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€ 2,10 22. November 2014 · 179. Jahrgang · Heft 19 A 4342 LÜ B E C K I S C H E B L Ä T T E R

 Wende-Trabi aus Lübeck 321

 Die Jahre 1987 – 1997 323

 Meldungen 324

 Aus der Gemeinnützigen 325

 Mauerfall vor 25 Jahren 326

 Unfallzahlen am Lindenplatz 328

 Vernetzte Öffentlichkeit 329

 Chronik Oktober 330

 „Domus Arte“ – Ausstellung der Kunstschule 331

 Bene Merenti Ehrendenkmünze für Christian Dräger 332

 Kritiken: Theater, Literatur, Musik 337

 Hans Blumenberg 340

ZEITSCHRIFT DER GESELLSCHAFT ZUR BEFÖRDERUNG GEMEINNÜTZIGER TÄTIGKEIT

#7351_US HL-Blätter 19-14.indd 1 18.11.14 13:29 L Ü B E C K I S C H E B L Ä T T E R

22. November 2014 · Heft 19 · 179. Jahrgang · Zeitschrift der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit Wende-Trabi aus Lübeck – Fragen wir mal nach! Roswitha Siewert

Wer kennt ihn nicht? Trotzdem noch duzierten die Verbraucher des Zwergs er liegt solange zurück, eine neue Gene- einmal, diesmal von hieraus: Der unter den Autoriesen, ob nun dafür oder ration ist am Wirken, das Verhältnis von ist von 1964 bis 1990 in der DDR pro- dagegen. Eine kleine, aber vielbeachtete erinnern, vergessen, gedenken, überhaupt duziert worden. Seine Geburtsstadt war Persönlichkeit des Alltags war er immer. denken, bedenken, feiern, sich freuen geht Zwickau. Sein Kosename ist Trabi, auch Kann ein „Sonntagsgruß von Haus zu neue Beziehungen ein. Eine kleine Zeich- Trabbi. Aus dem KULTFAHRZEUG der Haus“ auf einer Postkarte, die als „Bild“ nung im Postkartenformat, 11 cm hoch DDR wurde ein SYMBOL DER WIEDER- einen Trabi darstellt, einen Gedenktag, und 15 cm breit, entsteht in historischer VEREINIGUNG DEUTSCHLANDS, wie den Fall der Mauer vom 9. Novem- Situation und nach 25 Jahren macht sie dies vorwie- Geschichte mit, gend von 1989 ist Geschichte bis 1990. Gren- und verbindet zenlos erschien das Geschehen damals sein in Lübeck St. Beliebtheits- Jürgen mit der grad. Heute ist ganzen Welt. er noch Samm- Das Regiona- lerobjekt im le nimmt den Spielzeugfor- Schwung des mat bis zum be- Globalen auf nutzten Lieb- und wirft es haber-Auto. der Welt als Man trifft ihn Sonntagsgruß auch in Wen- von Haus zu de- bzw. DDR Haus zurück. Museen von Die Postkar- bis Hol- te hat einen lywood. Dort Text: Es ist ein steht er neben historischer, Sandmänn- in Klammern chen, Bohnen- (kein hysteri- kaffeeverpac- scher), Sonn- kung „kosta tagsgruß von kaffee“ und Ingrid M. Schmeck, „1 Trabi vor unserem Haus 16. Nov. 1989“, Zeichnung und Aquarell Haus zu Haus. den übrigen Die Tatsache kommunikativen Vertrautheiten des DDR ber 1989, neu sichten und aktivieren? Ist oder Geschichte, die beschrieben wird, Designs. Ist es nur „Ostalgie“, die sich an es nur Nostalgie von beiden Seiten, die ist, dass eine Frau aus dem Trabi aus- die Karawanen der Trabis erinnert, an die dem humorvollen Kleinwüchsigen diese stieg und Ingrid Schmeck dachte: „Jetzt knatternden Zweitaktmotore, an die dralle verbindende Power gibt? Fragen wir mal kriegen wir Besuch aus dem Osten, aber plastische Karosserie in soften Farben, oft nach. nein!“ Der zweite Teil des Postkarten- mit einer rauchenden Abgasfahne, stin- Am 16. November 1989 zeichnet IN- textes berichtet, was man so an diesem kend umnebelt: „Hier ist was los!“ signa- GRID M. SCHMECK von ihrem Fenster besonderen Tag unternehmen konnte: lisierend, sodass er entsprechende Flüche aus einen Trabi vor ihrem Haus. Das ist „Haben bisher rote Herzen verschenkt, einstecken musste? Tausende Witze pro- nun 25 Jahre her, auch der Fall der Mau- viel gestaunt, viel gedacht, viel geredet

Gedenkstein zur deutschen Teilung. Lesen Sie den Beitrag zum Bürgerfest in Schlutup am 9. November auf Seite 326. (Foto: Hagen Scheffler)

Lübeckische Blätter 2014/19 321 Der Wende-Trabi – unser Wegbegleiter, unser Gefährte

-- und gearbeitet.“ Zum Schluss nach ei- teren Sitzbank sichtbar; leicht hellgrau Sie haben die Karosserien bemalt und ner Trennlinie „das wärs − bis bald: wir und etwas rot aquarelliert und mit klaren BMWs z.B. in rollende Kunstwerke ver- 3“. Der Text ist mit einem fetten weichen Lineaturen proportioniert. Eine überzeu- wandelt. Allen gemein ist eine gerade- Bleistift geschrieben, nur das Wort „hi- gende Persönlichkeit von Auto, das sich zu religiöse Begeisterung und lustvolle storischer“ und die „3“ in Rot, dazu ist auf dem kleinen Postkartenblatt plastisch Annäherung an das Auto. Bekannt auch der Sonntagsgruß von Haus zu Haus mit darstellt, die ganze Fläche einnimmt und die erotische Geneigtheit an den schnit- einem roten Farbstift unterstrichen. als künstlerischer Trabi auf sympathi- tigen Sportwagen, an die hochpolierten Nun zur Zeichnung: Wir blicken von sche Weise die Augen verführt. Einzelteile von Chrom und aufpoliertem oben herab, aus dem Fenster des ersten Der Kleinwagen PKW TRABANT Blech in überdeutlicher Sexualisierung. Stockwerks auf das Auto. Es parkt offen- 601: Fahren kann er auch, nur nicht als So das allgemeine Bild vom Auto und sichtlich am Straßenrand neben dem Bür- Zeichnung, sondern als Gebrauchsge- auch in der Kunst vom Auto. gersteig. Es ist eindeutig ein : genstand PKW-Kleinwagen, als tatsäch- Eine Wende dagegen der friedliche, die kompakte, gemütliche Kleinform, aus licher Trabi. Spannend und fast zum gemütliche Trabi: kein Rausch der Ge- Verdeck, ausbuchtender vorderer Motor- philosophischem Nachdenken geeignet: schwindigkeit, dagegen etwas altmo- hülle und dem kantigen Kofferraum, die Die erscheinende Karosserie ist aus einer disch und nett. Im Internet überwiegt das Längsseite des zweitürigen Wagens zeigt Kunststoffhülle. Sie besteht aus Phenol- Angebot der Einzelteile des Trabis, das sich in seiner ganzen imposanten Breit- harz und Baumwolle. Sie kann nicht ro- wie ein überlebensgroßer Kosmos noch seite, die zum Ende hin spitz und schmal sten, dafür gab es Recycling-Probleme. von ihm auf dem Monitor aufblitzt. Ab aufflügelt, das rote Rücklicht ist dort mit Ohne jetzt den Bau des Wagens ganz und zu ist zu lesen, dass ein aufgeputz- Farbstift markiert. Wie weit diese Flügel nachzuvollziehen ist aber zu bemerken, ter Trabi mit großer Geschenkschleife doch mehr Heckflossen ähneln, müssten dass, wie bei einer Plastik, hier nun die rings ums kleine Auto zum Geburtstag Biologen bzw. Aquakundler klären. Die Trabi-Auto-Form sich als selbsttragen- für einen Liebhaber vor der Tür steht. Karosserie ist trotz der flächigen Kan- des Fahrgestell aus Stahlblech, darüber Der WENDE-TRABI von Ingrid M. tigkeit rund und knackig. Schon von dann die äußere „Beplankung“ aus dem Schmeck, 1989 gezeichnet, hat all diesen außen weist auch in der Zeichnung die mit Baumwolle verstärktem Phenoplast farbigen Aufputz und die Kleinteiligkeit Raumaufteilung auf Großzügigkeit in bildet. Es gibt in Zwickau ein Trabi- nicht nötig. Er kommt mit seiner kom- der Enge des Innenraums. Die Autofarbe Denkmal, mehrere Filme haben ihn zum pakten ausgewogenen Form in die Bild- zeigt ein helles Beige-gelb und ist aqua- Inhalt, wie z.B. „“. Geliebt fläche und verbindet das geschichtliche relliert. Die Umrisse sind wiederum mit und gehasst, verachtet und nicht verges- Geschehen von damals mit dem Heute dem grauen Farbstift in formsicherem sen, heißt es immer wieder, denn in die- auf selbstverständliche Weise: unser Strich gezeichnet. Die Autoklinke ist sem Jahr 2014 sind auch 50 Jahre Tra- Wegbegleiter, unser Gefährte. Er wird für den Handgriff, zum Öffnen, bereit. bant 601 zu feiern. zur magischen Mitte und menschlichen Die Reifen sind prall, dunkelgrau bis KUNST UND AUTO ist ein Thema Verbindung zweier Gesellschaftssyste- schwarz und ruhen auf dem Straßenpfla- der Kunst. Warhol, Penck, Lichtenstein, me, über alle geografischen, staatlichen, ster. Durch die Scheiben wird das Innere Calder, Koons und viele andere haben nationalen, religiösen, soziokulturellen mit beiden Vordersitzen und einer hin- sich speziell in Kunst am Auto versucht. Grenzen hinweg zu einer Einheit.

Nachtrag zum Beitrag „Beltquerungskomplex“ Der Lübecker Stadtdiskurs im Heft 18, Seite 301 Mi, 3. Dezember, 19 Uhr, Kolosseum, Kronsforder Allee 25, Ein- tritt frei Anfang Oktober 2014 haben Schleswig-Holsteins Verkehrs- Architektur, Frauen und das Besonde-re der Stadt minister Reinhard Meyer und der Vorstandsvorsitzende der DB PD Dr. Silke Steets, TU Darmstadt Netz AG, Frank Sennhenn, eine Absichtserklärung unterschrie- Beobachtet man, mit welcher Leidenschaft und mit welch großer ben, dass die aus dem Raumordnungsverfahren hervorgegangene medialer Aufmerksamkeit in manchen Städten die Auseinander- Trassenvariante von der DB als „Vorzugstrasse“ in die Planung setzung um den Neubau, die Umgestaltung oder die Rekonstruk- aufgenommen wird. Vorzugstrasse bedeutet: Neubau einer elek- tion innerstädtischer Bauensembles geführt wird, dann drängt trifizierten, zweigleisigen Trasse, die zugleich eine möglichst sich die Vermutung auf, dass dabei weit mehr auf dem Spiel steht weiträumige Umfahrung der Ostseebäder Timmendorfer Strand, als die Platzierung von Gebäuden an bestimmten, wenn auch pro- Scharbeutz, Sierksdorf, Haffkrug und Großenbrode sowie der minenten Stellen der Stadt. Orte Ratekau und Lensahn unter der Bedingung vorsieht, dass „Gebäude reden“, so schreibt der in London lebende Philosoph auch der Schienen-Personennahverkehr zwischen Lübeck und Alain de Botton (2008) in seinem Buch Glück und Architektur, Puttgarden auf dieser Strecke erfolgt und die bisherige „Be sie reden „von Demokratie und Aristokratie, von Offenheit und standstrasse“ durch die Ostseebäder stillgelegt wird. Arroganz, von Bedrohung und freundlichem Willkommen, von Entscheidend bleibt: Die DB prüft zunächst die Vorzugst- Sympathie für die Zukunft oder Sehnsucht nach dem Vergange- rasse auf ihre Realisier- und Finanzierbarkeit. Projektleiter der nen“. Aus soziologischer Perspektive lässt sich die gebaute Um- DB, Bernd Homfeldt, rechnet mit einer dreijährigen Ausarbei- welt als Ausdruck und Verkörperung sozialen Sinns begreifen. tungszeit für die Entwürfe für den endgültigen Trassenverlauf Ihre gesellschaftliche Bedeutung ergibt sich durch das Zusam- bis Ende 2017. Erst danach könne das notwendige Planfeststel- menspiel von drei miteinander verbundenen Aspekten: lungsverfahren beginnen, das in sieben Abschnitten erfolgen soll. 1. Gebäude sind stets symbolisch, das heißt, sie sind Sinnbilder Nach Einschätzung der SPD-Bundestagsabgeordneten Bettina für Lebensweisen, Machtansprüche, Geschlechterverhältnisse Hagedorn werde der letzte Planfeststellungs-Beschluss nicht vor und Selbstverständnisse; 2. Gebäude werden stets körperlich er- 2018/19 erfolgen. Hagen Scheffler fahren; 3. Gebäude sind immer an Orte und Kontexte gebunden.

322 Lübeckische Blätter 2014/19 225 Jahre Gemeinnützige Gesellschaft

Aus der Geschichte der Gemeinnützigen. Die Jahre 1987-1997 Auch jenseits von 1989 wird in Lübeck Geschichte geschrieben! Uwe Barschel. Weltkulturerbe. 200 Jahre Gemeinnützige

Wenn man den Zeitraum zwischen tri mit seinen vielfältigen Angeboten aus gende Jahrestage und aktuelle Ereignisse 1987 und 1997 betrachtet, kommt man dem kulturellen Stadtleben nicht mehr angeht. Es werden 200 Jahre französische um ein entscheidendes, ja alles überstrah- wegzudenken. Revolution gefeiert, aber auch 200 Jahre lendes Jahr nicht herum, das Jahr 1989. In den Randjahren des Zeitraums ge- „Gesellschaft zur Beförderung gemein- Was in diesem Jahr aktuell geschah oder schieht innerhalb der Gemeinnützigen nütziger Tätigkeit“. Dass beide Ereignisse als rundes Jubiläum gefeiert werden konn- auch jeweils Denkwürdiges: 1987 kann Kinder der Aufklärung sind, wird in den te, könnte alle anderen Ereignisse in dem die erfolgreiche Musikschule der Gesell- Feierlichkeiten der Gemeinnützigen am Berichtszeitraum in den Schatten stellen. schaft in das neu hergerichtete Haus im 28.1.1989 gewürdigt, indem der Festvor- Dabei hat sich auch in den Jahren vor und Rosengarten einziehen und im Jahre 1997 trag von Prof. von Engelhardt über das nach 1989 in Schleswig-Holstein, in Lü- wird Renate Menken die erste Direktorin Thema der großen europäischen Geistes- beck, aber auch in der Gemeinnützigen der Gemeinnützigen und bricht somit die entwicklung des 18. Jahrhunderts gehalten viel Bedeutendes getan. Im Land Schles- 208-jährige Männerbastion auf. In Erinne- wird, die so unterschiedliche Produkte wie wig-Holstein wird dieses Jahr 1987 von rung bleiben müssen auch zwei Ereignisse, die Revolution und die Gemeinnützige den Geschehnissen um den Politikskandal die nochmals das Jahr 1987 aufrufen. Als entstehen lässt. Nach der Festversamm- und um den Tod des ehemaligen Minis- Geschenk zum Ende der Eigenstaatlichkeit lung in St. Petri wird im Gesellschaftshaus terpräsidenten Uwe Barschel geprägt. 1937 bekommt Lübeck vom Land Schles- ein gemeinsames festliches Essen einge- In Lübeck wird in diesem Zeitraum eine wig-Holstein 50 Millionen D-Mark zum nommen und am Abend steigt dann der schmerzliche Lücke im historischen Bau einer Musik- und Kongresshalle ge- Winterball. Diese Feierlichkeiten zu dem Stadtbild geschlossen. Der Kaak auf dem schenkt und im Spätherbst desselben Jah- runden 200-Jahr-Fest werden in den Lü- Markt wird wieder aufgebaut und dies mit res wird Lübecks Altstadt in den Bestand beckischen Blättern ihrer Bedeutung ent- bedeutender Unterstützung durch die Ge- des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenom- sprechend auf 20 Extraseiten dargestellt. meinnützige. Und im Oktober 1987 kann men. Eine Ehre, die bereits 1991/92 verlus- So, wie an der diesjährigen 225-Jahr-Feier, dann 45 Jahre nach der Kriegszerstörung tig zu gehen droht, weil die Denkmalpflege nimmt der Ministerpräsident des Landes von Palmarum 1942 die letzte der großen dem Abriss mittelalterlicher Bausubstanz Schleswig-Holstein auch an der 200-Jahr- Lübecker Backsteinkirchen, St. Petri, wie- zugunsten der König-Passage ohne bauge- Feier der Gesellschaft im Jahr 1989 teil. der eröffnet werden. Sie wird nicht mehr schichtliche Prüfung zustimmte. Am Ende des Jahres 1989 wird das als Gemeindekirche genutzt, sondern unglaubliche Jahr durch die Grenzöffnung durch eine weitsichtige Entscheidung zur Das denkwürdige Jahr 1989 noch richtig historisch für die Gemein- Kulturkirche ernannt. Heute, inzwischen Nun aber zum Jahr 1989: Es ist kaum nützige, für Deutschland und für Europa. auch noch zur Universitätskirche geadelt, vorstellbar, dass dieses Jahr irgendwann Gleich am Tag nach dem Fall der inner- ist der große gotische Raum von St. Pe- noch getoppt werden kann, was herausra- deutschen Mauer sorgt die Gemeinnützige für dringend benötigte Unterstützung: Es werden Gulaschsuppe und Getränke ver- teilt, ein Babywickelraum und ein Still- zimmer werden eingerichtet und der Juni- orenkreis der Gemeinnützigen baut einen gut besuchten Kakaostand gegenüber dem Gesellschaftshaus auf. Unter der Überschrift „Übersied- ler und Besucher aus der DDR herzlich willkommen“ findet sich in den Lübecki- schen Blättern eine Zusammenfassung der Ereignisse: „Wer hätte sich vorstellen können, als am Anfang des Jahres die Lü- beckische „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“ mit Blick auf die Französische Revolution von vor 200 Jahren selbst ihr 200-jähriges Bestehen feierte, dass noch im gleichen Jahr in Deutschland eine Revolution, eine fried- liche Revolution, stattfindet, in der das Die Grenzbefestigungsanlagen der „DDR“ mit Todesstreifen, 1990; aus Sicht der Staats- antidemokratische Staatssystem DDR ins führung ein „antifaschistischer Schutzwall“ (Foto: Walter Baustian, PGL, Lübeck) Wanken gerät.“ Karl Klotz

