B 215 75 F zur debatte 5/2011 Themen der Katholischen Akademie in Bayern

6 11 32 37 Wie Parteien und Bürger wieder zu- US-Generalkonsul Conrad Tribble zur Prof. Dr. Marie-Theres Tinnefeld macht Prof. Dr. Wolf-Dieter Ring erörtert den sammenfinden, ist das Thema von Willensbildung in den USA sich für die Privatheit stark Wert von Medienpädagogik Prof. Dr. Werner Weidenfeld 8 29 35 38 Prof. Dr. Silvano Moeckli erklärt, wie Gefahren in den sozialen Netzwerken Mehr Engagement von der Politik beim Das Glück des Ehrenamts stellt Prof. direkte Demokratie in der Schweiz benennt Dr. Ulrike Wagner Privatheitsschutz wünscht sich Gerhart Dr. Michael N. Ebertz vor funktioniert Rudolf Baum

Gesicherte Deutungen – strittige Fragen

Die Weiße Rose Hans Günter Hockerts im Widerstand

Die ersten vier Flugblätter der Wei- ßen Rose entstanden in rascher Folge. Sie wurden in nur 16 Tagen, von Ende Juni bis Mitte Juli 1942, hergestellt und als Briefsendung verbreitet. Danach trat eine längere Pause ein, da die Haupt- akteure als Sanitätsfeldwebel an die rus- sische Front abkommandiert wurden. Erst ein halbes Jahr später, im Januar und Februar 1943, ging es mit der Pro- testaktion weiter, und zwar mit so tief greifenden Veränderungen im Aktions- und Argumentationsstil, dass es ratsam ist, die Sommerphase 1942 erst einmal gesondert zu betrachten. Hans Scholl und Alexander Schmo- rell haben diese vier Flugblätter allein verfasst, allein auf Matrize getippt, ver- vielfältigt und per Post versandt. Als Produktionsort diente Schmorells Zim- mer in seinem Elternhaus in München- Foto: akg-images Harlaching. Wer sonst noch Bescheid wusste, lässt sich nicht mehr genau klä- Mitglieder der Weißen Rose: Dieses Foto Münchner Ostbahnhof, kurz bevor die ren. Wahrscheinlich war Christoph von Christoph Probst (re.) sowie Hans beiden jungen Männer an die Ostfront Probst eingeweiht. Anscheinend kamen Prof. Dr. Hans Günter Hockerts, und Sophie Scholl entstand 1942 am mussten. Sophie Scholl und Traute Lafrenz an- Professor für Zeitgeschichte an der In seinem Vortrag stellte der Münch- hof der Münchner Universität ihre hand von Textbezügen auf die richtige Ludwig-Maximilians-Universität ner Historiker Professor Hans Günter Flugblätter verteilten und dabei fest- Spur, sie wurden aber von den beiden München Hockerts den neuesten Forschungs- genommen wurden. Zeitzeugen, Men- Verschwörern abgewiesen, als sie nach- stand zur Geschichte der Widerstands- schen aus dem Umfeld der Weißen fragten – mit Sätzen wie: Es sei besser, gruppe der Weißen Rose dar. Bei der Rose und deren Nachkommen waren nicht so viele Fragen zu stellen. Hans Scholl im Gestapo-Verhör Abendveranstaltung am 9. Mai 2011 zusammen mit rund 200 Teilnehmern Die gefährliche Post ging an etwa hervor, es sei höchste Zeit gewesen, mit dem Titel „Die Weiße Rose im in die Akademie gekommen. Die Zeit- 100 Adressaten, vornehmlich im Raum diesen Teil des Bürgertums an seine Widerstand. Gesicherte Deutungen – zeugen beteiligten sich mit Schilde- München. Die Empfänger gehörten zu- Pflichten zu erinnern. Die Flugblät- strittige Fragen“ beschrieb der renom- rungen der für sie so gefährlichen und meist dem gebildeten Bürgertum an: ter enden immer mit der Aufforde- mierte Historiker die Quellenlage, bedrückenden Erlebnisse in der NS- Schriftsteller, Schuldirektoren, Buch- rung zum Abschreiben und Weiter- ging auf die Biographien der Haupt- Zeit an der Diskussion. „zur debatte“ händler, Professoren, Ärzte usw. Das verbreiten. Den Adressaten war also akteure ein und schilderte detailliert dokumentiert das vom Verfasser über- Sozialprofil der Zielgruppe ergibt sich eine Multiplikatorenrolle zugedacht. die Umstände des 18. Februars 1943, arbeitete Referat. zum einen aus einer Liste von 35 Emp- Damit sollte das Kommunikations- als Hans und Sophie Scholl im Licht- fängern, die solche Sendungen bei der monopol des NS-Regimes durchbro- Gestapo ablieferten; zum anderen hob chen und eine Gegenöffentlichkeit im Untergrund hergestellt werden – Aktionsform sahen sie darin, Sand ins Verstockte vom verbrecherischen Cha- eine Art „Samisdat“. Getriebe zu streuen: Sabotage in kriegs- rakter des Nationalsozialismus über- Über die Selbstbezeichnung „Weiße wichtigen Betrieben, Sabotage auf allen zeugen soll. Kurz: Schmorell stellt anti- Rose“ ist viel gerätselt worden. Die wissenschaftlichen und geistigen Gebie- jüdische Ressentiments in Rechnung Editorial überzeugendste Antwort hat Hans ten, die für die Kriegsfortführung be- und kämpft auf seine Weise dagegen an. Liebe Leserinnen und Leser! Scholl selbst gegeben. Das sei ein spon- deutsam sind, Sabotage in allen Veran- Wir wissen, wie Scholl und Schmorell taner Einfall gewesen, um der Aktion staltungen kultureller Art, „die das an die Grundinformation über die Ver- Diese „debatte“ erreicht Sie wahr- und dem Programm einen klangvollen ,Ansehen‘ der Faschisten im Volke he- brechen an Juden und Polen gelangt scheinlich im zeitlichen Umfeld des Namen zu geben. Dabei habe er sich an ben könnten“ und so fort. Die beiden sind: über den ihnen gut bekannten Ar- Deutschlandbesuches von Papst Be- eine Romanze von Clemens Brentano Autoren benennen viele Möglichkeiten chitekten Manfred Eickemeyer, der für erinnert. Dort tritt Rosa Blanca als des Sichentziehens bis hin zum Appell, die Organisation Todt im Generalgou- nedikt XVI. Ich denke mit Freude Symbol einer hellen Zukunft auf, die bei Straßensammlungen nicht einen vernement tätig war. Aber wir wissen an jenes Gespräch 2004 zwischen aus einer schuldverstrickten Gegenwart Pfennig zu geben, weil sich das Regime nicht, wie sie auf die Zahl 300.000 ka- Kardinal Joseph Ratzinger und dem hinausführt. Es mag sein, dass intuitiv mit solchen Sammlungen Legitimität er- men. Der Text erklärt auch nicht, worin Philosophen Jürgen Habermas über auch noch andere Assoziationen mit- schleichen wolle. Die Beispiele zeigen, das gedankliche Bindeglied besteht, das die vorpolitischen, moralischen wirkten, zum Beispiel Dostojewskis Er- dass die Weiße Rose keineswegs nur zwischen dieser Ermordetenzahl und Grundlagen eines freiheitlichen zählung vom Großinquisitor, wo von zum großen Widerstand der riskanten der Präzedenzlosigkeit in der Mensch- Staates, zu dem wir die beiden Den- weißen Rosen als Symbol von Tod und Art aufrufen wollte, sondern auch zu heitsgeschichte vermittelt. Die Zahl al- ker eingeladen hatten, und das bis Auferstehung die Rede ist. dem, was Arthur Kaufmann den „Wider- lein war ja so präzedenzlos nicht! Der heute immer noch direkt oder indi- stand der kleinen Münze“ genannt hat, Text überlässt es dem Leser, diese Lücke rekt zitiert wird. der das Alltagshandeln betraf und nicht in der Argumentation selbst zu schließen. Und mit einiger Überraschung Die Weiße Rose ging davon sehr riskant war. Nur eines wollte die Die zweite Kernstelle findet sich im stelle ich fest, dass die Themenzu- Weiße Rose nicht gelten lassen: dass fünften Flugblatt, das größtenteils aus aus, dass Widerstand im man gar nichts tun könne. der Feder von Hans Scholl stammt: sammenstellung der neuen „debatte“ Kopf anfängt. „Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder etliche Aspekte jener „moralischen Verhältnis zum Judentum dasselbe Schicksal erleiden, das den Grundlagen“ reflektiert, ohne die ein Juden widerfahren ist? Wollt Ihr mit Gemeinwesen wohl kaum würde „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdi- Über das Verhältnis der Weißen Rose dem gleichen Maße gemessen werden überleben können. Da steht bewusst ger als sich ohne Widerstand von einer zum Judentum hat es vor einigen Jahren wie Eure Verführer? Sollen wir auf ewig an der Spitze der Bericht über den verantwortungslosen und dunklen Trie- eine erregte Debatte gegeben, ausgelöst das von aller Welt gehasste und ausge- neuesten Forschungsstand zur „Wei- ben ergebenen Herrscherclique regieren durch die These, dass in den Flugblät- stoßene Volk sein? Nein! Darum trennt ßen Rose“, dem Vorbild von Gewis- zu lassen“, so beginnt das erste Flug- tern Antijudaismus erkennbar sei; dazu Euch von dem nationalsozialistischen sensentscheidungen in lebensbedro- blatt. Dann folgt ein Viererschritt, der in kam die Unterstellung, dass die Weiße Untermenschentum!“ Diese Parallelisie- hender und -vernichtender Situation. ähnlicher Form auch in den nächsten Rose am gesetzlich legitimierten Anti - rung von Deutschen und Juden ist so Dann die Frage der Zukunftsfä- Blättern erkennbar wird. Erst die Expo- semitismus wohl keinen Anstoß ge- kommentiert worden: Die den Deut- higkeit unserer Demokratie. Was wir sition einer Wertidee: Das Höchste, das nommen habe. Sehen wir uns die ent- schen drohende Strafe werde als ge- ein Mensch besitzt, sei der „freie Wille“, scheidenden Passagen daher genau an. recht qualifiziert, also besage der Um- augenblicklich als Kirchenkrise leid- die „Individualität“. Dann die Diagnose: Im zweiten Flugblatt formulierte kehrschluss, dass die Juden zu Recht voll durchleben, scheint in den grö- Jetzt aber sei jeder einzelne in ein „geis- Schmorell: „Nicht über die Judenfrage das von aller Welt gehasste und ausge- ßeren Zusammenhang zu gehören, tiges Gefängnis“ gesteckt. Es folgen wollen wir (…) schreiben, keine Vertei- stoßene Volk seien. wie unter dem Epochenparadigma Warnung und Drohung: Wenn das digungsrede verfassen – nein, nur als der Individualisierung Großinstitu- deutsche Volk bereit sei, sich als feige Beispiel wollen wir die Tatsache kurz tionen ihre Mitglieder so einzubin- Masse, als seichte willenlose Herde ins anführen (…), dass seit der Eroberung So geriet Hans Scholl auf den verstehen, dass sowohl die Verderben führen zu lassen, dann ver- Polens dreihunderttausend Juden in Identität der Institution wie die Per- diene es den Untergang. Schließlich der diesem Land auf bestialischste Art er- die Fährte der großen Wahr- sonalität der Mitglieder gefördert moralische Appell: „Jeder Einzelne“ mordet worden sind. Hier sehen wir heits- und Gottessucher der das fürchterlichste Verbrechen an der werden. Der ganz schwierige Spagat müsse „sich wehren so viel er kann“. Antike und des Christen- zwischen freiheitlicher Selbstbestim- Und noch eindringlicher: „Leistet passi- Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen mung und notwendigen rechtlichen ven Widerstand, wo immer Ihr auch tums. seid, verhindert das Weiterlaufen dieser Menschengeschichte an die Seite stellen Rahmenbedingungen, damit die atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu kann. Auch die Juden sind doch Men- Freiheit nicht ad absurdum geführt spät ist, ehe die letzten Städte ein Trüm- schen – man mag sich zur Judenfrage Ich halte diesen Umkehrschluss für wird. Umgekehrt sind Staat, Gesell- merhaufen sind“. stellen wie man will –, und an Men- abenteuerlich und abwegig. Es gibt kei- schaft und erst recht Kirche auf das Einen Großteil des Textes formulier- schen wurde solches verübt. Vielleicht nerlei Belegstellen dafür, dass die Ver- Engagement jener vielen angewie- ten Scholl und Schmorell jedoch gar sagt jemand, die Juden hätten ein sol- schwörer die Verfolgung der Juden auch sen, die hoffentlich zumindest ab nicht selbst, sondern sie ließen Klassi- ches Schicksal verdient; diese Behaup- nur ansatzweise gebilligt haben, und für und an das Glück des Ehrenamtes ker zu Wort kommen. Schiller und tung wäre eine ungeheure Anmaßung; Hans Scholls wichtigste Mentoren – erfahren dürfen. Goethe nehmen im ersten Flugblatt aber angenommen, es sagte jemand Carl Muth, Theodor Haecker, Josef Wie schon an der Wende vom mehr Raum ein als der selbst verfasste dies, wie stellt er sich dann zu der Furtmeier – gilt das ebenso. „Friede sei Mittelalter zur Neuzeit kulturelle Text. Dieser literarische Aufwand ist Tatsache, dass die gesamte polnische Israel“: so lautet der Schlusssatz einer Brüche politische Verwerfungen von manchen Autoren als „unpolitisch“ adelige Jugend vernichtet worden ist Abhandlung Haeckers. Nach dem No- kritisiert worden. Dem muss man ent- (…)“. vemberpogrom 1938 schrieb Furtmeier: nach sich zogen, behandelte die gegenhalten: Zielgruppe war ja die Hier ist zunächst zweierlei hervorzu- „Das Schauervollste ist das geringe mo- Historische Woche. Dass aber auch Schicht des gebildeten Bürgertums, dem heben. Erstens war die Weiße Rose (so ralische Echo, das diesem Pogrom bei in der jede absolute Aussage ableh- die Verfasser auch selbst entstammten. weit ich sehen kann) die einzige Wider- der deutschen Bevölkerung folgte“. nenden Postmoderne die Sehnsucht Diese Schicht mit Schiller und Goethe standsgruppe, die den Mord an den Ju- Im Herbst 1941, als der Judenstern nach dem Absoluten wach bleibt, an die Werte des Humanismus zu erin- den öffentlich anklagte. Zweitens wird eingeführt wurde, schrieb Hans Scholl war genauso ein positiver Impuls nern, war ein durchaus erprobenswerter die ungeheuerliche Dimension des Mor- über das Befinden von Carl Muth: wie die Begegnung mit den jungen Einfall. Und mit Goethes Festspiel des an den Juden erkannt: Er wird als „Gegenwärtig ist er krank, Bronchitis; meist christentumsfern geprägten „Epimenides“ ließ sich ein Wort in dra- präzedenzlos in der ganzen Mensch- die eigentliche Ursache der Krankheit Künstlern, die sich auf unser Haus matischer Steigerung ans Ende setzen, heitsgeschichte bezeichnet. Erst wenn jedoch liegt auf geistigem Gebiet, neh- mit großem Ernst und zugleich das sich als der zentrale Schlüsselbegriff man diese beiden außergewöhnlichen me ich an. Die Aktion gegen die Juden spannender Kreativität eingelassen im Denkhorizont der Weißen Rose er- Leistungen betont hat, kann man einige in Deutschland und den besetzten hatten. weist: „Freiheit!“ Formulierungen unter die Lupe neh- Gebieten hat ihm die Ruhe genom- men, an denen in der Literatur Kritik men“. Und bei Nikolai Berdiajew, ei- Die Meditation am Fronleich- Was tun? geübt wird. nem Autor, den Scholl sehr schätzte, le- namsabend zum urkatholischen Be- Manche Interpreten nehmen Anstoß sen wir den Satz: „Kein einziger ge- griff der „Transsubstantiation“ im Die Weiße Rose ging davon aus, an den Sätzen: man möge sich zur Ju- wöhnlicher Antisemitismus lässt sich Kontext einer „Wandlung der Welt“ dass Widerstand im Kopf anfängt. Sie denfrage stellen wie man will; man wol- mit einer religiösen Erfassung des jüdi- hat schließlich jene „moralischen wollte eine „Gesinnungsrevolution“ le keine Verteidigungsrede halten. Aber schen Geschickes rechtfertigen“. Grundlagen“ zurückgebunden ins (H. Mommsen) einleiten, gestützt auf die Funktion dieser Sätze ist doch of- Hervorzuheben ist überdies der Ent- Zentrum christlichen Glaubens. Ich die Anklage von Schuld und Verbre- fensichtlich: Schmorell lässt sich hier wurf eines Flugblatts, den Christoph vermute, damit wäre auch der dama- chen. Die Gesinnungsrevolution sollte auf die Mentalität von Adressaten ein, Probst im Januar 1943 schrieb. Dort fin- lige Kardinal Ratzinger mehr als ein- aber auch zum Handeln führen. Die die er für antisemitisch infiziert hält, det man eine fulminante Anklage gegen verstanden gewesen. Wachgerüttelten sollten etwas tun. Die aber gleichwohl aufrütteln will. Dieser Hitler, „den Sendboten des Vernich- Frage war nur: was? Von Scholl und adressatenbezogene Schreibstil geht aus tungswillens, der die Juden zu Tode In diesem Sinne grüßt Sie Schmorell arbeitsteilig verfasst, behan- der konditionalen Wendung eindeutig marterte“. Zu dieser Anklage trug eine delte das dritte Flugblatt diese Frage be- hervor: „Vielleicht sagt jemand, die Ju- persönliche Erfahrung bei, denn Chris- herzlich sonders eindringlich. Die Autoren riefen den hätten ein solches Schicksal ver- toph Probst hatte eine enge Bindung an zum „passiven Widerstand“ auf. Damit dient…“ Schmorell weist dies entschie- seine jüdische Stiefmutter. Diese über- Ihr meinten sie gewaltlosen Widerstand, den zurück, lässt sich dann aber auf den lebte die Zeit der Verfolgung zwar im aber verbunden mit so viel Aktivität, verstockten Adressaten ein: „aber an- Schutz einer dörflichen Gemeinschaft, dass in der uns heute vertrauten Termi- genommen, es sagte jemand dies …“ aber Christoph Probst war sich ihrer Dr. Florian Schuller nologie der Begriff des aktiven Wider- Für diesen Jemand entfaltet er dann ein Gefährdung sehr bewusst, zumal nach stands viel passender ist. Die wichtigste anderes Beispiel, das auch antisemitisch dem Selbstmord seines Vaters 1936, als

