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Electronic Theses, Treatises and Dissertations The Graduate School

2013 Gabriele Münter Als Gründungsmitglied Des Blauen Reiters: Bedeutung Und Rezeption Laura Eddelbüttel

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COLLEGE OF ARTS AND SCIENCES

GABRIELE MÜNTER ALS GRÜNDUNGSMITGLIED DES BLAUEN REITERS:

BEDEUTUNG UND REZEPTION

By

LAURA EDDELBÜTTEL

A Thesis submitted to the Department of Modern Languages and Linguistics in partial fulfillment of the requirements for the degree of Master of Arts

Degree Awarded: Spring Semester, 2013

Laura Eddelbüttel defended this thesis on March 29, 2013. The members of the supervisory committee were:

Birgit Maier-Katkin Professor Directing Thesis

Christian Weber Committee Member

Stephanie Leitch Committee Member

The Graduate School has verified and approved the above-named committee members, and certifies that the thesis has been approved in accordance with university requirements.

ii INHALT

Abstrakt ...... iv

1. EINLEITUNG ...... 1 2. MÜNTERS LEBEN UND UMFELD ...... 4 3. EXPRESSIONISMUS ...... 9 Einführung ...... 9 Frauen im Expressionismus ...... 11 4. ...... 17 Entwicklungen vor der Gründung des Blauen Reiters ...... 17 Gründung und Inhalte des Blauen Reiters ...... 19 Münters Rolle im Blauen Reiter ...... 24

5. MÜNTERS KÜNSTLERISCHES WERK ...... 28 Themen, Stil und Einflüsse ...... 28 Münter und Kandinsky ...... 36 Münters Rezeption ...... 41

6. SCHLUSSBEMERKUNG ...... 44

ENDNOTEN ...... 47 BIBLIOGRAPHIE ...... 50

BIOGRAPHISCHE KURZDARSTELLUNG ...... 53

iii

ABSTRAKT

Die Arbeit beschäftigt sich mit Gabriele Münters Position und Rolle als einzige weibliche

Mitbegründerin der expressionistischen Künstlergruppe Der Blaue Reiter. Zu Beginn wird der künstlerische Hintergrund Münters dargelegt. Weiterhin werden die Ursprünge und Leitlinien des Expressionismus besprochen, wobei auf die Bedeutung und Zielsetzung dieser Kunstform eingegangen wird. Zudem werden die noch recht traditionellen Rollenmuster der Zeit sowie die herablassende Sicht auf die Frau, der kein kreatives Schaffen zugemutet wurde, aufgeführt.

Ferner befasst sich die Arbeit mit der Künstlergruppe Der Blaue Reiter. Sie hebt Münters

Stellenwert hervor und argumentiert, dass es durch sie überhaupt zur Gründung der Gruppe kam.

Es wird auβerdem Münters künstlerisches Werk, das von Porträts, zu Landschaftszeichnungen bis hin zu Hinterglasmalerei reicht, untersucht. Die Arbeit bespricht, wie Münter trotz ihres

engen Verhältnisses zum Mitbegründer des Blauen Reiters, , ihre

künstlerische Eigenständigkeit bewahrt hat und ergründet, warum die Kritiken und Rezensionen

sehr unterschiedlich ausfielen. Es wird gezeigt, wie sie innerhalb der Vorstellungen des Blauen

Reiters, die sich auf das „Primitive“ und den inneren, instinktiven Eindruck beziehen, ihre

künstlertische Arbeiten im Sinne des Expressionismus weiterentwickelte.

iv KAPITEL 1

EINLEITUNG

The Expressionists' "new man" is […] supremely "manly" in his opposition to the

"effeminacy" of or . In fact, it becomes clear as we read

Expressionist essayists that one of the most fundamental dualities in their conceptual

system is that between "Mensch" and "Weib." Through her traditional association with

nature and matter, woman becomes identified with that lower level of being which the

"new man" is out to transform and dominate through the supposedly ineluctible power of

his "Geist" und "Wille”.1

Den Expressionisten, die sich in der Hauptsache gegen alles Realistische wandten und dafür vielmehr neuen, wenn auch vereinfachten Formen in weitestem Sinne nachstrebten, kann dennoch eine recht konservative Vorstellung der Geschlechter nachgesagt werden. Das obige

Zitat zeigt, wie Männer und Frauen nicht nur von der „restlichen“ Gesellschaft, aber auch von einigen Expressionisten selber in eindeutig unterschiedliche Kategorien getrennt wurden. Diese

Kategorien – „Mensch“ und „Weib“ – repräsentieren jedoch keine Gleichheit, sondern stellen den Mann ganz klar über die Frau und sprechen ihr gleichzeitig etwas Menschliches ab, da sie getrennt vom Menschen, den der Mann repräsentiert, betrachtet wird.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Frauen generell noch aus vielen Bereichen des

Lebens ausgeschlossen und wurden institutionalisiert von Ausbildungsstätten und auch Berufen ferngehalten. Künstlerinnen und Malerinnen wurden häufig belächelt und nicht als gleichwertige

Kollegen wahrgenommen. Auch im Expressionismus, der sich scheinbar Neuem öffnete und sich

1

gegen alte Traditionen auflehnte, war es für Frauen schwierig, Erfolge zu feiern, selbstständig zu

arbeiten und aus dem Schatten der Männer hervorzutreten, um die gleiche Rezeption zu erhalten.

Es gibt einige Künstlerpaare, bei denen es die Frauen nie tatsächlich aus dem Schatten ihres

Ehemanns heraus schafften, wie beispielsweise bei und seiner späteren Ehefrau

Elisabeth Macke. Umso bemerkenswerter scheint es, wenn Frauen unter den Expressionisten zu

Ansehen gelangten und sich in von Männern dominierten Zirkeln behaupten konnten. Ein

Paradebeispiel dafür ist die deutsche Künstlerin Gabriele Münter, die dies schaffte, auch wenn

sie trotzdem häufiger harsche und auch geschlechterspezifische Kritik einstecken musste. Sie

stellte eine zentrale Figur bei der Gründung der Künstlervereinigung Der Blaue Reiter dar.

Einerseits heutzutage als namhafte Künstlerin anerkannt, fällt sie dennoch häufig aus dem Fokus, wenn es um die Gruppenbeschreibung und um die Gründungspositionen geht. Das Ziel dieser

Arbeit ist es aufzudecken, welchen Stellenwert Münter als Gründerfigur in einer der wichtigsten

Künstlergruppen Deutschlands spielte und wie ihre Anerkennung trotz ihres Erfolges sehr unterschiedlich ausfällt. Im zweiten Kapitel wird Münters Leben und frühe Karriere auf den

Aspekt hin untersucht, welche Ereignisse sie zu jener starken Persönlichkeit machten und sie künstlertisch prägten, um ihr so den Eintritt in die Gruppen zu ebnen. Im dritten Kapitel soll der

Expressionismus in Deutschland umrissen werden, seine Ziele, der Stil und ein kurzer Vergleich zu weiteren Künstlergruppen neben dem Blauen Reiter. Im vierten Kapitel untersucht die Arbeit, welche Rolle Gabriele Münter, die für einen unabhängigen und selbstbewussten Lebens- sowie künstlerischen Stil steht, im Expressionismus und speziell bei der Gründung des Blauen Reiters spielte. Es wird ihr Einfluss als einziges weibliches Gründungsmitglied analysiert und inwieweit sie die Gruppe voranbrachte und die Techniken und Ansichten der Gruppe in ihrer Kunst anwandte. Es wird die Entstehung des Blauen Reiters, ihre Position innerhalb der Gruppe sowie

2

die Frage beleuchtet, welche Relevanz Münter als Mitbegründerin hatte. Im fünften Kapitel

werden ihr Schaffen und ihr Stil auf geschlechtertypische Entwicklungen untersucht. Es wird

gezeigt, inwiefern es einen künstlerischen Einfluss von Wassily Kandinsky und Münter

aufeinander gegeben hat, da Kandinsky in Besprechungen immer im Zusammenhang mit Münter

genannt wird. Denn dieses enge Verhältnis wird wichtig in der Besprechung, wie Münter in der

Kritik und Literatur aufgenommen wird, speziell wenn es um die Gründung des Blauen Reiters geht. Im fünften Kapitel bespricht die Arbeit den Unterschied in der Rezeption von Münters

Werken früher – zur aktiven Zeit der Vorkriegsjahre – und heute bzw. dem Zeitraum nach ihrem

Tode, um herauszustellen, ob sich die Sicht auf ihre Gründungstätigkeit geändert hat. In dieser

Analyse soll gezeigt werden, dass Münters Bedeutsamkeit bei der Begründung wichtiger

Künstlergruppen häufig unterbewertet geblieben ist im Vergleich zu den anderen meist männlichen Gründungsmitgliedern sowie sie umgebenden Künstlern und es soll die Frage beantwortet werden, warum sie verhältnismäβig wenig Anerkennung dafür bekam.

3

KAPITEL 2 MÜNTERS LEBEN UND UMFELD

Gabriele Münter startete ihre professionelle künstlerische Laufbahn als Schülerin unter dem

später berühmten Wassily Kandinsky und wurde von Kritikern ihr Leben lang häufig nur als

Schatten seiner gesehen, obwohl insbesondere der engere künstlerische Kreis Münter als

autonome Künstlerin pries und unterstützte. Münter war eine zentrale Figur in der Gründung der

Künstlergruppe Der Blaue Reiter, in der Kandinsky u.a. den Mittelpunkt verkörperte. Ihre

Leistungen stehen teilweise im Widerspruch zur verhältnismäβig geringen Anerkennung, da ihr

Werk häufig erst viel später als angemessen und eigenständiges Schaffen gewürdigt wurde. Vor allem bei der Besprechung der Gründungsmitglieder wird sie von Kritikern oft aus dem Fokus gerückt.

Bereits im frühen Alter war Gabriele Münter künstlerisch aktiv und wurde ebenfalls von ihrem weltoffenen Elternhaus geprägt. Sie wurde 1877 als jüngstes von fünf Kindern in Berlin geboren. Ihre Eltern hatten sich in den USA kennengelernt. Münters Vater war 1848 in die USA als Flüchtling der misslungenen Märzrevolution in Deutschland ausgewandert. In Tennessee hatte er Münters Mutter getroffen, die deutsche Eltern hatte. Sie heirateten und kehrten wegen des amerikanischen Bürgerkriegs im Jahre 1864 zurück nach Deutschland, also noch vor der

Geburt ihrer Kinder.2 Der Vater, der in den USA Zahnmedizin studiert hatte, etablierte sich in

Deutschland als „amerikanischer Zahnarzt“ und genoss in seinem Beruf, auch aufgrund seines

Amerikabezugs, hohes Ansehen.3 Der Familienhintergrund zeigt also bereits, dass Gabriele

Münter ein gutsituiertes Leben führen würde, in dem sie besonders offen für andere Kulturen

oder Kulturaspekte wäre, wie es sich später in ihren Werken, beispielsweise mit der Hinwendung

4

zur Hinterglasmalerei, tatsächlich zeigte. Während des Heranwachsens genossen Gabriele

Münter und ihre Geschwister eine moderne Erziehung, die zwar in anderen meist

Künstlerkreisen nicht ungewöhnlich war, aber im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft weniger behütet und eingeschränkt war. Die besondere Beziehung zu den Vereinigten Staaten drückt die

Kunsthistorikerin Anne Hebebrand im folgenden Zitat aus:

What distinguished the Münter home from others [as a well-to-do, German middle-class

family], if anything, was its close ties to the United States […] Also attributable to the

American influence was a lack of rigidity and a greater sense of freedom than was

common in the German middle class. […] The Münter daughters were allowed unusual

freedom, as when they were given bicycles, were allowed to smoke and to read

controversial avant-garde literature or were not forced into early marriages.4

Diese offene Erziehung erlaubte es Münter nicht nur einen selbstbewusste Persönlichkeit zu

entwickeln, sondern auch ihrer künstlerischen Neigung ohne fortlaufende Gegeneinwände

nachzugehen. Auch wenn Münters Familie sie nicht komplett als professionelle Künstlerin

unterstützte, so entmutigte sie sie aber auch keineswegs. Als Kind bekam sie beispielsweise

einen Kasten Wasserfarben und auch ihre musikalische Ausbildung – im Singen, Komponieren

sowie Gitarre- und Klavierspielen – wurde gepflegt.5 Also schon früh vor ihrer eigentlichen

künstlerischen Ausbildung begann Gabriele Münter zu skizzieren, wobei sich bereits im Alter

von höchstens 14 Jahren ihr zum porträtieren zeigte. Von Mai bis August 1897 lieβ sie

sich an der privaten Kunstakademie in Düsseldorf ausbilden. An eine öffentliche Akademie

konnte sie zu dem Zeitpunkt noch nicht, da sie Frauen verwehrt war. Diese unabhängigen

5

Studien und Kurse konnten ihr aufgrund ihres großzügigen Familienerbes ermöglicht werden.