Lübeckische Blätter 2014/19 323 Meldungen

Geschichtsverein Deutsch-Italienische Gesellschaft Mo, 1. Dezember, 15 Uhr, Bundespoli- zeiakademie Lübeck, Ratze- Fr, 5. Dezember, 19 Uhr, Musik- und burger Landstraße 4, vor dem Kunstschule, Kanalstr. 42-50 Haupttor Dem Herzen tut es gut Treppen zu steigen Führung durch die histori- Konzert von und mit Diana Tejera (Ge- sche Sammlung zum innerdeutschen sang und Gitarre) Grenzsystem in der Bundespolizeiaka- Der Titel des Abends ist zugleich der Titel demie einer Gedicht- und Liedersammlung, die Herr Weiser und Kollegen aus der Zusammenarbeit zwischen der Klängen zu einem besonderen Weih- Bitte seien Sie pünktlich! Der Einlass ist Dichterin Patrizia Cavalli und der Musi- nachtskonzert mit Melancholie und Glanz nur als Gruppe möglich! kerin Diana Tejera entstanden ist. kontrastreich zusammengestellt. Eintritt 10 Euro /8 Euro für Mitglieder Solisten: Daniel Jenz Tenor, Joachim Deutsch-Ibero-Amerikanische Pfeiffer, Lukas Paulenz, Matthias Kreb- Gesellschaft Kiwanis Club Lübeck ber, Trompete Musikalische Leitung: Gabriele Pott So, 30. November,18 Uhr, Aegidienkirche So, 7. Dezember, 17 Uhr, Kolosseum, Karten 15 bis 20 Euro, erm. 10 bis 15 Euro Weihnachtskonzert Kronsforder Landstraße 25 Spanische Weihnachtsmusik „Fröhlich soll mein Herze swingen“ Grüner Kreis Nach der Argentinischen Weih- Benefiz-Weihnachtskonzert zu Gunsten nacht des vergangenen Jahres der Aktion: „Kiwanis hilft Lübecker Do, 4. Dezember, 15:30 Uhr, Museum für liegt der Schwerpunkt in die- Kindern“ Natur und Umwelt, Muster- sem Advent auf der traditionellen spani- Unter der Leitung des Jazzpianisten Gott- bahn 8 schen Weihnachtsmusik. Mit zahlreichen fried Böttger tritt in diesem Jahr eine Faszination Gartenkunst. „Villancicos“ bringt uns der Spanische Gruppe außergewöhnlicher Musiker ge- Die Gärten der Gottorfer Chor Lübeck unter der Leitung von Frau meinsam auf − ein lebendiges Jazz- und Herzöge Gunta Birzina die hispanische Weihnacht Boogie-Fest. Zwischen den Musikteilen Karen Asmussen-Stratmann M.A. näher. Der Chor wird begleitet von Kla- liest der Schauspieler und Kabarettist Ab 14:30 Uhr gibt es Gelegenheit zum vier (Frau Liene Orinska), Gitarre und Pe- Henning Venske unterhaltsame Geschich- geselligen Austausch bei Kaffee oder Tee cussion (N.N.) ten nicht nur zur Weihnachtszeit. und hausgebackenen Köstlichkeiten im Eintritt 10 Euro, Schüler und Studenten 5 Konzertkarten zum Preis von 30, 23 oder Walbaum-Café in der 1. Etage des Muse- Euro, Mitglieder frei 10 Euro erhältlich an Vorverkaufsstellen. ums für Natur und Umwelt. Deutsch-Italienische Theater Partout Gemeinnütziger Verein Gesellschaft Kücknitz 22., 28., 29., November, 5. und 6. Dezem- Di, 2. Dezember, 18 Uhr, Volkshochschu- ber, jeweils 20 Uhr, Königstraße 17 Schließung der letzten Lübecker Stadt- le Falkenplatz Patrick, 1,5 teilbüros / Bürgerbegehren Sizilien musikalisch oder Komödie von Michael Druker Auszug aus dem Offenem Brief vom 12. Der Pate geht in die Oper Darsteller: Rouven Kriete, Reiner Lorenz November an den Bürgermeister. Dr. Sabine Sonntag, Kunst- & Florian Sellke Nach der Schließung des damaligen Ord- historikerin, Hannover/Berlin Regie: Uli Sandau nungsamtes und Standesamtes in Kücknitz „Am Ostermorgen in einem siziliani- Schon lange hofft das schwule Paar Göran hat der Gemeinnützige Verein gemeinsam schen Dorf“ spielt Pietro Mascagnis Oper und Sven darauf, ein Kind adoptieren zu mit den Kücknitzer Verbandsvertretern so- „Cavalleria rusticana“ und bringt damit können. Endlich ist der Tag gekommen, wie den lokalen SPD- und CDU-Vertretern ein vollkommen neues Ambiente in die an dem der kleine Patrick, 1,5, eintreffen ab 1999 für die Einrichtung des Stadtteil- Operngeschichte. Wo früher Adlige mit soll. Doch ein bürokratischer Komma- büros gekämpft. Nördlich der Trave leben dem Degen um eine Fehler macht dem Glück zu dritt einen ca. 35 Tsd. Einwohner, die mit der damals Frau gekämpft ha- Strich durch die Rechnung, denn plötzlich geforderten und schließlich durchgesetzten ben, ziehen sie nun steht der 15-jährige Patrick vor der Tür, Einrichtung von Stadtteilbüros endlich mit das Klappmesser und ein Kleinkrimineller, der zudem zu Ge- den Einwohnern der Lübecker Kernberei- röcheln auf offener walttätigkeiten neigt. che gleichgestellt wurden. Die aktuelle Dis- Bühne ihr Leben aus. kussion um eine Schließung verstärkt hier Der Naturalismus hat um 1900 die Thea- Lübecker Singakademie immer mehr den Eindruck, dass Lübeck nur terbühnen erreicht, und gleichzeitig hat er noch auf der Altstadtinsel stattfindet. als „Verismo“ das Musiktheater nachhal- So, 30. November, 17 Uhr, Kolosseum, Sollten in einer der nächsten Bürgerschafts- tig verändert. Mascagnis Oper von 1890 Kronsforder Allee 25 sitzungen zum Stadtteilbüro Entscheidun- gab den Startschuss für jene neue Opern- Nordische Weihnacht gen anstehen, fordern wir den Erhalt des stilrichtung, die sich bis etwa 1940 gehal- Großes Chorkonzert Bürgerservices nördlich der Trave, andern- ten hat. Skandinavische Chorsätze und virtuose falls werden wir einen Bürgerentscheid zur Eintritt 5 Euro / 3 Euro für Mitglieder Instrumentalstücke werden mit russischen Erhaltung organisieren. Georg Sewe

324 Lübeckische Blätter 2014/19 Aus der Gemeinnützigen Aus der Gemeinnützigen Aus der Gemeinnützigen Aus der Gemeinnützigen

Veranstaltungen im Jubiläumsjahr „Die einzige friedliche Revolution, die je in Deutschland stattgefunden hat“ Dienstagsvortrag Di, 25. November, 19.30 Uhr, Königstr. 5, Großer Saal, Eintritt Gedenkveranstaltung zum 9. November 1989 in der Gemein- frei nützigen Früherkennung – Frühförderung – Bericht über das Multi- Der 25. Jahrestag der Mauereröffnung wurde in verschiedenen centermodell „Kinderzukunft NRW“ Veranstaltungen gewürdigt, nur in Lübeck unter Verantwortung der Dr. Wilfried Kratzsch, Leitender Oberarzt i. R. des Kinderneuro- städtischen Gremien nicht. Offensichtlich in weiser Voraussicht auf logischen Zentrums Sana-Kliniken, Düsseldorf das Hickhack, dass in den politischen Gremien ausgefochten wurde, Gemeinsam mit dem Verein Lübecker Kinder e. V. hatte die Gemeinnützige eine eigene Matinee vorbereitet, die gut besucht war und sich von anderen Gedenkveranstaltungen dadurch Di, 2. Dezember, 19.30 Uhr, Königstr. 5, Großer Saal, Eintritt unterschied, dass auch zukünftige Aufgaben umrissen wurden. frei Am 9. November 1989 seien die ersten Trabis durch Schlutup ge- DDR-Literatur – archiviert: Neues zu einem alten For- fahren. Dieses sei ein so wichtiges Ereignis, dass eine solche Ge- schungsgegenstand denkveranstaltung notwendig ist, betonten die Moderatoren Jutta Prof. Dr. Roland Berbig, Humboldt-Universität Berlin Kähler und Claus-Peter Lorenzen. Gemeinsam mit dem Lübecker Autorenkreis und seinen Freun- Man hatte den jetzigen Bürgermeister der Hansestadt Wismar Tho- den mas Beyer eingeladen, dieser gehörte bereits vor der Wiederverei- nigung dem Neuen Forum an und wurde dann später Mitglied der Mittwochsbildung SPD und Bürgermeister. Er verwies auf seine Rede am 31.10.1989. Mi, 26. November, 19.30 Uhr, Königstr. 5, Großer Saal, Eintritt frei Er sei sich bewusst, dass das Neue Forum durch die Kirchen einen Medien und ihre Auswirkungen auf die geschützten Raum erhielt. Die Zusammenkünfte in Privatwohnun- Entwicklung von Kindern und Jugendli- gen und Kirchen beschäftigten sich mit einer gründlichen Umge- chen staltung der DDR. Es war zur Gewissheit geworden, dass die DDR Prof Dr. Thomas Bliesener, Psychologe, Kiel wirtschaftlich am Ende war. Man stellte sich eine basisdemokra- Bliesener wird in seinem Vortrag auf die tisch gestaltete neue Gesellschaft vor. Die SED-Herrschaft empfand Nutzung moderner Medien für Kinder und man als unerträglich. Jugendliche eingehen, die heute selbstver- Am 7. November 89 kam es auch in Wismar zu einer Großdemon- ständlich ist und für die Jugendlichen zahl- stration auf dem Markt mit über 50.000 Teilnehmern. Der Funke, reiche wichtige Funktionen erfüllt, u.a. in der in den Diskussionszirkeln geglimmt hatte, sprang endlich auf der Kommunikation, der Sozialisation und Persönlichkeitsent- die Mehrheit der Bevölkerung über. Nunmehr stand die Deutsche wicklung sowie dem Wissenserwerb. Einheit auf der Tagesordnung. Für die westliche Seite hatte man den früheren Bürgermeister Mi- Der Lübecker Stadtdiskurs chael Bouteiller eingeladen, er war zu der fraglichen Zeit in Lübeck Mi, 3. Dezember, 19 Uhr, Kolosseum, Kronsforder Allee 25, im Amt. Auch Bouteiller sprach von einem Trauerspiel der politi- Eintritt frei schen Gremien wegen einer Gedenkveranstaltung. Man habe nicht Architektur, Frauen und das Besondere der Stadt begriffen, dass die Stadt sich seinerzeit verändert hat. In Lübeck PD Dr. Silke Steets, TU Darmstadt kam es, wie auch in anderen Grenzregionen, zu Wiedersehen und (siehe auch Ankündigung auf Seite 322) tagelangen Begegnungen. Es kam zu einer grundlegenden Verände- rung durch die einzige friedliche Revolution, die in Deutschland je Der Wagen 2014 stattgefunden hat. Von den damaligen Forderungen stehe Sicherheit Do, 27. November, 20 Uhr, Königstraße 5, Bildersaal, Eintritt frei und Menschlichkeit noch immer genauso aus wie ein sozialgeeintes Lübecker Beiträge zur Kultur und Gesellschaft Deutschland. Bei der jetzigen Flüchtlingssituation müsse man an die Begrüßung der Autoren und Gäste: damaligen Versprechen über die zukünftige Gesellschaft erinnern. Direktor Titus Jochen Heldt In dem Gespräch zwischen Thomas Beyer und Michael Bouteiller Präsentation: Dr. Manfred Eickhölter machte Beyer deutlich, dass die Menschen seinerzeit eine Dikta- Herausgeber und Redakteur tur beseitigen konnten. Michael Bouteiller fragte: Was haben wir Die Lübecker Beiträge zur Kultur nachher getan? Er erinnerte an die vielen Schicksale durch die und Gesellschaft haben sich seit Umstrukturierung der ehemaligen DDR, an die unselige Politik der 1919 mehrfach in Format, Farbe und Treuhand. Auch nähmen viele Menschen das Leid der Flüchtlinge Aufmachung gewandelt. überhaupt nicht wahr. Die Neugestaltung der Wirtschaft in der ehe- Ulrike Theilig, Buchgestalterin in maligen DDR sei bestimmt durch das Kapital, die Chance, die Ge- Hamburg, ist für uns tätig gewor- sellschaft zu einer sozialen umzuwandeln, sei nicht genutzt worden. den und hat etwas entworfen, was Thomas Beyer wies auf den hanseatischen Stolz in seiner Stadt hin, den diesjährigen Autoren und dem das Ziel der Bürgerbewegung, die DDR zu reparieren, um sie zu Herausgeber sehr gut gefällt und einer humanen Gesellschaft weiterzuentwickeln, sei nicht genutzt von dem alle Beteiligten gemeinsam worden. Kurz ging Beyer auch darauf ein, dass in einer Diktatur hoffen, dass es auch unserer treuen Täter und Opfer besonders schwer zu erkennen sind, der Umgang Leserschaft Freude bereiten wird. mit diesem Thema sei nach wie vor besonders schwierig. Wolter

Lübeckische Blätter 2014/19 325 Bürgerfest im Stadtteil Schlutup Mauerfall vor 25 Jahren: Heiteres Bürgerfest in Schlutup Hagen Scheffler