2 zur debatte 5/2011 sogar die eigentliche Basis seines Widerstands. Damit wird der konfessio- nelle Rahmen jedoch zu stark betont. Themen „zur debatte“ Man stimmt mit der Quellenlage besser überein, wenn man sagt: Bei Hans Scholl stand nicht die Konfessionalität Editorial 2 im Vordergrund, sondern das, was man „christlich-humanistische Grundsubs- Die Weiße Rose im Widerstand tanz“ nennen könnte. Das bezeugen Gesicherte Deutungen – strittige Fragen seine eigenen Texte, und darin bestärkte Hans Günter Hockerts 1 ihn sein hoch geschätzter Mentor Josef Furtmeier. Wie Furtmeier dachte, ist aus Bürger und Politik seinen Briefen ersichtlich. Dort liest Ist unsere Demokratie zukunftsfähig? man: „Die wahre Kirche Christi geht Demokratie am Wendepunkt? durch alle Konfessionen und noch dar- Die bürgerliche Unruhe und die über hinaus“. Zukunft der Parteien Die religiöse Wendung führte Hans Werner Weidenfeld 6 Scholl auch nicht in eine besondere Funktionen und Dysfunktionen der Nähe zur Amtskirche. Erkennbar wird direkten Demokratie in der Schweiz vielmehr eine existentialistische Grund- Silvano Moeckli 8 haltung, mit einem starken Akzent auf Unterschiedliche Formen des der Bedeutung der persönlichen Ent- demokratischen Willensbildungs- scheidung und des individuellen Gewis- prozesses: Erfahrungen aus den USA sens. Auch darin stimmte er mit Furt- Conrad Tribble 11 meier überein, ebenso mit Haecker, der „Netz“-Demokratie? Zum Wandel die Betonung des Einzelnen bei Kierke- politischer Beteiligung durch das gaard gelernt hatte. „Die prophetische Internet Stimme der Kirche ist verstummt“, no- Herbert Kubicek 12 tierte Haecker im Sommer 1940 in sein Direkte Demokratie auf der Tagebuch, „jeder Einzelne muss sich Bundesebene? durchtappen in der Nacht“. Als Hans Frank Decker 15 Scholl im Sommer 1942 das erste Flug- blatt schrieb, hatte er also keine konfes- Chancen und Grenzen plebiszitärer sionelle Wende vollzogen, wohl aber Beteiligungsformen in Deutschland eine dezidiert christliche. Diese Unter- Hans H. Klein 17 scheidung verdeutlicht übrigens, wie Historische Woche einsturzgefährdet die These ist, Hans Herbst des Mittelalters – Frühling Scholl habe „die Erneuerung einer all- der Neuzeit? mächtigen katholischen Kirche“ und Erblickte und konstruierte Wirklich- ein „unter der Herrschaft der katholi- keit. Die Malerei des 15. Jahrhunderts schen Kirche“ geeintes Europa ange- in den Niederlanden und in Italien strebt. Diese m. E. abenteuerliche These Frank Büttner 18 ist kürzlich von einem prominenten Historiker vertreten worden – bisher Die Geburt neuzeitlichen Denkens, ohne viel Resonanz. oder: das erste Jahrhundert des Auch bei Sophie Scholl ist seit Humanismus Eckhard Keßler 21 1940/41 eine Hinwendung zum Religiö- Foto: akg-images sen festzustellen, wobei Augustinus, der „Wind des Absoluten“ Das Grab von Hans und Sophie Scholl leidenschaftlichen Gottsucher, ihre Leit- Mystische Weisheiten der befindet sich auf dem Friedhof in Mün- gestalt wurde. Diese Wendung hing, wie Postmoderne? chen-Perlach in unmittelbarer Nähe des wir inzwischen wissen, zunächst mit Blick auf die postmoderne Situation Gefängnisses Stadelheim, wo beide moralischen Fragen zusammen, die sie Alois Maria Haas 24 Widerstandskämpfer ermordet wurden. in ihrer Privatsphäre schwer bedrück - ten. Aber die religiöse Wende wirkte Vir desideriorum es: Eine Theologie sie den Schutz der sog. „privilegierten Autoren des französischen renouveau sich auch auf ihre ganze Grundhaltung der Sehnsucht Mischehe“ verlor. catholique wie Paul Claudel und aus und trug zu dem bei, was Jakob Alois Maria Haas 27 Statt vage Umkehrschlüsse zu ziehen, Georges Bernanos. Knab den „Geist der Unerschrockenheit Privatheitsschutz im Internet sollte man auf die expliziten Aussagen So geriet Hans Scholl auf die Fährte und Standfestigkeit“ genannt hat. Bar- als Bildungsaufgabe der Flugblätter achten. Darin kommen der großen Wahrheits- und Gottes- bara Schüler hat auch Sophie Scholl in Persönliche Informationen in universalistische Wertideen zum Aus- sucher der Antike und des Christen- die Katholisierungsthese einbezogen. aller Öffentlichkeit? druck, die jede Verfolgung kategorisch tums. Auf dieser Fährte ging es verstärkt Im Gegenzug ist ihre Biographin Barba- Ulrike Wagner 29 ausschließen: „Jeder einzelne Mensch weiter, als Hans Scholl in München Me- ra Beuys sichtlich bemüht, möglichst hat Anspruch auf einen (…) gerechten dizin studierte. Denn dort lernte er im viel Protestantisches bei ihr nachzuwei- Privatheit als Voraussetzung Staat, der die Freiheit des Einzelnen (...) Sommer 1941 den betagten Religionsin- sen. Ganz überzeugen können in die- menschenrechtlicher Freiräume? sichert", so heißt es im dritten Flugblatt. tellektuellen Carl Muth kennen, dessen sem Punkt beide Autorinnen nicht. Marie-Theres Tinnefeld 32 Und im fünften: „Jeder Einzelne hat ein Zeitschrift „Hochland“ in der Weimarer Denn wie die Notizen und das medita- Grundrechtliche Freiheitsgestaltung Recht auf die Güter der Welt“. Republik eine Art Zentralorgan der ka- tive Tagebuch Sophie Scholls zeigen, im Wandel der Zeit: Das Beispiel tholischen Intelligenz gewesen war. Carl war das, was sie suchte, ein aufrichtiges Datenschutz Verhältnis zur Religion Muth beeindruckte ihn so tief, dass er Verhältnis zum christlichen Gott, aber Thomas Petri 34 ihn eine zeitlang fast täglich besuchte. es ging ihr nicht um eine konfessionelle Privatheitsschutz als Bildungsaufgabe In einer verbreiteten Darstellung ist Muth machte Hans Scholl auch mit ei- Bindung. Gerhart Rudolf Baum 35 zu lesen, dass Religion als Beweggrund ner Reihe weiterer Persönlichkeiten be- Anders als Hans Scholl hielt sich Medienkompetenz und Jugendschutz des Widerstands der Weißen Rose kannt, insbesondere mit dem Kulturphi- Alexander Schmorell auf Distanz zum Wolf-Dieter Ring 37 „kaum in Betracht“ komme. Dem muss losophen Theodor Haecker. Dieser hatte Hochland-Kreis. Ihn, den „halben Rus- man widersprechen, wenn auch in einer sich u. a. als Übersetzer von Sören Kier- sen“, wie er sich gern nannte, zog es Mitgliederversammlung individuell differenzierten Weise. Begin- kegaard und John Henry Newman einen stattdessen zur russisch-orthodoxen Ge- der KEB Bayern nen wir mit einem Blick auf Hans Namen gemacht und war unter dem meinde und zu einer ethisch-religiösen Vom Glück des Ehrenamts Scholl, der mit Schmorell das Führungs- Eindruck Newmans 1921 zum Katholi- Weltschau im Stil seines Leitsterns Michael N. Ebertz 38 duo des Kreises bildete. Für ihn, Spross zismus konvertiert. Wie wir seinen Tage- Dostojewski. eines protestantischen Elternhauses, büchern entnehmen können, verwarf Willi Graf wuchs in einem katholi- Sommernacht der Künste spielte Religion bis 1938 in der Tat Haecker den „deutschen Wahnsinn der schen Elternhaus auf. Damit war sein Finnisage und Kammeroper 41 kaum eine Rolle. Das war die Zeit sei- rassistischen Auserwähltheit“ ebenso Weg in den Widerstand allerdings noch Junge Akademie nes Engagements in der Hitlerjugend. scharf wie den „höllischen Abgrund des nicht vorgezeichnet, denn die Eltern Kreativität. Dann folgte ein Prozess der inneren Ab- organisierten Terrors“. Dank den For- verhielten sich angepasst und übervor- Ein Seminar für Entdecker 42 lösung vom braunen Sog. Dabei half ein schungen von Hinrich Siefken kann sichtig. Willy Graf stieß vielmehr mit ei- Freundeskreis, zu dem sich die fünf man zweifelsfrei sagen: Das geschichts- ner sehr persönlichen Suchbewegung zu Festlicher Abend zum Scholl-Geschwister in Ulm mit einer theologische Denken Haeckers, dem die einer existentiellen Form des Christ- Fronleichnamsausklang Gruppe um Otl Aicher zusammen- Radikalität dieser Ablehnung entsprang, seins vor. Was man ihm anerzogen Das eucharistische Brot und die schlossen. Aicher war ein dezidierter hat Hans Scholl zutiefst beeindruckt. habe, so schrieb im Frühjahr 1942 an Wandlung der Welt. Einige Jungkatholik (Quickborn) und erklärter Seit dem Sommer 1941 pflegte Hans seine Schwester, das sei gar nicht „das Anmerkungen zum Verhältnis von Gegner des NS-Regimes. In diesem Scholl also intensiven Kontakt zum ka- eigentliche Christentum“. Dieses sei viel Transsubstantiation und Bekehrung Kreis herrschte eine regelrechte Lese- tholischen Hochland-Kreis. Einige Au- schwerer, ungewisser, voller Anstren- Stefan Oster SDB 44 wut. Das Lektüreprofil reichte von toren, vor allem Barbara Schüler, spre- gung und koste immer wieder neue Plato bis Augustinus, von Kierkegaard chen daher von seinem „katholischen Überwindung. Sein Weg in den Wider- Impressum 48 bis Dostojewski und umfasste auch Erwachen“. Sie sieht darin eine wichtige, stand war mit der Suche nach dem

5/2011 zur debatte 3 „eigentlichen Christentum“ aufs engste 1942 hingerichtet worden. Zweimal tra- verbunden. fen sich die Münchner Verschwörer mit Schließlich ist auch bei Christoph Falk Harnack, der nach einigem Zögern Probst, der ungetauft aufgewachsen in Aussicht stellte, Kontakte nach Berlin war, eine Hinwendung zur Religion zu zu vermitteln. Willy Graf fuhr ins Rhein- erkennen. Sie bahnte sich lange an und land, ins Saarland und nach Freiburg, wurde in der zweiten Jahreshälfte 1942 um Verbindungen zu knüpfen, wenn manifest, und zwar in Affinität zum Ka- auch mit wenig Erfolg. Traute Lafrenz tholizismus. Dabei spielte der Einfluss stellte Kontakt zu einer Gruppe in Ham- seines katholischen Schwiegervaters burg her. Harald Dohrn eine Rolle. So war es Das fünfte Flugblatt wurde auch kein plötzlicher Entschluss, dass Chris- nicht mehr nur in rund 100 Exemplaren toph Probst sich kurz vor seiner Hin- hergestellt, sondern in 5 bis 6 000. Das richtung katholisch taufen ließ. war möglich, weil die Verschwörer ei- Insgesamt ist also festzuhalten: nen finanziellen Förderer gefunden hat- Christliche Motive haben im Wider- ten (Eugen Grimminger in Stuttgart), so stand der Weißen Rose eine zwar indi- dass sie sich einen viel besseren Verviel- viduell differenzierte, im Ganzen aber fältigungsapparat anschaffen konnten. sehr bedeutende Rolle gespielt. Ohne Das Flugblatt wurde auch nicht mehr die religiöse Dimension lässt sich dieser nur im Raum München versandt, son- Widerstand daher nicht angemessen be- dern per Post oder Kurier auch in süd- schreiben. deutsche und österreichische Städte ge- bracht. Als Kuriere waren Sophie Scholl Wider den Antichrist? und Alexander Schmorell unterwegs. Von Ulm aus unterstützte der Abiturient Das vierte Flugblatt verfasste Hans Hans Hirzel mit seiner Schwester Su- Scholl allein. Nirgends sonst kann man sanne und seinem Freund Franz Müller den Einfluss der Geschichtstheologie die Verbreitung des Flugblatts. Oben- Haeckers so deutlich greifen wie hier. drein begannen Hans Scholl, Alexander Scholl rückt den Krieg vor einen meta- Schmorell und Willy Graf Ende Januar physischen Hintergrund und interpre- 1943 mit nächtlichen Streuaktionen: tiert ihn im Zeichen der Apokalypse. Er Sie legten Flugblätter in Straßen und bezeichnet Hitler als den „Boten des Höfen der Münchner Innenstadt ab. In Antichrist“, des absolut Bösen aus dem der ersten Februarwoche malten sie Rachen der Hölle, als satanische Macht. außerdem in mehreren Nächten Paro- Es spricht viel dafür, dass Hans Scholl Foto: akg-images len an Mauern und Wände: „Freiheit“ solche apokalyptischen Bilder nicht Sophie Scholl (1921–1943) und „Nieder mit Hitler“. bloß als Stilmittel der Dramatisierung Zurück zum fünften Flugblatt: Die benutzte, wie man das etwa bei Thomas Überschrift lautete nun „Aufruf an alle Mann beobachten kann. Für Hans Deutsche!“ Auch darin wird der Strate- Scholl ist vielmehr gut bezeugt, dass giewechsel erkennbar. Zielgruppe war er sich die Geschichtstheologie der jetzt nicht mehr nur oder primär das Apokalypse zu Eigen machte. Wehrmachtsexzessen und den Trans- Schwester Sophie teilte. Das nächste Bildungsbürgertum, sondern die Bevöl- Darauf ist die These gestützt wor- port von Juden in die Vernichtungslager (in der Gesamtzählung fünfte) Flugblatt kerung in ihrer ganzen Breite. Nun trat den, dass der Kampf gegen die Herauf- heran. Andere bestreiten diese Nähe, entstand im Januar 1943, wobei Hans auch die religiöse Argumentation zu- kunft des Antichristen das zentrale weil sich in den Selbstzeugnissen dafür Scholl die Feder führte. Neben Schmo- rück. Ein sehr zweckrationaler Stil Charakteristikum der Weißen Rose ge- keine Belege finden. Hinter dieser De- rell waren diesmal auch Sophie Scholl, schob sich nach vorn, so der Hinweis wesen sei. Diese These trifft gewiss ei- batte steht eine methodische Frage: In- Willy Graf und Professor Kurt Huber auf die überlegene Rüstungskraft Ame- nen wichtigen Punkt, bedarf jedoch der wieweit darf man übergreifende Ent - beteiligt: Huber, indem er inhaltliche rikas und die wankende Front im mehrfachen Einschränkung. Denn ers- wicklungen der individuellen Wahrneh- Ratschläge gab, Sophie Scholl und Wil- Osten. Das Flugblatt gipfelt in der For- tens kennzeichnet sie nicht den Denkstil mung zurechnen, auch wenn diese ly Graf, indem sie bei der Vervielfälti- derung nach den klassischen bürger- aller Mitglieder der Weißen Rose. So Wahrnehmung in den Quellen nicht ex- gung und Verbreitung halfen. Es ist gut lichen Freiheitsrechten: „Freiheit der bleibt Alexander Schmorell – gleichge- plizit bezeugt wird? Hier öffnet sich ein möglich, allerdings nicht sicher bezeugt, Rede, Freiheit des Bekenntnisses, wichtiger Partner im Autorengespann Ermessensspielraum. Einige Autoren dass Sophie auch Ideen oder Formulie- Schutz des einzelnen Bürgers vor der der vier Flugblätter – hier wie auch nutzen ihn, um die Widerstandsmotive rungen beisteuerte. Überdies führte sie Willkür verbrecherischer Gewaltstaa- sonst so oft ganz außer Acht. Zweitens der Weißen Rose möglichst direkt auf die Kasse, aus der die Kosten der Ak- ten“. Bemerkenswert sind außerdem die argumentieren die Flugblätter immer die Beobachtung von Wehrmachtsex- tion bezahlt wurden. Bemerkenswert Ablehnung des „imperialistischen mehrschichtig. Die religiöse Argumenta- zessen und des Holocaust zu beziehen. sind auch zwei Quellenspuren aus der Machtgedankens“ und das Ziel der tionslinie wird von einer weltlichen be- Damit entsprechen sie – bewusst oder Zeit der Frontfamulatur ihrer Freunde: „Zusammenarbeit der europäischen gleitet, die im bürgerlichen Humanitäts- unbewusst – einer Erwartungshaltung, In dieser Zeit bemühte sich Sophie Völker.“ glauben wurzelt. Man kann die Flugblät- die heute in unserer Erinnerungskultur Scholl, auf eigene Faust einen Verviel- Das sechste Flugblatt verfasste Kurt ter also nicht auf eine einzige Denkfigur weit verbreitet ist. Die empirische fältigungsapparat zu beschaffen, wenn Huber, den die Verschwörer eher als reduzieren, zumal sie – wie Hans Scholl Gegenargumentation, die vor allem auch letztlich ohne Erfolg. Partner denn als Mentor einbezogen rückblickend vermerkte – in einer „Hast“ Johannes Tuchel herausgearbeitet hat, hatten, am 12. Februar 1943 unter dem geschrieben wurden, die „manchen Ge- ist jedoch sehr stark. Ich kann diese De- Eindruck zweier Ereignisse. Das eine danken nicht ausreifen“ ließ. Und drit- batte hier nicht im Einzelnen entfalten, Scholl rückt den Krieg vor war ein Sturm der Empörung, als der tens war mit dem vierten Flugblatt eine sondern halte nur dreierlei fest: Erstens Münchener Gauleiter am 13. Januar Zäsur erreicht, eine Wende, die auch ist sicher, dass die Freunde viel „Trauri- einen metaphysischen eine Rede zur 470-Jahrfeier der Univer- den Argumentationsstil veränderte. ges und Entsetzliches“ (Willy Graf) er- Hintergrund und interpre- sität hielt und sich dabei in beleidigend- lebten. Zweitens hatten sie – geführt anzüglichen Bemerkungen über die Stu- An der Ostfront von Schmorell, der fließend russisch tiert ihn im Zeichen der dentinnen erging. Im studentischen sprach – viele freundliche Kontakte mit Apokalypse. Publikum brach ein Tumult aus. Viele Ende Juli 1942 wurde eine Gruppe der einfachen russischen Bevölkerung, verließen unter Protest den Saal. So et- Münchner Medizinstudenten, darunter bis hin zu gemeinsamen Festen mit was hatte es noch nie gegeben: ein Gau- Scholl, Schmorell und Willy Graf, für Balalaika, Tanz und Gesang. Schmorell Bei diesem fünften Flugblatt fällt auf, leiter wurde ausgepfiffen und am Reden drei Monate zur sog. Feldfamulatur an hat die drei Russlandmonate rückbli- dass der Name „Weiße Rose“ getilgt war. gehindert! Huber und die studentischen die russische Front abkommandiert. Sie ckend sogar als „die schönste, reichste Die Gruppe nannte sich nun „Wider- Verschwörer interpretierten dieses Auf- fuhren über Warschau, wo sie für ein- Zeit meines Lebens“ bezeichnet! Und standsbewegung in Deutschland“. Das begehren als Zeichen einer latenten Op- einhalb Tage Zwischenstation machten. drittens reifte in dieser Zeit der Ent- war sachlicher, härter, ohne mystischen positionsstimmung in der Studenten- „Das Elend sieht uns an“, notierte Willy schluss heran, den Widerstand zu inten- Beiklang. Das Flugblatt verzichtete auch schaft. Das bestärkte sie in der Hoff- Graf, und er meinte damit auch das sivieren, auszuweiten und in veränder- auf jeden literarischen Zitatenschatz. nung, viele Studierende für Aktionen Getto, das sie von außen sahen. „Die ter Weise fortzuführen. Über die Grün- Der Zusatz „in Deutschland“ deutete gegen das Regime gewinnen zu können. Stadt, das Getto und alles Drum und de dieser Wendung ist viel spekuliert das Bestreben an, die Widerstandsbasis Daher sprach das sechste Flugblatt die- Dran hat auf uns alle einen sehr ent- worden, aber der wichtigste liegt m. E. auszuweiten, sowohl personell als auch sen Adressatenkreis auch ganz direkt scheidenden Eindruck gemacht“, schrie- offen zutage: Die Verschwörer bilan- räumlich. Daher wurden Gleichgesinnte an: „Kommilitoninnen! Kommilitonen!“ ben sie etwas verschlüsselt in einem ge- zierten tief enttäuscht, dass die Flug- aus dem eigenen Umfeld einbezogen, Das zweite auslösende Ereignis war meinsamen Feldpostbrief. Dann ging es blätter des Sommers 1942 so gut wie insbesondere Willy Graf und Kurt Hu- die katastrophale Niederlage der 6. Ar- weiter an die Ostfront, wo sie überwie- nichts bewirkt hatten. ber, aber die Gruppe suchte nun auch mee in Stalingrad, die am 3. Februar gend auf einem Hauptverbandsplatz nach Verbindungen zu anderen Wider- 1943 offiziell bekannt gegeben wurde. hinter der Front eingesetzt wurden. Strategiewechsel standskreisen. Die wohl wichtigste Linie Mit dieser Kriegswende sah der Wider- Was die befreundeten Studenten an kam durch eine zufällige Konstellation standskreis die Zeit zum Aufruhr ge- ihrem Frontabschnitt erlebten, wird in Nach ihrer Rückkehr verlegten die persönlicher Bekanntschaften zustande kommen. Daher gab das Flugblatt die der Forschung sehr kontrovers disku- Verschwörer den Produktionsort der und führte zu Falk Harnack. Dessen Parole aus: „Kampf gegen die Partei“. tiert. Einige Autoren rücken sie mög- Flugblätter in eine Schwabinger Woh- Bruder Arvid, eine Führungsgestalt der Die Macht der NSDAP als Basis der lichst dicht an die Beobachtung von nung, die Hans Scholl mit seiner „Roten Kapelle“, war im Dezember Führerherrschaft sollte gebrochen

