Der Deutsch-Französische Waffenstillstandsvertrag 1940 Und Das Schicksal Der Sozialdemokratischen Exilpolitiker Rudolf Breitscheid Und Rudolf Hilferding
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REGINA M. DELACOR „AUSLIEFERUNG AUF VERLANGEN"? Der deutsch-französische Waffenstillstandsvertrag 1940 und das Schicksal der sozialdemokratischen Exilpolitiker Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding Der Abschluß des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrags vom 22. Juni 1940 bildete die Grundlage für die Entwicklung der Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten in den vier „dunklen" Jahren der Okkupation. Der Vertrag markierte den Beginn der Kollaboration, die im Oktober 1940 mit dem Treffen von Adolf Hitler und Philippe Pétain in Montoire besiegelt werden sollte. Denn bereits im Sommer 1940 wurden die Weichen gestellt, die in diese Richtung deuteten. Ihren sichtbaren Ausdruck fand die politische Zusammenarbeit im legendären Artikel 19 des Waffen stillstandsvertrags, der Frankreich verpflichtete, namhaft gemachte Personen auf Ver langen auszuliefern. Französische Einwände gegen die demütigende Klausel stießen bei den deutschen Machthabern auf kategorische Ablehnung. Der Auslieferungsfrage maß die NS-Führungsspitze eine derartige Bedeutung bei, daß sie nicht auf den Ab schluß eines Friedensvertrags mit Frankreich warten, sondern die Auslieferungsver pflichtung im Waffenstillstandsvertrag verankert wissen wollte. Die französische Sei te erkannte in den Vorverhandlungen der Vertragsunterzeichnung sehr deutlich, daß die Aufnahme der Auslieferungsverpflichtung in den Vertragstext eine präjudizieren- de Einschränkung des französischen Asylrechts bedeutete. Durch die vertragliche Verpflichtung wurde die Regierung des freien Teils Frankreichs in die Repressions politik der Besatzer eingespannt. Mit dem Instrumentarium des Auslieferungspara graphen erhielt die Gestapo Zugriff auf ein Gebiet, das ihr ansonsten - zumindest bis zur totalen Besetzung Frankreichs im November 1942 - verschlossen geblieben wäre. Wie die Affäre um die Auslieferung der Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding offenbart, glitten die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten nicht zu einem Diktatverhältnis ab, sondern bestanden auf beiden Seiten Spielräume, die man nutzen oder ungenutzt verstreichen lassen konnte. Aufgrund der Uneinigkeit des autoritären Vichy-Regimes verstrickten sich die französischen Akteure bald in Handlangerdienste für den NS-Staat. Der anfängliche Widerstand gegen den kompromittierenden Auslieferungsparagraphen begann sich bereits nach wenigen Monaten der Besatzungszeit in eine institutionalisierte Zusammenarbeit der deutschen und französischen Polizei zu verwandeln. Vichy nutzte den Artikel 19 des Waffenstillstandsvertrags, um sowohl aus opportunistischem Arrangement mit VfZ 47 (1999) © Oldenbourg 1999 218 Regina M. Delacor der Siegermacht, als auch zur Einebnung innenpolitischer Spannungen (infolge des Sturzes des stellvertretenden Ministerpräsidenten Pierre Laval am 13. Dezember 1940) im Rahmen der offiziellen Doktrin der „Nationalen Revolution" unerwünsch te Personen vom französischen Territorium auszuweisen. Die deutsch-französischen Verhandlungen um den Auslieferungsparagraphen Als am 14. Juni 1940 deutsche Truppen kampflos Paris besetzten, zog sich die fran zösische Regierung nach Bordeaux zurück. Am 16./17. Juni bat sie die neuen Macht haber um einen Waffenstillstand1, worauf ihr ein 24 Artikel umfassendes Dokument übergeben wurde. Da die Deutschen den Franzosen einen Kurierdienst nach Bor deaux verweigerten, mußte der Leiter der französischen Delegation bei den Waffen stillstandsverhandlungen, General Charles Huntziger, aus Rethondes dem in Bor deaux weilenden Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte, General Maxime Weygand, am 21. Juni den Text des Waffenstillstandsvertrags telefonisch durchge ben2. Noch in der Nacht zum 22. Juni 1940 trat das Kabinett zusammen. Nach einge henden Beratungen forderte es von der Reichsregierung die Streichung des zweiten Paragraphen aus Artikel 19, in dem sich Frankreich verpflichten sollte, „alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen, Kolonien, Protektoratsgebieten und Mandaten befindlichen Deutschen, die von der Deutschen Reichsregierung nam haft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern"3. Die deutsche Seite lehnte den französischen Einwand strikt ab und stellte den gesamten Vertragstext als conditio sine qua non für einen Abschluß des Waffenstillstandes dar4. Inoffiziell ließ der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Generaloberst Wilhelm Keitel, durchblicken, daß man sich bei den Auslieferungsforderungen auf die „Kriegshetzer" deutscher Herkunft beschränken wolle5. In der morgendlichen Sitzung am 22. Juni 1940 herrschte im Kabinett Einigkeit darüber, daß eine derartige Auslieferungsforderung gegen die Ehre Frankreichs und dessen Tradition als Aufnahmeland politischer. Verfolgter verstieße, und man ver langte folglich die Streichung der zur Auslieferung verpflichtenden Formulierung6. 