Bürgerengagement rettet und europäische Geschichte so fundamen- ehrenamtlich wirkenden Arbeitskreises. tal andere, wichtige, freudevolle und fried- Gezielt möchte man sich zukünftig der Ansehen der Stadt liche Bedeutung erhalten, dass es schier Jugendarbeit widmen und in einen Dia- Dass Lübeck am Tag der 25. Wie- unmöglich ist, dieses Datum mit Schwei- log mit Lehrkräften und ihren Schülern derkehr des Mauerfalls nicht mit leeren gen zu übergehen. Welch ein historisches treten und so zu einer außerschulischen Händen dastand, verdankt die Hansestadt und politisches Bewusstsein muss bei der Bildungsstätte werden. Das Schlutuper ihren Bürgern. Sie wollten es nicht hin- Mehrheitskoalition in der Bürgerschaft Grenzmuseum basiert auf Laienarbeit, ist nehmen, dass ihre Stadtverwaltung, nach vorherrschen, wenn man ein solches Er- in der jetzigen Form fachlich nicht unum- Berlin die größte Stadt unmittelbar an der eignis nicht zu begehen imstande ist! Hat stritten, hofft aber, dass sich das Verhältnis ehemaligen(Zonen-)Grenze, ohne eine an- nicht die Hansestadt allen Grund zum Fei- zwischen der Hansestadt und dem Muse- gemessene Gedenkfeier blieb. Die Bürger- ern, da sie nicht mehr am Zonenrand liegt, um bessert und dass künftig „keine Steine schaft mit der Ein-Stimmenmehrheit von sondern jetzt wieder mitten in Deutschland, mehr in den Weg gelegt werden“, sondern Rot-Rot-Grün sah sich lange bis kurz vor ihr „Hinterland“ im Osten wieder hat und dass es als „Bildungsstätte“ Anerkennung dem historischen Datum nicht in der Lage, seit der sog. „Wende“ nicht unwesentlich und Förderung erhält, ähnlich wie das des Mauerfalls vor 25 Jahren mit einer of- an dem Prozess des langsamen Zusammen- Museum in Mecklenburg im benachbarten fiziellen Feier zu gedenken, angeblich weil wachsens partizipieren kann? Welch ein Schlagsdorf, dem ein amtlich bestellter kein Geld dafür zur Verfügung stand. Der Beispiel gibt die Bürgerschaft mit ihrer un- Museumsleiter vorsteht. Bürgermeister weilte als Vormann der Han- sensiblen Absage an eine eigene Gedenk- se im Ausland, als wenn er in dieser Positi- feier ab für das Geschichtsbewusstsein der on nicht Einfluss auf einen anderen Termin jüngeren Generation! gehabt hätte. Auch die Stadtpräsidentin konnte den Bürgermeister nicht vertreten, Zehn Jahre Grenzdokumenta- da sie auch einen Auswärtstermin am 9. tionsstätte in Schlutup November wahrnahm. Während der Hansetag mit einem ein- Ingrid Schatz, 1953 aus der DDR ge- drucksvollen Fest im Mai begangen wurde, flohen und seit 1992 für die CDU in der fand sich in der Bürgerschaft keine Mehr- Bürgerschaft tätig, hat die Grenzöffnung Das Bürgerfest heit, die Ereignisse vor einem Vierteljahr- 1989 in Schlutup mit all ihren unvorstell- Ein vielfältiges Programm bot den hundert gebührend zu würdigen, die zu den baren Emotionen miterlebt. „Wahnsinn!“ Besuchern aus Ost und West viel Anre- glücklichsten, friedlichsten und bedeutend- In dieser Kurzformulierung manifestierte gendes, Bewegendes, Abwechslungsrei- sten Ereignissen sowohl für die Region als sich damals das Lebensgefühl all derer, ches, darunter auch viel Kulinarisches auch für Deutschland und insbesondere für die plötzlich, spontan, ohne einen Grund und sogar einen „Überraschungsgast“: Europa zählen. angeben zu müssen und – vor allem – ohne Ein Komiker aus Berlin war in die Rolle Der 9. November, der in der deutschen Gefahr für Leib und Leben von Deutsch- von geschlüpft, in Aus- Geschichte zunächst mit drei problemati- land nach Deutschland reisen konnten. Da sehen und Outfit täuschend ähnlich dem schen, schwierigen und auch schrecklichen im Zuge des Zusammenwachsens Vieles einstigen Staatsratsvorsitzenden. Huld- Ereignissen (1918; 1923 und 1938) besetzt niedergerissen und zerstört wurde, was voll begrüßte er die Leute, auch die aus ist, wurde durch die Ereignisse von 1989 an DDR erinnerte, war für Ingrid Schatz der „Ferienstadt Lübeck“, mit seiner be- in seiner Bedeutung völlig überlagert, hat schnell klar, dass es auch in Lübeck unmit- kannten nuschelnden, abgehackten und durch den Mauerfall einen für die deutsche telbar an der früheren Grenze eine Erinne- die Inhalte etwas durcheinander brin- rungsstätte geben sollte, wo die Geschich- genden Redeweise. Er verabschiedete te der deutschen Teilung und Trennung sich unter Beifall aus der Geschichte und dokumentiert werden müsste. Für diese auch aus der „Deutschen Demontierten Zielsetzung begann die Sammlung von Republik“ mit den Worten: „Versuchen Erinnerungsstücken aus dieser Zeit. Ingrid Sie mich zu vergessen!“ Schatz, tatkräftig unterstützt von einem Das Festzelt neben dem Grenzmuse- Verein „Grenzmuseum“ mit über 100 Mit- um war dauerüberfüllt, konnte die ins- gliedern, gelang es 2004, die inzwischen gesamt wohl zehntausend Gäste, Jung stattliche Sammlung von Objekten in der und Alt, von Nah und Fern, immer nur in ehemaligen Zollbaracke unterzubringen, kleiner Zahl aufnehmen. Das aber störte wo sich aus einer Jugendbegegnungsstät- die Draußengebliebenen nicht, da sie bei te die Grenzdokumentationsstätte entwic- dem strahlenden Sonnenwetter überall kelte, das heutige Grenzmuseum. Was bei den zahlreichen Buden Sitzgelegen- hier seit zehn Jahren als Ausstellung für heiten fanden, wo es Leckeres zu essen die wachsende Zahl von Besuchern aus und zu trinken gab oder Informatives an Übergabe einer Schreibmaschine „Erika“ dem In- und Ausland zu sehen ist, beruht Ständen einiger Parteien (CDU, FDP und an Ingrid Schatz für das Grenzmuseum. auf der Arbeit und dem Engagement des BfL). Der kostenlose Eintritt verschaffte

326 Lübeckische Blätter 2014/19 Bürgerfest im Stadtteil Schlutup

Seite die Böschung hinauf und spielten streitet, wo gefeiert wird“. Die Grenz- so: „Grenze überwinden“. dokumentationsstelle habe sich in zehn Ingrid Schatz, Moderatorin im Fest- schwierigen Jahren als Museum etablie- zelt, ein bisschen gezeichnet durch die ren können und eine gute Zusammenar- Strapazen und Aufregungen während der beit mit den Nachbargemeinden in Meck- anstrengenden Vorbereitungen für diesen lenburg aufgebaut. Für die nächsten 25 Tag, aber tapfer lächelnd, dankte allen Jahre wünschte er dem Grenzmuseum herzlich, die an der Gestaltung dieses weiterhin ein gutes nachbarschaftliches Bürgerfestes ehrenamtlich beteiligt und Verständnis, Toleranz, starke Energie und (Fotos: Hagen Scheffler) zum Bürgerfest gekommen waren. Sie viel Freude. zollte all den mutigen Menschen ihren Nordwestmecklenburgs Landrätin Respekt, die durch ihren Freiheitswillen Kerstin Weiss hatte, wie auch die Bun- in wenigen Tagen die Welt verändert hat- destagsabgeordnete Alexandra Dinges- Klaus Puschaddel überbringt Grüße des ten. „Das Geheimnis der Freiheit ist der Dierig (CDU), ihre Teilnahme an Feiern Bürgermeisters und der Bürgerschaft. Mut“, bekannte sie – wohl auch aus ei- in Schwerin bzw. Berlin abgesagt, um genem Erleben. Und an die Zukunft ge- hier in Schlutup mit den Menschen den dem Grenzmuseum natürlich auch einen wandt, fragte sie: „Haben wir heute auch Tag zu begehen. „Wir feiern“, weil unsere Riesenansturm. Überall waren die Men- noch diesen Mut?“ jüngste Geschichte uns „etwas zu sagen“ schen in Gespräche vertieft, ließen es hat, nämlich die „wunderbare Erfahrung, sich gut gehen, waren guter Dinge. Vie- Grußworte und musikalische dass Mauern eingerissen werden können“ le nahmen sich Zeit und bestaunten die Unterhaltung (Weiss), und den „Glücksfall“, dass durch von Schlagsdorf herübergefahrene Tra- friedliche Revolution „zwei Teile zusam- bi- und Wartburg-Kolonne von ca. 100 In ihren Grußworten würdigte an- mengewachsen sind, die sehr unterschied- Fahrzeugen. schließend eine beachtliche Anzahl von lich waren“ (Dinges-Dierig). Über allem lag eine heitere Gelassen- Rednern die besondere Leistung, die In- Während der Vertreter der Bundes- heit. Die meisten Besucher blickten in grid Schatz und ihr Team mit dem Auf- polizeiakademie Lübeck den Struktur- Gesprächen auf die letzten 25 Jahre zwar bau des Grenzmuseums geleistet hätten. wandel vom Bundesgrenzschutz zur nicht nur, aber insgesamt wohl doch recht Das geflügelte Wort vom „Schatz“ mach- Bundespolizei hervorhob, feierte Marcus stolz auf ihre eigene erfolgreiche Lebens- te die Runde. Kreft, Bürgermeister von Selmsdorf, ge- leistung. Natürlich waren auch die ersten Zunächst überbrachte als Stellvertre- bürtiger Schlutuper, mit Blick auf seine drei Trabi-Besatzungen am Ort des Ge- tender Stadtpräsident Klaus Puschaddel „Nachwende“-Generation die inzwi- schehens, als sich für die Familien Evert, (CDU) die Grüße Dopke und Zielke am 9. November 1989 der Bürgerschaft um 21.53 Uhr in Schlutup die Grenze und des Bürger- nach Westen öffnete. Viele, die damals meisters. Puschad- euphorisch über die Grenze gefahren del würdigte, dass waren, waren zurückgekehrt, zum Teil das Grenzmuseum nach langer Anreise aus anderen Bundes- in eigener Regie ländern. Kinder tobten in der Nähe der dieses Bürger- Parkplätze, angesteckt durch den Geist fest geplant und des Tages, immer wieder von der Straße vorbereitet hätte, durch den tiefen Graben auf der anderen während „Lübeck

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Lübeckische Blätter 2014/19 327 Unfallschwerpunkt Lindenteller schen vorhandene Normalität und vor Der Lübecker Shantychor „Möwen- die Festgemeinde zum Mitsingen und Mit- allem die gute Nachbarschaft zwischen schiet“, der seine Verbundenheit mit dem schunkeln. Ein Mitglied des Chores, Dieter den beiden ehemaligen Grenzorten. Die Grenzmuseum bereits anlässlich der Feier S., der aus Thüringen stammt, hatte aus An- Kreisvorsitzenden der CDU, Anette Rött- am 3. Oktober 2014 mit einem Auftritt be- lass des Mauerfalls vor 25 Jahren ein Gastge- ger, und von Bündnis 90/Die Grünen, wiesen hatte, unterhielt mit einem entspre- schenk mitgebracht: Nachdem er bereits am Stephanie Göhler, riefen einige persön- chenden Programm der maritimen Volksmu- 3. Oktober seinen „Ausreisekoffer“ überge- liche Erinnerungen an ihr Leben an der sik am späten Nachmittag die Besucher im ben hatte, erhielt Ingrid Schatz jetzt während Grenze wach und setzten sich nachdrück- bis auf den letzten Platz gefüllten Festzelt. des Auftritts seine „Erika“, die Schreibma- lich für den Erhalt und die Förderung des Chorleiter Martin Stöhr animierte mit sei- schine, und etliche Ausreisedokumente für Grenzmuseums ein. nem jugendlichen Schwung immer wieder eine „Ausreise-Vita“ im Grenzmuseum.

Rückgang der Unfall- Den Lindenplatz überquerten bis zur Die Einrichtung der zusätzlichen Am- Einweihung der Nordtangente 55.000 − pelanlage an der Moislinger Allee ist zu- zahlen am Lindenplatz 58.000 Fahrzeuge; nach der Einweihung nächst für sechs Monate vorgesehen. Soll- pendelte sich das Verkehrsaufkommen auf te sich die Verkehrssituation jedoch durch Verkehrsversuch zeigt erste ca. 52.000 Fahrzeuge täglich ein. 2010 die Anlage verbessern – der Bericht geht Erfolge und 2011 gab es am Lindenplatz 24 bzw. von einer Verbesserung des Verkehrsflus- 22 Unfälle; 2012 und 2013 14 bzw. 13 ses durch die Signalanlage insbesondere Der Lindenplatz gilt nach wie vor für Unfälle. Der Rückgang der Unfallzahlen für den Kfz-Verkehr aus – so ist wohl von viele Benutzer, insbesondere für Rad- ist – so der Bericht – „vor allem auf die einer Dauereinrichtung auszugehen. fahrer als „Angstplatz“. Ursachen sind deutlich geringere Zahl an Unfällen mit Die weitere Praxis wird zeigen, ob diese nicht nur das hohe Verkehrsaufkommen, Radbeteiligung zurückzuführen“. Einschätzung nicht allzu optimistisch ist. sondern auch die Unübersichtlichkeit der Entsprechend stufen Polizei und Ver- Nebenbei: Zwar ist der Lindenplatz Verkehrsanlage. Der Vorschlag, den Platz kehrsaufsicht den Verkehrsversuch als nach wie vor einer der meist befahrenen grundlegend umzugestalten – das wäre „uneingeschränkt positiv“ ein. Der Ver- Verkehrsknotenpunkte Lübecks. In Be- nur durch eine Verschiebung der gesam- kehrsversuch läuft Ende dieses Jahres aus. zug auf das Verkehrsaufkommen ist er ten Anlage nach Nordwesten möglich − ist Nach Auffassung des Berichts hat der jedoch inzwischen vom Berliner Platz ab- zu kostspielig und wurde fallen gelassen. Verkehrsversuch nicht zu den befürch- gelöst worden. Die Verkehrsaufsicht musste sich deshalb teten Verkehrsstaus und Irritationen der Die geplanten Sanierungen von Brü- für mehrere „kleine“ Lösungen entschei- Verkehrsteilnehmer geführt. Der subjek- ckenbauwerken, Possehlbrücke 2015 den, z.T. gegen den Widerstand von Teilen tive Eindruck von Verkehrsteilnehmern, und Bahnhofsbrücke 2016, dürften der Bürgerschaft, die sich z.B. gegen eine insbesondere von Autofahrern, mag ein die Verkehrsstatistik allerdings − vo- Ampelsteuerung zunächst mehrheitlich anderer sein. rübergehend − deutlich verschieben. aussprachen. Eine neue Situation ist allerdings da- Burkhard Zarnack Im Frühjahr 2012 stimmte die Bürger- durch eingetreten, dass – ursächlich ver- schaft einer Ampelsteuerung im Bereich bunden mit der Reparatur der Drehbrücke Die Eigenarten der Fackenburger Allee als Verkehrsversuch – eine weitere Ampelanlage am Linden- zu, außerdem verschiedenen Verände- platzteller, Moislinger Allee, montiert Klangvertikalen − MOF- rungen der Fahrbahnmarkierungen. So worden ist. Diese Anlage könnte zu einer Konzert im Kolosseum ist z.B. eine Richtungsänderung aus dem weiteren Verlangsamung des Verkehrs im Innenkreisel in Höhe der Moislinger Al- Bereich Lindenplatz führen. Für die Fuß- Es gibt ja eine gewisse Resistenz beim lee durch eine durchgezogene Linie nicht gänger, aber indirekt auch für Rad- und Konzertpublikum (von Veranstaltern zu mehr möglich. Verkehrsteilnehmer müs- Autofahrer, dürfte die Anlage für weitere schweigen), Klanggebilde außerhalb des sen die Spur vorher wechseln. Sicherheit sorgen. tonalen Systems jenseits des Endes des Die dreispurige Verkehrsführung aus Nach wie stehen keine finanziellen 19. Jahrhunderts wahrzunehmen oder gar Richtung Fackenburger Allee zum Kreisel Mittel für eine grundlegende Umgestal- zu akzeptieren. Was im Spielfilm als pro- wurde auf zwei Spuren verengt; für Rad- tung des Lindenplatzes zur Verfügung; gressives Musikpolster noch hingenom- fahrer aus der gleichen Richtung wurde die vorhandenen Mittel in Höhe von men wird, hat auf Bühnen nicht unbedingt die Radwegmarkierung ebenfalls – auch 100.000 Euro (bis 2016) sollen jedoch für die gleichen Chancen. Dieses Hindernis zu in Richtung Moislinger Allee − verscho- eine weitere Optimierung des Verkehrs- überwinden, trat „Das Neue Ensemble“ am ben. Ampelsteuerung und Markierungs- ablaufs im Bereich Lindenplatz verwen- 12. November im Kolosseum zu Lübeck änderungen hatten das Ziel, den Verkehrs- det werden. an. Ganz stutzig schauten einige nach vorn, fluss abzubremsen, Fußgänger und Auto- Geplant sind Herrichtungen von War- als Stephan Meier, Leiter des Ensembles, fahrer klarer zu trennen und Radfahrern teflächen für Fußgänger an Übergängen, sagte, an diesem Abend sei mit dem Pro- eine größere Sicherheit bei der Benutzung die Anbringung von Sperrmarkierungen gramm „Hundert Jahre Harmonie“ Musik des Kreisels zu verschaffen. auf dem Innenring, eine Anpassung der zu hören, die nicht mehr aktuell sei. Die Unfallzahlen sind nach diesen Querungsstelle für Radfahrer an dem „By- Obwohl „Vierzehn Arten, den Regen Maßnahmen zurückgegangen, so kann im pass“ von der Puppenbrücke zur Facken- zu beschreiben“ (1940) von Hanns Eisler neuesten Bericht über den Verkehrsversuch burger Allee und eine Vertauschung von für einen Hollywoodfilm komponiert war, Lindenplatz, der inzwischen vom Senat Radweg und Lieferstreifen an der Aus- blieben außerhalb des visuellen Kontexts freigegeben wurde, nachgelesen werden. fahrt zur Moislinger Allee. die Reaktionen doch zurückhaltend. Nun,

328 Lübeckische Blätter 2014/19 Mittwochsbildung das Werk ist zwar expressiv, aber dyna- klassischen Mustern gewesen wäre. Ganz (1984) von Pierre Boulez trotz mathema- misch schwach dargestellt worden. Konn- frisch, trotz komplexer Strukturen, die tischer Tonrelationen mit Sympathie gou- te man von Hanns Eisler, der bei Arnold noch tiefer und differenzierter in „Talea“ tiert. Das Neue Ensemble hatte sein Ziel Schönberg studiert hatte, solche Klänge (1986) von Gérard Grisey verborgen sind, erreicht: Die einstige Avantgarde war kein erwarten? Vielleicht. Die Hörangst vor nämlich als Spektrale von Obertonreihen. Schreckgespenst mehr, sondern wurde zu dem eigenen Lehrer sind erfahrungsge- Da wurde manches grell, vermischten sich einer Erfahrung noch nicht verbrauch- mäß größer, raue Dissonanzen, oh je. Aber enge Intervalle in Skalen und Timbres. ter Klänge. Auch ein Erfolg für die Mu- auch hier war ein Überraschungseffekt da, Und doch war schon eine Modifikation zu sik- und Orchesterfreunde Lübeck e. V. denn Das Neue Ensemble präsentierte die merken: Das Publikum hörte konzentrier- (MOF), die couragiert solche Eigenarten „Kammersinfonie“, op. 9 so, als ob sie ein ter und mit mehr Zuneigung zu als zuvor. der Klangvertikalen im Konzert angebo- emotional widerstrebender Abschied von Und plötzlich wurde die kurze „Dérive I“ ten haben. Hans-Dieter Grünefeld

