Fritz Mauthner Der Neue Ahasver
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Fritz Mauthner Der neue Ahasver Ein Roman aus Jung-Berlin 1. KAPITEL Der Eisenbahnzug kam über die Moldaubrücke da- her. Schon rafften die Reisenden ihr Handgepäck zu- sammen, da hielt der Zug plötzlich, kaum eine Minute vor der Einfahrt in den Bahnhof des alten Prag. Die vier Insassen eines Coupés zweiter Klasse kamen in Bewe- gung. »Es geschieht gewiß ein Unglück,« rief in harter böh- mischer Aussprache ein kahlköpfiger alter Herr. »Das beste ist, wir öffnen die Tür und springen hinaus.« Sein Gegenüber gab sich Mühe, den ängstlichen Mann zu beruhigen. Die Bahnverwaltung wäre in die- sen Tagen außerordentlich vorsichtig. Unaufhörlich gingen große Züge mit Soldaten und Kriegsbedarf nach dem Norden, und da müßte man froh sein, wenn die Privatleute überhaupt noch befördert würden. Der — 2 — Krieg wäre kein Spaß. Und wenn in dem bevorste- henden Kriege niemanden ein größeres Unglück trä- fe, als einige Minuten zu spät am Ziele anzukommen, so könnten Preußen und Österreicher leichteren Mutes ins Feld rücken. In diesem Augenblicke nahte vom Bahnhof wieder ein Militärzug, wie deren heute so viele vorüberge- flogen waren. Gleich hinter der Lokomotive hatte in einem Lastwagen die Musikbande Platz genommen und wiederholte eben zum fünften Mal den letzten Vers des »Gott erhalte«. In unabsehbarer Reihe folgten Wagen aller Gattungen und aller Klassen, gefüllt mit schreienden, singenden, lärmenden Soldaten. Trotz- dem nur zwei Regimenter vertreten waren, hörte man doch fast alle Sprachen der Monarchie durcheinan- der tönen. Niemand sang das Lied mit, welches die Instrumente vorn aufspielten; aus dem einen Wagen erklang ein recht wehmütiges slowakisches Volkslied, aus dem anderen surrte und knatterte, von hübschen Stimmen vorgetragen, ein italienischer Gassenhauer, dazwischen wetterten polnische und ungarische Flü- che, und aus einem überfüllten Coupé dritter Klasse erklang gar zu den Tönen einer böhmischen Ziehhar- monika die Weise »Es ist bestimmt in Gottes Rat« – das- selbe Lied, welches in diesem Augenblick, wer weiß wo überall, bei Freund und Feind, von deutschen Mäd- chenlippen emportönte zum graublauen Junihimmel hinauf. — 3 — Als der schwere Militärtrain unter furchtbarem Pru- sten langsam bis an den haltenden Personenzug her- angekommen war, standen auch alle Passagiere an den Fenstern und winkten und riefen und jauchzten den Soldaten zu. Diese erwiderten die Begrüßung mit ei- nem tollen Geschrei, riefen den Damen unter frechen Blicken und Gesten unverständliche Dinge ins Gesicht, und auch die Offiziere schienen von dem allgemeinen Rausche miterfaßt. Selbst der alte Herr hatte plötzlich seine Angst wie- der vergessen. Während sein Nachbar sich begnügte, durch eine grüßende Handbewegung an der Huldi- gung für die Truppen teilzunehmen, hatte der vorhin so Ängstliche seinen Kahlkopf weit herausgestreckt. Er schwang mit der Linken sein geblümtes Taschentuch, hielt in der Rechten die gefüllte Zigarrentasche hin und brüllte aus offenem Halse bald ein deutsches »Hurra«, bald ein tschechisches »Slawa«. Plötzlich zog er ent- setzt den Kopf wieder herein. Aus einem der letzten Wagen hatten sich ein paar Hände vorgestreckt, das Taschentuch war ihm entrissen, die Zigarrentasche zu Boden geschleudert worden. Aber schon waren die Sol- daten vorbei, ein greller Pfiff ertönte, der Personenzug fuhr langsam weiter. Der Kahlkopf sank ärgerlich in das Kissen zurück. »Verfluchte Kerls, habe ich ihnen doch nur gewollt zeigen, daß ich möchte geben Zigarren, wenn möglich wär. Schadet nix, wenn nur die Preußen verlieren.« — 4 — Und er warf einen bösen Blick in die entgegengesetz- te Ecke hinüber, wo ein hübsch gewachsener, gut ge- kleideter junger Mann scheinbar teilnahmslos da saß und seine Augen nur liebevoll über die Moldau und die herrliche Höhe des Hradschin schweifen ließ. Es lag etwas in seinen offenen Zügen, seiner männlichen Haltung, seinen klugen und träumerischen Augen, was seine Reisegenossen wohl veranlassen mußte, ihn für einen Norddeutschen zu halten. Der junge Mann hatte das ganze lärmende Schau- spiel nicht unbeachtet gelassen, aber sein Gesicht zeig- te einen Zug von Trauer, ja von Bitterkeit, als die wil- den Rufe ertönten. Ihm waren diese Uniformen, diese Lieder, diese Rufe vertraut, aber dennoch vermochte er nicht, seine Ecke zu verlassen und sich an dem kriegslustigen Auftritt zu beteiligen. Hier in dem ehrwürdigen hunderttürmigen Prag war er geboren, hier hatte er sprechen und fühlen gelernt, hier in Böhmen kannte er die Wellenlinien jedes Ge- birges, die Farbe und den Wellenschlag jedes Flusses. Aber draußen im Reiche, in Leipzig, hatte er seine Stu- dien vollendet und eben gestern erst das alte Symbol des Doktorhutes erworben. Draußen im Reich hatte er hinter dem Biertisch