Die Familie unterstützte sie in ihrer Entscheidung einen Lehrer bei der nahegelegenen

Düsseldorfer Kunstakademie aufzusuchen6. Aufgrund ihres außergewöhnlichen Talents waren die anfänglichen Kurse jedoch weder eine Erfüllung noch eine immense Herausforderung für sie.7

Einen groβen Einfluss auf Münters künstlerische Entwicklung hatte eine Reise durch die

Vereinigten Staaten, die sie antrat, nachdem beide Eltern gestorben waren. Sie hatte dafür ihre

Kurse abgebrochen, um – beginnend im Herbst 1898 – mit ihrer Schwester für eine Dauer von zwei Jahren ihre Verwandten zu besuchen. Die Zeit war für Münter sehr frei und unbefangen.

Auf der Reise war sie künstlerisch auf neuentdeckte Pflanzen und Tiere fokussiert, aber malte auch Landschaften. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch keine abgeschlossene Ausbildung, aber konnte auf ihr Auge und ihren Instinkt vertrauen.8 Als Münter einige Zeit nach ihrer Reise durch

die USA im Jahre 1901 nach München zog, wurde sie Teil des Münchner Künstlerinnenvereins.

München war zu dieser Zeit als die ‚Kunststadt‘ Deutschlands bekannt. Der Künstlerinnenverein

war 1882 von aufstrebenden und die Emanzipation antreibenden Frauengruppen in Deutschland

gegründet worden. Die dazu gehörende Kunstakademie, die Dozenten der Kunsthochschule

München in den Kursen Komposition, Figurenzeichnen und Malerei beschäftigte und an der

Münter ihr Studium fortsetzte, eröffnete ein Jahre später.9

Als einschneidendes Erlebnis muss der erste Kontakt mit Kandinsky im Jahre 1902

gewertet werden, der sich kurz vor den Anfängen des Expressionismus ereignete. Kandinsky

wurde daraufhin ihre privat wie auch beruflich wohl wichtigste Bezugsperson, verhalf ihr

6

einerseits bis zu einem gewissen Grade zum Erfolg, behielt sie andererseits durch seine eigene

Bekanntheit jedoch stets – wenn auch ungewollt – im Schatten seiner selbst. Münter besuchte zu

dieser Zeit seine Aktzeichen- und Malkurse an der progressiven Phalanx-Kunstschule, die

Kandinsky bereits mitbegründet hatte. Der Kontakt wurde zunehmend enger, bis sie sich ein Jahr

später heimlich verlobten, während Kandinsky allerdings noch verheiratet war, ihr jedoch

versprach, sich scheiden lassen zu wollen.10 Gleichzeitig willigte er bereits in der Zeit, als er

noch verheiratet war, dennoch in Reisen mit Münter ein und ein Verhältnis ist laut Quellen bereits früh zu vermuten. Sie reisten zusammen durch Länder und Kontinente wie Deutschland,

Niederlande, Nordafrika, Belgien, Frankreich und Italien, um Skizzen und Gemälde zu erstellen,

und arbeiteten während der Phase eng miteinander.11 Trotz der Beschränkungen in der

Ausbildung für Frauen hatte Münter bis zu dem Zeitpunkt also bereits mehrere Kunstschulen, wenn auch nur an Frauen gerichtet, besucht und verfolgte ihren beruflichen Weg sehr zielstrebig.

Allgemein war es ebenfalls zu der Zeit üblich, dass Frauen ihren Beruf für ihren Mann aufgaben, wenn sie überhaupt einen besaβen. In manchen Fällen wurde sogar eine Heirat vorgezogen, um die Frau zum Aufgeben ihrer Arbeitsstelle zu bewegen.12 Heirat bedeutete als Folge ebenfalls gesetzliche Einschränkungen für Frauen. Erfolge waren meist eng an den Mann gekoppelt und wurden nicht immer als eigenständige Errungenschaften angesehen. Also war es für Münter in vielerlei Hinsicht ein gewagter und selbstbewusster Schritt, sich Kandinsky, einem noch verheirateten Mann, hinzugeben und bald darauf mit ihm zusammenzuziehen.

Münter und Kandinsky sowie weitere expressionistische Künstler, mit denen sie eng im

Kontakt standen, stellten in verschiedenen Ausstellungen aus. 1908 hatte Münter schlieβlich ihre erste Soloausstellung, die im Kunstsalon Lenoble in Köln stattfand. Entgegen der

Errungenschaft, eine eigene Ausstellung zu haben, wie die Kunsthistorikerin Anne Mochon

7

feststellt, waren Münters anfänglich veröffentliche Werke jedoch noch vorausschaubare

Landschaftsskizzen von vorstädtischen Plätzen in Sèvres, St. Cloud, and Bellevue. Die Bilder

waren also solide und ausgefeilt, es fehlte ihnen jedoch noch an Innovation.13 Im selben Jahr zogen sie und Kandinsky nach München, traten in Kontakt mit den russischen Künstlern

Marianne Werefkin und Alexej Jawlensky und zogen mit ihnen nach Murnau. Spätestens ab diesem Zeitpunkt nahm Münters Bedeutung stark zu und sie war verantwortlich für Gründungen verschiedener Künstlergruppen, wie die Neue Künstlervereinigung in München sowie der Blaue

Reiter. Der Blaue Reiter war von ihnen die bekannteste, an der sie stark beteiligt war. Bis dahin hatte sie zielstrebig ihr Berufsziel Künstlerin verfolgt und ihre möglichen Optionen ausgeschöpft.

8

KAPITEL 3

EXPRESSIONISMUS

Einführung

Um zu erkennen, wie sehr Gabriele Münter sich unter den Expressionisten hervortat, und um zu

sehen, welchen Leitlinien die Künstler der späteren Gruppen folgten, soll hier auf die Inhalte und

die Begriffsklärung des Expressionismus eingegangen werden. Der Begriff ‚Expressionismus‘

entwickelte sich erst mit der Zeit und wird auf unterschiedliche Personen zurückgeführt, häufig

um französische Künstler der damaligen Zeit zu benennen. Der Künstler Julien-Auguste Hervé

nannte eine Ausstellung im Jahre 1901 beispielsweise „expressionnisme“.14 Während einer

Ausstellung 1913 im Kunstsalon Cohen in Bonn kam es das erste Mal vor, dass eine Ausstellung

überhaupt mit „Expressionismus“ betitelt wurde. Die Künstler selber vermieden den Ausdruck, auch wenn sie sich der Benennung bewusst waren. Franz Marc nannte die Künstler die „Wilden

Deutschlands“ und Kandinsky sprach von innerem Eindruck, der von Anderen als Ausdruck, mit

Bezug auf den Expressionismus, bezeichnet wurde.15 Die expressionistische Bewegung in ihren unterschiedlichen Formen – u.a. in der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik – war eine

Reaktion auf die Modernisierung und industrielle Entwicklung, die sich rapide um die

Jahrhundertwende vollzog. Die Expressionisten „lifted the veil of self-satisfaction that the period had so lavishly wrapped itself in and went about probing the psyche, analyzing the doubts, dissecting physical and moral frailty, exposing hypocrisy“16. Es gab also eine

Auseinandersetzung mit Kunst und der Psyche. Bevor der Begriff des Expressionismus sich erstmalig festsetzte, wurde die Kunst teilweise noch als Ausdruckskunst17 oder auch

Offenbarungskunst18 bezeichnet, „da hier von vornherein Material und Formensprache durch die

9

Sinnesorgane faβbar und gefühlsmäβig erlebbar sind, wie Farbe, Linie, Stein, Ton und der

menschliche Körper in seiner Form und Bewegtheit“19. Es handelt sich bei dieser Kunstrichtung eher um eine Einstellung gegenüber Kreativität als um einen tatsächlichen Stil20, d.h. dass man sich neuen Arten des Ausdrucks öffnen sollte und nicht mehr so sehr an traditionellen Malweisen festhalten sollte, da es mehr um den Ausdruck eines inneren Gefühls ging, das nicht in einem bestimmten, zuvor dagewesenen Stil umgesetzt werden musste.

Entgegen der in Deutschland stattfindenden Modernisierung zu Beginn des 20.

Jahrhunderts wandten sich die Expressionisten dem Konzept des “Primitiven” zu. Dies bedeutete

nicht nur die Auseinandersetzung mit aus der nichtwestlichen Kunst gewählten Motiven und

Techniken, sondern auch die Nachahmung von kommunalen Lebensstilen, wie sie sich vor der

Industrialisierung ereignet hatten.21 Ein weiterer Aspekt der Expressionisten war, dass die

Bewegung die Dokumentation von flüchtigen oder äuβeren Dingen entschieden ablehnte und vielmehr nach der Repräsentation von Ereignissen suchte, die einen inneren Charakter widerspiegelten. Es ging darum, das “innere Ereignis” des Künstlers zu vermitteln. So erklärt die

Kunsthistorikerin Shulamith Behr, dass in vielen expressionistischen Porträts das Gemälde eine selbstreflektierte Aussage hat, die die Gefühle des Künstlers seinem Modell gegenüber schildert.22 Im Gegensatz zu der teilweise als Beschränkung angesehenen akademischen

Ausbildung, sollte ganz ungehemmt dem Medium des Bildes gegenübergetreten werden, um das

„innere Ereignis“ zu vermitteln. Traditionelle Akademien waren damit gemeint, wobei

Kandinsky selber jedoch an progressiven unterrichtet hatte.23 Interessant ist hier zu erwähnen, dass sich die Expressionisten also gewissermaβen gegen das Akademische wandten, als Frauen endlich die durch die damalige Frauenbewegung erwirkte Eintrittserlaubnis in Universitäten

10

erhielten. Dies war gleichzeitig ein wichtiger Meilenstein für Gabriele Münter, da sie zu dieser

Zeit ihre erste Soloausstellung feierte. Allerdings hatte sie die Ausstellung, bevor sich ihr Stil deutlicher in die Abstraktion entwickelte.

Eine gewisse Struktur gaben dem deutschen Expressionismus verschiedene wichtige

Gruppen, die unterschiedliche Orte in Deutschland repräsentierten. Neben dem Blauen Reiter gab es die zuvor 1905 gegründete und in Dresden ansässige Brücke sowie die kurz vor dem ersten Weltkrieg gegründeten, loser organisierten Rheinischen Expressionisten24, die in der

Kölner Gegend angesiedelt waren, und die Neue Sezession in Berlin. Die Mitglieder der unterschiedlichen Zusammenschlüsse standen häufig miteinander im Kontakt, doch hatten sie – auβer ihrer Hauptstandorte – noch weitere Unterschiede. Die Mitglieder der Brücke gingen hauptsächlich Bildern und der Produktion von Objekten nach, die von afrikanischen und polynesischen Vorbildern inspiriert waren. Dahingegen integrierten Münter und auch die weiteren Künstler des Blauen Reiters den Einfluss der Volkskunst.25

Frauen im Expressionismus

Während der Expressionismus neue Grenzen der Kunst schaffte, beispielsweise durch

Abstraktion, die es in der Art noch nicht gegeben hatte, blieb der Kreis der Expressionisten doch sehr männlich geprägt und nur wenige Frauen kamen zu Ansehen. Auch einige Jahrzehnte später und bis heute hat sich die Rezeption nicht immens geändert. Wie die Kunsthistorikerin Behr anmerkt, nimmt die Nachwelt sehr viel weniger von den Künstlerinnen Notiz, die an wichtigen expressionistischen Ausstellungen beteiligt waren und geholfen haben, den Expressionismus zu verbreiten. Die Gründe für diese einseitige Anerkennung der Geschlechter sieht sie als komplex an, da viele Dinge darauf einwirkten. Dennoch beschreibt sie, wie der avantgardistische Status

11

der weiblichen Künstlerinnen durch die konventionell festgesetzten Geschlechterrollen in der

Gesellschaft gehemmt wurde, während genau diese fortdauernde und voreingenommene

Tradition hauptsächlich den Mann in der Aufgabe sah, dem Gegenstand der “künstlerischen

Kreativität” nachzugehen. Daher ist es in dem Zusammenhang auch nicht überraschend, dass in

den meisten Beschäftigungen mit der modernen Kunst ein Hinweis auf den besonderen Status

einzelner Frauen vermieden wurde. Auβerdem präsentierten sich die Expressionistinnen, wie beispielsweise Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker oder Marianne Werefkin, obwohl die

meisten vertraut miteinander waren, nicht als homogene Gruppe mit eigener Aussage, wie es beispielsweise die männlichen Expressionisten häufiger taten. Dieses Nichtbestehen einer

einheitlichen Gruppe war aber das Resultat daraus, dass es nur wenige offizielle Möglichkeiten

für eine Kunstausbildung für Frauen gab, so dass sie somit der Öffentlichkeit sehr isoliert

erschienen und auch als seltsames Phänomen generell in der modernen Bewegung galten.26 Als

Frauen dann schlieβlich Einlass in die öffentlichen Hochschulen erhielten, waren die männlichen

Künstler bereits an dem Punkt angelangt, an dem sie die konventionellen akademischen Lehren ablehnten.27 Bis dahin wurden Frauen also kategorisch von der gleichwertigen Entwicklung ferngehalten. Für talentierte Künstlerinnen blieb es dennoch schwer, die Anerkennung für ihr

Schaffen sowie ein sozial akzeptables Bild zu bewahren, sogar unter ihren männlichen

Kollegen.28 Viele – normalerweise männliche Kritiker – glaubten schlicht nicht daran, dass künstlerische Qualität mit Feminität kombinierbar seien, wie beispielsweise eine Karikatur des schwedischen Malers Arvid Fougstedt aus dem Jahr 1910 zeigt29. In dieser Karikatur stehen die

Beteiligten vor einem Aktgemälde des Malers Sigrid Hjertén, während Matisse den Wert der

Malerin einer erstaunten männlichen Zuhörerschaft erklärt, wie es die Kunsthistorikerin

Shulamith Behr beschreibt. Die Künstlerin selber ist auf dem Bild aus der Hinteransicht und

12

ohne Gesicht gezeichnet, elegant gekleidet und ohne Arbeitswerkzeug, wohingegen die Männer

von der Seite oder von vorne erkennbar sind und Malwerkzeuge in den Händen tragen.30 Der

Künstlerin werden hier Identität und Arbeitstalent bewusst und gewollt abgesprochen.

