SWR2 Lesenswert Feature Die Jahre der wahren Empfindung Wie sich die Revolte von 1968 auf die bundesdeutsche Literatur auswirkte

Von Helmut Böttiger

Sendung: Dienstag, 20. November 2018 Redaktion: Gerwig Epkes Regie: Ulrich Lampen Produktion: SWR 2018

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O-Ton 1: Uraufführung „Publikumsbeschimpfung“ von Ihr Damen und Herren ihr, ihr Anwesenden ihr, ihr Genossen ihr, ihr werten Zuhörer ihr, ihr Mitmenschen ihr! ihr Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Lebens ihr, ihr Anwesenden ihr!

Musik

O-Ton 2 Heiner Egge: Wir waren ja eher die schüchternen Literaten, wir schrieben ja so mehr für uns und hatten ja auch oft damals noch Schwierigkeiten, bei Lesungen groß aufzutreten!

Musik

O-Ton 3 Alfred Eckerle: Man war auf der Suche nach sich selbst und hat sich auch prompt gefunden!

Regie: Musik

O-Ton 4 Peter Handke: Manchmal denke ich: Was ist denn eigentlich los?

Musik

Erzähler: Im November 1968 erscheint die Nummer 15 der einflussreichen Zeitschrift „Kursbuch“. In einigen Aufsätzen darin geht es um den Tod der bürgerlichen Literatur. In der Studentenbewegung, im Aufstand gegen den Vietnamkrieg und gegen die alten Nazis in den Schlüsselpositionen spielen Schöngeister kaum eine Rolle. Dennoch: Im Vorfeld der Revolte gilt der junge österreichische Schriftsteller Peter Handke als einer der provokativsten Aufrührer. Am 8. Juni 1966 inszeniert Claus Peymann im kleinen Frankfurter Theater am Turm Handkes Stück „Publikumsbeschimpfung“.

O-Ton 5 Uraufführung „Publikumsbeschimpfung“: Ihr Siebengescheiten. Ihr Neunmalklugen. Ihr Lebensbejaher. Ihr Damen und Herren ihr.

Erzähler: Geplant ist ein Skandal. Und es wird einer.

O-Ton 6 Uraufführung „Publikumsbeschimpfung“: Ihr Claquere, ihr Cliquenbildner, ihr Pöbel, ihr Schweinefraß, ihr Knicker, ihr Hungerleider, ihr Griesgrame, ihr Schleimscheißer, ihr geistiges Proletariat, ihr Protze, ihr Niemande, ihr Dingsda. 2

Erzähler: Als die Schimpfkanonaden auf das herausgeputzte Premierenpublikum niederprasseln, wenden sich die kulturbeflissenen Damen und Herren entrüstet ab. Sie tuscheln und zetern. Sie fühlen sich gemeint. Nach der Aufführung setzt sich der Autor feixend auf die Bühne und lässt die Beine baumeln. Mit seiner Pilzfrisur sieht er aus wie ein Popstar. Und genau darum geht es.

Musik. (Rolling Stones, Satisfaction)

Erzähler: (zunächst auf Musik): Mick Jagger – so einer will der junge, schüchterne Peter Handke auch sein. Er will den Literaturbetrieb aufmischen. Und er hat dafür einen Plan. Bereits im April 1966, ein paar Wochen vorher, sorgt er für ein paar aufsehenerregende Minuten. Schauplatz ist die US-amerikanische Universitätsstadt Princeton. Die Gruppe 47, die mächtigste Schriftstellervereinigung der jungen Bundesrepublik, ästhetisch tonangebend, politisch über jeden Zweifel erhaben, hat den vielversprechenden Autor zu ihrer repräsentativen Tagung eingeladen. Eine große Ehre für einen jungen Schriftsteller. Peter Handke reist an, kümmert sich nicht um das strenge Reglement, nach dem die Treffen gewöhnlich ablaufen, steht nach einer der Lesungen plötzlich auf, ergreift das Wort und lässt es, obwohl ihm fast die Stimme bricht, nicht mehr los.

O-Ton 7 Peter Handke: Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das Billigste ist, womit man überhaupt nur Literatur machen kann. Wenn man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. (...) Das Übel dieser Prosa besteht darin, dass man sie ebenso gut aus einem Lexikon abschreiben könnte. Man könnte den Sprachduden, diesen Bilderduden verwenden und diese Bilder aufschlagen und auf die einzelnen Teile hinweisen. Und dieses System wird hier angewendet und es wird vorgegeben, Literatur zu machen. Was eine völlig läppische und idiotische Literatur ist. (schallendes Gelächter) Und die Kritik... ist damit einverstanden, weil eben ihr überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht, gerade noch hinreicht. Weil die Kritik ebenso läppisch ist wie diese läppische Literatur. (schallendes Gelächter)

Erzähler: Schlaksig, etwas unbeholfen und immer wieder stotternd attackiert Peter Handke die mit Schlips und Kragen angetanen Literaten. Die Gruppe 47 reagiert genauso wie kurz danach das Frankfurter Theaterpublikum: Man ist empört und weist alles weit von sich. Schließlich fühlt man sich selbst als Avantgarde. Nur ein alter marxistischer Recke, der eine Rebellion junger Leute tendenziell immer gut findet, zeigt Verständnis. Hans Mayer versucht, Handke in Schutz zu nehmen. Doch gegen das Fußvolk hat der Theoretiker keine Chance:

O-Ton 8 Hans Mayer: Was Handke meint, ist folgendes – (schallendes Gelächter) 3

Erzähler: Handke hat ein Gespür für den Zeitgeist, das stellt er in Princeton unter Beweis. Denn 1966 liegt etwas in der Luft, und er gibt dem literarisch eine Stimme. Die Altvorderen tun ihm den Gefallen, emotional zu reagieren, gereizt und mit dem Hohnlachen der Etablierten. Das macht Handke sofort zum Kultautor.

Regie: Musikakzent (Satisfaction)

Erzähler: Handkes Auftritt in Princeton ist nichts anderes als die Geburt der deutschen Popkultur aus dem Geist der Gruppe 47. Innerhalb von zwei, drei Minuten wird Handke zum Markenzeichen. Einen besonderen Effekt erzielt die Diskrepanz zwischen seiner radikalen Rede und seinem äußeren Erscheinungsbild: er sieht aus wie ein etwas verklemmter Klosterschüler, der stotternd und nach Luft schnappend auf sich aufmerksam machen will. Er hat sich aber einen ganz speziellen Haarschnitt zugelegt, einen „Pilzkopf“ wie die Beatles, die allgemein den Gipfel an Lebensgier darstellen. Ein solcher Pilzkopf ist in der Literaturszene ein Motiv aus anderen Sphären. Und es wirkt ungemein. In Gazetten und Magazinen genügt in den nächsten Wochen und Monaten als Illustration bloß eine Art Schattenriss, die schwarze Silhouette eines Pilzkopfs mit Sonnenbrille und halblangem Haar, und jeder weiß: das ist Peter Handke. Er hat völlig unverblümt die Andy-Warhol-Ästhetik übernommen und gilt damit in Deutschland wie dieser in den USA als Trendsetter.