4 zur debatte 5/2011 Verhör so lange wie möglich geleugnet haben. Mit dem Hausmeister als einzi- gem Belastungszeugen stand ihre Chan- ce, sich geschickt herauszureden, auch gar nicht so schlecht. Erst das Ergebnis der Wohnungsdurchsuchung und wider- sprüchliche Aussagen im Zusammen- hang mit dem Entwurf von Christoph Probst brachten die Wende. Eine andere Lesart ist diese: Eine Warnung habe die Geschwister am Vor- abend erreicht. Die Gestapo sei ihnen auf der Spur, die Verhaftung stehe kurz bevor. Daher hätten die Geschwister noch rasch eine aufrüttelnde Tat voll- bringen (und zugleich die restlichen Flugblätter aus der Wohnung bringen) wollen, ehe es zu spät war. Die Ge- schichte dieser Warnung ist jedoch nur mit etlichen Ungereimtheiten überlie- fert, und vor allem: Bei einer Warnung hätte es nahegelegen, sämtliches Belas- tungsmaterial aus der Wohnung zu schaffen und für den Fall der Fälle die Aussagen zu koordinieren, ehe die ris - kante Aktion begann. Man kommt also nicht umhin, auch psychische Faktoren in Betracht zu zie- hen: die permanente Anspannung, die große Erschöpfung, auch die Ungeduld, Professor Hockerts wurde in der Pause endlich „Wellen zu schlagen“, nachdem als Gesprächspartner gesucht. Sebastian- die bisherigen Aktionen allesamt nicht Michael Probst (li.), ein Enkel des wirklich wirksam gewesen waren. Dass Widerstandskämpfers, hörte zu und be- wahrscheinlich auch Aufputschmittel richtete vom Empfinden der Familie. im Spiel waren, die die Hemmschwelle bei Risiken senkten, hat man schon lan- werden. Scholl und Schmorell hatten ge vermutet. Leider ist dieser Aspekt jedoch zwei Passagen aus Hubers Text vor einigen Jahren durch wilde Speku- herausgestrichen. Darin wurde die lationen sehr belastet worden. Wenn deutsche Jugend zur Solidarität mit der man mit Augenmaß an die Sache her- „herrlichen Wehrmacht“ aufgerufen. angeht, dann kann man sagen: Es han- Huber wollte zwischen Partei und delt es sich wahrscheinlich um ein Wehrmacht trennen und die Wehr- Wachhaltemittel, das damals millionen- macht für den Kampf gegen den Bol- fach verbreitet war, vor allem bei Flie- schewismus stärken. Eben diese Tren- gern und Soldaten (wie wir unter ande- nung akzeptierten die Studenten nicht. rem aus den Briefen des Soldaten Hein- Denn sie erkannten, dass die Wehr- rich Böll wissen); dieses Mittel kursierte macht de facto eine Basis der Führer- auch in der Studentenschaft. herrschaft war, und sie hatten sich über- Vermutlich wird sich nie zweifelsfrei dies zu der Einsicht durchgerungen, klären lassen, warum die Geschwister dass die militärische Niederlage Scholl an diesem Tag fast jede Vorsicht Deutschlands die notwendige Bedin- fallen ließen. Auffällig ist auch die ver- gung der Möglichkeit für einen freiheit- änderte Akteurskonstellation: Erstmals lichen Neubeginn war. Daher wünsch- trat das Geschwisterpaar so deutlich als ten sie keine Stärkung der Wehrmacht, operative Einheit hervor. Bei den ris - sondern die Niederlage. kanten nächtlichen Touren hatten die jungen Männer es noch abgelehnt, So- Im Lichthof phie Scholl mitzunehmen. Sie hatte da- her auf eigene Faust gehandelt und das 18. Februar 1943: Am hellen Tag leg- fünfte Flugblatt am hellen Tag in Tele- Professor Dr. Hans Maier (re.) im Ge- ten Hans und Sophie Scholl Flugblätter fonzellen oder an parkenden Autos ab- spräch mit Professor Hockerts und Teil- in großer Zahl im Hauptgebäude der gelegt. Womöglich hatte es in der Grup- nehmern der Abendveranstaltung. Universität aus. Zuletzt stieß Sophie ei- pe inzwischen Spannungen gegeben, die nen Stapel von der Empore im zweiten zu einer Änderung des Aktionsmusters Stock in den Lichthof hinunter. Diese führten. Es gibt mehrere Lesarten zur herunterflatternden Blätter sind in den Erklärung der Abläufe am Verhaftungs- Bildkanon unseres kulturellen Gedächt- tag, aber keine ist eindeutig belegbar. nisses eingegangen, ein faszinierendes, Es ist dem Widerstandskreis der Wei- bewegendes Bild, eine Ikone der deut- ßen Rose nicht gelungen, jene Kettenre- schen Freiheitsgeschichte. aktion auszulösen, auf die er so sehr ge- Aber wenn man die Sache sehr nüch- hofft hatte. Aber es ist ihm gelungen, tern betrachtet, nicht als memory, son- ein Zeichen zu setzen. Was dieses Zei- dern als history, so war das eine gerade- chen uns heute bedeutet, auch das kann zu tollkühne Aktion – hochgefährlich, eine Streitfrage sein. Denn die Weiße in erster Linie für die Geschwister, aber Rose wird für alle erdenklichen Zwecke indirekt auch für alle Mitverschwörer. in Anspruch genommen bis hin zur Zumal in der Wohnung der Geschwister Sinn verfälschenden Rezeption. Auf je- noch einige Spuren von Belastungsma- den Fall sollten wir beachten, dass die terial lagen und Hans Scholl den hand- Verhältnisse, unter denen dieser Wider- schriftlichen Entwurf von Christoph standskreis lebte und handelte, grund- Probst bei sich in der Manteltasche verschieden waren von denen, unter de- trug. Als der Hausmeister sie oben im nen wir heute leben. Wir riskieren ja zweiten Stock erwischte, stand er den nicht viel, meistens sogar überhaupt beiden auf dem Flur allein gegenüber. nichts, wenn wir die Freiheitsrechte in Es wäre also wohl möglich gewesen, Anspruch nehmen, für deren Inkraftset- sich zur Wehr zu setzen und wegzulau- zung die Mitglieder der Weißen Rose fen. Das taten Hans und Sophie Scholl mit dem Leben bezahlten. Die Botschaft jedoch nicht. Warum der Verhaftungs- der Weißen Rose könnte daher lauten: tag so abgelaufen ist, darüber wurde Diese Rechte sind kein selbstverständ- und wird viel gerätselt. licher Besitz, sie müssen vielmehr ge- Regina Degwitz, Mitglied des Freundes- Lange hielt sich die Vorstellung, es hegt und gepflegt und tagtäglich prakti- kreises um die Geschwister Scholl, habe sich um eine bewusste Aufopfe- ziert werden. – Wenn man wartet, bis schilderte ihre Erfahrungen aus der rung gehandelt. Das entspricht jedoch der Freiheitskampf als Hochverrat abge- NS-Zeit. nicht der Quellenlage, und dazu passt urteilt wird, ist es zu spät. „ auch nicht, dass die Geschwister im

5/2011 zur debatte 5 in Baden-Württemberg am 27. März der Reduzierung des Anteils der tradi- 2011: Grüne plus 12,5 %, erster Grüner tionellen Volksparteien. 1976 hatten wir Ministerpräsident in der Geschichte. den Höchstwert dieser Volksparteien: Rheinland-Pfalz am gleichen Tag: Grü- 92,2 % wählten die traditionellen Volks- Bürger und Politik ne plus 10,8 %, SPD minus 9,9 %. parteien. Das hat sich dann bis 2005 re- duziert auf 69 %; 2009 waren es nur • Eine neue oder zusätzliche Freude noch 56,8 %. an der Protestbewegung ist offensicht- Zu diesem Phänomen sagen heute Ist unsere Demokratie zukunftsfähig? lich. Man entdeckt geradezu eine 70 % unserer Mitbürger, sie sähen so- Unterhaltsamkeit des Protestierens. Ich wieso keinen Unterschied zwischen die- darf daran erinnern: Vor wenigen Mo- sen Parteien; insofern sind sie von dieser naten fand der Atommüll-Transport Entwicklung relativ wenig bewegt. Auf nach Gorleben statt; besonders reich- die Frage, ob es denn gut oder schlecht haltiger Zuspruch der Demonstranten sei, wenn die Volksparteien auf diese Art führte zur längsten Fahrzeit in der Ge- und Weise geschwächt seien, sagen nur schichte dieser Atommülltransporte noch 35 %, das sei etwas Ungünstiges. nach Gorleben. Natürlich muss man Damit verbunden ist ganz generell die auch das Stichwort Stuttgart 21 erwäh- Reduzierung der festen Parteienbindun- „Alle Staatsgewalt geht vom Volke der Fähigkeit und dem Willen vieler nen. Doch klar ist: So etwas gibt es in gen, die wachsende Zahl der Wechsel- aus“, lautet Artikel 20 des Grundge- politischer Akteure zur Lösung von vielen anderen Städten auch. Zwar wähler und immer spätere Wahlent- setzes. Doch wie der Wille des Volkes Problemen zu zweifeln. Dieser Miss- nicht überall in dieser Dramatik mit scheidungen. Mehr als 10 % der Mitbür- am besten ermittelt und in welchem mut äußert sich unter anderem in der Verletzten, aber doch vergleichbar. Mal ger entscheiden ihre Stimmabgabe bei Maße der Bürger am demokratischen dramatisch sinkenden Wahlbeteili- handelt es sich um einen Tunnelbau einer Wahl auf dem Weg von der eige- Willensbildungsprozess beteiligt wer- gung und schrumpfenden Mitglieder- oder eine Tiefgarage, mal um eine Flug- nen Wohnung bis zur Wahlkabine – eine den soll, darüber gehen die Meinun- zahlen politischer Parteien. Die Ta- schneise oder um Hochspannungslei- durchaus relevante Größenordnung. gen auseinander. Proteste gegen Groß- gung „Bürger und Politik“ fragte am tungen für erneuerbare Energie. Kurzfristigkeit ist das Stichwort. projekte wie „Stuttgart 21“ werfen 20. und 21. Mai 2011, wie diesen Her- Auch in der Machtarchitektur der Fragen auf. Ist die herkömmliche re- ausforderungen begegnet werden • Die andere Geschwindigkeit des Parteien ist eine neue Hektik zu erken- präsentative Demokratie in eine Legi- kann. „zur debatte“ dokumentiert die Internets, die eine andere Art von Infor- nen, etwa im häufigeren Auswechseln timationskrise geraten? Weite Teile sechs Vorträge und Kurzreferate in mationsaustausch ermöglicht, ist zu er- von Führungskräften der Parteien. Das der Bevölkerung scheinen massiv an überarbeiteter und gekürzter Form. wähnen. Beim letzten Präsidentschafts- markanteste Beispiel dazu wird von der wahlkampf in Amerika, als Obama ge- SPD gesetzt: Sechs Vorsitzende in den wann, haben sich die Schwerpunkte der letzten zehn Jahren, zehn Vorsitzende Wahlkampfführung schon stark aus den in den letzten 22 Jahren. Vorher gab es Medien in das Internet verlagert. Auf drei Vorsitzende für 41 Jahre! Interes- die Frage nach den Gründen dieser Ver- sant ist auch, wenn man die wachsende lagerung war der Hinweis interessant: Zahl der Nichtwähler fragt, warum sie Demokratie am Wendepunkt? Die Medien sind doch viel zu langsam; eigentlich gar nicht mehr zur Wahl ge- zwischen einer Artikulationsform und hen: Der größte Anteil sagt, die Parteien Die bürgerliche Unruhe der Umsetzung in weite Felder der Ge- überzeugen nicht – 84 %. Der Wahl- sellschaft dauert es in den Medien viel kampf spricht mich nicht an – 72 %. und die Zukunft der Parteien zu lange. Da passiert beispielsweise an Meine Stimme zählt doch gar nicht – einem Mittag etwas, und erst am nächs- 40 %. Politik ganz generell interessiert Werner Weidenfeld ten Vormittag ist es wirklich in den Me- mich nicht – 33 %. Wahlen sind sowie- dien. Das muss doch viel schneller ge- so überflüssig – 16 %. Man kann also hen; da darf doch nicht jemand erst ein- durchaus sagen, dass es sich hier nicht mal bremsen. nur um eine generelle Politikverdros- Die Macht der Blogger-Netzwerke ist senheit handelt. Vielmehr ist diese Mo- Wie könnte eine strategische Lösungs- spürbar geworden. Die Herausforde- tivationslage spezifischer zu sehen. perspektive für die aktuellen Problem- rung für alle, die damit umgehen wol- lagen aussehen? len, liegt, weil unendlich viele Daten-In- formationen herumschwirren, darin, Insgesamt bedeutet dies: I. Vier Oberflächenbefunde zu unserer den Überblick zu behalten. Die Litera- Thematik tur, die sich mit solchen Sachverhalten Die Machtstrukturen der grundsätzlich, fast kann man sagen, Parteien werden labiler. • Unschwer ließ sich in den zurück - philosophisch auseinandersetzt, bringt liegenden Monaten feststellen, dass die das Problem auf ganz interessante Republik im Vergleich zu früheren Jahr- Kurzformeln. Jürgen Habermas hat Das Ganze bewegt sich vor einem zehnten machtpolitisch durchgeschüt- kürzlich geschrieben, es sei eine norma- Hintergrund der Flexibilität von Stim- telt wird. Es vergeht praktisch kaum ein tiv abgerüstete Generation der Kurzat- mungen und Einschätzungen, die sich in Wahlabend, wo nicht gesagt wird, das migkeit, die unsere Kultur im Moment Wahlergebnissen realisieren. Ich darf Sie sei ein historisches Ereignis. Gleichzei- prägt. Hans Magnus Enzensberger hat daran erinnern: Bei der Bundestagswahl tig wird das Ganze von einer großen ein kleines Büchlein geschrieben über fand bis zu dieser Phase, über die wir thematischen Hektik unterwebt, die die Entmündigung Europas, dieses jetzt sprechen, dieser neuen Hurtigkeit diese Gesellschaft erfasst hat: Hartz IV- Monster, das sich da herausbilde. Gabor und Mobilität, die größte Stimmver- Erhöhung um 5 oder 8 Euro, Steigerung Steingart schreibt in einem Feuerwerk schiebung im Jahr 1969 statt, als Willy der Krankenversicherungsbeiträge auf von Komplexität über das Ende der Brandt Kanzler wurde; eine Zäsur, die 14,9 oder 15,5 %, Lkw-Maut, Pkw- Normalität. in dem politisch-kulturellen Klima der Maut, Gorch Fock, Wikileaks, von dort Gesellschaft eine tiefe Aufwühlung mit bis zur Euro-Krise, Schengen-Korrektur, II. Tiefendimensionen ausgelöst oder mit widergespiegelt hat. Grenzkontrollen, Nordafrika-Transfor- Diese größte Verschiebung betrug 3,4 %; mation bis Fukushima, Biosprit, Trai- So viel zum Oberflächenbefund: Ich eine ganz andere Dimension als das, nerwechsel bei Bayern München, Lok- Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Professor denke, schon die wenigen Stichworte worüber wir heute sprechen. führerstreik usw. für Politische Wissenschaft und machen anschaulich, was da alles so vor Insgesamt bedeutet dies: Die Macht- In ihrer alltäglichen Umsetzung ver- Direktor des Centrums für Angewandte sich geht. Ich will mich nun den Tiefen- strukturen der Parteien werden labiler. sanden viele dieser so häufig wechseln- Politikforschung an der Universität dimensionen unseres Themas zuwen- Die Volksparteien haben in den zurück- den Themen in einer Sphäre plaudern- München den. liegenden Jahren die Hälfte ihrer Mit- der Irrelevanz. Die routinierten Öden- Erste Bemerkung: Die Machtarchi- glieder verloren. Die Medialisierung, die haftigkeiten von Talkshows, die sich sagen: Politik im Stresstest – Kern- tektur der Republik wird korrigiert. Wir das Ganze begleitet, wird dramatischer. dieser Hektik zuwenden, stehen hierfür schmelze des Vertrauens. bewegen uns nicht mehr in dem alten Das ist nun ein eigenes Thema, wenn beispielhaft. Tatsächlich gibt es kaum Stabilitäts- und Kontinuitätskalkül. Ich man die ganzen differenzierenden ein Thema, das die öffentliche Aufmerk- • Wir befinden uns im Superwahl- darf Sie daran erinnern, dass dieses Hintergründe mit reflektiert. Hier für samkeit länger als drei bis vier Tage jahr 2011, in dem zwischen den zwei Kontinuitäts- und Stabilitätskalkül und uns reicht meines Erachtens der Hin- wirklich bannt. In der jüngeren Vergan- Bundestagswahlen 2009 und 2013 sie- die daraus sich ergebenden Formen un- weis auf diese Dramatik, die durch die genheit gab es im Grunde genommen ben Landtagswahlen, ergänzt durch serer Republik dazu geführt haben, dass Verwebung der auch untereinander nur drei Themen, die länger als drei bis eine ganze Reihe von Kommunalwah- erstmals in der Geschichte der Bundes- konkurrierenden Medien zu beobach- vier Tage Aufmerksamkeit erhalten ha- len, stattfinden. Die extrem hohe republik Deutschland im Jahr 1998 eine ten ist, und die auch von der Politik so- ben: Guttenberg, Japan und die Konse- Stimmbeweglichkeit in diesen Wahlen Wahl einen Regierungswechsel erzwun- fort so beantwortet wird. quenzen, Libyen und die Transforma- ist bemerkenswert. Hamburg: CDU mi- gen hat. Vorher waren es, wenn es ein- Alles das, was ich bisher erwähnt tion Nordafrikas. In diesen sprunghaf- nus 20,7 %, SPD plus 14,3 %. Man kann mal zu einem Wechsel kam, Koalitions- habe, bedeutet nicht, dass sich unsere ten Aktionismus hinein entsteht der im Grunde genommen sagen: erd - wechsel, nicht erzwungen vom Wahler- Mitbürger nicht in irgendeiner Weise in Eindruck einer verwirrten Ratlosigkeit rutschartige Wählerbewegungen, und gebnis. 1998, also fast 50 Jahre nach dieser Gesellschaft und im politischen der politischen Akteure. In neumodi- zwar nicht nur Bewegungen zwischen Gründung, gab es zum ersten Mal einen Kontext engagieren wollen. Man kann scher Sprache könnte man als Resümee den Parteien, sondern auch zwischen Regierungswechsel durch ein Wahler- sogar sagen, diese Bereitschaft zum für diese Oberflächenbefindlichkeit Wählern und Nicht-Wählern. Ähnlich gebnis. Das Ganze wird begleitet von freiwilligen Engagement wächst eher.

