Die Politische Meinung Respekt! Wertschätzung als gesellschaftlicher Faktor nr. 562, Mai/Juni 2020 Die Politische Meinung Die Kunst des „Miteinandersprechens“ öffentlicher Kommunikation; Susanne Voigt-Zimmermann,Judith Pietschmann, Zum Vereinnahmung Problem Alexander der als Identitätsmaschine; Deeg, in Kerstin Altmeyer, Martin Corona; und Maria Pahl, Zwischen Coolness Internet Das 9 €, Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de 9 0032-3446, ISSN Nr.€, 65. 2020, Mai/Juni Jahrgang, 562, ERInnERt DIalOG KOMMEntIERt IntERVIEW ZUM SChWERPUnKt die Neubegründung von Vertrauendie Neubegründung Gesprächs direkten des die und Bedeutung nach Anerkennungnach Wertschätzung als gesellschaftlicher Faktor gesellschaftlicher als Wertschätzung RESPEKT ! RESPEKT Ex-DDR-Punk Reitel Stracke mit Axel Bernd im Gespräch Hermann Gröhe, Mit klarem Kompass Gröhe, ins OffHermann Jahre75 CDU ene. Michael Kretschmer über Bürgernähe in der Coronakrise, Musa Deli, Über das Verlangen das Über Deli, Musa türkischer Migranten Christian Bermes, Wertschätzung als Wert; Wertschätzung als Wert; Christian Bermes, Editorial

Bernd Löhmann, Chefredakteur

Surreale Corona-Zeiten lassen den Respekt für den anderen zu einer fixierbaren Größe werden: ein Meter fünfzig Mindestabstand! Im gesellschaftlichen Nor- malbetrieb ist Respekt aber eine inkommensurable Erfahrung des Zusammen- lebens. Fest steht nur, dass ihre Relevanz ansteigt, je mehr sie vermisst wird. Alarmierende Mangel- und Bedarfsanzeigen gingen bereits vor dem „Lockdown“ ein: Beispielsweise wurde ein erfolgreicher Unternehmer für seine Rolle als Fußballsponsor unflätig beschimpft. Bundespräsident Frank- Walter Steinmeier reagierte auf wiederholte Vorfälle aggressiven Politiker­ bashings fast emotional: Er sei „die tägliche Verächtlichmachung von demo- kratischen Institutionen und ihrer Repräsentanten leid“. Bei Ausbruch der Pandemie traten andere Anerkennungsdefizite ins Bewusstsein. Krankenschwestern und Altenpfleger, Paketboten oder Verkäufe- rinnen wurden mit Balkon-Ovationen bedacht – freundliche Unterstützungs­ signale an diejenigen, die „das Land am Laufen halten“, über deren grund­ legenden Beitrag die vorcoronaische Normalität aber hinweggesehen hatte. In ihrer „Ethik der Wertschätzung“ fordert die französische Philoso- phin Corine Pelluchon „Aufmerksamkeitsanstrengungen“ und arbeitet ­heraus: „Das Verhältnis zu den anderen verläuft über das Verhältnis zu sich selbst.“ Wenn das Zu- und Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gesellschaft durch Erfahrungen von Missachtung, vom Lastwagenfahrer bis hin zum Software­ milliardär, schwindet, ist also Selbstreflexion – Pelluchon nennt es „Demut“ – der erste Schritt zu einer verbesserten wechselseitigen Wahrnehmung. Der demokratische politische Raum, insbesondere die Volksparteien und ihr Umfeld, ist besonders zu neuen „Aufmerksamkeitsanstrengungen“ aufgerufen. Schließlich wird er doppelt infrage gestellt: durch die Erosion des Vertrauens unter Wählerinnen und Wählern, die zweifeln, ob sie noch gehört Das Team der Zentralen Notaufnahme, Klinikum Heidenheim (Baden-Württemberg), bei der Aktion werden und ihre Stimme zählt; und durch Demagogen, die ihr Geschäfts­ „Wir bleiben für euch da – bleibt ihr für uns zu Hause“ im März 2020. modell auf diese gravierenden Verhältnisstörungen gründen und sie zu einem Foto: © Klinikum Heidenheim unüberbrückbaren Gegensatz zwischen „vergessenen“ Menschen und einem abgehobenen Establishment verabsolutieren. Die Pandemie hat Deutschland zeitweise in eine überdimensionale Isolierstation verwandelt. Wenn das neben der medizinischen Notwendigkeit etwas Gutes hatte, dann vielleicht die Erfahrung fehlenden Austauschs und Zusammenseins. Die „neue Normalität“ mit und nach Corona, von der zur- zeit viel die Rede ist, könnte sie sich zunutze machen: Respekt ist etwas ande- res als isoliertes Selbstbewusstsein, er ist ein dialogischer Wert.

1 Inhalt

1 EDITORIAL 44 WIR ALLE!? Kommentiert Erinnert Alexander Deeg SCHWERPUNKT Zum Problem der Vereinnahmung 33 GEKOMMEN, UM ZU GEHEN? 112 MIT KLAREM KOMPASS in öffentlicher Kommunikation Musa Deli INS OFFENE Respekt! Wert­ Das Verlangen türkischer Migranten nach Hermann Gröhe 49 DIE KUNST DES Anerkennung Kurshalten und Erneuern als Auftrag schätzung als „MITEINANDERSPRECHENS“ einer Volkspartei gesellschaftlicher Susanne Voigt-Zimmermann, 62 UNMUT UND UTOPIE Judith Pietschmann Juliane Stückrad Faktor Eine sprechwissenschaftliche Perspektive Ethnographische Betrachtungen in Gelesen ländlichen Räumen Ostdeutschlands 107 TRADITIONSBRUCH 16 WEDER RHETORIK NOCH 58 „POLITIK DER WÜRDE“ Thomas Meyer WELLNESS Joachim Söder Neue Erkenntnisse über Hannah Arendts Christian Bermes Wie Institutionen sittlich handeln Analyse Denken Wertschätzung als Wert 90 DER FALL THÜRINGEN 66 INTERVIEW: Bernhard Vogel 123 EINE SONNTAGSPREDIGT 24 ZWISCHEN COOLNESS AUENLAND UND Tom Mannewitz UND CORONA GRAUENLAND Ein Rückblick Kulturpessimismus ist keine Antwort Kerstin Maria Pahl Der Psychologe Stephan Grünewald auf den Rechtspopulismus Von politischen Gefühlen und über mangelnde Wertschätzung und Impulse Gefühllosigkeiten die Aufgewühltheit der Deutschen 93 aUF DEN KOPF GESTELLT Würdigung 28 ICH WERDE GESEHEN, 72 DIE FORTSCHRITTSFALLE Hardy Ostry, Ludger Bruckwilder ALSO BIN ICH! Christoph Raedel Die Coronakrise und die deutsche 118 VERLEBENDIGTE Martin Altmeyer Zur Moralisierung gesellschafts­ EU-Ratspräsidentschaft GESCHICHTE Das Internet als Identitätsmaschine politischer Debatten Michael Braun Literaturpreis der Konrad-Adenauer- 38 INTERVIEW: 79 VERFÜHRUNG UND Dialog Stiftung 2020 für Hans Pleschinski SAGEN, WAS GEHT UND WERTSCHÄTZUNG 98 KANARIENVÖGEL IM WAS NICHT GEHT Uwe Backes SPATZENHAUS Michael Kretschmer über Bürgernähe Herausforderungen durch „neu-rechte“ 126 aUS DER STIFTUNG Ex-DDR-Punk Bernd Stracke im in der Coronakrise, die Neubegründung Modernisierer Gespräch mit Axel Reitel von Vertrauen und die Bedeutung des 128 FUNDSTÜCK direkten Gesprächs 84 VERWANDT? Niels Penke Das Populäre und der Populismus

2 Die Politische Meinung 3 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Respekt! — Entwichtigt und verwichtet? Wertschätzung als Der britische Street-Art-Künstler Slinkachu steht in der Tradition von Jonathan Swift. Schon dessen satirisches Werk „Gullivers Reisen“ entlarvte Verhältnisstörungen zwischen Groß und Klein. gesellschaftlicher­ Faktor Fast 300 Jahre später bringen Slinkachus Inszenierungen die Relationen wieder parodistisch ins Schwimmen. Seine „Lilliputians“ werden auf heutigen Straßen buchstäblich übersehen. Sind sie die viel diskutierten „forgotten people“, ohnmächtige Menschen, denen die Welt viel zu groß und zu komplex geworden ist? Oder stellt die hanebüchene Überziehung des ­Unwichtig-Erscheinens in einer originellen Verkehrung das genaue Gegenteil dar? Slinkachus Winzlinge haben ganz schön zu kämpfen, aber demütig oder ­resignierend wirken sie nicht. Mit überlegener Moral und besitzergreifender ­Fürsorge muss man ihnen wohl nicht kommen.

© Slinkachu

4 Die Politische Meinung 5 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang

Schwerpunkt

eine Idee von Wertschätzung tendiert zur Verwaltung anonymer Gruppenin- teressen, Wertschätzung ohne die Wirklichkeit von Politik verkennt die Manipulations­anfälligkeit kollektiver Identität. Beide Entwicklungen sind in der Gegenwart nicht zu übersehen. Freilich ist Wertschätzung ein komplexes Phänomen. In der europäi- schen Geistes- und Kulturgeschichte lassen sich mindestens drei Wurzeln für den Bedeutungshorizont von Wertschätzung anführen: In der griechischen Antike wird sie als eine Tugend des Umgangs und des Zusammenlebens zum Thema, in der jüdisch-christlichen Tradition ist es die Nächstenliebe, die eine zentrale Rolle spielt, und in der Aufklärung beziehungsweise im Deutschen Idealismus tritt der Schlüsselbegriff der Anerkennung in den Vordergrund. Aristoteles beschreibt beispielsweise eine Tugend, für die es im Grie- chischen kein Wort gibt, die zwischen Gefallsucht auf der einen und der Eigensinnigkeit sowie Streitsucht auf der anderen Seite angesiedelt ist. Diese Tugend hat „keinen Namen bekommen, gleicht jedoch am meisten der Gesin- nung, die den Verkehr unter Freunden bestimmt“. Wer, so führt Aristoteles weiter aus, diese Tugend besitzt, „nimmt jegliches gebührend auf, nicht weil Weder Rhetorik er liebt oder hasst, sondern weil es so in seinem Wesen liegt“ (Aristoteles 1985, 93/1126b). Die zentrale Stellung der Nächstenliebe in der christlichen Tradi- tion kommt im Doppelgebot der Liebe zum Ausdruck, das heißt in der Liebe noch Wellness zu Gott, die verschränkt ist mit der Liebe zum Nächsten. „Es ist kein anderes Gebot größer als diese“ (Mk 12,29 ff.). Die klassisch gewordenen Theorien zur Anerkennung im Deutschen Idealismus kulminieren in Hegels Über­legungen Wertschätzung als Wert zu Herrschaft und Knechtschaft, die bezeichnenderweise mit dem Satz be­- ginnen: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes“ (Hegel 1988, S. 127). Als zentraler Bestandteil der Beschreibung und Bewertung sozia­ ler Integrität ist Wertschätzung tief in der kulturellen Reflexion verankert.

CHRISTIAN BERMES DIE FLOSKEL „AUF AUGENHÖHE“ Geboren 1968 in Trier, Professor Die aktuelle Situation, die durch die Corona- für Philosophie und Leiter des Pandemie ausgelöst wurde, stellt Politik und Instituts für Philosophie, Universität Gesellschaft national und international vor Wertschätzung, so könnte man allerdings heute meinen, hat etwas mit Koblenz-Landau (Campus Landau). große Herausforderungen. Gerade in dieser Höhenregulierung zu tun. Eine der beliebtesten und gleichzeitig vieldeutig Zeit wird Wertschätzung wieder zu einem be- nichtssagenden Floskeln der Gegenwart ist die „Augenhöhe“. Es komme sonderen Thema: gegenüber bestimmten Berufsgruppen oder als Solidarität ­darauf an, „auf Augenhöhe“ zu verhandeln oder „Augenhöhe herzustellen“, untereinander. Wertschätzung zeigt sich in Zeiten der Krise besonders deut- um miteinander in einen Dialog treten zu können. Abgesehen davon, dass die lich. Zu ihr wird aufgerufen, sie wird eingefordert, vielleicht wird sie auch an explizite Forderung nach Augenhöhe in einer realen Auseinandersetzung manchen Stellen instrumentalisiert. Es stellt sich daher umso mehr die Frage, nichts anderes bedeutet, als die eingeforderte Höhe im Augenblick der Forde- was unter Wertschätzung verstanden werden kann und welche Rolle sie im rung faktisch zu verlieren und ins Bodenlose zu sinken, ist das Bild schräg, politischen Handeln spielt. zumindest dann, wenn es mit Wertschätzung in Verbindung gebracht wird. Wird Wertschätzung zum Thema, dann rückt die Verbindung zwi- Denn offenkundig stellen sich anschließend einige Fragen: Hat Wertschät- schen Menschen und damit die soziale Ordnung in den Fokus. Politik ohne zung etwas damit zu tun, Unterschiede einzuebnen? Benötigt man überhaupt

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noch Wertschätzung, wenn es keine Differenzen mehr gibt? Und ist Wert- ­Politik und politisches Handeln von Bedeutung. Politisches Handeln richtet schätzung nicht gerade eine Umgangsform unter Menschen, in der Unter- sich üblicherweise auf die Bedingungen, unter denen ein gesellschaftliches schiede zugelassen werden, weil sie in einem gewissen – und sicherlich zu klä- Leben geführt werden kann. Politik beschäftigt sich mit Strukturen, die das renden – Sinne für die Wertschätzung keine Rolle spielen? soziale Leben organisieren. Und ein nicht unwesentlicher Teil politischer Wertschätzung ist nicht nur Teil der modernen Rhetorik des Verhand- Arbeit besteht darin, widerstreitende Interessen auszugleichen. Dabei kann lungsmanagements; die Suche nach Wertschätzung begegnet auch in der Rat- sich die Tendenz verfestigen, dass Strukturen, Organisationen und Gruppen­ geberliteratur, die als psychologische Dauerkommentierung das moderne identitäten den Blick auf die Personen, um die es letztlich geht, verstellen. menschliche Leben begleitet – und die, was durchaus pathologische Züge Wertschätzung bewahrt vor diesem toten Winkel politischen Handelns, sie annehmen kann, es okkupiert und gelegentlich auch an die Stelle dieses kann den Blick lenken von den Strukturen, in denen Menschen ihr Leben Lebens tritt. Das Begriffsfeld ist weit – es reicht von der „Achtung“ über die „haben“, zu einem Leben, das Menschen „führen“, und schenkt dieser „Anerkennung“ bis hin zum „Respekt“. Auch wird man auf „Sympathie“, Lebensführung eine besondere Beachtung, ohne diese Lebensführung aller- „Empathie“ und „Achtsamkeit“ stoßen, wenn von Wertschätzung die Rede dings dirigieren oder manipulieren zu wollen. ist. Angesprochen sind damit nicht nur veritable Charakterauszeichnungen, sondern auch Beziehungsqualitäten zwischen Menschen. Jede einzelne ist DER FUCHS UND DIE TRAUBEN von großer Bedeutung für das menschliche Leben, sie erscheinen in der modernen Rat­geber­literatur jedoch nur allzu häufig als ein Wellness­angebot für medial gestresste Seelen oder als Sahnehäubchen für ein Leben, das sonst, Wertschätzung entfaltet sich im Umgang untereinander und wirkt in diesem ohne Wertschätzung, immer noch recht gut „funktioniert“. Umgang. Um zu verstehen, was Wertschätzung im Einzelnen bedeutet, liegt Doch Wertschätzung ist zu wichtig, um sie als rhetorischen Höhenaus- es nahe, dieses Wirkungsfeld in drei Hinsichten zu entfalten: Wertschätzung gleich oder als schmückendes Dekor des modernen, digital und kommunika- wirkt erstens korrigierend, insofern sie dem Ressentiment als Werttäuschung tiv überforderten Lebens zu behandeln. Wertschätzung ist weder Last noch auf der einen Seite und der Verachtung als Entwertung auf der anderen Seite Luxus und erst recht nichts Beliebiges, sie qualifiziert vielmehr ein Leben jenseits entgegenarbeitet. Wertschätzung wirkt zweitens profilierend, indem sie die des Üblichen. Wertschätzung fällt auf, sie lässt innehalten, und sie kann auch praktische Vernunft in Form bringt, sodass das Konkrete nicht aus dem Blick irritieren. Wertschätzung verunsichert die Üblichkeiten des Lebens, und sie gerät. Und drittens wirkt Wertschätzung qualifizierend; sie qualifiziert unser schätzt ein Leben nicht nach allgemeinen Regeln und äußeren Maßstäben, Gegenüber nicht als einen Fall unter Fällen, sondern als konkretes Vorbild sondern konkret und aus sich selbst heraus. und damit in seiner exemplarischen Individualität. Die Äsop zugeschriebene Fabel Der Fuchs und die Trauben kann die kor- BEWAHRUNG VOR „TOTEN WINKELN“ rigierende Funktion der Wertschätzung illustrieren: Ein Fuchs sieht einen Wein- stock und begehrt die süßen Trauben, die prächtig am Weinstock hängen. Seine Versuche, die Trauben zu erreichen, scheitern; er findet keinen Weg und Wir kennen natürlich Regeln der Etikette, Konventionen, Gewohnheiten und keine Mittel, an sie heranzukommen. Der Fuchs wendet sich von seinem Vor- Gebräuche, die als sozialer Kitt unterhalb kodifizierter, gesetz­licher Regelun- haben ab, er dreht sich um und sagt zu sich selbst: „Die Trauben sind nicht gen den gesellschaftlichen Austausch ermöglichen und Verbindlichkeit her- reif, ich will keine sauren Trauben essen.“ stellen (Bermes 2019a). Vielleicht wird man auch darauf hinweisen, dass in In der Fabel wird kein alltägliches Scheitern beschrieben. Dieses ken- und mit dem Einhalten beispielsweise eingespielter Begrüßungs­formen Wert- nen Menschen allzu gut; und es gehört zur Grundausstattung menschlichen schätzung zum Ausdruck komme. Doch gerade hier stellt sich die Frage, ob in Daseins, mit dem Scheitern produktiv umzugehen. Der Fuchs geht jedoch solchen Fällen wirklich von Wertschätzung gesprochen werden kann. Denn nicht produktiv mit der Situation um, er verdreht die Situation und seine die Bedeutung etwa von Begrüßungsformen zeigt sich gerade darin, dass sie Weltwahrnehmung angesichts seines Nichtkönnens. Aus den süßen Trauben unabhängig von der Person, der sie entgegengebracht werden, ihre Funktion werden saure, um das eigene Unvermögen notdürftig zu rechtfertigen. erfüllen. Darum werden sie geachtet und eingefordert. Doch genau dies Beherrscht eine solche Ohnmacht als dauernde Grunderfahrung das scheint bei der Wertschätzung anders zu sein. Jenseits des Üblichen von menschliche Leben und werden die Welt und die anderen permanent aus der Regeln geht es in der Wertschätzung um das Gegenüber in einem ganz Perspektive einer solchen Ohnmacht erlebt, dann trifft es recht genau das, bestimmten – nicht üblichen – Sinne. Darum ist Wertschätzung auch für was man als Ressentiment bezeichnen darf und was Max Scheler in seiner bis

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heute einschlägigen Arbeit aus dem Jahr 1912 zum Ressentiment im Aufbau der unseres Handelns und unserer Begründungen in eine Form. Natürlich liegt Moralen als „seelische Selbstvergiftung“ beschreibt. Es handelt sich um eine es nahe, Wertschätzung auch im Sinne einer sozialen Interaktion als eine „dauernde psychische Einstellung, die durch systematisch geübte Zurück- bestimmte Form der Anerkennung zu verstehen und sie soziologisch und drängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte ent- sozialphilosophisch zu beschreiben, sodass die Bezüge zur jeweiligen Kultur steht, welche an sich normal sind und zum Grundbestande der mensch­lichen aufgedeckt und damit auch gleichzeitig die Machtverhältnisse, in denen Natur gehören, und die gewisse dauernde Einstellungen auf bestimmte Arten Wertschätzungen verwickelt sind, verstanden werden (Taylor 1993, Honneth von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen zur Folge 2012). Es handelt sich hier um die nicht einfache und herausfordernde hat“ (Scheler 2007, S. 38). Im Ressentiment gewinnt die Werttäuschung als ­Analyse, wie kollektive Identitäten entstehen und um Anerkennung ringen, ­dauernde Einstellung die Oberhand. Und auch in der Gegenwart wird man ­welche Pathologien zu einem Scheitern der Anerkennung führen können und viele Beispiele – auch im politischen Geschäft – finden, die zeigen, wie aus unter welchen Bedingungen dieser Prozess gelingen kann. einer solchen Werttäuschung Kapital geschlagen wird. Die Ohnmacht wird Wertschätzung als eine Praxis aber, und dies dürfte eine ihrer beson- instrumentalisiert und inszeniert, verfestigt und auf Dauer gestellt, die Wert­ deren Leistungen für das Profil der praktischen Vernunft sein, lässt sich nicht täuschung wird nicht etwa geleugnet, sondern gefeiert und als die einzig auf diese Perspektive reduzieren – sie klammert eine solche Perspektive nicht wahre Weltsicht propagiert. aus, sie nimmt sie aber ebenso wenig als letztes Wort. Denn wer des Wert- Wertschätzung wirkt dem Ressentiment entgegen, denn in ihr behal- schätzens fähig ist, weiß, dass das Konkretum vor dem Allgemeinen steht. ten die anderen und die Welt ihre Bedeutung. Die wertgeschätzten Trauben Schätzen wir die Offenheit, mit der jemand einen Gast empfängt, bewundern bleiben süß, ohne dass sie in Besitz genommen werden. Freilich muss man wir die Gelassenheit, mit der ein anderer den alltäglichen Widrigkeiten nicht in Jubel verfallen, wenn die Trauben nicht erreicht werden, aber ebenso begegnet, und honorieren wir die Gewissenhaftigkeit, mit der ein Dritter sei- wenig muss man die Trauben als sauer erklären, wenn man sie nicht erlangt – nen Geschäften nachgeht, dann drückt sich darin eine Wertschätzung aus, und vor Letzterem schützt das Wertschätzen. die sich auf dieses (und kein anderes) Konkrete einlässt und den Wert daraus zu begreifen sucht. ETWAS „SCHÄTZEN“, UM Es handelt sich um eine durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft, die im SEINEN WERT ZU BEGREIFEN Anschluss an Immanuel Kant (allerdings auch gegen die kantische Konzep- tion einer Ethik) die praktische Rationalität formt: „Ein Arzt daher, ein Rich- ter, oder ein Staatskundiger, kann viele schöne pathologische, juristische oder Wertschätzung kann jedoch nicht nur korrigierend in das Ressentiment als politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, dass er selbst darin gründ­ Werttäuschung eingreifen, sie stellt sich auch der Verachtung als einer Form licher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben der Entwertung entgegen. Friedrich Nietzsche illustriert vielleicht eine der leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich extremsten Positionen der Verachtung, wenn er folgenden fiktiven Charakter nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto ein­ beschreibt: Der verachtende Mensch „ist kälter, härter, unbedenklicher und sehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, ohne Furcht vor der ‚Meinung‘; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte“ ‚Achtung‘ und dem Geachtetwerden zusammenhängen […] er will kein ‚theil- belehrt wurde. Denn dieses ist nach Kant auch der Nutzen von Beispielen: nehmendes‘ Herz, sondern Diener, Werkzeuge, er ist, im Verkehre mit Men- „dass sie die Urteilskraft schärfen“ (Kant 1998, A 134/B173). schen, immer darauf aus, etwas aus ihnen zu machen“ (Nietzsche 1988, S. 452). Die Verachtung dokumentiert sich in einer ungezügelten Instrumentalisie- INDIVIDUALITÄT UND UNVERWECHSELBARKEIT rung, in der das Gegenüber nicht einfach das Objekt einer Handlung ist (das ist nichts Ungewöhnliches und kommt häufiger vor), sondern auf seine pure Vorhandenheit als Material reduziert wird. In der Wertschätzung will man Wertschätzung wirkt korrigierend auf Entgleisungen, sie wirkt profilierend aber gerade nicht etwas mit einem Material „machen“, sodass dadurch sein mit Blick auf die praktische Rationalität und sie wirkt qualifizierend auf das Preis steigt, sondern etwas „schätzen“, um seinen Wert zu begreifen. Gegenüber, das wertgeschätzt wird. Denn dieses Gegenüber wird nicht als ein Wertschätzung wirkt jedoch nicht nur Tendenzen des Verfehlens ent- Fall unter Fällen geschätzt, sondern in seiner konkreten Individualität. Die gegen, sie profiliert auch die praktische Rationalität. Sie bringt mit anderen besonderen Leistungen von Arbeitern können mit Zulagen und zusätz­lichem Worten die Perspektive unserer praktischen Weltsicht und den Haushalt Urlaub honoriert werden, der Erfolg von Mitarbeitern einer Bank kann sich in

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Boni niederschlagen, auch können die Lehrer einer Grundschule, die bei Interessen kann man respektieren, und sie lassen sich ausgleichen; Meinun- einem internationalen Leistungstest besonders gut abschneidet, in der Öffent- gen können gewürdigt werden, und sie müssen sich bewähren. Und nichts ist lichkeit positiv herausgestellt werden. Doch sind dies alles Wertschätzungen? wichtiger, als ressentimentgeladene Stimmungen von Meinungen zu schei- Sicherlich handelt es sich um Formen der Anerkennung, vielleicht auch um den. Wer zur Wertschätzung fähig ist, wird diese Unterscheidungen treffen besondere Würdigungen von Reputation und Ansehen. Doch ­Wertschätzung können. in einem strikten Sinne zeichnet sich nicht dadurch aus, dass etwas an einem Mit der Wertschätzung wird die soziale Ordnung zu einem eigenen, anderen gemessen und anschließend belohnt wird. Wertschätzung in einem nicht auf Wirtschaft oder Recht reduzierten, politischen Thema. Sie kann prägnanten Sinne zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass das Gegenüber in damit einen Ausweg markieren aus Sackgassen der Gegenwart. Jenseits von seiner Unverwechselbarkeit geschätzt wird. Es besteht ein Unterschied zwi- (interessen­geleiteter) Identitätspolitik auf der einen Seite und (identitätsmoti- schen der Anerkennung der herausragenden Leistungen eines Lehrers in sei- vierter) Interessenverwaltung auf der anderen Seite wird die Kategorie der ner Klasse und der Wertschätzung, die dem Lehrer als ­Person von Eltern und Person als regulative Idee politischen Handelns wieder sichtbar. Schülern entgegengebracht wird. Die ­Leistungen des ­Lehrers lassen sich ver- messen, die Wertschätzung kann man nur ermessen. Literatur Arendt, Hannah: Über die Revolution, 7. Aufl., Piper Verlag, München 2019. AUSWEG AUS SACKGASSEN DER GEGENWART Aristoteles: Nikomachische Ethik, 4. Aufl., Felix Meiner Verlag, 1985. Bermes, Christian (2019a): „Verbindlichkeit. Stärken einer schwachen Normativität“, in: Bauks, Michaela / Bermes, Christian / Schimmer, Thomas / Schneider, Jan / Steinicke, Marion (Hrsg.).: Jenseits des Üblichen qualifiziert die Wertschätzung eine konkrete Unver- ­Verbindlichkeit. Stärken einer schwachen Normativität, Transcript Verlag, Bielefeld 2019, S. 13–28. wechselbarkeit ohne Maßstab. In einer Zeit, in der ohne quantifizierende Ver- Ders. (2019b): Wandel der Sprach- und Debattenkultur. Verbindlichkeit – Artikulation, Meinung, messung kaum etwas als gültig anerkannt wird, provoziert Wertschätzung Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2019. und fällt aus dem Rahmen – so wie etwa auch folgender Hinweis von Hannah Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Neuauflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1988. Arendt, der als weiterer Fingerzeig für die politische Funktion von Wertschät- Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Suhrkamp, zung gelesen werden darf. Frankfurt am Main 2012. Wir haben uns – Arendt vermutet, seit den Zeiten von Karl Marx – Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. von daran gewöhnt, zwischen Interessen und Meinungen keinen Unterschied Jens Timmermann, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1998. mehr zu machen. Wer eine Meinung äußert, gebe zugleich ein Interesse kund Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., Kritische Studienausgabe 11, De Gruyter, Berlin / New York 1988. und umgekehrt. Gerade in einer kommunikativ aufgeheizten Zeit wie der Scheler, Max: „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, in: Maria Scheler (Hrsg.): Vom Umsturz unseren werden die Grenzen zwischen „Stimmung“ und „Meinung“ und der Werte. Gesammelte Werke, Bd. 3, 6. Aufl., Bouvier Verlag, Bonn 2007, S. 33–147. zwischen „Meinung“ und „Interesse“ schwammig. Die Diskussionen um die Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. Fischer Verlage, Frankfurt Sprach- und Debattenkultur belegen dies deutlich und werden zu Recht am Main 1993. geführt (Bermes 2019b). Gerade in diesem Rahmen ist Arendts Intervention und Erinnerung von Relevanz: „Interessen sind politisch nur als Gruppen­ interessen von Bedeutung und für ihre Bereinigung genügt es, wenn ihr par- tieller Charakter, Teile eines Ganzen zu sein, gewahrt wird, so dass keines dieser Gruppeninteressen je herrschend werden kann, auch nicht als Interesse der Mehrheit. Meinungen dagegen können sinngemäß niemals die Meinun- gen von Gruppen, sondern immer nur von Einzelnen sein.“ In diesem Sinne ist für Arendt auch eine sogenannte „öffentliche Meinung in Wahrheit der Tod aller Meinungen und Meinungsbildung“ (Arendt 2019, S. 292, 294). Dieser Hinweis Arendts scheint aus der Zeit gefallen, da modernes politisches Handeln ohne Demoskopie nicht mehr auszukommen scheint und Interessen mit Meinungen gleichgesetzt werden. Wir haben uns zu sehr an diese Indifferenz gewöhnt, und Arendts Erinnerung provoziert zu Recht.

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heutigen Zeit dürfte in diesen kurzen Abständen so oft mit dem Prädikat „kaltherzig“ bedacht worden sein wie Donald Trump – eine Kaltherzigkeit, die wie ein Brandbeschleuniger im politischen Diskurs wirkt. Wärme und Kälte, Mitgefühl und Desinteresse – emotionale Front­ linien prägen die Politik ebenso wie fachliche, und das nicht erst heutzutage. Als die amerikanischen Demokraten im Jahr 1936 Franklin D. Roosevelt erneut als Präsidentschaftskandidaten nominierten, legte er anschließend in einer Rede sein Verständnis von Regierung dar. Sie sei die Verkörperung von Wohltätigkeit; nicht Privilegien sollten das Land bestimmen, sondern Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe: „We seek not merely to make Government a me­- chani­cal implement, but to give it the vibrant personal character that is the very em­bodiment of human charity. […] In the place of the palace of privilege we seek to build a temple out of faith and hope and charity.“ Selbstverständ- lich, fuhr Roosevelt fort, machten Regierungen Fehler. Doch Gott würde die Kaltblütigen und die Warmherzigen unterschiedlich wägen – und besser sei es, die Fehler einer mitfühlenden Obrigkeit hinzunehmen, als eine kalte, gleichgültige Staats­gewalt: „Better the occasional faults of a Government that lives in a spirit of charity than the consistent omissions of a Government fro- zen in the ice of its own indifference.“ Zwischen Coolness Gefühllose Menschen, das schrieben bereits Denker der schottischen Aufklärung wie Francis Hutcheson (1694–1746) und Adam Smith (1723– 1790), seien die provokantesten von allen. Gefühle, vor allem die Sympathie und Corona (heute wäre das die Empathie, ein erst später geprägtes Wort), erlaubten uns eine Verbindung zu anderen Menschen. In die Gefühl- und Empfindungs­ losigkeit anderer könnten wir dagegen nicht vordringen, notierte Smith in Von politischen Gefühlen und Gefühllosigkeiten seiner Theory of Moral Sentiments von 1759. Ein kaltes Herz bliebe uns immer verschlossen, und diese durch den anderen empfundene Ausgrenzung unse- rer selbst treffe uns so hart, weil damit unsere grundsätzliche Ähnlichkeit als Menschen geleugnet werde. Gefühllosigkeit untergräbt die Vorstellung, dass Menschen miteinander und füreinander fühlen könnten, und damit den so­zia­ len Zusammenhalt der Gesellschaft. KERSTIN MARIA PAHL Doch eine Diagnose macht noch keine Tatsache. In historischer Per­ Geboren 1984 in Frankfurt am Main, Das Problem des amerikanischen Präsidenten spektive zeigt sich, dass Kaltherzigkeit oft nicht von der politischen Agenda Wissenschaftliche Mitarbeiterin Donald Trump, so verlautbarte CNN 2018, sei und dem Wunsch der Kontrolle anderer zu trennen ist. Oft dient ihr Vorwurf am Max-Planck-Institut nicht die Intelligenz, sondern das Herz. Der als Ausschlusskriterium und Selbstvergewisserung. Als in den 1830er-Jahren für Bildungsforschung, Berlin. britische Guardian urteilte im gleichen Jahr, in England soziale Fragen besonders brisant wurden, als Arbeiter das Wahl- das präsidiale Weihnachtsbild, auf dem Trump recht und bessere Arbeitsbedingungen forderten und die Städte durch und Gattin etwas steif vor Christbäumen posieren, zeige eine „emo­tio­na­le die Landflucht verelendeten, wurde „insensibility“ zu einem Kampfbegriff: Taubheit“, die das Herz gefrieren lasse. Und im Hinblick auf das Management Fabrik­besitzer und Politiker galten als erbarmungslos, weil sie die unteren der Coronakrise hieß es – viel zitiert – in Last Week Tonight, dass es normaler- Klassen knechteten; Arbeiter und Straßenkinder seien durch Lebens- und weise unmöglich sei, eine solche „kaltschnäuzige Gleich­gültig­keit gegenüber Arbeitsbedingungen abgestumpft; Ärzte verhärteten durch das Übermaß an dem menschlichen Leben“ zu haben, wie Trump sie offenbare („it’s impossible Krankheit und Trostlosigkeit und ließen die Armen sterben. An der impe­rialen to have such a callous indifference to human life“). Kaum ein Politiker der Front gab es ähnliche Zuschreibungen. Die englischen Missionare in China

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klagten, dass ihrem Unterfangen wenig Erfolg beschieden sei. Der Grund: die Memes, Kombinationen aus Bildern und Schlagworten oder Motti, versinn- sogenannte „chinesische Apathie“, also die angebliche Unempfänglichkeit bildlichen die Haltung, inklusive der emotionalen Haltung des Nutzers zu der Chinesen für religiöse oder tiefere zwischenmenschliche Gefühle. bestimmten Themen. Es gibt wissenschaftliche Hinweise, dass sich als aus- Meist waren es die Gegner, die als verhärtet und gefühllos tituliert drücklich emotional wahrgenommene, expressive und zugespitzte Botschaf- wurden. Gefühllosigkeit wurde zur wirksamen Anklage, mit der diese ande- ten über das Internet besonders gut verbreiten. Die kurze Reaktionszeit, die ren als nicht der eigenen Gruppe zugehörig dargestellt werden konnten. durch diese Form der Gefühlsäußerung gegeben ist, gestattet sowohl eine Gefühle der langlebigen und verfeinerten Art – nicht die vulgären, kurzzeitig schnelle Verbreitung als auch ein kurzfristiges Anschwellen. Letzteres ver- aufflammenden Affekte – galten als Ausweis von Gesellschaftsfähigkeit und leiht einem Anliegen durch emotionale Fülle Gewicht, sodass wichtige und Zivilisation. Chinesen, aber auch andere Gruppen wie Schwarze oder Sklaven, berechtigte mit irrelevanten und illegitimen Sujets um eine Popularität kämp- erschienen dadurch als weniger entwickelt, wenn nicht gar als weniger mensch- fen, die sich an der emotionalen Rückendeckung bemisst. lich. Eine feine Trennlinie verlief dabei zwischen Gefühlskontrolle und Ge- fühlstilgung. Bestimmte Formen des verringerten Gefühlsausdrucks galten ACHTLOSIGKEIT ALS SELBSTAUSSCHLUSS und gelten durchaus als besonders fortschrittlich: Gelassenheit, Selbstbeherr- schung und Souveränität werden bei Führungspersonen geschätzt; Objektivi- tät und Unvoreingenommenheit zeichnet(e) Wissenschaftler und Richter, Gefühle sind dann akut, aber nicht notwendigerweise nachhaltig. Die allseits auch Schiedsrichter, aus; die Coolness entwickelte sich Anfang des 20. Jahr- geschätzte Empathie wird hier ambivalent: Einfühlungsvermögen kann zu hunderts in den marginalisierten Gruppen Amerikas, zunächst in der schwar- einer Überidentifikation mit der eigenen und damit zur starken Ablehnung zen Musik wie dem Jazz und dem Blues, dann in der Jugendbewegung der der anderen Gruppe führen und folglich ihren Beitrag zur sozialen Zersplitte- 1950er-Jahre als demonstrative Gleichgültigkeit gegenüber Verletzung, Demü- rung leisten. Die besondere Krux der einfachen, sehr demokratischen und tigung und sozia­lem Ausschluss; die ungerührte Herablassung fand im Dandy allen zugänglichen Selbstzuordnung qua Anteilnahme ist jedoch, dass sie und heute im Hipster ihre Anhänger. Dagegen stand die Abgestumpftheit der Haltung und Handlung zunehmend entkoppelt. Oder besser gesagt: Die Hal- Soldaten, im 19. Jahrhundert besonders der preußischen und der russischen, tung gilt bereits als Handlung. In dieser Verquickung von Geste und Tat die durch endlosen Drill zu menschlichen Automaten erzogen ­würden. erweist sich proklamierte Achtsamkeit als Eintrittskarte zum Gemein- oder Gruppenwesen und Achtlosigkeit als Selbstausschluss. GEFÜHLE ALS FORM DER MITBESTIMMUNG Achtsamkeit, das zeigt das aktuelle Beispiel der Corona-Pandemie, kann sich dabei auch durch Enthaltsamkeit beweisen. Die Aufforderungen, Sozialkontakte zu vermeiden, verbinden sich mit Appellen an den Gemein- Indem ein spezifischer emotionaler Habitus oder Stil von der Zugehörigkeit sinn. formulierte das am 11. März dieses Jahres so: „Da sind zu bestimmten sozialen oder professionellen Gruppen kündet, funk­tio­nieren unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander schon auf eine Gefühle als Form der Teilhabe und der Teilnahme. Sie zeigen jemandes Platz Probe gestellt, von der ich mir wünsche, dass wir diese Probe auch bestehen.“ und jemandes Beteiligung. Insofern sind Gefühle, insbesondere solidarische Auf Twitter lagen die Hashtags #BleibtZuhause und #SocialDistancingNow im Gefühle, eine Form der gesellschaftlichen und politischen Mitbestimmung. Trend. Solidarität bedeutet, das öffentliche Leben weitgehend stillzulegen, In ihrer Äußerung und ihrer Häufung offenbaren sich die Bedeutung Gemeinschaftsgeist und emotionale Nähe drücken sich nun in physischem und die Wertschätzung von Menschen und Themen. Roosevelts Postulat, Abstand, aber sozialer Verantwortlichkeit aus: Für jemanden einkaufen zu dass eine Regierung im Geiste der Nächstenliebe handeln solle, übertrug gehen, regelmäßige Telefonate, Sorge – gerade jetzt erweist sich Zugewandt- das ­Mit­gefühl auf die Ebene exekutiver Politik. Der in Europa und beson- heit als nicht von gemeinsamer körperlicher Anwesenheit abhängig. Auch ders in Deutschland etablierte soziale Wohlfahrtsstaat institutionalisierte die Donald Trump hat seine ursprünglich abwehrende Haltung aufgegeben: „If Solidarität. everyone makes this change or these critical changes and sacrifices now, we In der heutigen medialen Bekenntniskultur ist das Mitgefühl dabei zu will rally together as one nation and we will defeat the virus“ (16. März 2020). einer verkürzten sprachlich-visuellen Formel geronnen: #JeSuisCharlie oder Die Wertschätzung der anderen und des menschlichen Lebens generell in #MeToo signalisieren auf einen Blick, dass der Einzelne Anteil nimmt oder Zeiten von Corona überbrückt damit, ganz unerwartet, eine gesellschaftliche Ähnliches erlebt hat. Vor allem aber zeigt sich, dass durch diese Anteilnahme Fragmentierung, die sich anhand unterschiedlicher emotionaler Resonanzen der Widerspruch zwischen Individuellem und Kollektivem aufgehoben ist. zu politischen Themen gebildet hatte.