Regie: Musikakzent (Satisfaction)

Erzähler: Die „Publikumsbeschimpfung“ im Frankfurter Theater am Turm schließt konsequent daran an. Peter Handke scheint ein Teil der Revolte zu sein, die im Jahr 1968 kulminiert. Aber dieser Teil der Revolte gestaltet sich sehr kompliziert. Denn das Verhältnis zwischen Politik und Poesie wird in den Jahren unmittelbar nach 1968 zunehmend als prekär empfunden. In Handkes Filmdrehbuch „Falsche Bewegung“ von 1975 kommt es zwischen den beiden Hauptfiguren zu einem melancholischen Wortwechsel:

Zitator: Wenn nur beide, das Politische und das Poetische, eins sein könnten! – Das wäre das Ende der Sehnsucht und das Ende der Welt.

Erzähler: Peter Handke gehört zwar zum Aufbruch Ende der sechziger Jahre, er gilt als ein ungestümer Querkopf, aber an der politischen Stoßrichtung der Studentenbewegung hat er niemals Anteil genommen.

O-Ton 9 Handke, 6:40-7:10: Ich wollte nie dazugehören. Ich hab mit den 68ern – erst einmal hat es gutgetan, dass es sowas gibt, aber dann, als es sich sprachlich und bildlich konkretisiert hat, dann hab ich gedacht nein. Also ich war nicht dagegen, aber… 4

Regie: Musik (Velvet Underground)

O-Ton 10 Handke: Fritz Teufel und dann dieser Quatschkopf, wie hieß der – Rainer Langhans, eine jämmerliche Gestalt! Schon damals war mir das klar! Das einzige Mal, dass ich mich mit Enzensberger irgendwie verstanden hab, als wir einen Nachmittag den Langhans über uns ergehen haben lassen müssen, ohne Pause, ohne Akzent vor allem, ohne Blick. Aber man hat das damals akzeptiert, man hat gedacht, das gehört dazu. Ich hab sogar die Uschi Obermeier, die Freundin, ein hübsches Mädchen, da sind wir zu dritt mit dem Langhans, ich weiß nicht, ob Enzensberger noch dabei war – hab ich der sogar ein schönes Kleid gekauft, ich weiß nicht in Berlin damals, und durfte beim Umkleiden, beim Anprobieren dabeisein.

Erzähler: Handkes Gedichtband „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ aus dem Jahr 1969 hat mit einer Poesie der Innerlichkeit überhaupt nichts zu tun. Es sind Sprachprogramme, die er hier startet, in Anlehnung an die „konkrete poesie“ österreichischer Provenienz. Alltagsgegenstände und viele Erscheinungsformen der Unterhaltungskultur fließen hier ein. Handkes juristisches Fachexamen sensibilisiert ihn daneben auch für Fachsprachen jeglicher Art, vor allem auch politische und bürokratische. In Fachkreisen kanonisch geworden ist ein Gedicht, das in seiner archivarischen Stringenz in dieser Zeit systemsprengend wirkt.

Zitator: Die Aufstellung des 1.FC Nürnberg vom 27.1. 1968 Wabra Leupold Popp Ludwig Müller Wenauer Blankenburg Starek Strehl Brungs Heinz Müller Volkert Spielbeginn: 15 Uhr

Regie: Musikakzent

Erzähler: Der junge Handke schreibt zunächst Theaterstücke und Gedichte. 1970 aber überrascht er mit einer Erzählung, die scheinbar einen anderen Ton anschlägt. Jetzt sieht die Revolte wirklich ganz anders aus. Noch Jahrzehnte später versetzt sich Peter Handke spontan in seinen damaligen Schreibimpuls.

O-Ton 11 Handke: Als dann die Angst des Tormanns beim Elfmeter kam – plötzlich: Es wird wieder erzählt! Es war ja überhaupt nicht mehr vorhanden! Und mir kam das auch fast wie ein Sakrileg vor, eine Erzählung anzufangen: „Dem Monteur Josef Bloch, der früher mal ein Tormann gewesen war, wurde am Morgen, als er zur Bauhütte kam, vom Polier mitgeteilt, dass er entlassen sei. Zumindest legte er die Bewegung des Poliers, oder des Mannes, so aus, und verließ auf der Stelle die Baustelle.“ Ich hab gedacht: Um Gottes willen! Was schreib ich denn da! Aber das hat mich dann plötzlich

5 ungeheuer angepackt. Alles kam, mein ganzes Leben, was ich, wen ich getroffen hab, kam dann in diese Geschichte hinein.

Erzähler: Fast wörtlich erinnert sich Peter Handke an den Anfang seiner berühmten Erzählung.

O-Ton 12 Handke: Es kam natürlich durch mein Jurastudium. Das hat ja überhaupt nichts zu bedeuten, aber da gabs eben ein paar Momente. Wo uns vorgeführt wurde, wie ein Mensch plötzlich zweigeteilt wird. Der Kriminologie Professor hat erzählt, wie ein Mann eine Nacht mit einer Frau verbringt, und plötzlich erwürgt er die! Und irgendwie hab ich gedacht – das leuchtet mir ein! Nicht psychologisch! Es leuchtet mir einfach ein! Und so kam das. Und dann hab ich blöderweise auch klinische Bücher gelesen über die beginnende Schizophrenie und wie sich das äußert, und das ist ein bisschen zu viel auch in die Geschichte eingesickert oder –sintert oder wie man das nennen soll.

Regie: Musik (Velvet Underground)

O-Ton 13 Handke: Und deswegen wars so seltsam, auch „Der kurze Brief zum langen Abschied“ damals zu schreiben: „Die Jefferson Street ist eine stille Straße in Providence. Als ich Ende April dort ankam ins Hotel lag ein Brief“ usw. Ich hab gedacht: das geht ja nicht, das alles! Aber das war damals ein Ereignis, so was zu machen! Das sag ich Ihnen! Das war ein Handstreich!