Der Kunsthistoriker Karl Scheffler führte jene frauenfeindliche Ansicht noch einen

Schritt weiter. In seiner Veröffentlichung Die Frau und die Kunst aus dem Jahr 1908 in Berlin behauptet er, dass die Natur der Frau zwei der wichtigsten Voraussetzungen für das künstlerische

Schaffen verwehrt hat: den fanatisch vorantreibenden Willen sowie die Macht, die er Talent nennt. In einer Welt ausschlieβlich bestehend aus Frauen gäbe es weder Kultur noch Geschichte oder gar Kunst. Aus den grundsätzlich gegensätzlichen Paaren, die er einführte – männlich- weiblich, Kultur-Natur, Rationalität-Instinkt – folgert er, dass es Frauen unmöglich sei, spirituelle Erkenntnisse zu erlangen und dass sie aufgrund ihrer physischen Natur eher für die darstellenden Künsten geeignet seien.31 Die wichtige Position der Expressionistinnen zeigt sich jedoch gerade in ihrer Isolation. Paradoxerweise waren Künstlerinnen – gerade weil sie von

etablierten Ausbildungsstätten ausgeschlossen waren und weil sich ihr gesellschaftspolitischer

Status veränderte – insbesondere zur Avantgarde zu zählen. Dabei waren ihre Werke keineswegs

nur eine Antwort auf diejenigen ihrer männlichen Gegenstücke, sondern sie waren ein Ausdruck

von einem eigenen inneren Erlebnis. In Gemälden, Tagebüchern oder seltener in theoretischen

Abhandlungen demonstrierten Expressionistinnen ihre Initiative indem sie die Werte der

offiziellen Kunst ablehnten und die vorherrschende Haltung der Mittelklasse jener Zeit

hinterfragten.32 Gabriele Münter war unter den Künstlerinnen jedoch keine Ausnahme und ging

kein speziell enges Bündnis mit anderen Expressionistinnen ein. Münter lebte zwar mit einem

weiteren Künstlerpaar – Alexej von Jawlenski und Marianne Werefkin – für eine prägende Weile

13

zusammen, doch hegte sie engeren und vor allem künstlerischen Kontakt mit ihren männlichen

Kollegen. In dem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass sie sich also durch eine

geschlechterneutrale Weise in ihrem beruflichen Weg durchzusetzen versuchte, ohne sich

speziell mit anderen Frauen zu verbinden, jedoch auch ohne sich typisch männlichem Verhalten

anzupassen, wie es speziell im vierten Kapitel noch detailreicher erläutert werden wird.

Nach den vergleichsweise unbeschwerten Reisejahren in den USA, hatte sich Münter in

Deutschland wieder der recht konservativen Umgebung stellen müssen. Die Umstände Anfang

des 20. Jahrhunderts waren eine sehr schwierige Ausgangssituation für Frauen, die als

Künstlerinnen erfolgreich werden wollten. Die vorherrschende Kultur machte es für viele

akzeptabel, die künstlerischen Aktivitäten von weiblichen Künstlerinnen als intuitiv und spontan

anzusehen oder vielmehr abzustempeln. Die bürgerliche weibliche Bewegung sah Frauen als

Träger von Kultur an und somit im weitesten Sinne im Gegensatz zu den männlichen Bereichen

der Naturwissenschaft und Technologie. Speziell was den Expressionismus betraf, sah Hermann

Bahr, ein österreichischer Schriftsteller und Kritiker der damaligen Zeit, von allen

expressionistischen Künstlern die typische Frau vom Land als Ideal, die einzig und allein aus

weiblicher Intuition heraus male, aber weit entfernt von der “richtigen” Kunstwelt sei.33 Wie bereits erwähnt, durften Frauen zur Jahrhundertwende auch nicht an staatlichen Kunstakademien

studieren, wobei ihr kreatives Schaffen eher zum öffentlichen Gespött wurde.34 Erst 1908

wurden den Frauen die Türen zu öffentlichen Akademien geöffnet, dies aber vergleichsweise

spät, wirft man einen Blick auf die weitaus frühere Öffnung der Hochschulen für Frauen in den

Hochschulen angelsächsischer und weiterer westeuropäischer Länder.35 Aus dem Grund war

Münter zu Beginn meist an Schulen gewesen, die sich ausschlieβlich an Frauen richteten.

14

Bis zu der Phase, in der Münter wichtiger Bestandteil von verschiedenen

Künstlergruppen wurde und ihre offizielle Ausbildung abgeschlossen hatte, waren noch einige

Züge der ersten Frauenbewegung zu spüren gewesen, die beispielsweise schlieβlich ermöglichten, dass auch Frauen an Hochschulen studieren durften. Bereits um 1900 hatten sich in verschiedenen Bereichen Deutschlands Frauenkreise gebildet, die sich für den Individualismus im Sinne Nietzsches sowie eine neue Sexualethik im Sinne der freien Liebe einsetzten, die beinhaltete, Abtreibungen zu legalisieren. Ricarda Huch in München und Helene Stöcker waren zentrale Figuren, die zu einer Organisation von Frauen verhalfen und auch eine Annäherung an die angelsächsische Frauenbewegung suchten.36 Bis 1907 wurde die deutsche Frauenbewegung

„als die kühnste und fortschrittlichste aller feministischen Bewegungen, einzigartig in ihrer

Forderung der freien individuellen Selbstentfaltung“37 angesehen, was nicht bedeutet, dass sie nicht von Beginn an in Deutschland auf heftige Widerstände gestoβen war.38 Münters

Anfangsjahre sowie Höhepunkt als professionelle Künstlerin fielen also in die Jahre, als die

Frauenbewegung einerseits sehr stark war, andererseits aber auch von verschiedenen Gruppen wie zum Beispiel Rechtsgesinnten oder auch Pastoren kräftig bekämpft wurde. 1908 konnten noch Erfolge gefeiert werden, wie die Erlaubnis für Frauen an Hochschulen zu studieren. In dasselbe Jahr fiel Münters erste Soloausstellung. Das Ansehen der Frauenbewegung verbesserte sich daraufhin jedoch nicht:

[Die Frauenbewegung wurde] als eine Quelle der sozialen Unordnung und eine Gefahr

für die Zukunft der Rasse gesehen, und die Sympathie, die sich seit mehreren Jahren in

der Presse und im Reichstag ihren Zielen gezeigt hatte, lieβ nach. Der schnelle Erfolg der

Bewegung hatte wahrscheinlich Angstreaktionen ausgelöst, und die sich verschlechternde

auβenpolitische Situation mag dabei eine Rolle gespielt haben. […] Die Frauenbewegung

15

wurde als eine unpatriotische, internationale, die Einheit von Familie und Nation

bedrohende, jüdisch-feministische Verschwörung diffamiert.39

Besonders in den Folgejahren verschwanden Frauen häufiger wieder aus dem öffentlichen sowie dem Arbeitsleben, was sich später während des ersten Weltkriegs kurz änderte, danach jedoch steigerte.40

16

KAPITEL 4

DER BLAUE REITER

Entwicklungen vor der Gründung des Blauen Reiters

Parallel zu den zuvor erwähnten Veränderungen durch die Frauenbewegung im ersten Jahrzehnt

des 20. Jahrhunderts, kam es im Januar 1909 zu der Gründung der avantgardistischen Neuen

Künstlervereinigung München (NKVM), die zunächst aus Wassily Kandinsky, Gabriele Münter,

Alexej von Jawlensky, Marianne Werefkin, Alexander Kanoldt und Adolf Erbslöh bestand.

Weitere Mitglieder folgten. Ziel war es, den inneren Eindruck sowie die äuβeren Einflüsse der

Welt, also der Natur, in einer Verflechtung, die als künstlerische Synthese bezeichnet wurde,

zum Ausdruck zu bringen.41 Wichtig ist, dass die progressiven Mitglieder der NKVM später die

Gründungsmitglieder des Blauen Reiters waren. Unstimmigkeiten innerhalb der NKVM erwirkten 1911 eine Trennung der Gruppe. Es gab verschiedene Gründe, die insbesondere

Kandinsky dazu bewegt hatten, einen Ausbruch aus der Gruppe mit Münter und Marc zu wagen.

Münter war also ein wichtiges Gründungsmitglied der NKVM und verlieβ als Einheit mit

Kandinsky und Marc die weniger progressiven Mitglieder. Zum einen schätzte er die Haltung anderer Mitglieder nicht, die sich mit kleinen Errungenschaften bereits zufrieden zurücklehnten.42 Neben diesen und anderen Spannungen innerhalb der Künstlervereinigung kam des Weiteren hinzu, dass Kandinsky bei der dritten Ausstellung der Vereinigung ein Gemälde ausstellen wollte, die “Komposition V“, das jedoch am 2. Dezember von der Jury abgelehnt wurde mit der Begründung, dass es die erlaubte Gröβenbegrenzung der Ausstellung

überschreite.43 Da sich dies gegen die Prinzipien der zentralen Mitglieder Kandinsky, Münter

17

und Marc sowie auch richtete, in der die Form weniger eine Rolle spielt, sondern

der Ausdruck zu erlangen gilt, war dies ein Auslöser für ihren sofortigen Austritt.44

Währenddessen waren Kandinsky und Münter bereits mit den russischen Künstlern

Alexej von Jawlensky und Marianne Werefkin in ein gemeinsames Haus in Murnau gezogen,

nachdem Kandinsky Münter davon überzeugt hatte, es zu kaufen.45 Münter, die aus einer wohlhabenden Familie stammte und nach dem Tod ihrer Eltern einen Groβteil geerbt hatte, war diejenige, die für das Haus in Murnau bezahlte46, was ihre – zumindest finanzielle –

Unabhängigkeit den anderen männlichen Künstlern gegenüber hervorhebt. Ohne sie hätte diese

Formation in Murnau daher so gar nicht bestehen können. Das Haus wurde auch das

“Münterhaus” genannt. Die Einwohner des Ortes nannten es das Russenhaus, in dem sich die künstlerische Avantgarde traf.47 Münter und Kandinsky schmückten das Haus mit Kunst aus der

Umgebung und aus dem Ausland und entwarfen auch selbst “Volkskunst” für das Haus.48

Münter war hier zentraler Punkt der Bereitstellung der Unterkunft und auch der Gestaltung innerhalb des Hauses.

Die Jahre dieser örtlichen Vereinigung in Murnau bedeuteten einen Wendepunkt für alle der vier Künstler, eine deutlichere Abwendung vom Realistischen. Obwohl sie zwar immer noch mit Pinseln hantierten und sich auf direkte Beobachtungen verlieβen, arbeiteten sie darauf hin, das Wesen oder den Kern der Welt um sie herum zu gewinnen, um eine so genannte „Synthese“

– des Inneren und Äuβeren – zu erreichen, wie Jawlensky es ausdrückte. Das Resultat war eine

Simplifizierung der Form und eine Befreiung der Farbe. Diese Aspekte wurden nun Kennzeichen für die frühe moderne Abstraktion in der Kunst. Münter befand sich mit rund fünf Ölgemälden pro Tag sowie regelmäβigen Ausstellungen, entweder im Zusammenhang mit der NKVM oder

auch in beispielsweise Berlin durch die Sezession, in einer sehr produktiven Phase, die auch

18

häufig als der „groβe Sprung“ bezeichnet wird. Das bedeutete, dass sie sich künstlerisch in

kurzer Zeit sehr viel weiter entwickelte. Das Haus in Murnau gab ihr dafür einen festen Platz.49

Besonders also, als sie sich weiter in die Abstraktion bewegte, setzte sie in ihren Gemälden und

Zeichnungen um, um was es im Blauen Reiter ging, wie im Folgenden dargestellt.