gesessen, Ellenbogen an Ellenbo- gen mit guten Freunden aus Schwaben, aus der Mark und aus Westfalen, hatte mit ihnen um die Wette im — 5 — Liede nach der Größe des deutschen Vaterlandes ge- fragt, hatte außer seinen medizinischen Kollegien noch manche Vorlesungen gehört, in welchen begeisterte Lehrer in kühnen Worten die Zukunft Deutschlands un- ter preußischer Führung priesen. Auf welcher Seite stand er nun hier mit seinem Her- zen? Wenn es sich nur, wie bei einer kindischen Raufe- rei, um die Gefahr und um die Ehre des Sieges gehan- delt hätte, so wäre er gern mit dem niederösterreichi- schen Regimente marschiert, bei welchem einige sei- ner alten Schulkameraden standen. Aber es handelte sich um die Zukunft des großen Deutschlands – mußte das Vaterland nicht auch im Ernste und in der Prosa größer sein? Freilich, was lag dem stolzen Deutschland an dem dreiundzwanzigjährigen Heinrich Wolff, den man erst seit vierundzwanzig Stunden Doktor Heinrich Wolff nannte? Wenn aber das Vaterland ihn entbehren konn- te, er konnte des Vaterlandes nicht entraten, und des- halb war es ihm, als ginge die Grenzlinie, welche man jetzt zwischen Österreich und Deutschland aufrichten wollte, mitten durch sein junges Herz. Der Zug war in die Halle eingefahren. Heinrich übergab sein Gepäck einem Dienstmann, der unter- würfig die Sachen in Empfang nahm. Heinrich nannte als Adresse ein Haus in der Zaikerlgasse und bemerk- te nicht das enttäuschte, verächtliche Gesicht, das der — 6 — Dienstmann dazu schnitt. Der Neuangekommene woll- te zu Fuß und allein durch die Stadt wandern, die er seit nun sieben Jahren nicht gesehen hatte. Verändert hatte sich da freilich nicht viel. Links schloß die mächtige Bastei die Straße ab. Oben wan- delten bereits geputzte Spaziergänger hin und her. Auch auf dem Wege war der schöne Sonntagmorgen nicht zu verkennen. Alle Läden waren geschlossen, und von den entfernten Kirchen klangen die Glocken mehr freundlich als feierlich herüber. Von allen Seiten ström- ten festlich gekleidete Frauen, das Gebetbuch in der Hand, der Altstadt zu, wo die meisten und die ältesten Kirchen die Beter lockten. Heinrich setzte seinen Weg fort und schlenderte un- ter all diesen Kirchgängerinnen und ihren verliebten oder mürrischen Begleitern selbst wie ein Spaziergän- ger mit dahin. Vor dem grauen halbverwitterten Pulverturm teil- te sich der Menschenstrom. Viele traten gleich rechts in die nächste Kirche, die Mehrzahl aber wandte sich links nach dem »Graben«, um ein Stündchen vor der Messe oder gar anstatt des Kirchgangs zu lustwandeln. Lächelnd blieb Heinrich Wolff stehen und blickte die breite schöne Straße hinab. Dort, nicht weit von dem großen Gasthof, stand ja das Klostergebäude der Her- ren Piaristen, bei denen er in die hohen Kenntnisse des Unter-Gymnasiums eingeführt worden. So wie damals gingen die Leute noch heute auf dem »Corso Prags« — 7 — spazieren. Vor sieben Jahren war ihm hier fast kein Gesicht fremd gewesen. Heute würde er niemand wie- dererkennen, und doch war der Anblick derselbe wie damals. So hatte er schon vom Viadukt aus den Fluß bewundert; es war dasselbe Bild wie einst und doch kein Wassertropfen der alte. Munter schritt Heinrich unter den schwarzgrauen Spitzbogen des Pulverturms weiter; er betrat die selt- sam gekrümmte, von alten, dunklen, stark profilier- ten Häusern eingefaßte Zeltnergasse, in welcher die geputzten Menschen im Gedränge herauf- und herun- terzogen, während aus den zahlreichen Durchhäusern immer wieder neue Menschenströme sich ergossen. Bei dem letzten dieser Durchhäuser, einem weit- läufigen Gebäude, dessen Höfe und Flure die Verbin- dung zweier Parallelstraßen herstellten, mußte Hein- rich doch stehenbleiben. Drüben lag der kleine Platz, an welchem das Haus seiner Eltern gestanden hatte. Dort war er geboren, dort hatte er auf der Straße mit dem Kreisel gespielt, hatte die ersten Schläge bekom- men, an die er sich erinnern konnte; dort hatte er froh und unbewußt bis in sein sechzehntes Jahr gelebt, hat- te nichts von der weiten Welt gekannt als seine Eltern, seinen uralten Großvater aus der Zaikerlgasse, seine Lehrer und seine Bücher – ja, noch jemand hatte er dort gekannt: den guten Onkel Kolliner und die klei- ne Tina, mit der er fortwährend in Zank gelebt und — 8 — für die er hundert kleine Wege gemacht hatte. Wahr- scheinlich war das seine erste Liebe gewesen. Sie war aber schwerlich von der rechten Art, denn Heinrich lä- chelte beinahe spöttisch bei der Erinnerung. Mächtig zog es den jungen Mann, das Haus seiner Eltern wiederzusehen. Seit jenen furchtbaren Wochen, in denen fast alle Leute im Hause an der Seuche er- krankten und starben, bis schließlich auch seine Mut- ter und dann sein Vater sich krank niederlegten – bis man ihn eines Morgens plötzlich trotz seinem Weinen und Bitten zum Großvater in die Zaikerlgasse brach- te, ihn