Erzähler: Handkes frühe Helden sind Verlorene, Versprengte inmitten aller zeitpolitischen Reden um sie herum. Aber sie haben das Popgefühl der siebziger Jahre. Man kann sich mit ihnen identifizieren und lebt dabei mitten in der Gegenwart. Sie suchen nach einer eigenen Sprache, bleiben jedoch meistens sprachlos. Und um diese spezifische Sprach- sowie Sinnlosigkeit geht es beim Helden Bloch in der „Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Das zieht unerwartet weite Kreise. Sogar Günter Netzer, der Kult- und Popfußballer der siebziger Jahre, will der „Angst des Tormanns beim Elfmeter“ beikommen. Netzer versucht, einen Sinn herauszufiltern, als er den Schluss dieser Erzählung fachmännisch rezitiert.

Musik (Velvet Underground, Pale Blue Eyes)

O-Ton 14 Günter Netzer: Der Elfmeterschütze legte sich den Ball zurecht. Dann ging auch er rückwärts aus dem Strafraum heraus. „Wenn der Schütze anläuft, deutet unwillkürlich der Tormann, kurz bevor der Ball abgeschossen wird, schon mit dem Körper die Richtung an, in die er sich werfen wird, und der Schütze kann ruhig in die andere Richtung schießen“, sagte Bloch. „Ebenso gut könnte der Tormann versuchen, mit einem Strohhalm eine Tür aufzusperren.“ Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände.

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Erzähler: Ob Günter Netzer einen Sinn gefunden hat, wissen wir nicht. Aber Handke ist in den siebziger Jahren vollkommen auf der Höhe der Zeit. „Die Sinnlosigkeit und das Glück“ heißt eines seiner traumwandlerisch das Lebensgefühl erfassenden Langgedichte, ein anderes „Leben ohne Poesie“. Die Erzählung „Die Stunde der wahren Empfindung“ feiert 1975 und in den Jahren danach wahre Triumphe. Und mit „Die linkshändige Frau“ landet Handke dann seinen größten Bestseller: hier ist er als Popautor, als einer, von dem man sich verstanden fühlt, auf dem Zenit. Alle Kategorien fallen in diesem suggestiven Text zusammen: man ist grundsätzlich immer noch links, man hat den Feminismus aufgenommen und ist – wenn überhaupt, dann mit Überzeugung – alleinerziehend. Man findet sich in der linkshändigen Frau wieder. Bezwingend ist die Unmittelbarkeit, die Glaubwürdigkeit, mit der Handke über jene Gefühle spricht, die in der heftigen Phase der Politisierung um und nach 1968 vollkommen in den Hintergrund getreten waren. Handkes Suchbewegungen treffen einen Nerv. Das eindringliche Buch über seine Mutter, „Wunschloses Unglück“ aus dem Jahr 1972, scheint der üblichen Sprachwelt dieses Autors auf den ersten Blick zwar nicht zu entsprechen, aber in der Eindringlichkeit der persönlichen Selbstvergewisserung verdichtet sie sogar noch.

Zitator: Unter der Rubik „Vermischtes“ stand in der Sonntagsausgabe der Kärtner „Volkszeitung“ folgendes: „In der Nacht zum Samstag verübte eine 51jährige Hausfrau aus A. (Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis Schlaftabletten.“ Es ist inzwischen fast sieben Wochen her, seit meine Mutter tot ist, und ich möchte mich an die Arbeit machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben, das bei der Beerdigung so stark war, sich in die stumpfsinnige Sprachlosigkeit zurückverwandet, mit der ich auf die Nachricht von dem Selbstmord reagierte.

O-Ton 15 Handke: „Wunschloses Unglück“ war ja im Grunde ein Skandal! Und hat sich beim Verleger, beim Siegfried Unseld beschwert oder zumindest harmlos Bedenken geäußert, dass ein Mensch über seine Mutter, die gerade sich das Leben genommen hat, eine Erzählung, ein Buch schreibt! Für mich war das, ich musste – man sagt immer „es musste sein“, aber das musste so sein, ja. Das hat danach geschrien! Mein ganzes Leben ist da beschrieben. Der Tod meiner Mutter, der hat mich aufgeklärt über das, was vorher war.

Musik (Velvet Underground)

Erzähler: Das Gesellschaftliche, Politische, das seine Generationsgenossen in den siebziger Jahren immer noch sehr umtreibt, bildet für Peter Handke in erster Linie ein Hintergrundrauschen. Er hat sich, und das ist seine ästhetische Konsequenz daraus, immer zu den Außenseitern gehörig gefühlt, zu den Verkannten. Eine seiner Lieblingsgruppen ist Canned Heat, und das liegt vor allem an deren Sänger. Im „Kurzen Brief zum langen Abschied“, einem von Handkes 70er-Jahre-Hits, beobachtet der in den USA gestrandete Held durch das Fenster des Cafés einen Studenten: 7

Zitator: mit kurzen Haaren, pausbäckig, in Bermudahosen, mit dicken Schenkeln, in Turnschuhen, ich blickte ihn entsetzt an.

Musik. Canned Heat, On the road again.

Erzähler: Aber der USA-Reisende, den man sich durchaus als einen Langhaarigen vorstellen muss – veröffentlicht wurde das Buch 1972 – ist durchdrungen davon, dass er jeden einzelnen gelten lassen möchte. Bloß nicht typisieren und zu einem Vertreter von etwas anderem machen!

Zitator: Ich schaute mich noch einmal nach dem dicken Studenten um: auf der Rückseite seines Hemds war Al Wilson abgebildet, der Sänger der Canned Heat. Wilson war ein kleiner und dicklicher Junge. Er hatte Pickel, die man auch im Fernsehen deutlich sah, und trug eine Brille. Vor einigen Monaten war er vor seinem Haus im Laurel Canyon bei Los Angeles in seinem Schlafsack tot aufgefunden worden. Mit zarter hoher Stimme hatte er „On The Road Again“ gesungen, und „Going Up The Country“. Anders als bei Jimi Hendrix oder Janis Joplin, die mir, wie auch sonst die Rockmusik, immer gleichgültiger wurden, verletzte mich sein Tod noch immer, und sein kurzes Leben, das ich dann zu verstehen glaubte, schmerzte mich oft in ruckhaften Halbschlafgedanken. Zwei Sätze fielen mir ein, die ich immer von neuem zusammensuchte, während ich zum Hotel zurückging: „I say goodbye to Colorado – it’s so nice to walk in California.“

Musik, Canned Heat: On the road again

Erzähler: Al Wilsons Stimme war keine, die unbedingt Zukunft hatte: so klein und dicklich wie er aussah, so picklig wie sein Gesicht, so war auch seine Stimme. Ein bisschen zu dünn, ein bisschen zu hoch, kein Vergleich mit den Rock-Machos, die die Szene immer mehr bestimmten. Aber es war eine sehr eigenartige Stimme, eine charakteristische. Sie war unverwechselbar. Sie schaffte sich ihre eigene Ästhetik, und darauf kommt es Handke vor allem an. Seine Ich-Figur nennt die Stimme des Underdogs eine „zarte hohe“, von ihr fühlt er sich angezogen: das allzu Laute, das allzu Selbstgefällige stößt ihn ab. Dazu kommt die einfache Wahrheit der Sätze. „On the road again”, das bekannteste Lied von Canned Heat, ist nicht nur das Leitmotiv für den „Kurzen Brief zum langen Abschied“. Das Unterwegssein, beginnend mit den 70er Jahren, ist für Handkes Gesamtwerk wesentlich, es ist für ihn gleichbedeutend mit dem Schreiben.

