VI. Der Historische Ort Des 30. Januar 1933
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VI. Der historische Ort des 30. Januar 1933 Gerald D. Feldman Der 30. Januar 1933 und die politische Kultur von Weimar* I. Jede Beschäftigung mit dem historischen Ort des 30. Januar 1933 stößt zwangsläufig auf das Problem des deutschen Sonderwegs. Im Gegensatz zum deutschen sind die „Sonderwege" anderer Länder, wie zum Beispiel der amerikanische „exceptionalism", weder von einem spezifischen Datum noch Ereignis, sondern lediglich von bestimm- ten Eigenarten ihrer Entwicklung geprägt. Indes läßt sich die Brisanz des deutschen Sonderwegs, was auch immer der Zusammenhang, in dem er erläutert wird, sein mag, ohne die Ereignisse des 30. Januar 1933 und dessen Konsequenzen schwerlich vor- stellen. Für viele Historiker ist er mittlerweile zu einem konzeptionellen „Trabi" ge- worden, im Grunde unbrauchbar, andererseits jedoch nicht kaputtzumachen. Für an- dere bleibt der Sonderweg das solideste und am weitestgehend erprobte Vehikel, ein konzeptioneller Mercedes, der den Benutzer nach Wunsch und Bedürfnis zielsicher fährt1. Ich möchte mich gleich zu Beginn meines Beitrags zu der zweiten, soeben genann- ten Interpretation bekennen, nicht jedoch ohne Einschränkungen. Auch dieses Vehi- kel ist nicht gegen das Veraltern gefeit, und ohne kostspielige Reparaturen und Er- satzteile ist seine Überlebenschance beim nächsten historiographischen TÜV ziemlich gering. Zwar bin ich immer noch der Meinung, daß die Modernisierungstheorie, die dem Sonderweg-Argument seit den 1960er Jahren zugrunde liegt, von beachtlichem heuristischen Wert ist. Dies berechtigt aber keineswegs zu der Annahme, daß die öko- nomischen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen auf vorbestimmte Weise synchron verlaufen müssen oder können und daß die Folgen der Modernisie- rung unbedingt unproblematisch sind. Durchaus denkbar ist eine Modernisierung in * Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dr. Norma von Ragenfeld-Feldman. 1 Das eindringlichste Argument für den deutschen Sonderweg findet sich in Hans-Ulrich Weh- ler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 (Göttingen 31977). Für das Gegenargument gegen Wehlers These siehe Geoff Eley and David Blackbourn, The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth Century Germany (Oxford & New York 1984). 264 Gerald D. Feldman einigen Bereichen, die zur Entmodernisierung in anderen führt, was auch die Natio- nalsozialisten zur Genüge demonstriert haben2. Trotz alledem kann ich den Historikern nicht zustimmen, die, wie zum Beispiel Geoff Eley, die Modernisierungstheorie von der Hand weisen. Eley vertritt die These von der in Gramscis Sinn erfolgreichen bürgerlichen Hegemonie und der ebenso wirksamen Förderung und Entwicklung des Industriekapitalismus im Kaiserreich durch dessen politische Institutionen. Nach Eley liegt der Grund für das Aufkommen des deutschen Faschismus in den Nachkriegskrisen, vor allem der Krise des Kapitalis- mus, die zum Zusammenbruch der bürgerlichen Hegemonie sowie zur Repräsenta- tionskrise der Herrschaftseliten und damit zwangsläufig zu einer faschistischen Lö- sung führten3. Eine solche Interpretation freilich unterschätzt weitgehend die Bedeu- tung politischer Institutionen und politischer Traditionen. Das heißt, in Deutschland kam es nie zur Entwicklung eines demokratischen, parlamentarischen Systems und den damit verbundenen Verpflichtungen auf den freien Austausch von Ideen, auf die verantwortliche Opposition, den politischen Kompromiß und auf die Zusammenfüh- rung aller Interessen zur Förderung des allgemeinen Wohls. Hier ist nicht die Rede, um dies ausdrücklich zu erwähnen, vom Alltäglichen des Regierens oder irgendeinem Überbau. Die eine Lösung ist keineswegs genauso gut wie die andere, und die Tatsa- che, daß die meisten Deutschen den 30. Januar 1933 zunächst nicht als entscheidende Wende auffaßten, sondern als Ergebnis verschiedener Bemühungen, die Nationalso- zialisten zu zähmen oder in die Regierung zu bringen4, zeugt von einem tiefgehenden Defizit in Deutschlands politischer Kultur, namentlich von der Tendenz, in bezug auf das politische System eher den pragmatischen, opportunistischen als den normativen Prinzipien den Vorrang zu geben. Ein treffendes Beispiel für die Grenzen und Mängel der Auffassung, daß Politik und Manipulation auf gleicher Stufe stehen, ist das stän- dige Streben nach einer durchschlagenden Sammlungspolitik und deren regelmäßiges Scheitern. Diesen Punkt möchte ich später noch eingehender behandeln, vorerst aber be- stimmte Aspekte der Sonderweg-Debatte, insbesondere jene Einwände seiner Kriti- ker, zu denen auch ich neige, aufgreifen. Kritisch zu betrachten wäre im einzelnen die Ansicht, Deutschlands politischer Weg und das politische Verhalten verschiedener Gruppen seien von vorindustriellen Wertvorstellungen geprägt gewesen. Meines Erachtens jedoch fehlt dem Terminus „vorindustriell" die Erklärungskraft, die ihm einst eigen zu sein schien5. In Weimar galten die von den Handwerkern, Einzelhänd- 2 Für meine Ansichten über sowohl die Grenzen wie die fortbestehende Relevanz der Modemi- sierungstheorie siehe Gerald D. Feldman, The Weimar Republic: A Problem of Modernization?, in: AfS 26 (1986) 1-26; im folgenden zitiert: Feldman, Modernization. Eine nützliche und kriti- sche Darlegung der Modemisierungstheorie findet sich in Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungs- theorie und Geschichte (Göttingen 1975). 