Vortrag von Jan-Hinrik Schmidt: „Medien heute! Chancen und Herausforderungen!“ Was muss man können, um sich in der vernetzten Öffentlich- keit zu orientieren? Karin Lubowski

„Mir ist langweilig. Kopiere ich mir müssen sich auf diesen Medienwandel – dar, zeigt seine Besonderheiten (Auf- ’ne Doktorarbeit zusammen oder stürze genauso einstellen wie Privatpersonen, lösung der Sender-Empfänger-Trennung, ich ein arabisches Regime? Internet hätte die Aspekte ihres persönlichen Alltags Abkopplung von Zeit und Papier, selbst- ich.“ Ziemlich am Anfang wirft Dr. Jan- mit ihrem erweiterten sozialen Netzwerk bestimmtes Filtern von Informationen). Er Hinrik Schmidt diesen Twitter-Tweed teilen wollen“, schickt Schmidt voraus. zeigt, wie sich in der Folge die Grenzen auf die Leinwand. Im Jahr 2011 verfasst, „Die entstehenden Kommunikations- zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, bezieht der sich lakonisch-frech auf die räume weisen eine eigene „Architektur“ zwischen Kommunikation und Publika- Dissertation, mit der sich seinerzeit Karl- auf, die starken Einfluss auf die Verbrei- tion verschieben, wie sich Partizipation Theodor zu Guttenberg aus dem Bundes- tung und Kontrolle von Informationen und Protest wandelt – und dass die Kom- verteidigungsministerium katapultier- und Wissen hat. Zugleich verändert sich petenzen für die Teilhabe an der digita- te, und andererseits auf den Arabischen unser Verständnis der Grenzen zwischen len Gesellschaft mit den Möglichkeiten Frühling. Schmidt, wissenschaftlicher Öffentlichkeit und Privatsphäre. Der Ver- Schritt halten müssen, damit Chancen Referent für digitale interaktive Medien heißung, jeder könne mit Hilfe der digita- nicht zu Bedrohungen werden. Was muss und politische Kommunikation am Ham- len vernetzten Medien an der Gesellschaft man können, um sich in der vernetzten Öf- burger Hans Bredow-Institut für Medi- und ihrer Gestaltung teilhaben, steht die fentlichkeit zu orientieren? Man muss die enforschung, weiß, mit welchem Speck Beobachtung entgegen, dass sich Macht- Gewichtung (z. B. von Suchmaschinen) man Zuhörer fängt. „Soziale Medien und unterschiede nur verschieben oder sogar und die Qualität von Informationen beur- vernetzte Öffentlichkeit“ ist sein Thema noch verstärken.“ teilen können, so Schmidt. Und man muss beim zweiten Vortrag der laufenden Mitt- Jürgen Habermas und seine 1962 er- situationsgerecht kommunizieren, bewer- wochsbildung mit dem Schuljahres-Motto schienene Habilitationsschrift „Struktur- ten, abwägen sowie Reichweite und Fol- „Medien heute! Chancen und Herausfor- wandel der Öffentlichkeit“ sind Schmidts gen von Meinungsäußerungen abschätzen derungen!“ Schmidts Thema mag trocken Ausgangspunkte, und noch bevor sich können. klingen, geht aber jeden an, der Internet einer der Zuhörer wundern kann, wie die nutzt – nach der letzten Onlinestudie von internetfreien 1960er-Jahre mit der ak- „Medien und ihre Auswirkungen auf die Ent- ARD und ZDF sind das bisher 79 Prozent tuellen Informationsflut und Kommuni- wicklung von Kindern und Jugendlichen“ ist aller Deutschen von 14 Jahren an. Ten- kationswut einhergehen, wird die simple Thema der nächsten mittwochsBILDUNG am 26. November, 19.30 Uhr im Gesellschaftshaus, denz: unaufhaltsam steigend. Tatsache klar, dass Wandel immer ist Großer Saal, Königstraße 5. Zu Gast ist der Kie- Wie man das Thema interessant dar- und Habermas’ frühe Thesen vielleicht ler Psychologe Prof. Dr. Thomas Bliesener. stellt, weiß Schmidt aus dem Effeff. Im ergänzt, aber nicht Sommersemester 2013 hat er es für eine umgeschrieben wer- Jetzt beraten wir Sie auch in Lübeck Vorlesung aufbereitet; die findet sich wer den müssen. tiefer gründeln will, auf seiner Homepage Wenngleich kri- www.schmidtmitdete.de. Worum geht es? tisch betrachtend, Um den von digitalen vernetzten Medien nimmt Schmidt die forcierten Strukturwandel von Öffentlich- Möglichkeiten des keit, um auf Plattformen wie YouTube, Internet als Chance. Wikipedia, Facebook, Twitter oder Blogs Er legt die Gründe beförderte, leicht zugängliche Informatio- für seine Nutzung vereidigter Buchprüfer - Steuerberater nen und Kontakte. „Professionelle Kom- – Identitäts-, Bezie- Adolfstr. 5a, 23568 Lübeck · Ringstr. 17, 23611 Bad Schwartau munikatoren, z. B. im Journalismus, in der hungs- und Informa- Tel. 0451/300 991 - 0 · www.klindwort.com Politik oder in der Öffentlichkeitsarbeit, tionsmanagement

Lübeckische Blätter 2014/19 329 Lübecker Ereignisse im Oktober

22. An der Uni wird eine Professur für Lübecker Chronik Oktober 2014 Arbeitsmedizin eingerichtet, finanziert Hans-Jürgen Wolter durch Berufsgenossenschaften. 24. Die Stadtwerke bestellen eine neue 6. Im Alter von 73 Jahren verstirbt die lich vorgesehene Bauvolumen wird von Norderfähre für den Priwall, Kosten 1,2 frühere Chefsekretärin der Lokalredaktion 26.900 qm Bruttogeschäftsfläche auf Mio. Euro. ••• Die Stadt wird keine eige- der LN, Edeltraut Springer. 24.000 qm reduziert. ••• Während der Sa- ne Feier zum 25. Jubiläum des Mauerfalls nierungsarbeiten am Turm von St. Petri durchführen. ••• Der Haushaltsentwurf für 7. Auf Grund eines Berichtes des Rech- wird der Turm mit einer Plane verhüllt. das nächste Haushaltsjahr enthält 741,6 nungsprüfungsamtes beschließt der Mio. Euro Ausgaben, denen 688,9 Mio. Hauptausschuss eine Reform des Mahn- 10. Die Entsorgungsbetriebe planen Euro Einnahmen gegenüberstehen, d. wesens, die Außenstände der Stadt be- 2015 die Anhebung der Straßenreini- h. es ist ein Defizit von 52,7 Mio. Euro. tragen rund 65 Mio. Euro. ••• Nach einer gungsgebühr um über 80 Prozent, um das Über den Haushalt muss die Bürgerschaft Entscheidung des Europäischen Gerichts- Defizit von vier Mio. Euro aufzufangen. entscheiden, die Genehmigung liegt dann hofes verstieß die Entgeltordnung des ••• Aufsichtsrat- und Gesellschafterver- beim Innenministerium. ••• An der Fa- Flughafens Lübeck nicht gegen Europäi- sammlung der Tourismusgesellschaft ckenburger Allee neben den Bahngleisen sche Beihilferecht. LTM bestellen den bisherigen Prokuristen eröffnet das B&B-Hotel mit 182 Betten. Christian Martin Lukas zum Geschäfts- ••• Im Alter von 70 Jahren verstirbt der 8. Der Verein Landwege will den Pacht- führer. ••• Die Stadt stellt den Plan für ei- Klarinettist Jürgen Vieregge, Begründer vertrag mit dem Landwirt Ludger Grothu- nen Bezirksspielplatz an der Beethoven- und langjähriger Leiter des Jazz-Clubs und es nicht verlängern, der Vertrag läuft 2018 straße vor, Baukosten 300.000 Euro. der Dr. Jazz-Companie. Er hat die Jazz- aus. Es bildet sich ein Unterstützerkreis. ••• Szene in Lübeck maßgeblich geprägt. Bau- und Hauptausschuss beschließen einen 16. Am Lindenplatz werden Ampeln an Wettbewerb für den Neubau einer Großga- der Moislinger Allee aufgestellt, diese be- 25. Der LSV Gut Heil eröffnet an der rage Fährstraße. Der Bau würde eine völlige währen sich auch wegen des Umleitungs- Travemünder Allee eine neue Sporthalle, Umgestaltung des Gustav-Radbruch-Platzes verkehrs durch die gesperrte Drehbrücke. Gesamtkosten 1,175 Mio. Euro, hiervon zur Folge haben. ••• Mit der Verdienstme- Zuwendungen von 400.000 Euro von der daille des Verdienstordens der Bundesrepu- 18. Auch in Lübeck demonstrieren viele Possehl-Stiftung, 100.000 Euro von der blik Deutschland zeichnet Ministerpräsident Menschen gegen den Krieg in Syrien, vor al- Sparkassen-Stiftung. Torsten Albig Heidemarie Vesper (73), die lem für den Kampf der Kurden um Kobane. Vorsitzende des Vereins Lübeck-Hilfe für 28. Das Technikzentrum an der Breiten krebskranke Kinder, aus. Zeitgleich wurden 19. Mit mehr als 3.000 Teilnehmern fin- Straße soll zu einem Haus der Wissenschaft sieben Jugendliche für ihr ehrenamtliches det der Stadtwerkemarathon statt. werden, die Finanzierung von 300.000 Engagement ausgezeichnet (Luis Naber, Euro jährlich soll von den Hochschulen, Jeanette Bartsch, Carina Schmidt, Samuel 20. Auf der A1 beschädigt ein LKW die der IHK und Stiftungen gesichert werden. Kaupp, Katharina Kaupp, Benjamin Gleitz Fußgängerbrücke in Höhe Vorwerk, sie und Marie-Christin Blume). muss abgerissen werden. 30. Im Alter von 76 Jahren verstirbt der Vorsitzende der Inge- und Gerhard-Hille 9. Im Ortsrat Travemünde wird die ak- 21. Im Alter von 71 Jahren verstirbt der Stiftung, Gerhard Hille. ••• Ende Oktober tuelle Planung für die Bebauung des Fi- frühere Rechtsanwalt Fritz Hartmut Kell- waren 10.415 Arbeitslose gemeldet, 2,7 schereihafens vorgestellt, das ursprüng- ner, 1982-1986 Mitglied der Bürgerschaft. Prozent weniger als im Vormonat. Die Arbeitslosenquote ging um 0,2 Prozent zurück. Beim Jobcenter waren 8.249 Ar- beitnehmer arbeitslos gemeldet, 6,5 Pro- zent weniger als im Vormonat.

31. Im Alter von 99 Jahren verstirbt die Frauenärztin und ehemalige Vorsteherin Dr. Theresia Priebe. ••• Die Ortsumgehung Schlutup wird eingeweiht, der Wesloer Weg, der durch das Lauerholz führt, wird gesperrt. ••• Das ehemalige Amtsgericht Bad Schwartau soll zu einem Aktenlager der Staatsanwaltschaft und des Landge- richtes werden. ••• Nach dem andere Woh- nungsbaugesellschaften mit umfangreichen Sanierungen bzw. Neuerrichtungen ihres Wohnungsbestandes in Moisling begonnen haben, will auch die Wohnungsgesellschaft Annington für 2,8 Mio. Euro am Brüder- Frau Dr. Theresia Priebe (rechts) auf einer Feier zu „Vierzig Jahre pro familia“ 2011 Grimm-Ring 170 Wohnungen sanieren.

330 Lübeckische Blätter 2014/19 Ausstellung der Kunstschule „domus arte“: Das Haus der Kunst im Haus des Glaubens 50 Arbeiten der Kunstschule im Dom Ulrike Cravillon-Werner

Die Dozenten der Kunstschule der Ge- und die französischen Kathedralen des le Wolfgram mit Herz und Hirn. Ellen meinnützigen veranstalten alle zwei Jah- Mittelalters, bis hin zur Sixtinischen Ahlmann-Elze zeigt eine Befreiung der re eine gemeinsame Ausstellung. Die 6. Kapelle und weiter zur „Sagrada Fa- Maria im blauen Gewand. Digo Mari Ausstellung im 12 jährigen Bestehen der milia“ Antoni Gaudis in Barcelona, all lässt in ihren Keramikskulpturen viele Einrichtung sollte aufgrund des 225 jähri- die vielen Gotteshäuser wurden über die Assoziationen aufkommen. Die kalli- gen Bestehen der Gemeinnützigen etwas Jahrhunderte zu Schauplätzen, an denen grafische Arbeit von Johann Manzew- Besonderes sein. die kleinen und großen Werke der Ma- ski mit dem Titel: „Vergessen“ zeigt die Möglichst im Stadtkern an einem ler, Bildhauer, Goldschmiede und auch Unendlichkeit des Raumes. Helmut Path schönen für viele Menschen zugänglichen die der Musiker und Komponisten ihre offenbart in den Arbeiten „Glaube, Lie- Ort, sollte die Kunstausstellung im Jubilä- Pracht entfalteten. be, Hoffnung“ dem Betrachter einen re- umsjahr stattfinden. So haben sich die 16 Dozenten der duzierten Zugang zu Unmittelbarem und Kunstschule auf den Weg gemacht, Kunst zu zeigen, die sich verbindet mit der Stät- te, mit Geschichte und den Besuchern. Sie hatten die drei Voraussetzungen im Ge- päck (Freiheit, Erkenntnis, Betrachtung) um ihre Ideen und Vorstellungen in Wer- ken umzusetzen. Susanne Adler und Claus Görtz be- nutzen das Symbol eines Schiffs, das be- sonders heute sehr aktuell ist, um den Be- trachter zu anderen Ufern mit zu nehmen. Barbara Horn-Besch zeigt in ihren sechs Arbeiten „Feuer-Wasser“ die Entstehung des Lebens. Bianca Quint lässt den „Dü- rerhasen“, befreit von seiner alten Rolle als Träger der Angst, unbekümmert durch das alte Gemäuer springen. Fragen zur Wirklichkeit stellt auch das Holzrelief „aNgel“ von Martin Klingel, wenn der vermeintlich rettende Engel leicht schel- misch den Kreuznagel zwischen den Lip- Bianca Quint lässt den „Dürerhasen“ un- pen balanciert. Auf eine sehr haptische Tim Maertens, Lösung (4+1=1), Bronze- bekümmert durch das Gemäuer springen. Weise lässt Kirsten Kögel den Betrachter guss, 100 x100 x 5 cm, 2014 quasi optisch be-greifen, wenn sie in ih- Die 16 beteiligten Künstler nahmen ren Stoffobjekten akustische Wellen ein- Tim Maertens unterstreicht diese Redu- die Idee, im Dom zu Lübeck für einen bettet und damit sichtbar macht. In ihrer zierung in seinen Plastiken „Erinnerung, Monat eine Ausstellung zu zeigen, die schlichten Schönheit wird dies gleichfalls und „Lösung“. Die Arbeit „Rückweg“, sich mit diesem Ort auch auseinander- sichtbar wenn Uta Bettels die Schwin- die in Zusammenarbeit mit Helmut Path setzt, die Atmosphäre auf nimmt und auch gung der Maria Magdalena sich in zart- entstanden ist, führt besonders deutlich die Spiritualität dieser Stätte mit einbe- schimmernden Porzellangefäßen manife- in die Ausstellung ein. Die 26 Tafeln mit zieht, begeistert auf. stieren lässt. ausgewählten Worten von Frauen und Am 2. November um 12.15 Uhr „do- Auch die stille Malerei von Martin Männern der letzten 2500 Jahre in Korre- mus arte“ durch Björn Engholm und dem Gosch begibt sich auf die Spuren einer lation zu den 26 Wirbelknochen der Wir- Direktor der Gemeinnützigen, Titus Heldt, Gemeinschaft. Die Annäherung an den belsäule ist speziell für diese Ausstellung bei fast vollem „Haus“ eröffnet. jahrhundertealten Brauch der Hunger- im Dom entstanden. Das Hinauf- und Der gefundene Titel: „domus arte“ tücher vor dem Altarraum nimmt Ursula Hinabschreiten entlang der Tafeln darf spricht schon für sich. Das Haus der Cravillon-Werner in ihrem zweiteiligen ausdrücklich als ein spiritueller Akt er- Kunst im Haus des Glaubens. Die Tem- Werk „ars velum“ auf, ein Hungertuch lebt werden. pel und Kirchen zeigen sich als Hort der für die Kunst. Die Fragen nach Schein, So entstand ein Streben zur Einheit – Künste, schon seit die Menschen began- Schönheit und Wirklichkeit klingen dieses stellen die 16 Künstler in den 50 nen, aus Höhlenkammern heilige Stätten an unter dem „Seehimmel“ von Gre- spannenden Arbeiten deutlich dar. An zu machen. Von den babylonischen und te Oehmichen. Die Fragestellung nach zwei Abenden wird durch musikalische ägyptischen Tempeln, über die Verbo- Heiligenbildern und Reliquien in einer und literarische Darbietungen der Bogen tene Stadt der chinesischen Gottkaiser protestantischen Kirche stellt Sibil- zur kreativen Einheit gespannt.