Gründung und Inhalte des Blauen Reiters

Als das Bündnis der NKVM zerbrach, wie bereits angedeutet, kam es nur sehr kurze Zeit später

zur Gründung des Blauen Reiter. Der Name entstand auf der bildlichen Suche Kandinskys nach

einem erlösenden Objekt, dass die himmelsgleiche Farbe blau trägt. Allerdings behauptet

Kandinsky auch, dass der Name am Kaffeetisch mit den anderen Mitgliedern entstanden sei.50

Der Blaue Reiter erlaubte es den Mitgliedern, fortschrittlich neue Dinge in der Kunst, wie beispielsweise Formfreiheit, auszutesten, während man dies mit absolut Gleichgesinnten tun konnte. In der NKVM hatte es zuvor Kräfte gegeben, die die Suche nach neuen

Ausdrucksmitteln, die über das schlicht „Schöne“ hinausgehen, behindert hatten. Dies zeigt die

Auseinandersetzung zwischen Kandinsky und dem russischen Maler Bechtejeff, der zeitweilig in

Deutschland lebte und Teil der NKVM war und dem es nach Kandinsky fehlte, den puren Stand der Dekoration in der Kunst überschreiten zu wollen.51 Nach der Trennung von der Neuen

Künstlervereinigung München handelten die Basismitglieder, die in verschiedenen Texten

variieren, aber immer Kandinsky und Marc beinhalten, sofort, um sich neu zu orientieren. Heller

spricht davon, dass Kandinsky, Münter, Marc und auch Alfred Kubin die neue Gruppe Der

Blaue Reiter 1911 gründeten.52 Der Kunsthistoriker Wolf-Dieter Dube allerdings spricht nur von den Künstlern Kandinsky, Münter und Marc, die unmittelbar nach der Trennung von der NKVM eine erste Ausstellung für den Blauen Reiter organisierten, die parallel zu der Ausstellung der

19

NKVM in der Galerie Thannhauser stattfand.53 Diese Begrenzung auf nur drei Künstler gibt

Münter mehr Gewicht in der Gründung der Gruppe, wobei sie in anderen Texten manchmal nicht einmal als Mitbegründerin erwähnt wird. Eckhard Hollmann nennt in einer Vorschau bloβ

Kandinsky und Marc als die Gründer54, erwähnt Münter jedoch in der längeren Beschreibung neben den anderen beiden, die als Trio die erste Ausstellung in Kürze organisierten55.

Die erste von dem engen Gründungskreis – mindestens bestehend aus Kandinsky, Marc und Münter – organisierte Ausstellung, die im Gründungsjahr 1911 in München stattfand, beinhaltete etwa 45 Arbeiten von diversen Künstlern, insgesamt 15 an der Zahl56, wie dem

deutsch-amerikanischen Maler , den russischen Malern David and Vladimir Burliuk

und den weiteren Malern , , , Heinrich

Kahler, , Franz Marc, Jean Bloé Niestlé, , Arnold Schönberg und

natürlich Münter und Kandinsky.57 Begleitend zu den Ausstellungen veröffentlichte der Blaue

Reiter bzw. publizierten einige der Mitglieder im Namen des Blauen Reiters Almanache, schriftliche Ausführungen über ihre neue, sich vom Realismus entfernende Herangehensweise.

Die Mitglieder des Blauen Reiters verfolgten nun einen neuen Fokus, der als Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen gesehen werden kann. Eine weniger auf die vorangegangene

Gruppierung der NKVM bezogene Erklärung für die Gründung des Blauen Reiters liefert Anne

Hebebrand in ihrer Arbeit. Sie sagt, der Blaue Reiter “came into existence as a response to and rebellion against the materialistic decadence of nineteenth century art.”58 Der Fokus lag nun ganz

eindeutig auf dem zuvor bereits erwähnten Ausdruck, der in der Kunst dargestellt werden sollte.

Es ging nicht mehr um Objekte an sich oder die dekorative Repräsentation dieser. Münsters viel

gelobtes instinktives Arbeiten steht in engem Zusammenhang mit dieser Leitlinie, auch wenn sie

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weniger in die Abstraktion abrückte als manch andere Künstler der Gruppe. Einige Zeit nach der ersten Ausstellung, die bereits 1911 sehr zügig nach dem Zusammenkommen der Mitglieder in

München organisiert worden war, begannen die Mitglieder einen Almanach der Gruppe mit

theoretischen Auseinandersetzungen des Expressionismus herauszugeben.59 Das Jahrbuch, das

von Kandinsky initiiert war, um die Synthese, die so sehr im Mittelpunkt der expressionistischen

und vor allem der des Blauen Reiters stand, durch weitere Mittel zu ermöglichen. Er bemängelte

die Trennung von Kunst und Volkskunst sowie Kinderkunst, von Kunst und Ethnographie etc.,

so dass 1912 der Almanach des Blauen Reiters herausgebracht wurde.60 Obwohl Gabriele

Münter keine theoretischen Schriften im Almanach des Blauen Reiters veröffentlichte, so

schaffte ihr Gemälde Still Life with St George (1911) es doch auf das Deckblatt. Der

Kunsthistoriker Eckhard Hollmann gibt dafür folgende Erklärung:

Its folk art origins and depiction of the battle against evil were viewed as suitable image

for the messianic aims of the editors, Kandinsky and Marc, who believed there should be

a spiritual renewal in art. Münter shared these beliefs but, as this Still Life demonstrates,

her artistic statement was concerned with objects and their suggestive potential for

spiritual expression.61

Kandinsky und Marc sahen Münters Beitrag in der Gruppe als so wichtig an, dass sie sich für ihr

Gemälde auf der Deckseite entschieden, da sie exakt die spirituelle Erneuerung in ihren Bilndern

vermittelte, für die der Blaue Reiter stand.

Der Blaue Reiter bildete – neben der Künstlergruppe Die Brücke – ein Zentrum des deutschen Expressionismus. Konkrete Namen der Gründungsmitglieder sind Wassily Kandinsky und Franz Marc, die stets in der Literatur genannt werden, im Gegensatz zu Gabriele Münter, die

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nicht immer zu der Basis gezählt wird. Wie Heller beschreibt, scharten sich um sie „weitere

Künstler oder wurden von ihnen als Gleichgesinnte herangezogen: Gabriele Münter, August

Macke, Alfred Kubin, Heinrich Campendonk, , Jean-Bloé Niestlé und einige andere

mehr“62. Heller nimmt also Münter aus dem Zentrum der Gründung stellt sie mit vielen anderen

Künstlern bei der Auflistung gleich. Obwohl in anderen zuvor besprochenen Texten, wie beispielsweise bei Dube, Münter als eine der wichtigsten Personen genannt wird, fällt sie bei anderen in eine bedeutungslosere Rolle. Heller hebt im folgenden Zitat allerdings auch hervor, dass es sowieso nicht typisch für die Gruppierung war, eine feste Struktur im Hinblick auf feste

Mitglieder zu haben:

Der Blaue Reiter, dies waren genau genommen zwei Künstler, zwei Ausstellungen und

ein Buch. Der Blaue Reiter war keine Künstlergruppe mit Satzung und Mitgliedsausweis,

sondern eine kurzfristige Arbeitsgemeinschaft ausgeprägter Individuen. Im Blauen Reiter

gab es keinen Gruppenstil.63

Heller relativiert damit die Wichtigkeit der einzelnen Mitglieder und sieht den Blauen Reiter mehr als eine Beschreibung der Künstler Kandinsky und Marc sowie zwei Ausstellungen, die die scheinbar lose Gruppierung organisierte und den Almanach, den sie mit theoretischen

Auseinandersetzungen veröffentlichten. Für Heller hat der theoretische Diskurs groβes Gewicht.

Da Münter nicht an der theoretischen Diskussion innerhalb des Almanachs beteiligt war, tendiert

Heller dahin, sie vom Kern und den wichtigsten Funktionen der Gruppe auszuschlieβen. Dies spiegelt die Meinung derjenigen Personen wider, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts Münters

Ablehnung von theoretischem Input bemängelten. Hier argumentierten viele Kritiker gegen sie und dies mag auch ein Grund sein, warum viele Kritiker Münter nicht so ernst nahmen wie die an den theoretischen Schriften beteiligten Künstlern.

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Andere Autoren, wie Dube, bringen die Gleichwertigkeit der Gründungsmitglieder mehr in den Vordergrund und zählen eindeutig auch Gabriele Münter dazu. Eberhard Roters nennt

Kandinsky, Münter, Franz Marc und Alfred Kubin – also alle vier – als die Gründungsmitglieder des Blauen Reiters.64 Diese Diskrepanz in der Bewertung der Gruppe zeigt, dass Münter eine der wenigen professionellen Künstlerinnen ihrer Zeit in Deutschland und also noch kurz vor der

Gründung des Blauen Reiters eine Anomalie war. Trotz einiger Ausnahmen wird sie dennoch zu den wichtigsten Gründungsmitgliedern der Gruppe genannt. Sie ist, auβer in wenigen Quellen, eines dieser vier Mitglieder neben Kandinsky, Kubin und Marc. Münter war also die einzige weibliche Person im engen Gründerkreis des Blauen Reiters gewesen. Es gab einige weitere

Frauen, die eine Rolle in der Gruppe spielten. Jedoch unterschieden sie sich von Münter insoweit, als dass sie nur als generelle Mitglieder bezeichnet werden können, die definitiv nicht an der Gründung beteiligt waren. Marianne Werefkin beispielsweise, die zuvor bereits in der

NKVM aktiv gewesen war und nun mit dem Blauen Reiter ausstellte, stieβ etwa ein Jahr später zu der Gruppe. Doch auch bereits während der ersten Ausstellung des Blauen Reiters waren die

Bilder einer weiteren Frau, Elisabeth Epstein, anwesend. Einen gröβeren Einfluss auf die Gruppe hatte sie jedoch nicht. Obwohl Münter für die Anfangsjahre ihrer Ausbildung und Karriere von vielen Aufstiegsmöglichkeiten gehindert war, hatte sie es dennoch als einzige Frau in das tatsächliche Zentrum des Blauen Reiters geschafft, was vor allem eine Leistung war, wenn man sie mit den anderen Künstlergruppen in Deutschland vergleicht, in denen Frauen zwar zum erweiterten Kreis gehörten, jedoch keine Gründungsmitglieder darstellten.

Der Blaue Reiter entwickelte sich zu einer der bekanntesten deutschen Künstlergruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Gruppe identifizierte sich stark mit „einfacher“ Kunst sowie nicht-westlichen Kulturen, Kinderkunst und mit der Kunst geistig Kranker. Die Künstler fühlten

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eine enge Verwandtschaft mit nichttraditioneller Kunst, die vor allem die inneren und

emotionalen Gefühle ausdrückt.65 Ganz klar stand das Innere im Mittelpunkt der

expressionistischen Gruppe, wie Anne Hebebrand erklärt:

The Rider was an avant-garde movement, welcoming the twentieth century, loudly

proclaiming the artist's need to express his innermost feelings through color, line, and

form. Kandinsky spoke of a period of spiritual revolution, which he called "the spiritual

turning point." Interested in the mysterious reality that lies beyond the mere surface

appearance of things, the artists expressed their own inner experiences and selves in a

variety of styles and media.66

Wie Münter ihren Platz in der Gruppe einnahm und die künstlerische Richtung des Blauen

Reiters mit beeinflusste, wird im Folgenden erläutert.

Münters Rolle im Blauen Reiter

Trotz Gabriele Münters besonders produktiver Phase in Murnau, die ihr einen Schub zu geben

schien, war die öffentliche Sichtweise auf die zusammen lebenden Künstler in Murnau, wie

eventuell die stigmatisierende Bezeichnung des „Russenhauses“ vermuten lässt, zu jener Zeit in

keinster Weise positiv. Vielmehr wurden sie als schockierend und inkompetent missverstanden:

[At the Münterhaus] the artists deliberated on non-representational art over glasses of

beer, sometimes in the garden. The artists, for their part, were misunderstood by the art

critics of the time, insulted as ‘incompetents’ who produced ‘grayish paint soup’ because

they shocked the public with their images of yellow cows painted with coarse

brushstrokes.67

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Dass sich diese harsche Beurteilung nicht nur gegen den Blauen Reiter richtete, sondern auch

gegen weitere avantgardistische Gruppen, zeigt der Kunsthistoriker Reinhold Heller im

Folgenden Zitat. Die Gruppierung war „[i]nnerhalb der Münchner Kunstszene […] das

Sammelbecken der avantgardistischen Tendenzen. Ihre Ausstellungen wurden dementsprechend

in der lokalen Presse ablehnend bis gehässig rezensiert.“68

Münter reflektierte die Philosophie und Haltung gegenüber Kunst in ihren Werken.