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Menschen wahrgenommen und als eigenes Wesen anerkannt zu werden. Das basale Gefühl des eigenen Selbst entsteht auf sozialem Wege, ursprünglich aus den anerkennenden Interaktionen des Kleinkinds mit seinen primären Bezugspersonen, im prozeduralen Gedächtnis als implizites Beziehungs­wissen gespeichert. Aus dem Du der Mutter (und des Vaters) wird das Ich des Kindes. Die cartesianische wird durch eine entwicklungspsychologische Identitäts­ formel ersetzt, die das werdende Selbst mit dem anderen verbindet: „Ich werde gesehen, also bin ich!“ An dieses frühkindliche Identitätsmuster – so meine Kernthese – können die interaktiven Medien mit ihrem Versprechen auf Sichtbarkeit und Resonanz andocken.

DIE VERNETZTE SEELE

Um den psychischen Untergrund der entfesselten Mediengesellschaft zu erforschen, sollten wir zunächst unsere klassisch-psychoanalytischen Theo­ rien zur Entwicklung und Struktur des Seelenlebens überprüfen. Ins­ Ich werde gesehen, besondere der Mythos vom primär narzisstischen Säugling, der sich nur unter Triebnot in die reale Welt begibt, lässt sich im Licht neueren Wissens nicht aufrechterhalten. Der Mensch ist keine Monade, sondern von Beginn bis zum also bin ich ! Ende seines Lebens existenziell auf andere Menschen angewiesen, vor allem auf emotionale Bindung und intersubjektive Anerkennung. Über Disziplin- grenzen hinweg ist das der gegenwärtige Stand der humanwissenschaftlichen Das Internet als Identitätsmaschine Forschung. Soziale Einbettung ist geradezu die Bedingung für Individuierung. Erst über die Verinnerlichung von Erfahrungen des Gehalten- und Versorgt- werdens, des Gesehen- und Gehörtwerdens, der intersubjektiven Spiegelung und Anerkennung – das heißt aus dem Zwischenmenschlichen – gewinnt das MARTIN ALTMEYER Individuum jenen Stoff, den es schließlich zur subjektiven Aneignung seiner Geboren 1948 in Völklingen (Saar), Woher wissen wir, dass wir überhaupt exis- Lebenswelt, zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und zur Formung Diplom-Psychologe, Supervisor (BdP), tieren? Der französische Philosoph René seiner unverwechselbaren Identität verwendet. Ein Säugling bringt seine Privatdozent für psychoanalytische Descartes wollte diesen existenziellen Zwei- Bezogenheit bereits mit auf die Welt. Das Lächeln im Gesicht der Eltern, die Psychologie, Mitglied der IARPP fel durch einsame Selbstvergewisserung ihn anschauen; die liebevolle Zuwendung der Menschen, die auf seine Bedürf- („International Association for Relational ausräumen: „Ich denke, also bin ich!“ Das nisse eingehen; das Interesse, das jemand zeigt, der mit ihm scherzt oder Psychoanalysis and Psychotherapy“), hirnorganische Zentrum unseres Selbst spielt; die Aufmerksamkeit, die andere ihm schenken; die Resonanz, die eigene paar- und familientherapeutische ­vermutete er in der Zirbeldrüse. Doch die er von seiner primären Umwelt erfährt – die Summe solcher Beziehungs­ Praxis in Frankfurt am Main, Autor Neuro­biologie der folgenden Jahrhunderte erlebnisse gibt ihm eine erste Ahnung davon, wer er ist oder werden kann: von Zeitungs- und Zeitschriften- fand diesen „Homunkulus“ im Kopf nicht. Ich werde gesehen, also bin ich! aufsätzen zur Anwendung einer Warum? Weil es ihn nicht gibt, wie wir in- Die identitätsstiftende Urerfahrung, von anderen Menschen wahrge- modernen Psychoanalyse auf Kultur zwischen wissen. In der dezentralen Archi- nommen und wertgeschätzt zu werden, machen sich die interaktiven Medien und Gesellschaft („PSYCHE“, „Forum tektur des Gehirns ist kein Platz für ein zunutze. Denn die interaktive Struktur digitaler Netzwerke passt ziemlich der Psychoanalyse“, „Frankfurter ­solches Zentrum. Unser Identitätsempfin- genau zur Netzwerkstruktur von Gehirn und Psyche, die von den modernen Rundschau“, „taz“, „“). den beruht vielmehr darauf, von anderen Humanwissenschaften nicht mehr als abgeschlossene Einheiten, sondern

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buchstäblich als Beziehungsorgane begriffen werden. Damit erklärt sich die gegen Beachtung getauscht wird. Mit dem Selfie ruft man der Welt zu: Schaut enorme Verbreitung und Attraktivität der Sozialmedien. Zumindest im Un- her! Hier bin ich! So bin ich! Was haltet ihr davon? Wie findet ihr mich? bewussten der Nutzer spielen das Sichzeigen und Gesehenwerden sowie die Die Klickraten, die Zahl der „Friends“, „Follower“, „Likes“ oder darunter liegende Hoffnung auf Wertschätzung und Anerkennung eine ent- „­Flames“, die Rückmeldungen auf Postings, die Kommentare zu Kommen­ scheidende Rolle. Diesen Zusammenhang verkennt eine kulturpessimistische taren, die Antworten in den Chatrooms, die Quoten des interaktiven Fern­ Modernekritik, die in der Massennutzung des Internet und seiner Derivate sehens mit all seinen Talk-, Quiz-, Game-, Koch-, Casting- und Realityshows, lieber einen psychosozialen Niedergang im Weltmaßstab zu erkennen meint. die zum Mitmachen einladen und das Sichzeigen schon im Namen tragen – Wer jedoch stets nur Narzissmus, Exhibitionismus, Sucht, Flucht oder aus dem Blickwinkel einer relationalen Psychoanalyse bedeuten die digitalen Regression am Werk sieht, dem entgeht ausgerechnet das Neue an der digita- Feedbacks in den neuen Medien nichts anderes als soziale Resonanz durch len Moderne. Was aber ist neu daran und deshalb noch nicht verstanden? ein virtuelles, reales oder imaginiertes Publikum. Insofern erfüllen sie die- selbe, zu Unrecht als bloß „narzisstisch“ denunzierte Funktion wie in der tra- IM SPIEGEL DES ANDEREN ditionellen Kulturszene die Auflage von Büchern, die Preise auf dem Kunst- markt, die Einladung zu Ausstellungen, die Besucherzahl von Museen oder der Beifall des Theater-, Opern- und Konzertpublikums. Auch Schriftsteller, Offenbar haben sich im digitalen Zeitalter die Reservate des medialen Nar- Maler oder Musiker brauchen am Ende ein Publikum in Gestalt von Lesern, zissmus geöffnet. Gehörte es in früheren Zeiten zu den Privilegien der Rei- Betrachtern oder Zuhörern: Es ist eben keineswegs nur das Werk, das den chen, Schönen und Mächtigen, sich im Licht der Öffentlichkeit zu sonnen, Meister lobt. haben Vernetzung, Medialisierung und Digitalisierung der Alltagswelt inzwischen dafür gesorgt, dass das einstige Vorrecht gesellschaftlicher Eliten AUF DER SUCHE gewissermaßen demokratisiert worden ist. Auch für Blogger, Podcaster und NACH RESONANZ Influencer gilt schließlich: Berühmt ist, wer erkannt wird! Nahezu jeder und jede kann heute die zahllosen Spiegel- und Echoräume der Kommunikations- gesellschaft nutzen, um seine Gedanken, seine Meinungen, seine Werke oder Die Moderne ist ständig in Bewegung. Hatte bereits die industrielle Revolu- sich selbst einem hoffentlich interessierten Publikum zu präsentieren. Alle, tion im Fabrikzeitalter nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Lebens- die wollen und etwas zu bieten haben, können sich zeigen. Und sie bekom- welt und das Seelenleben der Menschen verändert, gilt das für die digitale men Rückmeldungen, die in jedem Fall Resonanz bedeuten, ganz gleich, wie Revolution im Informationskapitalismus umso mehr. Der Modernisierungs- sie ausfallen mögen. Denn selbst negative Resonanz liefert Anerkennung, da prozess reicht in die Weichteile entwickelter Gesellschaften hinein, bis in die sie beweist, dass man in seiner Existenz von anderen Menschen wahrgenom- Tiefenstrukturen der Psyche, die sich ebenfalls modernisiert. Sexuelle Be­- men wird. freiung, kulturelle Liberalisierung und gesellschaftliche Individualisierung Nehmen wir das Selfie, das schlichteste und zugleich erfolgreichste haben im Verein mit partnerschaftlichen Erziehungsmethoden bereits dazu Produkt einer weltweit boomenden Ökonomie der Aufmerksamkeit: Auf beigetragen, dass Kinder heute in freiheitlichen, weniger reglementierten, ­Selfies sehen wir Menschen, wie sie sich selbst sehen möchten. So scheint es stärker an Selbstbestimmung orientierten und kommunikativ anspruchs­ zumindest. In Wahrheit zeigen Selfies – gern auch als Doppel- oder Gruppen- volleren Milieus aufwachsen als in vergangenen Zeiten. Die Entwicklungs- selfie mit Prominenz –, wie ihre Produzenten von anderen Menschen gesehen psychologie spricht von einer „Modernisierung der Seele“ (Martin Dornes): werden möchten. Denn die digitalen Selbstporträts sind nicht für das private das Es weniger triebhaft, das Ich weniger gepanzert, das Über-Ich weniger Fotoalbum gedacht. Ins Internet gestellt, über Facebook oder Instagram streng und die Beziehung zwischen psychischer und sozialer Realität offener an Freunde, Bekannte oder Unbekannte verschickt, sollen sie potenzielle als in vordigitalen Charakterformationen. Betrachter interessieren. Insgeheim – um nicht zu sagen: im Unbewussten – Mit dem Einzug der Kommunikationstechnologie in die persönliche zielt das Selfie auf Resonanz, auf eine Spiegelung der eigenen Person, auf ein Lebenswelt sind unsere Kontaktmöglichkeiten ins Grenzenlose gewachsen, soziales Echo. Das per Smartphone in Sekundenschnelle aufgenommene, mit sodass wir an (fast) jedem Ort und zu (fast) jeder Zeit mit anderen in Verbin- zwei, drei Klicks in die virtuelle Welt übertragene Selbstbild ist binnen weni- dung treten, uns exponieren und inszenieren können. Die Einladung auf die ger Jahre zur Massenware auf der breiten Angebotspalette eines „mentalen Schaubühnen und in die Spiegelkabinette der modernen Lebenswelt nimmt Kapitalismus“ geworden, auf dessen Märkten bekanntlich Selbstdarstellung das zeitgenössische Selbst gern an. Das Sehen und Gesehenwerden ist zur Basis

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eines zunehmend exzentrischen Sozialcharakters geworden, der ohne Hem- mungen aus sich herausgeht, um der Welt zu zeigen, was alles in ihm steckt. Früher wurden solche Schau- und Zeigebedürfnisse nur Kindern und pubertierenden Jugendlichen zugestanden, die ihnen im Lauf ihrer weiteren Sozialisation jedoch als regressiv, unreif oder ungehörig ausgetrieben wur- den. Verleugnet, verdrängt oder auf andere Weise abgewehrt, durften die scheinbar voyeuristischen und narzisstischen Wünsche bestenfalls künst­ lerisch sublimiert oder irgendwie getarnt auf Befriedigung hoffen. Im Medien- zeitalter kehren sie nun mit Macht in eine panoptische Lebenswelt zurück, wo sie gefördert und befriedigt werden. Doch hinter dem Massenbedürfnis nach sozialer Sichtbarkeit verbirgt sich ein elementares Verlangen nach Resonanz und Anerkennung. Zeitdiagnostisch könnte man sagen: Die Kinder der digi- talen Moderne haben offenbar weniger Angst davor, überwacht als übersehen zu werden. Dann aber sollten wir darauf vertrauen, dass jede Generation sich die Lebenswelt, die sie vorfindet, auf ihre besondere Weise aneignen muss – mit- samt all dem uns Unvertrauten, Ungewohnten, Unverstandenen und gerade Gekommen, deshalb so Befremdlichen. Genau darin liegt das Wesen des Generationen- konflikts, selbst in einer Welt, die allmählich zusammenwächst. Warum sollte das ausgerechnet der kosmopolitischen Internetgeneration nicht gelingen? um zu gehen ? Auf der anderen Seite registrieren wir gerade in den liberalen Demo- kratien des Westens ein wachsendes Unbehagen an der Moderne, die ich mit dem nötigen Schuss an Geschichtsoptimismus den Geburtswehen der Globa- Das Verlangen türkischer Migranten nach Anerkennung lisierung zurechnen möchte. Populistische Gegenströmungen wenden sich entschieden gegen den Pluralismus von Glaubensrichtungen, Alltagskultu- ren, Essgewohnheiten, Sexualpräferenzen und Lebensentwürfen. Ihrerseits auf der Suche nach Medienresonanz, pflegen sie demonstrativ ihre völkischen, weltanschaulichen oder religiösen Gewissheiten, indem sie sich lärmend gegenüber dem anderen als dem Fremden, Ungläubigen, Abtrünnigen, Ver­ MUSA DELI räter oder Feind abgrenzen und eigene Führungsfiguren erschaffen. Voller Geboren 1982 in Köln, Sozialpsychologe, tieren und sich in der Fremde vorbildlich Selbstherrlichkeit und Bekennerdrang inszenieren sie sich als Retter des Leiter Gesundheitszentrum für zu verhalten, sodass ein gutes Licht auf Vaterlands vor der Globalisierung, als Krieger des Guten gegen das Böse, Migrantinnen und Migranten, Pari­Sozial die Türken und den türkischen Staat fal- als opferbereite Märtyrer für den wahren Glauben – wobei sie sich zugleich gemeinnützige GmbH, Köln. len sollte. Dies führte zu einer teilweise modernster Medienstrategien bedienen. extremen Überangepasstheit und Ängst- Das Internet ist zwar ein universelles, aber moralisch indifferentes Nach dem zwischen der Türkei und lichkeit insbesondere der ersten Genera­ Leitmedium, das für alle möglichen Zwecke tauglich scheint: eine virtuelle Deutschland geschlossenen Anwerbe­ tion. Zu seinen Lebzeiten ging mein Vater Identitätsmaschine, bei der es auf die tatsächlichen Motive und Absichten der abkommen von 1961 machten sich viele etwa nie über eine rote Ampel, nahm nie Nutzer ankommt. junge Frauen und Männer auf den Weg staatliche Hilfen in Anspruch, selbst wenn nach Deutschland, um für einige Jahre sie ihm zugestanden hätten. Der überwie- Geld zu verdienen und anschließend wie- gende Teil der einwandernden Menschen der in die Heimat zurückzukehren. Im kam aus ländlichen Regionen der Tür- Der Text verdichtet Überlegungen aus meiner Publikation „Ich werde gesehen, also bin ich! Psycho­analyse und die neuen Medien“, Vandenhoeck & Ruprecht, Reihe „Psychodynamik Gepäck hatten sie den staatlichen Auftrag, kei, sie waren in guter gesundheitlicher ­kompakt“, 2019. ihr Heimatland angemessen zu repräsen- Verfassung und harte Arbeit gewohnt. In

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Deutschland angekommen, mussten die in der Türkei geboren wurden, kamen wobei ich als jüngstes Familienmitglied Unkenntnis des Systems auf der einen Einwanderer zunächst eine als sehr er- nach Deutschland und lebten dann mit immer als Letzter ins gerade noch lauwar- und Ressentiments sowie fehlender Kul- niedrigend empfundene Eingangsunter- einem Vater zusammen, den sie überhaupt me Wasser gesetzt wurde. Die ganze Fa- tursensibilität auf der anderen Seite. So suchung über sich ergehen lassen, in der nicht kannten. Mein in der Türkei gebore- milie, inzwischen auf fünf Personen ange- wurde ich mit einer Empfehlung für das die Menschen auf Krankheiten und Unge- ner Bruder hat unseren Vater in den ersten wachsen, teilte sich ein Doppelbett. Für Gymnasium von meinen Eltern auf der ziefer kontrolliert wurden, bevor sie „wei- Jahren nicht als Vater anerkannt. Kinderzimmer war in der Zweiraumwoh- nahe gelegenen Hauptschule angemeldet, terverteilt“ wurden. nung kein Platz, ganz zu schweigen von weil dort auch alle Kinder aus der Nach- Die Unterbringung erfolgte zunächst einem Arbeitsplatz für die Erledigung der barschaft angemeldet wurden. in extra dafür eingerichteten Wohnhei- BINDUNGSSCHWIERIGKEITEN Hausaufgaben. Ich war bereits Teenager, Überdurchschnittlich häufig wurden men. Diese zeichneten sich durch wenig UNTER DEN GENERATIONEN als wir Mitte der 1990er-Jahre eine etwas bei den Kindern der ersten und zum Teil Wohnfläche für viele Menschen sowie größere Dreizimmerwohnung bezogen. auch noch der zweiten Generation Verfah- durch gemeinschaftlich zu nutzende sani- Am Tag des Einzugs durften wir alle in ei- ren auf Überprüfung von sonderpädago- täre Anlagen aus. Da diese Art der Unter- Diese (Beziehungs-)Brüche in den Bio­ genem Badewasser baden, und die größte gischem Förderbedarf eröffnet, weil es bringung kostengünstig war, war sie zu- graphien sorgen bis heute für große Bin- Freude waren die Heizkörper in jedem keine brauchbaren Ansätze gab, dem nächst sehr beliebt, bot sie doch die dungsschwierigkeiten auch in der zweiten Zimmer, die man einfach nur aufzudre- sprachlich begründeten Lerndefizit mit Möglichkeit, große Teile des Arbeitslohns und dritten Generation. Dies erlebe ich ge- hen brauchte, und schon wurde die Woh- anderen Fördermaßnahmen zu begegnen. zu sparen. Darüber hinaus war das ge- genwärtig in den Beratungen in unserem nung wohlig warm. Nicht selten reagierten und reagieren Fa- meinschaftliche Wohnen für die allein Gesundheitszentrum. In den Berichten Im Vergleich zu ihren Klassenkame- milien mit Flucht auf die Beschulung an eingereisten Arbeiterinnen und Arbeiter von Menschen der zweiten Generation geht raden wuchsen die Kinder der ersten Gast- einer Förderschule. Die Kinder wurden in den ersten Jahren eine Art Familien­ es immer wieder um Wut und Enttäu- arbeiter in sehr einfachen Verhältnissen und ­werden in die Türkei zu dort leben- ersatz. Viele damals entstandene Freund- schung, um Anschuldigungen gegen die auf. Der Besuch des Kindergartens war den Verwandten geschickt, um das Stigma schaften existieren noch heute. Jeder hatte Eltern, die ihnen gegenüber jedoch nie for- von meinen Eltern aus Unkenntnis des „Sonderschule“ zu umgehen – unter In- Eltern, Ehepartner oder sogar Kinder in muliert wurden, da der geforderte Respekt Systems gar nicht in Erwägung gezogen kaufnahme erneuter Beziehungsbrüche der Heimat zurückgelassen, immer mit gegenüber den Eltern dies nicht zuließ worden, und zu damaliger Zeit gab es und einer Entwurzelung mit den bereits der Idee, einige Jahre „gutes Geld“ zu ver- und zulässt. Durch Tod oder auch durch diesbezüglich keine Empfehlungen der erwähnten Folgen. dienen und dann in den Schoß der Fami- demenzielle Erkrankungen älterer Fami­ Stadt. So kam ich in die Schule und sprach Unabhängigen Studien zufolge wer- lie zurückzukehren. lienmitglieder vergeht die Chance, das Er- praktisch kein Wort Deutsch. den Kinder mit einem Migrationshinter- Auf Druck der Firmen, die die Gast­ lebte aufzuarbeiten und zu besprechen. grund schlechter benotet und erreichen in arbeiter beschäftigten, wurde das zunächst Auch nach der Familienzusammen- der Folge schlechtere Schulabschlüsse als angedachte Rotationsprinzip (Rückfüh- führung blieben die Lebensumstände ein- FLUCHT VOR DEM STIGMA ihre deutschsprachigen Mitschüler. Auch rung der Gastarbeiter nach zwei Jahren fach. Die meist in kleinen Werkswohnun- „SONDERSCHULE“ bei der späteren Ausbildungs- und Ar- und Anwerbung neuer Arbeitskräfte) aus- gen untergebrachten Familien teilten sich beitsplatzsuche müssen Menschen mit gesetzt und der Familienzuzug gesetzlich weiterhin sanitäre Anlagen und beheizten Migrationshintergrund deutlich mehr Be- ermöglicht. Zunächst zaghaft wurden Fa- ihre Wohnungen mit Kohleöfen, und dies Viele Kinder der ersten Generation wur- werbungen schreiben, bis sie erfolgreich milienmitglieder nach Deutschland ge- sogar noch zu Zeiten, in denen vergleich- den aufgrund mangelnder Sprachkennt- in Lohn und Brot stehen. Diese Erfahrun- holt, Kinder jedoch häufig bei den Groß­ bare deutsche Familien längst in Wohnun- nisse zurück in die Vorschule geschickt. gen von Chancenungleichheit und Diskri- eltern in der Türkei zurückgelassen und gen mit Zentralheizung und eigenem Ängste und Unkenntnis der Eltern führ- minierung führen zu Frustrationen und oft erst kurz vor Erreichen des achtzehn- Bade­zimmer mit fließend warmem Was- ten auch dazu, dass Kindergeburtstage Gegenwehr. ten Lebensjahres nach Deutschland ge- ser lebten. Meine Kindheit war geprägt nicht ge­feiert wurden und die Kinder der Hinzu kam die fehlende Wertschät- holt. Die ersten Jahre der Migration waren von Gängen in den Keller, um eimerweise Einwandererfamilien aus der Türkei meist zung der Eltern für schulischen Erfolg geprägt von familiären Kontakten auf gro- Kohle zu holen, einem Badetag einmal in nicht mit auf Klassenfahrt fuhren. Bil- und die ständige Forderung von Hilfestel- ße Distanz, Beziehungsabbrüchen, Tren- der Woche (das Wasser wurde in einer gro- dungsbiographien wurden entscheidend lungen zur Kompensation eigener sprach- nungsschmerz und Heimweh. Kinder, die ßen Kanne auf dem Ofen warm gemacht), geprägt von sprachlichen Barrieren und licher Defizite. So mussten die Kinder der

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Migranten der ersten Generation häufig aufschubs, also Durchhaltevermögen – ­Handlungsmöglichkeiten und die eigene Migranten selbst, so kristallisiert sich der als Übersetzer dienen, sei es bei Arzt­ deutlich erschwert, wenn nicht sogar un- Verantwortung komplett ausblenden. Vor Wunsch heraus, ein deutliches Signal der terminen, Behördengängen oder auch bei möglich gemacht. Das Ergebnis sind zu- diesem Hintergrund haben auch radikale Anerkennung und ein Zugeständnis der dem eigenen Elternsprechtag. Dies bedeu- nehmend unselbstständigere und darüber Gruppen, wie zum Beispiel der Islamische Zugehörigkeit vonseiten der Politik zu er- tete eine oft auch emotional überfordern- ­hinaus egoistische Menschen, die nicht in Staat (IS), ein zu leichtes Spiel beim An- halten, sei es als Teil einer Ansprache oder de Aufgabe für die Kinder und eine Ver- der Lage sind, ihr eigenes Leben selbstver- werben neuer Kämpfer. aber in Form klarer Handlungsansätze und tauschung der Rollen. Kinder hatten in antwortlich zu führen. Insbesondere bei Allerdings soll an dieser Stelle betont von Stellungnahmen, etwa bei der Auf­ erster Linie zu funktionieren. In der zwei- männlichen Jugendlichen der dritten Ge- werden, dass diesen Biographien eine Viel- klärung von Taten mit rechtsradikalem ten Generation begegnen uns, auch daraus neration lässt sich eine Haltung erkennen, zahl von Geschichten gelungener Integra- Hintergrund wie den NSU-Morden oder resultierend, überdurchschnittlich häufig die diese Erziehungs- und Sozialisations- tion gegenübersteht: Familien der zweiten dem jüngsten Attentat von Hanau. Suchtproblematiken, Brüche in der beruf- erfahrungen widerspiegelt. Gruppen jun- Generation, die gesellschaftlich etabliert Darüber hinaus könnte man der ers- lichen Biographie sowie massive Bezie- ger Türken entwickeln ihren eigenen und finanziell gut situiert ihre Position ten Generation, die ihr ganzes Leben hart hungsproblematiken. ­Habitus, fühlen sich ihrer Gleichaltrigen- gefunden haben, Kinder und Jugendliche, für die deutsche Wirtschaft gearbeitet hat, gruppe verbunden, innerhalb derer sie die immer bessere Bildungsabschlüsse er- den Lebensabend in Deutschland deut- sich gegen ihre übergriffigen, überbehü- reichen. Es ist notwendig, den gesellschaft- lich erleichtern und überdies auch Wert- ZUNEHMEND UNSELBST- tenden Eltern und ein wenig wertschätzen- lichen Fokus wieder mehr auf die Dinge schätzung entgegenbringen, wenn es mehr STÄNDIGE MENSCHEN des gesellschaftliches System formieren. zu richten, die gut funktionieren. kultursensible Angebote gäbe. Wünschens- Unfähig (oder unwillig), für das eigene wert wäre es, diese Menschen aus ihrer Handeln und für die eigene Biographie Bringschuld – zum Beispiel das bessere Diese Sozialisationserfahrungen wirkten Verantwortung zu übernehmen, und nicht DIE ATTRAKTIVITÄT ERDOĞANS Erlernen der deutschen Sprache – zu ent- sich auf das Erziehungsverhalten der zwei- realisierend, dass der Lebensstil, den lassen und dafür muttersprachliche Bera- ten Generation aus: Die allgemein zu be- die Eltern eingeführt und (teilweise auf tung anzubieten, da ältere Menschen die obachtende Tendenz zur Überbehütung Pump) finanziert haben, sich nicht durch Das Gefühl der Ablehnung beziehungs- zweiterlernte Sprache im Alter oder etwa etwa von „Helikoptereltern“ potenziert „Nichtstun“ finanzieren lässt. weise der Nichtzugehörigkeit führt jedoch bedingt durch eine demenzielle Entwick- sich oft im Erziehungsverhalten der zwei- Das Erleben von Zugehörigkeit ist ein auch in der gut etablierten zweiten Gene- lung wieder verlernen. ten Generation der Migranten. Die selbst wesentliches menschliches Grundbedürf- ration immer öfter dazu, dass Ressenti- Des Weiteren wird das Erstarken rech- erlebten Entbehrungen führen zu der Ein- nis. Dieses Gefühl stellt sich jedoch nicht ments gegenüber Recep Tayyip Erdoğan ter Parteien von Migranten mit großer Sor- stellung, dass es die eigenen Kinder besser ein, wenn man aufgrund seiner Herkunft abnehmen und über einen Rückzug in die ge beobachtet, spiegelt doch eine im zwei- haben sollen. Es werden keine Kosten und Nachteile erfährt. Auf diesem Nährboden Türkei nachgedacht wird. stelligen Bereich liegende Zustimmung Mühen gescheut, und Wünsche werden entwickeln sich Sympathien, zum Beispiel Betrachtet man nun die Geschichten zur Alternative für Deutschland (AfD) sofort erfüllt. Die Ausstattung mit Spiel- für den türkischen Staatschef, der sein der Migranten der ersten, zweiten und eine gesellschaftliche Haltung wider, die konsolen und Smartphones bereits im Wort immer auch an die in der Migration dritten Generation, stellt sich die Frage, wenig Raum lässt für kulturelle Vielfalt Grundschulalter gilt als obligat und benö- lebenden Türken richtet. Es entsteht ein welche Form der Unterstützung notwen- und ein friedliches Miteinander. Dabei ist tigt keinen besonderen Anlass. Geburts­ Teufelskreis, da diese Gruppen durch ihr dig und sinnvoll beziehungsweise welche der Wunsch nach Anerkennung und Ak- tage werden mit hohem finanziellem Auf- Verhalten und ihre unreflektierte Vereh- politische und gesellschaftliche (Re-)Ak­ zeptanz mit allem, was wir an Kultur und wand gefeiert. Zum Sport, in die Schule rung des türkischen Staatschefs eher auf tion wünschenswert wäre. Fragt man die ­Religion mitbringen, sehr groß. oder zu anderen Aktivitäten werden die gesellschaftlichen Unmut treffen und Kinder mit dem Auto gebracht, auch wenn ­dadurch bewusst oder unbewusst zu ih- der fußläufige Weg kürzer wäre. Den Kin- rer gesellschaftlichen Desintegration bei- dern soll es an nichts fehlen. tragen. Der eigene Beitrag zur Desinte­ Auf diese Art und Weise wird das Er- gration wird nicht reflektiert; vielmehr lernen wichtiger Schlüsselkompetenzen – richtet man sich in seiner Opferrolle ein wie etwa das Aushalten eines Belohnungs- und kann auf diese Weise die eigenen

36 Die Politische Meinung 37 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Interview

Sagen, was geht und

was nicht geht © Foto: Sächsische Staatskanzlei | Maik Gärber

Über Bürgernähe in der Coronakrise, die Neubegründung von Vertrauen und die Bedeutung des direkten Gesprächs ­vielen Stellen bei uns im Land geleistet die Basis ist. Und natürlich haben wir im- wird – nicht zuletzt auch in Pflegeheimen mer auch diejenigen im Blick, die unseren und Supermärkten. All diese Frauen und Wohlstand erarbeiten und die überall in Männer verdienen zu Recht unseren Res- unserem Land an ganz verschiedenen pekt und unsere Dankbarkeit. Das darf Stellen daran mitwirken, dass es läuft. sich aber nicht auf besondere Zeiten, auf MICHAEL KRETSCHMER diese besondere Situation beschränken. Für die Nähe zum Nächsten gilt unter Geboren 1975 in Görlitz, seit 2017 die Wertschätzung von „Normalmen­ Wir müssen uns auch daran erinnern, Pandemiebedingungen ein Mindest­ Vorsitzender des CDU-Landesverbandes schen“ betreffend, am Ende auch etwas wenn die Krise eines Tages vorbei ist. abstand von eineinhalb Metern. Dis­ Sachsen, seit 2017 Ministerpräsident Heilsames haben? tanzwahrung entscheidet im Extrem­ des Freistaates Sachsen. Sie haben die CDU in Sachsen einmal fall über Leben und Tod. Wie ordnen Michael Kretschmer: Wenn diese Krise als „Stimme der kleinen Leute“ be­ Sie diese irritierende Erfahrung ein – etwas Gutes hat, dann, dass wir eine un- zeichnet. Was meinen Sie damit? auch als Führungsfigur einer poli­ Herr Ministerpräsident, in der Corona­ glaubliche Solidarität erleben. Dass wir tischen Kraft, die, wo es geht, gesell­ krise werden die vermeintlich Un­ überall spüren, dass Menschen sich nicht Michael Kretschmer: Wir müssen weiter schaftliche Distanzen zu überbrücken scheinbaren, die die sonst selbstver­ unterkriegen lassen und zusammenstehen. diejenigen sein, die dicht dran sind an den sucht? ständlichen Dinge des Alltags erledi­ - Und die für uns alle schwierige Situation Themen, die die Menschen bewegen. Die gen, bisweilen schon zu Superhelden hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass CDU steht für Verlässlichkeit, für eine Michael Kretschmer: Tatsächlich ist erklärt – beispielsweise Pflegerinnen viele noch einmal genauer hinschauen kluge und vernünftige Politik. Für uns ist Nähe im Moment erschwert bis unmög- und Pfleger, Kassiererinnen und Kas­ und mitbekommen, was für eine verant- klar, dass für unseren Wohlstand und un- lich, jedenfalls, wenn man die Nähe mit sierer. Könnte die Krise, wenigstens wortungsvolle und wichtige Arbeit an sere Zukunft eine gute Wirtschaftspolitik dem Zollstock misst. Das ist durchaus

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­gewöhnungsbedürftig. Und doch ist Nähe auf die Beine stellen, um anderen beizu- Bürgerinnen und Bürger bewegt. Dass Sie haben gesagt, Sie hätten „Millio­ auch in solchen Extremzeiten wie jetzt stehen und zu helfen. Diese besondere wir Veränderungen in Angriff genommen nen von Einwohnern neu kennenge­ möglich. Das haben wir inzwischen ja auch ­Erfahrung, dass aus einer Krise auch et- ­haben. Vieles von dem, was in den Bürger­ lernt“. Was war das Neue, was Sie zu­ gelernt. Denken Sie an die Menschen, die was Gutes erwachsen kann, dass Nähe und gesprächen zur Sprache gekommen ist, vor nicht kannten? für andere da waren und noch sind. An die Zusammenhalt möglich ist trotz notwen- hat Niederschlag in unserem Regierungs- vielen Helferinnen und Helfer, die für Äl- diger Auflagen und Einschränkungen in handeln gefunden. Michael Kretschmer: Zunächst einmal tere und Kranke Einkäufe erledigen. Oder unserem Alltag, die wird bleiben. Diese Direkte Bürgerdialoge mit ein paar habe ich viele neue Regionen und Orte an jene, die andere mit kleinen Konzerten Erinnerung wird prägend sein und uns als Dutzend oder sogar einigen Hundert Teil- entdeckt und kennengelernt, die ich vor- im Netz oder direkt vor dem Senioren- Gesellschaft stärker machen. Diese posi­ nehmern sind derzeit nicht möglich. Des- her nicht kannte. Und ich habe mit­ heim erfreut haben, die losgelegt und tive Erfahrung und Erinnerung wird in halb machen wir das Beste daraus, indem bekommen, dass die Dinge, die die Leute Mundschutzmasken genäht haben. Was unserem kollektiven Gedächtnis ver­ankert wir verstärkt auf andere Formate setzen, beschäftigen, tatsächlich von Ort zu Ort für eine große Kraft, was für eine Solidari- bleiben. auf Hörerforen im Radio etwa oder den ganz unterschiedlich sein können und es tät, was für ein Bürgersinn. All das macht Austausch via Facebook-Livestream. Das auch sind. Es ist erstaunlicherweise oft uns reicher. Wenn wir auf Distanz gehen, Die digitale Kommunikation erlebt ak­ ist in Ordnung und funktioniert. Aber er- ­gerade nicht die große Politik, wie das dann ja tatsächlich nur räumlich. Wir ha- tuell einen weiteren Boom. Sie haben setzen kann es das direkte Gespräch im Thema Asyl. Stattdessen geht es in dem ben erlebt und erleben es noch, wie sehr nicht allein im sächsischen Wahlkampf Dorfgasthof oder im Kulturhaus natürlich einen Ort um eine Abwasserleitung und uns ein solches Ereignis als Gemeinschaft auf eine bodenständige Form der An­ nicht. Aber auch das wird bald wieder die Busverbindung, im nächsten um die zusammenbringt und zusammenschweißt. sprache gesetzt – nämlich auf die per­ möglich sein. Kita oder fehlende Fachkräfte für das sönliche Begegnung in unzähligen Pflegeheim. Mich hat beeindruckt bei Soziologen sprechen von „Inselgesell­ Bürgergesprächen. Können Sie uns er­ Sie gewinnen dadurch, wie Sie sagen, meinen vielen Gesprächen, wie verbunden schaft“ oder beklagen, dass sich die klären, warum Sie diesen „Bürgernah­ „ein klares Meinungsbild von dem, die Menschen mit ihrer Heimat sind. Wie Substanz der Gesellschaft „granular“ kampf“ auf sich genommen haben? was die Leute denken“. Warum reichen sie sich dafür einsetzen, dass sich Dinge zerbröselt habe. Birgt die Krise, in demoskopische Studien nicht? im Sinne ihrer Gemeinschaft weiter ver- der sich jeder notgedrungen in die ei­ Michael Kretschmer: Die persönliche bessern. genen Räume zurückzieht, eine dysto­ Begegnung, der Austausch mit den Bürge- Michael Kretschmer: Demoskopische Ich habe außerdem die Erfahrung ge- pische Vorstellung von dem, was kom­ rinnen und Bürgern, ist für mich, ist für Studien sind durchaus hilfreich, um zu macht, dass das direkte Gespräche häufig men könnte? mein Handeln sehr wichtig. Für mich war wissen, wo man ungefähr steht. Aber man der einzige Weg ist, um gegen krude Din- von Anfang an klar, dass es nur so gelin- wäre nicht gut beraten, sich in der Politik ge, die im Netz kursieren, gegen man- Michael Kretschmer: Wir haben uns zu- gen kann, Vertrauen neu zu begründen. nur darauf zu stützen. Für ein umfassen- che Vorurteile, Halbwahrheiten und Fake rückgezogen, direkte Kontakte sind ein- Am Anfang habe ich mitunter große Skep- des Meinungsbild ist der Kontakt zu den News anzukommen. geschränkt. Notgedrungen ist das so. Das sis erlebt. Inzwischen stelle ich fest, dass Menschen entscheidend. Was den Leuten wird uns immer wieder aufs Neue be- Vertrauen gewachsen ist. Es ist ja nicht auf den Nägeln brennt, erfährt man nur, Wie stellt man es an, dass diese Begeg­ wusst. Und damit müssen wir leben und so, dass nach den Bürgerdialogveranstal­ wenn man direkt mit ihnen spricht. Was nungen nicht wie Gunsterweise von umgehen. Vielleicht ist das aber auch eine tungen alle meiner Meinung sind, darum in einer bestimmten Region ein Riesen­ oben erscheinen? Chance. Vielleicht hilft das dabei, neu zu geht es auch nicht. Aber ich habe schon thema ist und die Leute umtreibt, kann in entdecken und zu erkennen, was wichtig viel erreicht, wenn die Leute merken, einem anderen Ort, in einer anderen Ge- Michael Kretschmer: Die Leute haben ist im Leben. Was das Leben reicher macht. da ist jemand, der nimmt mich wirklich gend ganz anders sein. Ich kann noch so ein ganz gutes Gespür dafür, ob da je- In Zeiten wie diesen zeigt sich auch, wer ernst. viele Umfragen und Analysen studieren: mand ist, der sich wirklich für das interes- Charakter hat. Es gibt einige wenige, die Und die Menschen honorieren, dass Wenn ich wissen will, warum die Leute in siert, was sie sagen. Ob man wirklich auf sich unsolidarisch verhalten. Leute, die in wir als Regierung kontinuierlich in ganz einem Ort sauer sind und mit bestimmten Augenhöhe mit den Menschen spricht. der Not vor allem an sich denken. Dann Sachsen unterwegs und im Gespräch politischen Entscheidungen hadern, ist es Umgekehrt bin ich froh, dass da regel­ sind da aber eben auch die vielen Men- sind – ob in der Großstadt oder im Dorf- am besten, dorthin zu fahren und es he­ mäßig so viele interessierte und selbstbe- schen, die sich solidarisch zeigen. Die was krug. Dass wir auf das eingehen, was die raus­zufinden. wusste Leute kommen. Bürgerinnen und