6 zur debatte 5/2011 Es sind im Moment 36 % unserer Mit- Gesellschaft haben Konsequenzen im Ausschnitt, wozu jemand kompetent ist interessieren und davon auch nicht an- bürger in diesen Dingen engagiert. Wei- Blick auf zwei Schlüsselkategorien un- und wozu er die Kompetenz des ande- gesprochen sind. Sie können ja hundert tere 32 % sagen, sie seien bereit, sich zu seres gesellschaftlichen Zusammenhalts. ren braucht. In jeder Sekunde haben wir Beispiele dazu finden, dass, sagen wir, engagieren, wissen aber noch nicht ge- Es gibt auch noch weitere, aber ich unendlich viele Sachverhalte mit diesem jemand ausruft, wir brauchen regenerati- nau, wie. 30 % der bereits Engagierten will hier einmal zwei nennen. Das eine Vertrauensvorschuss. Das braucht eine ve Energie, wir brauchen Stromleitun- sind bereit, dies weiter auszubauen. ist gewissermaßen die Sicherheit, die moderne Gesellschaft. Wenn wir aber gen, wir brauchen da und dort eine Aber alle die, über die ich jetzt spreche, die Menschen in dieser Gesellschaft dieses Vertrauen entziehen, sehen wir Autobahnbrücke, wir brauchen Geo- brauchen, wünschen, fordern eine bes- empfinden, und das Vertrauen, das sie sofort, dass das handfeste Konsequen- thermie, wir brauchen Solarparks, ja, sere Information, was sie denn da ei- in dieser Gesellschaft mit einbringen zen hat. aber nicht vor meiner Haustür! Diese gentlich machen können. 89 % der und in diese Gesellschaft haben. Die Das zweite kennzeichnende Phäno- Art von Spannung erleben Sie bei vie- Nichtwähler fordern mehr Beteiligung. 1984 verstorbene führende deutsche men für eine moderne Gesellschaft ist len dieser Phänomene. Da ist also nicht eine Gesellschaft, die Soziologin Helge Pross hat noch 1982 die Multiplizierung des Wissens. Nicht in sich eingeschlafen ist, die überhaupt ein sehr interessantes Buch veröffent- jeder von uns weiß alles, sondern wir III. Gibt es eigentlich eine Lösung für nichts mehr bewegen will und sich so- licht, „Was ist heute deutsch? Wert- wissen alle mehr, aber es ist immer ein diese Problematik? wieso für nichts interessiert, sondern da orientierungen in der Bundesrepublik“. extremes Ausschnittswissen. Ich weiß ist durchaus ein soziales politisches Po- Sie hat dazu das gesamte empirische nur über einen Ausschnitt, ich brauche Für mich ist zunächst einmal eine tential vorhanden, das nur in den bishe- Datenmaterial, das sie zu diesem The- aber die Kenntnis aus dem anderen Anregung dazu ganz interessant, die rigen Formen und so, wie es gemacht menfeld irgendwo ausfindig machen Ausschnitt, und dann muss ich dieser wir vor Jahren in Europa schon einmal wird, sich offenbar nicht angemessen konnte, ausgewertet und ist zu folgen- Kompetenz vertrauen. Wenn ich also erlebt haben. Es gab schon einmal solch angesprochen fühlt. dem Ergebnis zu der Frage, was typisch dieses Vertrauen entziehe, entziehe ich eine Phase, in der man sagte, Europa ist deutsch ist, gekommen: die Sehnsucht auch bestimmte Schlüsselleistungen die- nicht mehr zu retten, das ist alles im Zweites Element der Tiefendimen- und das Streben nach Sicherheit. Das ser Gesellschaft. Unsicherheit in der Untergang befindlich, das wird viel- sion: Eine Pluralisierung der Parteien- ist es, was die Deutschen sehr dominant Misstrauensgesellschaft, das ist es, was leicht später noch ein paar Archäologen landschaft ist festzustellen. Ursprüng- prägt! Risiken zu vermeiden. Sicherheit wir im Moment gewissermaßen als interessieren, das ist doch nur noch ein lich war die Architektur unserer Politik ist nicht nur militärisch gemeint, son- Kern, Grundtenor fixieren können. gesellschaftlicher Ausschnitt aus dem in der Bundesrepublik im Wesentlichen dern ökonomisch, sozial usw. Museum. Das wurde Ende der 70er, An- durch zwei große Parteien und eine Wenn Sie einmal die Befunde zu die- fang der 80er Jahre auf einmal unter das kleine Partei geprägt. Dann begann es sem Sicherheitsempfinden in unserer Unsicherheit in der Miss- Schlagwort ‚Eurosklerose’ subsumiert. mit einer Pluralisierung im linken Spek- Gesellschaft prüfen, dann geht es dra- Dieses Europa war doch am Ende; trum, Ende der 70er, Anfang der 80er matisch bergab. Rentensicherheit, ein trauensgesellschaft, das schaut doch nach Japan, sagte man da- Jahre mit den Grünen. Aber wir dürfen Schlüsselthema dazu: 9,5 % unserer ist es, war wir im Moment mals, da ist die Zukunft. Es ist eigent- nicht übersehen, dass auch die anderen Mitbürger glauben, dass ihre Rente si- lich ganz interessant, wie man sich da- Teile des politisch-kulturellen Spek- cher ist; 88 % unserer Mitbürger sagen, gewissermaßen als Kern, mals dieser Herausforderung gestellt trums davon erfasst sind. Vor acht, nein, meine Rente ist nicht sicher. Das Grundtenor fixieren können. hat. Damals gab es zwei Spitzenpoliti- neun Jahren haben sich auf einmal eine Gleiche können Sie durchexerzieren ker, die gesagt haben, wir können das ganze Reihe bürgerlicher Bürgerinitia- vom Abchecken der Finanzkrise bis hin nicht einfach so treiben lassen, wir müs- tiven aus dem Wählerspektrum von zum Terrorismus, zur Energiesicherheit. Ich will darauf hinweisen, damit wir sen jetzt wirklich kraftvoll zupacken. Union/FDP gebildet, die nicht mehr mit Sie können beim Phänomen Terro- hier nicht eine Schieflage in der Argu- Das waren Mitterand in Frankreich und dieser Art der Parteistrategie einverstan- rismus sehen: Es ist das Ende der klassi- mentation bekommen, dass dieses Pro- Kohl in Deutschland. Sie sagten, so, den waren und so etwas wie einen Auf- schen alten Abschreckungsprinzipien; blem nicht nur in Deutschland vorhan- jetzt setzen wir uns zusammen und bruch inszenieren wollten. man muss sich jetzt anders mit solchen den ist, ob die Parteien diese Art Her- überlegen uns sorgfältig, wie wir eine Damals haben die Parteien sehr cle- Sachverhalten auseinandersetzen. Da ausforderungen noch wirklich im Griff wirklich historische Antwort darauf fin- ver darauf reagiert. Die Vertreter dieser ist eine ganz schwerwiegende Verände- haben. Sie können das genauso in Ita- den. Dann haben die beiden gesagt, als Bürgerinitiativen waren auf einmal in rung in unserer Gesellschaft. lien beobachten, Sie können die Ent- erstes brauchen wir einen strategischen jeder Talkshow präsent. Die Parteien Das gleiche kann man sagen zur Ka- wicklungen in Frankreich sehen. Zum Kopf. Gefunden haben sie diesen in haben darauf sehr positiv reagiert, ha- tegorie Vertrauen und Misstrauen. Wir ersten Mal seit vielen Jahrzehnten gibt Jacques Delors, damals Finanzminister ben das begrüßt, und haben denen so konnten in den letzten Jahren eine es in Großbritannien auch einmal wie- in Frankreich. Delors wiederum sagte die Luft für ihren Protest abgeschnürt. Fortsetzung des dramatischen Vertrau- der eine Koalitionsregierung. Denken zu Kohl und Mitterand: Das mache ich, Sie sind ja dann auch wieder ein Stück ensverlustes in dieser Gesellschaft beob- Sie an rechtspopulistische Entwicklun- aber ich brauche drei, vier Monate Zeit, weit verschwunden. Aber in Bayern war achten, natürlich – greifen wir es hier gen in Ungarn, in Finnland. Da sind wir um wirklich strategisch darüber nachzu- erstmals eine freie Wählergruppe im erst einmal ab – gegenüber der Politik. nicht alleine mit solchen Dingen. Oder denken. Überlegen Sie sich: Würde heu- Landtag vertreten. Diese Unruhe auch Es haben noch 10 % unserer Mitbürger denken Sie im Moment an die Protest- te einer sagen: Entschuldigen Sie bitte, in dem Teil, den sie nicht sofort dem – mal leicht über 10 %, mal leicht unter bewegung aktueller Art in Spanien, eine ich brauche jetzt einmal drei, vier Mo- Lager einer Protestbewegung zuordnen 10 %, je nachdem, welche Befragung Protestbewegung gegen die Perspektiv- nate Zeit, strategisch nachzudenken? würden, geht ja durchaus weiter, bis hin Sie heranziehen, also immer im Umfeld losigkeit. In Spanien gibt es 40 % Ju- Das wären ja karikaturhafte, satirische zur Piratenpartei. Sie haben immerhin von 10 % –Vertrauen in die Politik. gendarbeitslosigkeit. Die Protestbewe- Sendungen, die da losgetreten würden. 2 % aus dem Nichts heraus bei den 64 % drücken dagegen einen massiven gung dort ist auf Distanz zu allen Par- Aber damals hat Delors das gesagt. Wahlen gewonnen, obwohl niemand Vertrauensverlust aus. 74 % sagen: Ich teien und Gewerkschaften. Die gehen Nach vier Monaten kam er zurück und irgendeinen Kopf von denen kannte. glaube doch sowieso keinem Wahlver- auf Distanz zu alledem, was die Politik sagte: Ich bin zu einem Ergebnis ge- Das ist auch eine andere neue Form; sprechen mehr. Diese Vertrauensredu- dort anzubieten hat; es ist eine Distanz kommen. Wir müssen uns einer großen da müssen Sie nicht gleich irgendeinen zierung trifft aber jetzt nicht nur die zum Politikbetrieb insgesamt. Jenseits existenziellen Herausforderung stellen, überpopulären Spitzenkandidaten ha- Entscheidungsträger der Politik im en- dieses Vorgangs bei der Konjunktur von und dann können wir das Ganze wie- ben, um erfolgreich zu sein. Schauen geren Sinne, sondern eigentlich jede In- rechtspopulistischen Bewegungen in der hochbringen, weil wir große vitale Sie sich nur die inzwischen vorhande- stitution. Mit Ausnahme von Polizei Europa können Sie sehen, wir haben Kräfte freisetzen. Beim Nachdenken nen ganz unterschiedlichen Koalitions- und Verfassungsgericht ist das ein ziem- hier komplexe Probleme in Europa, und habe ich zwei Aufgaben identifiziert, strickmuster an; dieses Machtmosaik ist lich flächendeckendes Phänomen. da erwecken politische Entscheidungs- aber wir haben nur die Kraft für eine. einfach unendlich viel bunter geworden, Es gibt eine sehr interessante Unter- träger Aufmerksamkeit, wenn sie einfa- Welche sollen wir angehen? Die eine als es in früheren Jahrzehnten war. Es suchung, den sogenannten Edelman che Lösungen anbieten, und natürlich Aufgabe heißt, die Sicherheit Europas ist eben nicht mehr nur dieses einfache Trust Barometer, der jährlich weltweit auch mit einer direkten Benennung der neu zu organisieren, und die andere, entweder mal so oder mal so, sondern untersucht, wie das Vertrauen in einer Schuldigen. Diese großen Vereinfacher den Binnenmarkt zu vollenden. Mitte- mit Ausnahme der Einbindung der Lin- Gesellschaft vorhanden ist. Da ist der verbreiten auch leicht verständliche rand und Kohl entschieden sich für den ken, etwa in Koalitionen mit der Union, Misstrauenspegel in Deutschland am Botschaften. Binnenmarkt, worauf knapp 300 Geset- haben Sie ja praktisch alle denkbaren höchsten. Ich bin skeptisch, ob die Da- ze entwickelt wurden, die in einem be- unterschiedlichen Konstellationen in ten, die aus China oder anderswo kom- Das Résumé daraus: Die Bindekräf- stimmten Zeitrahmen, von 1996 bis dieser Republik, die man sich abstrakt men, korrekt sind; das lasse ich einmal te der Republik erlahmen. Der Wähler 2002, zu realisieren waren. 2002 hat vorstellen könnte. außen vor. Aber überall dort, wo Sie in kann sich auch nicht mehr so wie in man noch etwas drangehängt, nämlich diesen Befragungen subtile wissen- früheren Jahrzehnten am Geländer zu- die gemeinsame Währung. Das ist also Dritter Punkt: Die Erosion des ge- schaftliche Traditionen haben, kommen verlässiger Erklärungen festhalten; er schon einmal ein kleiner Hinweis dar- sellschaftlichen Zusammenhalts ist viru- wohl wirklich gute Daten. Bei denen ist taumelt eher im Nebel der Detailfeuer- auf, was man eigentlich tun sollte: stra- lent. Der erste Aspekt, an dem man es Deutschland Nr. 1. 54 % unserer Mit- werke. Und es tut sich – das haben wir tegisch denken und strategisch handeln. festmachen muss, ist natürlich die Ero- bürger sagen, sie können niemandem ja alle in den zurückliegenden Monaten Ich darf zum zweiten darauf hinwei- sion der alten Milieus, die diese Repu- vertrauen, also nicht nur nicht ihrem verspürt – durchaus eine Spannung auf sen, dass es Zeiten gab, in denen dieses blik sehr stark geprägt haben. Da ist Abgeordneten oder Minister, sondern zwischen den Regeln der repräsentati- Problem, das wir jetzt hier auf den dieses Arbeitermilieu, aus dem heraus niemandem in dieser Gesellschaft. ven Demokratie oder den Verfahren des Punkt gebracht haben, viel undramati- sehr stark SPD und Gewerkschaften er- Aber dieses Vertrauen ist eine Schlüs- Rechtsstaates und der punktuellen scher war, weil der politische Orientie- nährt wurden, mit ganz starken Binde- selkategorie einer jeden modernen Ge- Stimmung, der Wut oder der Begeiste- rungsbedarf, der dahintersteckt, durch- formen. Auf der anderen Seite ist es das sellschaft. Warum spielt diese Kategorie rung der örtlichen direkten Betroffen- aus weitgehend erfüllt wurde, beispiels- katholisch-christliche Milieu, das sehr weit über jede feuilletonistsche Prosa heit. Am Anfang dieser Protesterschei- weise nach dem Zweiten Weltkrieg mit stark die Union getragen hat. Beide Mi- hinaus so eine Schlüsselrolle? Man nungen haben ja viele darauf hingedeu- der Einigung Europas, auch im Pro und lieus haben sich in dieser Form aufge- kann sagen, jede moderne Gesellschaft tet und gesagt, schauen Sie sich mal das Contra. Nicht, dass immer alle dafür löst. Die gibt es so nicht mehr. Die gro- lebt vom Vertrauensvorschuss; es ist Sozialkundelehrbuch an, da ist doch al- waren, sondern die Prägung der gesell- ße politische Landschaft ist nicht mehr quasi der Sauerstoff des gesellschaft- les drin, die Verfahren der repräsenta- schaftlichen Wahrnehmung war klar. In von diesen Milieus geprägt. lichen Lebens. Warum? Weil die moder- tiven Demokratie usw. Da muss man Zeiten des Wiederaufbaus: soziale Diese Art Überwindung und die da- ne Gesellschaft extreme Arbeitsteilung eigentlich merken, dass viele dieser Marktwirtschaft. Als die Mauer fiel, mit verbundene Zerfaserung in der aufweist. Es wird ja immer präziser im Protestbewegungen sich dafür nicht auch einmal phasenweise dieses Bild