Hebebrand erklärt, inwiefern sie diese in ihrer Arbeit repräsentierte:

It is Münter's freewheeling attitude, her reliance not on theory, but on intuition, her

disinterest in intellectual debates and most importantly, her alignment with primitive art,

in particular folk art, which truly represent the ideals of the Blue Rider.69

Hebebrand hebt den Aspekt hervor, wie Münters (instinktive) Ideale und gewisse Abschottung von theoretischen Debatten ihre Anerkennung als Künstlerin reduzierten. Im Gegensatz zu beispielsweise Kandinsky, Marc oder später Klee konzentrierte sie sich ausschlieβlich und bewusst nur auf die Malerei, um sich auszudrücken.70 Es war ganz besonders ihr innerer Instinkt, der in ihrer Kunst gelobt wurde und der eine Darstellung der expressionistischen Denkmuster ist.

Oft wurde die Begründung verwendet, dass sie als Frau nach ganz „typischem“ Verhalten agierte und sich aus dem theoretischen Diskurs heraushielt, was jedoch der Tatsache widerspricht, dass ihr Gemälde zumindest auf dem Deckblatt des Almanachen vertreten war. Als Frau musste sie jedoch sicherlich eine gewisse Degradierung zu jener Zeit in Kauf nehmen und wurde noch strenger bewertet als die männlichen Kollegen. So beschreibt Heller, dass Verkümmerung,

Kränklichkeit oder Zunahme von sexuellen Gefühlen, Perversion oder Impotenz der Preis war, den folgende Frauen zahlen mussten:

25

[W]ho attempted to break with their biologically-determined limitations and sought to be

serious artists, according to the study Woman and Art by the respected critic

and publicist, Karl Scheffler, an early champion of Impressionism and other progressive

movements.71

Ein weiteres Hindernis, das Frauen oft im Weg zum professionellen Arbeiten stand, war die

Reduzierung auf die Muse. Anne Hebebrand hebt die Schwierigkeit für Frauen ihrer Zeit hervor, dass sie traditionell häufig als Muse für die männlichen Künstler dienten und dass es eher ungewöhnlich für Künstlerinnen war, eigenständig zu arbeiten.72 Diese diversen

Grenzüberschreitungen provozierten auch negative Kritik. Als eine der wenigen Frauen im

Blauen Reiter allerdings und vor allem als einzige Frau im engeren Kreis der

Gründungsmitglieder erfuhr Münter jedoch keinerlei Diskriminierung. Dies steht im Gegensatz zu den Zahlen anderer weiblicher Künstlerinnen, die häufig nicht professionell arbeiten konnten.

Münter hatte sich also ihren Weg in eine der bedeutendsten Künstlergruppen gebahnt. Mit diesen

Erfolgen war sie jedoch in der Minderheit, da zum Beispiel gerade unter Künstlern es häufig vorkam, dass die Frauen komplett hinter ihren Künstler-Ehemännern verschwanden bzw. ihre

Arbeit für ihre Ehemänner aufgaben:

A woman with artistic aspirations was an anomaly. Even a decade later, in 1907, the

official census identified only 801 women among a total of 4,909 active professional

painters and sculptors in the . […] Not until after the death of her mother

and the two-year trip to the United States did she finally commit herself to further formal

training and study.73

Dennoch standen Münters Werke und Themen genau im Einklang mit dem Geist des Blauen

Reiters. Ihr Schaffen war stark geprägt von einem inneren Drang und Instinkt, der den

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Mittelpunkt der Anschauung des Blauen Reiters darstellt. Hebebrand hebt Münters Beitrag zum

Blauen Reiter im folgenden Zitat hervor:

The discovery of the beautiful, the mysterious, and often the humorous in ordinary

moments, and the immortalizing of those moments in her paintings is Münter's most

important contribution to the Blue Rider. Münter's still lifes in particular explore the

interrelationship of matter and spirit which forms the core of the ideas of the Blue Rider

artists.74

Innerhalb des Blauen Reiters war es nicht das typisch Weibliche in ihren Werken, das ihr einen

Platz in der Gruppe verschaffte. Wie Kandinsky es beschreibt, kann es sich dabei um beispielsweise Koketterie oder eine äuβere Eleganz handeln75. Bernd Hüppauf stellt die

Repräsentation von Frauen wie folgt dar:

[Eine] für den Expressionismus typische Darstellung [zeigt] Frauen, die meistens

entweder voller Hingabe wie die Studentin, maβlos erotisiert wie die Dame oder in der

Gestalt der Schwester in Zusammenhand mit sakraler Szenerie religiös verklärt

auftreten.76

Auch wenn dieses Zitat im Zusammenhang mit dem literaturwissenschaftlichen Expressionismus

verwendet wurde, so gibt es doch einen Hinweis, welche Rolle die Frau im Expressionismus

allgemein spielte. Wendet man das Zitat auf Münter an, wird jedoch deutlich, dass sie dieser

Darstellung keineswegs entspricht. Im folgenden Kapitel soll dieser Aspekt näher untersucht

werden.

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KAPITEL 5

MÜNTERS KÜNSTLERISCHES WERK

Themen, Stil und Einflüsse

In einer Einführung, die Kandinsky 1913 in einem Ausstellungskatalog in München gibt, beschreibt er Münters Talent, das er versucht, aus dem geschlechterspezifischen Diskurs herauszuholen. Kandinskys Abhandlung scheint wie eine Verteidigung der selbstbewussten Frau und ihres Talents und beweist doch, was für eine Rolle es spielte, dass Münter eine Frau und trotzdem so erfolgreich war. Kandinsky argumentiert, dass Münter Talent, das robust und verwurzelt in einer inneren Stärke und Sensitivität ist, nicht als männlich oder „quasi-männlich“ beurteilt werden solle. In der begrenzten „männlichen“ Gedankenstruktur versucht Kandinsky

Münters Werken die Substanz zuzusprechen, die sonst normalerweise männlichen Künstlern zugeordnet wird. Kandinsky weist darauf hin, dass Münter keine „weiblichen“ Subjekte malt, dass sie keine typisch weiblichen Materialien benutzt und dass sie sich keiner weiblichen

Koketterie hinreiβen lässt, was sie in einem Zwischenraum arbeiten lässt, der sie weniger angreifbar macht. Es gebe weder emotionale Ausbrüche, eine äuβere Eleganz noch eine zu findende Schwachheit. Allerdings gebe es auch keine männlichen Kennzeichen, wie beispielsweise eine kräftige Pinselarbeit oder eine extrem dicke Farbauftragung. Er hebt ebenfalls hervor, weil die Gemälde beinahe uneitel und mit einem angemessen Grad an äuβerer

Stärke angefertigt sind, dass sie von einem inneren Drang inspiriert wurden statt von einem

Wunsch der Zurschaustellung nach auβen.77 Dies ist in der Hinsicht unglaublich aufschlussreich, als dass es verschiedene Ansichten über weibliches und männliches Malen preis gibt. Einerseits zeigt sich die Unterstützung Kandinskys für Münters Kunst und vor allem seine Bewunderung

28

für sie. Andererseits wird das Weibliche in der Kunst hier definitiv nicht sehr wertgeschätzt,

sondern eher abgetan, was sich beispielsweise in Bezug auf die Schwachheit zeigen lässt. Auch

Kandinsky befindet sich in dieser Denkweise, da er das Weibliche und Männliche so klar auseinanderhält. Es zeigt sich aber, wie das Männliche und das Weibliche in der Kunst, und vor allem in der expressionistischen, charakterisiert werden. Dem Weiblichen werden hier beispielsweise Koketterie und Schwäche zugeschrieben. Mit dem Männlichen werden Stärke –

hinsichtlich der Malweise – sowie ein beinahe verschwenderischer Gebrauch – von Material –

assoziiert. Es scheint, dass Münter, gerade weil sie nicht den typischen weiblichen Mustern folgt,

so hoch angesehen wird.

In einem Interview mit dem Schriftsteller Edouard Roditi 1956 reflektierte Gabriele

Münter über Kandinsky, ihre Unterschiede, aber auch wie er sie immer unterstützte. Seit jeher hatte sie eine Leidenschaft für „die Malerei als Ausdrucksform des Selbst“, behielt diese

Neigung trotz einiger Ausflüge in die Abstraktion und war immer weitaus spontaner in ihren figurativen Kompositionen. Sie pflegte eine beharrliche Individualität in ihrer Kombination von ausgewählten Aspekten verschiedener Genres: Landschaft, Stillleben, Porträt und Innenmotive.

Als eine begeisterte Sammlerin von Bayrischer Volkskunst integrierte Münter die naive

Bildersprache in ihre Gemälde und leitete gewisse formelle Eigenschaften von den Beispielen ab. Ihr Beitrag bei den Ausstellungen der Neuen Künstlervereinigung München von 1909 bis

1910 war bedeutend, da sie zu den moderneren und wegweisenden Mitgliedern gehörte, und so nahm sie auch an der Formation des Blauen Reiters und der Gruppenausstellung von 1911 bis

1912 teil. Im Allgemeinen beschrieben die Rezensionen ihre Soloausstellung im Jahre 1913 jedoch meist mit einem negativen Unterton, wie sie expressionistischen Trends in der deutschen

Kunst folge, also keinen eigenen Antrieb und neue Ideen habe.78

29

Während Münter als junge Frau Zeichenkurse nahm, war immer das Objekt selber wichtiger als eine Geschichte im Bild zu erzählen. Anne Hebebrand sagt darüber “A concept – the Platonic idea – of the visual object rather than the accidentals of the visual world became the goal of her imagery.”79 Sie behielt diese Ansicht auch bei späteren Werken bei, die zu ihrem –

für den Expressionismus typischen – vereinfachten Stil führten. Sie steht auβerdem im

Zusammenhang mit dem instinktiven Malen oder Zeichnen, bei dem das Werk aus einem inneren

Drang entsteht, es darstellen zu wollen. Eine für Münter sehr prägende Zeit, auch wenn sie bereits im jungen Alter ein Talent zum Zeichnen bewiesen hatte, war ihre Reiseerfahrung durch

die USA. Die Amerikaerfahrung war für ihre Transformation von einer Amateurin zu einer professionellen Künstlerin fundamental und ein wegweisendes Erlebnis.80 Privat wie auch beruflich brachte es sie einen groβen Schritt weiter. Münters früher Schwerpunkt zu Beginn ihrer

Karriere, also vor der Jahrhundertwende, als sie zwar noch unausgebildet in der Malerei war, lag in der Porträtkunst, wobei an einigen Stellen noch ihre Unerfahrenheit in zeichnerischer

Versiertheit zum Vorschein kam. Ihre frühen Skizzen zeigen die Personen in sehr entspannten oder momentären Positionen.81 Während des prägenden Trips durch die USA beschäftigte sich

Münter sehr intensiv mit Personenzeichnungen. Ihre amerikanischen Verwandten dienten ihr als

Modelle. Häufig waren es einzelne Personenzeichnungen, wovon die meisten Frauen oder

Kinder waren. Diese waren meist in selbstbewussten und entspannten Posen zu finden, im

Gegensatz zu der damaligen Auffassung von der Stellung der Frau. Heller beschreibt dies noch

spezifischer:

Drawings of [them] portray them in varied domestic situations and informal poses.

Women sit pensively in rocking chairs, recline in hammocks or play the guitar; children

carry dolls or a bunch of freshly pulled carrots. Their bodies often turn or are

30

foreshortened, and they are seen against plain backgrounds or with a minimal indication

of their surroundings […].82

Also auch oder gerade besonders in der Kunst selber bediente Gabriele Münter keine

Geschlechterklischees, sondern brachte ein natürliches Verständnis von Geschlechterneutralität mit ein. Die Natürlichkeit der Posen ihrer Modelle lieβ keine Koketterie zu, wie es ebenfalls zuvor in Kandinskys Aussage über Münters Kunst zum Ausdruck kam. Koketterie gab es in der

Hinsicht bei ihr keine, als dass sie nicht mit der Weiblichkeit ihrer Objekte spielte und diese in verführerische Darstellungen verarbeitete, sondern es waren natürliche und häufig selbsttbewusste Posen. Auch zu einem späteren Zeitpunkt fertigte Münter weiterhin häufiger

Frauenporträts an.