O-Ton 16 Handke: Das ist eine herrliche Welt. Aber man spürt es nicht mehr. Wie Sie sagen: Aufbruch, das ist etwas Besonderes. Man sieht den Horizont leuchten. Es ist eine herrliche Zeit gewesen. Sie waren jung. Und wir waren auch fast noch jung damals.

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Erzähler: Die 68er-Bewegung hat zwar die bürgerliche Literatur erstmal vollkommen abgelehnt. Aber sie hat in paradoxer Weise ihren Anteil daran, dass sich das deutschsprachige literarische Schreiben spürbar verändert und viel stärker rezipiert wird. Es kristallisiert sich eine Subjektivität heraus, die durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Prozessen hindurchgegangen ist. Sie hat danach nicht mehr viel mit dem alten hohen Ton eines sich als selbstverständlich voraussetzenden Ich zu tun. Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott etwa, Jahrgang 1957, erinnert sich, wie er als 17-Jähriger in den siebziger Jahren sein literarisches Initiationserlebnis hatte.

O-Ton 17 Ott: Es kam (…) vor allem ein spezielles Ereignis dazu, das für mich anders war als alles bis dahin, Schullektüren – Lieblingslektüren gabs eigentlich so wenig, nämlich eines Samstagnachmittags, ich glaube 1973 ist der Roman erschienen oder so, und von dem mir bis dahin unbekannten Peter Handke, das „Wunschlose Unglück“. Ich hatte den entdeckt, weil meine Mutter die Raiffeisenbank im Dorf gemacht, und aus dem Grund waren wir wahrscheinlich die einzigen, die die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatten. Sonst hatte man die Schwäbische. Und darin war ein Bild mit einem Menschen, der hatte so lange Haare wie ich, oder ich so lange wie er. Und da dachte ich: Hoppla! Es gibt Schriftsteller, die sehen so jung aus und haben lange Haare. Weil sonst hatten die das nicht. Und ich hab dann das Buch bestellt und habs gelesen, und vom ersten Satz an war ich wie nur von einer Musik, die man noch nie gehört hat, gebannt. Und es waren plötzlich Sätze, die anders klangen als was ich sag mal von Böll oder Borchert usw. kannte, was man auch in der Schule gelesen hat, auch völlig anders als Brecht. Und da wollte ich plötzlich mehr davon lesen. Und ich glaube im Nachhinein kann ich sagen, ab diesem Samstagnachmittag – ich weiß auch noch, dass es ein Samstagnachmittag war – ab diesem Samstagnachmittag hat sich fast alles verändert.

Musik (Canned Heat, On the Road again)

Erzähler: Karl-Heinz Ott steht nicht allein. Im Laufe der siebziger Jahre kommt es zu einem auffälligen Boom der Belletristik. Engbedruckte Broschüren und Taschenbücher erreichen enorme Auflagen, sie werden fast so gehandelt wie Lebensmittel. Die Texte sind ein Medium der Selbstverständigung. Es entstehen in der sich vielfältig ausdifferenzierenden alternativen Szene viele Zeitschriften, Untergrundpostillen und ästhetische Spielwiesen, die ungefähr dem entsprechen, was später im Internet passieren wird. Das Feld dafür ist in dieser Zeit vor allem die Literatur. Der Schriftsteller Frank Witzel erhält 2015 den begehrten Deutschen Buchpreis für einen Roman über die Jahre um 1970. Auf seiner Internet-Seite führt er im Vorfeld dieser Romanveröffentlichung an erster Stelle an, dass sich seine literarischen Anfänge Mitte der siebziger Jahre in der Literaturzeitschrift „das nachtcafé“ abgespielt haben.

O-Ton 18 Witzel: Was ja dort anfängt, ist eine Art Alternativkultur. Also es gibt diese Alternativpresse. Es gibt Verlage, alternative Buchläden, man hat tatsächlich versucht, eine Art Vertriebssystem, ein eigenes, aufzubauen, mit der Sova, vor allen Dingen natürlich

9 mit den alternativen Buchläden, die in jeder mittelgroßen bis großen Stadt damals dann entstanden.

Musik (Canned Heat, On the Road again)

Erzähler: Witzels Erstveröffentlichung im Juli 1976 in der Zeitschrift „das nachtcafé“ beginnt mit der Zeile „bevor deine lippen verkrusten“. Dieses literarische Periodikum aus Freiburg ist eine atmosphärisch höchst aufschlussreiche Quelle für die Alltagskultur der siebziger Jahre. Die Literatur kommt hier wirklich nicht mehr aus dem Elfenbeinturm, sie kommt von unten.

O-Ton 19 Heiner Egge: Ich bin ein Bauernsohn aus Dithmarschen, oben im Norden an der Westküste. Während meiner Bundeswehrzeit beschloss ich, Schriftsteller zu werden, (…) um erstens nicht so viel reden zu müssen und zweitens mir eine Welt zu schaffen, wie ich sie mir vorstellte.

Erzähler: Heiner Egge, der Gründer und Herausgeber des „nachtcafé“.

O-Ton 20 Egge: Und dafür musste ich aber weit weg gehen von zuhause. Ich hab zunächst in Kiel als Alibi Germanistik studiert, dann in Marburg und bin dann in Freiburg gelandet, um eigentlich mit dem Studium aufzuhören, weil das Reden über Literatur mich eher befangen gemacht hat. In Freiburg, ich wohnte in St. Georgen am Anfang, gibt’s die Kronenbrücke, das ist eine Brücke, die über die Dreisam führt. Und auf dieser Brücke stand im Winter 74/75 ein junger Mann, mit einem ganz langen ausgedienten Pelzmantel mit einem ebenso langen rötlichen Bart und langen Haaren und verkaufte dort seine Zettel. Das waren entweder Gedichte oder kurze Prosastücke. Und dieser Mensch war Jan H. Schulz. Ich hab ihm dann Zettel abgekauft und hab dann zu ihm gesagt: Ich schreibe übrigens auch! Und ohne diese Begegnung auf der Kronenbrücke hätte es dann dieses Heft gar nicht gegeben, denn dann haben wir eine Annonce aufgegeben in der „Badischen Zeitung“, dass wir Beiträge suchen für eine Literaturzeitschrift.