Lübeckische Blätter 2014/19 331 Verleihung der Bene Merenti Ehrendenkmünze „Wir bekennen uns zu einer Tradition des bürgerlichen kulturellen Engagements, zu einer stadtgesellschaftlichen Verpflichtung.“ Rede von Bürgermeister Bernd Saxe zur Verleihung der Bene Merenti Ehrendenkmünze an Dr. Christian Dräger am 30. August 2014

Sehr geehrter Herr Dr. Dräger, liebe Freiwillige. Der Bürger – oder die Bürge- 1984 bis 1997 als Vorstandsvorsitzender Familie Dräger, meine sehr geehrten Da- rin −, der sich als solcher um seine Stadt der Drägerwerk AG, bis 2005 als stellver- men und Herren, verdient macht, weil es ihm ein Bedürfnis, tretender Aufsichtsratsvorsitzender und schön, dass Sie so zahlreich ins Rat- weil ihm das Gemeinwesen am Herzen bis zum letzten Jahr als Vorsitzender der haus gekommen sind. liegt, weil er diese Stadt liebt. Dräger Stiftung. Orden waren Hansestädtern immer Heute ehren wir mit der Verleihung Ich erzähle dies vor allem aus einem eher suspekt. Das ging sogar soweit, dass der „Bene Merenti“-Münze einen solchen Grund: Sein ehrenamtliches Eintreten für Hamburg, Bremen und Lübeck nicht nur Liebhaber unserer Stadt, einen Gönner, diese Stadt in einer Breite und Intensität, selbst keine solchen Ehrenbezeigungen Freund und Förderer, ohne den Lübeck als wie sie in meinen Augen nahezu ohne ausgaben, sondern ihren Bürgern sogar Stadt, und das meint natürlich vor allem Beispiel ist − das fand vor diesem Hin- die Annahme von dritter Seite verboten. als Kulturstadt, nicht den Ruf hätte, den tergrund statt. Es fand statt neben einer Vor allem tragbare und damit sichtbare sie heute allenthalben hat. Wir ehren Sie, „hauptberuflichen“ Tätigkeit, die überaus Ehrenzeichen waren als unziemliche Her- sehr geehrter Herr Dr. Dräger. anspruchsvoll, kräftezehrend und zeitin- aushebung des Einzelnen aus der Masse tensiv zu nennen sicher nicht übertrieben verpönt. Dennoch gab es auch unter Han- ist. seaten das Bedürfnis – und immer wieder In einer solchen Laudatio kann es auch gute Gründe – besondere Verdienste nicht darum gehen, buchhalterisch al- und Leistungen Einzelner durch Zeremo- les aufzulisten, was Dr. Christian Dräger nien und Ehrengaben zu würdigen. Im 16. Gutes für diese Stadt getan hat. Die Zeit und 17. Jahrhundert diente als Ordenser- würde dann nicht reichen und im reinen satz nicht selten die Übereignung größerer Aufzählen von Fakten lässt sich das Wir- Mengen guten Weines. Auch eine schöne ken des zu Ehrenden auch gar nicht fas- Idee, die allerdings mit dem Makel ver- sen. Und zwar aus einem Grund: So groß sehen war, dass der zweckentsprechende und gut die Taten waren, so ist es doch Gebrauch der Ehrengabe ihrer Vernich- vor allem der Geist, der hinter diesen Ta- tung gleichkam, in heutigen Worten: Die- ten steht, aus dem sich das Engagement ser Form der Dankesbezeugung mangelte in den vergangenen Jahrzehnten gespeist es an Nachhaltigkeit. Nach einigem Hin hat. Dieser Geist aber resultiert aus einer und Her, das nachzuerzählen hier den großen Liebe zu Lübeck, zu Ihrer Stadt, Rahmen sprengen würde, beschloss die wie man wohl ohne Übertreibung sagen Stadtregierung, die damals noch die schö- kann. Nun ist hier nicht der Ort und die ne Bezeichnung „der Hohe Senat“ trug, Zeit, um über die Liebe zu philosophieren. die Einführung einer „Goldenen Ehren- Nur so viel: Es soll schon vorgekommen denkmünze Bene Merenti“ – dem Wohl- seien, dass Liebende zu Irrationalität, zu verdienten. Selbstvergessenheit und Unüberlegtheit Bis 1933 − also in ca. 100 Jahren − Aber lassen Sie mich zu Beginn eini- geneigt haben. wurde sie 43-mal verliehen, darunter in ge äußere Fakten sagen: Christian Drä- Hier haben wir es mit einer Liebe zu fast der Hälfte der Fälle an Bürgermeister ger wurde, man glaubt es kaum, nicht in tun, die mit großer Klugheit und Analytik und Senatoren. Das machen wir heute Lübeck, sondern in Berlin geboren. (13. gepaart ist. nicht mehr. Seit 1945 – in fast 70 Jahren Juli 1934) Nach dem Abitur – er drückte Sie, Herr Dräger, haben sich über Ihre − sind zehn Träger ausgezeichnet worden. die Schulbank übrigens gemeinsam mit Begeisterung für Lübeck nie den Blick auf Die Münze hat sich also rar gemacht, was einem Sohn von Joseph Goebbels, und die Situation trüben lassen. Als Unterneh- ihre Bedeutung unterstreicht. wurde später von Erhard Eppler unterrich- mer mit Weitblick und als homo politicus, Gewürdigt werden Persönlichkeiten, tet − und der Lehre zum Feinmechaniker der Sie – wie ich sehr wohl weiß – auch die sich in herausragender Weise um die studierte er Betriebswirtschaftslehre und sind, haben Sie immer die Spannung gese- Stadt verdient gemacht haben, die weit Wirtschaftsgeschichte in München und hen, in der diese Stadt auch und gerade im überdurchschnittliches Engagement an Wien. 1961 trat er als „Leiter der Betriebs- Kulturellen gelebt hat und lebt. Da ist zum den Tag gelegt haben. Dabei steht in der wirtschaftlichen Abteilung“ in das Famili- einen die große Vergangenheit, die uns Praxis nicht die Leistung im „Brotbe- enunternehmen ein, und er blieb den Drä- nicht nur die unvergleichliche historische ruf“ im Mittelpunkt, sondern das darüber gerwerken – natürlich − bis heute treu: seit Altstadt, sondern etwa auch einen Kunst- Hinausgehende, das Ehrenamtliche und 1970 als Mitglied des Vorstandes und von schatz im St. Annen-Museum beschert

332 Lübeckische Blätter 2014/19 Verleihung der Bene Merenti Ehrendenkmünze hat, der von internationaler Bedeutung ist. wäre zuallererst das Engagement für die Lieblingskünstler, ist mit den meisten „Lübeck 1500 − Kunstmetropole im Ost- Lübecker Museen, vor allem aber für das Blättern in der Sammlung vertreten. seeraum“, so wird im nächsten Jahr eine Museum Behnhaus Drägerhaus. Das mag Und dies alles ist als grandiose Samm- große Ausstellung im St. Annen-Museum auf den ersten Blick nicht überraschend lung nicht nur in Ihren Schränken verblie- und in den Kirchen der Stadt heißen. Und sein, weil es ihr Vater, Dr. Heinrich Dräger ben, denn Sie wollten, dass möglichst vie- es meint ein Doppeltes: Einerseits war war, der ab 1979 dafür sorgte, dass dem le – Bürger ebenso wie Besucher unserer dies die Zeit der höchsten Kunstblüte, durch Carl Georg Heise in den 1920er Stadt – daran teilhaben. Zahlreiche Son- hatte Lübeck hier wahrlich europäisches Jahren des vorigen Jahrhunderts etablier- derausstellungen im Museum Behnhaus Format, andererseits war es aber auch ten Behnhaus, ein zweites Bürgerhaus als Drägerhaus schöpfen aus diesem reichen die Zeit der höchsten politischen und vor Museumsbau an die Seite gestellt wurde, Bestand bzw. knüpfen direkt an ihre Haupt- allem wirtschaftlichen Machtentfaltung das als Drägerhaus inzwischen ein fester werke an. Ja mehr noch: Den Hauptteil Lübecks. Und diese Konstellation lehrt Begriff in der nationalen Museumsszene dieser Sammlung haben Sie inzwischen der uns bis heute: Ohne eine funktionierende geworden ist. Nicht zuletzt auch durch Ihr graphischen Sammlung im Museum Behn- Wirtschaft, so kann man es kurz zusam- Engagement, lieber Herr Dräger. haus Drägerhaus gestiftet. So konnte das menfassen, gibt es auch kein blühendes Aber es wäre zu kurz gegriffen, wenn Behnhaus-Drägerhaus, dessen Sammlung kulturelles Leben. man Ihr Engagement nur auf diesen fa- durch das Werk Friedrich Overbecks einen Ihnen, verehrter Herr Dräger, war das miliären Kontext gegründet sehen würde. wesentlichen Anknüpfungspunkt in der immer klar und ihr jeweiliges aktuelles Da war noch mehr. Denn Sie sind nicht Kunst der Romantik hat, mit den etwa 320 Handeln hat dies immer mit berücksich- nur Förderer und Stifter für die Lübecker Zeichnungen der Sammlung Dräger/Stubbe tigt. Sie haben auf der einen Seite immer Museen, sondern zudem Sammler und eine substantielle Erweiterung seiner Be- gemahnt, auch mich, sich der Verantwor- Kunstkenner. Die zahlreichen Leihgaben stände verzeichnen. Die Lübecker Samm- tung für die Kultur dieser Stadt bewusst und Schenkungen, welche die Kunst- lung ist durch ihre Zustiftung im Bereich zu sein und sich dafür einzusetzen. Dabei sammlungen von Ihnen erhalten haben, Goethezeit/Romantik zu einer der zentralen gehen Sie mit allerbestem Beispiel voran. sind also nicht bloße Erbstücke, kein zu- nationalen Graphiksammlungen geworden. Sie haben auf der anderen Seite aber im- fällig zusammengeführtes Sammelsuri- Dass Lübeck hier einen Bestand hat, um mer auch Verständnis für die aktuelle Si- um, sondern eine mit Sachverstand und den uns viele andere Museen in Deutsch- tuation Lübecks gehabt, Sie haben immer Kennerblick in langen Jahren aufgebaute land und Europa beneiden, ist entscheidend gewusst, in welchem finanziellen Umfeld Sammlung. Ihr Verdienst und dafür ist Lübeck Ihnen zu hier Entscheidungen zu treffen waren. Dies gilt natürlich insbesondere für großem und tiefem Dank verpflichtet. Und sie haben sich engagiert! So ha- die Handzeichnungen des 19. Jahrhun- Einen anderen Bereich will ich nur ben Sie neben ihren beruflichen „Pflich- derts, seit 1971 aufgebaut, unterstützt und kurz streifen. Sie sind nicht nur Sammler ten“ in den vergangenen Jahrzehnten eine gefördert durch Ihren Onkel Wolf Stubbe, von Zeichnungen, sondern auch von Ge- ganze Reihe von ehrenamtlichen Funktio- ehemaliger Leiter des Kupferstichkabi- mälden. Das haben Sie bisher in der Öf- nen übernommen: netts der Hamburger Kunsthalle. Er war fentlichkeit sehr zurückhaltend kommu- es, der Sie als Jugendlicher an die Kunst niziert und ich will das selbstverständlich − Sie haben 1980 zusammen mit an- der Zeichnung herangeführt hat, der eine respektieren. Dennoch sei gesagt, deren Kunstfreunden den „Verein Liebe und Begeisterung bei Ihnen erweckt der Freunde der Museen für Kunst hat, die bis heute ungebrochen ist. Und − dass die Lübecker Museen eine Viel- und Kulturgeschichte der Hansestadt diese Begeisterung hat eine Sammlung zahl von Gemälden von Ihnen als Lübeck“ zur Förderung der Kunst des wachsen lassen, in der sich neben kostba- Schenkung erhalten haben, 20. Jahrhunderts gegründet. Und Sie ren Zeichnungen von Caspar David Fried- − sich weitere Gemälde und Skulpturen sind seit dieser Gründung, also seit rich, Jacob Philipp Hackert, Joseph Anton als Dauerleihgaben in den musealen nunmehr 34 Jahren, auch Vorsitzender Koch, Friedrich Overbeck oder Adolph Sammlungen befinden, dieses Vereins. Menzel auch geradezu epochemachende − und die Museen auch auf Werke, die − Sie haben als Vorsitzender der Dräger- Arbeiten finden. So etwa Julius Schnorr nicht im eigenen Depot verwahrt wer- Stiftung, die in München angesiedelt von Carolsfelds „Italienische Landleute“ den, ein bevorzugtes Ausleihrecht für war und in ihrer Förderung durchaus (Figurenstudien für das Gemälde „Tal Ausstellungen haben. Auch hier ver- international ausgerichtet war, die bei Amalfi“ des befreundeten Ludwig danken wir Ihnen viel. Hansestadt Lübeck immer ganz be- Richter, heute Mu- sonders im Blick gehabt. Heute ist die seum der bildenden Stiftung in Lübeck zuhause – und das Künste Leipzig) ist auch gut so. und Richters Kar- − Seit vielen Jahren bringen Sie Ihre ton „Überfahrt am Wirtschaftskompetenz in die Lübecker Schreckenstein“, Industrie- und Handelskammer ein, die Vorzeichnung seit 1986 als Mitglied des Präsidiums, zu seinem romanti- inzwischen als Ehrenmitglied. schem gleichnami- gem Programmbild, Auch hier aber gilt: Das sind die äu- das sich in der Ga- ßeren Fakten, die es mit dem Geist Ihres lerie Neuer Meister Mäzenatentums zu verbinden gilt. Ich will in Dresden befindet. das an drei Bereichen exemplifizieren: Da Ludwig Richter, Ihr