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Bürger, die sich für ihr Gemeinwesen inte- die deutsche Geschichte, sie ist in Tei- Sie haben Sachsen bis „in den hinters­ kohle­regionen wie der Lausitz oder dem ressieren. Das ist eine wirklich Mut ma- len rechtsextremistisch. Funktionäre mit ten Winkel“ bereist – auch dahin, wo mitteldeutschen Revier eine Planungsbe- chende und sehr gute Entwicklung. Wenn Macht und Einfluss spalten die Gesell- Wahlkampfstrategen vielleicht wenig schleunigung und eine gute Infrastruk- an einem Freitagabend in einem kleineren schaft, sie grenzen aus, schüren Ängste. „Relevanz“ vermutet hätten. Warum tur. Wir müssen es schaffen, schneller zu Ort der Saal rappelvoll ist, dann bin ich Immer mehr Menschen sehen, dass diese halten Sie die „Fläche“ für so wichtig? werden, um die Zukunft nicht zu verspie- froh und sehr dankbar. Die hätten ja auch Partei unserem Land schadet. Es muss da- len. zu Hause gemütlich auf dem Sofa bleiben rum gehen, zusammenzuführen und ei- Michael Kretschmer: Mir geht es da­rum, können nach einer anstrengenden Ar- nen Ausgleich zu suchen. Das ist der rich- die Vorteile der Metropolen und die Vor- Nach der hoffentlich bald weniger aku­ beitswoche. tige Weg. Das ist auch der Weg, für den ich teile der Regionen in Sachsen miteinander ten Coronakrise: Was sind für Sie die und für den die CDU steht. zu verbinden. Der ländliche Raum ist ein entscheidenden Punkte, wenn sich die Teils sind Sie beharkt worden, als sei großes Kraftreservoir und kann mit einer CDU Deutschlands für die Zukunft ein Politiker das personifizierte Böse. Die dichteste Nähe zum Volk verspre­ hervorragenden Lebensqualität punkten. neu aufstellt? Wie und warum redet man mit Leuten, chen Populisten, betrachten sich sogar Etwa die Hälfte der Sachsen lebt hier, und die einen anschreien? als Verkörperung des Volkswillens. ein Großteil der Unternehmen und Ar- Michael Kretschmer: Meine Haltung Wie setzt sich Ihre Art der Bürgernähe beitsplätze ist hier angesiedelt. Wir un­ war schon immer: Wir sollten im Dezem- Michael Kretschmer: Miteinander zu re- davon ab? Wie viel Nähe suchen Sie, terstützen den ländlichen Raum ganz ber auf dem regulären Parteitag die Ent- den, sich auszutauschen, ist wichtig für wie viel Distanz wahren Sie? ­gezielt, weil sich gerade hier ganz neue scheidung über einen neuen Parteivor­ eine lebendige Demokratie. Das ist mein Zukunftschancen eröffnen. Die Schwarz- sitzenden treffen. Es ist wichtig, dass die Verständnis von Politik. Ich habe viele an- Michael Kretschmer: Es ist absurd, wenn malerei gegen den ländlichen Raum hat gesamte Partei nach der Wahl geschlossen regende Gespräche und lebhafte Debatten ausgerechnet Leute, die andere ausgrenzen mit dem Lebensgefühl der Menschen vor hinter dem neuen Vorsitzenden steht. An- erlebt. Nicht selten hart in der Sache, aber und Ressentiments schüren und die deut- Ort wenig gemein. schließend reden wir mit der CSU über bis auf wenige Ausnahmen immer freund- lich machen, wie sehr sie die Demokratie einen Kanzlerkandidaten und gehen als lich im Ton. Das funktioniert. verachten, dann auch noch behaupten, sie Sieht man von Berlin aus immer auch Mannschaft in den Bundestagswahlkampf Allerdings sage ich sehr klar „Bis hier- sprächen im Namen des Volkes. Das dür- die „Fläche“? Oder gibt es dort bis­ 2021. Und unabhängig von Per­sonal­fragen her und nicht weiter!“, wenn jemand ge- fen wir nicht stehen lassen. Wir sollten klar weilen eine selbstzentrierte Wahrneh­ müssen wir klare Impulse setzen, damit gen andere Menschen hetzt, wenn jemand und wach sein und dagegenhalten, wenn mung? Deutschland nach dem Ende der Krise Gewalt gegen Andersdenkende, Anders- Grenzen überschritten werden und zu wirtschaftlich durchstarten kann. Wir gläubige oder auch Repräsentanten demo- Hass und Gewalt aufgerufen wird. Michael Kretschmer: Wir sehen gerade, brauchen ein Investitionsprogramm für kratischer Institutionen rechtfertigt. Für mich ist ein respektvoller gegen- wie eng Bund, Länder und Kommunen in Forschung und Entwicklung, die Infra- seitiger Umgang die Grundlage. Ich will der Krise zusammenarbeiten und zusam- struktur und Zukunftstechnologien. Und Sie stehen für eine glasklare Abgren­ überzeugen. Aber ich will niemanden ver- menhalten. Und wie schnell viele Dinge wir brauchen ein Innovationsprogramm, zung von der AfD; aber ihre Wähler einnahmen oder bekehren. Mir ist dabei auf die Beine gestellt worden sind, damit damit sich die deutsche Industrie und wollen Sie nicht aufgeben. Die meisten auch immer wichtig, deutlich zu sagen, Deutschland möglichst gut durch diese ihre Schlüsselbranchen schnell von der halten Sie für erreichbar. Was macht was geht und was aus bestimmten Grün- Krise kommt. Das ist großartig. Ich wün- Krise erholen. Wenn wir die Weichen rich- Sie da so sicher? den nicht umsetzbar ist. Weil es dafür bei- sche mir, dass wir von diesem Geist etwas tig stellen, kann Deutschland der Motor spielsweise keine politischen Mehrheiten in die Nach-Corona-Zeit mit hinüberneh- für die wirtschaftliche Erholung in ganz Michael Kretschmer: Wir erleben, wie gibt oder weil dafür schlicht das Geld men können. Ich wünsche mir die Bereit- Europa­ sein. abschätzig Abgeordnete und führende fehlt. Auf der anderen Seite lerne ich auch schaft, außerhalb bestehender Kategorien Funktionäre der AfD in den Landtagen unglaublich viel und nehme eine Menge zu denken. Wir brauchen gerade bei der und im über Demokratie und mit aus den Bürgergesprächen. Mir geht Gestaltung des Wandels in den Braun­ Die Fragen stellte Bernd Löhmann am 7. April 2020. Freiheit reden, wie sie über Grundwerte es um den Zusammenhalt in unserem und Vertreter anderer Parteien herziehen. Land. Mir geht es darum, dass wir uns gut Die AfD ist europafeindlich, sie verdreht für die Zukunft aufstellen.

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Plural in vielen Predigten und geistlichen Worten begegnet. Predigende sind häufige „Wir-Sager“, und das „Wir alle …“ gehört zum typischen Predigtsound, zum kirchlichen Soziolekt, zur Konvention der Kanzelrede – wie es Otto Waal- kes in seinem Klassiker „Wort zum Montag“, entstanden vor mehr als vierzig Jahren, bis heute gültig zeigt.1 „Kirchensprech“ sagen manche dazu; es klinge „churchy“, sagen andere. Die Intention aber ist klar: Es soll Nähe hergestellt, eine Gemeinschaft der Hörenden mit dem Redner konstituiert, durch die Ein- beziehung in die erste Person Plural Wertschätzung, Empathie und das Gefühl vermittelt werden, gemeinsam auf der richtigen Seite zu stehen.

PARADOXIE DER KOMMUNIKATION

Doch diese rhetorische Strategie kann nach hinten losgehen. Sobald jemand Wir alle!? behauptet, wir alle würden etwas wissen oder kennen, würden uns moralisch an einer bestimmten Maxime ausrichten oder auf ein gemeinsames Ziel zuge- hen, werden viele Hörende skeptisch und gehen auf Distanz. Ausgelöst wird Zum Problem der Vereinnahmung in öffentlicher Kommunikation dann nicht eine Identifikation mit dem Gesagten, sondern vielmehr eine Reflexionsschleife zur inneren Klärung der Frage, ob es denn stimmt, was da gerade von mir behauptet wird. Wenn die Antwort „Nein“ lautet, bringt das Wir alle statt intendierter Nähe maximale Distanzierung hervor. Als beson- ders anfällig für eine paradox gegenteilige Wirkung erweist sich das Wir ALEXANDER DEEG dann, wenn mit ihm eine bestimmte moralische Position verbunden und den Geboren 1972 in Rehau Am 18. März 2020 wandte sich Angela Merkel Hörenden auf (subtile, aber durchschaubare) Weise nahegelegt wird. „Wir (Oberfranken), Professor für zum ersten Mal in ihrer Kanzlerschaft jenseits müssen ein Herz haben für …“, „Wir dürfen Schritte tun, um …“ – solche Sätze Praktische Theologie, Theologische des Silvesterabends in einer Fernsehansprache sind faktisch Imperative, die sich aber in der ersten Person Plural verstecken, Fakultät der Universität Leipzig. an die Bevölkerung. Gegen Ende dieser ein- anstatt in der zweiten Person Plural direkt adressiert zu werden. Die erste Per- drucksvollen Rede sagte sie: „Es kommt ohne son Plural wird im schlimmsten Fall als mehr oder weniger plumpe Überwäl- Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an.“ tigungsrhetorik entlarvt. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke Dieser Beitrag entstand kurz danach inmitten der Coronakrise – einer schreibt: „Nicht nur Exklusion, auch Inklusion ist eine potentiell gewalttätige Zeit, in der deutlich wird, wie unterschiedlich ein Wir im öffentlichen Raum Operation; sie unterdrückt innere Differenzen und erzwingt die Ausrichtung gebraucht werden kann: als Versuch, die Gesellschaft der vielen Individuen an gemeinsamen Normen.“ 2 Das Wir erweist sich rhetorisch vielfach als hoch- mit ihren partikularen Interessen zu einer Gemeinschaft der verantwortungs- gradig dysfunktional, weil es das Gegenteil des Intendierten hervorbringt. voll und solidarisch Handelnden zu formen wie bei Angela Merkel – oder Gleichzeitig ergibt sich aus dem Wir (alle) nicht selten implizit oder als Versuch, die „Wir-gegen-die-anderen-Rhetorik“ aufrechtzuerhalten, wie explizit eine Rhetorik der Abgrenzung gegenüber anderen. In Predigten kann etwa bei Donald Trump, der von einem „ausländischen Virus“ („foreign die Wir alle-Rhetorik auch dazu dienen, die „Menschen da draußen“ als die virus“) spricht und „die anderen“ für dessen Verbreitung verantwortlich darzustellen, die nicht so leben wie wir und anderen Idealen nachfolgen – macht. Die Coronakrise markiert eine in jeder Hinsicht herausfordernde wodurch teilweise hoch stereotype Klischees der „Menschen von heute“ oder Si­tua­tion – auch, um über das Wir in der öffentlichen Rede nachzudenken, der „modernen Menschen“ in Umlauf gebracht werden. das unverzichtbar ist und zugleich hoch problematisch, weil es gegen seine Die gesuchte Integration in ein Wir kann zur Exklusion und Des­ Intention auf paradoxe Weise das Gegenteil des Intendierten erreichen kann. integration führen. Das Problem betrifft nicht nur Kirchen, sondern auch die Jede Gesellschaft lebt davon, Wir sagen zu können. Und selbstver- Sprache der Politik. Die noch existierende Volkskirche wird durch ein Wir ständlich leben auch Kirchen von einem Wir, weswegen uns die erste Person beschworen, wie gleichzeitig politisch die „Mitte“ von den noch immer so

44 Die Politische Meinung 45 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Schwerpunkt Wir alle!?, Alexander Deeg

genannten Volksparteien reklamiert wird. Das Wir ist hier wie dort ein poten- heilsamer Akt. Czollek vertritt so – mit einem hohen moralischen Anspruch – ziell dysfunktionaler Teil rhetorisch-sozialer Identitätspolitik. ein Modell radikaler Pluralität, womit er freilich paradoxerweise die Kriterien Warnungen vor dem Wir gibt es schon lange. In seinem Gedicht „Ein- der Identitätspolitik erfüllt, die er den „anderen“ vorwirft. zahl“ von 1964 warnt Erich Fried sogar vor jeder Mehrzahl.3 Geht es auch anders? Ist Sprache in der Lage, ein Wir nicht in einer Form zu behaupten, die dazu führt, dass sich Menschen distanzieren, son- Deine Rede sei / ICH DU ER SIE ES / was darüber ist / das ist vom Übel // dern vielleicht sogar ein solches, solidarisch empfundenes Wir hervorzu­ Wir sind die Wirrnis / Ihr seid der Irrtum / Sie sind / die Sintflut bringen? In seiner Vorlesungsreihe „How to do things with words“ 6 zeigte John Austin in den frühen 1960er-Jahren, wie Sprache Wirklichkeit schafft. Fried plädiert für ein radikales Ernstnehmen des Singulars, des Einzelnen Und auch das gibt es: Ein Wir in der Rede muss nicht als Vereinnahmung und Individuellen – gegen jede kollektive Vereinnahmung. Das ist verständ- gehört, sondern kann durch Sprache geschaffen werden. lich. Aber ohne Wir geht es gesellschaftlich eben auch nicht. 1887 erarbeitete Die Fernsehansprache von Angela Merkel auf dem Höhepunkt (oder der Soziologe Ferdinand Tönnies die Unterscheidung von „Gemeinschaft am Beginn?) der Coronakrise Mitte März 2020 ist ein herausragendes Beispiel und Gesellschaft“.4 Unter Gemeinschaft versteht er eine kollektive Gruppie- dafür. Das Ziel war es, an die Verantwortung von uns allen zu appellieren rung, die von einem gemeinsamen Willen und der Orientierung des Handelns und so eine handlungsfähige und solidarische Gesellschaft hervorzubringen. Einzelner an einem übergeordneten Zweck getragen ist. Exemplarisch wäre In der Ansprache begegnet die erste Person Plural insgesamt 85-mal, fünfmal eine Kirche beziehungsweise eine Partei zu nennen. In der Gesellschaft hin- als „wir alle“. Aber siebzehnmal sagt die Kanzlerin auch „ich“, siebenmal gegen sei diese Gemeinsamkeit nicht gegeben, und der Einzelne brauche die „mich“. Immer wieder adressiert Angela Merkel auch die Zuhörerinnen und anderen als Mittel zu einem übergeordneten Zweck. Zuhörer direkt in der zweiten Person Plural. Die Kommunikationssituation Gegenwärtig ist selbst in Gemeinschaften das Wir fraglich und proble- ist klar: „[…] ich möchte Ihnen […] vermitteln, warum es Sie […] braucht matisch geworden. Großinstitutionen tun sich zunehmend schwer, das Ver- […]“. Die Kanzlerin legt ihre Zielsetzung offen, scheut nicht vor direkten bindende auch verbindlich zum Ausdruck zu bringen. Erst recht gilt das für Appellen zurück: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Sie bringt sich mit Gesellschaften, die aber gleichzeitig nicht darauf verzichten können, wenigs- ihrer eigenen Erfahrung ein: „Für jemanden wie mich […]“. Und artikuliert tens den übergeordneten Zweck ihres Miteinanders sprachlich zu artikulieren. ihre eigene Gewissheit: „Dass wir diese Krise überwinden, dessen bin ich voll- Das Wir erweist sich als ebenso nötig und unumgänglich wie problematisch. kommen sicher.“ Auf diese Weise gelingt es, das Wir in eine klare Konstella- Es ist eine Gratwanderung, auf der immer wieder Abstürze drohen: auf die tion einzubinden, die sie selbst als Rednerin und die Angesprochenen ins Ver- Seite des radikalen Wir-Verlustes und der Pluralität, womit jede Gemeinschaft hältnis setzt und Solidarisierung im Wir ermöglicht. und Gesellschaft unmöglich würden; oder auf die Seite der Behauptung und Beschwörung eines Wir, die zur Ablehnung und Distanzierung führen und ALTERNATIVEN ZUM „WIR“ massiv verärgern kann.

DESINTEGRIERT EUCH!? So wie am 18. März 2020 kann es gehen. Aber es lassen sich auch Alternativen zum Wir finden. Erstens: In der Homiletik gab es im 20. Jahrhundert eine intensive Dis- Das zeigt das 2018 erschienene, hoch emotionale Buch Desintegriert euch! des kussion, ob man auf der Kanzel Ich sagen dürfe. Es gehe doch in der Predigt Politikwissenschaftlers und Lyrikers Max Czollek.5 Es spiegelt den Ärger eines schließlich nicht um das Ich des Predigers, sondern um „die Botschaft“ – so jüdischen Deutschen angesichts des beschworenen und vielfältig inszenierten meinte man in einer Phase der evangelischen Predigtlehre, die von den 1920er- Wir. Das „Integrationsparadigma“ bezeichnet Czollek als „Konstruktion eines Jahren bis in die 1960er-Jahre andauerte. Erst danach wurde die Chance und kulturellen und politischen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als Notwendigkeit des Ich in der Kanzelrhetorik neu entdeckt und gewürdigt. Es deutsch versteht“ (S. 15) und dabei durch unterschiedliche, jeweils scheiternde ist auch hier paradox, aber gerade die erste Person Singular eröffnet weit Konstrukte (wie „Leitkultur“, „christlich-jüdisches Abendland“ et cetera) unproblematischer die Chance zur Identifikation, als es die erste Person Plural definieren muss, was dieses Deutsch-Sein eigentlich ausmache. JedesWir, das tut. Als Zuhörender kann ich in Freiheit überlegen, ob es mir auch so geht andere integrieren möchte, stabilisiere letztlich einen Unterschied zu den oder ganz anders. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung der Zuhörenden, ein anderen. Daher bleibe nur die Dekonstruktion des Wir als gesellschaftlich authentisches Ich anzubieten, mit dem sich die ­Auseinandersetzung lohnt.

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Der große Lehrer der Predigt Friedrich Niebergall schilderte in einem eigenen Paragraphen seiner Predigtlehre anschaulich die ermüdende Konventionalität der Kanzelrede und fasste das Problem dann in dem Satz zusammen: „Es pre- digt.“ 7 Da war kein Ich mehr, das individuell und angreifbar etwas gesagt hätte. Da war nur noch Kanzelmonotonie. Zweitens: Eine weitere Möglichkeit, Gemeinschaft in der Rede und durch die Rede zu schaffen, liegt im Erzählen von Geschichten. Das klingt banaler, als es gemeint ist. Menschen leben in Geschichten; Identität wird narrativ konstruiert, und unsere Welt ist immer narrativ strukturiert. Wenn es eine Gemeinschaft gibt, für die ein Wir sinnvoll verwendet werden kann, dann muss es Geschichten geben, die dieses Wir miteinander verbinden. Das gilt für Familien genauso wie für Freundeskreise, aber auch für Kirchen oder Parteien. Es ist der Verlust dieser Erzählungen, der die Institutionenkrise der Die Kunst Gegenwart begründet und jenen an den Rändern Auftrieb gibt, die alte Geschichten neu aufwärmen: die neue Rechte mit ihrem völkisch-nationalen Narrativ oder fundamentalistische religiöse Gruppierungen. Die Schwäche der „Mitte“, der Volkskirchen und Volksparteien könnte in ihrer Unfähigkeit des „Miteinander- liegen, Geschichten zu erzählen, die Menschen verbinden und motivieren. Wer mag, kann vom Gleichniserzähler Jesus lernen. Er fordert Zuhörende heraus, mit ihm auf Bilder oder Geschehnisse zu blicken. Viele dieser sprechens“ Geschichten wurden kulturelles Erbe der westlichen Welt: der barmherzige Samariter, der verlorene Sohn. Durch Geschichten wird es möglich, dass sich Zuhörende in Freiheit identifizieren, ihren eigenen Ort in der Erzählung fin- Eine sprechwissenschaftliche Perspektive den, über Nähe und Distanz selbst entscheiden. Gerade durch den Verzicht auf ein Wir kann ein Wir geschaffen werden. Es kann sein, dass die Zeit der Krise ein Wir auf neue Weise möglich macht – als ernst gemeinten und tief empfundenen Ausdruck der Gemein- schaft von Menschen, die solidarisch eine gemeinsame Herausforderung meistern. „Yes, we can …“ – so ähnlich sagte das auch Angela Merkel am SUSANNE VOIGT-­ZIMMERMANN 18. März 2020: „Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv Geboren 1967 in Bernburg (Saale), Nach wie vor – selbst unter den Bedingun- hinzunehmen.“ Das „wirksamste Mittel gegen die zu schnelle Ausbreitung Sprecherin der Abteilung Sprech­wissen­ gen einer Pandemie – gilt, dass gesellschaft- des Virus […] sind wir selbst.“ schaft und Phonetik, Institut für Musik, liches und soziales Miteinander kommuni­ Medien- und Sprechwissenschaften, kativ ausgehandelt werden. Insbesondere 1 Vgl. Jan Feddersen / Philipp Gessler: Phrase unser. Die blutleere Sprache der Kirche, München Philosophische Fakultät II der Martin- Politik realisiert sich demokratisch, also über 2020, S. 18. Luther-Universität Halle-Wittenberg. das Recht der Mitsprache. Denn im Dialog 2 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2017, S. 98. unter und mit den Bürgerinnen und Bür- 3 Erich Fried: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte, hrsg. von Volker Kaukoreit und Klaus Wagen- JUDITH PIETSCHMANN gern wird mittels politischer Kommunika- bach, Berlin 1993, S. 336. Geboren 1978 in Berlin, Abteilung tion gesellschaftliche Wirklichkeit, das heißt 4 Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Sprechwissenschaft und Phonetik, das Miteinanderleben im Heute und in der hrsg. von Arno Bammé, München/Wien 2017. Institut für Musik, Medien- und Zukunft, gestaltet. 5 Max Czollek: Desintegriert euch!, München 2018. Sprechwissenschaften, Philosophische 6 John L. Austin: How to do things with words, Oxford 1963. Doch nicht nur politische, son- 7 Friedrich Niebergall: Wie predigen wir dem modernen Menschen?, zweiter Teil: Eine Unter­ Fakultät II der Martin-Luther-Universität dern auch gesellschaftliche Diskurse schei- suchung über den Weg zum Willen, 3. Aufl., Tübingen 1917. Halle-Wittenberg. tern und polarisieren zunehmend. Das

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­Gemeinsame nicht nur der Sprache und der Sache scheint zu fehlen, sondern überwunden; wissen doch gerade die Deutschen um die Gefahren demago­ auch in der Art und Weise des gemeinsamen Sprechens. Klassische, öffent­ gischer Rhetorik einerseits und die Notwendigkeit des gesellschaftlichen liche Räume diskursiven Miteinanders scheinen zudem kaum noch effektiv ­Diskurses als Aushandlungsprozess des Zusammenlebens andererseits. Auch genutzt zu werden; es florieren vielmehr anonyme („geschützte“), geschlos- aktuell entgleisen politische Debatten nicht nur inhaltlich-argumentativ wieder sene („sichere“), unmoderierte („als frei von Bevormundung verstandene“) auf diese unerträgliche Art und Weise und mit dem eigentlich als überwunde- und eher homogen („ohne Widerspruch“) besetzte Kommunikationsformen nen geglaubten „Keine Diskussion!“- beziehungsweise „Basta“-Habitus. Der in den sozialen Medien. politische Gegner wird wieder und unverhohlener als je zuvor mit lauter Durch die Art und Weise, wie wir miteinander reden beziehungsweise Stimme überbrüllt, totgeschrien, erniedrigt und auf das Heftigste psychisch sprechen, tragen wir alle eine immense Verantwortung dafür, wie wir mitein- und physisch verletzt – als gäbe es kein Morgen! ander leben (werden). Doch „Empörung(sgesten)“ (Detering 2018) über die Die Grenzen des Sagbaren und des Konsensfähigen verschieben sich aktuelle Debattenkultur allein reichen nicht aus. Es müssen Antworten auf rasant (Pörksen 2019). Wenn Aufmerksamkeit nur durch verbale Entgleisun- die für das künftige soziale Zusammenleben mehr als brennenden Fragen gen erheischt werden kann und sie offenkundig das letzte Mittel der „rhetori- gefunden werden: Gibt es noch einen gesellschaftlich allgemein akzeptierten schen“ Wahl sind, offenbart dies nicht nur Unanständigkeit, fehlenden Takt Anstand in der politischen Debatte? Wie und wodurch wird er definiert, und und schlechte Erziehung. Vielmehr geben derart kommunizierende Men- wie kann er vermittelt werden? Wie gelingt es (wieder), in einen echten münd- schen durch die Wortwahl, den Satzbau, durch Stimmklang und Stimmfüh- lichen Dialog zu kommen? Wie gelingt es, ihn trotz kontroversen Gesprächs- rung detailliert Auskunft über sich selbst. Und nicht zuletzt zeigt sich das verlaufs aufrechtzuerhalten? Wird es gelingen, selbst kontroverse Argumente Eingeständnis, keine anderen kommunikativen Mittel zu kennen oder zu in geschützten Räumen gemeinschaftlich zu verhandeln? Welche kommuni- beherrschen, um politische Macht zu erringen, zum Beispiel durch zwar kativen Begegnungsräume stehen zur Verfügung, um miteinander in einer überzeugende, engagiert und doch situativ angemessen vorgetragene Argu- echten Face-to-Face-Situation ins Gespräch zu kommen? Woran erkenne ich mente. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering spricht in diesem destruktives Miteinandersprechen? Wie reagiere ich darauf? Welches­ sind Zusammenhang von einer „Verhexung des politischen Diskurses“ (2018, 17), bewusst beeinflussbare Merkmale des eigenen Sprechens? die zu einer aufgeheizten politischen Debatte führe. „Vergiftung“ ist der ver- Dies sind Fragen, derer sich insbesondere die Sprechwissenschaft mutlich passendere Begriff. Das Ergebnis von kalkulierter, also durchaus poli- annimmt und annehmen muss. Denn wenn es nicht gelingen sollte, a) in tisch diskursiver Provokation (im Sinne einer bewusst auf Eskalation angeleg- einen echten, das heißt auch mündlichen Dialog zu kommen, b) durch den ten Kommunikation) ist Sprachlosigkeit, eine Art funktioneller Aphasie. bewussten und verantwortungsvollen Einsatz deeskalierender sprecherischer Mittel wieder wertschätzend miteinander umzugehen und c) trotz vorliegen- FAKTISCH CONTRA APPELLATIV der Meinungsverschiedenheiten gemeinsam einen tragfähigen Konsens zu finden, steht die Gefahr eines Abgleitens in autoritäre Verhältnisse im Raum. Das Hauptmerkmal der Diktatur ist die verbale Indoktrination, die sich Henning Lobin konstatiert aktuell das Fehlen einer „gemeinsamen Sprache“ zudem rigoros einer Diskussion entzieht. (2019, 36), einen Umstand, der einer partikularisierten Gesellschaft imma- nent ist. Denn Teil­öffentlichkeiten befördern die Herausbildung eigener „VERHEXUNG DES Sprach- und Kommunikationsformen, insbesondere auch eigener Sprechwei- POLITISCHEN DISKURSES“ sen, womit unter anderem der Sprechduktus gemeint ist. Diese Kommunika- tionsräume sind dabei freilich Segen und Fluch zugleich, denn sie befördern einerseits die von allen Seiten gewünschte kommunikative Teilhabe mit den Schon früher verliefen die parlamentarisch geführten Dialoge nicht immer zur Verfügung stehenden Mitteln und erlauben doch andererseits die bereits „fein“. Berühmt-berüchtigt sind die Wortgefechte zwischen Herbert Wehner benannte, oftmals unwidersprochene Grenzverschiebung hin zum bisher und Franz Josef Strauß. Aus heutiger Perspektive klingen ihre Dialoge gleich- eigentlich Unsag­baren. Und wir wissen: Zunehmend häufig unwidersprochen wohl wie ein Echo der Vergangenheit: laut, mit vielen dynamischen Akzen- ausgesprochene Unwahrheiten werden irgendwann als faktisch bewiesen ten, stakkatohaft, überartikuliert, ohne Pausen, die ja Einspruch ermöglichen akzeptiert. würden. Noch vor wenigen Jahren erschienen solche oder ähnlich martialisch Politisches (Miteinander-)Sprechen, so scheint es, bewegt sich zuneh- und patriarchal klingenden Töne kaum mehr möglich. Sie schienen eigentlich mend zwischen Bedeutungslosigkeit, Inhaltsarmut und Phraseologismen auf

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der einen und extremen Protestpositionen und ihren sprachlich-kommunika- ­Rhetorikzertifikates stellen verschiedene Möglichkeiten dar, eigene Ge­- tiven Auswüchsen auf der anderen Seite. Beides verbindet sich nicht mit den sprächskompetenz, auch für den politischen Diskurs, zu erwerben. Gesprächs- Bestimmungsmerkmalen von Gesprächsfähigkeit: Konfliktfähigkeit, Verant- kompetenz als wesentliche Schlüsselqualifikation beispielsweise für den wortungsfähigkeit und Reflexionsfähigkeit (vgl. Geißner 2000, 125). Verant- Lehrberuf zu begreifen, stellt ein für Bildungspolitikerinnen und -politiker wortungsvolle, kritikfähige und reflektierte politische Kommunikation ist wichtiges Argument bei der Entscheidung zum weiteren Ausbau von rhetori- zunächst immer kein Sprechen zu anderen, sondern ein Sprechen mit anderen. schen Kursen in der Lehramtsausbildung dar. Denn Lehrerinnen und Lehrer Es ist zu beobachten, dass Inhalte, zu denen das Faktische zählt, leisten einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung mündiger Bürgerinnen zunehmend unwichtig oder sogar ins „Unfaktische“ verkehrt werden, übri- und Bürger und schaffen bei den Schülerinnen undSchülern ­ die Vorausset- gens auch ohne Scham vor dem überwiegenden Teil der Gesellschaft, einer zungen für einen verantwortungsvollen, reflektierten und wertschätzenden bis dato funktionierenden regulativen Größe vergangener Jahrzehnte. Viel- politischen Dialog. mehr wird mittels Ausnutzung peripherer Routen der Oberflächenverarbei- tung, das heißt kognitiv eher unaufwendig, lediglich Aufmerksamkeit evo- KOMMUNIKATION IST „GEMEINSCHAFTSHANDLUNG“ ziert (Elaboration­ Likelihood Model of Persuasion nach Cacioppo und Petty 1984), wie es zum Beispiel in der Werbebranche üblich ist. Das Faktische wird dabei nicht nur infrage gestellt. Sachliche Argumente werden durch gezielt Eine weitere Frage ist, ob man grundsätzlich eine gewisse „Grobheit“ und eingesetzte und ausgestaltete Sprechakte (Appell, Motivierung, Beruhigung „Verletzungen“ im politischen Diskurs und den Vorwurf fehlender „Robust- und so weiter) vorgetragen. Hierin sieht Caspar Hirschi (2018; 2020) ein heit“ akzeptieren muss. Nein, das muss man nicht, zumindest nicht immer. grund­legendes Problem: Das Faktische, oftmals durch Experten und Exper- Man muss sie als inakzeptabel und störend benennen und eine andere Stilis- tinnen vorgetragen, stehe mittlerweile in richtungsbeeinflussender Konkur- tik einfordern, damit das Gespräch überhaupt aufrechterhalten werden kann. renz zum Appellativen, Mittel der Populisten und Populistinnen. Hirschi Man kann also die Verantwortung für das Gelingen des Gespräches an den spitzt dieses rhetorische Problem auf einen erklärungsbedürftigen „politi- „groben“ oder „verletzenden“ Gesprächspartner zurück- beziehungsweise schen Antagonismus“ zu: Wissenschaftliche Expertinnen und Experten wür- übergeben. Denn durch unwidersprochene Hinnahme solcher „Entgleisun- den für politischen Zwecke instrumentalisiert, sogar verschiedentlich gegen gen“ wird das Gegenüber in seiner rhetorischen Art und Weise bestärkt. die Bevölkerung. Ihre Beratungsfunktion rücke damit in den Hintergrund. Eine gemeinsame Sprache setzt zunächst den Willen voraus, etwas Das führe unter anderem dazu, dass sie als erweiterter Arm des Establish- gemeinsam bewegen und bewältigen zu wollen, und in diesem Sinne auch den ments angegriffen würden. Auch dadurch würden kontroverse Probleme einer Willen, etwas zur gemeinsamen Sache, zu einem gemeinsamen Ziel zu erklä- demokratischen Diskussion entzogen. Nicht nur aus sprechwissenschaft­ ren, damit natürlich auch ein geteiltes Problemverständnis und so weiter. licher Sicht sei das eine fatale Entwicklung. Hierin liegt die Kernbedeutung von Kommunikation in der sprechwissen- schaftlichen Theorie: Kommunikation ist „Gemeinschaftshandlung“ bezie- GESPRÄCHSKOMPETENZ ALS hungsweise gemeinschaftliche Verständigungshandlung und bezeichnet den SCHLÜSSELQUALIFIKATION reziproken Verständigungsprozess, in dem etwas zur gemeinsamen Sache beziehungsweise etwas gemeinsam gemacht wird (vgl. Geißner 2000). Wenn das nicht möglich ist, wenn sogar aktive Kommunikationsverweigerung statt- Die nach Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (2019) in den offenen Dis- findet, müssen Erklärungs- und Interventionsmodelle bemüht werden. kursräumen der derzeitigen „Empörungsdemokratie“ verschobenen Grenzen Andreas Petrik et al. (2018) haben in verschiedenen schulischen Bil- des sanktionsfrei Sagbaren, des öffentlich Akzeptablen und Konsensfähigen dungssettings diesbezüglich übrigens nur einem von insgesamt vier rechtspo- bei gleichzeitigem Fehlen sogenannter Gatekeeper verlangen nach einer früh- pulistischen und rechtsextremistischen Argumentationstypen, nämlich dem zeitigen rhetorischen Bildung. Eine bewusste, verantwortliche und struktu- der „gefestigten Nationalisten“, eine Unerreichbarkeit für Argumente und rierte Gesprächskultur muss durchaus erst ausgebildet werden (frühkindliche politische Bildung attestiert. Die Angehörigen dieser Gruppe zählen somit Bildung im Bereich Argumentation eingeschlossen). Deshalb ist nicht nur vermutlich zu den beratungsresistenten Menschen. Hier liegt eine Verweige- politische, sondern auch eine rhetorische Bildung unumgänglich, die eine rung vor, gemeinschaftlich Verständigung zu verhandeln und zu erreichen. Reflexion und Adaptation des eigenen Sprechens einschließt. Formate Echte Veränderungen treten bei dieser Gruppe „nur im Rahmen tiefgreifen- wie (professionell moderierte) Debattierclubs oder etwa der Erwerb eines der biografischer Krisen ein“ (ebenda). Alle anderen Argumentationstypen,

52 Die Politische Meinung 53 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Schwerpunkt Die Kunst des „Miteinandersprechens“, Susanne Voigt-Zimmermann, Judith Pietschmann

nämlich erstens ­tabu­brechende Provokateure, zweitens reflexive Ausländer­ Um ins Gespräch zu kommen, um das Miteinander in den Fokus zu setzen, skeptiker und drittens­ frustrierte Wohlstands-Chauvinisten, die „wild und ist eine kommunikative Grundhaltung gefragt, die sich eben nicht durch böse reagieren, wenn man sie mit Argumenten konfrontiert“ (Petrik 2018), „lautes Brüllen“ extremer Positionen Gehör zu verschaffen sucht, sondern bei sind argumentativ erreichbar beziehungsweise mehr oder weniger offen. der eine Haltung konsequent auf die Gesprächspartner hin orientiert ist und In der sprechwissenschaftlich geprägten Lesart geht es in der politi- dabei zugleich das eigene Sprechhandeln kritisch reflektiert. Die Analyse der schen Kommunikation grundlegend darum, Gemeinsamkeit zu suchen und eigenen (Fehl-)Leistung, der eigenen Gesprächs(un)fähigkeit und kommuni- herzustellen, damit politisch verantwortliches Handeln möglich werden kann. kativen (In-)Kompetenz sowie des eigenen Anteils am Gelingen und Schei- Miteinandersprechen ist das zentrale Mittel, um sich über grundlegende tern von Kommunikation ist dabei der Archimedische Punkt, an dem die ­Fragen des Zusammenlebens in der Gesellschaft zu verständigen – und das Optimierung der Sprechkommunikation ansetzt. Die aktuellen politischen durchaus kontrovers. Zu einem Gespräch gehört beides: der Wille aller Betei- Zustände – auch im Hinblick auf das Debakel in Thüringen – bieten­ das große ligten zum Miteinandersprechen und der zum Zuhören (KFW 2019). Das Potenzial der selbstkritischen Fehleranalyse. „Miteinander“ im Kommunikationskonzept des Miteinandersprechens und der damit grundlegend implizierten Dialogizität bedeutet zunächst eine grundlegende­ Abkehr von unidirektionalen Steuerungsperspektiven (von Perspek- Literatur tiven auf den Orator als den rhetorisch handelnden Einzelmenschen, der Detering, Heinrich: Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rede, Reclams andere einseitig – also ohne deren Mitbeteiligung – in seinem Sinne lenken ­Universal-Bibliothek Nr. 19619, Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2019. Pörksen, Bernhard: „Die neue Aufklärung. Über das Ende des Belehrens“, in: Entgleist? Wandel der und „überreden“ kann), die wohl bis heute zuweilen mit dem Gegenstands­ Sprach- und Debattenkultur, Die Politische Meinung, 64. Jg., Nr. 557, Juli/August 2019, S. 30–33. bereich der Rhetorik verbunden werden. Nach diesem Verständnis sind auch Lobin, Henning: „Medienrevolution und Sprache. Über ‚Sprachverrohung‘ und die Auswirkungen monologische Formate wie die Rede grundlegend auf Dialogizität hin konzi- von Digitalisierung“, in: Entgleist? Wandel der Sprach- und Debattenkultur, Die Politische Meinung, piert beziehungsweise „virtuell“, das heißt latent dialogisch. 64. Jg., Nr. 557, Juli/August 2019, S. 34–40. Geißner, Hellmut K.: Kommunikationspädagogik. Transformationen der „Sprech“-Erziehung, ­Roehrig-Universitätsverlag, St. Ingbert 2000. ZUM ZUHÖREN VERPFLICHTET Cacioppo, John T. / Petty, Richard E.: „The Elaboration Likelihood Model of Persuasion“, in: Advan- ces in Consumer Research, 11. Jg., 1984, S. 673–675. Hirschi, Caspar: Skandalexperten, Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems, Dies setzt das Gewahrwerden der „anderen“ Perspektive(n) als Gelingensbe- Matthes & Seitz, Berlin 2018. Ders.: Experten und Populisten: Zur Geschichte eines politischen Antagonismus. Wissenschafts- dingung für jede Form und jedes Feld von Kommunikation voraus. Das historische Seminare im Leopoldina-Zentrum für Wissenschaftsforschung (ZfW) Halle (Saale), Wahr- und Ernstnehmen der anderen Perspektive, der anderen Meinung und Vortrag am 03.03.2020. Intention bildet in diesem Konzept die Grundlage gelingender Kommunika- Petrik, Andreas: Die Neue Rechte als Herausforderung an die politische Bildung. Vortrag beim tion. Um gemeinsam handeln und darüber hinaus auch Zukunft und Gesell- Fachtag „Die neue Rechte – Die autoritäre Revolte?“ der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 11.10.2018, siehe schaft gestalten zu können, muss die gemeinsame Sache, das gemeinsame www.youtube.com/watch?v=J9KspEd3q8o [letzter Zugriff: 16.03.2020]. Anliegen gehört, erkannt und ernst genommen werden. Miteinanderspre- Petrik, Andreas / Köhler, Anke / Hentschel, Jannis: Lernort Schule: Die „Dorfgründung“ als chen aus systemischer Perspektive bedeutet, alle Stimmen und Perspektiven, demokratischer Prozess. Ergebnisse eines Simulationsspiels im Unterricht. Forschungsbericht sowohl gemäßigte als auch polarisierende, urteilsfrei wahr- und ernst zu des ­Projekts Demokratietransfer, Bd. 2, Universitätsverlag, Halle 2018. Kleine Fächer-Wochen Sprechwissenschaft, KFW 2019, kfw.sprechwiss.uni-halle.de/politischer- ­nehmen. Darin liegt die große Chance, das eigene Versagen (den eigenen diskurs-wie-wir-heute-miteinander-reden-werden-wir-morgen-miteinander-leben/ [letzter Zugriff: Anteil im System) zu erkennen. Dieses „Miteinander“ verpflichtet dabei alle 16.04.2020]. Gesprächspartner zum Zuhören, verpflichtet dazu, allen Stimmen und Mei- nungen Aufmerksamkeit und Respekt zu schenken, um Resonanz zu erzeu- gen, zumindest jenen, die auf dem Fundament des Grundgesetzes agieren. Und es verlangt die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zum Sich-Einfühlen und Sich-Eindenken in die Vorstellungswelt des jeweils anderen. Letztendlich endet jedoch auch Kommunikation genau dort, wo Gewalt beginnt. An dieser Stelle muss die Legislative beziehungsweise die Judikative die Kommunika- tion übernehmen.