5/2011 zur debatte 7 der Nation. Dann war durchaus einmal praktizieren, also so einen Hauch von der Verfassungspatriotismus ein ernstes Jacques Delors bringen. Das hat eine Funktionen und Dysfunktionen der Thema in dieser Gesellschaft. Aber alles große Attraktion in dieser Gesellschaft das bindet die Bürger heute in diesem und ihrer Bedarfslage. direkten Demokratie in der Schweiz Ausmaß nicht mehr. Die Protestbewe- gungen, über die wir sprachen, interes- • Drittes Stichwort: Erweiterte Parti- Silvano Moeckli sieren sich dafür eigentlich auch nicht. zipationsformen müssen ermöglicht werden. Das Partizipationsthema ist Ich will vier Stichworte nennen, wie sehr komplex. Einfach nur per Finger- Parteien doch noch einmal auf eine Er- schnippen das und das, und hier und da folgsschiene kommen können. einmal ein Plebiszit, das wird das The- ma nicht lösen. Aber über erweiterten • Erstes Stichwort: Sie haben eine Partizipationsformen wie Partizipa- Funktioniert die direkte Demokratie programmatische Orientierungsleistung tionslotsen, partizipative Evaluation, in der Schweiz reibungslos? Gewiss zu erbringen, d.h. gewissermaßen nicht „adhocracy“, Internet-Plattform usw. nicht. Aber immerhin so gut, dass regel- von jeder Minute zur anderen in die muss man nachdenken. mäßig mehr als zwei Drittel der Schwei- nächste Sitzung hetzen und das nächste zer Stimmberechtigten bei Umfragen Thema kreieren oder aufnehmen, son- • Viertes Stichwort: Die Parteien angeben, auf keinen Fall darauf verzich- dern eine Deutungsleistung für die Ge- müssen eine zuverlässige Kommunika- ten zu wollen. Abstimmungen über sellschaft erbringen. Es gibt einen un- tion betreiben. Wenn Sie bei den Par- Sachfragen gehören seit mehr als hun- glaublichen Erklärungsbedarf in dieser teien sensibel auf den Punkt schauen, dert Jahren zu den politischen Identi- Gesellschaft, der nicht befriedigt wird. werden Sie das heute eigentlich kaum tätsmerkmalen der Schweiz. Nicht ganz Das Ordnen der durch das Internet pro- antreffen. Das sind schon kleine Juwe- dazu passen mag die im Durchschnitt duzierten Datenfülle ist beispielsweise len, wenn Sie dort kommunikative Zu- eher geringe Stimmbeteiligung von 45 ein elementarer Bedarf, der vorhanden verlässigkeitselemente finden. Sie wer- Prozent auf eidgenössischer Ebene. Die- ist. In der aktuellen Management-Lite- den ja in der Regel bei vielen Punkten se erklärt sich indessen dadurch, dass ratur findet sich inzwischen häufiger, es der Politik nicht wissen, ob das, was Ih- fast alle drei Monate Urnengänge statt- sei die eigentliche Leadership-Aufgabe nen da heute erklärt worden ist, morgen finden und die direkte Demokratie dazu eines Managers für sein Unternehmen, noch gilt, oder das hoffentlich heute zwingt, die Minderheiten einzubeziehen diese Daten zu ordnen. Das kann man Abend noch gilt. Das ist ja alles eine und einzubinden. Wenn ein breiter durchaus ein Stück weit parallel zur Po- ganz andere Art von Wuseligkeit. Kom- Konsens nicht zustandekommt und die litik sagen; politische Führungskräfte munikative Zuverlässigkeit ist demnach Konfliktintensität bis zum Abstim- müssen so etwas auch leisten. ein wirkliches Schlüsselelement. mungstermin hoch bleibt, steigt die Be- teiligung, wie bei der Abstimmung vom • Zweites Stichwort: Parteien kön- Die Parteien können aber durchaus 3. März 2003 über den UNO-Beitritt nen erfolgreich sein, wenn sie gewisser- trotz aller Dramatik der Problematik er- der Schweiz (58,4 Prozent). Die Stimm- maßen statt dieser sprunghaften situa- folgreich sein, wenn sie in angemesse- beteiligung ist in der Schweiz erst dann Prof. Dr. Silvano Moeckli, Professor für tiven Hektik, die wir in den letzten ner Form diese Herausforderungen be- gefährlich, wenn sie unter 10 Prozent Politikwissenschaft an der Universität Jahren erleben, strategisches Denken antworten. „ sinkt oder über 90 Prozent steigt. Im Sankt Gallen Folgenden möchte ich nicht die Institu- tionen und die Praxis der direkten De- mokratie in der Schweiz beschreiben – zu diesen Informationen kommt man II. Funktionen und Dysfunktionen leicht auf einschlägigen Websites –, son- dern in aller Kürze aufzeigen, welches Wenn direktdemokratische Elemente die positiven und negativen Wirkungen in ein politisches System eingefügt wer- der direkten Demokratie in der Schweiz den, verändert sich der politische Ent- sind. scheidungsprozess. Um eine Analogie zu verwenden: Direkte Demokratie ist I. Was ist direkte Demokratie? wie ein Virus, der sich im Betriebssys- tem (der repräsentativen Demokratie) Presse Es ist immer gut, vorab zu klären, ausbreitet. Ein Virus freilich, der auch worüber man spricht. Direkte Demo- positive Wirkungen hat. Im folgenden kratie heißt, dass die Stimmbürgerschaft Modell des politischen Entscheidungs- Tagespost nicht nur über Personen-, sondern auch prozesses (Abb. 1) sind die Funktionen 24. Mai 2011 – Am vergangenen Wo- über Sachfragen abstimmen kann. Die der direkten Demokratie – dies sind die chenende beschäftigten sich in Mün- wichtigsten direktdemokratischen Insti- positiven oder erwünschten Wirkungen chen Politologen und Politiker damit, tutionen sind das Plebiszit, das Referen- – mit arabischen Ziffern eingetragen, wie die traditionellen Akteure den ver- dum und die Initiative. Das Plebiszit die Dysfunktionen – die negativen oder änderten Bedingungen des Polit-Ge- wird nach Belieben und ad hoc durch unerwünschten Wirkungen – mit römi- schäfts begegnen, die Akzeptanz der ein Staatsorgan (von oben) ausgelöst, schen Ziffern. repräsentativen Demokratie in Deutsch- In der Reihe alpha-Logós auf BR-alpha zu einem Zeitpunkt, der gerade zweck - Direkte Demokratie erleichtert die land wieder wachsen könne, und sind sonntags von 19.15 bis 20 Uhr mäßig erscheint. Dieses kennt die Partizipation, erhöht die Zahl der Ak- tauschten sich über Erfahrungen mit folgende Beiträge über Tagungen der Schweiz nicht, und auch der Begriff ist teure und verbreitert so den Inputstrom. Formen direkter Bürgerbeteiligung in Katholischen Akademie zu sehen: verpönt. Das Referendum ist eine dau- Politische Partizipation ist leichter mög- anderen Ländern aus. Wer allerdings erhafte, verfassungsmäßig verankerte lich. Wenn die Volksinitiative vorhan- ein Loblied auf die sogenannte „direkte Institution und wird von unten – d.h. den ist, bedarf es keiner Interessenver- Demokratie“ erwartet hatte, die oftmals von einem Teil des Elektorats – oder mittlung von Parteien, Verbänden und von Menschen im linken politischen 25. September 2011 von oben – von einem Staatsorgan – Medien. Die Zutrittsschwelle zum poli- Spektrum eingefordert wird, wurde ent- Staat und Kirche – wie nah? nach genau festgelegten Regeln ausge- tischen System ist somit niedriger. täuscht. Die Experten waren sich wei - löst. Auf Bundesebene gibt es in der testgehend darüber einig, dass Formen Schweiz das fakultative Gesetzesrefe- Funktion 1: Umgehung staatlicher direkter Demokratie kein Allheilmittel 9. Oktober 2011 rendum, das von 50.000 Stimmberech- Akteure darstellen und lediglich als Ergänzung Würdig leben mit Demenz tigten oder acht Kantonen ergriffen zur repräsentativen Demokratie in Fra- werden kann. Die Initiative wird von In der direkten Demokratie können ge kämen. unten ausgelöst. Mit ihr kann, auch ge- Forderungen unter Umgehung von or- Von einer „Kernschmelze des Vertrau- 23. Oktober 2011 gen den Willen der Staatsorgane, ein ganisierten nichtstaatlichen Akteuren ens“ in die politischen Parteien sprach Bürger zwischen Wut und Einfluss Volksentscheid herbeigeführt werden. direkt bei den staatlichen artikuliert Professor Werner Weidenfeld, Polito - In der Schweiz braucht es für eine Ver- werden, und sind auch diese unwillig, loge am Centrum für Angewandte Poli- 6. November 2011 fassungsinitiative 100.000 Unterschrif- so gelangen sie im Fall der Initiative di- tikforschung an der Universität Mün- Spiritualität des Krankseins ten. Der Wesenskern der direkten De- rekt zur Volksabstimmung (Phase 3, ge- chen. Es gebe heute „erdrutschartige mokratie besteht darin, dass eine Min- strichelte Linie). Mit Hilfe der Initiative Wählerbewegungen zwischen den Par- derheit gegen den Willen der politi- können auch Neuerungen eingebracht teien“. Neben diesen beiden veränder- 20. November 2011 schen Mehrheit eine Volksabstimmung werden, die im repräsentativdemokrati- ten Bedingungen für die politischen Ak- Hiobs Frage nach Gott auslösen kann. Die Qualität der direkt- schen Prozess keine Chancen hätten. teure entdeckten die Deutschen zudem demokratischen Institutionen misst sich Damit hat die direkte Demokratie auch eine „neue Freude an den Protestbewe- nicht in erster Linie an der Zahl der Ab- Innovationsfunktion. Direkte Demokra- gungen sowie die Unterhaltsamkeit des 4. Dezember 2011 stimmungen oder der Vielfalt der Insti- tie ist somit ein zusätzlicher institutio- Protestierens“. Konsequenzen ergeben Leitkultur tutionen, sondern an deren Ausgestal- neller Kanal zur Artikulation und Ag- sich laut Weidenfeld auch in einer tung. Finanzierungsvorbehalte, Tabuthe- gregation von politischen Forderungen. durch das Internet stark erhöhten poli- men, Zustimmungs- und Beteiligungs- Vor allem politischen Gruppen außer- tischen Debattenkultur. „Die Macht- 18. Dezember 2011 quoren werden in der Schweiz nicht ge- halb des etablierten Parteien- und Ver- struktur der Parteien wird labiler“, dia- Kirche im Pluralismus schätzt. bändesystems, die keinen Zugang zum gnostizierte Weidenfeld. repräsentativen System haben, bietet di- Clemens Mann rekte Demokratie zusätzliche Chancen

8 zur debatte 5/2011 der Partizipation. Die Initiative lenkt mitberücksichtigt werden. In der gewissermaßen Druck von unten in in- Schweiz hat die direkte Demokratie auf Begriffe zur direkten Demokratie stitutionelle Kanäle und ist so auch ein allen Staatsebenen zur Bildung von Seismograph für unbewältigte politische Konkordanzregierungen geführt, ob- Probleme. wohl dies nirgendwo verfassungsmäßig vorgeschrieben ist. Alle Stimm- und Wahlberechtigten ei- Die Auslösung eines Referendums ist Funktion 2: Agenda-Setting nes Staates bzw. einer gliedstaatlichen fakultativ-minoritär, wenn geltende Funktion 4: Akzeptanz politischer oder lokalen Einheit bilden das Elekto- Rechtsnormen vorsehen, dass eine be- Direkte Demokratie ermöglicht ein Entscheide rat. stimmte Anzahl Gliedstaaten, eine Min- so genanntes Agenda-Setting: Ein derheit im Parlament oder eine be- Gegenstand wird damit auf die Traktan- Die wohl besten Leistungen erbringt Direkte Demokratie heißt, dass das stimmte Anzahl Stimmbürger verlangen denliste der Öffentlichkeit gesetzt (Pha- die direkte Demokratie beim Output Elektorat an der Urne über Sachfragen können, dass ein von den Staatsorganen se 2). Umstrittene Initiativ- und Refe- und beim Outcome, denn gewöhnlich entscheiden kann. vorgegebener Sachgegenstand der rendumsgegenstände lösen gewöhnlich gilt: Je mehr Staatsbürger über einen Volksabstimmung unterbreitet wird. breite Diskussionen in der Bevölkerung Gegenstand entscheiden, desto legiti- Staatsorgane sind Parlament, Regie- und in den Medien aus. Wer initiativ- mer ist er. Ein Volksentscheid wird eher rung (inkl. Staatspräsident), Gerichte Die Auslösung eines Referendums und referendumsfähig ist, hat damit die akzeptiert und lässt sich leichter durch- und Verwaltung. ist fakultativ-plebiszitär, wenn die Möglichkeit, zu bestimmen, welche po- setzen als ein Entscheid einer politi- Mehrheit des Parlaments, die Regierung litischen Diskurse in einem Staat ge- schen Elite. In jüngster Zeit wurden Bindend (dezisiv) ist das Ergebnis ei- oder der Staatspräsident – ohne nach führt werden. So werden in der Schweiz Vergleiche gezogen zwischen Stuttgart ner Volksabstimmung über Sachfragen, geltenden Rechtsnormen dazu verpflich- auch Initiativen ergriffen, die von vorn- 21 und dem Bau neuer Eisenbahn- wenn es nach der Abstimmung ohne tet zu sein – einen bestimmten Sach- herein als chancenlos eingeschätzt wer- Alpentransversalen in der Schweiz weiteres rechtskräftig wird. Nichtbin- gegenstand der Volksabstimmung unter- den, allein wegen der Funktion des (NEAT). Auch der Bau neuer Eisen- dend (konsultativ) ist das Ergebnis, breitet. Agenda-Settings. Initianten erhoffen bahntunnels durch die Schweizer Alpen wenn Staatsorgane entscheiden können, sich davon so genannte indirekte Wir- war zu Beginn höchst umstritten. Die ob oder inwieweit das Abstimmungser- Volksinitiative heißt, dass ein Teil des kungen, nämlich einen allmählichen Schweizer Stimmberechtigten haben gebnis implementiert wird. Elektorats einen Vorschlag zur Regelung Bewusstseinswandel in der politischen zweimal, 1992 und 1998, mit über 60 einer Sachfrage unterbreiten kann, der Elite und im Volk, der das Anliegen Prozent ja gesagt zur NEAT. Wider- Referendum heißt, dass das Elekto- obligatorisch der Volksabstimmung später mehrheitsfähig macht. stand gegen den Bau gab es keinen, und rat über einen von den Staatsorganen unterliegt. das Gefühl des Stolzes nach der Eröff- vorgegebenen Sachgegenstand ent- Funktion 3: Zwang zum Kompromiss nung des Lötschberg-Basistunnels 2007 scheidet. Volksanregung heißt, dass ein Teil des und dem Durchstich am Gotthard am Elektorats einen Vorschlag zur Regelung Direkte Demokratie übt einen star- 15. Oktober 2010 verband alle Bevölke- Die Auslösung eines Referendums ist einer Sachfrage unterbreiten kann und ken Zwang zum Kompromiss und zur rungsschichten und Regionen. obligatorisch, wenn geltende Rechtsnor- Staatsorgane entscheiden, ob er der Antizipation der „Volksmeinung“ auf men vorsehen, dass ein bestimmter Volksabstimmung unterbreitet wird oder die Akteure aus. So wie gewählte Politi- Funktion 5: Systemfunktionen Sachgegenstand in jedem Fall der Volks- sonstwie Rechtsnormen geschaffen oder ker ständig an die nächste Wiederwahl abstimmung zu unterbreiten ist. geändert werden. denken müssen, müssen Akteure bei Die direkte Demokratie erfüllt auch Entscheiden, die obligatorisch oder drei wichtige Funktionen im gesamten fakultativ der Volksabstimmung unter- Entscheidungsprozess, so genannte Sys- stehen, ständig kalkulieren, ob die Vor- temfunktionen: Politische Kommunika- lage eine Mehrheit unter den Stimmen- tion, politische Sozialisation und politi- den finden werde. Das zwingt zur Rück- sche Rekrutierung. Mehr involvierte sichtnahme auf die Volksstimmung und Akteure heißt auch, dass das Sachwis- auf andere relevante politische Akteure, sen viel breiter verteilt ist als in der re- zum Kompromiss. Minderheiten haben präsentativen Demokratie. Der Zwang damit gute Chancen, dass ihre Anliegen zum Kompromiss hat eine Vielzahl Die direktdemokratischen Instrumente auf Bundesebene in der Schweiz

Instrument, Anwendungsbereich Erfordernis für Bemerkungen (Jahr der Einführung) Zustandekommen

Verfassungs- (1848) und Verfassungsänderungen; obligatorisch Volks- und Ständemehr Staatsvertragsreferendum Beitritt zu supranationalen erforderlich (1921, 1977) Gemeinschaften oder Bundesverfassung, Artikel Organisationen für 140 kollektive Sicherheit Gesetzesreferendum (1874) Gesetze sowie 50'000 Unter- Einfaches Volksmehr (fakultativ) referendumspflichtige schriften oder acht BV 141 Bundesbeschlüsse Kantone

Staatsvertragsreferendum Völkerrechtliche Verträge 50'000 Unter- Einfaches Volksmehr (1921, 1977, 2003) schriften oder acht BV 141 (fakultativ) Kantone Resolutives Referendum Für dringliche Bundesbe- Ohne Verfassungs- Beschluss tritt nach einem (1949) (nachträgliche Auf- schlüsse, welche durch die grundlage: Jahr ausser Kraft, falls hebung eines Bundes- Bundesversammlung dem obligatorische ohne beschlusses) fakultativ oder Referendum entzogen Abstimmung. Verfassungsgrundlage und obligatorisch werden Verfassungs- nicht durch Volk und mässig: 50'000 Stände bestätigt Unterschriften BV 140, 141 Verfassungsinitiative auf Gesamterneuerung der ϭϬϬ͛ϬϬϬ Stimmt das Volk der Totalrevision der Verfassung Verfassung Unterschriften Initiative zu, wird das (1848) Parlament neu gewählt und die Totalrevision ist an die Hand zu nehmen BV 138, 193 Verfassungsinitiative auf Ausformulierter Entwurf ϭϬϬ͛ϬϬϬ Wird vom Parlament zur Teilrevision der Verfassung oder allgemeine Anregung Unterschriften Annahme oder Abb. 1: Modell des politischen Prozes- (1891) Verwerfung empfohlen. ses mit direkter Demokratie Möglichkeit des Gegenentwurfs. Volks- und Ständemehr BV 139, 194

