Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien April 2015

Immer nur vorwärts

Hilde Zadek

Der Internationale Hilde Zadek Gesangswettbewerb zählt zu den renommiertesten der ganzen Branche. Dabei dürfen Leben und Laufbahn der 97-jährigen Initiatorin und Namenspatronin, der Sopranistin Hilde Zadek, als Vorbild gelten. Das Wettbewerbsfinale findet auch 2015 wieder im Musikverein statt.

„Franzl, willst du dir nicht eine Freundin von mir anhören?“ So soll die beiläufig geäußerte Frage gelautet haben, die ein junges Mädchen ihrem Patenonkel im August 1946 in Zürich gestellt hat – „in einer winzigkleinen Zweizimmerwohnung“, wie sich besagte Freundin später erinnerte. Der Pate hieß Franz Salmhofer, damals per Dekret vom 10. Juni 1945 Direktor der „Wiener Staatsoper im Theater an der Wien“, da das Haus am Ring ja zerstört war. So bekam Hilde Zadek die Möglichkeit zu einem privaten Vorsingen – und hat sich nicht etwa mit leichterem Repertoire aufgehalten, sondern gleich die zentralen Arien der Turandot sowie der beiden Leonoren in Beethovens „Fidelio“ und Verdis „Macht des Schicksals“ zum Besten gegeben. Das Ergebnis: eine Einladung nach Wien zu einer „Vorstellung auf Engagement“, quasi einem Probeauftritt, der im Erfolgsfall zu ihrer Aufnahme ins Ensemble würde führen können. 29 Jahre alt war die Sopranistin damals und studierte bei der namhaften in Zürich. Viel schon hatte sie erlebt und erduldet – bis auf eine Opernbühne war sie allerdings noch nie vorgedrungen.

Allein nach Palästina Sie habe „alles erlebt, was ein unbeschwertes Kind erleben kann“, erzählt Hilde Zadek, die 1917 in Bromberg in der preußischen Provinz Posen als Tochter eines Schusters zur Welt kam und ab 1920 in Stettin aufwuchs. Bis 1933. Dann musste sie in der Schule lernen, dass Juden ein anderes Gehirn hätten als Christen und andere Ungeheuerlichkeiten mehr. Als schließlich eine Klassenkameradin bei ihrem Anblick erklärte, es stinke hier nach Juden, gab ihr die groß gewachsene, kräftige und impulsive Hilde vor Zorn eine Ohrfeige – und schlug ihr dabei die Vorderzähne ein. Rasch wurde ihr daraufhin klargemacht, dass es besser wäre, wenn sie nicht nur die Schule, sondern überhaupt das Deutsche Reich verlassen würde. Nach kurzen Stationen in Berlin und München, wo sie eine Ausbildung als Säuglingsschwester begann, emigrierte sie allein nach Palästina. Zuerst arbeitete sie in einem Kinderheim in Haifa, dann in , von wo aus sie unermüdlich darauf drängte, von ihrer Familie jedenfalls noch ihre Eltern und zwei jüngeren Schwestern aus Nazideutschland herauszubekommen. 1939 gelang es ihr schließlich – ihr Vater war schon im KZ Sachsenhausen inhaftiert gewesen.

Feuertaufe mit hohem C Die künstlerischen Ambitionen der Tochter sollten freilich bei dem Patriarchen keine Freude wecken: Er wollte sie als Verkäuferin in dem gemeinsam betriebenen Kinderschuhgeschäft sehen, war auch aus sprachlichen Gründen auf sie angewiesen in dem ihm fremden Land. So legte er ihr während ihrer Jerusalemer Gesangsausbildung bei Rose Pauly jeden möglichen Stein in den Weg. Äußerlich groß und stark, wäre Hilde Zadek innerlich beinah daran zugrunde gegangen, wollte ihrem Leben sogar ein Ende bereiten, ergriff jedoch dann die erste