54 Die Politische Meinung 55 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang

Schwerpunkt

Schnell werden dann Forderungen nach mehr Mitbestimmung laut, etwa durch Einführung plebiszitärer Partizipationsstrukturen oder durch die Ab- senkung des Wahlalters. Menschen sollen die Erfahrung machen, politisch etwas bewirken zu können. Macht Menschen zu Politikern, dann hört die Politikverdrossenheit auf. Stimmt das? Wo es Elemente direkter Demokratie, etwa Volksbegehren oder Bürger­ entscheide, gibt, bleiben Abstimmungszahlen in vielen Fällen hinter der gesetzlich geforderten Mindestbeteiligung zurück. Und wo das Quorum erreicht, ja manchmal eindrucksvoll übertroffen wird, geschieht das oft, weil der zur Abstimmung stehende Sachverhalt radikal vereinfacht wurde. „Rettet die Bienen!“ – wer könnte zu diesem Imperativ ernsthaft „Nein“ sagen? Doch wird die mit der Kampagne verbundene Reduktion auf Ackergiftverbote und Blühstreifen kaum dem komplexen Zusammenspiel von landwirtschaftlichen Erzeugungsbedingungen, Wettbewerbsorientierung, Existenznöten, Bio­ diversität, Großhandelsmargen und Lebensmittelpreisen gerecht. Ab wann kippt populäre Zuspitzung in populistische Stimmungsmache? Nicht erst das Brexit-Referendum hat vor Augen geführt, zu welch hanebüchenen Falsch­ „Politik der Würde“ behauptungen Campaigner greifen, um die Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen. POLITIK IST KEINE SPIELWIESE Wie Institutionen sittlich handeln Noch aus einem anderen Grund sind Elemente direkter Demokratie auf na­tio­ naler Ebene problematisch. Denn anders als an Stammtischen bisweilen ver- mutet gilt in einem demokratischen Rechtsstaat das Prinzip „Mehrheit ent- scheidet“ nicht uneingeschränkt. Die freiheitlich-demokratische Grund- JOACHIM SÖDER ordnung kennt Normen, die der Mehrheitsentscheidung entzogen sind. Die Geboren 1967 in Premich (Bayern), Politikverdrossenheit ist so alt wie Politik. Wo in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz (GG) formulierte „Ewigkeitsgarantie“ Professor für Philosophie an der es Regierende und Regierte gibt, findet sich sichert die Unantastbarkeit von Menschenwürde und Menschenrechten, das Katholischen Hochschule Nordrhein- auch ein Ressentiment gegen „die da oben“. Demokratie- und Bundesstaatsprinzip sowie die Rechts- und Sozialstaatlich- Westfalen (Abteilung Aachen). Daran ändern auch demokratische Verfassun- keit gegen mögliche Eingriffe, selbst wenn diese auf demokratischem Wege gen nichts, die den Regierten prinzipiell die zustande kämen. Die grausamen Lehren der Geschichte haben dazu geführt, Möglichkeit eröffnen, auf die andere Seite der Macht zu wechseln und selbst dass um der Humanität willen bestimmte Bereiche des menschlichen Zusam- zu Gestaltern der Politik zu werden. Ungewohnt und in hohem Maße beun- menlebens absolut geschützt und der demokratischen Mehrheitsentschei- ruhigend dagegen ist das Phänomen, dass nach jahrelangem wirtschaft­lichem dung entzogen sein müssen. Aufschwung und trotz allgemeiner Prosperität nicht nur die politischen Kräfte­ Genau vor diesen Bereichen würde aber das politische Instrument der verhältnisse erodieren, sondern den Repräsentanten des politischen „Es­ta­ direkten Demokratie schwerlich haltmachen. Die Schweiz, scheinbar ein Mus- blish­ments“ in bisher ungekanntem Ausmaß Verachtung und unverhohlener terland basisdemokratischer Kultur, hat 2009 durch eine Volksabstimmung die Hass entgegenschlagen. Galgen bei Demonstrationen, Beleidigungen in der Aufnahme eines Bauverbots für Minarette in die Eidgenössische Bundesverfas- virtuellen und analogen Welt, Gewaltattacken gegen Politiker zeugen nicht sung erzwungen. Eine solche, in der Verfassung verankerte Diskriminierung nur von einer Verrohung der Umgangsformen, sondern von einer elementar der kulturellen Ausdrucksform einer zugelassenen Religions­gemeinschaft gestörten Kommunikation zwischen Entscheidungsträgern und Entschei- dürfte in westlichen Demokratien beispiellos sein und ist, wie selbst das dungserträgern. Schweizer Bundesgericht urteilte, ein Verstoß gegen die Menschenrechte.

58 Die Politische Meinung 59 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Schwerpunkt „Politik der Würde“, Joachim Söder

­Würden in Deutschland nationale Volksentscheide eingeführt, die Zahl der Anständigkeit gestellt, um eine „Politik der Würde“ zu realisieren. Margalit populistisch ausschlachtbaren Themen würde erheblich zunehmen. unterscheidet dabei zwischen der moralischen Haltung des Individuums und Dies gilt im Übrigen auch für die Absenkung des Wahlalters. Kann man der in Institutionen inkorporierten „substanziellen Sittlichkeit“. Ein Staat, jungen Menschen, denen der Abschluss eines Ratenkreditvertrags verwehrt ist, der die Extravaganzen seiner Bürger durch Manipulation, Überwachung und politische Gemengelagen so erklären, dass sie zu einer mündigen Wahlent- Unterdrückung im Zaum hält, mag effizient sein; menschenwürdig agiert er scheidung in der Lage sind? Können sie, denen im privaten Bereich der voll- nicht. Unter solchen Umständen ist die Würde des Einzelnen auch nicht da- umfängliche Überblick über die Folgen ihres Handelns abgesprochen wird, durch zu wahren, dass Individuen einander mit Respekt begegnen. Wo Men- Verantwortung im öffentlichen Bereich wahrnehmen? Bei näherer Betrach- schen in Würde zusammenleben sollen, muss ein Übergang von der bloß tung scheint das Wahlrecht für Minderjährige die Tendenz zu haben, Demo- „gezügelten Gesellschaft“ zur „anständigen Gesellschaft“ erfolgen. „Eine kratie eher zu infantilisieren, als sie krisenfest zu machen. Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen Menschen nicht Politik ist eine ernste Sache. Sie eignet sich nicht als Spielwiese zum demütigen“ (Margalit 2012, S. 13). Der Umgang mit Flüchtlingen etwa, mit Ausprobieren und Spaßhaben, und sie lässt auch nur in beschränktem Umfang sozial Schwachen, mit ethnischen oder religiösen Minderheiten und mit den Komplexitätsreduktion und Vereinfachung zu. Selbst dort, wo es nicht un- Sorgen der Menschen sagt etwas darüber aus, ob eine Gesellschaft anständig mittelbar um Krieg oder Frieden geht, stehen Entscheidungen an, die tief in ist. Demütigung greift die Selbstachtung an. „Eine Person zu demütigen das Leben der Menschen eingreifen. Solche Eingriffe sind durch keinen ande- heißt, ihr die Menschlichkeit abzusprechen, was wiederum bedeutet, sie so zu ren Grund als den der Gerechtigkeit legitimierbar. Deshalb ist auch die gern behandeln, als ob sie kein Mensch wäre, sondern bloß ein Ding, Werkzeug, bemühte Rede vom „Respekt“ des Staates gegenüber der Lebensleistung von Tier, Untermensch oder Mensch zweiter Klasse“ (ebd., S. 126). Bürgerinnen und Bürgern unangebracht. Entweder die politischen Akteure Wie aber lassen sich institutionelle Demütigungen verhindern oder, emotionalisieren, damit das, was nüchtern betrachtet um der Gerechtigkeit positiv gewendet: Wie werden Einrichtungen sittlich? Es sind die Menschen, willen gefordert ist, zu einer Gunst wird, die sie aus Wohlwollen gewähren. die Organisationen errichten, unterhalten und mit Leben füllen, es sind Poli- Oder aber der wohlklingende Ausdruck kaschiert eine Klientelpolitik, die – tiker, deren Entscheidungen Ablaufroutinen ins Werk setzen, die beim Bürger weil sie Partikularinteressen bevorzugt – gerade nicht gerecht ist. In beiden als Institutionenhandeln ankommen. Allgemeine Verwaltungsstrukturen Fällen aber macht die scheinbar so egalitäre Formel vom „Respekt“ die einen sind prinzipiell etwas anderes als individuelle Handlungen, aber in ihnen zu Spendern und die anderen zu Empfängern von Wohltaten. Die Kluft wird manifestiert sich etwas vom Ethos derer, die sie eingerichtet haben. Wo das also keineswegs aufgehoben, sondern vertieft. Individuelle zum Allgemeinen auskristallisiert, macht es einen Unterschied, ob das Ethos der Entscheidungsträger und Gestalter Tugenden wie Wert- DEMÜTIGUNG UND SCHAM schätzung, Demut und Großherzigkeit – nach Corine Pelluchon allesamt „Tugenden für eine ungewisse Welt“ – umfasst oder nicht. „Die Idee wäre, dass eine Gesellschaft nur anständig sein kann, wenn ihr das Schamgefühl Der politische Grundsatz, „Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben“ (Artikel nicht abhanden gekommen ist, mit anderen Worten, wenn sich ihre Mitglie- 56 GG), stellt ein normatives Ideal dar, doch im Zwielicht des Tagesgeschäfts der für demütigende Akte schämen“ (Margalit 2012, S. 140). verschwimmen häufig die Motive des Handelns. Ob eine Entscheidung aus Taktik, Strategie, Wille zum Machterhalt, Verantwortungsbewusstsein oder um der Gerechtigkeit willen getroffen wird, ist selten eindeutig zu bestim- Literatur men. Aber den Bürgern immer wieder zu erklären, dass dieses oder jenes kon- Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Suhrkamp, Berlin 2012. krete politische Handeln der Versuch ist, Gerechtigkeit herzustellen, ist ein Pelluchon, Corine: Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt, wbg Academic, Darmstadt 2019. wichtiger Schritt der Vertrauensbildung. Die einschneidenden Maßnahmen zur Eindämmung der Coronakrise haben die Zufriedenheit mit den Politik­ akteuren signifikant ansteigen lassen, weil glaubhaft vermittelt werden konn- te, dass die erheblichen Beschränkungen Teil eines insgesamt gerechten Gesamtplans waren. Neben das Ideal der Gerechtigkeit, das als solches nie vollkommen zu verwirklichen ist, hat der israelische Philosoph Avishai Margalit die Praxis der

60 Die Politische Meinung 61 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Kommentiert

oben eine Lehre zu erteilen. Was dann wirkt. Judith Butler schreibt: „Wir tun ­jeder wählt, ob ganz rechts oder links, das Dinge mit der Sprache, rufen mit der muss jeder selber für sich entscheiden. … Sprache Effekte hervor, und wir tun der Und diese Regierung muss sich mal eins Sprache Dinge an; doch zugleich ist Spra- merken: Das Volk kann sich ne neue Re- che selbst etwas, was wir tun.“ 2 gierung suchen, aber die Regierung nicht Es ging in der Ethnographie des Un- ein neues Volk.“ muts nicht nur um das Schimpfen von Wie wir wissen, entwickelten sich „Hartz-IV“-Empfängern. Auch Chefärz- die „Hartz-IV“-Proteste nicht zu einem te, Angestellte, Selbstständige oder Rent- „Flächen­brand“. Was blieb, war die lang- ner schimpften über die Zumutungen der fristigere Artikulation des Unmuts in der Transformation. Ziel meiner Forschung Wahlkabine. war es, ihren Unmut und die Welt, die er Der Ton wurde im Laufe der Demons- erschafft, zu verstehen. Was, so fragte ich tration aggressiver. Zwischenrufer kom- am Ende der Arbeit, passiert, wenn sie mentierten die Redebeiträge. Bürger U: nicht erhört werden? „Auf die Schnauze!“ Bürger V: „So kor- rupt, das System.“ Rednerin: „Schröder hat gesagt, keinem soll es schlechter ge- „DAS FÜNFTE RAD AM WAGEN“ hen.“ Bürger V: „Hat Kohl auch schon ge- sagt, raus die Hunde! Verbrecher müssen Unmut und Utopie verschwinden. Das is Kapitalismus, pure Zehn Jahre nach den Hartz-IV-Demons­ Ausbeutung. Die Bonzen sollen zu Fuß trationen erfuhr der Unmut durch Pegida gehen und dann mit der Peitsche jagen, den großen Auftritt und fand in der Alter- Ethnographische Betrachtungen in ländlichen Räumen Ostdeutschlands das Gesindel, die Lumpenhunde.“ native für Deutschland (AfD) Wortführer, Ich redete mit den Männern, die hier die nun meinten, stellvertretend für die ihre Wut herausschrien. Sie erzählten mir Unmutigen das Sprechen übernehmen zu bereitwillig von ihren Arbeitslosenbiogra- können. Ich bin nach wie vor davon über- phien, von vergeblichen Bewerbungen zeugt, dass man über den Unmut das „Lei- und davon, dass sie sich überflüssig fühlen den an der Gesellschaft“ (Pierre Bourdieu) JULIANE STÜCKRAD in diesem Land, das nicht ihres sei.1 Die ergründen sollte. Doch in den letzten Jah- Geboren 1975 in Eisenach, Seminar forschung für mein Dissertationsprojekt Kundgebung hinterließ in mir Beklom- ren ist es meines Erachtens schwieriger für Volkskunde / Kulturgeschichte der über die Kultur des Unmuts im Süden menheit. Was hier auf einer öffentlich an- geworden, aus den zu Parolen geworde- Friedrich-Schiller-Universität Jena. . gemeldeten Demonstration ohne Eingrei- nen Unmuts-Artikulationen eine wirklich Ein Mann tritt ans Mikrophon: „Ich fen der Veranstalter (Arbeitslosen-Service selbstständige, kritische Haltung heraus- möchte mal kurz zu ihnen sprechen. … und ver.di) geäußert wurde, war zwar zuhören. Die Sprache des Unmuts kann Beginnen wir mit den Betrachtungen zu Wir Bürger ham nu jetzt praktisch zwei reich an Daten, bereitete mir aber große durchaus kreativ sein und damit einen Unmut und Utopie auf dem Marktplatz Möglichkeiten, um gegen dieses Gesetz Sorgen. Vielleicht hoffte man, bei den De- persönlichen Zugang zur Welt der Schimp- im brandenburgischen Elsterwerda. Es ist vorzugehen. Punkt eins is, diese Demons- monstrationen könnten die Menschen fenden ermöglichen, solange sie nicht zu der 13. September 2004. Ungefähr 400 tration in Massendemonstrationen ausar- einmal Dampf ablassen und würden sich Formeln erstarrt ist. Dann wird der Zu- Menschen haben sich zu einer Demons­ ten zu lassen. Das muss Deutschland er- dann wieder beruhigen. Doch sensibili- gang zum persönlichen Leiden schwierig. tration gegen die sogenannte „Hartz-IV- fassen wie ein Flächenbrand. … Und die siert durch die Unmutsforschung, wusste Wir erleben, dass der Un­mutige nicht Gesetzgebung“ versammelt. Ich stehe als zweite Möglichkeit is, dass wir die Wahl, ich um die performative Kraft der Sprache mehr selbstständig denkt3 und schimpft, Ethnologin mittendrin und betreibe Feld- die jetzt kommt, nutzen, um denen da und fürchtete die Handlungen, die sie be- sondern sich denken und schimpfen lässt.

62 Die Politische Meinung 63 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Kommentiert Unmut und Utopie, Juliane Stückrad

Wie soll man ihn hinter dieser Sprachbar- reden, wie man es angesichts gegenwär­ Wunsch einer zahlenmäßig sehr viel ge- Dafür gilt es, ihn von Floskeln und Paro- riere verstehen und erreichen? tiger gesellschaftlicher Spannungen oft- ringeren jungen Generation nach einem len zu befreien, ernst zu nehmen und da­ Doch auch das eigene Sprechen sollte mals fordert. Plan für die Zukunft ihrer Städte und raus eine Utopie zu entwickeln, die unse- kritisch hinterfragt werden. Denn es sind Dabei kann es hilfreich sein, vorerst Dörfer, einer Generation, die „gestalten rer demokratischen Gesellschaftsordnung ja nicht nur extremistische Gruppierun- die Lebenswelt der Bürger aus der lernen- und nicht nur verwalten“ will, so wie es entspricht. Das sollte sehr konkret in den gen, die sich einer formelhaften Sprache den Perspektive heraus zu erkunden – ein mir ein junger Unternehmer in Gößnitz Dörfern und Städten beginnen. Denn die bedienen. Damit ist nicht gemeint, dass wahrhaft ethnographisches Anliegen. Aus sagte.8 Es fehlt eine motivierende Utopie. ethnographischen Fallstudien belegen, komplizierte politische Zusammenhänge dieser Haltung heraus ergeben sich durch- Ein Zugang zur Utopie ergibt sich aus dass die Menschen ausgehend von ihrer vereinfachend dargestellt werden sollten, aus erstaunliche Erkenntnisse. So fuhr ich dem Unmut. Denn er entsteht da, wo sich direkt erfahrenen Lebenswelt den Zu- sondern dass die Strukturen, in denen po- im Herbst 2018 mit den typischen Vorur- die Erwartungen an die Welt nicht mit stand des Landes beurteilen. Dort, in den litische Entscheidungen getroffen werden, teilen von einer schrumpfenden Kleinstadt den Erfahrungen decken. Man kann aus Kommunen, wo der Alltag stattfindet, oftmals undurchsichtig sind. Bourdieu er- in der ostdeutschen Provinz nach Gößnitz ihm die unerfüllten Sehnsüchte nach ei- können die Kulturen des Mutes entdeckt, mittelt die Ursache für eine Politik, die und kam zurück mit beeindruckenden Fir- nem Leben in guter Ordnung herauslesen.9 gefördert und neu erschaffen werden. den Kontakt zu den Menschen verliert, men- und Gründungsgeschichten, Berufs- nicht in der „Komplexität der Sprache“, und Arbeitslosenbiographien. sondern in der „Komplexität der für 1 Juliane Stückrad: „Ich schimpfe nicht, ich sage nur 6 Stückrad 2020a, S. 73. das politische Feld konstitutiven sozialen die Wahrheit“. Eine Ethnographie des Unmuts 7 Juliane Stückrad: Verantwortung, Tradition, Ent- am Beispiel der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises/ 4 fremdung. Zur Bedeutung von Kirche im ländlichen ­Beziehungen“. KULTUREN DES MUTES , Kiel 2010. Raum. Eine ethnographische Studie in drei Dörfern Dass die Bürger sich weit entfernt im Gebiet des Regionalkirchenamtes Leipzig, 2 Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des ­Kohrener Schriften 2, Kohren-Sahlis, Großpösna vom politischen Feld – einem nicht völlig ­Performativen, Frankfurt am Main 2014, S. 19. 2017; Juliane Stückrad: Heimatstuben in der Region abgegrenzten, aber in sich geschlossenen Lebensgeschichtliche Interviews führen 3 Dietrich Bonhoeffer: „Rechenschaft an der Wende Uecker-Randow. Kommunale Aufgaben und zivil­ Mikrokosmos, in dem um die Bewahrung mir immer wieder vor Augen, wie oft sich zum Jahr 1943: Nach zehn Jahren. Von der gesellschaftliche Potentiale. Eine ethnographische ­Dummheit“, in: Christian Gremmels / Wolfgang oder Veränderung der Struktur der Kräf- die Menschen in den Jahren seit der Fried- Studie zu sieben Fallbeispielen, hrsg. vom Bundes- ­Huber (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer Auswahl, arbeitskreis Arbeit und Leben, 2020b (Manuskript, teverhältnisse gekämpft wird – fühlen, be- lichen Revolution neu erfinden muss- Güters­loh 2006, Bd. 4, S. 218–220. in Druck). legen Aussagen, die ich im Rahmen ethno- ten. Dieser Generation – ich empfinde sie 4 Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der 8 Stückrad 2020a, S. 26. graphischer Studien sammelte: „Potsdam in gewisser Weise als erschöpft – ist vor al- politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 88. 9 „Der Traum von der schönen und richtigen Ordnung 5 ist ganz weit weg“, „Für Potsdam spielt lem daran gelegen, das Erreichte zu be- Juliane Stückrad: „Die Perspektive der Stadt ist als der vom goldenen Zeitalter begleitet die Men- ja eigentlich die Perspektive der Menschen“. schen“, aus Christel Köhle-Hezinger: „Das Schöne der Kreis kaum eine Rolle“, erklärten mir wahren. Ihr Pragmatismus ist sicherlich Eine ethnografische Studie zur Stimmungslage in der Ordnung. Oder: Neue Ordnung, neue Fragen?“, Verwaltungsmitarbeiter des Elbe-Elster- auch den Debatten zum demografischen in Gößnitz, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, in: Silke Götsch / Christel Köhle-Hezinger: Komplexe Kreises. „Thüringen hört für Erfurt am Wandel in vielen Gegenden Ostdeutsch- Landesbüro Thüringen, Erfurt 2020a, S. 17 Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung, (in Druck). Münster 2003, S. 78. Hermsdorfer Kreuz auf“, „Die Gegend ist lands und den finanziellen Engpässen in von der Politik irgendwie vergessen, und den Kommunen geschuldet, befördert Gößnitz will auch keiner haben. Wir sind aber nicht gerade die Entwicklung von das fünfte Rad am Wagen“, erklärten mir Zukunftsutopien. Das bringen Sätze wie Gößnitzer Bürger.5 Auch das Reden von diese zum Ausdruck: „Wer weiß, wie lan- „denen da oben“, vom „kleinen Mann“, ge es das noch gibt“ oder „Wenn alles so vom „Rand und von der Mitte der Gesell- bleibt wie es ist, wären wir schon zufrie- schaft“, von „bottom up“ und „top down“ den.“ Derartige Aussagen hörte ich wäh- geben eindrücklich Aufschluss über Ge- rend der Forschung in Ostthüringen,6 bei sellschaftsmodelle, die die politische ethnographischen Erkundungen zur Be- Wahrnehmung bestimmen und hinter- deutung von Kirche in ländlichen Räu- fragt werden sollten, wollen wir uns wirk- men Sachsens oder zu Heimatstuben in lich gegenseitig zuhören und miteinander Vorpommern.7 Dem gegenüber steht der

64 Die Politische Meinung 65 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Interview

Auenland und Grauenland Foto: © imago images / Future Image

Über mangelnde Wertschätzung, die Aufgewühltheit der Deutschen und ist, wir waschen die Hände, wir hamstern wir in eine neue Phase ein, in der Polari- die „Fridays for Future“-Bewegung Vorräte und beweisen dadurch unsere sierungen zutage treten werden, die vor- Handlungsfähigkeit. Das hat sich auch in her in der Gesellschaft vorhanden waren. den Medien und in der Politik gespiegelt. Die Politiker haben gezeigt, wir sind nicht Vor der Coronakrise hatte man das Ge­ ohnmächtig, sondern wir können aktiv fühl, die Gesellschaft fällt immer wei­ Vorsorge treffen. Dadurch sind wir in eine ter auseinander. In Ihrem neuen Buch STEPHAN GRÜNEWALD Maßnahmenspirale gekommen, die bis „Wie tickt Deutschland?“ sprechen Sie Geboren 1960 in Mönchengladbach, liche Leben weitgehend zum Erliegen zur Kontaktsperre geführt hat. von Unzufriedenheit, innerer Auf­ Psychologe, Buchautor, Gründer und gekommen. Wie geht es den Deutschen gewühltheit und Wut in der Bevölke­ Geschäftsführer des „rheingold institut“ im Augenblick? Hat die Coronakrise die Brüche und rung. In welcher Verfassung sind die (Markt- und Medienforschung), Köln. Spaltungen in der Gesellschaft völlig Deutschen? Im Jahr 2019 erschien sein Buch Stephan Grünewald: Wir sind an einem überlagert? „Wie tickt Deutschland? Psychologie Wendepunkt angelangt. Die letzten Wo- Stephan Grünewald: Die Menschen einer aufgewühlten Gesellschaft“ chen waren durch das Gefühl bestimmt, Stephan Grünewald: Bislang haben wir möchten ein homogenes Miteinander ha- (Kiepenheuer & Witsch). einer Bedrohung ausgesetzt zu sein, die die Krise als Kollektivschicksal gesehen, ben, aber viele haben das Gefühl, die Eli- nicht wahrnehmbar ist, die man nicht rie- und die Bevölkerung, aber auch alle Par- ten kämpfen nicht für Lohngleichheit chen, nicht schmecken, nicht fühlen kann. teien haben mitgezogen. Natürlich gab es und gleiche Bildungsstandards, sondern Am 11. März 2020 hat die Weltgesund­ Das setzt Ohnmachtsgefühle frei, und das auch Verschwörungstheorien – das ist schauen etwas hochnäsig auf den gemei- heitsorganisation die Verbreitung des mögen die Menschen nicht. Das Haupt- Panik­mache. In letzter Konsequenz haben nen Bürger herab, der weiterhin Fleisch- Coronavirus als Pandemie eingestuft. thema war, wie wir aus dieser Ohnmacht sich aber mehr oder weniger alle an die berge auf den Grill hievt, Alkohol trinkt, In Deutschland ist das gesellschaft­ herauskommen können. Ein erster Schritt Einschränkungen gehalten. Jetzt treten­ Zigaretten raucht, Süßigkeiten verputzt,

66 Die Politische Meinung 67 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Interview Auenland und Grauenland, Stephan Grünewald

Diesel fährt und Fernsehen guckt. Das Veränderungsbereitschaft zu entwickeln. ­gemeinsamen Anstrengungen und Visio- prozesse sind zwar langwierig, aber sie heißt, in dieser Gesellschaft gibt es Spal- Wir waren in einem Zustand, wo wir am nen mehr, und ein Teil der Gesellschaft führen dazu, dass wir immer wieder einen tungs- und Wertschätzungsprobleme, die liebsten die Zeit angehalten und uns in ei- glaubt, die Welt wäre besser, wenn der an- Perspektivwechsel ermöglichen, der in der in den nächsten Wochen wieder stärker ner permanenten Gegenwart verbunkert dere Teil entweder gar nicht da wäre oder Lage ist, auch die andere Seite zu ver­ werden, da die Gesellschaft jetzt realisiert: hätten. Die Verwandlungsenergie, die im sein Leben komplett umstellen könnte. stehen. So kann es zu Kompromissen und Wir sind auch angesichts der Coronakrise Land schlummerte, wurde nicht kanali- Die einen sagen, wenn wir jetzt die grü- Befriedungsangeboten kommen, die für nicht gleich, sondern die einen profitieren siert, sondern tobte sich zum Teil in Über- nen Moralapostel nicht mehr hätten, dann alle tragfähig sind. Das zweite Szenario von der Krise und die anderen sind kom- sprunghandlungen und in Hasstiraden an wäre das Leben einfacher und besser, und wäre ein böses Erwachen mit einem zivili- plett lahmgelegt oder stehen kurz vor dem den Rändern aus. die anderen sagen dies mit Blick auf all die satorischen Rückfall in eine totemistische Existenzminimum. Dieselfahrer und Fleischverputzer. Das Kultur, in der es wieder einen „Führerkult“ Sie bezeichnen den Mangel an Wert­ heißt, wir haben einen ideellen Kampf und vorgebliche Lösungen für die Ewig- Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtau­ schätzung als Spaltpilz des Zusam­ zwischen unterschiedlichen gesellschaft- keit gibt und die Menschen über das To- sends hat zu einem gesellschaftlichen menhalts in der Gesellschaft. Ist man­ lichen Milieus. temtier, über den „Führer“, eine fast ver- Klimawandel geführt. Woran kann gelnde Wertschätzung der Haupt­- sessene Verbundenheit verspüren wollen. man das beobachten? grund, warum unsere Gesellschaft in Woran wird die mangelnde Wertschät­ einer angespannten Verfasstheit ist? zung sichtbar? Was ist das wahrscheinlichere Szenario? Stephan Grünewald: Neben der Wert- schätzungskrise hatten wir eine Orien­ Stephan Grünewald: Die Aufgewühlt- Stephan Grünewald: In der materiellen Stephan Grünewald: Die Coronakrise tierungskrise. Das letzte Jahrzehnt war heit, die ich in meinem Buch konstatiert Ebene ist diese Wertschätzungskrise kon- kann dazu führen, dass wir in eine pro- durch Große Koalitionen und durch eine habe, rührt nicht nur von der mangelnden kret erfahrbar. Wenn Menschen ihr Geld duktive Rückbesinnung kommen. Im Mo- Bundeskanzlerin gekennzeichnet, die als Wertschätzung her, sondern auch von die- zur Bank bringen – Geld repräsentiert die ment erleben wir einen Zuwachs des Ver- „Mutter Merkel“ als oberste Wächterin ser Auenland-Saturiertheit, die dazu führt, Lebens- und Arbeitsleistung – und es trauens in die Politiker, die bereit sind, des deutschen Auenlandes fungierte. Mit dass die Verwandlungs- und Gestaltungs- wirft keine Zinsen mehr ab, dann wird das auch unbequeme Maßnahmen zu treffen. deutschem Auenland meine ich ein Ge- energien so seltsam ausgebremst wurden. auch als Entwertung erlebt. Wenn in den Wir spüren auch Solidarität und Hilfs­ fühl, dass Deutschland eines der letzten Die Aufgewühltheit hängt auch mit der Ballungsgebieten die Menschen das Ge- bereitschaft in der Bevölkerung. Eine Kri- Paradiese ist: Wir haben eine halbwegs in- Orientierungskrise zusammen. Wir haben fühl haben, der Wohnraum ist nicht fi- se kann auch immer dazu führen, dass takte Gesundheitsversorgung, eine florie- den inneren Kompass verloren, wir wissen nanzierbar, dann fühlen sie sich wie Ver- sich eine Gesellschaft wieder auf das be- rende Wirtschaft und niedrige Arbeits­ nicht mehr, was programmatisch richtig triebene im eigenen Land. Wenn Men- sinnt, was ihr wichtig ist, und dass ein losenzahlen. Diese Saturiertheit, in die wir und wichtig ist. Das führt zu Verschwö- schen das Gefühl haben, dass es, wenn neues Gemeinschaftsgefühl entsteht. Im als Gesellschaft geraten sind, hat dazu ge- rungstheorien und zu Radikalisierungen man alt wird, einen Pflegenotstand gibt, Moment sind wir in einer kippeligen führt, dass die Menschen ihre Welt auf­ als Versuch, wieder eine einfache Orientie- dann führt das zu Verwerfungen. ­Phase. Es könnten auch Stimmen laut gespalten haben; einerseits in das Auen- rung zurückzugewinnen. werden, die die Maßnahmen zur Eindäm- land und andererseits in das Grauenland. Großen Einfluss hat die Digitalisie- Wird sich die gesellschaftliche Spal­ mung von COVID-19 für vollkommen un- Alles, was vor Corona als bedrohlich er- rung mit ihren Heilsversprechen, dass wir tung nach der Coronakrise weiter zu­ angemessen halten, sodass letztendlich schienen ist, wurde von uns weggeschoben alle über das Smartphone einen magi- spitzen, oder können die Gräben auch zwei Lager entstehen, die auch parteipoli- ins Grauenland, beispielsweise der Terro- schen Zeigefinger haben und dass alle wieder zugeschüttet werden? tisch besetzt werden. Die einen sagen, das rismus, die Flüchtlingskrise, der Klima- Prozesse, die früher mühselig waren, jetzt ist alles komplett übertrieben, lasst uns wandel. Jetzt erleben wir zum ersten Mal, im Handstreich ermöglicht werden kön- Stephan Grünewald: Ich beschreibe in jetzt auf Herdenimmunität machen und dass man das nicht trennen kann, dass das nen. Dadurch sinkt die Duldsamkeit für meinem Buch zwei Szenarien: zum einen hoffen, dass das möglichst schnell durch- Grauenland ins Auenland einbricht. das Analoge, das immer noch kleinteilig ein produktives Erwachen, das mit der gestanden ist. Und die anderen, die die Diese Auenland-Saturiertheit führte und mühselig ist. Diese Gemengelage Rückbesinnung einhergeht, dass Demo- Maßnahmen für angemessen erachten, vor der Coronakrise dazu, dass wir uns führt zu Unruhe und Aufgewühltheit. Die kratie auch Streit und Auseinandersetzung sind bereit, das erst einmal gemeinsam ungemein schwer damit getan haben, eine Bürger haben das Gefühl, es gibt keine bedeutet. Diese Auseinandersetzungs­ durchzustehen.

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Wie kann man den Spaltungstendenzen meisten Jugendlichen das Auenland auch Trotzdem hat man den Eindruck, dass Die Frage ist, wie sich die Gesellschaft in der Gesellschaft entgegenwirken? als paradiesisch erleben. Die Jugendlichen der Umgang miteinander manchmal nach der Coronakrise aufstellt. Bei einem sind in einer Bereitstellungskultur, die ih- sehr konfrontativ ist. Wirtschaftskollaps sind den Menschen fi- Stephan Grünewald: Gemeinschaft ent- nen ungeheuer viele Möglichkeiten eröff- nanzielle Sorgen näher als die Klimafrage. steht, wenn es gemeinsame Projekte gibt, net, wo sie eine große Wahl jenseits der Stephan Grünewald: Ja, aber das ist kei- Es kann sein, dass wir aus der Krise etwas sprich Visionen, wo alle das Gefühl haben, prekären Verhältnisse an Versorgtheit er- ne Generationenfrage, sondern es ist eine mitnehmen, dass wir die Erfahrung ge- das verbindet uns und da kann jeder auch leben. Der einzige Kritikpunkt ist, dass Frage der politischen Haltung. Das ent- macht haben, wir sind verzichtsfähig, und persönlich seinen Beitrag leisten. Aber man das Gefühl hat, die erwachsene Welt spinnt sich an ähnlichen Linien, die auch weniger kann durchaus mehr sein. Es auch gemeinsame Bedrohungen, wie wir hat einen anderen zeitlichen Horizont im in der Flüchtlingskrise zu Wertschät- kann aber auch sein, dass wir in eine Si­ sie jetzt erleben, können so eine Kraft ha- Blick, und die guckt nicht über ihre Le- zungsproblemen und zu Spaltungsten- tua­tion hineinschlingern, wo es für viele ben. Wenn das wegfällt, wenn wir in die- benslaufzeit hinaus. Da sagt die junge denzen geführt haben. Ein Politiker hat in den nächsten Jahren darum geht, das ser permanenten Gegenwart sind, wenn es ­Generation, wir starten einen Weckruf das auf die Formel gebracht, dass manche alltägliche Überleben zu sichern. Und keine gemeinsamen politischen Überzeu- dergestalt, dass wir die Alten darauf auf- Bürger mehr Angst vor dem Monatsende dann spielt der Klimawandel erst einmal gungen mehr gibt, sondern großkoalitio- merksam machen, da ist etwas im Argen. als vor dem Ende der Welt haben. Für je- keine Rolle. näre Orientierungslosigkeit, dann driftet Aber das führt nicht zu einer Fundamen- den, der drei Jobs hat, der in prekären Ver- die Gesellschaft in Polarisierungen und talkritik, sondern die jungen Leute sagen, hältnissen lebt, der jetzt in der Corona­ Halten Sie es für möglich, dass sich die Radikalisierungen ab, und das verschärft wir trauen den Alten zu, die haben die krise vor dem Existenzkollaps steht, ist „Fridays for Future“-Bewegung radi­ die Wertschätzungskrise. Kompetenz, die haben das Know-how der Klimawandel eher ein fernes oder abs- kalisiert? und auch die Macht, an diesen Zuständen traktes Problem, während es für andere Zu den großen gesellschaftlichen De­ etwas zu ändern. eine ernst zu nehmende und fundamen­ Stephan Grünewald: Es gibt drei Szena- batten gehört der Klimawandel. Die tale Herausforderung ist. Das ist aber kei- rien, was diese Bewegung angeht: Das ers- „Fridays for Future“-Bewegung spielt Ist die „Fridays for Future“-Bewegung ne Sache, die man an den Generationen te ist, sie verstetigt sich, und steter Trop- eine wichtige Rolle, und sie hat auch also generationenübergreifend? festmachen kann. Wir finden auch unter fen höhlt den Stein. Das zweite ist, sie zwischen den Generationen polari­ den Jugendlichen Leute, die „Fridays for merkt, sie kommt nur aus der Betroffen- siert. Was motiviert sie dazu? Stephan Grünewald: Die Idealvorstel- Future“ für Humbug halten und lieber heitssymbiose heraus, indem sie sich radi- lung ist nicht der Bruch der Generationen, eine Party machen oder arbeiten gehen. kalisiert. Dadurch kündigt sie aber auch Stephan Grünewald: Wir haben hierzu sondern dass man freitags mit den Eltern, diesen händchenhaltenden generations- letztes Jahr Tiefeninterviews durchge- Großeltern und Lehrern sozusagen händ- Wie wird es mit der Bewegung weiter­ übergreifenden Konsens auf. Und das führt und Studien erstellt. Ein Generatio- chenhaltend für den Klimawandel auf gehen? Ist es denkbar, dass „Fridays dritte Szenario, das schon vor der Corona- nenkonflikt lässt sich nicht erkennen. Die die Straße geht. Wenn man dann mit Er- for Future“ nach der Coronakrise nicht krise ansatzweise spürbar war, ist, dass die jungen Leute sind komplett anders drauf wachsenen spricht, sagen die: Ja, wir sind mehr existiert? Bewegung langsam diffundiert. Teile der als die 68er-Bewegung. Die 68er hatten froh, dass es jetzt eine junge Generation Bewegung scheinen sich zu erschöpfen, das Gefühl, in einer bornierten und beto- gibt, die sich wieder ein bisschen politi- Stephan Grünewald: Die Coronakrise andere sich zu radikalisieren. nierten Welt zu leben – mit Eltern, die au- siert. Und wir glauben, wenn die irgend- wird das überlagern. Wir machen in dieser toritär sind. Man wollte eine andere Welt wann Verantwortung tragen, werden sie Krise auch die Erfahrung, dass „heilige Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus telefonisch und den Bruch mit dem Alten. schon etwas ändern. Das heißt, wir ha- Kühe“ und Selbstverständlichkeiten, die am 24. März 2020. Jetzt haben wir eine Jugend, die findet ben keinen Konflikt, sondern wir haben bisher als unverzichtbar galten, in Rekord- ihre Eltern ganz nett, annehmbar und to- eine Betroffenheitssymbiose, wo die Jun- zeit geschlachtet werden. Hinsichtlich lerant. Diese Jugendlichen wollen die gen darauf bauen, dass die Älteren auf der Maßnahmen gegen den Klimawandel Welt, so wie sie ist, erhalten. Es geht im den Weckruf reagieren, und die Älteren galt: Wir können diesen nur verhindern, Grunde darum, einen Wandel zu verhin- darauf bauen, dass die Jugend reagiert, wenn wir uns auf einen Wandel einlassen dern – sowohl den Klimawandel als auch wenn sie etwas reifer und etablierter ge- und anders mit unseren Ressourcen um- einen gesellschaftlichen Wandel, weil die worden ist. gehen. Das machen wir jetzt seit Wochen.