Ein weiterer gravierender Einschnitt war das Lernen unter Kandinsky an der Phalanx-

Schule und die damit verbundenen Reisen, die sie ausgiebig zum Skizzieren nutzten. Diese neue progressive Herangehensweise an Kunst, die sie insbesondere während jener Reisen im Jahre

1902 erfuhr, führten Münter weg von der akkuraten Repräsentation der Realität in Richtung

Vereinfachung und einem puren Ausdruck von Farben sowie in das Gebiet der Abstraktion.83

Auch in der Perspektive und in den Proportionen hatte Münter in den Jahren bis dahin viel dazugelernt. In früheren Zeichnungen hatte sie oft die Proportionen ohne Vorwissen kreieren müssen. Zwei frühere Zeichnungen in von Münter veranschaulichen dies. Sie stammen aus der

Zeit, bevor sie in Kontakt mit Kandinsky kam und sich ihre erfolgreiche Karriere aufbaute. Die erste Zeichnung, betitelt John aus dem Jahre 1899, orientiert sich noch an sehr realistischen

Formen und Proportionen.84 Die zweite Zeichnung, ein Selbstporträt aus dem Jahre 1901 zeigt bereits erste Ansätze zum Abstrakten, auch wenn sie sehr nah am Realismus arbeitet. Dennoch

ist beispielsweise Münters Kleidung nur angedeutet, sehr hell gehalten vor dunklem Hintergrund,

31

und nicht so detailreich bearbeitet wie die Gesichtspartie. Ihr fester, selbstbewusster Blick auf

den Betrachter reflektiert ihre Entschlossenheit.

Selbst bei weiblichen Modellen oder auch ihrem Selbstporträt widersetzte sich Münter jedoch den traditionellen Mustern, indem sie insbesondere Wert auf natürliche Posen legte.

Generell wird ihr ein sehr neutraler Malstil hinsichtlich der Geschlechterdarstellung oder stereotyper Verwendungen von Objekten oder Stilen nachgesagt. So teilt Kandinsky selber

Gegenstände oder Subjekte in weiblich und männlich ein, hebt jedoch hervor, dass Münter in einer Zwischenzone malte. Er beschreibt, wie sie keine falsche Romantik, oberflächliche Eleganz oder gar attraktive Hilflosigkeit benutze, aber auch nicht gezwungen maskuline Techniken anwendet.85 Dennoch, insbesondere in früheren Zeichnungen, lassen sich interessante Merkmale

in der Haltung oder der Auffassung von Münters Modellen erkennen. Der Gesichtsausdruck in

ihren Porträtzeichnungen spielte dabei eine wichtige Rolle:

Aunt Lou [...] is her most ambitious attempt at a likeness conceived at a particular

moment, because of the originality of the pose and the attention to her aunt’s facial

expression at rest. [In one of the pictures with Münter posing, she] stood upright and

directed a sober gaze at the photographer. It is the image of a self-possessed young

woman, whose later self portraits will convey a similar sense of determined confrontation

with the viewer.86

Die Art, wie Münter Frauen und ihre Körperhaltung oder Gesichtsausdrücke zeichnete, scheinen

ihre innere Einstellung widerzuspiegeln. So gibt sie genau dieses Selbstbewusstsein in der

Fotografie preis, in der sie selbst das Modell spielt. Nach der besagten Phalanx-Reise beginnt

32

Münter nun mehr auch andere Motive zu zeichnen, im Gegensatz zu einem früheren

Schwerpunkt auf Porträts. Das folgende Gemälde Landschaft mit Häusern, Tunis, entstanden

1905, also einige Jahre nach der Reise, zeigt bereits deutliche Ansätze zum Expressionismus.

Helmut Friedel zeigt dieses Gemälde in The Blue Rider: Watercolours, Drawings and Prints from the Munich87. Die Landschaft im Bild ist stark vereinfacht dargestellt,

Lebewesen und die Natur nur angedeutet. Dennoch verwendet sie noch nicht die für viele

Expressionisten später prägnanten dicken, schwarzen Linien zur Umrahmung von Objekten.

Auch sind die Farben noch an den Impressionismus angelehnt.

Eine stärkere Vereinfachung erlebte Münter während ihres selbst genannten “groβen

Sprungs”, als sie mit den drei anderen Künstlern, Kandinsky, Jawlensky und Werefkin, nach

Murnau zog. Ausdrücklich die geographischen Begebenheiten der Murnauregion gaben ihr einen starken Antrieb zur formellen Reduzierung und Klarheit von Landschaftsstudien im Jahr 1908.88

Dies bedeutete, dass sie sich im Herbst dieses Jahres in der Übergangsphase von einer impressionistischen Auffassung von Landschaft und freier Natur hin zu einer nach- impressionistischen Auffassung dieser befand.89 Kurz darauf entstand das folgende Gemälde

Heuhaufen im Jahre 1909, das diesen Prinzipien entspricht und in The Blue Rider: Watercolours,

Drawings and Prints from the Lenbachhaus gedruckt wurde.90 Es zeigt komplett vereinfachte Formen und enthält kaum Schatten. Die nun stets verwendeten dicken schwarzen

Umrisslinien von Objekten im Bild geben ihnen noch weniger Dimensionalität. Und ebenfalls die Farben werden nun abstrakter verwendet. Heller gibt in einem Tagebucheintrag Münters wieder, wie wichtig sie selbst diesen Schritt während der Murnau-Zeit angesehen hatte:

Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen groβen Sprung gemacht – vom

Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhaltes, zum

33

Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes. […] Es war eine schöne, interessante freudige

Arbeitszeit […].91

Auf radikale Weise reduzierte Münter Inhalt und Ausdruck bis zum Essentiellen, gar bis zum scheinbaren Minimum. Ihre Farbflächen umrahmte sie mit schwarzen Konturen, wobei in ihren

Bildern hervorragende Farben nebeneinandergestellt wurden, die weit entfernt von der

Wirklichkeit bzw. der Natur zu finden waren.92 Diese Beschreibung bzw. diese Veränderung in

Münters Malstil wird im obigen Bild ganz klar deutlich. Durch diese Veränderung ermöglichte

sie sich vermutlich den Eintritt in die Künstlervereinigungen und fand gleichzeitig einen eigenen,

im Expressionismus verankerten, Stil. Ganz aktiv hatte sie sich selbst also zu diesem Stadium

verholfen, da sie das Leben in Murnau erst (finanziell) realisieren konnte.

Als Münter und weitere Künstler gerade den Blauen Reiter gegründet hatten, vollendete

sie ein Gemälde, das technisch gesehen einen deutlichen Schritt in Richtung Abstraktion und

Vereinfachung macht. 1911 entstanden, sind besonders die Formen in Gebirgslandschaft (Dorf

vor den Bergen), abgebildet in Helmut Friedels Publikation The Blue Rider: Watercolours,

Drawings and Prints from the Lenbachhaus Munich93, noch vereinfachter und scheinbar

zufälliger als in vorherigen Bildern. Die Objekte sind groβflächig und geben teilweise kaum preis, um was es sich handelt. Die Farben sind teilweise die Realität angelehnt, andererseits aber auch frei gewählt und nicht der Natur entsprechend.

Während Münter sich in der Malerei weiterentwickelte, wendete sie sich aber auch in

Murnau der Hinterglasmalerei zu. Die Mitglieder des Blauen Reiters probierten unterschiedliche

Materialien, beispielweise Öl, Holzschnitte, Hinterglasmalerei, und waren nicht auf bestimmte

Materialien fixiert, da dies nicht vorgeschrieben war. Besonders Münter suchte gern nach neuen

34

Materialien und hatte dabei meist einen Blick auf die Volkskunst. Auf diese Weise entsteht eine neue Verbindung zu einem eher traditionellen und auch elementaren Stil, ähnlich dem Stil der

Bayerischen Volkskunst. Der Kunsthistoriker Leonard Hutton Hutschnecker vermutet, dass

Gabriele Münter, möglicherweise geleitet von Jawlensky, die erste der Gruppe des Blauen

Reiters war, die den Charme und die Schönheit der Hinterglasmalerei für sich entdeckte94:

From an artistic point of view it appears to be plausible, that it should have been

Gabriele, who was the most affected by the simple design and the glowing color planes of

folkloristic glass painting. They matched her temperament and style.95

Sie war damit auch die erste der Gruppe des Blauen Reiters, die sich überhaupt dieser Art von

Kunst zuwendete:

To her delight, she was able to observe that the Bavarian folk artists had, unconsciously,

and without the slightest notion of what was going on in the International World of Art,

done what she and of course, her teacher Kandinsky, had come to regard as a desirable

technique: they had simplified figures and other phenomena of nature, omitted

unnecessary details, and used strong colors surrounded by thick black contours.”96

Während sich alle Mitglieder dem expressionistischen Malstil zuwandten, konnte sie den Schritt zur Hinterglasmalerei also für sich verzeichnen. Es war eine sehr traditionelle Kunstform in der

Murnaugegend und passte zum Konzept des Einfachen und Primitiven. “Münter was among the first 20th Century artists to have discovered the aesthetic values and artistic potentialities of

‘Hinterglasmalerei’”97.

Durch verschiedene Arten der Kunst behielt sie jedoch die Reduzierung von Objekten,

Formen und Perspektiven bei. Eine ihrer Inspirationen speziell für spätere Porträts war der

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Karikaturenzeichner Thomas Theodor Heine.98 In seinen Karikaturen verwendete er bereits

flache Objekte sowie Umrahmungen durch dicke und schwarze Linien. Hier zeigt sich auch eine

direkte Verbindung zu ihren mit der Zeit entstandenen und als expressionistisch betitelten

Bildern, in denen sie kräftige Umrahmungen anwandte und die Objekte durch sie flächiger

aussehen lässt.

Münter und Kandinsky

Da Münter stets sehr nah bei Kandinsky arbeitete, steht immer die Frage im Raum, inwiefern

sich die beiden beeinflussten. Typischerweise wird Gabriele Münters Leben in vielen Texten in

direktem Zusammenhang zu Kandinsky erwähnt: “Gabriele Münter was the pupil and lover of

Wassily Kandinsky, and one of the principal forerunners of .“99 So sehen ebenfalls viele weitere Vorstellungen zu der Person Münters aus, die fast ausnahmslos im Zusammenhang mit Wassily Kandinsky genannt wird. Dennoch betont Münter, dass Kandinsky ihr seine komplette Unterstützung entgegenbrachte: „He loved, understood, protected and furthered my talent.“100 Und auch Kandinsky merkt an, dass er das ausgesprochene Talent und die

Besonderheiten in Münter erkennt. Johannes Eichner, Kunsthistoriker und Münters späterer

Lebenspartner, gibt Kandinskys Worte wider und sagt, dass Kandinsky Münter als bereits von

Natur aus sehr talentierte Studentin ansah, da er ihr nichts beizubringen vermag. Kandinsky sah bereits etwas in Münter, das in ihr gewachsen war und das ihr von Natur aus mitgegeben worden

war. Daher sei es für ihn nur möglich gewesen, ihr Talent zu beschützen und es zu pflegen, so

dass nichts Falsches mit ihm geschehe.101 Hier wird auch deutlich, dass Kandinsky bereits ihr

entwickeltes und eigenständiges Wesen entdeckte, das vielen Kritikern zu der Zeit verschlossen

gewesen sein mag. Kandinskys Nähe war durchaus wichtig für Münter und öffnete ihr sicherlich

36

viele Türen, da er meist der Mittelpunkt von Künstlergruppengründungen aufgrund seiner

Bekanntheit und seiner Erfahrung als Leiter war. Gleichzeitig ist Münter aber auch unmöglich

ohne ihn zu untersuchen. Trotzdem muss erwähnt werden, dass Münter während ihrer Zeit in

Murnau allerdings auch unabhängig von Kandinsky arbeitete. Vor dieser Zeit hatte sie ebenfalls bereits viele Zeichnungen und Gemälde fertiggestellt, die auch Anerkennung erhalten hatten und ihr zum Eintritt in die NKVM verhalfen. Ihre Inspiration erhielt sie also nicht nur von Kandinsky oder von seiner Hilfe.102 Ein auβerordentlicher Stil entwickelte sich jedoch erst in den Jahren, als

Münter und Kandinsky zusammen in Murnau wohnten.