Lübeckische Blätter 2014/19 333 Verleihung der Bene Merenti Ehrendenkmünze

Schließlich sei ein weiterer Aspekt be- neue notwendige Mischungen hervorzu- Ganz im Sinne Thomas Manns haben Sie tont: Beim Ausbau der Sammlung waren bringen und eine neue, reinere Kristalli- dabei im Blick auf Lübeck immer auch und sind Sie nicht nur wichtigster Geld- sation zu veranlassen, so unentbehrlich ist das gute Alte in den Blick genommen, geber, Sie verstehen es als Geschäftsmann es jedoch ebenfalls, die Krisis zu mildern wohl wissend, dass dies ein städtisches und Kunstkenner auch, weitere potentielle und die totale Zerfliessung zu behindern, Pfund ist, mit dem wir wuchern sollten. Sponsoren für das Museum zu gewinnen damit ein Stock übrig bleibe, ein Kern, Es ist das Alte, das Traditionelle, das heute und bei Ankaufsbestrebungen einzubin- an dem die neue Masse anschließe und in gelegentlich einen Anwalt, einen Fürspre- den. Auch wenn Sie inzwischen vielleicht neuen schönen Formen sich um ihn her cher braucht. nicht mehr ganz so intensiv sammeln, bilde.“ Interessanterweise ist vor wenigen Jah- sondieren sie den Kunstmarkt weiterhin. Thomas Mann bezieht dieses Zitat auf ren in einer von der Lübeck-Travemünde- Dabei kann es sogar passieren, dass Sie sich, auf den Thomas Mann des Jahres Marketinggesellschaft (LTM) in Auftrag den Museumsleitungen Ankäufe für die 1922, der zwar ein konservativer Bürger gegebenen Studie Ihre Sicht von ganz Lübecker Kunstsammlungen vorschlagen aus Lübeck bleibt, sich aber dem Neuen anderer Seite, mit hochmodernen soziolo- − und eine Finanzierungslösung gleich nicht verschließt, sondern sich öffentlich gischen Methoden bestätigt worden. Es ist mitliefern. In solchen Momenten, so habe zur Weimarer Demokratie bekennt. die schöne Stadt, das UNESCO Welterbe ich gehört, sprechen Sie gerne von „unse- Ensemble mit seinen Kirchen, Museen rem Behnhaus“, worin eine klare Identifi- − Er sieht sich ganz dezidiert als eine und Häusern, das den Hauptgrund für ei- kation mit Lübecks Kultur zum Ausdruck Person, die bewahren will, was wert nen Besuch in dieser unserer Stadt abgibt. kommt, ganz im Sinne eines bürgerlichen ist, bewahrt zu werden – der Schutz Als entscheidenden „Treiber“ für einen hanseatischen Selbstverständnisses, ganz des „Kerns“ eben, um mit Novalis zu Besuch bezeichnet man das heutzutage. im Sinne einer Tradition von bürgerli- sprechen. Sie mögen gelächelt haben, als Sie davon chem Kunstsammeln, die in Lübeck ja − Er sieht sich aber auch als eine Person, gehört haben, denn das war für Sie ja nun weit zurückreicht. die sich nicht im Alten, im Altherge- gar nichts Neues, sondern die Bestätigung Während es etwa im Landesmuseum brachten verbarrikadiert, sondern sich des schon immer Gewussten. Aber es mag in Schleswig die Herzöge zu Gottorf wa- offen für Neues zeigt. Sie gefreut haben, dass dies nun auch in ren, die damit eine fürstliche Kunstsamm- − Er sieht sich aber vor allem als eine Per- der öffentlichen Werbung für diese Ihre lung begründeten, die heute die Basis der son, deren ganzer Ehrgeiz darin besteht, Stadt eine Rolle spielen sollte. musealen Arbeit darstellt, waren es in im Laufe der sich vollziehenden Verän- Auch und gerade, weil das Thema Mar- Lübeck seit der Hansezeit die Kaufleute derungen eine kluge Balance zwischen keting für Sie immer ein ganz wichtiges dieser Stadt, die sich neben der politischen dem erhaltenswerten Alten und dem war. Es reicht ja nicht, gute und wichtige und wirtschaftlichen Verantwortung im- notwendigen Neuen zu schaffen. Projekte zu unterstützen, sondern es gilt, mer auch für den kulturellen Glanz ihrer auch dafür Sorge zu tragen, dass Sie einer Stadt verantwortlich fühlten. Genau diese Was hier anklingt, ist eine Fähigkeit, interessierten Öffentlichkeit angemessen Tradition, lieber, verehrter Herr Dräger, die heute immer mehr in den Hintergrund vermittelt wurden. Aus ihrer langjährigen haben Sie in den vergangenen Jahrzehn- gedrängt wird. Was in unserer postmoder- unternehmerischen Erfahrung haben Sie ten fortgeführt. Sie stehen damit an her- nen Welt dominiert, das ist vor allem das hier manchen wichtigen Rat geben kön- ausragender Stelle in einer bürgerlichen Neue, das Sensationelle, das Noch-Nie-Da- nen, wie ich selbst weiß und von mehr als Mäzenatentradition, wie sie so ausgeprägt gewesene. Alles muss immer wieder über- einer Seite gehört habe. nur in Lübeck denkbar ist. boten werden, hat keinen langen Bestand, Bleibt ein letzter wichtiger Bereich: Neben der bildenden Kunst ist es vor sondern zeitigt seine Wirkung für den Au- Die Wissenschaft in Lübeck, die For- allem Thomas Mann, den Sie als Schrift- genblick, hat erst großen Erfolg, wird dann schung an den Museen, an der Stadtbi- steller über alles schätzen. Das hat sich alt, langweilig und muss durch etwas Neues bliothek und am Archiv. Das war Ihnen ausgedrückt in der Unterstützung des ersetzt werden, Event-Kultur eben. immer ganz wichtig, denn Sie wussten nur Buddenbrookhauses und der Deutschen Dagegen gibt es einen kulturkonser- allzu gut, dass viele der wunderbaren Ex- Thomas Mann-Gesellschaft, die ihren Sitz vativen Widerspruch, der das ablehnt, der ponate und Sammlungsobjekte in Lübeck ja ebenfalls in Lübeck hat. Aber Thomas auf den Werten und dem Althergebrachten tote Gegenstände bleiben, wenn sie nicht Mann ist auch in einem ganz anderen Sin- beharrt, der in der radikalen Neuerungsbe- erforscht werden, wenn man kein Wissen ne für uns von Interesse. Irgendjemand hat wegung das Abgleiten in ein kultur- und über ihre Herkunft, ihre Materialität, ihre Thomas Mann einmal einen „fortschritt- niveauloses Agieren sieht. Der sich daher Geschichte hat. Kurz gesagt: Erst wenn lichen Konservativen“ genannt. Und ich aller Veränderung sperrt. man etwas über die Dinge weiß, kann man hoffe, verehrter Herr Dr. Dräger, ich gehe Beide Haltungen sind in ihrer Radi- sie auch angemessen ausstellen und den nicht zu weit, wenn ich sage, dass dies kalität und Einseitigkeit unhaltbar. Sie Menschen etwas dazu erzählen. auch auf Sie in einer gewissen Art und waren − und ich darf wohl sagen: in der Als die Universität zu Lübeck und die Weise zutrifft. Wie das zu verstehen ist, Nachfolge Thomas Manns − immer dar- Hansestadt Lübeck daher im Jahre 2011 das hat Thomas Mann selbst in einem Bild um bemüht, hier einen Mittelweg zu fin- eine gemeinsame Initiative starteten und zusammengefasst. In seiner 1922 gehalte- den, in Gesprächen, durchaus auch in- ein Zentrum für Kulturwissenschaftliche nen Rede „Von deutscher Republik“, in ternen Debatten, dafür zu werben, dass Forschung (ZKFL) gründeten, waren Sie der er sich erstmals öffentlich zur Weima- Lübecks Kultur einen guten Weg in die als „Mann der ersten Stunde“ dabei. Die rer Republik bekennt, zitiert Thoma Mann Zukunft einschlägt, dass eine Verbindung Idee dieses Zentrums ist, dass Universität an einer Stelle Novalis. Der sagt: „So nö- entsteht und wahrnehmbar wird zwischen und die städtischen Institute zusammen- tig es vielleicht ist, dass in gewissen Pe- dem Historischen und Überkommenen gebracht werden, damit mit modernen rioden alles in Fluss gebracht werde, um und dem Zeitgenössischen, dem Neuen. wissenschaftlichen Methoden an den

334 Lübeckische Blätter 2014/19 Verleihung der Bene Merenti Ehrendenkmünze städtischen Sammlungen geforscht wird An der Botschaft, die ich hier und heute den Spardebatten der vergangenen Jah- und beide davon gut haben: Die Universi- anlässlich dieser Preisverleihung vermit- re konnte auch die Kultur nicht ausge- tät, weil sie junge Doktoranden bekommt, teln wollte, würde das allerdings rein gar nommen werden und das mag hier und und die Stadt, weil ihre Schätze endlich nichts ändern. Die Botschaft, sehr verehr- da Befürchtungen geweckt haben, als umfangreicher und tiefer erschlossen ter Herr Dräger, lautet: Die Stadt Lübeck sei sich diese Stadt nicht bewusst, wel- werden, als dies bisher möglich war. Die- ist Ihnen zu sehr großem Dank verpflich- ches kulturelle Erbe sie zu pflegen und se Idee hat Sie von Beginn an fasziniert tet, weil sie sich in den vergangenen an die kommenden Generationen weiter- und Sie haben sofort eine Förderung zu- Jahrzehnten in den unterschiedlichsten zugeben habe. Das ist, und das möchte gesagt. Aber Sie taten dies auf die Ihnen Funktionen aber vor allem als Privatmann ich hier auch Ihnen, sehr verehrter Herr ganz eigene Art und Weise, indem Sie darum gekümmert haben, ihren Glanz zu Dräger sagen, nicht der Fall. Es gibt na- Ihre Förderung an die Stadtbibliothek mehren, indem Sie dazu beigetragen ha- türlich die gegebenen finanziellen Rah- banden, weil Sie wussten, dass hier be- ben, dass ihre kulturelle Substanz erhalten menbedingungen, wer wüsste das besser sonders viele unaufgearbeitete Schätze und vermehrt worden ist. als Sie, aber diese Stadt ist sich ihrer lagerten. Möglich wurde dadurch eine Lassen Sie mich abschließend, ehe Rolle als Kulturstadt auch angesichts Dissertation über Emanuel Geibel und ich Ihnen die Bene Merenti-Münze über- schwieriger finanzieller Bedingungen erreicht wurde damit, dass der immen- reiche, noch einen Aspekt benennen, der bewusst. se Nachlass dieses Dichterstars des 19. mir – auch von Amts wegen − besonders Indem wir Ihnen heute die höch- Jahrhunderts, der weitgehend unbeach- am Herzen liegt: Ich habe davon gespro- ste Auszeichnung Lübecks, die Bene tet in der Bibliothek lagert, erstmals für chen, dass Sie Ihr Engagement für die Merenti-Münze verleihen, bekennen wir die aktuelle Forschung genutzt wird. Die Kultur immer in das wirtschaftliche Um- uns auch zu einer Tradition des bürgerli- Studie steht vor ihrem Abschluß und soll feld dieser Stadt einzuordnen gewusst chen kulturellen Engagements, zu einer im nächsten Jahr als Buch erscheinen. haben. Ihnen war und ist es stets wichtig, stadtgesellschaftlichen Verpflichtung. Die Initiatoren des ZKFLs sind davon nicht nur etwas zu stiften, zu schenken Beide Seiten, die politischen Repräsen- überzeugt, dass dies weitere Forschungen und zu ermöglichen, sondern Sie wollten tanten und die engagierten Bürger sehe an den Lübecker Bibliotheksbeständen damit nachhaltige Wirkung erzielen. Und ich hier miteinander verbunden. Eine auslösen wird. In meinen Augen ist dies Sie haben dies immer als Ergänzung des gute Zukunft wird diese Stadt nur ha- ein besonders gelungenes Beispiel für die städtischen Engagements verstanden. Das ben, wenn diese Zusammenarbeit, auch Nachhaltigkeit Ihrer Förderung, die Sie war für Sie die unverzichtbare Basis und und gerade auf dem Gebiet der Kultur, immer mit im Blick haben. Sie wollten das ermöglichen, was mit den so fortgeführt wird, wie es in Ihrem bei- Meine Damen und Herren, ich bre- „normalen Mitteln“ nicht realisiert wer- spielhaften Engagement deutlich wird. che hier ab. Aber Sie werden mir sicher- den konnte. Seien Sie versichert, verehrter Herr Drä- lich glauben, wenn ich sage: Ich könnte Über diese „normalen“ Mittel“ will ger, wir werden unseren Teil dazu weiter in diesem Sinne noch lange fortfahren. ich ein paar Worte verlieren. Denn bei zuverlässig beitragen.

„Mich bewegt die Sorge, dass wir durch mangelnde Sorgfalt im Umgang mit unserer Kultur uns schuldig machen.“ Sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin, sehr geehrter Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren des Senates, meine Damen und Herren, liebe Freunde,

wenn man etwas älter geworden ist, Die Erwartungen des Herrn Bürger- dann merkt man doch, dass man im Lau- meisters wurden so auf natürliche Weise fe der Jahre von manchen Illusionen hat für mich zu einer Pflicht. Hier stehe ich Abschied nehmen müssen, so auch ich als vor Ihnen, liebe Zuhörer, um zu versuchen einer meiner letzten von dieser, nämlich dieser Pflicht zu genügen. von der Illusion, bei der Feier zukünftiger Als ich damit anfing, darüber nach- Geburtstage werde es für mich keinerlei zudenken, wie denn das zu machen sei, Pflichten mehr geben, jedenfalls nicht au- kam mir der Lieblingsspruch meines ßerhalb der Familie. Vaters in den Sinn. Er stammt von dem Als Sie, sehr geehrter Herr Bürgermei- großen Inder Rabindranath Tagore, vie- ster vor einiger Zeit mir eröffneten, dass le von Ihnen werden ihn kennen: „Ich die Stadt mir in einer kleinen Feierstunde lag und träumte, das Leben sei Freude. heute eine bedeutende Ehre überreichen Ich erwachte und sah, das Leben ward wolle, machten Sie kein Geheimnis dar- Pflicht. Ich tat diese Pflicht und siehe, aus, dass dies möglichst in zeitlicher Nähe die Pflicht ward Freude.“ zu meinem 80. Geburtstag stattfinden sol- Warum ich dieses Zitat an den An- le, und dass es der Tradition dieser Veran- fang stelle? Sowohl die Erfüllung der staltung entspreche, dass der Geehrte am Pflicht, auf die große Ehre, die mir heute Ende ein paar Dankesworte sage. widerfahren ist, etwas zu sagen, ebenso

Lübeckische Blätter 2014/19 335 Verleihung der Bene Merenti Ehrendenkmünze wie auch die Erkenntnis, wie sehr dieser jahrhundertalten Tradition. Alle zeigten nicht durch Vorträge oder Ermahnungen, Spruch gleichsam die Begleitmusik war mir durch ihr Beispiel, dass es eben nicht sondern nur durch Befolgung der päd- für alle beruflichen und sonstigen Tätig- genügt, sich nur um den Broterwerb und agogischen Grundregel wie Pestalozzi sie keiten in meinem Leben. Beides erfüllte um das Vermehren des eigenen Wissens formuliert hat: Erziehung ist Beispiel und mich mit Freude. Also machte ich mich und Könnens zu kümmern. Es muss etwas Liebe. So haben meine Vorbilder mich ge- an die Arbeit, darüber nachzudenken, was anderes hinzukommen. Das sich Küm- prägt. Ohne dass ich es merkte, haben sie man denn bei solchem Anlass sagen könn- mern um die Gemeinschaft, in der wir le- dadurch mir die Verpflichtung auferlegt, te. Zwei Fragen tauchten sofort vor mei- ben, das sich Kümmern um die Menschen, ihnen nachzuleben. nen Augen auf, die eine lautet: Was heißt die uns umgeben. All diese Beispiele wa- So war nichts natürlicher, als dass ich eigentlich bene merenti? Was steht hinter ren eine Quelle für den Antrieb, es ihnen das weitergab, was ich empfangen hatte. diesem Wort hinter dem Namen dieser gleich zu tun. Hätte ich das nicht getan, hätte ich das Auszeichnung? Und die zweite Frage war: Die andere war für mich die Begeg- Gefühl gehabt, meinen Vorbildern untreu Was hat mich immer bewegt, das zu tun, nung mit Kunst. Im elterlichen Bücher- zu werden. Ich fühlte mich gleichsam ver- für das ich heute geehrt werde? Diese Ar- schrank gab es eine ganze Abteilung pflichtet, ihrem Vorbild nachzuleben. beit war ja in jedem Falle freiwillig. Trotz- hervorragender Kunstbücher, in denen zu Auch an einer anderen uns vertrauten dem, beim Nachdenken darüber tauchte lesen, mir immer mehr Vergnügen bereite, Stelle taucht das Wort Pflicht auf. In sei- immer wieder das Wort Pflicht auf. insbesondere nach einem frühen Besuch ner berühmten Lübecker Rede von 1926, Doch zurück zur ersten Frage: Was der Kunsthalle in Hamburg unter der An- „Lübeck als geistige Lebensform“, spricht heißt eigentlich bene merenti? Die einfa- leitung von Wolf Stubbe, meinem Onkel, Thomas Mann zum Thema des Ethischen che Übersetzung ist ja wohl „dem Wohl- dem Leiter des renommierten Hambur- in unserem Tun. Dies sei der Sinn für Le- verdienten“. Wir machen sicher auch kei- ger Kupferstichkabinetts. In der großel- benspflichten, so sagt er, ohne den über- nen Fehler, wenn wir einfach sagen: „für terlichen Wohnung hingen nicht nur die haupt der Trieb zum produktiven Beitrag Verdienste“. In den Worten „Verdienst“, hervorragenden Stiche der Jahresgaben an das Leben und an die Entwicklung „verdienen“, steckt ja das schöne deutsche des schleswig-holsteinischen Kunstver- fehlt. Wort „dienen“. Im deutschen Wörterbuch eins, sondern ebenso die ausgezeichneten Ist das nicht eine hoch elegante Um- der Brüder Grimm kann man 14 verschie- Hanfstengl-Drucke von Gemälden Caspar schreibung der Grimm’schen Definition dene Bedeutungen für „dienen“ finden. David Friedrichs und von Ludwig Richter. von Dienen? Nützliches Tun aus Unver- Wir alle ahnen, dass es verschiedene For- Großmutter Elfriede Dräger war der pflichtung. Auch wenn wir keine Pflich- men von Dienen gibt. Von dem Dienen erste Mensch, der mit mir zusammen in ten haben, noch nicht oder nicht mehr, was des Knechtes für seinen Herrn bis hin zu eine Oper gegangen ist. Unvergesslich bleibt, ist der Sinn für Lebenspflichten als dem Dienen in einer bestimmten Einheit der „Wildschütz“ hier im Lübecker Thea- unser Trieb zum produktiven Beitrag an irgendeiner Armee bis zur berühmten Fra- ter, ich glaube ich war 15. Dies war der das Leben. Dieser Trieb kann auch darin ge in Zuckmayers Hauptmann von Köpe- Anfang meiner Begeisterung für und der bestehen, etwas zu verhindern von dem nick: „Haben Sie gedient?“ Liebe zum Lübecker Theater. Auch auf ei- wir überzeugt sind, dass es – sollte es rea- Die vierte Bedeutung im Grimm’schen nem ganz anderen Gebiet war Großmutter lisiert werden – Lübeck und seiner Kultur Wörterbuch ist wohl hier die Zutreffen- Elfriede für mich von großer Bedeutung. schaden wird. de. Dort steht nämlich: „Dienen, das ist Sie war eine hervorragende Zeichnerin Zurückblickend auf das bisher Gesag- wohlwollend, liebreich, hilfreich gefällig und Aquarellistin. Ich durfte ihr Schüler te, muss ich erkennen: Die Tätigkeit, für sich erweisen ohne dazu verpflichtet zu sein und genoss einen erstklassigen Un- die ich heute geehrt werde, bestand aus sein.“ Diese Art von Dienen fasst Wilhelm terricht. Das fing mit dem einfachsten Dienen. Aus Dienen an unserer Vaterstadt Grimm genial zusammen in den unnach- Handwerkzeug an. Von ihr lernte ich, dass und den Menschen, die darin leben. Die- ahmlichen Ausdruck: „Dienen aus Unver- man beim Zeichnen den Bleistift niemals ser Dienst war freiwillig! Wie Wilhelm pflichtung“. mit dem Anspitzer, sondern immer nur mit Grimm so schön sagt: „Aus Unverpflich- Dienen aus Unverpflichtung, das ist einem Messer schärfen darf. Sonst wirken tung“. Und trotzdem begründet in Pflicht, vielleicht auch der Schlüssel zur Beant- die Linien tot. nämlich in der Verpflichtung, die ich mir wortung der Frage, die mir bei der Nach- Meine Neigungen zu Gemälden und selbst auferlegt hatte, auferlegen musste, richt von der heutigen Ehrung dauernd Zeichnungen wurden durch diese eher um meinen Vorfahren nicht untreu zu wer- durch den Kopf ging: Was hat Dich ei- handwerkliche, liebevolle Ausbildung zu den. gentlich all die Jahre bewegt, das zu tun, einer Schule des Sehens, die mein Leben Schon vor der heutigen Auszeichnung für das du heute geehrt wirst? Nennen wir bereichert hat. wurde ich dafür belohnt. Das Dienen hat- das ruhig ein Stück innere Motivationsfor- Der Vater beeindruckte mich von te sozusagen einen Verdienst. In einer schung. Was war die Motivation? Was war Kindheit an mit seiner Liebe zur und An- wundervollen Weise, ward die Erfüllung der Antrieb, all dies zu tun, wenn es schon hänglichkeit an seine Vaterstadt Lübeck. der selbstauferlegten Verpflichtung, der keine Pflicht war? Was war es dann? Von der Schönheit dieser Stadt, ihrer Dienst für die Vaterstadt und ihre Men- Die Antwort darauf führt mich zum großartigen Geschichte, nicht nur als schen eine Quelle großer Befriedigung Zentrum dessen, was ich hier sagen möch- Haupt der Hanse, auch in ihrer Bedeutung und der Bereicherung des Lebens. Dies te. Mir wurde klar, wie früher noch nie: für Architektur Kunst und Musik in ganz war die Hauptbelohnung, der Hauptver- Es waren die Menschen, die mich geformt Nord-Europa geriet er immer wieder ins dienst, nämlich Freude und Dankbarkeit haben, die Eltern, beide Großmütter, Leh- Schwärmen. Solche Begeisterung musste für das Privileg, dieser Stadt dienen zu rer, Vorbilder, aber auch meine großarti- die Söhne anstecken. dürfen und dienen zu können. gen Schwiegereltern, das protestantische Vorbilder waren natürlich auch Lehrer Damit wäre ich am Ende dessen, was Pfarrhaus in seiner noch ungebrochenen für mich, aber ohne Ausnahme erzogen sie ich Ihnen gerne sagen wollte. Aber noch