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Doch die Momentaufnahme fügt sich in das größere Bild einer zunehmenden Polarisierung und Moralisierung gesellschaftspolitischer Diskurse ein, in denen weniger Sachargumente zählen als vielmehr Emphase und Entrüs- tung. Wenn linksradikale Studentengruppen Rednerauftritte stören, Hoch- schullehrer in der Ausübung ihrer Lehrverpflichtungen behindern oder – wie es in Frankreich der frühere Staatspräsident François Hollande erleben musste – sogar Bücher verbrannt werden,2 dann sollen damit paradoxerweise „liberale“ Wertvorstellungen wie Vielfalt, Toleranz und Antidiskriminierung verteidigt werden. Und wenn rechtsradikale Akteure Leitmedien zur „Lügen- presse“ erklären und das Gedenken an das nationalsozialistische Unrecht als „Schuldkult“ bezeichnen, dann sollen damit Äußerungen politischer Gegner als indiskutabel diskreditiert werden. Von den Entgleisungen in der Anony- mität der virtuellen Welt ganz zu schweigen. Der argumentative Streit wird erschwert, wenn politische Gegner vorschnell moralisch diskreditiert werden und sie nicht über Wertedifferenzen, sondern wahlweise als Reaktionäre oder Volksfeinde wahrgenommen werden. In der Moralisierung politischer Diskurse werden Hintergrundannah- men wirksam, die Entrüstung und Erregung befeuern und die Interpretation von Vorgängen leiten. Im Folgenden kann es nicht um die Fülle solcher in den Debatten wirksam werdenden Hintergrundannahmen gehen. Ich konzentrie- re mich hier auf eine Grundannahme: die eines globalen moralischen Fort- schritts. Ihr soll die Wertschätzung als Anerkennung von Differenz entgegen- Die Fortschrittsfalle gestellt werden, bevor ich aus der Perspektive der christlichen Ethik Wege zu größerer Wertschätzung unter den politischen Kontrahenten andeute.

Zur Moralisierung gesellschaftspolitischer Debatten WAS HEISST „MORALISCHER FORTSCHRITT“?

In einem von Moralisierungen aufgeheizten Debattenklima geht die Sprach­ fähigkeit zwischen Menschen mit unterschiedlichen Biographien, Lebens­ CHRISTOPH RAEDEL präferenzen und Gruppenidentitäten immer mehr verloren. Die Gründe dafür Geboren 1971 in Neubrandenburg, Ein Kameraschwenk genügte, um Ellen De- sind mannigfaltig; zu den einflussreichen Diskursbedingungen gehören aber Professor für Systematische Generes unter Erklärungsdruck zu bringen. Hintergrundannahmen, also zumeist implizit bleibende Vorstellungen, wie die Theologie an der Freien Theo­ Bei einem Spiel der National Football League von einem quasi gesetzmäßigen und globalen moralischen Fortschritt. Von die- logischen Hochschule Gießen, sah man die Fernsehmoderatorin, die mit ser Annahme her bezeichnen diejenigen, die sich als progressiv verstehen, Altstipendiat und Vertrauensdozent einer Frau verheiratet ist, neben dem früheren bestimmte Wertüberzeugungen als rückständig und keiner ernsthaften Dis- der Konrad-Adenauer-Stiftung. Präsidenten George W. Bush sitzen und ge- kussion wert. Hier kommt es zu einer Verschiebung der Diskurskultur, bei der meinsam lachen – mit eben dem Präsidenten, das (für einige) politisch Erstrebenswerte als das moralisch unanfechtbar höher- der die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnt. In den sozialen Netzwerken sah stehende Gut vertreten wird. Es durchzusetzen, erscheint als ein moralischer sich DeGeneres genötigt, ihrer Community zu erklären: „Die Sache ist die: Imperativ, dem sich kein Mensch vernünftigerweise widersetzen dürfe. Auf Ich bin mit George W. Bush befreundet. Tatsächlich habe ich viele Freunde, diese Weise werden immer mehr Themen, sei es Zuwanderung, Elektromobi­ die nicht die gleichen Ansichten haben wie ich.“ 1 Dass diese Feststellung lität oder die „Ehe für alle“, dem Sachdiskurs entzogen, indem als rückstän- heute offensichtlich Nachrichtenwert hat, lässt aufmerken. dig etikettierte Überzeugungen einfach für moralisch abwegig erklärt werden.3

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Die in der westlichen Geistesgeschichte auf unterschiedliche Weise ausgearbei- Widersprüche innerhalb der westlichen Gesellschaften, soviel ist also deut- tete These vom moralischen Fortschritt wird von dem Soziologen Christian lich, werden heute nicht mehr einfach zwischen sozialen, ethnischen oder Welzel so vertreten, dass sich global eine Entwicklung von Über­lebens­werten geschlechtlichen Gruppen ausgetragen, sondern vielfach auch zwischen kul- hin zu emanzipativen Werten vollziehe, und das in dem Maß, wie Menschen turellen Identitäten, hinter denen sich Menschen unterschiedlicher Zugehö- die Früchte zunehmender Freiheit für sich in Anspruch zu nehmen wissen.4 rigkeiten versammeln. Bezogen auf die den Austritt Großbritanniens aus der Als Überlebenswerte identifiziert er Sicherheit, Disziplin, Familie und Europäischen Union (EU) begleitenden Debatten hat dies David Goodhart Religion; emanzipative Werte sind demgegenüber Selbstverwirk­lichung, nachvollziehbar dargelegt.7 Er unterscheidet dabei zwei kulturelle Identitä- Geschlechtergleichheit sowie die Akzeptanz von ethnischer und sexuel­ler ten: Die „Anywheres“ definieren sich demnach über eine „achieved identity“, Vielfalt. Von dieser Basisannahme aus ordnet Welzel die Gesellschaften der für die entscheidend ist, was man erreicht beziehungsweise was man sich verschiedenen Staaten in eine globale Wertematrix ein, wobei solche Staaten selbst erarbeitet hat (Abschlüsse, Beförderungen, Auszeichnungen). „Any­ als moralisch am weitesten entwickelt gelten, in denen sich die Menschen wheres“ sind eher kosmopolitisch; sie können – Internetzugang vorausge- nicht mehr von vorgegebenen, also ethnischen, familialen und religiösen setzt – praktisch überall ihrem Lebensentwurf folgen. Die „Somewheres“ Gemeinschaftsformen her bestimmen lassen, sondern Selbstverwirklichungs- stützen sich demgegenüber auf eine „ascribed identity“, für die wichtig ist, werte am höchsten schätzen. Konkret findet sich hier Schweden in einer Spit- verbindlichen Gemeinschaftsgefügen zuzugehören (Familie, Vereinen, festen zenposition wieder, während die US-Amerikaner aufgrund ihrer immer noch Orten, Ritualen). Goodhart arbeitet heraus, dass britische Regierungen seit hohen Religiosität weiter unten rangieren. Als demokratisch gesinnt gelten Jahrzehnten, und zwar unabhängig von der politischen Couleur, in zentralen für Welzel Gesellschaften, die emanzipative Werte wertschätzen. Zustimmung Politikbereichen (Bildungspolitik, Freihandel, Migration) den Leitvorstellun- zu Gewaltenteilung und Meinungspluralismus genügt hierfür noch nicht.5 gen der „Anywheres“ gefolgt sind und Lebensentwürfe gefördert haben, Welzels Forschungsansatz gibt sich als von einer allgemeinen Vernunft denen die geistige und räumliche Mobilität wichtiger ist als traditionelle Ver- geleitet, steht und fällt aber mit dem ihm zugrunde liegenden Freiheitsver- bindlichkeiten und räumliche Verbundenheit. Goodhart geht es nicht darum, ständnis, das, kurz gefasst, Freiheit als Befreiung des Menschen von ihm vor- diese Lebensentwürfe zu bewerten. Er möchte vielmehr in seinem eigenen, ausliegenden Bindungen deutet. Wir haben es hier mit einer „halbierten“, weil dem eher linksliberalen Milieu dafür werben, „Somewheres“ nicht als kulturell rein negativen Freiheitskonzeption zu tun, die Freiheit als Ablösung von den reaktionäres Randmilieu zu diskreditieren. Wertschätzung ist erlernbar. sozialen und geschichtlichen Lebensvorgaben interpretiert und diese per se als Fremdbestimmung zurückweist. Ein solches Freiheitsverständnis ist jedoch ÜBER­RASCHEND BESTÄNDIGE unzureichend, weil das alleinige Abstellen auf die individuelle Selbstverwirk- IDENTITÄTEN lichung weder den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu gewährleisten noch die Ausrichtung des Individuums auf das Gemeinwohl zu begründen vermag. Auf deutsche Verhältnisse bezogen wirft Goodharts Analyse die Frage auf, ob „ANYWHERES“ UND „SOMEWHERES“ nicht auch hierzulande „Repräsentationslücken“ für Menschen entstanden sind,8 die in tradierten Gemeinschaftsformen viel Bewahrens-Wertes finden und Regeln der „politischen Korrektheit“ (wie „Wintermarkt“ statt „Weih- Zugleich stehen gesellschaftspolitische Diskurse von diesem Ansatz her nachtsmarkt“) keinesfalls für den Ausdruck einer begrüßenswerten kulturel- gedeutet unter der Prämisse eines moralischen Gefälles: Vom Standpunkt der len Offenheit oder gar für alternativlos halten. Es dürfte sich als fatal erweisen, Privilegierung emanzipativer Werte aus müssen Überzeugungen, die zum die (nicht nur) in der Bevölkerung Ostdeutschlands artikulierten Befindlich- Beispiel Sicherheit und Familie stärker gewichten, als defizitär, rückständig keiten als hauptsächlich durch ökonomischen Mangel bedingt verstehen und und unvernünftig gelten. Das klingt an, wenn Welzel Menschen mit solchen überwinden zu wollen.9 Dahingehende Vorschläge sind als politische Reflexe Wertüberzeugungen als „illiberale Demokraten“ bezeichnet, die überwie- zu deuten, hinter denen die Hilflosigkeit steht, mit konservativen kulturellen gend älter und bildungsfern, demgegenüber emanzipative Liberale (zum Identitäten umzugehen, die sich nicht nur hierzulande als über­raschend Glück) jünger und auf dem Vormarsch seien.6 Hier werden die „progressiven“ beständig erweisen. Dabei sind Veränderungen in Lebensformen und Einstel- gesellschaftlichen Akteure am moralischen Zenit verortet, womit zugleich lungen überhaupt nicht zu leugnen. Zurückzuweisen ist jedoch der Versuch, auch der moralisch zurückgebliebene Rand definiert ist. Einer Wertschätzung Überzeugungen an der oben skizzierten Matrix eines gewünschten morali- des politischen Gegners ist damit der Weg abgeschnitten. schen Fortschritts zu bemessen. Das ist schlicht bevormundend.

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Auch mit dem weithin konturlosen und daher in seiner Verwendung beliebi- gerechten Gottes zu allen Menschen in Jesus Christus) eingeübt wurde und gen Begriff des „Populismus“ sollte vor diesem Hintergrund zurückhaltend wird. Dazu abschließend drei Hinweise: agiert werden.10 Kaum zutreffend sind Kriterien wie diejenigen, wonach als Erstens: Als Geschöpf und Ebenbild Gottes ist der Mensch mit der Würde Populisten solche Menschen gelten, die komplizierte Sachverhalte verein­ ausgestattet, sich auf ein ihm vorausliegendes Gemeingut hin zu bestimmen, fachen oder mit den Ängsten der Menschen spielen. Komplexe Sach­verhalte dem die Verwirklichung des eigenen Lebensentwurfs dient. Um herauszu­ eindrücklich darzulegen und zuzuspitzen, ist in einer Demokratie von jeher finden, was es mit dem Menschen auf sich hat, braucht es mehr als den einzel- Element der Wähleransprache. Und Ängste können sich auf durchaus reale nen Menschen. Es braucht den Dialog als Weise der Selbst- und Welterkenntnis. Gefährdungen beziehen und dabei sinnvolle oder nötige Verhaltensänderun- Dabei beginnt das Leben eines Menschen in vorgefassten Zuordnungs­ gen bewirken. Zumindest entsteht dieser Eindruck in der „Klima-Debatte“. verhältnissen wie der Familie und dem Volk, in denen ein Mensch zwar nicht Jan-Werner Müller hat zwei Haltungen als im Kern populistisch iden- aufgeht, von denen er aber auch nicht absehen kann, will er sich selbst nicht tifiziert, nämlich die Ablehnung von Eliten in Verbindung mit der Ablehnung verleugnen. Dialog schätzt den anderen wert, absolute politische Ansprüche von Vielfalt.11 Populisten erhöben also den Anspruch, nur sie repräsentierten negieren den anderen. das Volk, und zwar das ganze Volk. Doch ohne Berücksichtigung des konkre- Zweitens: Als endliches und fehlbares Geschöpf kann sich der Mensch des ten Kontextes bleiben auch diese im Kern hilfreichen Kriterien unscharf.12 Sinns und Ziels seines Daseins nicht selbst vergewissern. Die Wahrheit über Allzu häufig wird „Populismus“ nicht als analytische Bezeichnung, sondern das eigene Dasein erschließt sich in einer Weise, die vom Staat weder verfügt als politischer Kampfbegriff verwendet.13 Wenn es darum geht, konkrete Be- noch verbindlich gemacht werden kann. Daher gründen Menschen im demo- drohungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu identifizieren, kratischen Staat ihr Leben in Überzeugungen, die in Konkurrenz und Kon- dann sollten deren Feinde als das bezeichnet werden, was sie sind: als anti­ flikt miteinander stehen (können). Solche religiös-weltanschaulichen Über- demokratisch. Im Interesse aller Demokraten müssen Feinde der demokrati- zeugungen sind der Wurzelgrund, auf dem starke Wertungen und die schen Grundordnung von politischen Gegnern, mit denen die demokratische Motivation zum Handeln wachsen können. Zur freiheitlichen Demokratie Auseinandersetzung zu suchen ist, unterschieden werden. Die eilfertige gehören daher „agonistische“ Konflikte (Chantal Mouffe), die „die politische „Skandalisierung von Positionen“ (Marie-Luisa Frick), die dann keiner Dis- Gemeinschaft nicht zerstör[en], da die Gegner sich durch ein gemeinsames kussion mehr wert erachtet werden, unterläuft diese Unterscheidung. Band, wie insbesondere das Bekenntnis zum demokratischen Rahmen ihres Konfliktes, verbunden fühlen“.14 Die Grenzen der Arena, in denen diese Kon- WERTSCHÄTZUNG ALS flikte ausgetragen werden, sind durch die Verfassung gezogen, nicht durch ANERKENNUNG VON DIFFERENZ wechselnde Identitätspolitiken, die vorzugeben beanspruchen, was gesagt werden darf und was nicht. Wertschätzung setzt die Anerkennung von Diffe- renz voraus und hält sie aus. Die Annahme, dass Selbstverwirklichung höher zu schätzen sei als fami­liäre Drittens: Zivilisierte politische Debatten brauchen die Artikulation welt- Bande oder religiöse Pflichten, versteht sich keineswegs von selbst. Vielmehr anschaulicher Grundüberzeugungen, also moralischer Hintergrundannahmen, stehen hinter solchen Gewichtungen jeweils „starke Wertungen“ (Charles auf die sich vertretene und praktizierte Bewertungen beziehen. Der „view Taylor), die auf unterschiedliche moralische Quellen verweisen. Es ist der from nowhere“ (Thomas Nagel), also der Standpunkt der neutralen Vernunft, öffentlichen Debattenkultur abträglich, wenn die Hintergrundannahmen der ist dem Menschen weder möglich, noch ist er überhaupt wünschenswert. Wer Gesprächsteilnehmer unartikuliert bleiben, weil argumentiert wird, dass eine ihn für sich beansprucht, steht in der Gefahr, dass sein Wohlwollen den ande- bestimmte Einstellung schon deshalb geboten sei, weil sich Lebensweisen ren gegenüber, die für die „einzig vernünftige“ Einsicht gewonnen werden ­verändert oder bestimmte Überzeugungen überlebt hätten. Wer den Wandel sollen, in Verachtung oder Aggression umschlägt angesichts des Unwillens in eine bestimmte Richtung für „selbstverständlich“ hält, muss ihn nicht Andersdenkender, sich dem „evident Guten“ anzuschließen. Demgegenüber mehr begründen. schließt Wertschätzung anderer die Anerkennung von Differenzen auch im Eine christliche Ethik vermag in diesen Fragen insofern Orientierung Grundsätzlichen ein. zu geben, als sie auf eine lange Tradition zurückgreifen kann, in der das Manchmal sind es geschichtliche Einschnitte, die zum Umdenken Trans­parent-Machen der moralischen Imperative (Höherachtung des anderen, bewegen; man denke an die Katastrophe von Fukushima. Was wäre eigent- Nächstenliebe, Verzicht auf Vergeltung et cetera) auf die ihr zugrunde liegen- lich, fragt Udo di Fabio im Sinne eines Gedankenexperiments, „wenn man den Überzeugungen (der unverdienten Zuwendung des barmherzigen und die heute im gesamten Westen ohne großes Aufheben durchgeführten, in

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jedem Jahr in die Millionen gehenden Abtreibungen in einer zukünftigen Zeit mit nur einer etwas anders gewichteten Werteordnung als schweres Ver- brechen an der menschlichen Gattung verstünde? Was wäre, wenn nach dem kulturellen Sieg einer solchen Auffassung uns Zeitgenossen von heute ent­ gegen­gehalten würde, wir hätten diesen doch leicht erkennbaren Verstoß gegen universelles, für alle Menschen geltendes Recht sehen und ihm ent­ gegen­treten müssen?“ 15 Wenn wir solche Gedankenexperimente nicht mehr ertragen können, sind wir vom moralischen Zenit weiter entfernt, als wir uns eingestehen wollen.

1 „Wir sind alle verschieden“. Ellen DeGeneres verteidigt ihre Freundschaft mit George W. Bush, www.stern.de/lifestyle/leute/ellen-degeneres-verteidigt-ihre-freundschaft-mit-george-w-bush- 8943976.html [letzter Abruf: 18.03.2020]. 2 „Buchzerstörer. Intellektuelle fordern akademische Freiheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2019. 3 Vgl. dazu Hermann Lübbe: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteils- kraft, Münster 2019 (zuerst erschienen 1985). 4 Verführung Vgl. Christian Welzel: Freedom Rising. Human Empowerment and the Quest for Emancipation, Cambridge 2013. 5 Die Identifizierung von Grundsätzen der Demokratie mit bestimmten Überzeugungen des ­Liberalismus kritisiert Ryszard Legutko in seinem Buch „The Demon in Democracy. Totalitarian Temptations in Free Societies“, New York 2016. und Wertschätzung 6 Vgl. Guido Mingels: „Wie die Welt moralisch tickt“, in: Spiegel online, 28.12.2018, www.spiegel.de/ plus/christian-welzel-wie-die-welt-moralisch-tickt-a-00000000-0002-0001-0000-000161577215 [letzter Abruf: 18.03.2020]. Herausforderungen durch „neu-rechte“ Modernisierer 7 Vgl. David Goodhart: The Road to Somewhere. The New Tribes Shaping British Politics, London 2017. 8 Zum Begriff vgl. Werner J. Patzelt: „‚Repräsentationslücken‘ im politischen System Deutsch- lands?“, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 13/1 (2015), S. 99–126. 9 Das ist die Tendenz bei Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus, Frankfurt am Main 2018. UWE BACKES 10 Zum Folgenden vgl. auch Michael Meyer-Resende: „So ist die Welt aber gar nicht“, in: Frankfurter Geboren 1960 in Greimerath Seit wenigen Jahren zählt Deutschland nicht Allgemeine Zeitung, 16.12.2019. (Kreis Saarburg), Politik­ mehr – wie etwa Portugal und die Republik Irland – 11 Vgl. Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay, Frankfurt am Main 2016. wissenschaftler, Stellv. Direktor zu den Ausnahmeländern in Europa ohne erfolg­ 12 Man bedenke zum Beispiel, dass zum Untergang des SED-Regimes der DDR Demonstranten des Hannah-Arendt-Instituts, reiche Rechtsaußenparteien auf nationaler Ebene. beitrugen, die ihren Protest gegen die Staatselite zum Ausdruck brachten und ausweislich des Slogans „Wir sind das Volk“ den Anspruch erhoben, im Unterschied zu den das Regime außerplanmäßiger Professor am Damit scheint auch eines der zentralen Argumente ­tragenden Bevölkerungsgruppen das ganze Volk zu repräsentieren. Nach Müllers Definition Institut für Politik­wissenschaft für die deutsche Sonderrolle entkräftet: Man habe war das Populismus. der Technischen Universität die Lektionen aus der verbrecherischen Geschichte 13 Vgl. Marie-Luisa Frick: Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft, Stuttgart 2017, Dresden. S. 53 f. des Nationalsozialismus gelernt. Die Auseinander- 14 Ebd., S. 30. setzung mit der Alternative für Deutschland (AfD) 15 Udo di Fabio: Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 252. folgt diesem Interpretationspfad, indem sie sich häufig aus dem Arsenal des klassischen Antifaschismus bedient, „Nazis“ und „Völkische“ am Werk sieht und mahnend das Ende der Weimarer Republik beschwört. Vor allem Vertreter des am 30. April 2020 ohne erkennbare Folgen offi- ziell aufgelösten AfD-„Flügels“ liefern solchen Deutungen reichlich Nahrung. So treten Kontinuitäten ins Zentrum, während offenkundige Diskontinuitäten

78 Die Politische Meinung 79 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Schwerpunkt Verführung und Wertschätzung, Uwe Backes

zu wenig Beachtung finden. Mit Recht warnen Historiker wie Heinrich „den Islam als ein totalitäres System mit dem Ziel der Unterwerfung der August Winkler vor einer Überstrapazierung historischer Analogien, einer Welt“ zum Schutz auch der „jüdisch-christlichen kulturellen Werte“ propa- Überdehnung von Begriffen wie Faschismus und einem Weimar-Alarmis- giert, das Existenzrecht des Staates Israel und die Notwendigkeit der „Selbst- mus, der wenig zur Diagnose der aktuellen Lage beiträgt: „Es ist absurd, stän- verteidigung“ gegenüber „islamischem Terror“ 2 betont. Diese Position lässt dig den Untergang der Weimarer Republik zu beschwören. Das, was in Erfurt sich zugespitzt als prozionistischen Antiislamismus kennzeichnen, und sie geschehen ist, ist alarmierend genug. Aber mit falschen Analogien wird die passiert eine Grenze, die von NS-affinen Parteien wie der NPD niemals über- gegenwärtige Situation der deutschen Demokratie in ein völlig falsches Licht schritten werden könnte. Denn Antisemitismus wird hier nicht von „lunatic gerückt.“ Offenbar sei vergessen, dass der Republik 1932 eine demokratische fringe“ auf den hinteren Rängen (wie einem seit Kurzem aus der AfD ausge- Mehrheit im Reichstag fehlte und auf den Straßen bürgerkriegsähnliche schlossenen Wolfgang Gedeon im Stuttgarter Landtag) kultiviert, sondern Zustände herrschten. Die AfD ähnele eher den damaligen Deutschnationa- bildet den Markenkern. Daher wäre es undenkbar, dass sich in der NPD eine len, eine „antidemokratische, nationalistische und reaktionäre Rechtspartei Vereinigung „Juden in der NPD“ formiert, die sich unter anderem gegen die mit einem starken völkisch-rassistischen Flügel“.1 Und in der Tat scheinen die „unkontrollierte Masseneinwanderung junger Männer aus dem islamischen erinnerungspolitischen Signale, wie sie von „Kyffhäusertreffen“ oder dem Kulturkreis“ mit einer „antisemitischen Sozialisation“ 3 wendet. Die NPD Plädoyer für die Dekontaminierung der deutschen Kolonialgeschichte aus­ wettert seit einigen Jahren ebenfalls gegen Deutschlands „Islamisierung“, gehen, eher in Richtung Wilhelminismus zu weisen. sucht jedoch gleichzeitig Einvernehmen mit dem Chef der Hisbollah im Liba- Jedoch dürfen die unleugbaren Kontinuitätslinien, die zu den Pickel- non, um deren Kampf gegen den „Islamischen Staat“ und den Einsatz für die hauben und zum Deutschnationalismus führen, nicht zu fett gezeichnet Opfer des „alltäglichen israelischen Terrors“ 4 gebührend zu würdigen. ­werden. Gegenüber der „alten Rechten“ erbringt die „neue Rechte“ (wenn In der NPD musste ein Parteivorsitzender unter anderem wegen man sie so nennen will) Modernisierungsleistungen – durchaus wertneutral angeblicher homosexueller Verfehlungen zurücktreten. In der AfD verkör- zu verstehen –, deren Missachtung ihre Mobilisierungskraft zu einem unauf- pert Alice Weidel nicht nur den weiblichen Anteil an einer eher kollektiven lösbaren Rätsel macht. und uncharismatischen Führung, sondern auch die Anerkennung von Lebensformen, die vom traditionellen Familienbild abweichen. Die europäi- MODERNE RECHTSPOPULISTEN schen Bündnispartner haben der AfD vorgemacht, wie man auf sozialen Wan- del reagiert und durch Wertschätzung neue Wählergruppen erschließt: Geert Wilders trug in der Zeit der Tolerierung des Minderheitskabinetts Rutte Diese Modernisierungsleistungen lassen sich gut im Vergleich zur National- (2010/11) mit der rot-grünen Opposition zur Stärkung von LGBT-Rechten demokratischen Partei Deutschlands (NPD) erkennen, die nicht aufgrund des ( Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender ) bei, und Marine Le Pen holte eine (gescheiterten) Verbotsverfahrens, sondern wegen der gemäßigteren Konkur- stattliche Zahl von Vertretern der Community in Führungsämter, um Unvor- renz einstweilen „in der Versenkung verschwunden“ zu sein scheint. Die aus- eingenommenheit und das Abrücken von überholten sozialen Konventionen geprägte NS-Affinität dieser Partei haben Verfassungsschutzbehörden, Ver- zu demonstrieren. In ihren Stellungnahmen gegen die „Islamisierung des fassungsrichter und Extremismusforscher umfangreich dokumentiert und Abendlandes“ plustern sich die Vertreter rechtspopulistischer Parteien zu analysiert. Ihr einziger Vertreter im Europaparlament vor dem Scheitern bei Verteidigern von Menschen-, Frauen- und Homosexuellen-Rechten gegen den Wahlen vom Mai 2019 wurde von der Fraktion „Europa der Nationen einen „totalitären“ Islam auf, der eine „Religion der Knechtschaft und der und der Freiheit“ (ENF) um Marine Le Pen gemieden wie ein Aussätziger, Unterwerfung, der Unterdrückung ‚Ungläubiger‘ und der Entrechtung von während die AfD inzwischen zum festen Bestandteil der Nachfolgefraktion Frauen“ 5 sei. Islamophobie hüllt sich in das Gewand der Aufklärung. „Identität und Demokratie“ (mit dem Rassemblement National, der Lega Mat- Sind die Verfassungsschutzbehörden angesichts solcher Modernisie- teo Salvinis und der Freien Partei Österreichs [FPÖ]) geworden ist. Die AfD rungen auf dem Holzweg, wenn sie Teile der AfD unter Beobachtung ­stellen hat sich im Vergleich zu ihren Anfängen unter Bernd Lucke radikalisiert, aber und für extremistisch erklären? Dies wäre nur dann der Fall, fiele Rechts­ weniger im Sinne der NPD als in Richtung auf das ideologisch-programmati- extre­mis­mus mit NS-Affinität zusammen. Jedoch hat auch die Deutschnatio- sche Profil der „rechtspopulistischen“ Parteienfamilie, wie sie sich um Le Pen nale Volkspartei (DNVP) die Weimarer Republik mehrheitlich bekämpft (und und Salvini versammelt. Hitler später den Weg zur Macht geebnet). Wichtiger aber noch: Der moderne Diese Parteien stellen sich auf den Boden der „Jerusalemer Erklärung“ Rechtspopulismus enthält einen extremistischen Kern: Die Gegenüberstel- (2010), die – unter maßgeblicher Beteiligung der FPÖ – den Kampf gegen lung einer verdorbenen politischen „Kaste“ und eines Volkes,­ dessen „wahren

80 Die Politische Meinung 81 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Schwerpunkt Verführung und Wertschätzung, Uwe Backes

Willen“ die Populisten gegen deren „Intrigen“ verteidigen, entstammt der Diese Herausforderung kann kaum bestehen, wer blind auf die Rezepte aus Ideenwelt des Antipluralismus. dem Medizinschrank des historischen Antifaschismus vertraut. Eine Dia­ Solche Vorstellungen haben führende Repräsentanten der AfD offen- gno­se, die Übereinstimmungen mit alten Krankheiten erkennt, aber Muta­tio­ bar tief verinnerlicht, wenn sie politische Gegner „jagen“ und eine Integra­ nen missachtet, führt selten zu einer wirksamen Therapie. Eine differenziert- tions­ministerin mit türkischen Wurzeln „in Anatolien entsorgen“ wollen. Die argumentative Auseinandersetzung muss den Kern der Herausforderung krassesten Äußerungen kommen vom „Flügel“: „Wir sind die Götterdämme- treffen. Vor allem gilt es, aufzuzeigen, wohin eine Politik führt, die politische rung dieses globalisierten Multikulturalismus, wir sind die Totengräber der Gegner unisono als korrupt und „volksverräterisch“ diffamiert und so den fauligen Reste dieser 68er-Zersetzung, wir sind die Restauratoren dieses am Boden für Debatte, Deliberation und Kompromissfindung zerstört; die Boden liegenden entmerkelten Restes einer Nation.“ 6 Diese Kriegserklärung Migranten­ vorzugsweise als „Taugenichtse“ und Kriminelle verunglimpft stammt vom Landes- und Fraktionsvorsitzenden der brandenburgischen und Muslime als Schwulenhasser, Fanatiker und Terroristen; die auf Total- AfD, der für die Gruppe der Spitzenfunktionäre der Partei insofern atypisch kritik an der Europäischen Union gebürstet ist und in stillschweigender Kom- ist, als er sich viele Jahre lang in der rechtsextremistischen Szene bewegt hat. plizenschaft mit Wladimir Putins Desinformationskampagnen agiert; die In der gleichen Rede greift er das Wort Björn Höckes von der AfD als der erinnerungspolitisches Porzellan zerschlägt und fragwürdige Traditions­ „letzten evolutionären Chance“ für Deutschland auf – eine kaum verklausu- bestände wieder aufleben lässt. lierte Bürgerkriegsdrohung für den Fall, dass die AfD politisch scheitert. Der „Cordon sanitaire“ zu einer solchen Partei ist notwendiger denn je. Gleichzeitig muss den Verführten klargemacht werden, dass sich nicht WEICHER EXTREMISMUS ALS SCHLEICHENDES GIFT ernsthaft auf das „jüdisch-christliche Abendland“ berufen kann, wer soziale Brücken einreißt und gesellschaftliche Spaltungen vertieft. Und dass nicht jede Form des Islam, wohl aber ethnozentrisches Stammesdenken mit den Mit solchen Äußerungen rückt der AfD-„Flügel“ dicht an den „harten“ Werten des Grundgesetzes und der Christdemokratie unvereinbar ist. Zugleich Rechtsextremismus der NPD heran und sendet Signale aus, die gewalt­geneigte sollte nicht zuletzt in den Hochburgen des Rechtspopulismus und Rechts­ Gruppen gern empfangen, auch wenn die Partei insgesamt mit den militanten extremismus8 der Dialog mit den Bürgern (gerade auch den wankenden und Szenen weit weniger Verflechtungen aufweist als die NPD. Mit dieser Partei verführten) gesucht, Politik in ihrer Komplexität noch besser erklärt und gemeinsam ist weiten Teilen der AfD die Wertschätzung des „Ethnopluralis- nicht als vermeintlich alternativlos der Diskussion entzogen werden. mus“, eines Konzepts, das neu-rechte Zirkel in Frankreich und Deutschland ersonnen haben und das im Zentrum des Selbstverständnisses der sogenann- ten „Identitären“ steht. Es betont die legitime Vielfalt gleich­rangiger Völker 1 Zitiert nach: „Historiker: Faschismusbegriff wird inflationär verwendet“, www.zeit.de/news/2020- (im Unterschied zur NS-Rassenhierarchie), deren ethnische Substanz zu 02/09/historiker-faschismus-begriff-wird-inflationaer-verwendet [letzter Zugriff: 21.04.2020]. 2 Zitiert nach dem Abdruck unter www.diepresse.com/616660/jerusalemer-erklarung-gegen- bewahren/wiederherzustellen sei. Das damit verbundene ethnische Reinheits- islamismus-im-wortlaut [letzter Zugriff: 21.04.2020]. ideal oszilliert zwischen kulturellen und biologischen Anfor­derungen, lässt 3 Juden in der AfD e. V., Grundsatzerklärung, www.j-afd.org/grundsatzerklaerung [letzter Zugriff: also für die politische Praxis unterschiedliche Auslegungen zu. Stets geht von 21.04.2020]. ihm jedoch ein Druck auf Minderheiten aus, die seinen An­forderungen nicht 4 „Europäische Abgeordnete treffen sich im Libanon mit Hisbollah-Vertretern“, https://npd. entsprechen. Wer sich der Verschwörungstheorie vom „­großen Austausch“ de/2019/03/udo-voigt-ehrt-im-kampf-gegen-den-is-gefallene-hisbollah-kaempfer [letzter Zugriff:­ 20.06.2019]. bedient und lauthals „Remigration“ schreit, flößt nicht nur denen Angst ein, 5 Alice Weidel: Widerworte. Gedanken über Deutschland, 2. Aufl., Kulmbach 2019, S. 117. die davon unmittelbar betroffen sind. Und wenn das AfD-Grundsatzpro- 6 Andreas Kalbitz: Rede auf dem Kyffhäusertreffen 2018, 11. Juli 2018, www.youtube.com/watch? gramm im Punkt 7.6.1 kategorisch erklärt: „Der Islam gehört nicht zu Deutsch- v=PB2mWTMT2V4 [letzter Zugriff: 21.04.2020]. land“, müssen deutsche Staatsbürger muslimischen Glaubens befürchten, 7 Vgl. Eckhard Jesse / Tom Thieme (Hrsg.): Extremismus in den EU-Staaten, Wiesbaden 2011, S. 20. dass ihr Rechtsstatus von einer regierenden AfD infrage gestellt würde. All 8 Vgl. jetzt auch Uwe Backes / Steffen Kailitz (Hrsg.): Sachsen – Hochburg des Rechtsextremismus?, Göttingen 2020. dies widerspricht dem Geist von Artikel 1 des Grundgesetzes. Der „weiche Extremismus“, wie ihn Eckhard Jesse und Tom Thieme definiert haben,7 ist in der AfD weit verbreitet. Er ist zudem wirksamer als der „harte“ NS-affine, weil er wie ein schleichendes Gift in die Zellen der demo- kratischen Gesellschaft eindringt.