Musikakzent

O-Ton 21 Egge: Februar/März 1975, Nr. 1, kostete 2 Mark, und hier ist auch noch der Original- Linolschnitt vom allerersten Heft, den meine damalige Freundin und spätere Frau Graziella la Bernada gemacht hat, nach van Gogh.

Erzähler: Zunächst wird „das nachtcafé“ in der Freiburger Mensa verkauft. Der Rekord steht bei 923 verkauften Exemplaren an einem Tag.

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O-Ton 22 Egge: Das war das, was uns alle überrascht hat. Wir haben gedacht, wir machen mal eine Nummer, und dann haben wir ein bisschen Schulden gemacht, und das war’s dann vielleicht.

Musik (Canned Heat, On the Road again)

Erzähler: Heiner Egge bereist mit seinem Bauchladen als sein eigener und einziger Vertreter sämtliche alternativen Buchläden in der Republik. In Westberlin wird zeitweilig die Hälfte der gesamten Auflage verkauft. Neben Gedichten und Prosaskizzen gibt es häufig auch Schwerpunktthemen. Heft Nr. 14, mit dem Thema „Leben und Arbeiten auf dem Land“, ist binnen weniger Wochen vergriffen, mit mehr als 4000 Exemplaren. Doch neben solchen Aufregern sind nahezu unbemerkt Texte abgedruckt, die erst im Nachhinein als besondere entdeckt werden. Die spätere Büchnerpreisträgerin Brigitte Kronauer erlebt ihre ersten literarischen Veröffentlichungen im „nachtcafé“. Die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller hat im Sommer 1981, lange vor ihrem berühmten Prosa-Band „Niederungen“ im Rotbuch- Verlag, im „nachtcafé“ ihre erste Veröffentlichung in Deutschland überhaupt. Und auch Manfred Peter Hein, als erster Träger des Peter-Huchel-Preises 1983 als völlig Unbekannter gefeiert, ist bereits Jahre vorher im „nachtcafé“ ausführlich vorgestellt worden. Daneben gibt es jedoch viel Material aus dem allgemeinen Gefühlsleben, tagebuchartige Einträge, die jedes Mal sich auf neue Weise schwierig gestaltenden Beziehungen zwischen Mann und Frau spielen unübersehbar die Hauptrolle.

O-Ton 23 Egge: Jedes Heft fing ja an mit Leserbriefen. (…) Also Peter Nonnenmacher schrieb öfter, Frank Witzel hat auch sehr schöne Leserbriefe geschrieben, und Michael Buselmeier – das sind ja Leute, die nachher in der Literaturszene, Wunderhorn-Verlag in Heidelberg, die dann immer eine Rolle spielten.

Erzähler: Die Flut von Manuskripten, die das „nachtcafé“ von Anfang an erreicht, verblüfft alle.

O-Ton 24 Egge: Fast jeder Käufer war ja auch ein potenzieller Schreiber und fühlte sich ermutigt, dann auch was einzusenden. (…) Es gibt ja diese Ordner mit den Manuskripten, und die Antwortschreiben haben wir nachher ja aufgeteilt, und es gab ja Leute, die ganz harte Absagen schreiben konnten, also mir fällt da der Name Alfred Eckerle ein, (…) und ich glaub, er ist derjenige gewesen, der damals auch abgesagt hat, der danach, glaub ich, nie wieder was eingeschickt hat.

Erzähler: Der Absagebriefschreiber erinnert sich heute:

O-Ton 25 Eckerle: Mir ist dabei aufgefallen, dass wenn jemand Autor sein wollte, war er es automatisch, wenn er seine Gefühle ausgedrückt hat. Gefühle ausdrücken hieß Literatur zu

11 produzieren. Und wenn es um Einsamkeit ging oder um Liebeskummer, dann wurde daraus im Handumdrehen ein Gedicht gemacht und eingeschickt. (…) Aber dieser Ausweg: mir geht es schlecht, also möchte ich Dichter werden, das war für den, der das zu beurteilen hatte, schwierig.

Erzähler: Peter Handke sieht das mittlerweile ähnlich.

O-Ton 26 Peter Handke: Inzwischen gibt’s ja gar kein Problem mehr fürs Schreiben. Weil Schreiben ist ja – alles ist unproblematisch und beschissen. Jeder kann schreiben. Und ich bin auch schuld daran, zum Beispiel. Oder verantwortlich. Ich hab damals auch gesagt: Jeder kann schreiben! Völlig hirnrissig, was ich von mir gegeben hab! Weil ich gedacht hab: wenn so einer wie ich das kann – eine Art von Erfolg hat, dann können das ja alle haben! Und so ist es ja auch gekommen!

O-Ton 27 Egge: In diesen siebziger Jahren (…), was es da alles für Zeitschriften gab, mit denen wir direkt Kontakt hatten, es gab immer so Austauschabos (…). Da waren die Tübinger Texte, dann war da Univers aus Konstanz, dann gabs Saure Trauben aus Hamburg, Sprachlos in Augsburg, Litfass Berlin, die gabs ja auch noch länger (…), dann gabs ein Literarisches Arbeitsjournal aus Nürnberg, Boavista (…), Gießkanne gabs, Kaktus aus Münster, das Machwerk aus Siegen, in Basel gabs eine Zeitschrift, die hieß Nachtmaschine -

Musik (Canned Heat, On the Road again)

Erzähler: Wenn man die Ausgaben des „Nachtcafé“ heute durchblättert, ist es wie eine Wundertüte. Nicht nur, was aus der eher beiläufig in einer Rubrik mit rumäniendeutscher Literatur auftauchenden Herta Müller ein paar Jahrzehnte später werden wird, ist damals kaum zu ahnen.

O-Ton 28 Egge: Ja: Herta Müller, Dorfchronik. In der Dorfmitte steht die Kirche.

Erzähler: Bereits in Nr. 2 gibt es einen bemerkenswerten Einschlag aus der großen Literaturgeschichte. Der große Lyriker Peter Huchel aus der Mark Brandenburg lebt nach seiner jahrelangen Isolation in der DDR in seinen letzten Lebensjahren im Schwarzwald bei Freiburg, und der Nachtcaféautor Alfred Eckerle besucht ihn dort kurz vor seinem Tod.

