komponisten aufmerksam stu fast keine Rolle mehr spielte. Die Arbeit mit klassischen diert hatte, stellte ich fest, dass die stille, übertrieben ver Genres, mit komplizierten Metren und Rhythmen wurde einfachte, „uncoole“ Musik, die es vermeidet, nach auffäl unmöglich. Das Komponieren reduzierte sich auf die ex ligen Klangfarben zu suchen, zu einem Trend geworden akte Wiedergabe eines bestimmten Klangbilds samt ei war, der obendrein mit großer Geschwindigkeit und ner geglückten Steigerung beziehungsweise Abschwä Gründlichkeit meine im Wesentlichen in den Achtziger chung einiger Parameter, einem veritablen Höhepunkt, und Neunzigerjahren geborenen Kollegen in meinem re und – falls notwendig – einer vorbereiteten Abwechslung gionalen Umfeld (dem russischsprachigen Raum Osteu von Abschnitten innerhalb eines Stücks. ropas) angesteckt hatte. Heute stelle ich fest, dass sich Ideologisch und auch sozial war ich damals von einer dieser Trend – allerdings mit stetig wachsender Bedeu eigenartigen Euphorie über die neu gewonnene Vernet tung der Improvisation und einem Hang zu eher flexib zung, einer Art Erfolgssträhne, gekennzeichnet. Mir kam len Formen – noch weiter verfestigt hat. es vor, als hätte ich mich für immer von der hermetischen Das „Rhizom“Verfahren kleinen Welt der akademischen Ausbildung und hiesigen Provinzialität – wie ich damals dachte – losgerissen. Ich erkannte, dass es Zeit war, nach etwas Neuem zu su chen. Wie schon in der vorigen Phase entschied ich mich Überdruss für die Taktik des Verzichts. Ich verzichtete auf die erwei Das Überangebot („Wachstumsleiden“) an oberflächli terten Spieltechniken von Instrumenten. Doch das allein chen Experimenten, das mich in der ersten Hälfte 2011 macht noch nicht das Wesen einer neuen Phase aus. Die eingeholt hatte, brachte mich zu einer allgemeinen Ab Grundlagen dieses neuen Kompositionsverfahrens habe lehnungshaltung. Psychologisch erklärt sich das mit Er ich gründlicher und detaillierter als je zuvor erarbeitet. müdungserscheinungen aufgrund eines zu dichten Kom Meine Werke der Jahre 2013 bis 2015 – die traditionell positionspensums und ideologisch mit meinem Protest notierten Partituren – zähle ich zum „Rhizom“Verfah gegen die Allgegenwart von Üppigkeit und Wohlbehagen, ren. Bei Deleuze und Guattari soll das Rhizom den linea gegen ein glamouröses Klangfarben„Konfekt“. Indem ren Strukturen (sowohl im Bezug auf das Sein als auch ich die Abkehr von dieser Kleinbürgerlichkeit vollzog, hielt auf die Denkweise) gegenüberstehen. Mein RhizomVer ich mich für einen kühnen Rebellen, der den Weg des fahren lehnte alles ab, was mich an zeitgenössischen Erfolgs zugunsten einer heute gültigen Wahrheit verließ. Komponisten gestört und gelähmt hat. Die Stücke dieser „Ablehnungsphase“ (von der zweiten Mein Interesse richtete sich dabei nicht auf das Klang Hälfte 2011 bis 2012) zeichnen sich durch Konzentration, bild, also nicht auf etwas rein musikalisch Motiviertes. minimale Veränderungen der Klangfarbe, Introversion, Stattdessen wurde die Musik zu einem Instrument, zu Bescheidenheit der Mittel und Erschöpfung als vorherr einem