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intendierter Medieneffekt zu verstehen. Wenn sich jemand eines Kommuni- kationsmediums bedient, zielt dies auf Beachtung bei einem Publikum. Um Popularität bemühte Kommunikation interessiert sich weniger dafür, wer konkret angesprochen wird, als für die größtmögliche Reichweite. Diese Kommunikation existiert, seit es Medien gibt, mittels derer sich ein unbestimmtes Massenpublikum jenseits exklusiver Gemeinschaften erreichen lässt. Neue Medien haben in ihrer jeweiligen historischen Situation immer einen Vorsprung gegenüber anderen, etablierten und institutionell gepflegten Kommunikationsmöglichkeiten besessen. Die dabei unverändert gebliebene Grundfrage stellt sich stets hinsichtlich der Bewertung von Beach- tung: Wer möchte aus welchen Gründen, dass andere etwas beachten oder eben auch nicht beachten? Darin liegt logischerweise immer ein Konkurrenz- verhältnis begründet: Jeder Aufmerksamkeitserfolg enthält allen anderen, die in derselben Disziplin oder Sparte agieren, diese Aufmerksamkeit vor. Hinzu kommt: Neue Medien haben stets den Vorteil gehabt, dass sie schneller, billi- ger, in größerer Stückzahl oder Reichweite mehr Publikum erreichen – oder sogar neue Publika erschließen – konnten. Das Populäre hat immer wieder seine inklusive Macht gezeigt, indem es neue Gruppen in Kommunikations- gemeinschaften geholt hat, die vorher ausgeschlossen, unwissend und unbe- teiligt gewesen sind. Popularität fungiert damit als Indikator für einen erfolg- reichen Medieneinsatz, der darin besteht, ihre Affordanzen, ihre Angebote Verwandt ? und Möglichkeiten, bestmöglich auszuschöpfen. POPULARISIERUNG VON INHALTEN Das Populäre und der Populismus

Erstmalig hat sich dies in der reformatorischen Öffentlichkeit gezeigt, die Martin Luther begründete und in der seine Anhänger in großer Zahl mit Flugschriften bedient wurden. Diese schnell und billig produzierten, mas- senhaft verbreiteten Text-und-Bild-Medien trugen theologische Inhalte in NIELS PENKE die Welt außerhalb geschlossener Gelehrtendiskurse – in der Volkssprache Geboren 1981 in Lüneburg, Populär ist, was von vielen beachtet wird. Mit anstelle des exklusiven Lateins. Neben der Popularisierung von Inhalten Wissenschaftlicher Mitarbeiter dieser griffigen Bestimmung1 ist der Kern einer wurde auch die Person Luther bekannt gemacht, in Wort und Bild, ein früher an der Professur für Germanistik kulturellen Logik bezeichnet, die ihre Rele- Medienstar. Luthers Theologie wurde ebenso populär wie er selbst;3 und und Neuere deutsche Literatur­ vanz und Überzeugungskraft allein aus der seine Gegner hatten einen schweren Stand, solange sie sich nicht dazu herab- wissenschaft, Universität Siegen. Beachtung ableitet. Vor ihrem Hintergrund ließen, die gleiche Sprache zu sprechen und dieselben Medien für ihre haben die Dinge keinen ästhetischen, intellek- ­Entgegnungen zu nutzen. Die „Herablassung zum Volk“ wurde zum Modell tuellen oder moralischen Eigenwert, der sie anderen Dingen gegenüber derart populärer Vermittlung. auszeichnen könnte, dass die zahlenmäßig höhere Beachtung dadurch auf­ Dieses Verständnis von Kommunikation wurde auch zwei Jahrhun- gewogen würde. Allein die große Zahl, die sich erheben und ablesen lässt, derte später zum Motor der nächsten revolutionären Popularitätskonjunktur: entscheidet. Populäre Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie Beachtungs- der Popularisierung der Aufklärung. Auch hier waren es das Bestreben um erfolge „ständig ermittelt“ und in „Charts, durch Meinungsumfragen und Inklusivität – die exklusive Gelehrtenkommunikation zu überschreiten und Wahlen“ festlegt, „was populär ist und was nicht“.2 Beachtung ist als ein das „Volk“ direkt zu adressieren – und medienstrategische Überlegungen, mit

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­welchen Mitteln sich theo­re­ti­sches wie praktisches Wissen verbreiten ließ. Über diesen Zusammenhang von Markt und medialer Verbreitung, die Rudolph Zacharias Becker wurde zum erfolgreichsten Volksaufklärer. Sein Beachtungserfolge in Konsum übersetzt, ist besonders im Kontext der Kriti- Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute (1788) wurde durch einen „general- schen Theorie nachgedacht worden. Entscheidend dabei ist die Feststellung, stabsmäßig geplanten Einsatz von Werbemitteln ‚hochgesellert‘“.4 Landes- dass Medien und Maschinen inhaltsblind sind. Druckerpresse, Radio und fürsten kauften große Kontingente auf und ließen diese ihren Untertanen Kamera bilden unterschiedslos ab, was ihnen ein- beziehungsweise vorgegeben zukommen. Bis weit hinein ins 19. Jahrhundert wurden so mehrere Genera­ wird. Eine „Auslese vor der Apparatur“ findet nicht statt. Sie bringt daher den tio­nen mit alltagspraktischem Wissen versorgt. Becker bettete die Ratschläge „Star“ ebenso wie den „Diktator“ hervor, wie Walter Benjamin über die enge zur Veranschaulichung in eine Romanhandlung ein, in der sich das Volk wie- Verbindung von „Markt“ und „personality“ bemerkt.7 Die entscheidende dererkennen sollte. Es ging also einerseits um die Bewertung, welches Wissen Strategie, die beide erst entstehen lässt, ist die Wiederholung. Sie schleift den gemeinnützig und es demnach wert ist, verbreitet zu werden. Andererseits Eindruck ein, dass es etwas mit diesem Wiederholten auf sich haben müsse – ging es um den Anspruch, das „Volk“ zu repräsentieren, was wiederum die und es darüber normalisiert und letztlich auch legitimiert.8 Behauptung voraussetzt, es besser zu kennen als andere und natürlich auch Der neuere Populismus, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten sei- besser als dieses sich selbst. Becker bediente zunächst mit Unterstützung der nes Zeichens große Popularität erringen konnte, vereint von dem bisher Aus- Obrigkeit den Markt, der zum Hauptumschlagplatz der Aufklärung werden geführten alle Elemente auf sich. Er erscheint als das Populäre der Politik, sollte.5 Mit Beginn der Revolutionsbestrebungen in Frankreich nahm der indem er beansprucht, das „‚Volk“ gegenüber korrumpierten Eliten tatsäch- Adel zunehmend Abstand von derartigen Popularisierungsbestrebungen. lich zu repräsentieren,9 und zu wissen vorgibt, was es wirklich benötigt. Dabei bezieht er sich auffallend häufig auf seine Beachtungserfolge und die jenseits AKKUMULIERENDE von offiziellen Wahlen erbrachten Zustimmungswerte. Er treibt seine Popula- STEIGERUNGSLOGIK risierung über den Nachweis der eigenen Popularität voran: über Likes, Klicks und Follower-Zahlen. Social-Media-Plattformen sind die Basis der Populari- tät des neueren Populismus, die medientechnischen Revolutionen des Web 2.0 Aus dem „Volk“, das um konkreter Interessen und Vermittlungs­inhalte wegen sein Ausgangspunkt. Gegenüber den Massenmedien begründet vor allem der adressiert worden war, wurde am Markt die Masse. Dieser wurden in jeder Wegfall von Torwächtern, die in den Redaktionen von Zeitungen und Rund- Hinsicht unspezifische Angebote vorgelegt, aus denen sie wählen konnte. Am funkanstalten über Sagbarkeitsschwellen entscheiden, einen Strukturwandel Buchmarkt zeigte sich, dass die Wahl eher auf die unterhaltenden Romane der Öffentlichkeit. Dieser Schritt hat gleich mehrere Vorteile für eine um denn auf nützliche Bücher fiel. Anders als die aufklärerische Popularisierung Popularität bemühte Kommunikation. Diese liegen zum einen in der großen gehorcht die rein marktförmige Popularisierung einem Selbstzweck, der Schnelligkeit und der hohen Frequenz, mit der über Social Media kommuni- darin besteht, den eigenen Marktanteil zu erhöhen und sich den Produkten ziert werden kann. Zum anderen garantieren sie eine unverstellte, „authenti- der Konkurrenz gegenüber positiv zur Geltung zu bringen. Suchten die Agen- sche“ Kommunikation, die gerade angesichts des oft kolportierten General- ten der Volksaufklärung noch über die Vermittlung von Wissen das kulturelle vorwurfs der „Lügenpresse“ strategisch optimal ist. Langzeitgedächtnis zu prägen, bespielte das marktförmig Populäre nur das Kurzzeitgedächtnis – aufblitzend im Spektakel. Ihm fehlte die institutionelle „FRECHDACHSIGKEIT“ Sicherung, es war als mediales Kommunikat bald versendet, wenn es nicht ALS KOMMUNIKATIONSSTIL wiederholt, erneuert oder gesteigert wurde. Hier hat die bis heute wirksame Form von Popularität als einer akkumulierenden Steigerungslogik ihren Ursprung. Sie weckt das Begehrnis (so Gernot Böhme) nach Beachtung, das Hinzu kommt das Spektakel als Strategie der Aufmerksamkeitsgewinnung. sie durch immer neue Produkte anreizt und über diese ihre Erfolge auf Dauer Alles kann durch emotionale Aufheizung skandalisiert werden. Populistische stellt.6 Werbung und Kritik wurden zu zentralen Verfahren der bürgerlichen Kommunikation erscheint in seiner „Frechdachsigkeit“ 10 dem Pop verwandt, Öffentlichkeit, in der es nach ihrer idealistischen Konzeption darum gehen jedoch geht es ihr weder um ästhetische Formen noch um konsistente morali- sollte, qua Deliberation möglichst viele mündige Individuen auf das bessere sche Positionen, die hinter der kommunizierten Empörung stehen, sondern um Argument wie das beste Produkt zu vereinen. Doch Popularität, die über rein bloße Beachtung zur Selbstlegitimation. Beachtung, zu der auch all jene beitra- quantitative Verhältnisse bestimmt wird, bezieht sich nicht automatisch auf gen, die sich kritisch zu den jeweiligen populistischen Akteuren oder Parteien die bessere Option. verhalten, denn jeder Klick zählt gleich, und jeder Aufmerksamkeitserfolg

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erhöht in der algorithmisierten Logik der Plattformen die Wahrscheinlichkeit 1 Thomas Hecken: Populäre Kultur. Mit einem Anhang „Girl und Popkultur“, Posth Verlag, Bochum weiterer Beachtung. Populisten deuten diese Zahlen­ daher als Akte der Akkla- 2006, S. 85. 2 Ebd. mation durch das wahre „Volk“.11 Populisten betreiben mit diesem Kampf um 3 Vgl. Manuel Braun: „‚Wir sehens, das Luther bey aller welt berympt ist‘. Popularisierung und Beachtung eine Doppelstrategie. Sie suchen nicht nur die positive Populari- Popularität im Kontext von Buchdruck und Religionsstreit“, in: Gereon Blaseio / Hedwig Pompe / sierung der eigenen Person oder Partei, sondern zugleich auch eine negative, Jens Ruchatz (Hrsg.): Popularisierung und Popularität, DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln die, gekoppelt an Provokationen und Invektiven, alle politischen Gegner 2005, S. 21–42. 4 verächtlich zu machen und zu delegitimieren trachtet. Reinhart Siegert: Nachwort, in: Rudolph Zacharias Becker: Noth- und Hülfsbüchlein für Bauers- leute, Nachdruck der Erstausgabe von 1788, hrsg. und mit einem Nachwort von Reinhart Siegert, Harenberg, Dortmund 1980, S. 461–480, hier S. 468. 5 Siehe Heinrich Bosse: „Aufklärung und Kapitalismus. Meditation über einen Zusammenhang“, DIMENSIONEN EINER in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 73. Jg. Heft 847, 2019, S. 90–99. ENTGRENZTEN ÖFFENTLICHKEIT 6 In diesem Sinne argumentiert Gernot Böhme für die Unterscheidung von Bedürfnissen und ­Begehrnissen – letztere sind steigerbar. „Für Ausstattung, Glanz und Sichtbarkeit gibt es keine natürlichen Grenzen“, siehe Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus, Suhrkamp, In der neutralen Beachtung steckt Achtung. Eine Akzeptanz dessen, was von Berlin 2016, S. 29. vielen Aufmerksamkeit erfährt. Zur reinen Beachtung ist mit den spektakulä- 7 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit [1936]. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1963, S. 28. ren Invektiven populistischer Parteien und Akteure die Verachtung hinzu­ 8 In diesem Sinne argumentiert Adorno gegen die Gefährlichkeit der Wiederholung, die, wenn sie gekommen. Eine Verachtung, die sich der noch weitgehend nicht justiziablen verfängt, zur Verstetigung von Popularität führt: „What is repeated again and again accumulates Formen der Verächtlichmachung bedient, wie sie auch nicht politisch organi- the prestige of social establishment. The listener is led to believe that it is repeated either be- sierte Akteure auf Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter, stär- cause it is particularly good or because so many people like it“, Theodor W. Adorno: „On Popular Music“ [1941], in: ders.: Nachgelassene Schriften, hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, ker aber noch auf Imageboards wie 4Chan eingeübt und zu großer Popularität ­Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 3, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, S. 399– unter ihren Peergroups gebracht haben. Die rechtliche Dimension ist die eine 476, hier S. 427. Seite dieser neuen Form einer nahezu völlig entgrenzten Öffentlichkeit, an 9 Zum Angriff des Populismus auf das Prinzip der Repräsentation vgl. die Beiträge zu: „Repräsen- der mehr Menschen denn je zuvor teilhaben können, in der die Logik des tation in der Krise?“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 40–42/2016. 10 Diedrich Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Kiepenheuer & Populären regelt und in der sich Aufmerksamkeitserfolge selbst perpetuieren. Witsch, Köln 1999, S. 286. Eine weitere ist die mediale. Hier gilt es, die Affordanzen der sozialen Medien 11 Exemplarisch dafür sind die Medienpraktiken Donald Trumps. Vgl. dazu Niels Werber: „Donald zu verstehen, aber auch ihnen zu widerstehen. Trumps Medien“, in: Lars Koch / Tobias Nanz / Christina Rogers (Hrsg.): The Great Disruptor. Masse durch Masse bezwingen zu können, erscheint vor diesem Hin- Über Trump, die Medien und die Politik der Herabsetzung, Metzler, Stuttgart/Berlin 2019, S. 115–133. tergrund ebenso unwahrscheinlich, wie Einzelfiguren durch Kritik erfolg- 12 Friedrich Schiller: „Verteidigung des Rezensenten gegen obige Antikritik“, in: Friedrich Schiller: reich auf demokratische Fairness zu verpflichten. Nicht ungewollt zu dieser Sämtliche Werke, hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, Bd. 5, 5. Aufl., München 1975, S. 985–991, Popularität populistischer Akteure beizutragen, hieße, nicht über jedes hier S. 991. Stöckchen zu springen, das Empörungssüchtige immer wieder ausstellen. Ihr 13 Paul A. Taggart: Populism, Buckingham u. a. 2000. Mora­lismus ist Mittel zu Zwecken der Erregung, nicht Ausdruck moralischer Prinzipien.­ Bereits Friedrich Schiller ahnte, dass „das Dunkel“ nur dann eintritt, „wenn die Personen die Sache verdrängen“, wo aber „mit Vernunftgründen und aus lauterm Interesse an der Wahrheit gestritten wird, streitet man nie- mals im Dunkeln“.12 Hier liegt vielleicht die entscheidende Differenzierung begründet. Populismus kann ein Indikator sein, der auf tatsächliche Sorgen und Probleme verweist,13 der aber nur wenig zu ihrer Lösung anzubieten hat. Das hieße, sich im Großen wie im Kleinen inhaltlich an den Sachen abzu­ arbeiten und auf dieser Grundlage Problemlösungen anzubieten, die der Dauererregungsmaschinerie populistischer Akteure den Treibstoff entzieht. Diese Problemlösungen wiederum gilt es – nicht in der Erregung über, son- dern in der Begeisterung für etwas – positiv zu popularisieren.

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absolute Mehrheit der Mitglieder des ger Bundestagsabgeordnete Christian Hir- Landtages erforderlich war, weder den te tritt von seinem Amt als Beauftragter Kandidaten der Linken noch den Kandi- der Bundesregierung für die neuen Län- daten der AfD zu wählen, sondern sich der zurück. Der FDP-Bundesvorsitzende der Stimme zu enthalten. Im dritten Wahl- zwingt Kemmerich gang aber, in dem nur noch die Mehrheit zum Rücktritt. der abgegebenen Stimmen notwendig ist, Die Thüringer CDU fühlte sich an die angekündigte Kandidatur des FDP- den Parteitagsbeschluss und an ihr zen­ Fraktionsvorsitzenden Thomas Kemme- trales Wahlkampfversprechen gebunden rich zu unterstützen – auch wenn nicht und wird von der Bundespartei auch im- auszuschließen war, dass auch AfD-Abge- mer wieder deutlich daran erinnert, weder ordnete Kemmerich wählen würden. Aber mit der Linken noch mit der AfD eine Koa­ warum sollte sich die CDU allein wegen li­tion einzugehen. Nicht eine vermeint­ dieses Verdachts von der Wahl eines De- liche Äquidistanz, sondern gänzlich un- mokraten der Mitte abhalten lassen? Eine terschiedliche Gründe bestimmen das erneute Stimmenthaltung hätte die Wahl Verhalten. Mit der AfD, einer nationalisti- Der Fall Thüringen Ramelows zur Folge gehabt. Nicht die schen, rückwärtsgewandten, geschichts- Wahl Kemmerichs mit den Stimmen von vergessenen Partei, kommt ein Bündnis FDP und CDU führte zum Tabubruch. nicht infrage. Aber die Partei der Wieder- Ein Rückblick Der Tabubruch erfolgte, weil Kemmerich vereinigung kann auch nicht mit der die Wahl zum Ministerpräsidenten mit Nachfolgepartei der SED, die am Sozialis- den Stimmen der AfD annahm. mus als Ziel festhält, die leugnet, dass die Im ersten Wahlgang entfielen 43 Stim- DDR ein Unrechtsstaat war, in der bis men auf , 25 Stimmen auf heute engagierte Stasi-Mitarbeiter in füh- BERNHARD VOGEL den Kandidaten der AfD, 22 Enthaltun- renden Funktionen tätig sind, koalieren – Geboren 1932 in Göttingen, 1976 bis Hürde – in den Landtag zurück. Ein Er- gen. Im zweiten Wahlgang: 44 Stimmen schon gar nicht in den jungen Ländern. 1988 Ministerpräsident von Rheinland- gebnis, das es bisher bei Bundes- und Ramelow, 22 Stimmen für den Kandida- Pfalz, 1992 bis 2003 Thüringer Landtagswahlen in der Bundesrepublik ten der AfD, 24 Enthaltungen. Im dritten Ministerpräsident, Ehrenvorsitzender Deutschland noch nicht gegeben hat: Wahlgang: Kemmerich 45 Stimmen, Ra- „EIN HUSARENSTÜCK“ der Konrad-Adenauer-Stiftung, ­Linke und AfD waren zusammen stärker melow 44 Stimmen. Mitherausgeber der Zweimonatsschrift als die Parteien der demokratischen Mitte: „Die Politische Meinung“. 51 zu 39 Sitze. Die rot-rot-grüne Regie- Nach der gescheiterten Ministerpräsiden- rung unter Bodo Ramelow verlor ihre POLITISCHES ERDBEBEN tenwahl beginnen Ramelow, aber auch Mehrheit. Die lange sieggewohnte CDU SPD und Grüne umzudenken. Der Frak­ Die Landtagswahlen vom Oktober 2019 belegte nur noch den dritten Platz. tions­vorsitzende der Grünen im Thüringer sollten die politische Landschaft Thürin- Ramelow erneuerte – als sei nichts ge- Ein Sturm bricht los, ein politisches Be- Landtag, Dirk Adams, äußert öffentlich: gens verändern. Die Linke (+ 2,8 Prozent) schehen – seinen Koalitionsvertrag und ben erschüttert nicht nur Thüringen, son- „In eine Wahl ohne Mehrheit zu gehen, und vor allem die AfD (+12,8 Prozent) stellte sich am 5. Februar 2020 im Land- dern die ganze Bundesrepublik. Die Gro- war verwegen, war ein Husarenstück.“ Ra- nahmen zu, CDU (−11,8 Prozent) und SPD tag zur Wiederwahl. ße Koalition scheint gefährdet. Annegret melow ist bereit, sich nicht nur auf den (− 4,2 Prozent) verloren deutlich. Die Grü- Am Vorabend verständigten sich Vor- Kramp-Karrenbauer reist nach Thürin- Wahlerfolg seiner eigenen Partei zu beru- nen zogen nur knapp wieder in den Land- stand und Landtagsfraktion der Thürin- gen, die Bundeskanzlerin meldet sich aus fen, sondern auch aus der Abwahl seiner tag ein (− 0,5 Prozent). Die FDP kehrte – ger CDU einvernehmlich darauf, in den Südafrika zu Wort. Das Ergebnis müsse Regierung Konsequenzen zu ziehen und mit 73 Stimmen über der Fünf-Prozent- ersten beiden Wahlgängen, in denen eine rückgängig gemacht werden. Der Thürin- das Gespräch mit der CDU zu suchen.

90 Die Politische Meinung 91 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Der Fall Thüringen, Bernhard Vogel Impulse

Aber auch die CDU muss zu Gesprächen men für Ramelow, 23 Nein-Stimmen, 20 bereit sein, will sie nicht an der Unregier- Enthaltungen. Die FDP nimmt an der Ab- barkeit des Landes mitschuldig werden; stimmung nicht teil. sie muss Teil der Lösung und darf nicht Erst die Zukunft wird weisen, ob es Teil des Problems sein. Es kommt zu mehr- der Thüringer CDU gelingt, wieder Tritt fachen tage- und nächtelangen gemeinsa- zu fassen und in neuer Geschlossenheit in men Beratungen. Schließlich einigt man den nächsten Wahlkampf zu ziehen. Ob es sich auf einen „Stabilitätspakt“, in dem der CDU-Landtagsfraktion unter ihrem vereinbart wird, im Landtag gemeinsam neuen Vorsitzenden Mario Voigt gelingt, dringend notwendige Vorhaben ohne die eine konstruktive Opposition zu betreiben, Stimmen der AfD zu beschließen. Unter Stillstand in der Landespolitik zu vermei- anderem, den Haushalt 2021 zu verab- den und gleichwohl nicht Steigbügelhalter schieden, den Kommunen finanziell zu der Minderheitsregierung zu werden. helfen, den ländlichen Raum zu stärken, Der Freistaat Thüringen befindet sich Auf den Kopf Lehrer einzustellen. Und danach Neu- in guter Verfassung, in der besten Verfas- wahlen im April 2021 anzustreben. sung unter den jungen Ländern. Er hat Bodo Ramelow zum Ministerpräsi- seinen Platz in der Mitte des wiederverei- gestellt denten zu wählen, war die CDU auch jetzt nigten Deutschlands gefunden. Seine nicht bereit. Durch ihre Enthaltung im Arbeits­losigkeit ist niedriger als die in vie- dritten Wahlgang wollte sie allerdings len westdeutschen Ländern. Er wird auch Die Coronakrise und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nicht verhindern, dass er mit der Mehrheit diese Krise überwinden. Die Bundesrepu- der abgegebenen Stimmen wieder ins Amt blik ist um eine Erfahrung reicher. Kein kam. Land und erst recht nicht der Bund dürfen So geschah es am 4. März 2020: Im es zulassen, dass sich der Fall Thüringen ersten und zweiten Wahlgang entfallen wiederholt. Es steht zu hoffen, dass wir die HARDY OSTRY auf Ramelow 42 Stimmen, auf Björn Hö- Corona-Katastrophe erfolgreich bestehen Geboren 1970 in Ziegenhain ziert? Lassen sich bereits Erkenntnisse cke, den Kandidaten der AfD, 22 Stim- und dass die in ihr gemachten Erfahrun- (Schwalmstadt), Altstipendiat der gewinnen und Lehren ziehen? Welche men, 21 Enthaltungen. Im dritten Wahl- gen zur neuen Nachdenklichkeit bei Wäh- Konrad-Adenauer-Stiftung, Auswirkungen und Herausforderungen gang tritt Höcke nicht mehr an: 42 Stim- lern und Gewählten führt. Leiter des Europabüros Brüssel hat die Krise für die bald beginnende der Konrad-Adenauer-Stiftung. deutsche EU-Rats­prä­sidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020? LUDGER BRUCKWILDER Die Corona-Pandemie stellt die politi- Geboren 1988 in Wesel, Referent schen Ebenen vor besondere Herausforde- im Europabüro Brüssel der Konrad- rungen, da sie einerseits länder- und kon- Adenauer-Stiftung. tinentübergreifend ist, sich andererseits jedoch regional starke Unterschiede in In- Die Coronakrise wirft mit Blick auf die tensität und Verlauf ergeben. Somit sind Europäische Union (EU) viele Fragen auf: zum einen politische Maßnahmen gefor- Ist die Kritik an den Institutionen der EU dert, die dem Prinzip der Subsidiarität fol- berechtigt? Welche Möglichkeiten und gen; zum anderen bedarf es multilateraler Kompetenzen hat die EU für die Krisen- Maßnahmen. Die Pandemie hat dabei ­viele bekämpfung, und wie hat sie diese Kom- Spannungsfelder offengelegt. Zunächst petenzen bisher genutzt und kommuni- herrschten Reaktionsmuster vor, die dem

92 Die Politische Meinung 93 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Impulse Auf den Kopf gestellt, Hardy Ostry, Ludger Bruckwilder

Prinzip der Subsidiarität folgten. Die Ab- Stück Vertrauen in ihre Handlungsfähig- Güter für die Mitgliedstaaten zu ermög­ matische Arbeit des Rates vorangetrieben sage von Großveranstaltungen, Schul- keit zurückgewinnen. Trotz dieses politi- lichen. Das Konzept und die durchge- wird; sie hat im Allgemeinen drei Haupt- schließungen oder allgemeine Ausgangs- schen Erfolgs bleibt die Lage an den Bin- führten Ausschreibungen sind zweifels- aufgaben: Erstens leitet und moderiert sie und Kontaktsperren wurden nach und nengrenzen unübersichtlich; einheitliche ohne richtig und ein Beispiel dafür, dass die Arbeitsprozesse und Sitzungen des nach in unterschiedlicher Art und Weise in Regelungen für die Bürger und die Wirt- die Staatengemeinschaft als Zusammen- Rates, wozu etwa 200 Arbeitsgruppen fast ganz Europa eingeführt. Diese Maß- schaft wären wünschenswert. Mit Blick auf schluss stärker sein kann, als es die einzel- und Ausschüsse zählen. Sie nimmt dabei nahmen stellten und stellen drastische diese Situation hätte man sich zu Beginn nen Nationalstaaten allein sind. Dennoch eine konsensorientierte, Streit schlichten- Einschnitte der Freiheiten und Rechte der der Krise ein klareres Handeln seitens der steht auch die EU in einem starken Wett- de und Brücken bauende Rolle ein – im Bürger dar und liegen zu Recht in der EU gewünscht; dennoch greift eine ein- bewerb, und da das Material zeitnah be- EU-Jargon die Rolle des „honest broker“. Kompetenz der nationalen oder regiona- seitige Schuldzuweisung zulasten ihrer nötigt wird, kann das positive europäische Zweitens vertritt die amtierende Präsident- len Regierungen. Institutionen zu kurz, da diese maßgeblich Handeln kritische Engpässe nicht vermei- schaft den Rat gegenüber den anderen Gleichzeitig führten EU-Mitglied- auf die Zusammenarbeit und Bereitschaft den. Dass private Speditionsunternehmen EU-Institutionen, hauptsächlich dem Par- staaten an den Binnengrenzen vielfach der Mitgliedstaaten angewiesen sind. Da durch ihre Geschäftspartner aus China lament und der Kommission. Drittens ver- wieder Grenzkontrollen ein; in einigen die Coronakrise einmal mehr die Proble- schneller und effektiver an hochwertige tritt die dem Rat vorsitzende Regierung Fällen wurden Grenzen vorübergehend matik der Schengen-Binnengrenzen in medizinische Schutzkleidung kommen die Europäische Union – gemeinsam mit geschlossen. Das Schengen-Abkommen Krisenzeiten offenbart hat, sollte der Mo- und die Versorgung von europäischen dem Hohen Vertreter – auf internationaler wurde damit ausgehebelt. Obwohl es sich dus Operandi zur Gestaltung des Grenz- Großstädten davon abhängt, ist ange- Ebene. Dies umfasst die Vertretung ge- um ein europäisches Abkommen handelt, managements innerhalb der Schengen- sichts der Ernsthaftigkeit der Krise nicht genüber Drittstaaten, aber auch gegen- geschah dies seitens der einzelnen Mit- Zone auf den Prüfstand gestellt werden. hinnehmbar. Es bedarf neben einer koor- über internationalen Organisationen wie gliedstaaten und zunächst ohne Einbezie- dinierenden Rolle der EU bei der Beschaf- den Vereinten Nationen oder der Welt- hung der EU-Institutionen. Zwar erlau- fung künftig auch einer koordinierenden handelsorganisation. ben die Abkommen in streng definierten BESCHAFFUNG Rolle bei der heimischen Produktion von Ratspräsidentschaften sind zweifels- Ausnahmesituationen Grenzkontrollen MEDIZINISCHER GÜTER Medizinprodukten. ohne ein zweischneidiges Schwert. Einer- und -schließungen. Allerdings sollten die- seits bieten sie der jeweiligen nationalen se koordiniert und einheitlich geschehen. Regierung eine seltene Gelegenheit, im Die anschließende Kritik an der Europäi- Ein weiterer Politikbereich, den die Coro- DEUTSCHE RATSPRÄSIDENT­ EU-Kontext eine Führungsrolle einzu- schen Union war groß; weniger kritisch nakrise in den Fokus der Öffentlichkeit SCHAFT MUSS NEU PRIORISIEREN nehmen, wichtiges Agenda-Setting zu be- wurde das Verhalten der nationalen Re- gerückt hat, ist die Beschaffung von medi- treiben und sich dabei öffentlichkeits- gierungen betrachtet. Während sich man- zintechnischem Material. Insbesondere wirksam zu präsentieren. Der Zeitraum cher Regierungschef als entschlossener kleinere Mitgliedstaaten haben schlechte- Der Bereich, in dem die Europäische Uni- der Präsidentschaft ist mit sechs Monaten Krisenmanager zu inszenieren vermochte, re Konditionen, da sie keine hohen Stück- on jedoch zweifelsohne eine tragende Rol- sehr überschaubar, was im Zuge des Lissa- wirkten die Spitzen der EU-Institutionen zahlen einkaufen. Die EU begegnet dieser le einnehmen wird, ist die Hilfestellung bon-Prozesses bereits zu einer breiten De- wie Randfiguren. Schwierigkeit bereits seit Längerem mit zur wirtschaftlichen Erholung. Einzelne batte über Sinn und Unsinn des Präsi- Am 17. März 2020 gelang es EU- der „Vereinbarung über die gemeinsame Maßnahmen dazu hat die EU bereits be- dentschaftssystems geführt hatte – ins- Kommissionspräsidentin Ursula von der Beschaffung“. Die EU-Kommission über- schlossen, langfristige Strategien werden besondere, weil manche Beobachter hier Leyen und EU-Ratspräsident Charles Mi- nimmt laut Vereinbarung eine koordinie- aktuell diskutiert. Hierbei wird der deut- auch Zielkonflikte mit der Einführung chel, eine Einigung der Mitgliedstaaten rende Rolle dabei, benötigte Geräte und schen Ratspräsidentschaft im zweiten des Amtes des ständigen Präsidenten des herbeizuführen, gemeinsam und koordi- Materialien zu beschaffen; Käufer der Wa- Halbjahr 2020 eine besondere Bedeutung Europäischen Rates (heute Belgiens ehe- niert die Schengen-Außengrenzen für ren sind letztlich aber die EU-Mitglied- zukommen. maliger Premierminister Charles Michel) dreißig Tage zu schließen. Sie verkünde- staaten. Der Vorsitz im Rat der Europäischen sahen. Man beließ es schließlich dabei, ten diese Einigung gemeinsam in einer In der Coronakrise hat die EU bisher ­Union wechselt im Halbjahresrhythmus führte aber die sogenannten Trio-Präsi- Pressekonferenz und konnten auch mit vier Ausschreibungen auf den Weg ge- von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Die dentschaften neu ein. Dies bedeutet, dass ihrer Krisenkommunikation wieder ein bracht, um die Beschaffung medizinischer Präsidentschaft sorgt dafür, dass die syste- immer drei Vorsitz-Perioden zusammen

94 Die Politische Meinung 95 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Impulse Auf den Kopf gestellt, Hardy Ostry, Ludger Bruckwilder einen übergreifenden Zeitraum bilden, in von der Kommission nun genauer zu defi- Ende April 2020 verständigte sich das Präsidentschaftsagenda gestanden hätten: dem gemeinsam langfristigere Prozesse nierenden Wiederaufbaufonds (Recovery Bundeskabinett auf vier vorläufige Prio­ unter anderem die Themen Green Deal und vorangetrieben werden. Fund) politisch auszugestalten. ritäten für die Präsidentschaft. Priorität Digitalisierung. An vierter Stelle stehen Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft Mit den weiteren Schwerpunkten der haben demnach das kurzfristige Krisen- sonstige Themen, die derzeit diskutiert im zweiten Halbjahr 2020 steht ange- Präsidentschaft hatte man sich seitens der management sowie der wirtschaftliche werden, aber noch nicht abschließend sichts der Coronavirus-Pandemie vor neu- Bundesregierung aus vielfältigen Gründen Wiederaufbau. Hierunter wird nach wie feststehen. Auf manche wird man gegebe- en Herausforderungen, besonders logis­ lange zurückgehalten: Einerseits wollte vor der Mehrjährige Finanzrahmen ge- nenfalls verzichten. Normalerweise rich- tischer Natur. Michael Clauß, Deutscher man die aktuelle kroatische Ratspräsident- fasst sein, der für die Jahre 2021 bis 2027 tet jede Ratspräsidentschaft verschiedene Botschafter und Leiter der Ständigen Ver- schaft nicht beeinträchtigen; andererseits gelten wird. Seine Gestaltung wird sich informelle, themenspezifische Ratstreffen tretung Deutschlands bei der Europäi- deshalb, weil sich die EU-Kommission als schwierig erweisen, da man sich auf aus, bei denen sich die Fachminister als schen Union, warnte Anfang April ange- noch im legislativen Zyklus befand und der einen Seite einigen muss, wie viel die Gastgeber präsentieren können. Bei der sichts der dramatisch veränderten Lage in erst mit der Veröffentlichung des ersten einzelnen Mitgliedstaaten einzahlen. Es deutschen Präsidentschaft war eine Reihe einer öffentlich gewordenen Verschluss­ Arbeitsprogramms im Januar klar wurde, ist ebenfalls zu bedenken, dass die Finan- solcher Treffen von den Ministerien dezen- sache Berlin bereits eindringlich vor den welche Projekte die Kommission im Ein- zierungslücke, die das Vereinigte König- tral in Deutschland geplant. Zum jetzigen Schwierigkeiten. Thematisch müsse man zelnen verfolgen würde. Neben dem MFR reich hinterlässt, geschlossen werden muss Zeitpunkt ist unwahrscheinlich, dass diese sich neu ausrichten, das Krisenmanage- wären der Brexit, die Konferenz zur Zu- und einigen wirtschaftlich starken Mit- Treffen stattfinden können. Je nach Verlauf ment rücke in den Vordergrund, viele an- kunft Europas und das Thema „Europäi- gliedern sogenannte Rabatte gewährt wer- der Pandemie wird die Bundesregierung dere Themen müssten hintanstehen. Be- sche Souveränität“ Leitthemen geworden. den. Auf der anderen Seite muss man sich beim Ablauf der Präsidentschaft Flexibili- sondere Probleme werde außerdem die Unter letzterem sind auch die digitale neu einigen, wie die Haushaltsgelder aus- tät und Anpassungsfähigkeit unter Beweis Logistik bereiten, da mit Blick auf Social- Souveränität und ein besonderes Augen- gegeben werden sollen. Bei den bisherigen stellen müssen. Distancing-Maßnahmen nur eine sehr be- merk auf das Verhältnis zu China zu ver- EU-Haushalten flossen jeweils etwa vier- Die Coronavirus-Pandemie hat der grenzte Anzahl von Sitzungssälen zur Ver- stehen. Im Rahmen der Präsidentschaft zig Prozent der Ausgaben in Agrarsubven- Europäischen Union einmal mehr vor Au- fügung stünden. Geeignete, abhörsichere war zum Beispiel ein großer EU-China- tionen und Kohäsionsfonds. Diese Vertei- gen geführt, dass sie Schwierigkeiten hat, Videokonferenztechnologie stünde nur in Gipfel geplant. Der Plan beinhaltete ins- lung steht nun auf dem Prüfstand. ad hoc in den Krisenmodus umzuschal- sehr begrenztem Ausmaß zur Verfügung, gesamt, der Ratspräsidentschaft ein Bran- ten. Hieran gilt es zu arbeiten, und der sodass das Programm der deutschen Rats- ding der Nachhaltigkeit zu geben. deutschen Ratspräsidentschaft kommt da- präsidentschaft massiv reduziert werden Zumindest bei Letzterem wird es ver- KRISE ALS CHANCE bei eine wichtige Rolle zu. Noch wichtiger müsse und es gelte, neu zu priorisieren. mutlich bleiben. Im Übrigen wird die Prä- wird die Rolle Deutschlands aber mit sidentschaft zwangsläufig anders als ur- Blick auf die Bewältigung der wirtschaft­ sprünglich geplant gestaltet. Dies hat Der zweite Schwerpunkt wird auf den lichen Krisenfolgen. Selbst wenn die Co- „WIRTSCHAFTLICHE Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits nicht verschiebbaren Dossiers liegen, ronabekämpfung die Ratspräsidentschaft ERTÜCHTIGUNG EUROPAS“ bestätigt: „Die deutsche Ratspräsident- wie etwa auf den auslaufenden Fischerei­ in Planung, Inhalt und Ablauf unerwartet schaft wird anders ablaufen, als wir uns quoten, aber auch auf den künftigen Be- auf den Kopf gestellt hat, sollte in der der- das vorgenommen hatten. Und sie wird ziehungen zum Vereinigten Königreich. zeitigen Situation eine Chance gesehen Normalerweise hätte die deutsche Ratsprä- von der Frage der Bekämpfung der Pan­ Unter Priorität drei werden Themen zu- werden – sowohl für die Europäische sidentschaft verschiedene Schwerpunkte demie und ihrer Folgen ganz klar geprägt sammengefasst, die ursprünglich auf der ­Union als auch für Deutschland. gehabt: Einer davon wird der Mehrjährige sein. Das heißt, wir müssen sehen, dass wir Finanzrahmen (MFR) auch unter den ver- für die wirtschaftliche Ertüchtigung Eu­ änderten Bedingungen bleiben; umso ropas etwas tun, dass wir für den ­sozialen mehr, als mittlerweile unstrittig ist, dass Zusammenhalt etwas tun, dass wir an die auch Deutschland zur Krisenbewältigung Zukunft denken – und das sind die Klima- mehr in den Haushalt wird einzahlen und Umweltfragen“ (Podcast Die Kanzle- müssen und zugleich die Aufgabe hat, den rin direkt, 25. April 2020).