O-Ton 29 Eckerle: Der Besuch bei Peter Huchel war für mich eine ganz große Geschichte (…). Weil man in Peter Huchel jemand sehen konnte, der wie ein römischer, aber gefallener Imperator ausgesehen hat. Und er stand in seinem Haus in Staufen im Wohnzimmer.

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Man schaute durch das Fenster mit Blick auf die Burg und er sagte zu uns: Sie leben in einem Paradies. Aber es ist nicht meines! Das hat mich sehr beeindruckt.

Erzähler: Die soziokulturellen und alternativbewegten Szenerien der siebziger Jahre bilden sich im „nachtcafé“ atmosphärisch unverwechselbar ab. Die Nr. 20 hat als Thema „Männer“, die Nr. 21 das Thema „Kinder“. Die Avantgarde für all diese Suchbewegungen bildet das frühe Frauenheft, die Nr. 13.

O-Ton 30 Egge: Das machte eine Berliner Frauengruppe (…), die haben dann ganz viel in Berlin verkauft, ich weiß noch Tina Hillebrand hieß die Dame, die sich dann total dafür engagiert hat -

Erzähler: Damit ist das „nachtcafé“ mittendrin. In dieser Zeit existieren in Westberlin schon mehrere Frauengruppen. Eine Frau aus diesem Umfeld hat kurz zuvor im Verlag „Frauenoffensive“ in München ein recht unscheinbar aussehendes Heftchen veröffentlicht, das in den folgenden Jahren die Verhaltensweisen zwischen jüngeren Männern und Frauen erheblich beeinflussen wird. Es heißt „Häutungen“, die Autorin ist Verena Stefan.

O-Ton 31 Verena Stefan, Rias: Es gibt eine Verbundenheit unter Frauen, in der Anteilnahme, Erotik, Aufrichtigkeit und Geborgenheit ineinander verwoben sind. Viele der Gefühle, die uns mit einem Mann meistens zum Verhängnis werden, sind gleichzeitig ein Vorrat, aus dem wir uns selber und einander gegenseitig stärken können. Frauen haben größere Reserven. Bei einem Mann setzt die menschliche Verkümmerung meistens so frühzeitig ein, dass er weitgehend jeden menschlichen Bezug verloren hat.

Musik (Janis Joplin, Cry Baby)

Erzähler: Das Kapitel, aus dem die Autorin hier liest, heißt „Ausnahmezustand“. Innerhalb weniger Jahre erzielt „Häutungen“ eine Auflage von 200 000 Exemplaren, obwohl der mit diesem Buch erst gegründete Verlag sich keine Werbemaßnahmen leisten kann. Die Autorin beschreibt zum ersten Mal eingehend, wie der Blick des Mannes den Körper der Frau definiert und was damit auch sprachlich ausgelöst wird. „Häutungen“ versucht, dem etwas Anderes, Weibliches entgegenzusetzen. Es wirkt zunächst wie eine sehr persönliche Geschichte, die Beschreibung der Beziehung zu einem Mann und die Konsequenzen daraus. Gelesen werden die Erfahrungen Verena Stefans allerdings sofort als eine Art Kollektivgeschichte. Der erste Satz lautet:

Zitatorin: Beim schreiben dieses buches, dessen inhalt hierzulande überfällig ist, bin ich wort um wort und begriff um begriff an der vorhandenen sprache angeeckt.

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Erzähler: Parallel zum Studium hat Verena Stefan die Frauengruppe „Brot und Rosen“ mitbegründet, die sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218, aber auch gegen die „Machos“ der 68er-Bewegung wendet. Im Lauf der siebziger Jahre entsteht dann ein ganz eigener Typus der „neuen Subjektivität“, nämlich der männliche „Softie“. Er verdankt sich der Breitenwirkung von Verena Stefans „Häutungen“. Wenn sich ein Student in den nächsten Jahren für eine Kommilitonin interessiert, kommt er nicht umhin, sich erst einmal positiv über die Lektüre von „Häutungen“ zu äußern, um eine Chance zu haben. Dass sich im neu aufkommenden „Softie“ nur eine zeitgemäße Variante des alten „Machos“ verbirgt, ahnt Verena Stefan allerdings bereits voraus.

O-Ton 32 Verena Stefan, Rias: Was tatsächlich passiert, ist, (…) dass wir erkannt haben, dass es so etwas wie eine Frauengeschichte gibt, die verschüttet worden ist. Dass also tatsächlich eine Geschichtsfälschung stattgefunden hat, dass wir nichts über unsere vergangene Geschichte wissen, die mit den Matriarchaten anfängt, und dass Frauen jetzt anfangen, systematisch ihre versunkene Geschichte wieder ins Bewusstsein zurückzubringen, was sehr wichtig ist für unsere Identifikation.

Musik (Janis Joplin, Cry Baby)

O-Ton 33 Irmgard Born: Ich hab Nicolas Born in Berlin kennengelernt. Mein Bruder ist Maler, und hatte eine Vernissage in der Galerie Natubs. Das war damals eine In-Kneipe mit Lesungen und Ausstellungen, und ich bin zu dieser Vernissage dort hingegangen. Und das war schon eine sehr fortgeschrittene Zeit, als Nicolas dort auch hinkam.

Erzähler: Irmgard Born, die Ehefrau des Dichters Nicolas Born, erinnert sich 35 Jahre später.

O-Ton 34 Irmgard Born Man machte damals so Kneipentouren, man ging von einer Kneipe zu anderen, und er kam da ziemlich spät in der Nacht dort an. Ich stand mit einigen Leuten an der Theke, und er kam auf mich zu und sagte: Du bist eine Frau, wie ich sie mir schon immer gewünscht habe! Ich wusste natürlich, dass er schon einiges getrunken hatte und fand das nur lustig. Wir sind anschließend noch in andere Kneipen gegangen und bis morgens um 7 unterwegs gewesen. Und ich musste aber schon um halb acht ins Krankenhaus, weil ich da schon als Assistenzärztin tätig war. Das hat ihn gekränkt, dass ich dann weg musste. (…) Ich glaube, nach drei oder vier Tagen hat er sich wieder gemeldet, und daraus ist dann doch eine Beziehung entstanden.