3 Siehe Geoff Eley, What Produces Fascism: Preindustrial Traditions oraCrisisofa Capi talist State, in: Politics and Society 12 (1983) 53-82; im folgenden zitiert: Eley, What Produces Fascism. i Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit 1918-1933 (Propyläen Geschichte Deutschlands 8, Berlin 1989) 533; im folgenden zitiert: Mommsen, Die verspielte Freiheit. 5 Besondere Betonung auf vorindustrielle Gruppen und Wertvorstellungen legt Jürgen Kocka, Der 30.Januar 1933 und die politische Kultur von Weimar 265 lern, Bauern, Beamten und Angestellten artikulierten Probleme den Entwicklungen einer industriellen und nicht einer vorindustriellen Gesellschaft, und trotz des Behar- rungsvermögens von Innungen und Zünften ist der Wunsch, zu früheren Formen wirtschaftlicher und sozialer Organisationen zurückzukehren, kaum nachweisbar. Be- zeichnet man die Zeit nach 1945 als „modern", kann man nicht gleichzeitig behaup- ten, die Forderungen nach einem Sozialprotektionismus und nach korporativen Ein- richtungen in Weimar seien „vormodern" gewesen. In der Tat wurden hier die wich- tigsten korporativen Übereinkommen zwischen Industrie und Arbeiterschaft sowie innerhalb der Industrie getroffen, von denen sich allerdings die mittelständischen Gruppen ausgeschlossen fühlten6. Die von Thomas C. Childers, Jürgen Falter und an- deren Historikern kürzlich vorgelegten Ergebnisse der Wahlforschung rütteln an Jür- gen Kockas Behauptung, die Angestellten orientierten sich an ständischen Traditio- nen und neigten ganz besonders dazu, nationalsozialistisch zu wählen7. Wenn aber von der These, vorindustrielle Werte hätten die Schlüsselrolle beim NS-Erfolg ge- spielt, überhaupt noch etwas übrigbleibt, dann ist es im Bereich der politischen Spra- che. Die bürgerliche Politik war durchdrungen von einer berufsständischen und korpo- rativen Rhetorik, bald das geläufigste Mittel, mit dem man an das sozialpolitische Selbstbewußtsein appellierte. Einen nachhaltigen Erfolg im Gebrauch dieser Rhetorik, indem auf bestimmte Gruppen abgezielt wurde, verbuchten vor allem die Nationalso- zialisten8. Trotzdem war der Fackelzug in der Nacht des 30. Januar, wie massiv auch immer er an archaische Gefühle appelliert haben mag, kein vormodernes Ereignis, sondern modernes, totalitäres politisches Theater und ein klassisches Beispiel für die nationalsozialistische Methode, die Politik zu ästhetisieren. Im Kern lautet dieses Argument, daß die Sonderweg-These nicht auf der Grundlage überzogener Auffassungen über die Kontinuität zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik aufbauen kann und soll. Auch wenn ein Oldenburg-Januschau, zusammen mit anderen Relikten aus dem Kaiserreich, in der Endkrise der Republik noch kräftig am Agieren war9, so ist dies noch kein Beweis für eine kontinuierliche Linie von den politischen Fragen des Kaiserreiches zu den politischen Fragen in den Jahren 1930/ 1933. Krieg und Niederlage, Reparationen, Inflation und Hyperinflation, unbefriedi- gende Wachstumsraten, eine massive fiskalische Krise, eine Weltwirtschaftskrise von Fortsetzung Fußnote von Seite 264 Ursachen des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 21 (21. Juni 1980) 9-13. In dieser Hinsicht neige ich eher zu Eleys These in: Eley, What Produces Fascism. 6 Vgl. Feldman, Modernization, bes. 4-10, ebenso Heinrich August Winkler, Zwischen Marx und Monopolen. Der deutsche Mittelstand vom Kaiserreich zur Bundesrepublik Deutschland (Frank- furt am Main 1991) 12. 7 Vgl. Thomas C. Childers, The Nazi Voter. The Social Foundations of Fascism in Germany, 1919-1933 (Chapel Hill 1983) 169-178, 2Aüii.\ Jürgen Falter, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919-1933 (München 1986) 170. Jürgen Kockas Auffassung findet sich in seiner Arbeit White Collar Workers in America 1890-1940. A Social-Political History in International Perspective (Sage Studies in 20th Century History 10, London, Beverly Hills 1980) 32 f., 251-267. 8 Thomas C. Childers, The Social Language of Politics in Germany: The Sociology of Political Discourse in the Weimar Republic, in: AHR 95 (April 1990) 331-358. 9 Mommsen, Die verspielte Freiheit 525. 266 Gerald D. Feldman unvergleichlichem Ausmaß, eine noch