336 Lübeckische Blätter 2014/19 Theaterkritik nicht ganz! Denn wenn wir heute morgen Wie gehen wir heute mit diesem großar- nicht nur gegenüber unseren Vorfahren, von der Lübecker Kultur, ja seiner Kultur- tigen Erbe unserer Vorfahren um? Sorg- sondern noch mehr gegenüber unseren landschaft, gesprochen haben, so darf am fältiger Umgang damit ist das Mindeste, Kindern und Enkeln. Ende ein Hinweis des Mannes, der für die was diese von uns verlangen können. Ge- Möge dieser Apell als Summe des- Arbeit auf diesem Gebiet soeben geehrte nau hier mache ich mir Sorgen, und ich sen, was Sie, liebe Zuhörer heute morgen wurde, nicht fehlen. bin nicht allein. Es ist die Sorge, dass wir gehört haben, Ihnen in Erinnerung blei- Mich bewegt nämlich die Frage, wie durch mangelnde Sorgfalt im Umgang ben. Für Ihr geduldiges Zuhören danke wir in Zukunft mit dieser Kultur umgehen. mit unserer Kultur uns schuldig machen, ich Ihnen.

Großes Theater im Jungen Studio Grandiose „Szenen einer Ehe“ – fantasievoll inszeniert Jürgen-Wolfgang Goette 1973 realisierte der schwedische Filmemacher Ingmar Bergman (Name mit einem „n“) den TV-Mehr- teiler „Szenen einer Ehe“, damals ein großer Erfolg. In seiner Verfilmung ging es Ingmar Bergman um die Geschichte des Dozenten Jo- han (Erland Josephson) und der Scheidungsanwältin Ma- rianne (Liv Ullmann). Dabei greift er auf eigene Erfahrun- gen in Sachen Ehe zurück. Es geht also um die realen Ehen, um die Ehen der beiden fik- tiven Personen, um die Ehe schlechthin. Dabei spielen Liebe und Hass, Treue und Untreue, Ehrlichkeit und Lüge die entscheidenden Rollen. Es geht immer wieder darum, wie Partner mit ihrer Szene im Waschraum des Theaters (Foto: Falk von Traubenberg) Ehe bzw. Partnerschaft „fer- tig“ werden können. Bergman setzt den Schauspieler faszinieren das Publikum. der Nähe der Eheleute im Stück. Diese Akzent darauf, Ängste zu mindern und Sie geben, was sie können. Sie machen Öffnung hilft auch, das Theater in der Ge- zu überwinden. Die „Szenen einer Ehe“ auch deutlich, dass die ehelichen Bande genwart ankommen zu lassen. sind eine radikale filmische Analyse der stärker und zäher als gedacht sind. Man Das Junge Studio hat sich in den letz- Intimität des Zusammenlebens. Ehe ist kann Ehe nicht einfach loswerden. Es gibt ten Jahren zu einem Kleinod entwickelt, eine Hölle, die Partner sind Gefühlsan- in der Aufführung auch gewagte Szenen, es gab spannende Aufführungen. Das alphabeten, die Liebe ist groß. „Ich mag in denen Gewalt beherrschend wird. Ge- Junge Studio gibt den Schauspielern eine dich schrecklich gern.“ Es gibt keine ein- walt hilft ihnen, sich freizuschwimmen. besondere Chance, sich zu zeigen, sich fachen Lösungen. Das wird überzeugend gespielt, aber es seelisch zu entblößen. Man erlebt Schau- Anna Bergmann (Name mit 2 „n“) in- bleibt da ein Fragezeichen, ob nicht eine spieler, auch einmal die „großen“, haut- szenierte jetzt diesen Stoff phantasievoll Grenze des im Theater Machbaren er- nah. Man kann Theaterliebhabern nur für das Junge Studio. In der Lübecker Auf- reicht ist. Insgesamt ist die Lübecker Fas- raten, das Programm des Jungen Studio führung spielt Andreas Hutzel den hin- sung grandios. zu verfolgen und sich Aufführungen die- und hergerissenen Dozenten. Er schreit Pfiffig ist der Einfall, die Szenen der ser kleinen Bühne anzusehen. Hier gibt es seine Wut heraus, er hat Angst. Es ver- Ehe in verschiedenen Räumen des Thea- „großes Theater“. schlägt einem die Sprache, wie er agiert ters zu spielen, die Zuschauer ziehen Das Theater Lübeck eröffnet mit den und spielt. Bravourös agiert auch Sina von Raum zu Raum. Dazu gehören die „Szenen eine Ehe“ auch ein neues Kapitel Kießling. Anfangs ist sie wie gelähmt. Sie Maske, der Waschraum, das Dülfer, das in der Kooperation mit den Nordischen bettelt um einen Aufschub der Trennung, Landschaftszimmer, verschiedene Flure Filmtagen. Die nächste Produktion ist die sie klammert sich an ihren Mann. Sie stei- und der Raum der Jungen Studios. Die deutsche Erstaufführung von Lars von gert dann ihre innere Kraft, sie gestaltet Zuschauer werden „beweglich“ gehalten Triers „Antichrist“. Man will Film und die neu gewonnene Freiheit, sie wandelt und erhalten gleichzeitig Einblicke aus Theater aus den nordischen Ländern mit- sich zu einer selbstbewussten Frau. Beide dem Inneren des Theaters – parallel zu einander verzahnen.

Lübeckische Blätter 2014/19 337 Kritiken: Literatur/Musik

„Aus dem Dunkel komme ich, gänzte: „Was sie `innerlich soll`, schien des Barock stand auf dem Programm. Äu- eine Frau“ ihr bewusst zu sein und hat ihr die Kraft ßerlich traf ein Missgeschick das Konzert verliehen, Beraubung, Einengung, Demü- am frühen Sonntagabend. Morgens näm- Vortrag von Klaus Rainer Goll über tigung und Ausbeutung zu tragen und zu lich war die Heizung im Dom ausgefal- Gertrud Kolmar (1894 – 1943) im „Lit- ertragen.“ Mit ihrer grenzenlosen Sehn- len. „Wir werden umso feuriger spielen“, terärischen Gespräch“ sucht nach Liebe stößt sie immer wieder versprach Rohmeyer; ein Versprechen, an Grenzen. Sehnsuchtserfüllung gibt es das gehalten wurde. Außerdem ließ er bei Jutta Kähler nur in der Dichtung. reinen Orgelwerken die eine oder andere Ein intensiver Blick, ein schmales Ge- Unbeirrt, so Goll, ging Kolmar ihren Wiederholung fort. Viele Musikfreunde sicht, ein Blick, der den Betrachter nicht Weg: „Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß saßen nämlich lange vor Beginn im gro- loslässt. Der Blick des Zuhörers kehrte ich.“ Zu ihren Lebzeiten erschienen nur ßen Gotteshaus. Eintritt frei bedeutet An- immer wieder zu dem Foto Gertrud Kol- drei Gedichtbände, der erste noch von ih- sturm, und viele wollen die besten Plätze mars zurück, das nicht vom Vortrag ab- rem Vater 1927 veröffentlicht, der letzte haben, der Marcussen-Orgel gegenüber. lenkte, sondern in Korrespondenz zu den 1938 unter ihrem Familiennamen Gertrud Mit Georg Friedrich Händels F-Dur-So- Ausführungen Golls trat. Der Schriftstel- Chodziesner veröffentlichte Band „Die nate aus opus 1 begann das Konzert, hier ler Wolf-Dietrich Schnurre hat es einmal Frau und die Tiere“ wurde bald einge- in einer Fassung für Trompete und Orgel. als „Gesicht eines alttestamentarischen stampft. Den aus Lübeck stammenden Trompeter Engels bezeichnet“. Goll lobte die Sprachgewalt Kolmars, Matthias Höfs zu hören, ist immer ein Ge- rückte sie als eine der größten deutschen nuss. Trompete und Orgel waren bestens Lyrikerinnen in die Nähe Annette von aufeinander abgestimmt, musizierten in Droste-Hülshoffs, verglich sie anhand edlem Wettstreit, temporeich im Allegro, ihrer Dichtungen, in denen Wirklichkeit schwingend in der Siciliana. Der Hauptteil und Traum ineinander fließen, mit Else der Kompositionen stammte von Johann Lasker-Schüler. Weltliteratur? Die Spra- Sebastian Bach. Schmetternde Trompe- che manchmal zu preziös-kostbar (Goll tengirlanden, intelligente Phrasierungen sprach von „exotischer Pracht“)? Über- in Bachs Konzert nach Vivaldi (BWV lagert vielleicht das Wissen um das tragi- 978). Immer wieder zeigte Rohmeyer Ge- sche Leben der Dichterin die literarische spür für die stimmige Registerwahl. Die Würdigung? Diese Fragen, die sich beim Orgel durfte durchaus selbstbewusst auf- Zuhören stellten, mögen hier offen blei- trumpfen, passte sich im Miteinander dem ben. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Soloinstrument an. Kolmar auch Lübeck, das Buddenbrook- Abwechslungsreich erklang der Block haus, in das sie sich nicht hinein traute, der Bach’schen Choralbearbeitungen, bei Klaus Rainer Goll verstand es in sei- und Travemünde besuchte – auch diese denen manchmal die Orgel allein zu hören nem Vortrag am 30. Oktober, Betrachtun- Besuche fanden Eingang in ihre Gedichte war, manchmal die Trompete den Can- gen zum kurzen Leben Getrud Kolmars („Haus der Schiffergesellschaft“, „Trave- tus firmus übernahm. Mit Carl Philipp und zu ihrem Werk, an diesem Abend münde“, „Meereswunder“). Emanuel, dem „Hamburger Bach“, kam standen ihre Lyrik, aber auch ihre Briefe Besonders nachdrücklich werden besondere Eleganz ins Konzert, bei Gott- an die emigrierte Schwester im Mittel- den Zuhörern die Gedichte Gertrud Kol- fried Heinrich Stölzel, einem Zeitgenos- punkt, auf überzeugende Weise mitein- mars in Erinnerung bleiben, die Goll zum sen Bachs und Händels, Weltläufigkeit. ander zu verknüpfen. „Aus dem Dunkel Schluss seines Vortrages verlas. Dem Sog Das nächste Benefizkonzert unter dem komme ich“ – dieses Zitat Kolmars zog der Sprachbilder konnte man sich nicht Motto „Faszination Schnitger-Orgel“ ist sich leitmotivartig durch den Vortrag. Das entziehen. Es war ganz im Sinne aller für den zweiten Advent (7. Dezember) Dunkel, dazu gehören die Abtreibung, die Anwesenden, den intensiven Eindruck, vorgesehen. Konrad Dittrich sie niemals überwand, der immer enger den Klaus Rainer Golls Vortrag vermit- werdende Lebensraum, der verordnete telt hatte, nicht durch Fragen in einer Ge- Ausgewogen − Jubiläumskon- Verkauf der elterlichen Villa 1938, der sprächsrunde zu zerstören. So erscheint es zert des Vereins Neue Musik Umzug in ein „Judenhaus“, die Deportati- sinnvoll, den Dank an Goll damit zu ver- im Ostseeraum on des von ihr hingebungsvoll gepflegten binden, am Schluss Gertrud Kolmar selbst Vaters 1942 nach Theresienstadt, zynisch zu Wort kommen lassen: Obwohl die Sieben eine asymme- als „Altensiedlung“ bezeichnet, das Ge- trische, sogar eine Primzahl ist, und der fühl der Fremdheit, der wachsenden Isola- „Du hältst mich in den Händen ganz und gar. Zodiak normalerweise keine musikali- tion, die Zwangsarbeit in einer Fabrik und Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt sche Bedeutung hat, firmierte das Jubilä- letztlich die Deportation nach Auschwitz In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht; umskonzert des Vereins Neue Musik im – in diesem Dunkel verliert sich ihre Spur. Denn sieh, du blätterst einen Menschen um.“ Ostseeraum unter dem Libra- oder Waa- Bewegend und manchmal auch befremd- ge-Zeichen. Dafür gibt es zwei Gründe: lich für den Zuhörer steht dem gegenüber Benefiz pro Arp Schnitger Zum einen waren einige der Ausführen- die Haltung Gertrud Kolmars, ihr Schick- Wieder ein kleiner Schritt auf dem den in diesem Sternzeichen geboren, zum sal, mit bewundernswerter Kraft auf sich Wege zum großen „Projekt Schnitger- anderen, entscheidender, stand „Libra“ zu nehmen. „So will ich auch unter mein Orgel“. Domorganist Hartmut Rohmeyer (1973) vom dänischen Nestor zeitgenös- Schicksal treten“, zitierte Goll aus einem hatte zu einem Benefizkonzert geladen. sischer Komposition Per Nørgård auf dem Brief Kolmars an ihre Schwester und er- Musik für Orgel und Trompete aus Zeiten Programm. Ein Duo zum gleichnamigen