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Gelegenheit, mit einem Stipendium nach Europa zurückzugehen: So kam sie nach Zürich. Fünf Monate sollte es dauern, bis sie, unter britischem Pass für Palästina, ein Visum für das von den Besatzungsmächten geprägte Österreich bekommen konnte. Die Umstände und Proben, wenn man denn von solchen reden konnte, verliefen ungefähr so: Hilde Zadek kam am 26. Jänner 1947 in Wien an und sprach bei Salmhofer vor. Dieser fragte: „Am 3. Februar ist eine ‚‘. Können Sie die?“ Selbstverständlich, lautete ihre Antwort. Auf Italienisch? Kein Problem. Aber Proben gibt es keine! Das mache gar nichts, versicherte sie ihn. Tatsache war: Sie hatte die Aida nie studiert, sprach kein Italienisch und war, wie schon erwähnt, noch nie in einer Oper aufgetreten. Auf dem Absatz machte sie kehrt, lernte die Rolle und war perfekt vorbereitet, als der Dirigent Josef Krips, untrennbar verbunden mit der Pflege des Staatsopernensembles gerade in den Jahren 1945 bis 1955, zwei Tage vor der Aufführung von einer Tournee zu den Proben zurückkam. Diese verliefen so: „Sing die Stelle mit dem hohen C!“ Hilde Zadek sang die heikle Phrase in der sogenannten „Nil-Arie“, Krips umarmte sie und ging wieder. Die Vorstellung wurde für die Debütantin „ein ganz, ganz großes Erlebnis, denn Prof. Krips hat mich durch diese Vorstellung getragen, effektiv“: eine Feuertaufe.

Liebe wider den Hass „So wurde ich“, erklärt Hilde Zadek, „weil ich an mein Schicksal geglaubt habe, auch schicksalshaft, noch während des ersten Studienjahres in Zürich, an die Wiener Staatsoper engagiert.“ Erst viel später hat sie erfahren, dass es an diesem Abend durchaus eine Stehplatzfraktion gegeben hatte, die bereit war, diese „Jüdin aus Palästina“ auszupfeifen – sie erzählt die Episode in dem Filmporträt „Gesang als Weg“, das Walter Wehmeyer 2003 über die Sängerin gedreht hat. Aber dann habe sie gesungen – „und dann samma in die Knie gegangen“: eine als Kompliment gemeinte Aussage, die einem noch heute das Blut in den Adern gefrieren lässt. Wie konnte sie damit fertig werden, für ein Publikum zu singen, in dem ohne weiteres noch jemand sitzen konnte, der ihren Vater ins KZ gebracht oder dafür gesorgt hatte, dass zwei Onkeln und eine Tante in der Nazi-Todesmaschinerie umgebracht worden waren – von allen anderen Opfern ganz abgesehen? „Das war ein sehr großes Problem. Aber ich fand, dass man Probleme nur mit Liebe lösen kann und nicht mit Hass.“ Denn „wenn man für Menschen singt, muss man die Menschen, für die man singt, lieben, sonst kann man nicht für sie singen. Singen und Liebe haben überhaupt sehr, sehr viel Ähnlichkeit miteinander.“

Voller Einsatz, breites Repertoire Ihre internationale Karriere sollte sie rasch bis an die New Yorker , an die Mailänder Scala, ans Royal Opera House Covent Garden und nach Buenos Aires führen, zu den Festspielen in Salzburg, Glyndebourne, Edinburgh; sie hat noch mit Dirigenten wie Fritz Busch, Hans Kappertsbusch, Otto Klemperer, Dmitri Mitropoulos, Erich Kleiber, Clemens Krauss und Thomas Beecham zusammengearbeitet. Wie eng Liebe und Gesang für die Sopranistin Hilde Zadek zusammenhingen, zeigt sich jedoch auch daran, dass sie daneben der Wiener Staatsoper und ihrem Publikum über beinah 25 Jahre die Treue hielt: mehr als 700 Vorstellungen müssen es gewesen sein und über 30 große Partien, von Mozart, Verdi, Wagner und Strauss bis hin zur Moderne, etwa der Julie in „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem, der Magda Sorel in Giancarlo Menottis „Konsul“, der Jungfrau Maria in Arthur Honeggers „Heilige Johanna auf dem Scheiterhaufen“, der Nadja in