5/2011 zur debatte 9 sozialer Beziehungen und Interaktionen Verfassungstexte können mehrheits- Partizipation möglichst vieler näher Direkte Demokratie ist immer zur Folge, in deren Verlauf Verständnis fähig sein, wie unlängst in der Schweiz kommt als die rein repräsentative, als nur Ergänzung, nie Ersetzung der geweckt wird für die Positionen und die Anti-Minarett- oder die Ausschaf- „höherwertige Form“ von Demokratie repräsentativen Demokratie. Sie ist, wie Interessen von anderen. Politische Sozi- fungsinitiative. betrachten kann. Meine Antwort heißt gesagt, keine höherwertige Form von alisation meint, dass im Umgang mit Interessengruppen können dank di- nein. Demokratie. Direkte Demokratie hat, der direkten Demokratie das Bewusst- rekter Demokratie jene Themen und Direkte Demokratie ist nicht schon wie jede politische Institution, Stärken sein für demokratische Grundwerte ge- Forderungen herausgreifen, die für sie von vornherein besser als andere For- und Schwächen. schärft wird. Man lernt, andere Meinun- von Bedeutung sind, ohne politische men von Demokratie. Es kommt bei der Es kommt bei der Beurteilung der gen zu respektieren, nach tragfähigen Verantwortung für das Ganze oder für Beurteilung der Qualität der Demokra- Demokratie darauf an, ob man mehr Lösungen zu suchen, Minderheiten die Finanzierung zu tragen. Sie treten tie eben nicht allein auf die Institutio- Wert auf die Input- oder die Outputseite nicht zu überfahren und wie erwähnt damit in der Interessenvermittlung zwi- nen an, sondern vielmehr darauf, wie des politischen Prozesses legt. Wer ra- einmal getroffene Entscheide zu akzep- schen Gesellschaft und Staat fallweise sie ausgestaltet sind und wie sie gelebt sche Entscheide möchte, setzt eher auf tieren. Die Deutschschweizer Mehrheit in Konkurrenz zu den Parteien. Dies werden. Ein rein repräsentatives System beschränkte Partizipation. Wer Partizi- hat gelernt, mit den sprachlichen Min- schwächt die politischen Parteien. Die kann demokratischer sein als ein direkt- pation als Wert an sich betrachtet, derheiten großzügig umzugehen. direkte Demokratie ist natürlich auch, demokratisches, in welchem dieser Pro- nimmt dafür einen verlangsamten Ent- wegen des Referendums, ein Instrument zess monopolisiert wird, meist von den- scheidungsprozess in Kauf. Er kann Nachdem die Funktionen die positi- zur Entscheidungsverhinderung, nicht jenigen, die über genügend Ressourcen ven Seiten der direkten Demokratie nur ein Instrument zur Durchsetzung verfügen und ohnehin den Politikpro- aufgezeigt haben, nun zu den Dysfunk- von Innovationen. zess dominieren. Es kommt bei der Beurtei- tionen. Ich beginne wiederum beim In- Eine zweite Frage heißt, ob direkte put. Dysfunktion 4: Überforderung der Demokratie, wie sie die Schweiz oder lung der Demokratie darauf Stimmbürgerschaft Gliedstaaten der USA kennen, ein Ex- an, ob man mehr Wert auf Dysfunktion 1: Inanspruchnahme portartikel sei, der auf andere politische durch „Hauptakteure“ Empirische Untersuchungen in den Systeme übertragen werden sollte. Mei- die Input- oder die Output- USA wie in der Schweiz belegen, dass ne Antwort ist eher nein. seite des politischen Prozes- Direkte Demokratie bietet zwar zu- die Mehrheit der Stimmbürgerinnen Die direktdemokratischen Institutio- sätzliche Möglichkeiten der politischen und Stimmbürger ihre Entscheide mit nen können nicht isoliert von den poli- ses legt. Partizipation und der Problemartikula- einem Minimum an Sachwissen fällt. tischen Rahmenbedingungen, der politi- tion, aber nur eine kleine Minderheit schen Kultur und den übrigen politi- aber damit rechnen, dass die Entscheide politisch aktiver Bürger macht von die- schen Institutionen betrachtet werden. tragfähig sind. Partizipation und Effi- sen Möglichkeiten auch tatsächlich Ge- Erst die direkte Demokratie In einen anderen Kontext gestellt, hät- zienz stehen immer in einem Span- brauch, und zwar meist jene, die schon hat die Schweiz zu einem ten die direktdemokratischen Instru- nungsverhältnis. Für die US-Gliedstaa- den repräsentativdemokratischen Pro- mente andere Wirkungen. Insbesondere ten und die Schweiz gilt, dass – über ei- zess dominieren. Auch in der direkten eher konsensorientierten sind sie schwer vereinbar mit einer par- nen längeren Zeitraum gesehen – die Demokratie bedarf es einer aktiven System gemacht. lamentarischen Regierungsweise, die direkte Demokratie nicht weniger effi- Minderheit, welche die „Initiative“ er- weder die USA noch die Schweiz ken- zient ist als die rein repräsentative. greift. Entschieden wird zwar schluss- nen. Wenn die direkte Demokratie in Wenn man die Schweiz an den politi- endlich durch einen Teil des Volkes; Die Stimmbürgerinnen und Stimm- den USA und in der Schweiz einiger- schen und wirtschaftlichen Resultaten Auslösung, Vorbereitung, Formulierung, bürger sind, zumal wenn sie mit einer maßen zufriedenstellend funktioniert, misst, dann schneidet sie in internatio- Begründung der Entscheidung liegen großen Anzahl von Abstimmungsgegen- so bedeutet das nicht, dass dies in poli- nalen Vergleichen sehr gut ab. Aber es aber bei einer politischen Elite. ständen konfrontiert werden, nicht, tischen Systemen mit anderer Tradition kommt in der Politik nicht nur auf das schlecht oder falsch über die Vorlagen und Struktur ebenso wäre. Man muss Ergebnis an, sondern auch darauf, wie Dysfunktion 2: Direkte Demokratie informiert, und selbst wenn sie sich zu indessen beifügen, dass direkte Demo- es zustandegekommen ist. Wer in politi- verzögert den Durchfluss von Forde- informieren versuchen, sind manche kratie auch ein Instrument ist, um die schen Entscheidungsprozessen verliert, rungen durch das politische System Gegenstände zu komplex, als dass sie Struktur des politischen Systems umzu- wird diese Niederlage eher akzeptieren, und damit auch Problemlösungen verstanden würden. Für eine fundierte gestalten. Erst die direkte Demokratie wenn der Entscheid auf faire, transpa- Kenntnis aller Abstimmungsgegenstände hat die Schweiz zu einem eher konsens- rente und partizipative Weise zustande- Weil die Zahl der Akteure potentiell wären die Informationskosten enorm orientierten System gemacht. Deutsch- gekommen ist. höher ist und wegen des „Damokles- hoch. Bei komplexen Abstimmungs- land beispielsweise wäre – anders als Direkte Demokratie hat, wo sie ver- schwerts“ der Volksabstimmung, das gegenständen ist in der Schweiz nur die Schweiz – gegen unerwünschte Wir- wirklicht worden ist, weder die großen über allen wichtigen politischen Ent- etwa ein Sechstel der Stimmenden aus- kungen bereits mit einer Antiviren-Soft- Hoffnungen ihrer entschiedenen Befür- scheiden schwebt, müssen breit abge- reichend informiert und kann auch noch ware ausgerüstet, nämlich einem star- worter erfüllt noch die Befürchtungen stützte Kompromisse gesucht werden. einen Grund für den Abstimmungsent- ken Verfassungsgericht. ihrer erbitterten Gegner eintreten las- Das macht den Prozess des Interessen- scheid nennen. Beifügen muss man, Dritte Frage: Gaukelt direkte Demo- sen. Sie ist ein nützliches, wenn auch ausgleichs sehr schwierig und langwie- dass in einer direkten Demokratie der kratie eigentlich nur den Schein von kein magisches Instrument in einer (po- rig. Ziel der politischen Elite ist es durchschnittliche Wissensstand über mehr Demokratie vor, da sie die in sie litisch) unvollkommenen Welt. Man nicht, dem Volk möglichst viele Ent- politische Streitfragen in der Regel gesetzten Erwartungen gar nicht erfül- muss sie messen an real existierenden scheide vorzulegen, sondern ganz im höher ist als in der repräsentativen len kann? Diese Frage würde ich ver- anderen demokratischen Systemen, Gegenteil, Volksabstimmungen tun- Demokratie. neinen und für ein realistisches Demo- nicht an einer idealen Demokratie, die lichst zu vermeiden. Politische Haupt- kratieverständnis plädieren. es nirgendwo gibt. „ akteure können die direktdemokrati- Dysfunktion 5: Direkte Demokratie schen Instrumente als Obstruktions- kann politische Konflikte verschärfen mittel benutzen, wenn es ihnen nicht gelingt, eine unliebsame Entscheidung Der direktdemokratische Output ist innerhalb der repräsentativdemokrati- dann konfliktträchtig, wenn die Initiati- schen Kanäle zu verhindern. Die Oppo- ve dazu benutzt wird, mit einer „Alles sition kann mit dem Mittel der Sachab- oder Nichts“-Politik und politischen stimmung versuchen, die Regierung zu „Patentrezepten“ Probleme, die eines stürzen. Jede Niederlage der Regierung breiten Diskurses und einer Kompro- Kommende Akademieveranstaltungen in einer Volksabstimmung wird sofort misslösung bedürften, rasch zu „bewäl- Diese Terminvorschau ist vorläufig. Sie entspricht dem Stand unserer Planungen. mit dem Ruf nach Rücktritt verbunden, tigen“. Zu allen Veranstaltungen werden rechtzeitig jeweils gesonderte Einladungen weil die Regierung das Vertrauen der Direkte Demokratie kann zur Tyran- ergehen. Dort finden Sie dann das verbindliche Datum. Stimmenden verloren habe. Freilich nei der Mehrheit über eine Minderheit kennt die Schweiz den Regierungs- werden, wenn zum Beispiel in einem sturz durch das Parlament nicht. Mit- Staat ethnische Konfliktlinien vorherr- Reihe „Länder-Revue“ Philosophische Woche glieder der Regierungen auf allen Ebe- schen. Minderheiten können durch Samstag, 24. September 2011 12. bis 15. Oktober 2011 nen sind fest für eine Legislativperiode Volksentscheide Rechte verlieren, die Japan heute Religion in pluraler Gesellschaft im Amt. sie in repräsentativen Körperschaften erkämpft haben. Bei politisch wertgela- Vernissage Reihe Autoren zu Gast Dysfunktion 3: Direkte Demokratie denen Kontroversen, etwa der Todes- Dienstag, 27. September 2011 bei Albert von Schirnding schwächt die etablierten politischen strafe oder der Abtreibung, kann direkte How to paint! Dienstag, 18. Oktober 2011 Akteure Demokratie bestehende Konflikte ver- Jerry Zeniuk & seine Meisterschüler Angela Krauß schärfen. Anhand der Abstimmungsre- Die Initiative ermöglicht es, die sultate in den Gemeinden kann man ge- Abendveranstaltung Exkursion nach Venedig Donnerstag, 20. Oktober 2011 Staatsorgane zu umgehen und direkt an nau ermitteln, wo die Konfliktlinien 4. bis 8. Oktober 2011 die Stimmbürgerschaft zu gelangen. Das verlaufen, was wiederum bereits beste- Gerechtigkeit im Steuerrecht – Biennale 2011 Gegenwartsauftrag oder schwächt die Parlamentsmehrheit, hende Animositäten befeuern kann. Führungen, Gespräche, Begegnungen stärkt aber oppositionelle Parlamenta- intellektueller Traum? rier. Damit entfällt auch, was den parla- III. Beurteilung der direkten mentarischen Aushandlungsprozess Demokratie in der Schweiz Festveranstaltung Reihe Christentum und Buddhismus prägen sollte: Reflexion, Gegenargu- Dienstag, 11. Oktober 2011 im Gespräch mentation, Kompromissfindung, wis- Bei der Beurteilung der direkten Verleihung des Ökumenischen Preises 21. und 22. Oktober 2011 senschaftliche Beratung und persön- Demokratie stellen sich verschiedene an Landesbischof West meets East liche Konfrontation der Kontrahenten. Fragen. Eine erste lautet, ob man direk- Dr. Johannes Friedrich Der Buddhismus und das Abendland Eher radikal formulierte Gesetzes- und te Demokratie, da sie dem Ideal der

10 zur debatte 5/2011 Geschichte auch kein großer Druck in Nun einige Meilensteine: 1912 gab es Unterschiedliche Formen des demo- diese Richtung ausgeübt worden. Es die allererste Abstimmung über die Ab- handelt sich eben um eine Bewegung schaffung der Todesstrafe. Sie scheiterte. kratischen Willensbildungsprozesses: der Bundesstaaten. Man hat es 1960 noch einmal versucht und ist wiederum gescheitert. Wie Sie Erfahrungen aus den USA II. sehen, gab es schon vor hundert Jahren eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Conrad Tribble Der erste Bundesstaat, der 1898 ein dem Thema Todesstrafe. Es hat weitere Initiativ- und Referendumsrecht einge- interessante Volksentscheide gegeben, führt hat, war South Dakota. Oregon z.B. 1914 den Volksentscheid „One day war die Nr. 2 – wohlmöglich von of rest in seven“, ein Versuch, den schweizerischen Immigranten beein- Sonntag zum Ruhetag zu erklären. Interessant ist, um damit zu begin- flusst. Kalifornien folgte 1911, weitere Auch das ist gescheitert. Es gab zudem nen, die heutige Themenmischung, also Bundesstaaten danach. Insgesamt sind mehrere Versuche, ein Alkoholverbot in der Vergleich Schweiz – USA gerade zu es heute 24 Bundesstaaten, also unge- Kalifornien durchzusetzen – vor der diesem Thema, dem „demokratischen fähr die Hälfte, die über eine Form von landesweiten Prohibition, die im Jahr Willensbildungsprozess“. In der Sub- direkter Demokratie verfügen. Interes- 1919 per Zusatzartikel zur Verfassung stanz natürlich interessant, aber auch sant zu sehen ist es auch, dass die meis - durchgesetzt wurde. Erfreulicherweise ein bisschen in meiner Person: Sie er- ten Bundesstaaten mit direkter Demo- wurde das Alkoholverbot bereits 1933 wähnten Schweizer Immigranten in Ka- kratie im Westen der USA liegen. In wieder aufgehoben. Steuerfragen, Regie- lifornien. Ich selbst bin halb Schweizer; Florida und Alabama kann man nur per rungsfunktionen, Gerichtsbarkeit, Aus- meine Mutter ist im Tessin geboren und Referendum über ein schon verabschie- bildung, öffentliche Finanzierung, Um- ist dann mit 18 Jahren in einer schwei- detes Gesetz abstimmen. Es sind die welt: Das sind die Hauptthemen, die zerischen Gemeinschaft in Kalifornien westlichen Staaten Colorado, Arizona sich über die vergangenen 100 Jahre gelandet. Familia Bernasconi. Insofern und Kalifornien, die diesbezüglich von herauskristallisiert haben. Das sind die ist diese Verbindung Schweiz – Ameri- sich reden machen. Themen, die das Volk bewegt haben. ka, Schweiz – Kalifornien sogar sehr Der Prozess verläuft jeweils unter- persönlich für mich. schiedlich. Natürlich darf ihn jeder III. Bundesstaat so gestalten, wie er will. I. Jeder, d.h. eine Gruppe oder eine Per- Lassen Sie uns einen Sprung nach son, kann einen Antrag auf Volksent- vorne machen: 1978 fand einer der Ich werde mit der Geschichte anfan- scheid, entweder initiativ oder per Refe- wichtigsten Volksentscheide in Kalifor- gen, weil man das, was wir in den USA rendum, stellen. Die Hürden dafür, eine nien statt, mit dessen Auswirkungen wir unter direkter Demokratie verstehen Unterschriftensammlung zu starten, heute noch leben. Aus verschiedenen und was als solche existiert, nur in An- sind in der Regel ziemlich niedrig. In wirtschaftlichen und politischen Grün- betracht der Geschichte verstehen Kalifornien muss man einfach einen den kam es zur Entscheidung, ob man kann. Wir haben ja eine Tradition der Conrad Tribble, Generalkonsul der schönen Titel und eine kleine Zusam- die Grundsteuer, d.h. die Immobilien- direkten Demokratie, schon in der Ko- Vereinigten Staaten von Amerika, menfassung dessen, was darunter zu steuer, reduzieren sollte, und zwar auf lonialzeit: Die berühmten Town Mee- München verstehen ist, von der obersten Wahl- eine sehr geringe Basis, oder nicht. Die tings in den kleinen Städten von Neu- behörde, dem „Secretary of State“ – ge- Steuersenkung wurde mit 65 % ange- england bildeten das Fundament des meint ist nicht Hillary Clinton, sondern nommen, und gleichzeitig wurde die demokratischen Denkens unserer die Staatssekretäre der Bundesstaaten – Verfassung insofern geändert, als dass Gründerväter. Sie finden immer noch struktur entstanden in dieser Periode. absegnen lassen. Dann darf die Person der Landtag, also die Legislatur von statt. Man schreibt sie mit großem T Beispiele sind die „Interstate Commerce oder die Gruppe mit der Unterschriften- Kalifornien, nur noch mit Zweidrittel - und großem M. Man sagt nicht „I am Commission“ und das Gesetz zum sammlung anfangen. In der Regel mehrheit Steuererhöhungen durchset- going to the Town Meeting“, sondern „interstate commerce“, also zum Han- braucht man Unterschriften von zwi- zen konnte. Was Finanzierungsmöglich- „I am going to Town Meeting“. Das ist del zwischen den Staaten, auf dem heu- schen 5 und 10 % der Wahlberechtig- keiten angeht, hat das den Spielraum ein stehender Begriff, ein Konzept. Das te noch die Gesetzgebung in den Berei- ten. Man muss diese innerhalb eines der Legislatur seitdem sehr einge- ist Teil unserer Geschichte. chen Handel und Wirtschaftsregulie- Zeitraums von ein paar Monaten bis zu schränkt, auch angesichts der Tatsache, Die Einführung der verschiedenen rung basiert; oder der „Sherman Anti- vier Jahren sammeln. In Kalifornien be- dass alle Bundesstaaten gemäß Verfas- Verfahren wie Referendum, Initiativ- trust Act“, also das Kartellgesetz, 1890 nötigt man zwischen 5 und 8 % der ab- sung jedes Jahr einen ausgeglichenen recht und auch die Abberufung von eingeführt, aber erst unter Teddy Roose- gegebenen Stimmen der letzten Gou- Haushalt aufweisen sollten. Es ist sehr Politikern ist bei uns aber ein bisschen velt durchgesetzt, das die verschiedenen verneurswahl. 1912 waren das 53.000 schwer, heutzutage Abgeordneter bei- später gekommen, am Ende des 19. Kartelle, z.B. Standard Oil, ausein- bis 80.000 Unterschriften; heute sind es spielsweise in Sacramento zu sein, weil Jahrhunderts. Das ging einher mit der andergenommen hat; oder auch die 500.000 bis 800.000, je nachdem, ob es es unheimlich schwierig ist, die Erwar- bekannten Reformbewegung der soge- Nationalparks, die wir heute genießen um eine Verfassungsänderung geht oder tungen der Bürger und die Realität des nannten „progressive era“, die etwa können und die Sie wahrscheinlich nicht. Das ist also schon eine ganze Haushaltes ansatzweise in Einklang zu zwischen 1890 und 1920 eine sehr star- auch schon besucht haben, wie z.B. den Menge. bringen. Der damalige Gouverneur Jer- ke Wirkung auf das gesamte politische Yellowstone National Park; und viele Wenn ein Volksentscheid vom ent- ry Brown hat gegen den Volksentscheid System in Amerika hatte. Die Reform- Regulierungsbehörden, die noch immer sprechenden Volk gebilligt wird, dann gekämpft und hat verloren bzw. das bewegung war eine Reaktion auf die In- existieren. tritt er in der Regel auch in Kraft. Die Volk hat gewonnen. Er hat dann ver- dustrialisierung, die in der letzten Hälf- Auch im politischen Bereich gab es Gerichtsbarkeit, also die gerichtliche sucht, für den Rest seiner ersten Amts- te des 19. Jahrhunderts stattgefunden damals viele Änderungen, die für uns Überprüfung, ob ein Volksentscheid zeit (1975–1983) mit den Auswirkungen hatte. Die Industrialisierung brachte na- heute noch sehr wichtig sind. Die Vor- auch verfassungskonform ist, folgt ge- zurechtzukommen. türlich auch großes Wachstum und gro- wahlen zu den Präsidentschaftswahlen wöhnlich erst im Nachhinein. Man Lassen Sie uns einen weiteren ßen Reichtum, jedenfalls für einige, und – die „Primaries“, wie wir sie nennen – kann also bis auf ganz wenige Ausnah- Sprung nach vorne machen: In diesem machte uns gewissermaßen zu einer wurden Ende des 19. Jahrhunderts ein- men eine Verfassungsklage nicht vor Jahr beträgt die Haushaltslücke in Kali- Weltmacht. Sie führte aber auch zu er- geführt. Das war auch ein Versuch, ein der Abstimmung einreichen. Viele von fornien 26 Milliarden Dollar, und der heblichen gesellschaftlichen Problemen. bisschen mehr direkte Demokratie zu unseren Volksentscheiden werden dann wiedergewählte Gouverneur Jerry Zu diesen Problemen zählen Kliente- schaffen. Dazu zählen auch Verfas- auch irgendwo angefochten, vor ver- Brown versucht, 28 Jahre nach seiner lismus, Korruption, Ineffizienz, Ein- sungsänderungen, die die Direktwahl schiedenen Gerichten. Gerade in Kali- ersten Amtsperiode, noch einmal damit kommensungleichheit, Kinderarbeit etc. von Senatoren ermöglichten. Senatoren, fornien ist das ein sehr lukratives Ge- zurechtzukommen. Die historische Iro- Die Reformbewegung war eher dezen- also die Mitglieder der zweiten Kammer schäft für einige Anwälte. nie ist hier gewaltig. Inzwischen ist der tralisiert, begann zum Teil auf lokaler oder des Oberhauses, wurden bis dahin Apropos Kalifornien, mein Heimat- praktizierende Buddhist Brown in Tibet Ebene, in verschiedenen Städten und von den Landtagen, von den einzelnen staat: 1911 wurde dort das Initiativrecht gewesen und hat auch noch ein paar Bundesstaaten – Wisconsin war be- staatlichen Legislaturen gewählt. etabliert, mitten in der bereits angespro- andere interessante Dinge unternom- rühmt dafür, dort begann es mit Gou- Schluss- oder Höhepunkt wäre dann chenen progressiven Ära. Für die 90 men, war z.B. Bürgermeister in Oak- verneur La Follette, dessen Name in vielleicht 1920 die Einführung des Jahre zwischen 1912 und 2002 hat die land. Jetzt ist er wieder Gouverneur. Wisconsin immer noch einen sehr star- Wahlrechts für Frauen per Verfassungs- Wahlbehörde eine umfassende Studie Zuletzt noch eine andere interessante ken historischen Klang hat; South Da- änderung, nach jahrzehntelangem durchgeführt. So hat es in diesem Zeit- historische Entscheidung: 2003 hat sich kota gehört auch dazu; in Kalifornien Kampf. raum ungefähr 1.200 versuchte Volks- Kalifornien seines Gouverneurs mithilfe setzte die Bewegung mit ein paar Jahr- Der politische Leitgedanke hier war abstimmungen bzw. Volksentscheide ge- des Abberufungsverfahrens – im Engli- zehnte Verzögerung ein, etwa ab 1910. genau derselbe wie in der Schweiz oder geben, von denen nur 290 bis 300 zuge- schen „recall election“ – entledigt. (Das Die Bewegung nahm erst später natio- in Deutschland: mehr direkte Bürger- lassen wurden, d.h. die Initiatoren hatte es in Amerika erst einmal gege- nale Ausmaße an. Zu den Progressiven teilnahme, mehr Aufsicht der Bürger konnten die nötigen Unterschriften ben, 1921, bei der Abberufung des Gou- zählt man Politiker wie Teddy Roosevelt über die Regierungen, die verschiede- sammeln. Das sind knapp 25 %, von de- verneurs von North Dakota). Der unbe- (Präsident ab 1901), Woodrow Wilson nen Institutionen, in gewisser Weise nen wiederum 99 letztendlich gebilligt liebte Grey Davis, Demokrat, wurde (Präsident ab 1913) und auch Herbert eine Befreiung vom Klientelismus, der worden sind (In den vergangenen zehn folglich ersetzt durch Arnold Schwarze- Hoover, der in den späten 1920er Jah- das politische und auch das gesellschaft- Jahren sind noch ein paar dazu gekom- negger, Republikaner. Schwarzenegger ren Präsident wurde. liche Leben vor allem der großen Städte men). Man sieht also, es ist ziemlich kam also durch einen Volksentscheid, Es fing also eher als eine „grassroots“- Boston, New York, Chicago, und auch schwierig. Viele Leute haben gute ein Abberufungsverfahren in das Amt Reformbewegung an, deren vor allem Sacramento/Kalifornien dominiert hat- Ideen, oder vermeintlich gute Ideen, des Gouverneurs. Vor ein paar Monaten institutionelle Auswirkungen wir heute te. Interessant ist, dass die Bewegung nie aber es ist nicht leicht, damit durchzu- hat er das Amt an Jerry Brown abgege- noch sehen, spüren und täglich erleben. nationale Ausmaße angenommen hat. kommen. Das ist immer so gewesen, ben und ist dann gleich in die bekann- Viele Merkmale unserer Regierungs- Es ist über zwei Jahrhunderte unserer und es wird wohl auch so bleiben. ten Schwierigkeiten geraten, von denen