96 Die Politische Meinung 97 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Dialog

Kanarienvögel © Foto: Tobias Strahl im Spatzenhaus Dieses Interview ist der fünfte Teil Konsum Zigaretten, spielten Rugby. Nach einer Serie, in der der einstige DDR- dieser Heavy-Metal-halb-jugendkrimi- Ein Ex-DDR-Punk über seine „Schnauze-voll-Agenda“ und die Stasi-Verfolgung Oppositionelle Axel Reitel seine nellen-Phase wollte ich alles gut machen Gesprächspartner – wie er ebenfalls und die Welt verbessern. Mit siebzehn ge- politische Häftlinge – zu ihren hörte ich dann zu den langhaarigen Blue- Hafterfahrungen und den daraus sern und Trampern; da ging es um Frieden erwachsenden Konsequenzen befragt. und Umwelt, um Blues und Folk – Wood- Reitel, geboren 1961 in Plauen (Vogt­ stock-Kram. Obwohl ich kein Christ bin, BERND STRACKE land), wurde 1982 von der Bundes­ war ich auch in so jungen Gemeinden, Geboren 1963 in Leipzig, gehörte als „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme“ republik Deutschland „freigekauft“. weil man da Tacheles reden konnte. Man Sänger und Co-Autor der Punkbands zu einem Jahr und sieben Monaten Heute arbeitet er als Journalist und dachte damals, es wären geschützte Räu- „Wutanfall“ und „L’Attentat“ zur ersten Gefängnis verurteilt. Die Strafe verbüßt Schriftsteller. me, wo man keine Angst haben musste, Generation des Punk in der DDR. er bis zu seinem „Freikauf“ durch die sie waren es aber nicht. Über die Woche Punk war in der DDR eine laute wie Bundesrepublik Deutschland haupt­ Du warst ein Punk in der DDR. Wie fuhr ich jeden Tag zur Lehre zum Holz- unverblümte Herausforderung an den sächlich in der Strafeinrichtung Naum- kam das? modellbauer. totalitären Staat. burg. Im Westen nimmt er Abschied Dann aber bin ich den Freunden aus von der Punkszene, macht sein Abitur Bernd Stracke: Am Rande von Leipzig, der Heavy-Metal-Zigaretten-klau-Zeit Für Zeitschriften in Westeuropa und in und studiert. Heute wirkt Stracke in Leipzig-Möckern, einem ganz guten wiederbegegnet – und die waren jetzt den USA verfasste Bernd Stracke in Dresden als Geschäftsführer des Wohnviertel, gehörte ich zu einer Clique, Punks. Das hatte ich vorher nur im West- Berichte über die Punkszene im Osten. Instituts für Beratung, Begleitung und mit der ich auch in der Schule unterwegs fernsehen und in der „Bravo“ gesehen. 1985 wird er erneut verhaftet und wegen Bildung (B3). war. Wir hörten Heavy Metal, klauten im Da dachte ich, das ist ja total geil.

98 Die Politische Meinung 99 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Dialog Kanarienvögel im Spatzenhaus, Bernd Stracke

Die beiden wurden Gitarrist und Schlag- Wie bist Du dann in die Band gekom­ gesagt. Jeder Bildungsbürger würde es verhört, zur Armee gezogen. Diese Zerset- zeuger von „Wutanfall“. In Plagwitz, men? französisch aussprechen, wir waren aber zungsmaßnahmen haben im Grunde ge- ­damals ein übelst runtergekommenes keine. nommen dazu geführt, dass wir immer ­Proletenviertel, haben sie die Band ge- Bernd Stracke: „Wutanfall“ war die erste politischer und eindeutiger wurden. gründet. Ihr Sänger war Jürgen Gutjahr, Punk-Band, die ich kannte, jedenfalls eine Gab es eine Intention des DDR-Punk, Spitzname „Chaos“. Das fand ich so viel der ersten Punk-Bands in der DDR. Ihr die sich vom West-Punk unterschied? Deine erste Verhaftung erfolgte im kreativer und direkter als diese Hippie- Gründer und Sänger war „Chaos“, ein gu- ­Zusammenhang mit einer Kerzen­ Kisten, dass ich mir die Haare abgeschnit- ter Freund von mir. Für ihn bin ich ein­ Bernd Stracke: Der Unterschied lag in demonstration im November 1983. ten habe. Ich war gerade achtzehn gewor- gesprungen, als er aufgrund des Drucks den verschiedenen Gesellschaftssystemen. den und habe mich total zu den Punk- durch die Stasi ausgeschieden ist. Den Die einen lebten in einem Gesellschafts- Bernd Stracke: Morgens war ich mit ein Dingen bekannt. Aber wir waren immer hatten sie richtig auf dem Kieker. Immer system, wo sich über die Jahre nach dem paar Freunden zur Verhandlung gegen noch nicht viele. Alles war neu, und wir haben sie nach Rädelsführern gesucht, Zweiten Weltkrieg eine gewisse emanzi­ unseren Band-Kollegen Mike Reichen- konnten nirgendwo nachlesen, wie wir als um der Hydra den Kopf abzuschneiden. patorische Bewegung vollzogen hat. Die bach, Spitzname Ratte, der irgendwelche Punks zu sein hatten, wir mussten das erst Aber dann bin ich sozusagen der Kopf ge- ganzen 68er, die Frauen-Emanzipation, Freiheitsparolen gesprüht hatte. Wir erforschen. wesen, der nachgewachsen ist. die Homosexualität, neue Methoden des wollten dort eine Solidaritätsbekundung Vor allem war es wichtig, Menschen Dialogs für das Aushandeln von politi- loslassen, aber das klappte nicht. Als wir kennenzulernen, die so waren wie wir. Es blieb dann nicht bei „Wutanfall“ … schen Prozessen – das war eine Demokra- da wieder raus waren, wollten wir irgend- Immer haben wir geguckt, ob man viel- tie mit all ihren Schwierigkeiten, sprich was tun. Da verwies uns ein Langhaa­ leicht nicht eine gemeinsame Seele hat. Bernd Stracke: Es kam irgendwann zu RAF und Co. Aber wir haben in einer Dik- riger auf die abendliche Abschluss­ Das hat dazu geführt, dass wir bis zum persönlichen Konflikten und dann schon tatur gelebt. veranstaltung der Friedensdekaden der Abwinken in den Cafés abhingen. Das war bald zu einem neuen Projekt. Das hieß Wenn in Hannover 1983 auf dem Evangelischen Kirche in der Nikolai­ eine unglaubliche Zeit der Befreiung und HAU, also Halbgewalkte Anarchistische Chaos-Treffen Skins und Punks festge- kirche. Pfarrer Führer sprach das Schluss- Emanzipation vom Elternhaus, von der Untergrundbewegung. Wir haben uns nommen wurden, dann haben die mit wort: Kommt gut nach Hause, eine schö- Lehre, von der Schule und von der Gesell- selbst ein bisschen auf die Schippe genom- Steinen geschmissen und Barrikaden ab- ne Weihnachtszeit, und denkt dran, heu- schaft, die für einen ja den Weg vorplante men, waren aber von der Idee des Anar- gebrannt. Das haben wir nie gemacht. Wir te ist die Welt in Leipzig­ zu Gast. Regis- bis zum Tod. chismus angetan – also pazifistisch, staats- waren arbeiten. Auch war es nicht unsere seure, Schauspieler, Drehbuchautoren, verweigernd. Wir im Osten waren ja Intention, die politische Opposition gegen Journalisten eröffnen die internationale Aus dem Straßenbild in der DDR eingesperrt wie in einem Schrank. Der die SED-Diktatur zu sein. Sondern wir Dokumentar- und Kurzfilmwoche im stacht ihr heraus. Hattet ihr mit An­ kapitalistischen Welt standen wir kritisch wollten nur die beschissenen Dinge direkt Kino „Capitol“. Macht also keinen Blöd- feindungen zu kämpfen? gegenüber, weil wir das einfach so gelernt beim Namen nennen. Wir sind mit keiner sinn. Lauft nicht mit Kerzen, mit Blumen hatten. Gegenüber dem diktatorischen politischen Agenda gestartet, sondern mit oder lila Tüchern herum! Das wird von Bernd Stracke: Wir waren wie Kanarien- Sozialismus waren wir aber extrem kri- einer Schnauze-voll-Agenda. der Staatssicherheit sofort als Provoka­ vögel in einem Spatzenhaus. Das kannten tisch, weil wir das täglich erlebten, das ha- tion wahrgenommen und geahndet. Da die Leute nicht. Wir haben auch richtig ben wir uns nicht eingebildet. Aber ihr wurdet immer politischer … haben wir uns gesagt, das können die mit Gewalt erfahren. Von Typen in der Kneipe Alles hat sich dann dahingehend ge- uns nicht machen, und sind vor das „Ca- oder an der Straßenbahnhaltestelle zur troffen, dass sich die Punk-Rock-Band Bernd Stracke: Durch den Staat gab es pitol“ – mit Kerzen, Blumen und lila Tü- Arbeit kam der Spruch: „Euch sollte man dieses Anarcho-Ding mit dem „A“ auf die immer mehr Druck. Anfangs wussten sie chern. Unterwegs haben wir auch noch vergasen.“ Am Anfang hatten wir Schiss Fahne gemalt hat. Daraus ist auch der gar nicht, wo sie uns einordnen sollten, den einen oder anderen angesprochen. und sind gerannt, aber irgendwann sind Name „L’Attentat“ entstanden. Das klang und haben uns als Nazis beschimpft. Spä- Wir wollten eine Schweigeminute ma- wir natürlich frech geworden und ha- nach französischen Anarchisten. „Atten- ter dann als dekadente Jugendliche, die chen zur Unterstützung des Gedankens ben uns Sprüche zurechtgelegt: „Na ja, tat“ war uns zu plump, da haben wir das schlimme Gedanken haben von Freiheit für den sozialen Friedensdienst, also die- Oma, Du hast eine Hakenkreuzfahne ge- „L’“ davorgesetzt. Keiner von uns sprach und sonst irgendwas. Dann haben die uns se Kriegsdienstalternative. Es gab keine schwenkt, wir sind halt jetzt so.“ Französisch, also wir haben „L’Attentat“ festgenommen, kontrolliert, eingesperrt, Sprechchöre.

100 Die Politische Meinung 101 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Friedensstaat

Ich wohne dort, wo die Schizophrenie regiert Dort, wo dich jeder Spießer anstiert Dort, wo man Mauern baut Sich keiner was zu sagen traut

Refrain: Ich wohne in einem Friedensstaat. Abfahrt, Abfahrt, das ist zu hart! (2×)

Wo du dein Leben wie im Knast verbringst Und mit den Bullen um ein bisschen Freiheit ringst Wo das Blauhemd dominiert Und die Jugend straff marschiert

Refrain: Ich wohne in einem Friedensstaat …

Ich wohne dort, wo die Panzer steh’n Dort, wo man sagt: Das Leben ist schön Dort, wo bald kein Vogel mehr singt Wo das Wasser nach Abfall stinkt

Refrain: Ich wohne …

Wo jeden Baum du zählen kannst Wo jeder nur denkt an seinen fetten Wanst „Wutanfall“ (1984), rechts: Bernd Stracke. Foto: © transit / Christiane Eisler Refrain: Ich wohne … (2×) Wir wohnen … (2×)

© L’Attentat, Text: Ray Schneider, 1986 Dialog Kanarienvögel im Spatzenhaus, Bernd Stracke

Dennoch kam es zur Verhaftung … einem? Was kann man erzählen? Was darf ­hätten wir nie vermutet – bis wir es in den die die Stasi längst kontrolliert hatte, und man nicht erzählen? Man weiß ja, man ist BStU-Unterlagen gelesen haben. Unsere deshalb haben sie mich noch angeklagt Bernd Stracke: Als die Kerzen brannten in einem Gefängnis der Geheimpolizei. Songtexte, die wir bei ihm im Proberaum wegen Verbreitung von Nachrichten im und die Blumen niedergelegt waren, ka- Das ist alles belastend. Hinzu kommen liegen gelassen hatten, sind direkt an die Ausland, die geeignet sind, den Interessen men die mit Robur-Lkws angefahren und Familiengeschichten: Wissen die Eltern Stasi gegangen. der DDR zu schaden. sind überfallartig runtergesprungen. Die Bescheid? Was passiert draußen? Zivilen haben die Kerzen ausgeschlagen, Du warst 1985 quasi noch unter seinen Wie ging das Gerichtsverfahren aus? mit brachialem Vorgehen die anwesenden Punk-Musik in der DDR – wie konnte Fittichen. Du erlebtest interessante Leute festgenommen und in die Stasi- das überhaupt funktionieren? Geschichten; wer kam schon rein in Bernd Stracke: Am Ende gab es einen U-Haft gesteckt. Wir sind dann in der solche Kreise wie um „Cäsar“ und die Deal zwischen Anwalt und Staatsanwäl- zweiten Welle noch mal hin und haben Bernd Stracke: Um auftreten zu können, Kultur- und Rock-Elite! Und doch tin. Mein Anwalt war Wolfgang Schnur, wieder Kerzen angezündet. Da passierte brauchte man eine offizielle Einstufung wurdest Du im selben Jahr, sagen wir, der später als IM enttarnt wurde. Ich kam das Gleiche, bis sie alle von uns wegge- durch die Kulturkommission. Die hatten endgültig verhaftet und verurteilt. wieder ein halbes Jahr in Leipzig in Stasi- räumt hatten. wir nicht, und so blieb nur, in Kirchenräu- U-Haft. Danach war ich im Strafvollzug Hätten sie uns dort stehen lassen, men, privat, in Studentenclubs oder so zu Bernd Stracke: Uns ging es darum, nach in Naumburg. Viele Freunde aus der Berli- wären unsere Kerzen runtergebrannt und spielen. Irgendwann ist die Kulturkom- den Dingen zu suchen, die man als Punk ner Punk-Szene traf ich dort wieder. Ge- die Blumen verwelkt, es wäre den west- mission dann auf „Wutanfall“ zugekom- tut. Wir wollten uns an der ganzen Welt meinsam haben wir dort Auszugsschienen deutschen und europäischen Besuchern men: „Passt auf, spielt doch mal vor für die orientieren, hatten aber nur West-Fern­ für IKEA-Möbel hergestellt. der Kurzfilmwoche kaum aufgefallen, was Einstufung.“ Diese Einstufung wäre aber sehen. Irgendwann habe ich dann an­ Von Naumburg ging es nach Kaßberg, vor sich ging. für uns als Punker der Tod gewesen, wir gefangen, für sogenannte „Fanzines“ – in das Gefängnis im damaligen Karl- wollten das nie. Andererseits bekamen wir Fan-Magazine von Punk-Rockern im Marx-Stadt, und von dort in den Westen Sie steckten dich nur kurz, zur Ab­ durch das Vorspielen vor der Kommission Westen – über die Szene in der DDR zu ins Aufnahmelager Gießen. schreckung, in die Stasi-U-Haft? so etwas wie ein offizielles Konzert. Zum berichten. Termin luden wir alle Punks ein, die wir War das ein Gefühl der Freiheit ohne Bernd Stracke: Ich wurde also nicht zu kannten. Es wurde zu unserem Konzert, Aber das war nicht der Grund, Dich Ende? Gefängnis verurteilt wie die anderen, son- und die Beurteilung der Kulturkommis­ festzunehmen. Welchen fanden sie am dern habe einen sogenannten Strafbefehl sion war erfreulich vernichtend – Texte Ende? Bernd Stracke: Absolut. Obwohl es na- gekriegt. Es war nicht so, dass ich dann unverständlich, musikalische Barbaren türlich auch hier Dinge gab, die mir übel gleich wieder raus bin. Zu Weihnachten und so weiter! Bernd Stracke: Die Hoffnung, dass ei- aufgestoßen sind. Aber ich lebte jetzt in haben sie mich wieder rausgelassen. ne Szene entsteht, die etwas verbessern einem Land, das mich aufgenommen hat- Aber ihr bekamt dadurch prominente könnte, gab ich irgendwann auf und stellte te, mir Wohnung und Auskommen gab – Wie hast Du die Haft erlebt? Unterstützung. Peter „Cäsar“ Gläser einen Ausreiseantrag. Bei einer Vorspra- egal wie ich aussehe, egal was ich sage. war bis zum Verbot Sänger und Kom­ che beim MdI, dem Innenministerium, Ich konnte reisen und habe die Freiheit Bernd Stracke: Schlimm war es, in einer ponist der „Renft-Combo“ und zu die­ habe ich die DDR mit Chile verglichen: genossen. Zwei-Mann-Zelle zu sein, mit Ziegelglas ser Zeit erfolgreich mit der immer noch Die haben dort eine faschistische Diktatur statt Fenstern, von der Kommunikation existierenden Gruppe „Karussell“. mit Pinochet, aber die Opposi­tion kann Aus dem Punk wurde ein Anhänger ausgeschlossen zu sein. Nicht zu wissen, jederzeit raus, wir aber nicht. Dann habe der freiheitlichen Demokratie? wo es hingeht. Die täglichen Ganztags- Bernd Stracke: Gläser wurde uns als mu- ich noch gesagt, dass hier die Leute mund- Verhöre, die machen was mit einem. Dann sikalischer Mentor zur Seite gestellt. Er ist tot gemacht werden, und da haben sie Bernd Stracke: Ich habe mir erlaubt, der Schlafentzug, wenn das Licht angeht dann auch ein richtiger Freund geworden. mich wegen Herabwürdigung der sozialis- mich weiterzuentwickeln. Die Wut, die in der Nacht. Der, der mit einem in die Total spannende Leute aus der Generation tischen Ordnung festgenommen. Bei der westdeutsche Punks gegen ihre Gesell- Zelle gesperrt ist, den kennt man nicht. vor uns gingen bei ihm ein und aus – anschließenden Hausdurchsuchung fan- schaft hatten, konnte ich zum Teil gar Traut man dem anderen? Traut der andere wir waren so die Küken. Dass er IM war, den sie die ganze Post für die „Fanzines“, nicht mehr nachvollziehen. In Berlin war

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Band „HAU“ (1984), rechts: Bernd Stracke. Foto: © transit / Christiane Eisler Traditionsbruch ich die Woche zweimal bei einem Punk- tegien gegen antidemokratische Tenden- konzert, wir waren überall unterwegs, zen entwickelt. Mit der ersten Welle der aber ich konnte mich immer weniger da- Zugezogenen aus dem Jugoslawienkrieg Neue Erkenntnisse über Hannah Arendts Denken mit identifizieren. Ich dachte: Wo habt ihr gab es eine wahnsinnige Nazi-Entwick- denn eigentlich euer Problem? Ihr könnt lung hier auf den Dörfern – und das ist Läden aufmachen, wo ihr wollt. Als dann nicht frei und fern von Jugendkultur und auf den Demos die gleichen Sprüche ge- Jugendsubkultur. Viele haben sich auf die klopft wurden wie auf der Erster-Mai-­ Skinhead-Bewegung gestützt, die teilwei- THOMAS MEYER Parade in Leipzig, da wurde mir immer se aus der recht offenen Punk-Bewegung Geboren 1966 in Bernkastel-Kues, Wer geglaubt hatte, dass bereits alles über schlechter. Ich habe dann gedacht, ich bil- entstanden ist. Ich war dann schnell Spe- Privatdozent, Fakultät für Philosophie Hannah Arendt gesagt und veröffentlicht de mich jetzt mal fort, habe mein Abitur zialist auf dieser Schiene, habe mich in der der Ludwig-Maximilians-Universität wurde, der dürfte sich angesichts der gemacht und dann studiert. Das war mir Hauptsache mit Jugendkultur und Jugend München. jüngst erschienenen gewichtigen Publi­ in dem Moment wichtiger als Revoluzzer beschäftigt, habe dort auch Vorträge ge- kationen die Augen reiben. Im Göttinger gegen eine Gesellschaft zu sein, gegen die halten und Schulungen gemacht. Wir ha- Hannah Arendt / Dolf Sternberger: „Ich Wallstein-Verlag sind unter der Gesamt- ich gar nicht bin. ben dann eine bestimmte Methode entwi- bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär“. verantwortung der Germanistin Barbara ckelt, bei der wir uns vor Ort ansehen, wie Briefwechsel 1946 bis 1975, hrsg. von Hahn die beiden ersten Bände einer kri­ Heute bist Du ein erfolgreicher Netz­ es den Leuten geht, wer hier mit an den Udo Bermbach, Rowohlt Verlag, Berlin tischen Edition erschienen, während werker und Kommunikator in der Tisch gehört. Vor Ort bei den Menschen 2019, 477 Seiten, 38,00 Euro. ­Arendts Stammverlag in Deutschland, sächsischen Hauptstadt. Wie fließen liegen das Problem und seine Lösung. ­Piper in München, eine Auswahl ihrer frühere Erfahrungen dabei ein? Judith N. Shklar: Über Hannah Arendt, Schriften zu Fragen der jüdischen hrsg. von Hannes Bajohr (auch Nach- ­Geschichte und Identität unter dem Titel Bernd Stracke: Ich bin jetzt Geschäfts- wort), übersetzt von Hannes Bajohr und Wir Juden vorgelegt hat. Aus der kaum führer eines Beratungsinstituts, das für Das Gespräch führte Axel Reitel am 30. März 2020 Tim Reiß, Matthes & Seitz, Berlin 2020, noch zu überblickenden Zahl der ak­ Kommunen, Träger und Netzwerke Stra- aufgrund der Corona-Pandemie via Telefon. 120 Seiten, 14,00 Euro. tuellen Forschungsliteratur seien die

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­Gesamtdarstellungen von Maike Weiß- Dissertation über Martin Heidegger dis- selbst nachzudenken – und sie zu akzep- ideologischen Vorhabens. Im Anspruch pflug (Matthes & Seitz, 2019) und Stefa- kutierte. 1934 erschien die von Paul Til- tieren. Arendt illustrierte diese Überzeu- auf die radikale Neuerschaffung dessen, nia Maffeis (Campus Verlag, 2019) hervor- lich betreute, kritische Arbeit unter dem gung in einem Brief vom 28. November was er Denken nennt, gehe der Mensch gehoben. Titel Der verstandene Tod. Arendt wird 1953, in dem sie Heideggers Denken von nicht bloß als handelndes Subjekt, sondern Zu den bedeutsamen Publikationen hier – wohl bewusst – nicht erwähnt! dem anderer abgrenzt: „Wenn diejenigen, überhaupt verloren. Das Heidegger’sche gehören zweifellos Arendts Korrespon- In einer gänzlich anderen Welt, der die wirklich noch in der Tradition verwur- „Sein“, dessen Todesfixierung in der Form denz mit Dolf Sternberger und die Samm- Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und der zelt sind, entdecken müssen, dass der Fa- des Daseins Sternberger in seiner Disser- lung von Texten der hierzulande noch Vernichtung der europäischen Juden, ka- den gerissen ist und dass die grosse Weis- tation angriff, begibt sich nach dem Zwei- ­immer wenig bekannten politischen men Arendt und Sternberger zunächst heit der ­Vergangenheit unseren Fragen ten Weltkrieg in die nur scheinbare Welt- ­Philosophin Judith N. Shklar, in denen brieflich wieder zusammen. Auch hier ist mit einem eisigen Schweigen begegnet, losigkeit der „Gelassenheit“. Tatsächlich sie sich mit ihrer Kollegin auseinander- Jaspers als einer der Herausgeber der Mo- erschrecken sie und fangen an überlaut zu verweigere Heidegger mittels dieser Denk- setzte. Der Politikwissenschaftler und Es- natszeitschrift Die Wandlung die Mittler­ sprechen, wie Kinder die im Walde pfeif- bewegung jedwede Teilnahme und Ver- sayist Sternberger muss in dieser Zeit- figur. Sternberger, Redakteur der Zeit- fen [sic!]. Unsere Situation ist anders. Un- antwortung. Aus der „Destruktion“, so schrift nicht weiter vorgestellt werden. schrift, nimmt den Kontakt auf. Schnell sereins weiss dies entweder als eine der der Aristoteliker Sternberger, wird ein ge- Und wer seinen Namen und sein Werk entwickelt sich eine Nähe, die nicht fundamentalen Selbstverständlichkeiten fährlicher Eskapismus. Und so heißt es doch noch nicht kennt, darf sich seinem ­zuletzt durch das gegenseitige Wieder­ unseres gesamten geistigen Lebens oder in einem Brief vom 19. August 1949 an Schüler Udo Bermbach anvertrauen, der erkennen-Können im Intellektuellen und ist bereits so entwurzelt, aus der Tradition ­Arendt: „Heidegger sucht die ursprüng­ in seiner buchlangen Einleitung zu der Persön­lichen gegründet ist. Aber es gilt nämlich nicht ‚überhaupt‘, dass er sich lichen Offenbarungen immer weiter zu- von ihm herausgegebenen und kommen- ebenso: Je intensiver der Austausch, desto nicht scheut, die alten Wahrheiten als Bin- rück in der Urgeschichte des Denkens, tierten Korrespondenz eine erste Einfüh- klarer die Unvereinbarkeit von Positionen. senwahrheiten weiterzugeben. Dies Wei- destruiert auch Plato und Aristoteles; die rung bietet.1 Dass Arendt und Sternberger diese jeweils termachen aber, scheint mir, und nicht der ganze Sache nimmt nachgerade etwas radikal seitenverkehrt entwickeln – die Heideggersche Versuch, vor dessen unge- Wahnsinniges an, wie eine Art von ge­ Philosophin wird zur schärfsten Kritikerin heurer Courage zumindest man Respekt wendetem Chiliasmus, Sprengung aller DIFFERENZPUNKT ihrer Disziplin und setzt an deren Stelle haben sollte, ist eine Art Falschmünzerei.“ geschichtlichen Bestimmungen und Be- HEIDEGGERS DENKEN eine Neuerzählung der politischen Theo­ Was in der Forschung bislang nicht dingungen, Sprengung also eigentlich der rie, während der Politikwissenschaftler ausreichend wahrgenommen wurde, ist, humanen Existenz.“ den Wirklichkeitssinn seiner Profession wie sehr Arendt, Heideggers Ansatz, Philo- In der geschilderten Differenz liegt Sternberger (1907–1989) und Arendt aristotelisch untermauert –, lässt nach und sophie aus der Falle ihrer eigenen Tradi­ die stellenweise sehr dünne, stellenweise (1906–1975) kannten sich aus gemein­ nach den eigentlichen Differenzpunkt die- tion zu befreien, und ihre Rede vom „Tra- massive, jedoch stets unüberwindliche samen Heidelberger Studientagen, als sie ses bemerkenswerten Austausches hervor- ditionsbruch“ parallel geführt werden. Die Wand zwischen Arendt und Sternberger. bei Karl Jaspers Philosophie hörten. Da- treten: Es ist Heideggers Denken. Korrespondenz mit Sternberger wird an Nimmt man sie ernst, dann ordnen sich mals entstand eine Freundschaft zwi- Arendt hält, bei aller Kritik, an einer Stellen wie diesen wesentlich für das Ver- die kleineren Meinungsunterschiede und schen dem Journalisten und Politik­ Grundhaltung ihres Lehrers fest: nämlich ständnis von Arendts Denkentwicklung. gegenseitigen Einschätzungen. Die Kor- wissen­schaftler und der promovierenden an der von Heidegger behaupteten Not- respondenz wird dann zu einem eindrück- Philosophin, die auch die Partner ein­ wendigkeit, dass die etablierte abendlän- lichen Lehrstück über die Möglichkeiten bezog: Arendts Ehemann, den als Gün- dische Philosophie einer vollständigen SPRENGUNG DER und Grenzen von Verständigung und der ther Anders bekannt gewordenen Gün- Revision bedürfe. Mehr noch, dass das, HUMANEN EXISTENZ Akzeptanz von Unvereinbarem. Aller- ther Stern (1902–1992), und Sternbergers was Heidegger den „anderen Anfang“ dings wird hier die Geduld beider Seiten Frau Ilse Blankenstein, geborene Roth- nennt, an die Stelle der Philosophie treten hart geprüft: Arendt erwartete Unterstüt- schild (1900–1992). Sternberger wird sich müsse. Arendt plädiert in dem Briefwech- Sternberger wiederum nähert sich auf ganz zung in der Auseinandersetzung um ihr in den 1970er- und 1980er-Jahren in Brie- sel eindringlich dafür, wenn Sternberger andere Weise dem Seinsdenker: Seine De- Buch Eichmann in Jerusalem, die Sternber- fen an Anders daran erinnern, wie er mit schon nicht die Folgen dieses Ansinnens struktion der Heidegger’schen Sprache ger ihrer Ansicht nach verweigerte. Er wie- ihm über seine im Entstehen begriffene goutieren kann, doch über die Prämisse zielt auf die Offenlegung eines letztlich derum gierte regelrecht nach Resonanz

108 Die Politische Meinung 109 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Gelesen Traditionsbruch, Thomas Meyer auf seine Schriften – nicht aus vorder- union und über Japan floh, schließlich in Das leuchtet auf den ersten Blick nicht dass Arendt der allgemeinen amerikani- gründiger Eitelkeit, sondern weil er sich ­Kanada ankam, machte mithilfe ihres ein, war Arendts große Studie The Origins schen Tendenz nachgebe, wonach die so der gemeinsamen geistigen Herkunft so- Doktorvaters Carl Joachim Friedrich Kar- of Totalitarianism (1951) beziehungsweise hart erkämpfte Demokratie und ihre Be- wie der Rettung und Weiterführung die- riere an der Harvard-Universität. Bereits Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gründung einem unaufhaltbaren Nieder- ser Gemeinsamkeit verpflichtet fühlte. 1992 starb sie in Boston. Dass Shklar in (1955) doch der Versuch gewesen, den gang ausgesetzt seien. Dass sie sich nicht Zugleich hat die Geschichte eine Iro- Deutschland nach und nach mehr disku- meta­physischen Erklärungsmustern des davon lösen könne, „spekulative Philoso- nie. Als Sternberger in der Frankfurter tiert wird, ist das Verdienst des jungen Nationalsozialismus im Nachkriegs- phie, Ideengeschichte und gemeinsame ­Allgemeinen Zeitung Arendts Schrift Viva Philosophen und Schriftstellers Hannes deutschland – weitaus weniger beim Kom- Erfahrung“ zu vermischen, was schließ- activa rezensiert, kritisiert er sie für ihre Bajohr. Nahezu im Alleingang hat er hier- munismus/Bolschewismus praktiziert – lich an Hegels Modell erinnere. Über- allzu große Nähe zu Aristoteles. Hat also zulande mit seinen Texteditionen eine etwas entgegenzusetzen: nämlich keine spitzt könnte man sagen, dass die Analyti- der „Traditionsbruch“ sie nur tiefer in die Autorin etabliert, deren Werk auch als „Weltnacht“, keine „Machenschaft“ und kerin der Totalitarismen selbst totalitär Tradition geführt? Wir werden darauf Kommentar zu Arendts Schriften gelesen auch keinen im Abgrund der Geschichte denkt. gleich zurückkommen. werden kann. Wie sehr diese von Bajohr arbeitenden „Nihilismus“. Vielmehr ver- Shklar ist hier nicht nur die Erste, die Nicht vergessen sollte man zudem, zu Recht vertretene These stimmt, lässt suchte sie eine Entwicklungsgeschichte Arendts Hauptwerke als „Trilogie“ be- dass es zu einem konstruktiv-systemati- sich nunmehr Satz für Satz in dem von des Antisemitismus und des National- greift. Wesentlich an der scharfen Kritik schen Austausch kommt: Arendt, die in ihm verantworteten Band mit den Texten (sozial)ismus zu konstruieren, in der das ist, dass sie die Einsicht dafür öffnet, dass, ihrer politischen Theorie keinerlei Inte­ Shklars zu Arendt nachvollziehen. Neue dieser Entwicklung und ihrer Kul- wer mit Arendt denken möchte, eine her- res­se an einer Institutionenlehre formu- Bereits in ihrem 1957 unter dem Titel mination die wesentliche Innovation dar- ausfordernde Vielfalt von miteinander liert, lernt hier beim pragmatischen Ver- After Utopia. The Decline of Political Faith stellt. Kurz gesagt: Auschwitz verändert verwobenen Traditionen und deren Im­ fassungspatrioten Sternberger. Er wiede- erschienenen ersten Buch steht die meta- die conditio humana. Dieses „Neue“ wird plikationen auszubalancieren hat. Doch rum lässt sich etwa von Arendts freiem physisch-existenzialistische Tradition im nicht an das Phänomen Nationalsozialis- nicht um eine bloße Pointe geht es Shklar, Umgang mit Heinrich Heine inspirieren, Mittelpunkt, aus der Arendt stammt. Kri- mus selbst gebunden, sondern als sich er- wie auch Bajohr im „Nachwort“ ausführt. eine Anregung, die in einer Monographie tisch sieht Shklar, dass die analytischen eignet habende Möglichkeit analysiert. Vielmehr fühlt die Harvard-Professorin mündet, welche Sternbergers analytische Kategorien, die die neuen Totalitarismen einem Denken den Puls, das sich nicht Fähigkeiten auf klassische Weise mit Bril- des 20. Jahrhunderts verständlich machen von seinen Ursprüngen lösen will, bei lanz und Kraft zu verbinden weiß. sollen, philosophisch-zeitlos und nicht TRAUMWELT DER IDEALEN gleichzeitiger Einsicht in den „Traditions- ereignisgeschichtlich-politisch­ grundiert GRIECHISCHEN POLIS bruch“ (Arendt). sind. Das hört sich sehr abstrakt an, aber Damit treffen sich Shklars und Stern- METAPHYSISCH- Shklar bleibt dabei nicht stehen: „Hannah bergers Kritik an Arendt. Ob man diese EXISTENZIALISTISCHE Arendt ist der Meinung, die Zerstörung Doch genau an dieser Stelle setzt Shklar Kritik teilt, sollte man erst beurteilen, TRADITION der Nationalgemeinschaften durch den auch in den folgenden Texten zu Arendt wenn man neben der stets im Scheinwer- Imperialismus sei eine wesentliche Vor- an. In den passagenweise sehr scharfen ferlicht stehenden Arendt auch die Werke aussetzung für den totalitären Massen- Attacken erweitert Shklar ihr Argument: von Sternberger und Shklar genauer stu- Man muss also unbedingt dankbar für die staat gewesen. Im Ganzen gesehen ist das So bleibe Arendt in The Human Condition diert hat. Die beiden Bücher laden jeden- Veröffentlichung der Korrespondenz sein, lediglich eine Wiederholung jenes Rufs (1958) beziehungsweise Vita activa oder falls auf überzeugende Weise dazu ein. denn anders als in den bereits vorliegen- nach Wurzeln, den schon die Romantiker Vom tätigen Leben (1960) in der Traumwelt den Briefwechseln hat Arendt mit Stern- des neunzehnten Jahrhunderts ausstie- einer idealen griechischen Polis stecken 1 berger ein gleichberechtigtes Gegenüber, ßen. […] Aber Wurzeln bleiben, damals und suche vergeblich nach dem Anknüp- Auf die zum Teil eklatanten Mängel der Edition wird hier nicht weiter eingegangen. Eine Zusammen­ das weder zu nah noch zu fern ist. wie heute, eine Notwendigkeit für ‚die an- fungspunkt in der Gegenwart. Und in On fassung der Kritikpunkte bietet Jens Hacke: „Das Die 1928 in Riga geborene, aus einer deren‘. Die überweltlichen Existenzialis- Revolution (1963) beziehungsweise Über Politische der Freundschaft. Dolf Sternberger und säkularen jüdischen Familie stammende ten und die ‚Ausnahmemenschen‘ haben die Revolution (1965) erlebe man den un- Hannah Arendt üben sie in der Praxis“, in: Zeit- schrift für Ideengeschichte 14 (2020) 1, S. 123–126. Judith N. Shklar, die sich erst nach Stock- ganz sicher nicht vor, sich niederzulassen. bedingten Patriotismus einer einst Ge- Der Autor wird noch eine gesonderte Kritik ver­ holm rettete, dann quer durch die Sowjet- Dies ist also auch ein Ästhetizismus.“ flüchteten, um dann aber zu begreifen, öffentlichen.