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Franz Salmhofers „Iwan Tarassenko“, der Katerina Ismailowa in der Zweitfassung von Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“, der Ersten Chorführerin (neben der Zweiten von Christa Ludwig) in Ildebrando Pizzettis „Mord in der Kathedrale“ unter Herbert von Karajan …

Zeichen der Zeit Die Musik des 20. Jahrhunderts war für Hilde Zadek stets eine Selbstverständlichkeit, erklärte sie einmal im Gespräch mit Volkmar Parschalk: „Ich bin mit 16 Jahren in ein Land gegangen, wo es Wagner und Strauss und auch andere, weniger empfindliche Sachen nicht gab. Aber wir beschäftigten uns alle mit Strawinsky und Alban Berg und Schönberg, das war unser täglich Brot. Ich kannte einen Strawinsky auswendig, bevor ich je einen Bach gehört hatte … Und dann ist moderne Musik einfach ein Zeichen unserer Zeit, so wie moderne Malerei ein Zeichen unserer Zeit ist, und ich finde, man muss sich mit dem, was die Zeit produziert, zumindest beschäftigen.“ Und auch unkonventionellen Regie-Ideen gegenüber ist sie weitaus offener, als das Klischee einer Sängerin ihrer Generation zubilligen würde.

Vorwärts zur Jugend „Wenn ich etwas nicht vertrage, dann ist das zu retirieren, also immer ein Stückchen zurückzugehen. Ich glaube, dass man vorwärts gehen muss, und wenn es nicht mehr vorwärts geht, dann soll man aufhören.“ Statt eines Fachwechsels hin zu Charakterpartien nahm Hilde Zadek also 1971 den Bühnenabschied und konzentrierte sich fortan ganz auf ihre zweite Leidenschaft: das Unterrichten. Sie ist überzeugt davon, „dass man nur über sich hinauswachsen kann, wenn man ein unerhörtes Wissen und Können hat, und das muss man sich erarbeiten – und dann vergessen, um sich nur dem Moment des Gebens hingeben können. Loslassen können, ‚es‘ machen lassen, das ‚Es‘, das aus dem Innern, dem Bauch, der Mitte kommt!“ Seit 1964 schon gibt sie als bald berühmte Gesangspädagogin ihr Wissen an junge Generationen weiter: Adrianne Pieczonka und Georg Nigl zählen zu den prominentesten.

Die jüngsten Besten Darüber hinaus veranstaltet die Hilde Zadek Stiftung seit 1999 den Internationalen Hilde Zadek Gesangswettbewerb, der durch den Zwei-Jahres-Rhythmus heuer zum 9. Mal stattfindet – eine großartige Förderung des Sängernachwuchses, wobei ganz im Sinne der Namenspatronin ein besonderer Schwerpunkt nicht bloß auf klassischer Moderne, sondern direkt auf zeitgenössischer Musik liegt, komponiert seit 1970. Martin Achrainer, Daniel Johannsen, Anja- Nina Bahrmann, Eva Maria Riedl, Monika Bohinec sowie zuletzt Gan-ya Ben-gur Akselrod und Natalia Kawalek-Plewniak zählten in den letzten Jahren zu den Gewinnern – und beim FinalistInnenkonzert am 11. April im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins kann sich auch das Musikvereinspublikum von den neuen, besten jungen Leuten begeistern lassen, welche eine Jury kürt, in der unter dem Vorsitz Brigitte Fassbaenders neben diversen Intendanten auch Christa Ludwig, Adrianne Pieczonka und Charles Spencer vertreten sind. Eine große alte Dame aber darf dann erneut besonders glücklich sein: die 97-jährige Hilde Zadek.

Walter Weidringer Mag. Walter Weidringer lebt als Musikwissenschaftler, freier Musikpublizist und Kritiker (Die Presse) in Wien.

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