Da Kandinsky solch überwältigende und bekannte Künstlerfigur neben ihr darstellte, verlor sie oft an verdienter Bedeutung, da sie nur als seine Schülerin angesehen wurde. Sein immenser Erfolg stufte sie zum Teil herab, was automatisch von einigen Kritikern getan wurde und nicht von Seiten Kandinskys. Anne Hebebrand gibt für die Herabstufung weitere Gründe:

Münter's contribution to the Blue Rider has not been fully recognized due to the

overwhelming artistic, as well as intellectual personality of Kandinsky, her own

disdain for theory, and the prevalent discrimination against of the

early twentieth century.103

Schlieβlich hatte sie ja auch als Kandinskys Schülerin begonnen, bevor sie sich aus dieser Rolle herausarbeitete. Doch der bloβe Fakt, seine Schülerin gewesen zu sein, reicht nicht, um zu behaupten, dass sie nur von ihm abgekupfert hätte. Während eines weit früheren Ferienkurses im bayerischen Dorf Kochel war Münter die einzige Frau gewesen, die Fahrrad fuhr und deshalb auf

Skizzentouren mit Kandinsky mitkam. Nachdem Münter keinen Kurs mehr bei Kandinsky hatte,

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ging sie dennoch auf eine Reise mit ihm in das nahe Regensburg gelegene Kallmünz, wo die beiden ähnliche Motive malten, aber dennoch deutlich andere Herangehensweise und Techniken

aufzeigten.104 Zwei Zeichnungen dieser Zeit lassen einen Vergleich zwischen Kandinskys und

Münters Stil in den früheren Jahren herstellen. Beide Zeichnungen stammen ursprünglich aus dem Jahr 1903 und wurden zusammen in Gabriele Münter: Between Munich and Murnau von

Anne Mochon abgebildet105. Die erste Zeichnung ist von Münter und zeigt Kandinsky am Malen in der Natur. Die zweite Zeichnung Kandinskys präsentiert Gabriele Münter in Kallmünz.

Jeweils der bzw. die andere ist das Motiv in der jeweiligen Zeichnung sowie ist zur ähnlichen

Zeit entstanden und doch weisen sie technische Unterschiede auf. Bei Münter zeichnet sich noch der impressionistische Stil aus. Kandinsky geht bereits mehr in die Abstraktion und betont vor allem die Schatten im Bild deutlich mehr. In Münters Zeichnung ist die Person, also Kandinsky, gröβer dargestellt und auch zentrierter, was sich auf ihren Hintergrund im Personenzeichnen zurückführen lässt. Kandinsky zeichnete Münter jedoch versetzt vom Zentrum und lässt den

Körper vor dem Hintergrund unscheinbarer wirken.

Von hier an, d.h. die (Reise)Jahre bis 1908, bedeuteten eine unterschiedliche

Herangehensweise an die Kunst und verschiedene Ziele darin in ihrer beider Leben und

Arbeiten:

Kandinsky continued to search for viable form and content in his art, through versions of

romantic and folk themes in tempera painting and woodcut, and in further

experimentation in small outdoor sketches. Münter concentrated on mastering outdoor

landscape technique, but it was her sketchbook notations that yielded more immediate

results in her development of a personal viewpoint as an artist.106

38

Besonders an dem Zitat kann man sehen, wie die beiden ganz unterschiedlichen Zielen und

Aufgaben während ihrer Reisen folgten. Die beiden arbeiteten jedoch nie zusammen. Dennoch

kümmerte sich Münter auch um die Werke Kandinskys. Während ihrer Zeit in Murnau bewahrte

Münter einen Katalog mit den Werken Kandinskys, weil er dies oft selbst nicht tat. Auch in

weiteren Angelegenheiten unterstützte sie ihn und ähnelte in dieser Hinsicht anderen

Künstlerfrauen, die ihren Männern unter die Arme griffen, wie z.B. Elisabeth Macke für August

Macke oder Marianne Werefkin mit Alexei Jawlensky.107

Münter bemerkte, dass es nicht immer ein Segen war, so dicht am künstlerischen Talent

zu leben, da es sie selbst beeinträchtigte, da sie sich ebenfalls um seine Werke kümmerte. Aber

gleichzeitig unterstützte Kandinsky sie mental und in Schriften, wie dem Almanach,

ausnahmslos und es kam vor, dass er sie zeitweise mehr Werke ausstellen lieβ als er selber.108

Hebebrand vermutet sogar, dass Kandinsky genauso gut von Münter beeinflusst worden sein kann. So kann er z.B. erst die Wichtigkeit der inneren Emotionen und vor allem das instinktive

Arbeiten ohne zu überwältigende äuβere Einschränkungen (für seine theoretischen Texte) erkannt haben, nachdem er sie 1902 im Unterricht hatte. Von Beginn an war er begeistert von ihrem Talent, mit ihrem Instinkt zu malen und war sich bewusst, dass er ihr kaum etwas beibringen konnte. Oder ebenfalls Bilder, die er während der Murnauzeit malte, können auf

Münters Einfluss zurückgeführt werden.109 Auch wenn Münter sich bewusst von theoretischer

Auseinandersetzung mit ihrer Kunst abwandte bzw. sie nicht öffentlich darlegte, hegte sie gerade wegen dieses Mangels in ihrer Ausbildung einige Zweifel, wie sich folgenden Zitat von Reinhold

Heller zeigt:

Dependence on the self and rejection of external authority went hand in hand for Gabriele

Münter then and in the following years with a lack of faith in her own work, which she

39

viewed as being subordinate, as less sophisticated or ambitious, indeed as inferior, to the

work of other artists with more formal training or greater familiarity with art theory.110

Ein Ende des gemeinsamen Arbeitens brach der Ausbruch des ersten Weltkriegs aus. Er trennte

Münter und Kandinsky, da sie – bereits in die Schweiz geflohen – in Zürich blieb und er zurück

nach Russland ging. Auch der Blaue Reiter musste aufgrund des ersten Weltkriegs 1914 aufgelöst werden, u.a. da einige Mitglieder eingezogen wurden. Noch einmal sahen sich Münter und Kandinsky für eine Weile in Stockholm, doch nach dem Jahr 1916 trafen sie nie wieder aufeinander. So hörte sie auch erst nach vielen Jahren, dass er ein Jahr später seine Freundin

Nina Andrejewska geheiratet hatte. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, versuchte

sie sich zunächst mit ihnen gutzustellen, aber stand bald auf der Liste der nicht erwünschten

Künstler der entarteten Kunst. Während des Zweiten Weltkriegs blieb sie die ganze Zeit in

Deutschland und versteckte gerettete Werke des Blauen Reiters vor den Nazis und später vor den

amerikanischen Besetzern in ihrem Keller.111

Nicht genau in der Sekundärliteratur geklärt ist, inwiefern sich Münter und Kandinsky beeinflusst haben. Tatsächlich gibt es über die Betätigungszeit von Münter und Kandinsky jedoch viele Spekulationen von diversen Kunsthistorikern, inwiefern sie sich tatsächlich gegenseitig künstlerisch inspiriert bzw. aufeinander eingewirkt haben oder nicht, teilweise abgeleitet von Aussagen der Künstler selber und teilweise durch die Analyse ihrer Bilder.

Kollaborationen zwischen den beiden gab es im Gegensatz zu einigen anderen Künstlerpaaren, wie z.B. Hans Arp und Sophie Taeuber, nicht. Neuere kunsthistorische Untersuchungen gehen sogar soweit zu behaupten, dass es sich bei dem Paar um Reviermarkierung und

Konkurrenzverhalten oder gar unterdrückte Eifersucht handelt. Oft wird Münter nur als

40

zweitrangig erwähnt von Kritikern, aber besonders auch Kunsthistorikern.112 Für die erste

Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München reichten beide ein Gemälde von einer

Schneelandschaft ein. Sie scheinen hier den gleichen Stil zu benutzen, bloβ mit unterschiedlichen

Akzenten. Münters Gemälde wurde von den Kritikern jedoch als zugänglicher bezeichnet, da sie

wahrscheinlich von Kandinskys abstrakteren Werken irritiert waren. Durch das Benutzen

unterschiedlicher Materialien oder in Kandinskys Fall mehr Dekorativem im Gemälde sind

kleinere und doch signifikante technische Unterschiede erkennbar.113 Im darauffolgenden Jahr gaben beide für dieselbe Ausstellung ein Gemälde mit dem gleichen Titel ab (“Kahnfahrt”), obwohl die Ansichten doch sehr unterschiedlich waren.114 Also wird es hier sicherlich einen

Zusammenhang einer gewissen gegenseitigen Inspiration gegeben haben.

Münters Rezeption

Über die Grenzen Deutschlands hinweg war Gabriele Münter lange Zeit nicht sehr bekannt. In den USA bekam sie erst viel später ihre Anerkennung, auch wenn sie bereits 1914 von Mr.

Leonard Hutton Hutschnecker gelobt wurde, wie das Zitat Anne Mochons zeigt115:

For her debut at the Salon (which included 5,400 works) Münter received the first

critical notices of her career, a short comment in the Journal des Débats listing

hers among paintings worth seeing and a disparaging statement by a German

reviewer for the Pariser Zeitung, commenting on her spirit, but stressing her lack

of originality.116

In der Tat hatte Münter in der Zeit, in der sie in Murnau lebte, sowie während der Phasen der

NKVM und besonders des Blauen Reiters, regelmäβig Ausstellungen, was jedoch nicht bedeuten sollte, dass sie das gleiche Ansehen genoss wie beispielsweise Kandinsky oder andere ihrer

41

männlichen Kollegen. Die Trennung von Kandinsky im Jahre 1916 hatte einen Rückgang ihrer

Produktivität und ihres Ansehens zur Folge. Bereits zuvor war Münter von einigen Kritikern

herablassend wegen ihrer fehlenden theoretischen Kurse angesehen worden. Doch wurde sie

immer von ihren Freunden und Kollegen hoch angesehen und unterstützt. Ihr Talent wurde von

wichtigen anderen Malern ihrer Zeit anerkannt, z.B. Franz Marc und besonders Kandinsky, der

sie auch nach der Trennung noch lobte.117 So fanden insbesondere erst nach ihrem Tod gröβere

Ausstellungen auch im Ausland, speziell den USA, statt.

Besonders der Kunsthistoriker und Münters späterer Lebenspartner Johannes Eichner

leistete einen groβen Beitrag, sie als Künstlerin aufzuwerten und das Wissen über ihre Arbeiten

zu verbreiten.118 Erst durch ihn wurden mehr originale Informationen über Münter in Form von

Biographien bekannter. Einige Jahre vor ihrem Tod brachte Eichner 1957 Bücher heraus, die das

Werk und die Person Münter in den Fokus des Kunstdiskurses rückten, wie beispielsweise

Kandinsky und Gabriele Münter: Von Ursprüngen moderner Kunst. Hier zeigt sich allerdings

auch, dass Eichner keine klare Trennung von Kandinsky und Münter vornehmen wollte, wie es

ebenfalls bei weiteren Autoren der Fall ist, wie zum Beispiel in Gisela Kleines Publikation

Gabriele Münter und Wassily Kandinsky: Biographie eines Paares, die – 1994 veröffentlicht – eine neuere Rezeption wiedergibt. Literatur, die sich ausschlieβlich mit Münter beschäftigt, wurde vor allem in den letzten Jahren publiziert. Werke wie Ich Weltkind: Gabriele Münter. Die

Biographie von Gudrun Schury oder Gabriele Münter: Die Künstlerin mit der Zauberhand von

Karoline Hille, beide zum 50. Todesjahr 2012 erschienen, präsentieren Münter als eine

Künstlerin, die für sich alleine betrachtet werden muss.

Gabriele Münter hat es also zu dem Ansehen geschafft, dass Literatur über sie

veröffentlicht wurde, in der sie die Hauptfigur darstellt. Dennoch sind die meisten Bücher, wie

42

z.B. die oben erwähnte Biographie, kürzlich erschienene Publikationen, die davor entstandenen

Werke über sie wurden aber meist im Zusammenhang mit Ausstellungen herausgebracht, wie

Anne Mochons Gabriele Münter: Between Munich and Murnau. Allerdings drehen sich mehr

Werke, wie beispielsweise die oben genannte Biographie eines Paares, um die (künstlerische)

Beziehung zwischen ihr und Kandinsky. In Veröffentlichungen über den Blauen Reiter, zum

Beispiel Wolf-Dieter Dubes Abhandlung der Gruppe in Expressionism, kommt es jedoch teilweise, wie im vierten Kapitel demonstriert, zu einer Reduzierung Münters auf ein reguläres

Mitglied des Blauen Reiters, statt sie als Mitbegründerin zu erwähnen. Beschreibungen Münters

im Zusammenhang mit der Gruppe und unabhängige Beschreibungen variieren in dem Grad, wie

sehr Münter Bedeutung im Blauen Reiter zugesprochen wird. Gruppen- und

Einzelbeschreibungen, d.h. zum einen die Beschreibungen Münters Rolle im Zusammenhang mit

der Gruppe und zum anderen Münters Bedeutung unabhängig gesehen, driften demnach

auseinander und ihre Bedeutung wird innerhalb der Kunstgeschichte nicht eindeutig

angenommen. Mit Biographien gewürdigt, erfährt sie in den in diesem Abschnitt genannten

Werken keine gerechtfertigte Erwähnung.