O-Ton 35: Nicolas Born, CD 1, Track 11 Drei Wünsche Sind Tatsachen nicht unbeweglich und langweilig? Ist es nicht besser drei Wünsche zu haben unter der Bedingung daß sie allen erfüllt werden? Ich wünsche ein Leben ohne große Pausen in denen die Wände nach Projektilen abgesucht werden ein Leben das nicht heruntergeblättert wird von Kassierern. 14

Ich wünsche Briefe zu schreiben in denen ich ganz enthalten bin, wie weit würde ich herumkommen ohne Gewichtsverlust. Ich wünsche ein Buch in das ihr alle vorn hineingehen und hinten herauskommen könnt. Und beinahe hätte ich vergessen daß es schöner ist dich zu lieben als dich nicht zu lieben

Musik (Velvet Underground, „Venus in Furs“)

Erzähler: Nicolas Born, geboren 1937, zählt seit dem Gedichtband „Das Auge des Entdeckers“ von 1972 zu den herausragenden Lyrikern der 70er Jahre. Von seinen literarischen Generationsgenossen unterscheidet ihn vor allem, dass er aus einer Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet stammt und den heute ausgestorbenen Beruf des Chemigrafen lernt. Er wächst in die 68er Bewegung zwar hinein und politisiert sich, hat aber auch immer einen erkennbaren Abstand zu den herrschenden Denkmodellen. Im Jahr 1968 schreibt er an einen Freund:

Zitator: Es ist wichtig, jedem linken Bürgerkind zunächst mal überhaupt nicht zu trauen.

Musik (Velvet Underground, Venus in Furs)

Erzähler: Born zur Seite steht der 1940 geborene . In einem Rundfunkgespräch der beiden aus dem Jahr 1970 wird klar, was sie miteinander verbindet.

O-Ton 36 Born/Brinkmann: -Nicolas, welche Leute, welche Dichter haben dich beeinflusst? - (…) zuerst eigentlich Benn. Das war derjenige, ich glaub von dem her die ersten Einflüsse auf mich kamen. (…) Damit fing auch mein eigenes Schreiben an. Und später waren’s Leute, na – französische Symbolisten, Apollinaire, und noch später Amerikaner, Ezra Pound, W.C. Williams, Creeley zum Teil, Olson – Charles Olson, dessen erste Gedichte ja in der Übersetzung erst vor drei Jahren vorlagen. Und das hat mich dann, diese offene Form, in der die Amerikaner eigentlich immer schon sich weiterentwickelt hatten, damit bin ich erst sehr spät bekanntgemacht worden. Das hat mich aber sofort so interessiert, das mir gefehlt bis dahin. Das war etwas wie plötzlich klarer Blick, diese durchlässige Form, die eben überhaupt möglich machte, alles, was an Material einen interessiert, zu verwenden. Auch, verschiedene Stilarten zu verwenden, verschiedene literarische Merkmale (…), Dialogformen, Dialogfetzen, Fragment usw.

Musik (Velvet Underground)

O-Ton 37 Born/Brinkmann: -Wie bist du eigentlich dazu gekommen, so ein langes Gedicht zu schreiben, Rolf Dieter Brinkmann? Gedichte sind doch kurz!

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-Ja, ich hab mir gesagt, dass es eigentlich Spaß machen müsste, ein langes Gedicht zu schreiben, ohne dass ich genau wusste, in welche Richtung sich ein längeres Gedicht bewegt. Ich hatte aber den Eindruck, so von den amerikanischen Gedichten her, dass längere Gedichte eine phantastische Möglichkeit sind, Lyrik oder das, was man unter Gedichten versteht und bisher verstanden hat, auszuweiten. Zu verändern. Indem man zum Beispiel in einem längeren Gedicht Bilder unterbringt. Oder Dialoge unterbringt. Oder Zitate unterbringt.

Musik (Velvet Underground)

Erzähler: Born und Brinkmann bringen einen Ton in die deutsche Lyrik, der bis dahin völlig unbekannt war – etwas Amerikanisches und Cooles. Der Rhythmus, die Alltagswahrnehmungen, die nüchtern aufgeladene Sprache sind durch und durch von den Beatlyrikern in New York und San Francisco beeinflusst.

O-Ton 38 Brinkmann, Track 14: Nach Shakespeare

Die Winterhand fällt ab und liegt im Garten, wo nun ein hölzernes Gerüst errichtet ist. Die dunklen Sommer fallen wie die Hand. Du frierst im Kopf. Der Herbst mit seinen toten Fischen auf dem

Grund der Flüsse ist wie die Bude mit der alten Frau, die sitzt und liest die Tageszeitung, bis jemand kommt und eine von den kalten Frikadellen kauft, die in der fettbespritzten Glasvitrine liegen. Der Passant zahlt, ißt, wirft den Knochen nach dem unsichtbaren Engel. Und Frühling kommt, verstreut die Autolichter durch blechernes Laub am Abend, der mit den hölzernen Gerüsten niedersinkt am Fluß.

Musik (Velvet Underground)

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Erzähler: Für Brinkmann und Born ist die Revolte Ende der sechziger Jahre vor allem mit kulturellen Strömungen verbunden, es ist eine Kulturrevolution, und in der veränderten Bundesrepublik der siebziger Jahre drücken sie mit ihren Gedichten das neue Zeitgefühl aus. Sie arbeiten mit Signalen der Popkultur, mit Trash, Anspielungen auf Filme und Songtexte. Brinkmann benutzt Montage- und Collagetechniken und ist damit seiner Zeit weit voraus.

O-Ton 39 Brinkmann: Bilder faszinieren mich oft mehr als die Vorgänge selber, weil sie viel reichhaltiger sind als der Vorgang, der sich unmittelbar vor einem abspielt. Und zwar deswegen, weil die Aktion, die man unmittelbar vor sich hat, wird immer von einem selber funktional gesehen: „Das springt für mich dabei heraus“ oder „das kommt jetzt dabei heraus“ oder „das wird sich dorthin entwickeln“ oder „wie muss ich mich verhalten“ oder so etwas. Der persönliche Wirrwarr ist in den Illustriertenbildern zum Stillstand gekommen, und die persönlichen wirren Bewegungen und der Versuch, durch eine Aktion hindurchzuschauen, der wird einfach auf einem Illustriertenfoto angehalten. Und ich glaube, dass man durch diese Methode, nämlich Bilder einzufügen in literarische Texte, die man jetzt erst zu entdecken beginnt, dass die tatsächlich die Literatur auch verändern werden.