338 Lübeckische Blätter 2014/14 Musikkritik

Gedicht von Rudolf Steiner, dessen Ge- 1731, einem Sonntag, der nur alle Jubel- erfreute mit schlankem Tenor, mit einem sangspart, solistisch umrahmt von Mirco jahre vorkommt, und zwar dann, wenn der angenehmen, nicht zu starkem Vibrato. Oldigs mit lyrischem Gitarren-Pre- und Ostertermin sehr früh liegt, zwischen dem Nach langem Schweigen dankte freneti- Postludio, der Tenor David Fankhauser 22. und 26. März. Das geschah in Bachs scher Beifall der neuen Kantorin und ih- subtil artikulierte und, nomen est omen Amtszeit nur noch einmal, 1742. ren Mitwirkenden. Konrad Dittrich seiner Profession, in einer sehr langen Eine Gelegenheitsarbeit, komponiert Fermate perfekt abschloss. Auf gleichem an einem einzigen Tag und dennoch ein Berichtigung Niveau stellten beide auch „Drei Frag- kleines Meisterwerk – das ist Paul Hinde- Im Heft 18, 8. November, Seite 320, „Die mente nach Hölderlin“ (1958) von Hans miths „Trauermusik“. Der Hintergrund: toten Dichter leben noch“, wurde Larissa Werner Henze dar, wobei der schwierige Am 20. Januar 1936 starb King George Schuchardt als Verfasserin des Textbei- epische Duktus nicht erstarrte, sondern V. von England. Hindemith hielt sich in trages versehentlich nicht genannt. Unser stets elastisch blieb. London auf, verfasste im Auftrag der BBC Redaktionsmitglied Karl Klotz bittet Frau Auf stilistisch anderer Ebene be- eine Gedenkmusik; am 21. Januar. Im Schuchardt um Entschuldigung. wegten sich zwei weitere Vokalwerke: BBC-Konzert vom 22. Januar wurde das „Némulat“ (1999), fünf in Originalspra- Stück aus der Taufe gehoben. Hindemith Lutz Seiler liest aus „Kruso“ che vertonte Gedichte des Ungarn István selber spielte den Solopart. Zum Schluss in der Buchhandlung Hugen- Fábián von Tomi Räisänen aus Finnland, das schlichte, besonders innige Requiem die Bariton Dieter Müller in hörenswerter von Gabriel Fauré. Fauré, Kantor an St. dubel und deutlicher Intonation sang und Matt- Madeleine in Paris, schrieb es zwischen Es war ein absolutes Highlight im Rah- hias Lassen (Klavier) und Anne Buchin dem Tod seines Vaters (1885) und der men der Lesereise um den Preis der „Lite- (Flöte) rhythmisch markant begleiteten. Mutter (1887). Nach der ersten Auffüh- raTour Nord“ 2014/2015. Am 10.Novem- Ebenso das in seriellem Tonsatz geform- rung bei einer Prominentenbestattung ber las Lutz Seiler in der brechend vollen te „Sonett 66“ (1964, nach Shakespeare) fragte der Vikar, der die Trauerfeier leite- Lübecker Buchhandlung Hugendubel aus von Aribert Reimann, das Dieter Müller te, von wem das Werk sei. Fauré outete seinem jüngst bei Suhrkamp, Berlin, er- mit Matthias Lassen unerwartet sinnlich sich als Autor und bekam den Rat, solches schienenen Roman „Kruso“. interpretierte. Mysteriöse Mikromotive künftig zu unterlassen. Ein starker Erzählsog prägt den inter- wendeten Daniel Sorour am Cello und Die Wiedergabe der Bachkantate mit essanten und spannenden Roman, der zur Felix Kroll am Akkordeon beim „Plus ihren markanten, synkopenreichen Rhyth- Wendezeit auf der Insel Hiddensee spielt. III“ (1992) von Jukka Tiensu (Finnland) men machten die begeistert mitgehenden Etliche Abschnitte muten etwas makaber, in funkelnden Kettenreaktionen schnell Chorsänger, die hervorragenden Gesangs- moribund und kafkaesk an. Lutz Seiler, hin und her, sodass die Grenzen zwischen solisten sowie die Mitglieder des Philhar- geboren 1963 in Gera/Thüringen, lebt in Komposition und Improvisation kaum monischen Orchesters zu einem Erlebnis. Wilhelmshorst und Stockholm. Für seine wahrnehmbar waren. Solche Reflexe In der Trauermusik konnte der Bratscher Erzählungen und Gedichtbände erhielt bezog Tomi Räisänen aufs Sternbild der Nicholas Hancox sein Talent unter Be- Seiler u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis südlichen Hemisphäre „Grus“ (Kranich, weis stellen, mit melodischen Teilen und 2007 und für „Kruso“ den Deutschen 2008), und Daniel Sorour konturierte Einwürfen zum satten, anrührenden Strei- Buchpreis 2014, vergeben vom Börsen- mit Felix Kroll dessen antik-mystischen chersatz. Auch dieses Werk hinterließ ei- verein des deutschen Buchhandels. Prof. Glanz durch sublim variierende Timbres. nen nachhaltigen Eindruck. Dr. Hans Wisskirchen moderierte die Soi- Offenbar hat gerade solch ambitioniertes Faurés Requiem verzichtet weitge- ree. Der Autor wurde nach einer regen und zugleich ausgewogenes Repertoire hend auf großen Gestus und äußeren Ef- Diskussion mit lang anhaltendem Beifall eine starke Anziehungskraft entwickelt, fekt. Vielleicht hatte das anno 1888 den bedacht. Lutz Gallinat denn am 19. Oktober 2014 hatte der klei- Vikar verdrossen, dass die Komposition ne Saal in der Essigfabrik Lübeck fast im Dies Irae auf das Androhen von Höl- nicht genügend Plätze, um alle Besucher le und Verdammnis verzichtet, damit der Redaktionsschluss aufzunehmen. Ein schöner Erfolg für die Kirche ein Druckmittel nahm. Das weit für das am 6. Dezember erscheinende Initiative Neue Musik im Ostseeraum und gefächerte Stimmengeflecht entfaltete Heft 20 der Lübeckischen Blätter ist am auch eine Aufforderung, weiterhin als Fo- bewegende Momente. Die Mitglieder des Donnerstag, 27. November 2014. rum des Kulturkontakts Programme die- Philharmonischen Orchesters mit Adrian ser hervorragenden Qualität anzubieten. Illescu als Solist und Konzertmeister wa- Hans-Dieter Grünefeld ren zupackend dabei. Natalia Uzhvi fügte sich von der Hauptorgel her gut ein. Große Totengedenken und Paradieses- Erfahrungen auf Opernbühnen und Kon- hoffnung zertpodien haben die Gesangssolisten. Die dänische Sopranistin Berit Barfred Nicht des Mauerfalls, sondern der Op- Jensen sang zum Beispiel das „Pie Jesu“ fer der Kriege gedachte Kantorin Ulrike mit glockenreinem Ton. Gerard Quinn Gast in einem Konzert am 8. November konnte Vielseitigkeit zeigen. Er hatte die in St. Jakobi. Drei Werke mit „persönli- Basspartie der Bachkantate und die Bari- cher Geschichte“ standen auf dem Pro- tonsoli bei Fauré übernommen, gestaltete gramm. Johann Sebastian Bach schrieb überzeugend, mit viel Volumen, ohne in seine Kantate „Wachet auf, ruft uns die den Duetten bei Bach die junge Soprani- Stimme“ zum 27. Sonntag nach Trinitatis stin an die Wand zu drücken. Daniel Jenz

Lübeckische Blätter 2014/14 339 Vortrag

Marco Mauerer, Stipendiat am Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschungen, referierte im Dienstags- vortrag am 23. September Hans Blumenberg: Die Arbeit am Mythos Günter Kohfeldt

dem Gesichtspunkt essentieller Eigen- schaften“. Nach vielen erfolglosen Versuchen der Menschwerdung sei es schließlich „die Entdeckung und Erfindung des Handelns auf Distanz“ gewesen, die das Überleben ermöglichte. Hier beginne die eigentliche Geschichte des Menschen, die zugleich die Geschichte seiner Kultur sei. Er schreibt: „Das Prinzip der Menschwer- dung ist die Gewinnung der Distanz, auf die die Wirklichkeit im wörtlichen Sin- ne vom Leibe gehalten wird. Sich dieses wie jenes vom Leibe halten zu können, das ist die elementare Fähigkeit des Men- schen. Sie führt vom ersten Abwehrakt durch Steinwurf bis hin zum Begriff, der die Welt in der Schreibstube versammelt, ohne daß ein Sandkorn von ihr gegenwär- tig sein müßte.“ Hans Blumenberg, Antwerpen 1956 (Foto: privat) Das Tier, das trotzdem überlebt. Seit einigen Jahren widmet sich neben erlebte ein stringent aufgebautes, diffe- Diese Formulierungen stehen in un- anderen Institutionen auch die Gemein- renziert und pointiert formuliertes Ge- mittelbarem Zusammenhang mit Blumen- nützige der Aufgabe, Leben und Werk dankengebäude, in dem die Fundamente bergs berühmter Formel vom „Absolutis- des Philosophen Hans Blumenberg (1920 europäischer Kultur mit ihrer bis heute mus der Wirklichkeit“. Damit ist zusam- − 1996) einer interessierten Öffentlich- wirksamen Tragkraft ans Licht gehoben mengefasst die absolute Bedrohtheit des keit bekannt zu machen. Blumenberg, ein wurden. Menschen, „die totale Indifferenz der Welt Lübecker, hat Kindheit und Jugendjahre gegenüber dem Menschen und seinen Be- hier verbracht. Als Schüler mit glänzen- Wie ist der Mensch möglich? dürfnissen“. Sie wurde erfahren als unge- den Leistungen wurde er am Katharine- Marco Mauerer wollte zeigen, was gliedertes Zeitkontinuum, als leerer Raum um von Altersgenossen und Lehrkräften Blumenbergs Werk „im Innersten zusam- von unerschlossener Weite, aus der jeder- demütigend behandelt, weil seine Mutter menhält“. Dafür ist der Begriff des My- zeit eine Bedrohung auftauchen kann. Al- aus einer jüdischen Familie stammte. Ein thos eminent geeignet. Um seine Funkti- les war unbekannt, unvertraut, unbenannt. Studium war nur mit Unterbrechungen on zu verstehen, erweist sich ein Blick auf Hinzu kommt, dass der Mensch sich möglich, er musste untertauchen. Nach Blumenbergs Anthropologie als hilfreich. nun seiner Sterblichkeit bewusst wurde. der Promotion 1947 in Kiel, habilitierte er Die bekannte Antithese von Mythos Durch diese Lage wurde er traumatisiert sich 1950 ebenfalls dort. Bis 1985 lehrte als zentralem Denkbild der Alten und und musste versuchen, seine Defizite zu er an verschiedenen Universitäten, wurde Vernunft als dem Konzept der Moder- kompensieren. „Denn“, so formulierte ausgezeichnet und hinterließ ein riesiges ne hat für Blumenberg keine Relevanz; Mauerer, „die Anthropogenese ist gleich- Werk, das bisher nur teilweise veröffent- deshalb ist die Frage nach seinem Men- zeitig eine Pathogenese.“ licht ist. Er ist zweifellos einer der her- schenbild aufschlussreich. „Blumenberg Der Mensch, „das Tier, das trotzdem ausragenden Denker der Nachkriegszeit. bezieht... eine ganz klare Position...: Der lebt“, wie Blumenberg konstatiert, musste Am 23. September hielt der junge Pro- Mensch ist ganz eindeutig ein biologi- in dieser aussichtslosen Lage die biologi- movend Marco Mauerer aus Hamburg in sches Mängelwesen, das nur aufgrund sche Evolution durch die instrumentelle der Gemeinnützigen einen Vortrag über von bestimmten Kompensationsleistun- Evolution ersetzen, er machte den Schritt „Hans Blumenberg und die Arbeit am gen überleben kann“, so fasste Mauerer von der Natur zur Kultur. „Die mensch- Mythos“. Er arbeitet im Rahmen eines das Ergebnis eines historischen Abrisses liche Kultur ist eine von der Leibesgren- Promotionsstipendiums über Blumenberg zu diesem Gegensatz zusammen. Statt zu ze aus weit vorgeschobene Frontlinie der und zeigte sich dankbar dafür, in dessen fragen: „Was ist der Mensch?“ verändert Auseinandersetzung mit der Natur – auch Heimatstadt über ihn sprechen zu dürfen. Blumenberg den Schwerpunkt zu: „Wie der Abblendung ihrer Übermacht durch Für seinen Vortrag hatte er das Le- ist der Mensch möglich?“ Damit unter- den mythischen Prospekt, an der der Zu- bensthema im Werk Blumenbergs ge- sucht er den Menschen „unter dem As- griff der Selektion auf Physis und Psyche wählt. Die kleine Schar der Zuhörer pekt seiner Leistungen und nicht unter des Menschen abgefangen wird.“

340 Lübeckische Blätter 2014/19 www.sparkasse-luebeck.de Vortrag zu Hans Blumenberg

Vertreibung der Furcht Mythos und Abhängigkeit schen, als solche zeigt er auch Zeus seine Grenzen auf. Diese Analyse stammt aus Blumen- Zur humanen Struktur des Mythos Und er kann immer wieder Identifikati- bergs erster großer Monographie, der gehöre auch seine Umwegigkeit. Im Ver- onsfigur werden, wie der junge Goethe be- 1979 erschienenen „Arbeit am Mythos“. gleich zur monotheistischen Religion bie- weist. Jedes Zeitalter betone am einzelnen Darin untersucht er die Maßnahmen, die te der antike Polytheismus Freiheit. Im Mythologem, was ihm jeweils wichtig sei der Mensch zum Aufbau der Abwehr ersteren realisiere sich geradezu der Abso- und treibe dabei weitere Prägnanzen hervor. ergreift. Er erkennt in ihrer Genese eine lutismus der Wirklichkeit in dem Gefühl strukturelle Kontinuität vom Organi- schlechthinniger Abhängigkeit, das den Mythos als Form der schen zum Geistigen: Die Entstehung Wunsch impliziere, die Übermacht möge Vernünftigkeit des Bewusstseins formiert sich gerade in stillhalten oder zumindest mit sich selbst der Ausbildung von Abwehrleistungen. beschäftigt bleiben. Die griechischen Göt- Für Blumenberg gibt es keinen Wider- Infolge der radikalen Bedrohtheit des ter interessieren sich dagegen vielmehr für spruch zwischen Vernunft und Mythos. organischen Systems entwickelt sich das ihre eigenen Händel und werden überdies Dieser selbst ist eine Form der Vernünf- Bewusstsein als „idealistischer Triumph im Sinne der Gewaltenteilung von ihren tigkeit. Die Ergebnisse der wissenschaftli- der Natur über die Natur“. Kollegen eingeschränkt. Der Mythos chen Vernunft überfordern den Einzelnen Von zentraler Bedeutung innerhalb schaffe Vertrautheitsbedingungen durch mit der schieren Fülle ihrer Hervorbrin- des Abwehrsystems ist der Mythos. seine menschlichen Geschichten von den gungen. Er kann ihre Ergebnisse nicht Seine Leistungen, seine „anthropologi- Göttern und damit durch die „Herabset- sinnvoll in sein eigenes Leben integrie- sche Funktionalität“ wurde von Marco zung ihres Machtpegels“. ren. Die Welt als theoretisches Faktum ist Mauerer nun im Einzelnen vorgestellt. nicht kompatibel mit der für den Einzel- „Der Mythos“, so schreibt Blumenberg, Humanisierung der Welt nen bedeutsamen Lebenswelt. „repräsentiert eine Welt von Geschich- Blumenberg stellt fest: „Wir tragen ten, die den Standpunkt des Hörers in der Der Mythos sei also ein Verfahren der schwer an der Masse des Wissens, die Zeit derart lokalisiert, daß auf ihn hin der Humanisierung der Welt, er gestalte eine niemand gehört, die keinem mehr das Be- Fundus des Ungeheuerlichen und Uner- beruhigte Weltordnung mit der Aura der wußtsein vermittelt, es sei diese Art von träglichen abnimmt...der Mythos erzählt Liberalität. Wie aber muss man sich die Wahrheit, die uns bei irgendeinem Grad von der Veränderung der Gestalten zum Entstehung der einzelnen Mythen vorstel- ihrer Vermehrung frei machen würde.“ Menschlichen hin...Die Welt verliert an len? Wer hat eine Figur wie Prometheus Mythen erklären nichts; dennoch ha- Ungeheuern. Sie wird ...freundlicher... erfunden? ben sie sich mit dem Erscheinen der Wis- Geschichten werden erzählt, um etwas zu Hier betont Blumenberg die Selektions- senschaft nicht erledigt. Die „Arbeit am vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht leistung der mündlichen Tradition: Was vor Stoff der Lebenswelt“ endet nicht, der unwichtigsten Fall: die Zeit. Sonst und dem Gericht der Zuhörer Bestand hatte, was Einzelne betreibt sie, um Bedeutsamkeit, Oliver Saggau, Vorstand Oliver Stüven, Leiter schwerer wiegend: die Furcht.“ also weiter erzählt wurde, das hatte offen- um Sinn in den ungeordneten Elementen Durch Namengebung wird die Welt sichtlich seine Funktion erfüllt. In diesem der Erfahrung zu finden. vertrauter, gewinnt Gestalt, durch prä- „Darwinismus der Verbalität“ war Mythos Die vitale Leistung des Mythos bzw. Matthias Lehmann, stellv. Leiter gnante Orte wird die ungeordnete Weite immer schon in die Rezeption übergegan- des Mythisierens bei diesem Bemühen gegliedert. Durch die Struktur der Göt- gen, lange bevor am Ende die Geschichte zeigte der Referent abschließend an ak- termythen, die den Weg vom Chaos des aufgeschrieben wurde. tuellen Beispielen: an neuen Mythen der Anfangs zur Ordnung des Kosmos zei- Beispiele dafür sind unsterbliche Figu- Philosophie oder Psychoanalyse, an Er- gen, rückt die Furcht vor göttlicher Ge- ren wie die des Prometheus: Als Überbrin- eignissen aus der NS-Zeit und ihrer Ver- walt in den Hintergrund, wird aber nicht ger des Feuers ist er die Mythos gewordene arbeitung, an schöner Literatur sowie an vergessen. Gestalt der kulturellen Existenz des Men- Deutungen der Person Blumenbergs. Kompetenz, Nähe und Fairness – Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit Ihr Anspruch an unsere Vermögensberatung – Direktor: Titus Jochen Heldt Stellvertretende Direktorin: Antje Peters-Hirt Königstraße 5, 23552 Lübeck, Tel.: 7 54 54, Telefax 79 63 54, unser Selbstverständnis. Büro montags bis freitags ab 9 Uhr geöffnet E-Mail: [email protected] Bankkonto: Sparkasse zu Lübeck Nr. 1-000017 (BLZ 230 501 01) Internetadresse: www.die-gemeinnuetzige.de

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