43

KAPITEL 6

SCHLUSSBEMERKUNG

Gabriele Münter leistete einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg des Blauen Reiters. Ihre

Arbeit war gekennzeichnet von Ideen, die sie direkt in ihren Werken umsetzte, wie das abstrakte

Darstellen eines Ereignisses und auch Reduzierung der Formen und Flächen. Obwohl sie eine erfoglreiche Künstlerin war, die viele Gemälde und andere Arten von Kunst produzierte sowie an diversen Ausstellungen teilnahm, beziehen viele Kritiker und Kunsthistoriker sie nicht als

Gründungsmitglied des Blauen Reiters, neben Wassily Kandinsky, Franz Marc und Alfred

Kubin, ein. In der Gründungsgruppe war Münter allerdings die einzige Frau. Dennoch befindet

sich Münter auch in der traditionellen Ausgangssituation bezüglich der Geschlechterrollen: Sie

war die einzige Frau oder eine der wenigen Frauen unter Männern, wie es zudem der Fall in den

anderen genannten Künstlergruppen, wie Die Brücke oder die Rheinischen Expressionisten, war,

die ebenfalls kaum weibliche Mitglieder hatten. Dieser Fakt zeigt, dass Münter von groβer

Bedeutung auch für Ihre Künstlerkollegen gewesen sein muss, die sie in ihre Männerzirkel

aufnehmen wollten. Münter vereinte sich nur sporadisch mit anderen weiblichen Künstlerinnen

oder Expressionistinnen, wie es nur in der Mitgliedschaft im Münchner Künstlerinnenverein zu

erkennen ist. Sie folgte dem vom System limitierten Ausbildungsweg, hatte also keine freie

Hochschulwahl, was bedeutete, dass es für sie viel schwerer gewesen war, im Gegensatz zu ihren

männlichen Kollegen denselben theoretischen und praktischen künstlerischen Hintergrund zu

erlernen. Dennoch oder vielleicht gerade wegen ihres zielstrebigen Arbeitens wurde sie von

wichtigen (männlichen) Künstlern, wie Kandinsky und Marc, besonders respektiert und in die

avantgardistischen Kreise aufgenommen. Als Mitglied der NKVM oder des Blauen Reiters schuf

44

sie Kunst, die nicht eindeutig den traditionellen Mustern von weiblichem und männlichem

Arbeiten zuzuordnen waren. Insbesondere von ihrem Partner und Kollegen Kandinsky bekam sie

dafür Anerkennung. Zudem machte sie ihre ganz eigenen Entwicklungen innerhalb des Blauen

Reiters, indem sie sich zwar nicht ganz so weit in die Abstraktion bewegte wie andere

Mitglieder, z.B. Kandinsky und Marc, sich aber Materialien wie der Hinterglasmalerei als erste zuwandte und den Expressionismus mit seinen vereinfachten Formen und Flächen in diesem

Genre weiterführte.

Nach Ende des ersten Weltkriegs produzierte Gabriele Münters weniger Kunst, nachdem sich der Blaue Reiter bereits vier Jahre zuvor aufgelöst hatte und sie kein Teil einer

Künstlergruppe mehr war.119 Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens, publizierte ihr Lebensgefährte

und Kunsthistoriker Eichner Informationen über sie, während sie stets als Künstlerin

weitergearbeitet hatte. Erst nachdem sie 1962 in Murnau starb, bekam sie auch mehr

Aufmerksamkeit auβerhalb Deutschlands, z.B. durch Ausstellungen in den USA, sowie den

umliegenden Länder. Seitdem wurde auch vermehrt aufgearbeitet, wie verbunden sie und

Kandinsky künstlerisch überhaupt zu betrachten sind und inwiefern ihr eigener Ehrgeiz ihr einen

Platz unter den Expressionisten des Blauen Reiters verschafft hatte. Wie diese Arbeit argumentiert, war Münter ein wesentlicher Bestandteil des Expressionismus und insbesondere des Blauen Reiters. Sie verhalf aktiv zur Entwicklung des heute als Expressionismus bezeichneten Kunststils und inspirierte wichtige Künstler, wie Kandinsky oder auch ihre engen

Kollegen, die sich an Hinterglasmalerei ausprobierten und die heute als viel bedeutender behandelt werden. Die beruflichen wie auch privaten Möglichkeiten der damaligen Zeit waren sehr ungleich für Männer und Frauen. Da Münter als einzige Frau in hauptsächlich

45

Männerkreisen agierte, war sie auf die männliche Beurteilung angewiesen, um in die

Künstlergruppen zu gelangen, da die Entscheidungen zum Groβteil von den männlichen

Kollegen getroffen wurden. Dennoch waren meist die damaligen Kritiker konservativer

eingestellt als die Künstlerkreise selbst, in denen es teilweise sehr moderne Lebensweisen gab,

was wiederum eine weitere Reduzierung in den Kritiken für Künstlerinnen bedeutete. In vielen

Fällen, so auch bei Münter, ist es also schwierig festzustellen, inwiefern sie durch diese sozialen

Begrenzungen zurückgehalten wurden und deswegen auch an Bedeutung einbüβen mussten. Fest

steht, dass Münter durch neue Weisen der Darstellung eine wichtige Rolle für den

Expressionismus und speziell den Blauen Reiter spielte, die jedoch durch die Dominanz ihrer männlichen Kollegen und die gedankliche Begrenzung in Geschlechterrollen zu wenig

Beachtung fand. Bei der Betrachtung ihres Werdeganges wird häufig auβer acht gelassen, wie selbstbewusst sie sich in einer Männerwelt durchgesetzt haben muss und dass sie es ohne innovative Ideen, Talent und Durchhaltevermögen nicht zu einer Gründungsfigur der NKVM und des Blauen Reiters geschafft hätte. In der NKVM gehörte sie bereits zu den Progressiven und wurde bewusst in die Gründung des Blauen Reiters eingeschlossen, da sie als wichtiger Teil der

Gruppe von ihren Kollegen angesehen wurde und da es herausstach, dass sie die künstlerischen

Vorstellungen auf natürliche Weise umzusetzen vermochte und ihren eigenen Stil neben den umgebenden Künstlern zum Ausdruck brachte.

46

ENDNOTEN

1Wright, Barbara D. „New Man, Eternal Woman: Expressionist Responses to German Feminism.“ The German Quarterly Herbst 1987: 587. 2 Hutschnecker, Leonard Hutton. Hinterglasmalerei: An exhibition of Unknown Work by Gabriele Münter, 1877- 1962.. New York: Leonard Hutton Galleries, 1967. Ausstellungskatalog: 23. 3 Wright, Barnaby: Gabriele Münter: The Search for Expression 1906-1917. London: Courtauld Institute of Art Gallery, 2005: 12. 4 Hebebrand, Anne. „A reexamination of Gabriele Miinter's oeuvre in relation to the Blue Rider.“ Birmingham, AL, 1992. M.A. Arbeit: 40. 5 Heller, Reinhold. Gabriele Münter: The Years of Expressionism 1903-1920. München: Prestel, 1997: 38. 6 Hebebrand 40 7 Mochon, Anne. Gabriele Münter: Between Munich and Murnau. Cambridge, MA, 1980: 13 8 Mochon 13 9 Mochon 14 10 Wright 2005: 12 11 Kain, Evelyn M. „Gabriele Münter: The Search for Expression 1906-1917 by Annegret Hoberg and Shulamith Behr (Review).“ Woman's Art Journal Fall-Winter 2007: 59. 12 Obler, Bibiana Katherina. Intimate Collaborations: Kandinsky and Münter, Taeuber and Arp. Berkeley, CA, Fall 2006. Dissertation: 1. 13 Mochon 18 14 Dube, Wolf-Dieter. Expressionism. London: Thames and Hudson, 1972: 18. 15 Dube20 16 Perrot, Paul N. „Foreword.“ Brandt, Frederick R. (Hrsg.). German Expressionist Art. Richmond: Virginia Museum of Fine Arts, 1987: vii. 17 Manheim, Ron. „Expressionismus: Zur Entstehung eines kunsthistorischen Stil- und Periodenbegriffes.“ Zeitschrift für Kunstgeschichte 1986: 73. 18 Funke, Erich. „Die Schallform des Expressionismus.“ The Journal of English and Germanic Philology Juli 1935: 408. 19 Funke, 408 20 Hight, Eleanor M. „German Art 1905-1925: Technique as Expression.“ Brandt, Frederick R. (Hrsg.). German Expressionist Art. Richmond, VA, 1987: 13. 21 Behr, Shulamith. Women Expressionists. New York: Rizzoli, 1988: 46 22 Behr 10 23 Behr 8-9 24 Dube 19 25 Behr 46 26 Behr 5 27 Behr 6 28 Behr 6 29 Behr 7 30 Behr 7 31 Behr 7-8 32 Behr 15 33 Kain 60 34 Scarborough, James. „Seduced and Abandoned: Gabriele Münter: The Years of Expressionism 1913-1920 by Reinhold Heller (Review).“ Art Journal Spring 1999: 101. 35Adams, Marion. „Der Expressionismus und die Krise der deutschen Frauenbewegung.“ Hüppauf, Bernd. Expressionismus und Kulturkrise. Heidelberg: Universitätsverl. Winter, 1983: 107.

47

36 Adams 110 37 Adams 110 38 Adams 107 39 Adams 110 40 Adams 110-111 41 Dube 95 42 Dube 98-99 43 Heller 19 44 Dube 98-99 45 Kain 59 46 Obler 28 47 Weidemann, Christiane. 50 Women Artists You Should Know. München: Prestel, 2008: 87. 48 Obler 29-30 49 Kain 59 50 Hollmann, Eckhard. The Blue Rider. München: Prestel, 2011 46-47. 51 Dube 98 52 Heller 19 53 Heller 19 54 Hollmann 4 55 Hollmann 44-45 56 Hutschnecker 23 57 Heller 19 58 Hebebrand 1 59 Roters, Eberhard. „Wassily Kandinsky und die Gestalt des Blauen Reiters.“ Jahrbuch der Berliner Museen 1963: 201. 60 Dube 104-105 61 Behr 46 62 Heller 10 63 Heller 10 64 Roters 201 65 Hebebrand 1 66 Hebebrand 1-2 67 Weidemann 87 68 Heller 11 69 Hebebrand 2 70 Hebebrand 2 71 Heller 46 72 Hebebrand 2 73 Heller 42 74 Hebebrand 4 75 Dube 119-120 76 Adams 105-106 77 Dube 119-120. Das ursprüngliche Zitat stammt aus einem Ausstellungskatalog einer Ausstellung in München 1913, der jedoch nicht vorliegt. Der Autor Wolf-Dieter Dube, der dieses Zitat verwendet, gibt keine genauen Angaben, um welche Ausstellung es sich handelt. 78 Behr 11-12 79 Hebebrand 39 80 Heller 43 81 Mochon 13 82 Heller 42 83 Weidemann 87

48

84 Friedel, Helmut (Hrsg.). The Blue Rider: Watercolours, Drawings and Prints from the Lenbachhaus Munich. München: Hirmer, 2010: 199-200. 85 Hutschnecker 15 86 Mochon 13 87 Friedel 202 88 Mochon 25 89 Mochon 25 90 Friedel 213 91 Heller 10-11 92 Weidemann 87 93 Friedel 217 94 Hutschnecker 6 95 Hutschnecker 4 96 Hutschnecker 7 97 Hutschnecker 6 98 Mochon 15 99 Weidemann 87 100 Hutschnecker 6 101 Eichner, Johannes. Kandinsky und Gabriele Münter: Von Ursprüngen moderner Kunst. München: Bruckmann, 1957: 38 102 Kain 60 103 Hebebrand 1 104 Mochon 16-17 105 Mochon 17 106 Mochon 17 107 Hebebrand 3 108 Hebebrand 3 109 Hebebrand 3-4 110 Heller 44 111 Scarborough 101 112 Obler 3 113 Obler 113-114 114 Obler 115 115 Hutschnecker 7 116 Mochon 18 117 Hutschnecker 7 118 Kain 59 119 Wright 15

49

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BIOGRAPHISCHE KURZDARSTELLUNG

Laura Helena Eddelbüttel wurde am 4. Oktober 1986 in Hamburg, Deutschland, geboren. Sie erhielt ihren Bachelor of Arts in „Kunst, Musik und Medien: Organisation und Vermittlung“ an der Philipps-Universität Marburg im Jahr 2010 und studierte von 2010 bis 2011 für zwei Semester an der University of Wisconsin, Stevens Point, USA. Sie machte ihren Master of Arts in „German Studies“ an der Florida State University in Tallahassee, USA, im Jahr 2013 und wurde 2013 für hervorragende Leistungen am Institut der Modernen Sprachen und Linguistik an der Florida State University ausgezeichnet. Sie unterrichtete für vier Semester Deutsch- Sprachkurse an der Florida State University.

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