1 Zu einer ausführlichen Darstellung der Verhandlungen vgl. Hermann Böhme, Entstehung und Grundlagen des Waffenstillstandes von 1940, Stuttgart 1966. 2 Vgl. Archives Nationales, Paris (künftig: AN), AJ 41/5, Conversation téléphonique du General Huntziger avec le General Weygand de Rethondes à Bordeaux, 21 juin [1940], 21h20. 3 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945 (künftig: ADAP), Serie D, Bd. IX, S. 557f. 4 Vgl. dazu die Anhörung des französischen Botschafters, Léon Noel, im Prozeß gegen Marschall Philippe Pétain in der Sitzung vom 2. 8. 1945, in: Le procès du Maréchal Pétain. Compte rendu sténographique (Grands procès contemporains, Collection publiée sous la direction de Maurice Garcon de l'Académie Francaise), 2 vol., Paris 1945, hier vol. I, S. 469-476, insbes. S. 475. 5 Vgl. Ministère des Affaires Etrangères, Paris (künftig: MAE), Papiers 1940, Baudoin, vol. 1, Bl. 89, Conseil des Ministres du 22 juin 1940, lh-3h matin. 6 Vgl. ebenda, Bl. 94, Conseil des Ministres du 22 juin 1940, 8h30. Wie sehr das vom französischen Staat eingeräumte Zugeständnis an die Besatzer als offenkundiger Bruch der republikanischen Ehre und des traditionellen Asylverständnisses Frankreichs empfunden wurde, erhellte der Nach- „Auslieferung auf Verlangen"? 219 Am selben Morgen übermittelte General Huntziger diese Position Generaloberst Keitel, der die Bedenken scharf zurückwies und an die Bedingungen von 1918 erin nerte, die das Offizierskorps der deutschen Armee gedemütigt hätten7. Den französi schen Verhandlungspartnern kam er soweit entgegen, sich in der Praxis auf die Aus lieferung der „größten Kriegshetzer, die deutschen Emigranten, (. ..) die ihr eigenes Volk verraten und ein anderes ins Unglück gehetzt hätten"8, beschränken zu wollen. General Huntziger nahm die Verlautbarungen Keitels zur Kenntnis und informierte das Kabinett. Bevor eine Entscheidung gefallen war, erreichte den Vorsitzenden der französischen Delegation am frühen Abend des 22. Juni ein von Keitel verfaßtes Ul timatum, in dem er Huntziger eine Frist bis 19 Uhr 30 desselben Tages zur Unter zeichnung oder Abbruch der Verhandlungen setzte: „Nach Verstreichen dieses Zeit punktes sehe ich die Verhandlungen als gescheitert an. Ich werde zu diesem Zeit punkt den Verhandlungsort verlassen und anordnen, daß die französische Delegation an die Front zurückgeleitet wird."9 Die französische Regierung gab nach und willigte in die Bedingungen des Waffen stillstands ein. Am 25. Juni 1940, sechs Stunden nach Unterzeichnung des französisch italienischen Abkommens, trat nun auch der deutsch-französische Waffenstillstands vertrag in Kraft10. Anstatt jedoch abzuwarten, bis die Besatzer in der Auslieferungsfra- kriegsprozeß gegen Marschall Pétain. Leon Blum erinnerte sich an seine ersten Gedanken, als er von der französischen Konzession gegenüber den Besatzern erfuhr: „Je voyais cette clause abomi- nable, sans précédent, je crois, dans notre histoire, par laquelle la France s'engageait à livrer à l'Al- lemagne les proscrits, les exilés qui avaient trouvé un asile sur notre sol." Anhörung von Leon Blum am 27. 7. 1945, in: Le Proces du Maréchal Pétain, S. 239. 7 Dabei spielte Keitel auf die deutschen Offiziere an, deren Auslieferung die alliierten Regierungen wegen Kriegsverbrechen verlangt hatten. Die alliierte Forderung, auf die sich Keitel bezog, war nicht im Waffenstillstandsvertrag von 1918, sondern erst im Versailler Friedensvertrag (Artikel 227-230) enthalten. Analog zur Forderung von 1940 war sie allerdings, für die Würde des besieg ten Staates einschneidender, da die Auslieferung von eigenen Staatsangehörigen an die Sieger mächte verlangt wurde. Vgl. Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Ausliefe rungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982, S. 233-343. 8 ADAP, Serie D, Bd. IX, S. 549-554, hier S. 551, Aufzeichnung über die Waffenstillstandsverhand lungen in Compiègne am zweiten Verhandlungstage, dem 22. 6. 1940. Zum französischen Ver gleichstext vgl. AN, AJ 41/5, Procès-verbal de la réunion plénière tenue à Rethondes le 22. 6. 1940 à 10 heures. 9 Ebenda, Ultimatum von Generaloberst Keitel, adressiert an den Vorsitzenden der französischen Waffenstillstandsdelegation, Compiègne, 22. 6. 1940. Eine Fotokopie des Ultimatums ist 1988 den Archives Nationales von Paul Malliavin, Mitglied der Académie francaise, überlassen worden. Die Herausgeber der ADAP vermerken in diesem Zusammenhang, daß sie dieses Ultimatum nicht ermitteln konnten. Vgl. ADAP, Serie D, Bd. IX, S. 554, Anm. 3. 10 Auch die italienische Seite hatte auf den Abschluß einer Auslieferungsklausel im französisch-ita lienischen Waffenstillstandsvertrag