Musik (Velvet Underground)

Erzähler: Der „persönliche Wirrwarr“, von dem Rolf Dieter Brinkmann hier spricht, ist das zentrale Thema der siebziger Jahre. Und jeder versucht auf seine Weise, damit umzugehen. Brinkmann setzt der Innerlichkeit eine offensive Cut-Up-Methode entgegen, mit verschiedenen Techniken und Musiken. Nicolas Born geht das persönliche Wirrwarr direkt an, er hat den beeindruckendsten, zerrissensten, tiefgehendsten und ratlosesten Roman dieser Jahre veröffentlicht – unter dem Titel „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“ im Jahr 1976. Die Hauptfigur ist ein Schriftsteller. Er durchläuft eine Entwicklung mit psychischen Klippen und Abgründen, abrupten Auf- und Abschwüngen, wie wenn die plötzlich und schlagartig freigesetzte Subjektivität sich auch gegen einen selbst wendet.

Zitator: Ebenso waren die Schaufensterpuppen nur schwach beleuchtet zu ihrer Sicherheit: wie wirkliche, wirklich gewordene Gespenster hielten sie inne in ihrem Leben, in einer Phase der Bewegung, ihres Gehens, ihrer unheimlich verbindlichen Abwesenheit. Gleichzeitig schienen sie aber wirklicher und fassbarer zu sein als ihre Kopien die sich an den Fassaden entlangdrückten, um Häuserecken gingen und sich und allen auf die Verlassenheit verschwiegen. Es war mir ein elender Gedanke dazuzugehören.

Musik (Velvet Underground)

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O-Ton 40 Born, SDR: Ich hab die Phase erfahren des Einbringens der eigenen Subjektivität, der eigenen Wünsche, wie man so sagt schlagwortartig, Sehnsüchte und Probleme und Konflikte in die Gemeinschaft. Ich hab gesehen eine Art von Veröffentlichungswahn und Öffentlichkeitswahn auch darin. Immer gekoppelt mit Emanzipationsbestrebungen, mit politischen Mündigkeitsbestrebungen, des Mündigwerdens, fortschrittliche Aufklärung, Politisierung. Immer damit gekoppelt. Und hab gesehen, dass am Ende tatsächlich Hülsen zurückblieben. Leute, die kein Verhalten mehr hatten, die nur einen Katalog von politischen, von soziologischen Begriffen abspulten konnten dann, wenn man ihnen begegnete. Und das war, fand ich, in einigen Fällen fürchterlich schade, da ich diese Menschen schon vorher gekannt hatte. Dann bemerkt man ja eigentlich in voller Schärfe. Und ich dachte, das war meine Reaktion, man kann auch sagen, dass die Reaktionen in den Romanfiguren, vor allem bei dem Ich-Erzähler ziemlich deutlich werden.

Musik (Velvet Underground)

Erzähler: Der Roman taucht vor allem ins Innenleben seiner Hauptfigur, des Schriftstellers und Ich-Erzählers ein. Es gibt eine beziehungslose Beziehung zu Maria, es gibt eine beziehungslose Freundschaft zu einem Kollegen namens Lasski, es gibt eine beziehungslose Verbindung zu der Tochter Ursel und der früheren Frau Erika, die ihn durch ihre Alltagstauglichkeit demütigt. Es ist vor allem die schonungslose Sprache, die schonungslose Selbst-Sezierung des Ich-Erzählers, die auf charakteristische Weise identifikationsstiftend wirkt. „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“, dieser poetisch-spröde, suggestive Roman wird ein enormer Erfolg. Der Grund dafür ist vor allem, wie das Verhältnis zwischen politischer Utopie und subjektivem Scheitern geschildert wird. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki erklärt Borns Buch zum Paradebeispiel einer „Neuen Subjektivität“.

O-Ton 41 Born, SDR: „Flucht vor dem Individualgespenst und Flucht vor dem Kollektivgespenst“ stand bei mir. Und bei Reich-Ranicki hieß es nur „Flucht vor dem Kollektivgespenst“! Das ist der Unterschied!

Musik (Rolling Stones: Street fighting man)

Zitator: Ich wich mit denen zurück, zwischen denen ich eingekeilt war. Die erste Reihe an der Absperrung knüppelte darüber hin. Eine auseinandergekeilte Woge von Körpern, die Arme über die Köpfe gekreuzt. Jeder Satz, jeder Zuruf war zu lang. Es gab nichts Ganzes mehr. Bärte rutschten durch Gesichter, Schultern flogen gegen Ohren. Ein Schlägertrupp setzte über die Absperrung in eine dünn gewordene Stelle. Jetzt dachte ich schon wieder an ein Ballett. Ein Knüppel traf mich am Arm, und da habe ich die Stelle an meinem Arm genau betrachtet. Es tat nicht weh, und ich sah da auch nichts. Aber ich merkte, dass hier immer nur ein einzelner erstaunt war, irgendwie getroffen zu werden, vielleicht auch darüber, dass es ihn als einzelnen immer noch gab.

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Musik (Rolling Stones: Street fighting man)

O-Ton 42 Born/Brinkmann: -Nicolas Born, wie schreibst du ein Gedicht? Unter welchen Umständen? Hörst du Schallplatten dabei? Guckst du aus dem Fenster? Rauchst du? Bereitest du dich darauf vor, ein Gedicht zu schreiben? Wann schreibst du gewöhnlich? Erzähl einmal etwas darüber! - Ich rauche! - Du rauchst? - Ich rauche!

Musik: Velvet Underground, Pale Blue Eyes.

O-Ton 43 Handke: Was ist die Schrift für einen Menschen? Was ist das? Was sind die Wörter? Was ist sie noch wert, die Literatur? Kann sie überhaupt noch etwas sein? Kann die noch einen Ort geben?

Musik

O-Ton 44 Born SDR: Das Subjekt zu retten, einfach dieser Wunsch, das eigene Ich, das Subjekt zu retten, die unteilbaren eigenen Reserven zu retten vor dem Zugriff der Öffentlichkeit und sogenannten menschlichen Gemeinschaft, das ist schon darin so ein Impetus.

Musik (Velvet Underground)

O-Ton 45 Brinkmann: Aber du wirst doch durch den Alkoholrausch in einen anderen Zustand versetzt! In eine andere Körperempfindlichkeit versetzt! Kannst du etwas darüber sagen?

Musik (Velvet Underground)

O-Ton 46 Verena Stefan: Wo mir auch klargeworden ist, dass Sexualität und Zweisamkeit und die ganzen Werte, die damit verbunden sind, Sicherheit, Geborgenheit, nicht allein sein, dass das so etwas wie eine Droge ist.

Musik (Velvet Underground)

O-Ton 47 Eckerle: Schneeregen. Schneeregen, sagst du. Aber das ist nicht das, was ich meine.

Musik (Velvet Underground)

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O-Ton 48 Handke: Es ist nichts vergessen. Man sagt immer, es ist was vergessen, aber gute Prosa wird nie vergessen.

Musik (Velvet Underground)

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