5/2011 zur debatte 11 Sie wahrscheinlich auch in der Zeitung zu Planungen und Entscheidungen gelesen haben. „Netz“-Demokratie? Zum Wandel der Bremischen Behörden in einem einfach zu nutzenden Register (siehe IV. politischer Beteiligung durch das www.informationsfreiheit-bremen.de). Dieses Register ist über das Stadtinfor- Soviel zu Kalifornien. Ich gehe einen Internet mationssystem www.bremen.de zugäng- Schritt zurück und versuche, ein biss- lich und mit Stichworten durchsuchbar chen zusammenzufassen. Die histori- Herbert Kubicek (Abb. 2). Hier ist der Wandel durch das sche Dimension muss man bei uns wie Internet offenkundig. Statt zu einer Be- bei jedem Land immer im Hinterkopf hörde zu gehen und Einsicht zu verlan- behalten. Bei der Entstehung unserer gen, sucht man im Web und kann sich Verfassung von 1787, bei der Schaffung das Dokument anzeigen lassen und bei der verschiedenen Regierungsstrukturen 1. Vorbemerkungen Bedarf ausdrucken. und -institutionen gab es unter unseren Gründervätern – also nicht nur heutzu- Wie bei vielen aus zwei Substantiven 2.2 Konsultationen tage in der Tea Party, sondern auch be- zusammengesetzten Ausdrücken sind reits ganz am Anfang – eine tiefe Ambi- bei der Kombination „Netz“-Demokra- Bei Konsultationen stellen Politik valenz, was die Frage betrifft, was kön- tie zwei Interpretationen möglich. Zum und Verwaltung nicht nur Informatio- nen, was sollen wir dem Volk anver- einen kann es um die Demokratie im nen bereit, sondern fordern zu Kom- trauen. Die eine Seite meint, dem Volk „Netz“ gehen, zum anderen um die De- mentaren und Stellungnahmen auf. Bei gehört die Macht, alle Macht stammt mokratie durch das „Netz“. Kaum miss- förmlichen Konsultationen, insbesonde- vom Volk. Auf der anderen Seite heißt verständlich dürfte sein, dass mit „Netz“ re im Zusammenhang mit der öffent- es, dem Volk kann man nicht unbedingt das Internet gemeint ist, was daran aber lichen Auslegung von Landschafts- und vertrauen. genau, ist keineswegs eindeutig, und bei Bebauungsplänen ist dies gesetzlich Vieles in unserer Regierung leitet sich den beiden genannten Interpretationen vorgeschrieben. Bei informellen Verfah- daraus ab: das berühmte „Electoral Col- tendenziell unterschiedlich. ren möchten Politik und Verwaltung in lege“, also unser Wahlsystem, das keine Betrachten wir kurz den Aspekt der einigen Fällen ein Stimmungsbild zu be- direkte Wahl des Präsidenten zulässt, Demokratie im Netz. Anders als Rund- stimmten Vorhaben, in anderen viel- sondern einen Filter dazwischen ein- funk- und Fernsehsender oder Verlage leicht inhaltliche Vorschläge aufgrund baut – ein System, das keiner versteht und Druckereien gehört das Internet des lokalen Wissens von Betroffenen er- und das ich seit Jahren zu erklären ver- nicht einem Eigentümer und wurde halten. Entsprechend unterschiedlich ist suche; die indirekte Wahl von Senato- auch nicht aufgrund eines Gesetzes er- die inhaltliche Offenheit der Konsulta- ren; und auch die Tatsache, dass es auf richtet. Im Kern ist es eine Menge tech- tionen und auch die Verwendung der nationaler Ebene kein Referendum, kei- nischer Standards für die Datenübertra- Beiträge. Thematisch wird ein breites nen Volksentscheid gibt. All das ist zu- gung zwischen Computern unterschied- Spektrum von Städtebau- und Raum- rückzuführen auf diese Ambivalenz. licher Hersteller (vor allem TCP/IP, das planungsprojekten, Gesetzesvorhaben, Man will dem Volk nicht allzu viel Internet-Transportprotokoll), und eine Prof. Dr. Herbert Kubicek, Professor für Leitbilddiskussionen, Haushaltsentwür- Macht geben. Die Frage „Was machen Systematik für die Zuweisung von Angewandte Informatik mit dem fen u.a.m. abgedeckt. Elektronische wir mit unserer direkten Demokratie?“ Adressen der beteiligten Rechner (IP- Schwerpunkt Informationsmanagement Karten mit Kommentarfunktionen im stellt sich aktuell in Oregon, Colorado Adressen). Hinzugekommen ist die welt- und Telekommunikation an der Univer- Internet ersetzen oder ergänzen dabei und Kalifornien: Diese Debatte sieht weite Vergabe und Verwaltung von Do- sität Bremen die Auslegung in Ämtern und den man in verschiedenen Dimensionen. main-Namen. Wie andere Standardisie- schriftlichen Kommentar. Elektronische Die Argumente sind ähnlich wie die, die rungsgremien erfolgt die Organisation und weil dort, wo ein Wandel zu be- Foren im Internet ersetzen oder ergän- man hier in Deutschland und in der obachten ist, dieser nicht einzig und al- zen Bürgerversammlungen. Online-Fra- Schweiz hört. Den Mobilisierungsfak- lein auf die Nutzung des Internet zu- gebögen ersetzen oder ergänzen schrift- tor, den Frau Bause erwähnt hat – Ini- Es kann kein Zweifel daran rückzuführen ist. Daher möchte ich im liche oder telefonische Umfragen. tiativen und Abstimmungen können ja Folgenden acht verschiedene Formen Eigene Vergleiche solcher Beteili- auch Wähler motivieren – sieht man oft, bestehen, dass umfassende von politischer Beteiligung unterschei- gungsangebote haben zu zwei Erkennt- aber nicht immer. Es kommt darauf an, und authentische Informa- den und jeweils kurz kommentieren, nissen geführt: wie emotional besetzt und wie bedeu- welche Veränderungen dort im Zu- tend das Thema ist. Aber Umfragen zei- tion eine unabdingbare sammenhang mit dem Internet zu beob- • Förmliche Verfahren werden bisher gen überall, national oder z.B. in Kali- Voraussetzung für politische achten sind. kaum online angeboten. In der Regel fornien, dass die US-Bürger diese direk- wird nur auf die Auslegung der Pläne te Demokratie behalten wollen. Willensbildung und Enga- 2. Verschiedene Formen der Beteiligung und die Fristen für Einwände hingewie- Die Mehrheit, auch in Kalifornien, gement ist. sen. Selbst die gesetzlich vorgeschriebe- erkennt an, dass das System nicht per- Die folgende Abbildung unterschei- ne Beteiligung der Träger öffentlicher fekt ist, und es gibt verschiedene Re- det Formen der politischen Beteiligung Belange erfolgt auch heute noch kaum formvorschläge. Es hat sie seit Jahren dieser Standardisierungsaufgaben in nach der Richtung, ob von Politik und online. gegeben und es wird sie auch in Zu- internationalen Gremien (Ausschüssen, Verwaltung oder von Bürgerinnen und kunft geben. Wie teuer ist das System? Arbeitsgruppen), die teilweise staatlich Bürgern ausgehend bzw. nach dem Mo- • Wo Beteiligungsmöglichkeiten on- 2006 hat man in Kalifornien 330 Millio- anerkannt werden wie z.B. ICANN dus passiv oder aktiv: beteiligt werden line angeboten werden, geschieht dies nen Dollar für verschiedene Volksent- (Internet Corporation for Assigned Na- oder sich beteiligen im Sinne von ein- fast immer ergänzend und nicht anstelle scheide ausgegeben, darunter mehr als mes and Numbers) oder das W3-Kon- mischen. In beiden Richtungen finden der bisherigen Verfahren. Dies ergibt 150 Millionen Dollar für nur einen ein- sortium, das technische Standards für wir Verfahren mit unterschiedlich star- sich schon daraus, dass nur knapp zwei zigen. Das ist also teuer; das ist nicht das World Wide Web definiert, öffent- ken Einflussmöglichkeiten (Abb. 1). Drittel der Bevölkerung über 14 Jahre mehr nur eine Sache von einzelnen Per- lich zur Diskussion stellt und letztlich das Internet nutzen. Hinzu kommt je- sonen. Man spricht vom „initiative in- verabschiedet. Diese Organisation des 2.1 Bürgerinformation doch noch, dass ein Online-Forum im dustrial complex“, d.h., nur sehr gut or- Mediums Internet kann man demokra- Vergleich zu einer Bürgerversammlung ganisierte Interessengruppen schaffen tisch nennen, allerdings mit einem star- Es kann kein Zweifel daran bestehen, Stärken, aber auch Schwächen hat, und es, die nötigen 500.000 Unterschriften ken Anteil an Expertokratie. dass umfassende und authentische In- die Organisatoren von Konsultationen zu sammeln, und geben das gesamte Davon zu unterscheiden ist die Pro- formation eine unabdingbare Vorausset- gut beraten sind, die Vorteile beider Geld aus. duktion und Auswahl der Inhalte. Es zung für politische Willensbildung und Kommunikationsformen zu kombinie- Die Zukunft ist also unklar. Klar ist, gibt keinen Verleger oder Chefredak- Engagement ist. Die öffentliche Verwal- ren. Häufig dient das Internet der An- dass in Amerika zumindest diese Form, teur. Grundsätzlich kann jeder zugleich tung hat dem lange Zeit nicht entspro- kündigung eines Beteiligungsverfahrens dieses Ausmaß an direkter Demokratie Autor und Rezipient bzw. Sender und chen, sondern ist vom Prinzip des und der Dokumentation, während vor bleiben und beibehalten werden wird. Empfänger sein. Selbstverständlich fin- Amtsgeheimnisses ausgegangen. Wäh- allem auf Konsensbildung ausgerichtete Es wird eventuell Änderungen in den den etablierte Institutionen eine größe- rend in anderen Ländern mit so ge- Angebote in erster Linie in Form von einzelnen Bundesstaaten geben. re Aufmerksamkeit als einzelne Indivi- nannten Informationsfreiheitsgesetzen Versammlungen stattfinden. Ein Beispiel Manchmal sind die Auswirkungen sehr duen. Aber die Chancen werden immer dieses Prinzip schon früher umgekehrt ist der interaktive Landschaftsplan Kö- schmerzlich, zumindest für die politi- wieder neu gemischt. Blogger zum Bei- wurde und den Bürgerinnen und Bür- nigslutter, oder die Planung für das Sta- sche Führung. Aber wie man jetzt in spiel erreichen teilweise höhere Nut- gern ein nicht näher zu begründendes dionbad Bremen (vgl. ausführlicher Kalifornien bei der Debatte um den zungszahlen und damit Reichweiten als Zugangsrecht gesetzlich eingeräumt Kubicek, Lippa, Westholm 2009, S. 205). Haushalt und die Dienstleistungen, die Online-Angebote von Tageszeitungen. wurde, ist dies in Deutschland auf vom Staat zu erwarten sind, sieht, kann Auch dies kann man Demokratie im Bundesebene erst 2006 geschehen. Für Ein interessantes Beteiligungsangebot es auch für die Bürger schmerzlich sein. Netz nennen, allerdings mit einem ge- die Kommunal- und Landesverwaltun- betrifft so genannte Bürgerhaushalte auf Ich bin gespannt, wie das ausgehen wissen Anteil Anarchie. gen sind entsprechende Landesgesetze kommunaler Ebene. Bürgerinnen und wird. Ich kann nur sagen, wenn es um Auf diesen Aspekt der Demokratie erforderlich. Im Bayerischen Landtag Bürger können entweder für einen Teil- „grass roots“-Demokratie geht, sind wir im Netz möchte ich im Folgenden nur konnte bisher keine Mehrheit für ent- haushalt, oft Kultur, konkrete Projekte genauso interessiert und ambivalent wie noch indirekt eingehen. Im Vorder- sprechende Anträge der Grünen gewon- vorschlagen oder über alternative Ver- die Menschen hierzulande und in ande- grund soll vielmehr die Frage stehen, ob nen werden. Bremen ist 2006 einen wendungen abstimmen. Die Bundes- ren Ländern. und wie sich politische Beteiligung Schritt weitergegangen als der Bund zentrale für politische Bildung veröf- Weitere Fragen beantworten wir gern durch das Internet gewandelt hat. Auf und hat nicht nur ein individuelles Zu- fentlicht im Internet eine Landkarte mit auch auf unserer Facebook-Seite diese Frage gibt es keine einfache Ant- gangsrecht gesetzlich verankert, son- allen bekannt gewordenen Bürgerhaus- www.facebook.com/usconsulatemunich. wort, weil der Bereich der politischen dern zusätzlich auch eine pro-aktive haltsprojekten. Im Norden Deutsch- „ Beteiligung insgesamt sehr vielfältig ist Veröffentlichungspflicht für Unterlagen lands zeigt die Karte deutlich mehr

12 zur debatte 5/2011 Projekte als im Süden (Abb. 3). Aller- Abstimmungs verhalten von Bundestags- dings befinden sich viele Projekte im abgeordneten einsehen kann (Abb. 4). Planungsstadium oder sind nur einmal durchgeführt worden. Fortgeführte, 2.6 Kampagnen und Proteste also regelmäßige Beteiligung gibt es nur in 10 der insgesamt 200 registrierten Die friedlichen Revolutionen in Tu- Projekte. nesien und Ägypten dürften zurzeit wohl die eindrucksvollsten Beispiele für 2.3 Kooperation/Koproduktion die demokratiefördernden Wirkungen des Internet sein. Aber die Schlagzeilen Eine weitergehende Form der Beteili- sind zu plakativ (Abb. 5). gung bleibt nicht bei der Äußerung von Um die Rolle des Netzes genauer zu Meinungen oder Vorschlägen stehen, bestimmen, müssen allerdings zwei sondern mündet in die Erarbeitung von Funktionen unterschieden werden: die Plänen oder konkreten Schritte zur Organisation von Protesten und die Umsetzung von Zielen gemeinsam mit Gewinnung politischer Unterstützung. anderen Bürgerinnen und Bürgern und Dies gilt nicht nur für diese Demokra- Vertretern der Verwaltung. Dies können tiebewegungen, sondern generell für Formen der Selbstverwaltung sozialer Nicht-Regierungsorganisationen und Einrichtungen sein oder die Mitarbeit in Proteste gegen Globalisierung und das Beiräten. Ein konkretes Projekt aus der Weltwirtschaftsforum, für umweltpoli- eigenen aktuellen Arbeit betrifft die Ko- tische Aktionen von Greenpeace und produktion beim lokalen Klimaschutz. Robin Wood u. Ä. Neben der Verwaltung verpflichten sich Ohne Zweifel kann man über E-Mail Abb. 1: Unterschiedliche Formen auch Bürgerinnen und Bürger zu einer Protestveranstaltungen besser koordi- politischer Beteiligung jährlichen CO2-Einsparung von zwei nieren als per Telefon. SMS geht auch, Prozent und melden dazu alle zwei kann eventuell aber leichter überwacht Monate ihren Energieverbrauch, den und unterbunden werden. Ob die Protes- Umfang der Nutzung verschiedener te dann Erfolg haben, hängt von vielen Verkehrsmittel und Tendenzen ihres Faktoren ab. Die Proteste im Iran und Nahrungsmittelkonsums. Der Vergleich in Libyen hatten keinen bzw. noch kei- über den Zeitablauf und mit dem nen Erfolg. Am Internet allein kann es Durchschnitt anderer Teilnehmer soll nicht liegen. Einfluss geht von Bildern dabei die Motivation verstärken aus. Diese werden mit Mobiltelefonen (http://www.e2democracy.eu). gemacht und dann über das Internet (insbesondere YouTube) verbreitet. Da- 2.4 Wahlen durch werden weitere Protestteilnehmer mobilisiert. Entscheidend für den politi- Angesichts niedriger Wahlbeteiligun- schen Erfolg ist jedoch m. E., ob die tra- gen wurden teilweise große Hoffnungen ditionellen Massenmedien in anderen in Online- oder Internet-Wahlen ge- Ländern diese Bilder weiterverbreiten setzt. Während dies bei Vorstandswah- und das Unrecht der Unterdrücker an- len in Vereinen mittlerweile häufiger ge- prangern. Daraus resultiert ein politi- schieht, hat in Deutschland das Bundes- scher Druck auf Regierungen, die verfassungsgericht Online-Wahlen nach Unterdrückung zu verurteilen, Sanktio- dem Bundeswahlgesetz als verfassungs- nen zu beschließen und eventuell mili- widrig eingestuft. Das Urteil aus dem tärisch zu intervenieren. Warum dies in Jahr 2009 betrifft den Einsatz von Tunesien und Ägypten zu einem Macht- Wahlautomaten in Wahllokalen. Die wechsel geführt hat, in Libyen sich hin- Begründung bezieht sich vor allem dar- zieht, im Iran, im Jemen und in Syrien auf, dass es bei diesen elektronischen noch zu keinen vergleichbaren interna- Verfahren den Wahlbeobachtern nicht tionalen Interventionen geführt hat, möglich ist, die Ordnungsmäßigkeit der liegt nicht am Internet. Abb. 2: Das zentrale Informationsregis- Auszählung zu überprüfen und zu be- Auch an einem zweiten Beispiel ter nach dem Bremischen Informations- stätigen. Bei Online-Wahlen von belie- kann die These von der notwendigen freiheitsgesetz bigen Orten aus über das Internet gilt Unterstützung der etablierten Massen- dies in noch größerem Maße und es medien illustriert werden: an der Kam- kommen noch weitere Angriffs- und pagne zu den Plagiatsvorwürfen gegen Schwachpunkte hinzu, die auch dem den damaligen Verteidigungsminister zu Erfordernis einer geheimen Wahl ent- Guttenberg. Die Internetseite hat zwar gegenstehen können. die einzelnen Plagiate eindeutig doku- mentiert (Abb. 6). Der politische Druck, 2.5 Transparenz durch Dritte der letztlich zum Rücktritt geführt hat, wurde jedoch erst durch die Berichter- Wo Politik und Verwaltung von sich stattung von Presse und Rundfunk über aus nicht informieren und selbst Trans- diese Nachweise aufgebaut und durch parenz herstellen, können dies Dritte die Fernsehbilder mit ungeschickten, tun. Traditionell ist dies die Aufgabe der später nachweislich unzutreffenden Medien und auch von Nicht-Regie- Aussagen des Ministers verstärkt. rungsorganisationen. Letztere bedienen sich dazu auch zunehmend des Inter- 2.7 Petition und Eingaben net. Wikileaks ist zurzeit das bekanntes- te, wenn auch nicht typische Beispiel, Petitionen sind ein in der Verfassung da hier Zielkonflikte einseitig zugunsten verankertes Recht, Regierung und Par- der Transparenz entschieden werden lament Anliegen vorzutragen. Dies kön- und die Veröffentlichung von als ge- nen Beschwerden oder Anregungen heim eingestuften Informationen in sein. Beim Deutschen Bundestag und Deutschland strafbar ist. Ein gutes Bei- bei der Bremischen Bürgerschaft kön- spiel sind hingegen Angebote der briti- nen Petitionen nicht nur online einge- schen Nicht-Regierungsorganisation geben werden, sondern es wurde zu- MySociety, die Informationen zu- sätzlich auch die Möglichkeit geschaf- sammenstellt, die Bürger bei Anfragen fen, von anderen eingereichte Petitio- nach dem Informationsfreiheitsgesetz nen während einer definierten Zeit- individuell erhalten haben und der spanne mit zu zeichnen (Abb. 7). Eine Plattform dann weitermelden solche Mitzeichnung vergrößert ohne (www.whatdotheyknow.com). Ein an- Zweifel die Aufmerksamkeit, die die deres Beispiel sind im Zuge der aktuel- Abgeordneten einer Petition schenken. len Open-Government-Initiativen An- gebote von Nicht-Regierungsorganisa- 2.8 Bürgerbegehren und Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung tionen, die Daten aus den öffentlichen Volksentscheide Abb. 3: Bürgerhaushalte in Deutschland Haushalten gezielt und verständlich aufbereiten. Bisher sind in Deutschland keine Das ZDF bietet im Internet ein online durchgeführten Bürgerbegehren Parlameter an, über das man die Anga- und Volksentscheide bekannt geworden. ben zum Lebenslauf und auch zum Dafür dürften dieselben Sicherheits-