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ließ nur die Möglichkeit eines umfassen- schen ganz unterschiedlicher Prägung zur den Neuanfangs. Und auch die Berufung Mitarbeit einzuladen und zeitgemäße auf die christliche Tradition geschah mit Antworten auf aktuelle und zukünftige dem Ziel einer geistigen Erneuerung. Herausforderungen zu geben. In Anbetracht des „Trümmerfeldes, Für das Fundament, für unseren zu dem eine Staats- und Gesellschaftsord- Kompass, steht das „C“, das konfessionel- nung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne le Begrenzungen überwand und das uns Achtung vor der Würde des Menschen die öffnet für alle, die die Würde aller Men- Überlebenden des Zweiten Weltkrieges schen – den Kern des christlichen Men- geführt hat“, – wie es in der Präambel zur schenbildes – bejahen. Bayerischen Verfassung heißt – konnte es Für die „Einladung an alle“ steht das in keinem Bereich des gesellschaftlichen „U“, der Unionsgedanke, der eine moderne Lebens ein „Weiter so“ geben und schon Volkspartei erst ermöglichte. 1945 waren gar kein Zurück! Wohin denn auch? In die die konfessionellen, sozialen und lands- Schwäche und Zerrissenheit der Weima- mannschaftlichen Abschottungen, die rer Republik? Ins Kaiserreich? zur Schwäche der Demokratie in der Wei- „Ein neues Deutschland soll geschaf- marer Republik geführt hatten, noch all- Mit klarem fen werden, das auf Recht und Frieden ge- gegenwärtig. Ebenso die gemeinsame Er- gründet ist.“ So formulieren es die „Köl- fahrung von Verfolgung und Widerstand ner Leitsätze“ im Juni 1945 im Hinblick katholischer und evangelischer Christen, Kompass ins Offene auf die Ziele einer „Christlichen Demo- von Arbeitern und konservativen Offizie- kratischen Union Deutschlands“. ren. Der Neuanfang sollte im Zeichen des Demokratischer Neubeginn, Westbin- Zusammenhalts stehen. Kurshalten und Erneuern als Auftrag einer Volkspartei dung und Soziale Marktwirtschaft, Ab- „Das sind die Leitsätze der Christ­ kehr vom Nationalismus und Hinwendung lichen Demokraten Deutschlands! Sam- zum Ziel eines vereinten Europas – das melt Euch um sie!“ Mit diesem Aufruf zur waren kraftvolle, ja revolutionäre Schritte Sammlung enden die „Kölner Leitsätze“. einer politischen Erneuerung, die unter Grundsätze, Antworten auf der Höhe HERMANN GRÖHE Führung von Persönlichkeiten wie Kon- der Zeit und die Fähigkeit zu „sammeln“ – Geboren 1961 in Uedem (Kreis Kleve), Gründung der CDU beschritten, führten rad Adenauer und Ludwig Erhard den darum ging es und darum geht es! 2009 bis 2013 Generalsekretär zur bedeutendsten Neuerung in der deut- Grundstein legten für die Erfolgsgeschich- Wenn die CDU erstarrte, verlor sie die der Christlich Demokratischen Union schen Parteiengeschichte seit 1945. te der Bundesrepublik Deutschland. Und Meinungsführerschaft und bald auch das Deutschlands (CDU), 2013 bis 2018 Ihre Kraft schöpften unsere politi- die die CDU – sowie ihre „bayerische Regierungsmandat. Das war der Fall, als Bundesgesundheitsminister, stell- schen Vorfahren aus dem christlichen Schwester“, die CSU – zu den entschei- die CDU Mitte der 1960er-Jahre gesell- vertretender Vorsitzender der Glauben, einer fast zweitausend Jahre al- denden politischen Gestaltern der Zeit schaftlichen Aufbrüchen nur mit der Ab- CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ten Tradition. Aber zu „bewahren“ gab es von 1945 bis heute machten! wehr der mit ihnen verbundenen tatsäch- stellvertretender Vorsitzender der so gut wie nichts im zerbombten Berlin lichen und vermeintlichen Gefährdungen Konrad-Adenauer-Stiftung. oder im zerbombten Köln, wo sich die ers- begegnete. Zudem vermochte sie es mehr- ten Gründungskreise trafen. Nicht nur die AUFRUF ZUR SAMMLUNG heitlich zunächst nicht, Anschluss zu fin- Die CDU ist ein erfolgreiches Erneue- fast vollständige Zerstörung vieler Städte den an die internationale Entwicklung hin rungsprojekt – und das von Anfang an! und ganzer Landstriche, vor allem auch zu einer Entschärfung des Kalten Krieges. Der Mut und die Weitsicht der Frauen und der mehr und mehr für alle zutage treten- Zentral für diese Rolle war und ist die Fä- Die Abkehr von Teilen des Bürgertums Männer, die vor 75 Jahren den Weg zur de Zivilisationsbruch der Hitler-Barbarei higkeit der CDU, als Volkspartei Men- von der Union, der Koalitionswechsel der

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Freien Demokratischen Partei (FDP) und stemmte Helmut Kohl gleich zwei epo- eigenen Reihen – der Übernahme markt- nisierung nicht. Geht es nicht oft gerade- die Verklärung eines sozialliberalen „Mo- chale „Modernisierungsprojekte“. radikaler Ideen nach dem Vorbild Margret zu darum, dass das Bewahrenswerte nur dernisierungsprojekts“ waren ebenfalls Wer heute angesichts von Umbrüchen, Thatchers und Ronald Reagans verwei- durch die Bereitschaft zur Veränderung Folgen dieser Erstarrung. Identitätsängsten und Orientierungssuche gert. Was damals von Teilen der Wirt- auch tatsächlich bewahrt werden kann? ein „Zurück“ zu Konrad Adenauer oder schaft als mutlos erachtet wurde, verhin- Zwei Beispiele mögen das illustrieren. Helmut Kohl wünscht, der hat diese bei- derte eine Deindustrialisierung unseres ERFOLGSREZEPT den großen Staatsmänner nicht verstan- Landes, wie sie sich etwa in Großbritanni- EINER VOLKSPARTEI den. Ja, der fällt auf ein linkes Zerrbild ih- en entwickelt hatte – ein Sachverhalt, der MEHR DEBATTE, NEUGIER res Wirkens herein, das ihren Charakter heute Deutschlands wirtschaftliche Stär- UND SELBSTVERTRAUEN als Erneuerer leugnet. ke ausmacht. In der Oppositionszeit ab 1969 folgten Gerade Helmut Kohl wusste um die Für ein Gelingen der Balance zwi- wichtige Schritte der programmatischen Notwendigkeit der Verbindung von Grund- schen Bewahrung und Erneuerung be­ Erstens: Die CDU war immer die Partei an Weiterentwicklung, von der Mitbestim- sätzen und Antworten auf der Höhe der nötigt eine Volkspartei unterschiedliche der Seite der Familien. Hätten wir in den mung in Unternehmen über die Frauen- Zeit. Und um die Gefahr, den Anschluss Persönlichkeiten, Vereinigungen, Strö- letzten Jahren, ja inzwischen Jahrzehnten und Familienpolitik bis hin zu einer breit an gesellschaftliche Entwicklungen zu mungen, die sich eher als „Standbein“ oder nicht durch eine Weiterentwicklung unse- angelegten Debatte über ein erstes Grund- verlieren. Oft hat er die fehlende Bereit- als „Spielbein“ der Union verstehen. rer Familienpolitik veränderten Wünschen satzprogramm, das diesen Namen trug. schaft der CDU kritisiert, auf jene konser- Gerade die Jüngeren können als und Bedürfnissen von Familien Rech- Und die CDU wurde von der Honoratio- vativen Stimmen zu hören, die die Grenzen „Spielbein“ entscheidend dazu beitragen, nung getragen, wäre unsere vermeintliche renpartei zur Mitglieder- und Programm- des Wachstums betonten und umfassende dass wir nicht den Anschluss an gesell- Grundsatztreue von diesen Familien gera- partei. So wurden bereits wichtige Grund- Veränderungen zum Schutz des Blauen schaftliche Entwicklungen verlieren. Wie dezu gegenteilig erlebt worden – sie hätten lagen für die Ära Helmut Kohl gelegt. Planeten anmahnten. So hätten auch un- notwendig das ist, zeigte zuletzt die De- sich von uns im Stich gelassen gefühlt. Als Helmut Kohl schließlich 1982 sere Fehler zum Erfolg der Grünen bei­ batte um die Gewährleistung des Ur­ Gerade bei Fragen der persönlichen Le- Bundeskanzler wurde, war die CDU be- getragen. heber­rechtsschutzes im Internet, in der bensführung und angesichts der gewach- reits wesentlich anschlussfähiger an ge- Das Ringen um die richtige Balance weite Teile der jüngeren Generation in po- senen Zahl unterschiedlicher Lebensent- sellschaftliche Veränderungen geworden. zwischen dem Beharren auf Vertrautem litischen Entscheidungen geradezu einen würfe gestaltet sich die Debatte mitunter Helmut Kohl verband Festigkeit im Bünd- und dem Wagen neuer Wege kann – wenn Angriff auf ihre Kommunikations-, ja Le- heftig. So sahen manche im Bekenntnis nis – die Umsetzung des NATO-Doppel- der Blick für das Gemeinsame und wech- bensform sahen und in der ein wechsel­ der Union zu Krippenausbau und Ganz- beschlusses – und das Festhalten an der selseitiger Respekt dabei gelingen – gerade- seitiges Zuhören­ und Verstehen viel zu tagsschulangeboten geradezu eine Abkehr Deutschen Einheit mit dem fortgesetzten zu das Erfolgsrezept einer Volkspartei sein. selten gelang. von der Wertschätzung für einen Verzicht Bemühen um Entspannung und Aussöh- Auch mit Blick auf die achtzehnjähri- von Eltern auf Erwerbsarbeit zuguns- nung in ganz Europa – und wurde dafür ge Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela ten der Kindererziehung, wobei über­ von Teilen der Union heftig kritisiert. MARKENKERN UND Merkel an der Spitze der CDU Deutsch- sehen wurde, dass sich fast nur noch die Als die Friedliche Revolution in der MODERNISIERUNG lands geht es immer wieder um die Frage, Unionsparteien zum Ehegattensplitting DDR – als Teil einer Entwicklung in Mit- ob und wie die Verbindung vom Erhalt des als Grundlage echter Entscheidungsfrei- teleuropa – zum Fall der Mauer und der Markenkerns und von notwendiger Mo- heit bekennen. Linke Bevormundungs- Chance der Wiedervereinigung führte, Solches Ringen kann Zeit kosten. Es dau- dernisierung gelang. Untersuchungen le- träume, die in elterlicher Kindererziehung begriff Helmut Kohl das nicht als Gele- erte, bis die längst mehrheitlich akzeptier- gen dabei nahe, dass viele Mitglieder eher geradezu eine das Kindeswohl gefährden- genheit zur Wiederherstellung früherer te Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu viel Modernisierung befürchten, die de Kindesentziehung zulasten des Staates Verhältnisse. Mit der Gestaltung der deut- zur offiziellen Position der CDU wurde. meisten Wählerinnen und Wähler eher zu erblicken, machen dabei die Debatte nicht schen Einheit sowie der vor allem mit Andererseits verhinderten vorhandene wenig. leichter. Wir dagegen spielen unterschied- Frankreich vorangetriebenen Gründung ­Beharrungskräfte die schnelle Anpassung Dabei behagt mir schon der darin liche Lebensentwürfe nicht gegeneinan- der Europäischen Union und der Wei- an gewissen Moden. So hat sich Helmut zum Ausdruck kommende vermeintliche der aus. Und wir sollten nicht den Ein- chenstellung für die Einführung des Euro Kohl – gegen deutliche Kritik auch in den Gegensatz von Markenkern und Moder- druck erwecken, als litten wir unter deren

114 Die Politische Meinung 115 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Mit klarem Kompass ins Offene, Hermann Gröhe

Vielfalt. Vielfalt ist das Kind der Freiheit – Modernisierung. Dass beide – und viele die Freiheit in Verantwortung aber der andere – programmatische Weiterent- Kern des christlichen Menschenbildes. wicklungen eine intensivere Debatte in Zweitens: Die CDU war immer die unserer Union verdient, ja erfordert hät- Partei an der Seite der Bundeswehr. In ten, ist wohl wahr. Und es zeigt, dass die Zeiten des Kalten Krieges und der direk- die letzten Jahre in weiten Teilen prä­ ten Bedrohung der Bundesrepublik ge- gende Politik „im Krisenbewältigungs­ hörte dazu wie selbstverständlich die modus“ nicht ohne Folgen geblieben ist. ­Bejahung der Wehrpflicht – wesentlich Mehr Debatte, mehr Neugier und getragen vom Leitbild des „Bürgers in Selbstvertrauen sind gefragt. Der Ruf Uniform“ – und erst allmählich, schließ- nach dem Rückwärtsgang aber führt in lich selbstverständlich auch die Wert- die Irre! schätzung für den Zivildienst. Wer nun – Unsere Grundsätze sind und bleiben und natürlich lässt sich darüber trefflich ein tauglicher Kompass! Sie sind zu wert- streiten – angesichts völlig veränderter voll, um im Bücherregal zu verstauben. Bedrohungslagen und immer häufiger Sie wollen im Leben heutiger Menschen werdender Auslandseinsätze der Bundes- und kommender Generationen zur Entfal- wehr die Aussetzung der Wehrpflicht tung gebracht werden. Einen Kompass ­bejahte und bejaht, wollte gerade die Bun- braucht man nicht, wenn man im Hafen deswehr für diese veränderte Aufgaben- bleibt. Ein Kompass erfüllt seinen Zweck stellung stärken. Dass der damalige Ver- beim Aufbruch ins Offene! teidigungsminister dies allerdings maß- Gegen die Angstmacher, die Abschot- Hardcover mit Schutzumschlag, geblich mit Einsparmöglichkeiten be- tung und Abgrenzung das Wort reden 840 Seiten mit gründete, hat mich schon damals nicht und unsere Gesellschaft, ja unsere Welt zahlreichen farbigen Abbildungen, überzeugt. spalten, leitet christliche Demokraten die 30,00 € Beide Beispiele – die Familienpolitik Zuversicht, Zukunft verantwortlich ge- ISBN: 978-3-8275-0138-7 wie die Aussetzung der Wehrpflicht – sind stalten zu können und dass unsere Über- Erscheint im August 2020 bis heute den einen ein Beleg für den zeugung von der gleichen Würde aller ­Verrat an Grundsätzen, den anderen ein Menschen stärker ist! Die Erfolgsgeschich- ­Beleg für notwendige und gelungene te der CDU macht uns dabei Mut!

Die Christlich-Demokratische Union, nach der Kapitulation Deutschlands 1945 gegründet, hat als interkonfessionelle Volkspartei das deutsche Parteiengefüge grundlegend verändert. Sie ist zweifellos die erfolgreichste Partei in der bundesdeutschen Geschichte und stellte bis heute über fünfzig Jahre lang den deutschen Kanzler bzw. die Kanzlerin. Die Essays im vor- liegenden Sammelband widmen sich der Geschichte der CDU aus ganz verschiedenen, mitunter kontroversen Blickwinkeln und von divergierenden Standpunkten aus. Dabei geht es nicht nur um ihre historische Rolle in der deutschen Geschichte – ebenso werden ihre politisch- weltanschaulichen Fundamente beleuchtet, ihr Umgang mit der Vergangenheit infolge der doppelten Diktaturerfahrung durch die NS-Zeit und die SED-Herrschaft und nicht zuletzt ihr Beitrag zur Überwindung der deutschen Teilung und zur Integration Europas.

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CDU_hellblau_5.20.indd 1 13.05.2020 14:16:43 Würdigung

Verlebendigte Geschichte

Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2020 für Hans Pleschinski

Foto: © Jürgen Bauer

MICHAEL BRAUN Geboren 1964 in Simmerath, Sommer 1954: Thomas Mann ist in Düsseldorf, Leiter Literatur der Konrad- zu einer Lesung. Der fast achtzigjährige Nobel- Heimat ist für Hans Pleschinski ein ambivalenter Herkunftsraum. Die Lüne- Adenauer-Stiftung und außerplan- preisträger logiert mit Familie im besten Haus burger Heide, in der er am 23. Mai 1956 (in Celle) geboren wurde und auf- mäßiger Professor für Neuere am Ort, dem Breidenbacher Hof. Der unge- wuchs, beschreibt er als „öde Weite, Leere“ (Die Ostheide, das tolle Nichts, 2003), Deutsche Literatur und ihre Didaktik liebte Sohn Golo und die unverzichtbare Toch- in der es mehr Pferde als Bauern gab. Drei Kilometer von seinem Elternhaus an der Universität zu Köln. ter Erika streiten sich: „Ich will, Madame Ré- entfernt verlief die Zonengrenze, der „Todesstreifen zwischen der DDR und volution, glaubwürdige Eliten und die gewahrte der Bundesrepublik“, auf dem „die Todesschützen der Volksarmee auf Republik­ Form.“ – „Ich will die Menschenrechte, uneingeschränkt.“ – „Stil und Bildung flüchtlinge zielten“. Zugleich erlebte er früh historische Orte, Bieder­meier­ garantieren die wahre Freiheit.“ – „Gerechtigkeit und Frieden sind das Muß.“ kirchen, Klöster und das Celler Schloss. „Für mich“, schreibt er, „existiert die Bis die Mutter Katia dazwischenfährt und die „würdige Aufsicht“ in Ostheide als geistige Lebensform und als wünschenswertes Fundament.“ In Gestalt ihres Mannes herbeiruft. Die kleine Szene steht in Hans Pleschinskis seinem autobiographischen Buch Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Roman Königsallee (2013). Sie verlebendigt eine wahre Geschichte. Mann war Grenzland (1993) bekennt er, „am Westweltsaum der NATO […] eine glückliche 1954/55 in Deutschland, die Familienbande in des Wortes zweifacher Bedeu- Kindheit und beste frühe Jugend“ zugebracht zu haben. Sein 1921 östlich von tung gab es auch, die Dialoge aber sind theaterreif erfunden. Hans ­Pleschinski Frankfurt an der Oder geborener Vater übernahm nach dem Krieg im nieder- nimmt sich der Aufgabe an, die Geschichte Deutschlands und Mitteleuropas sächsischen Städtchen Wittingen die Schmiede der Eltern seiner Frau. zu revidieren, indem er ihre positiven Traditionen wachruft: das deutsche Von 1976 bis 1983 studierte Hans Pleschinski an der Ludwig-Maximi- und französische Barock, die Aufbaujahre nach 1945, die Zeit nach der Wieder­ lians-Universität München Germanistik, Romanistik und Theaterwissen- vereinigung. Das ist ihm bis 2019 in mehr als zwanzig Werken gelungen, in schaft. 1984 schloss er sein Studium mit einer Magisterarbeit über Gottfried Romanen, Erzählungen, Essays, Übersetzungen und Briefeditionen, die sich Benn ab. Neben der akademischen Ausbildung arbeitete er für Galerien, die auf biographisch-zeithistorische Spurensuche begeben. Oper und den Film.

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Hans Pleschinskis Entdeckungserlebnis war seine Flaubert-Lektüre um 1980. ­kommentiert. 1999 folgte eine Auswahl der Briefe der Madame de Pompa- Im Werk des französischen Klassikers fand er den „Kampf zwischen den Wis- dour, die der Übersetzer und Kommentator Pleschinski aus dem Schatten der sensschätzen, Glücksversprechungen einerseits und dem Menschen anderer- Mätresse Ludwigs XV. hervorholt und als Vorkämpferin einer verfeinerten seits, der nicht mehr für einen Gott und eine Ideologie zu leben vermag“, so Zivilisation in Szene setzt. Die Übersetzung und Kommentierung von großen heißt es in dem Essay Die goldenen Achtziger: meine Lektüren (1995). Teilen aus dem Geheimen Tagebuch des Herzogs von Croÿ, das im Erscheinungs- Mit gleich drei Büchern debütierte Hans Pleschinski 1984 im Litera- jahr 2011 sogleich auf vier Auflagen kam, verhilft zur Wiederentdeckung turbetrieb: Unter dem Titel Frühstückshörnchen erschienen zeitkritische Glos- eines erstaunlich modernen Europäers, der im Spätfeudalismus, am Vorabend sen und Satiren. Nach Ägypten, im Untertitel „Ein moderner Roman“, erzählt der Französischen Revolution, freimütig und kultiviert mit den „Monarchen, im Gestus eines Schelmenromans von einem jungen Ausreißer aus der nieder- Mätressen, Weltveränderern“ seiner Zeit verkehrt. 2012 wurde Hans Ple- sächsischen Provinz, der in den europäischen Kulturmetropolen klüger wird, schinski vom französischen Botschafter mit dem Orden Chevalier des Arts et aber nicht unbedingt klug. Beachtung in der Kritik fand vor allem der Roman des Lettres der Republik Frankreich ausgezeichnet. Gabi Lenz. Werden & Wollen, eine Parodie auf die Innerlichkeitsliteratur der Hans Pleschinskis Nähe zum Barockzeitalter, das uns heute so fern- 1980er-Jahre in Gestalt der Biographie einer fiktiven Sozialarbeiterin, die sich liegt, kommt am besten in seiner Erzählung Der Holzvulkan zum Ausdruck. mit verkorksten Beziehungsgeschichten ihren Weg zur Bestsellerautorin Das Buch erschien zuerst 1986 im Haffmans Verlag und wurde 1995 in bahnt. Das Buch war so geschickt als Dokumentarfiktion getarnt, dass einige Braunschweig sowie – in erweiterter Fassung – 2014 im C. H. Beck Verlag Leser gleich weitere Bücher der Autorin „Gabi Lenz“ bestellen wollten. nach­gedruckt. Es erzählt die unglaubliche, aber realhistorische Geschichte Für den Roman erhielt Pleschinski 1984 den Hungertuch-Preis, eine von einem „Staatsruinprojekt“: Herzog Anton Ulrich von Braunschweig- mit seinerzeit 1.000 D-Mark dotierte Auslobung des Frankfurter Kultur­dezer­ Wolfen­büttel (1633–1714) wollte aus seinem Kleinfürstentum ein Wunder- nats und des Schriftstellerverbands Hessen. Es war ein verheißungsvoller Start, land der Künste machen und ließ in Salzdahlum ein Schloss errichten, das Pleschinski wurde Autor des renommierten Verlags von Gerd Haffmans und allerdings, weil es an Geld fehlte, nur aus Holz gebaut werden konnte, vom ständiger Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk. Fundament bis zu den Giebeln, auf denen dann Steinstatuen thronten. Kein Wunder, dass das Gebäude alsbald verfiel, dass die imitierten Marmor- „LICHTER IM DUNKEL“: fliesen aufwellten und die Bretterwände verschimmelten; 1813 wurde das GESCHICHTEN AUS DEM BAROCKZEITALTER Schloss als Brennholz verkauft. Pleschinski erzählt die Geschichte von dem Schloss, das es nicht mehr gibt, als zeitlose Parabel der Vergänglichkeit und als Geschichtslektion vom Verfall der Utopien. Ein „einzigartiges Kapitel Schon während des Studiums zog es Hans Pleschinski mehr zu den vernach- aus dem Prozess der Zivilisation“, schreibt Gustav Seibt in seinem Nachwort lässigten Vorklassikern der Literatur als zu ihren Kanonheiligen. Ihn rührte zur Neuausgabe. die Sprachkraft barocker Dichtungen und Memoiren an, die „nach dem so be- deutsamen Prinzip der Fallhöhe von Menschenruhm und Schicksal“ erzählen. EUROPÄISCHE ENSEMBLEROMANE Pleschinskis Band Byzantiner und andere Falschmünzer, 1997 im Schöffling Verlag erschienen, versammelt seine überarbeiteten Rundfunkessays, unter anderem über Pierre Corneille, Voltaire, Daniel Casper von Lohenstein, Neben den historischen Romanen und Editionen aus dem Zeitalter der Auf- Ewald Christian von Kleist. Sie werfen „Lichter im Dunkel“ (so der Untertitel klärer ist der europäische Ensembleroman ein zweiter Schwerpunkt des des Bandes) der deutsch-französischen Kulturgeschichte. Im Schlussessay Schreibens von Hans Pleschinski. Verbunden sind diese Pole durch die euro- wird André Gide, der 1947 für seinen Roman Die Falschmünzer den Literatur- päische Geschichte. In den Ensembleromanen bildet der Autor Konstellatio- nobelpreis erhielt, als Vorläufer eines postmodernen Erzählens gewürdigt, nen von Figuren, die durch eine besondere Idee oder eine spezielle historische das stets seine „Offenheit mitschildern“ kann. Situation miteinander verbunden sind. Mit drei Editionen erinnert Hans Pleschinski an historische Figuren, Der Roman Brabant (1995) erzählt von einer vielfältigen Kultur­gemein­ die ihre Zeit, das 18. Jahrhundert, durch Briefe und Tagebücher profiliert schaft, die sich auf einem alten flämischen Hotelschiff nach Amerika auf- haben. Für Aus dem Briefwechsel Voltaire – Friedrich der Große (1992) hat Ple- macht, um dort gegen den Aufbau eines Disney-Parks in Rom zu protestieren. schinski fast ein Drittel der gesamten Korrespondenz neu aus dem Franzö­ Hinter dieser Fiktion steckt kein antiamerikanischer Impuls, wohl aber der sischen ins Deutsche übersetzt und mit seinen eigenen Zwischentexten Auftrag, nach den Wurzeln und Werten zu suchen, die den europäischen

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Natio­nen, die allesamt ihre Abgesandten auf dem Schiff haben, gemeinsam sind. Natürlich geht das nicht ohne Kontroversen ab. Fast alle Europa-Diskurse haben hier ihre Sprecher, der postkolonialistische wie der späthumanistische Diskurs ebenso wie der etatistische, der ethische und der ästhetische. Das Ensemble im Roman Ludwigshöhe (2008) ist eine Gruppe Lebens- müder, die mit dem anbrechenden Frühling ihre Todessehnsucht und Suizid­ absichten in schlichte Lebenslust umzuwandeln vermögen – ein umgekehrter Tod in Venedig. Die Romane Königsallee (2013) und Wiesenstein (2018) erzählen aus den letzten Lebensjahren der Nobelpreisträger Thomas Mann und Gerhart Haupt- mann. Beide sind durch die – im Grunde barocke – Frage nach Ruhm und Menschenvergänglichkeit verbunden, rivalisieren aber um die Rolle des ­Stellvertreters Goethes, um die Gewissensstimme der Nation. Thomas Mann erkannte Hauptmann als „König“ der Weimarer Republik an, wurde aber, weil dieser nach 1933 in Deutschland blieb, zum „Kaiser der Emigration“ (Hermann Kurzke). Pleschinski hält sich an die überlieferten Tatsachen aus den Biographien, er lässt Thomas Mann Lift fahren und Presseinterviews ge- Eine ben und Hauptmann 1945/46 mit Frau, Gärtner, Archivar, Masseur in sei­- ner Villa „Wiesenstein“ im Riesengebirge residieren. Angereichert wird die Recherche um bislang unveröffentlichte Tagebuchnotizen (von Gerhart und Sonntagspredigt Margarete Hauptmann), eigene Kommentare und erfundene Begegnungen, zum Beispiel von Thomas Mann mit seiner Jugendliebe Klaus Heuser. Hans Pleschinski erzählt die dramatischen Um- und Aufbrüche im Spiegel zweier Kulturpessimismus ist keine Antwort auf den Rechtspopulismus großer Autoren, in deren Leben sich wiederum diese Umbrüche deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert dokumentieren. Derzeit arbeitet Pleschinski an einem dritten Nobelpreisträger-Roman, über Paul Heyse, aus dem er bei der Autorenwerkstatt der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia im Okto- ber 2019 eine Arbeitsprobe vorstellte. TOM MANNEWITZ Geboren 1987 in Wurzen, Junior­ gebers und Chefredakteurs von The Euro- professur Politikwissenschaftliche WERTE IM WERK pean: „Dieses Buch möchte nichts weniger Forschungsmethoden, Technische als das: die gegenwärtige Krise der Demo- Universität Chemnitz. kratie und der liberalen Ordnung interpre­ Hans Pleschinski ist ein wertebewusster Autor. Gegen die Zumutungen, die tieren und sagen, wie man sie löst“ (S. 18). die Geschichte dem Menschen aufbürdet, setzt er die Verbindung von Verant- Alexander Görlach: Homo Empathicus. Der promovierte Linguist und Theologe wortungsbewusstsein und Schönheitsgefühl. Aus seiner Kindheitserfahrung Von Sündenböcken, Populisten und der Görlach weckt damit große Erwartungen. an der deutsch-deutschen Zonengrenze weiß er, was die Freiheit wert ist und Rettung der Demokratie, Herder Verlag, Sein Anspruch hebt ihn von den vielen be- dass eine Demokratie wehrhaft sein muss. Er tritt ein für einen „ganz tradi­tio­ Freiburg/Basel/Wien 2019, 192 Seiten, langlosen Diagnosen unserer populisti- nellen Humanismus, gemischt aus Freiheit, Bildung und vielleicht auch 18,00 Euro. schen Zeit hervor, die bereits beim Über- Formgefühl“, so schreibt er im Vorwort zu dem Band Byzantiner. In dem Sam- queren der Startlinie scheitern, weil ihnen melband konservativ?! (2019) gibt er, neben Beiträgen von Monika Grütters, Selten liegt bei einer politischen Streit- so ziemlich alles fehlt, was ein Sachbuch Wolfgang Schäuble und Uwe Tellkamp, ein staatsbürgerliches Votum ab: schrift so viel Abstand zwischen Anspruch lesenswert machen könnte: analytische Wie sein Vater, so schreibt er, baue er „auf einen gerechten Staat, auf eine und Wirklichkeit wie bei der von Alexan- Ambition, eine originelle These, kon­ humane Gesetzgebung [und] eine entspannte, aber zuverlässige Ordnung“. der Görlach. Das Ziel des früheren He­raus­ struk­ti­ver Einfallsreichtum.

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Zugleich: Görlachs Versprechen ließe sich, „Gottesgeschenk“ bezeichnet – wäre ohne einfallen können. Der Tenor lautet, dass kleiden.“ Zu Deutsch: Rechtsstaaten schüt- wenn überhaupt, auf 192 Seiten wohl nur Vorgeschichte als finanzpolitisch ausge- wir endlich wieder mehr Anstand in der zen Menschenrechte. Ja, was denn sonst? durch einen Parforceritt – einige eilige wiesene „Alternative“ zur Merkel’schen Gesellschaft brauchen. So heißt es: „Die Der Schutz der Menschenrechte ist es, der Skizzen, die eine oder andere gewagte Be- Krisenpolitik wohl schon recht früh am Krise, die wir derzeit erleben, ist eine mo- Rechtsstaaten auszeichnet. hauptung und Mut zur Lücke – ein­lösen. „Nie wieder“ der bundesdeutschen Öf- ralische Krise und kann am Ende nur Zwischen Diagnose und Therapie – Leider vergeudet der Autor die Seiten mit fentlichkeit zerschellt – ähnlich wie die durch eine Rückbesinnung auf die Moral beide bilden nicht etwa Anfang und einer unstimmigen Diagnose, fragwür­ Partei der Republikaner, die Deutsche und die damit verbundenen Wertesystem Schluss, sondern durchziehen das Buch – digen ideengeschichtlichen wie theologi- Volksunion (DVU) oder die Nationaldemo­ [sic!] gelöst werden“ (S. 104). mäandert die Streitschrift ziellos durch schen Exkursen und einem Appell. Und kratische Partei Deutschlands (NPD). Bescheidenheit und Gemeinsinn sol- die Ideen- und Kirchengeschichte. Selbst so dürfte enttäuscht das Buch dem Regal len Wirtschaft, Gesellschaft und Demo- mit einer Inhaltsangabe einzelner Kapitel überantworten, wen die ersten Seiten neu- kratie also kitten. Ein solcher Appell wirkt tut sich der Rezensent schwer, weil das gierig gemacht haben. PASTORALER DUKTUS rat- und einfallslos, der Duktus pastoral. Buch vom Hölzchen aufs Stöckchen Görlachs Band dürfte mittlerweile der Einige weitere Kostproben: „Das System kommt. Aufgeboten wird dabei, was das hundertste sein, der für das Erstarken des der Wirtschaft oder der Finanzwelt, das Bücherregal des konservativen Bildungs- Rechtspopulismus den „Konsumkapitalis- Der AfD war also beides nützlich: Die kann man ‚fixen‘; ein unehrlicher oder bürgertums an Autoritäten hergibt: Tho- mus“ (S. 31) in Haftung nimmt: „Die Art Gründungsgeschichte ebnete ihr den Weg unredlicher Mensch hingegen muss zur mas von Aquin, Ralf Dahrendorf, John und Weise, wie Migration in den Mittel- ins Parteiensystem – und macht es schwer, Einsicht gelangen, bereuen und büßen“ Rawls, Erasmus von Rotterdam und – punkt der Betrachtung gerückt ist, zeigt, das Enfant terrible nun loszuwerden: Wie (S. 28). „Die Frage, was das allgemeine natürlich – die Bibel. Ist das nötig? Ver­ dass es nicht um Migration per se geht, macht man jemanden „salonunfähig“? Wohl bestimmt, kann nur dann beant- treter der Postwachstumsökonomie – Niko sondern um die Bewältigung von ökono- Und wäre wiederum die „Flüchtlings­ wortet werden, wenn genügend Empathie Paech und Hartmut Rosa etwa – hätten mischen Zuständen und Bedingungen, krise“ ausgeblieben, hätte die AfD wohl aller vorhanden ist, um sich in die Le­ sicherlich mehr zur Reform des Kapitalis- von Ungleichheiten, die sich direkt zu- dasselbe Schicksal ereilt wie Bernd Luckes benswelt der Mitmenschen einzufühlen“ mus zu sagen.­ rückführen lassen darauf, wie die Verant- „Liberal-Konservative Reformer“. Gör- (S. 127). „Wichtig ist in diesem Zusam- Wir beobachten, wie der Rechtspopu- wortlichen mit der Finanzkrise im Jahr lach steht mit seiner Beobachtung, der Er- menhang, darauf hinzuweisen, dass ein lismus sich momentan zu einer Gefahr für 2008 umgegangen sind“ (S. 47). Doch folg der AfD stehe in direktem Zusammen- wahrhaft menschlicher Gesellschaftsver- die Demokratie ausweitet – weil er das stimmt diese These? Ihr liegt unaus­ hang mit den ökonomischen Ungereimt- trag, der von einem empathischen Nar­ Vertrauen in ihre Institutionen untergräbt, gesprochen folgende kontrafaktische An- heiten in der Gesellschaft, zwar nicht al- rativ getragen ist, nicht alles unter dem weil er die Grenze zum Rechtsextremis- nahme zugrunde: Die Alternative für lein da, sie greift jedoch zu kurz. Es ist, ­Gesichtspunkt des Marktes betrachten mus überschreitet. Da ist guter Rat teuer. Deutschland (AfD) hätte im Zuge der wie Philip Manow unlängst in der Politi- kann“ (S. 185). Aber moralinsaurer Kulturpessimismus „Flüchtlingskrise“ 2015 und der Folge- schen Ökonomie des Populismus gezeigt hat, hilft nicht weiter. Insofern überrascht der jahre ohne die vorherige Wirtschafts-, vielmehr die Ökonomisierung des Migra- Band von Alexander Görlach, dem man ­Finanz- und Bankenkrise keinen so atem- tionsthemas, die (vor allem Rechts-)Popu- MORALINSAURER angesichts seines langjährigen Engage- beraubenden Marsch durch die Parlamen- listen in die Hände spielt. Genauer gesagt: KULTURPESSIMISMUS ments beim European eine streitlustigere te hingelegt. Das stimmt zwar, aber nicht Die Immigra­tion von Flüchtlingen hat Streitschrift zugetraut hätte. Sollte die in der Form, wie Görlach – mittlerweile den Verteilungskampf im Wohlfahrts- Zukunft der offenen Gesellschaft von un- Politikberater und Gastwissenschaftler staat, vor allem aus Sicht der Industrie­ Manchmal verleiht dieser Stil dem Buch serer Bereitschaft und Fähigkeit abhän- vieler US-amerikanischer Forschungsein- arbeiter, verschärft. Das gilt im Übrigen etwas unfreiwillig Komisches. So ist auf gen, zu „bereuen und büßen“, mache bitte richtungen – meint: Die AfD hat die Krise nicht nur für Deutschland, sondern etwa Seite 175 zu lesen: „Die Berufung auf die der Letzte das Licht aus. von 2008 benötigt, um als eurokritische auch für Skandinavien. Menschenrechte, der zentrierte Blick auf Professorenpartei Satisfaktionsfähigkeit Der Lösungsvorschlag des Autors hätte das Humanum, findet seine konkrete zu erlangen. Ihre anschließende rechts­ auch einem – pardon: viele Bürgermeister Form in Rechtsstaaten, die diese Men- populistische Wende im Zuge der Flücht- und Gemeinderäte leisten gute Arbeit – schenrechte nicht nur feststellen und er- lingskrise – von Alexander Gauland als Lokalpolitiker am Sonntagsstammtisch kennen, sondern in verbindliche Gestalt

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Die nächste Ausgabe erscheint im August 2020 zum Thema Mit Blick auf die aktuelle Situation und bedeutendsten deutschen Fotografinnen zur Unterstützung der Bemühungen, die unserer Zeit mit einer Hommage. Laudator Verbreitung des Coronavirus einzudäm- war der Architekt Matthias Sauerbruch. Corona men, hat die Konrad-Adenauer-Stiftung Höfers Werk, das sich zwischen umfassen- Mitte März 2020 beschlossen, sämtliche der Perspektive und asketischer Reduk- öffentlichen Präsenzveranstaltungen bis auf tion, zwischen historischem und politi- Weiteres abzusagen. Nach Möglichkeit schem Blick bewegt, spart den Menschen Erste Einsichten und Erfahrungen werden Veranstaltungen digital ange­ in der unmittelbaren Abbildung meist aus, boten. Die Stiftung hat zum Schutz ihrer um ihn jedoch in dieser Abwesenheit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie umso auffälliger in den Fokus zu rücken. der Bürgerinnen und Bürger verstärkt auf Mit Beiträgen unter anderen von Susanne Breit-Keßler, Anna M. Horatschek, mobiles Arbeiten umgestellt. PERSONALIA Nikolaus Knoepffler, Jutta Rump und Eberhard Schockenhoff.

VERANSTALTUNGEN Ende März 2020 wurde die Kommunika- tionsarbeit der Stiftung strukturell re- Im März 1960 trafen sich Konrad Ade- formiert. Die Arbeitsbereiche Marketing nauer und David Ben Gurion zum ersten und Publikationen wurden in die Arbeits- IMPRESSUM Mal im New Yorker Hotel Waldorf Astoria. einheit Strategie und Planung integriert Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang, ISSN 0032-3446 Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums und bilden zusammen mit dem Medien- der Begegnung wurde das Foto dieses zentrum und dem Vorstandsbüro einen DIE POLITISCHE MEINUNG Verlag und Anzeigenverwaltung Druck- und Verlagshaus Fromm GmbH & Co. KG geschichtsträchtigen Moments der neuen, bei der Geschäftsleitung an­ Postfach 19 48, 49009 Osnabrück deutsch-israelischen Beziehungen am 3. März gesiedelten Leitungsstab. Die Leitung Telefonnummer: (05 41) 31 03 81 [email protected] 2020 im Waldorf Astoria in Berlin aus- übernahm Michael Rimmel. Das Event­ gestellt und die Bedeutung des Zusammen- management und das Zielgruppen- Herausgegeben für die Herstellung Konrad-Adenauer-Stiftung von Druck- und Verlagshaus Fromm GmbH & Co. KG treffens durch den Stiftungsvorsitzenden management bilden nun einen eigenen und Bernhard Vogel Breiter Gang 10 – 16, 49074 Osnabrück Norbert Lammert gewürdigt. Zudem Bereich im Dienstleistungszentrum unter Konzeption und Gestaltung wurde die Doppelbiographie von Michael Leitung von Rolf Halfmann. Die Interne Begründet 1956 von Otto Lenz und Erich Peter Neumann Stan Hema GmbH Borchard über „Eine unmögliche Freund- Kommunikation wurde dem Bereich Agentur für Markenentwicklung, Berlin www.stanhema.com schaft“ der Staatsmänner vorgestellt. Personal zugeordnet. Redaktion Bernd Löhmann (Chefredakteur) Bezugsbedingungen Am 10. März 2020 stellte die Experten- Arne Wulff übernahm im März 2020 das Ralf Thomas Baus (Redakteur) Die Politische Meinung erscheint sechsmal im Jahr. Cornelia Wurm (Redaktionsassistentin) Der Bezugspreis für sechs Hefte beträgt 50,00 € gruppe Bildung der Konrad-Adenauer- neue Länderprojekt Äthiopien. Seit April zzgl. Porto. Einzelheft 9,00 €. Schüler und ­Studenten Stiftung ihre Zehn Thesen für eine bessere 2020 leitet Stefanie Rothenberger das Geschäftsführung erhalten einen Sonderrabatt ( 25 Prozent). Die Bezugs- Konstantin Otto dauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, sofern Bildungspolitik vor. Nach einer Einführung anglophone regionale Rechtsstaatspro- das Abonnement nicht bis zum 15. November eines durch Norbert Lammert diskutierte gramm Subsahara-Afrika mit Sitz in Kenia; Anschrift Jahres schriftlich abbestellt wird. Bestellungen Rathausallee 12, 53757 Sankt Augustin über den Verlag oder durch den Buchhandel. , Bundesministerin für Canan Atilgan übernahm die Leitung Klingelhöferstraße 23, 10785 Berlin Bildung und Forschung, die Vorschläge Nahost/Nordafrika in der Zentrale. Telefonnummer: (0 22 41 ) 2 46 25 92 Das Copyright für die Beiträge liegt bei der Poli­ tischen Meinung. Nicht in allen Fällen konnten mit Experten. [email protected] Ab Mai 2020 ist Anna Reismann zu­ [email protected] die Inhaber der Bildrechte ermittelt werden. Noch www.politische-meinung.de bestehende Ansprüche werden ggf. nachträglich Die Konrad-Adenauer-Stiftung ehrte am ständig für das Länderprojekt Uganda/ abgegolten. Die Zeitschrift wird mitfinanziert durch Zuwendungen der Bundesrepublik Deutschland. 11. März 2020 Candida Höfer als eine der Südsudan mit Sitz in Kampala. Redaktionsbeirat Stefan Friedrich, Ulrike Hospes, Matthias Oppermann, Matthias Schäfer

126 Die Politische Meinung 127 Nr. 562, Mai/Juni 2020, 65. Jahrgang Fundstück

tRaURIGE GRÖSSE

Giganten sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Unverstanden fühlt sich dieser zusammen- gekauerte, jungenhafte Riese. Schmollend scheint er zu fragen: „Warum findet ihr mich nicht mehr groß?“

Die fast fünf Meter hohe Skulptur des in Australien geborenen Künstlers Ron Mueck setzt sich ab von früheren Kolossalstatuen, die den „Großen“ dieser Welt monumentale Gestalt gaben.

Die sogenannte postheroische Persönlichkeit von heute blickt, Gott sei Dank, nicht mehr ehrfurchts- voll nach oben. Eher neigt sie auch dazu, Autoritäten und Institutionen zu zerbröseln – von innen wie von außen her.

Untitled (boy), by Ron Mueck (1998), ARoS Aarhus Kunstmuseum, Dänemark. Foto: © Jonas Voss, via flickr.com

128 Die Politische Meinung Die Politische Meinung Respekt! Wertschätzung als gesellschaftlicher Faktor nr. 562, Mai/Juni 2020