5/2011 zur debatte 13 Quelle: ZDF Abb. 4: Beispielseite aus dem Parlameter

Quelle: Deutscher Bundestag Abb. 7: Mitzeichnung von Petitionen

bedenken maßgeblich sein, die gegen zu einem noch wichtigeren Befund ge- verbindliche politische Wahlen im führt: Der deutlich stärkste Einflussfak- Internet sprechen. Allerdings eröffnet tor ist, dass es bei der Beteiligung um das Internet den Initiatoren und auch ein Thema von hoher Brisanz bzw. per- den Kritikern konkreter inhaltlicher Be- sönlicher Betroffenheit geht. Online-Be- gehren und zur Abstimmung gestellter teiligung kann gegenüber Bürgerver- Sachverhalte eine Möglichkeit der Mei- sammlungen, Demonstrationen, schrift- nungsäußerung und damit den Abstim- lichen Befragungen und Unterschriften- mungsberechtigten eine umfassendere sammlungen den Aufwand verringern. und vielseitigere Informationsgrundlage. Für diejenigen, die kein Interesse an ei- In der Schweiz erstellt die Regierung nem Thema haben oder von der Ver- das Heftchen mit den Pro- und Contra- waltung oder Politik ohnehin keine aus Argumenten zu einem bestimmten ihrer Sicht positive Reaktion erwarten, Abstimmungsgegenstand. Über das ist auch ein solcher geringerer Aufwand Abb. 5: Schlagzeilen im Netz zu den Internet können die parlamentarische noch zu viel. Für die einzelnen Beteili- Protestbewegungen in Tunesien und Opposition und Nicht-Regierungsorga- gungsformen konnten positive Beiträge Ägypten nisationen weitere Pro- und Contra- der Internetnutzung zu einem Wandel Argumente vortragen. der politischen Beteiligung beispielhaft aufgezeigt werden. Das Vertrauen in die 3. Schlussfolgerungen Politik erscheint dadurch jedoch nicht generell gestiegen zu sein. Dies dürfte Die kurze Übersicht unterschied- auch in Zukunft nicht aufgrund des licher Formen politischer Beteiligung Einsatzes des Internets, sondern nur hat gezeigt, dass es zu jeder Form Bei- durch eine glaubhafte Politik gelingen. spiele gibt, in denen einzelne Internet- Fälle wie die Plagiatsaffäre zeigen aller- dienste eingesetzt wurden. Meist ge- dings, dass Politik unter stärkere und schieht dies in Form eines zusätzlichen strengere Kontrolle gerät und das ist Kommunikationsweges für die Beteilig- durchaus im Sinne der Demokratie. „ ten, neben persönlichen, telefonischen und/oder schriftlichen Kontakten. In Literatur: vielen näher untersuchten Fällen hat sich gezeigt, dass die Intensität der Nut- Kubicek, Herbert; Lippa, Barbara; zung der elektronischen Angebote da- Westholm, Hilmar (2009): Medienmix von beeinflusst wurde, ob die etablier- in der Bürgerbeteiligung. Die Integra- ten Massenmedien darüber berichtet tion von Online-Elementen in Beteili- haben. So konnte bei einem Konsulta- gungsverfahren auf lokaler Ebene. Ber- tionsprojekt in Bremen konkret mit lin: Edition Sigma Zahlen belegt werden, dass die Beteili- gung an einem Online-Forum sprung- Kubicek, Herbert; Lippa, Barbara; haft anstieg, als die örtliche Tageszei- Koop, Alexander (2011): Erfolgreich tung mit Angabe der Internetadresse beteiligt? Nutzen und Erfolgsfaktoren darüber berichtete (vgl. Kubicek, Lippa, internetgestützter Bürgerbeteiligung – Westholm 2009, S. 147). Daraus kann Eine empirische Analyse von zwölf man folgern, dass es für die Reichweite Fallbeispielen. Gütersloh: Bertelsmann und Wirkung der Beteiligung über das Stiftung Internet auf einen doppelten Medien- mix ankommt: zunächst bei den Kom- munikationswegen für die Adressaten Quelle: GuttenPlag Wiki) und dann bei der Berichterstattung über den Prozess. Abb. 6: Plagiatsnachweis im Internet Eine kürzlich vorgelegte Analyse der Erfolgsbedingungen von zwölf unter- schiedlichen Beteiligungsprojekten hat

14 zur debatte 5/2011 Gegen die Erwartung einer baldigen befördern? Der Gesetzentwurf der rot- Direkte Demokratie auf der Einführung der Plebiszite ins Grundge- grünen Koalition aus dem Jahre 2002, setz spricht zudem, dass diese im politi- der für die bundesweiten Volksabstim- Bundesebene? schen Leben der Länder bislang keine mungen niedrigere Quoren und weniger besonders große Rolle spielen. Die we- Ausschlussgegenstände vorgesehen hat- Frank Decker nigen Ausnahmen bestätigen die Regel. te als die meisten Länderverfassungen, Zu ihnen gehören die Volksbegehren wirkt an dieser Stelle befremdlich. Um- für die Abschaffung des Senats (1997) gekehrt würde ein Schuh daraus: Um und einen strengeren Nichtraucher- die Notwendigkeit der Plebiszite auf schutz (2010) in Bayern, die beide ge- Bundesebene plausibel zu machen und gen den Willen der regierenden CSU Aufschluss über die Wirkungen der durchgesetzt werden konnten, oder das Direktdemokratie zu gewinnen, müsste I. Volksbegehren gegen die Rechtschreib - man ihre Anwendbarkeit in den Län- reform in Schleswig-Holstein (1997/98), dern erst einmal erleichtern! Dies gilt Die Debatte um die Stärkung der di- das später vom Landtag wieder aufge- umso mehr, als das Instrument auf bei- rekten Demokratie in Deutschland trägt hoben wurde. Auch Hamburg, das die den Ebenen unterschiedlichen Bedin- ambivalente Züge. Auf der einen Seite Plebiszite zwar erst spät – als letztes gungen unterliegt. Da die in den Län- mehren sich die Stimmen, die für den Bundesland – einführte, dafür heute dern zu regelnden Angelegenheiten auf- Ausbau der plebiszitären Beteiligungs- aber von allen Ländern die anwender- grund ihrer Betroffenennähe für einen möglichkeiten und ihre Einführung freundlichsten Regelungen unterhält, plebiszitären Zugriff besonders gut ge- auch auf Bundesebene eintreten. So hat verzeichnete in der jüngeren Vergan- eignet sind, kann man bei den Beteili- z. B. Stuttgart 21-Schlichter Heiner genheit einige spektakuläre Verfahren. gungsrechten hier eher großzügig ver- Geißler vorgeschlagen, bei der Planung Darunter fallen z. B. die 2004 im Wege fahren, während die komplexeren und infrastruktureller Großvorhaben künftig eines Volksbegehrens durchgesetzte folgenreicheren Materien der Bundespo- ähnlich vorzugehen wie die Schweiz, Änderung des Wahlrechts und die 2010 litik eine zurückhaltendere Ausgestal- wo das Volk nicht nur über die Projekte von den Bürgern zu Fall gebrachte tung nahe legen. Wird dieser Zusam- als solche, sondern auch über deren Schulreform des schwarz-grünen Senats. menhang übersehen oder ins Gegenteil konkrete Umsetzung abstimmen kann. Zwar lässt sich auf der Länderebene verkehrt, dürfte die Diskussion um die Das Bedürfnis nach mehr Direktdemo- ein deutlicher Anstieg der eingeleiteten Einführung der Plebiszite ins Grund- kratie spiegelt sich zugleich in der Ver- Begehren und durchgeführten Volksent- gesetz aus ihrer heutigen Sackgasse fassungspraxis von Ländern und Ge- scheide verzeichnen, seitdem das di- kaum herauskommen. meinden wider. Hier sind die plebiszi - rektdemokratische Instrumentarium tären Verfahren in der Vergangenheit ausgeweitet wurde, doch bewegt sich sukzessive ausgebaut und vom Volk in die Gesamtzahl nach wie vor auf sehr Natürlich sind die Plebiszite Anspruch genommen worden. Dies ge- niedrigem Niveau. Der Befund wird schah zum Teil gegen den Willen der durch die höchst ungleiche Verteilung kein Allheilmittel gegen Regierenden, deren Vorhaben von den Prof. Dr. Frank Decker, Professor zwischen den Ländern unterstrichen. die Politikverdrossenheit Bürgern – wie in Bayern beim Nicht- für Politische Wissenschaft an der Im gesamten Zeitraum von 1947 bis raucherschutz und in Hamburg bei der Universität Bonn 2011 wurden gerade einmal 18 Volks- und nachlassende Partizi- Schulreform – im Wege der Volksge- entscheide durchgeführt, von denen pationsbereitschaft. setzgebung zu Fall gebracht wurden. allein zwölf auf zwei Bundesländer – Bayern und Hamburg – entfielen. In gen Rückenwind, die die Einführung zehn Ländern fand bisher überhaupt Dies ist insofern bedauerlich, als ge- Das Bedürfnis nach mehr plebiszitärer Elemente auch auf der kein Volksentscheid statt. Ähnlich sieht rade die direktdemokratischen Elemen- Bundesebene verlangten. Hielten sich die Verteilung bei den Volksbegehren te ein probates Mittel sein könnten, um Direktdemokratie spiegelt die befürwortenden und ablehnenden aus. Deren Gesamtzahl beläuft sich auf Defizite der parlamentarischen Demo- sich zugleich in der Verfas- Stimmen der Experten im Rahmen der 72, von denen wiederum mehr als die kratie auszugleichen. Deren Funktions- Gemeinsamen Verfassungskommission Hälfte (38) auf lediglich drei Länder – schwächen schlagen sich einerseits in sungspraxis von Ländern 1994 noch weitgehend die Waage, so Bayern, Brandenburg und Hamburg – einem zunehmenden Vertrauensverlust und Gemeinden wider. sprachen sich bei der Anhörung zu dem entfallen. Baden-Württemberg, Meck- der Bürger gegenüber den politischen von der rot-grünen Bundesregierung lenburg-Vorpommern und das Saarland Akteuren und Institutionen nieder, der eingebrachten Gesetzentwurf acht Jahre verzeichnen bislang kein einziges Volks- an rückläufigen Wahlbeteiligungen, Auf der anderen Seite wird man später die meisten Verfassungsrechtler begehren, Hessen und Rheinland-Pfalz, schrumpfenden Mitgliederzahlen der kaum behaupten können, dass wir der für eine direktdemokratische Ergänzung wo das Instrument schon seit 1946 bzw. Parteien und einer wachsenden Nei- Einführung der Plebiszite auf Bundes- des Grundgesetzes aus. Auch was die 1947 besteht, nur jeweils eines. gung zu Protest- und Sanktionswahlver- ebene in den letzten Jahren näher ge- konkrete Anwendung der Verfahren in halten abgelesen werden kann. Zum an- kommen sind. Im Gegenteil: Der Aus- Ländern und Kommunen angeht, tritt III. deren spiegeln sich in ihnen die steigen- gang der jüngsten Abstimmungen dürfte die Staatsrechtslehre mittlerweile betont den Anforderungen an das Regieren auch bei den Befürwortern der Direkt- „plebiszitfreundlich“ auf. Gleichzeitig Der Hauptgrund für dieses ernüch- selbst, die es immer schwerer machen, demokratie zu einer neuen Nachdenk- haben sich – bis auf die CDU – alle im ternde Bild liegt in der Ausgestaltung sachgerechte und zugleich zustim- lichkeit geführt haben, ob die Übernah- Bundestag vertretenen Parteien die For- der direktdemokratischen Verfahren, mungsfähige Problemlösungen zu ent- me des in sämtlichen Bundesländern derung nach einer Verfassungsreform zu deren Inanspruchnahme durch hohe wickeln. bestehenden „Modells“ der Volksgesetz- Eigen gemacht. Quoren und weitreichende Ausschluss- Natürlich sind die Plebiszite kein All- gebung in das Grundgesetz tatsächlich gegenstände stark erschwert wird. Nicht heilmittel gegen die Politikverdrossen- ratsam wäre. Die Skepsis wird durch II. nur, dass Steuern, Besoldungsregelun- heit und nachlassende Partizipationsbe- ausländische Erfahrungen wie die gen und das Haushaltsgesetz dem ple- reitschaft. Indem sie einen Teil der Schweizer Minarettinitiative oder die Allerdings wird man kaum sagen biszitären Zugriff entzogen bleiben. Mit Sachentscheidungen aus der Sphäre des Haushaltsprobleme im US-Bundesstaat können, dass die Debatte um das The- Ausnahme Sachsens haben die Bürger Parteienwettbewerbs herauslösen, Kalifornien bestärkt, die nicht gerade ma in den letzten Jahren substanzielle noch nicht einmal die Möglichkeit, über könnten sie jedoch helfen, die Wähler als Ausweis einer im Vergleich zu den Fortschritte gemacht hat und wir einer finanzwirksame Gesetze mit zu ent- wieder näher an ihre Repräsentanten Abgeordneten höheren „Vernunftbega- Einführung der Plebiszite ins Grundge- scheiden. Die Beschränkungen erklä- heranzuführen. Erfahrungen aus der bung“ des Volkes betrachtet werden setz wirklich näher gekommen sind. ren, warum die Direktdemokratie selber Schweiz zeigen, dass das politische In - können. Zwar hat die empirische For- Nach dem gescheiterten Entwurf von in der Vergangenheit häufig zum Gegen- teresse zunimmt und die Bürger besser schung keine Belege dafür gefunden, Rot-Grün blieben weitere Vorstöße in stand der plebiszitären Verfahren ge- informiert sind, wenn sie über bestimm- dass Plebiszite generell schlechtere Poli- Richtung einer Verfassungsänderung macht wurde und neben dem Bereich te Gesetzesvorhaben selbst entscheiden tikergebnisse hervorbringen als Parteien aus. Es wäre zu einfach, diesen Still- Bildung und Kultur zum wichtigsten können. Womöglich wären die Plebiszi- und Parlamente. Unter Demokratiege- stand allein den Unionsparteien anzu- Themengebiet der Initiativen avancier- te sogar ein Mittel, den Populismus zu sichtspunkten erzeugen sie aber nur lasten, die das Zustandekommen der te. In einigen Ländern konnten auf die- kanalisieren, der sich im antagonisti- dann positive Wirkungen, wenn sie sys - notwendigen Zweidrittelmehrheit für se Weise Verbesserungen erreicht wer- schen Gegenüber der Parteien heute temverträglich ausgestaltet sind, also die Plebiszite 1994 und 2002 vereitelt den, die aber am Gesamteindruck einer weitgehend unkontrolliert entfaltet. das Funktionieren der vorhandenen hatten. Denn wäre eine solche Mehrheit äußerst restriktiven Verfahrenspraxis Dies hätte auch positive Folgen für die parlamentarischen Verfahren nicht be- in Reichweite gewesen, hätten sich ver- nichts änderten. Bemühungen, die en- Entscheidungsinhalte. einträchtigen. mutlich auch die Befürworter vorsichti- gen Grenzen auszuweiten, sind an der Wie sich die direktdemokratischen Die plebiszitären Elemente werden ger verhalten. Tatsächlich rangierte das Verfassungsrechtsprechung in den Län- Verfahren im Ganzen auf die Regie- heute nicht mehr in einen prinzipiellen Thema auf der Prioritätenliste der rot- dern immer wieder gescheitert. Auch rungsfähigkeit auswirken, ist in der For- Gegensatz zur Repräsentativverfassung grünen Spitzenpolitiker 1998 weit hin- die Parteien haben an einer nutzer- schung noch weithin ungeklärt. Die von gebracht, sondern als eine sinnvolle ten, die von den Fachleuten in ihren freundlicheren Ausgestaltung der Ple- Kritikern häufig geäußerte These, das oder sogar notwendige Ergänzung der Fraktionen erst zum Jagen getragen biszite kein Interesse gezeigt, sondern Volk würde – weil stimmungsanfälliger parlamentarischen Demokratie gesehen. werden mussten. Anschließend verfügte mancherorts sogar versucht, bestehende und weniger sachkundig – qualitativ Der Sinneswandel erklärt, warum es auf die Regierungsseite durch die Ableh- Regelungen zurückzunehmen (so z. B. schlechtere Entscheidungen treffen als der kommunalen und Länderebene in nungshaltung der Union über ein will- die CDU in Hamburg). die gewählten Vertreter, konnte in em- den achtziger und neunziger Jahren zu kommenes Alibi, das in der Öffentlich- Wenn die Direktdemokratie schon pirischen Untersuchungen bislang nicht einem rasanten Ausbau der direktdemo- keit populäre Vorhaben allein aus takti- in den Ländern weitgehend ins Leere bestätigt werden. Zwar trifft es zu, dass kratischen Beteiligungsformen kommen schen Gründen ins Parlament einzu- läuft, welchen Sinn macht es da, sie die Plebiszite tendenziell eher konser- konnte. Dieser „Siegeszug“ gab denjeni- bringen. ausgerechnet auf der Bundesebene zu vierend, in Richtung des Status quo

5/2011 zur debatte 15 wirken. In Regierungssystemen, die – Referendum in unterschiedlichen Vari- und Länderstimmen gewertet und die denkbar. Mit Ausnahme des letzteren wie das bundesdeutsche – schon heute anten fast überall vorgesehen ist, gilt Mehrheit des Landesvolkes als gleich- würden alle diese Instrumente den Pri- eine Vielzahl von Mit- und Vetospielern dies nicht für die Initiative. Lässt man bedeutend betrachtet mit der Abgabe mat der parlamentarischen Repräsenta- im Gesetzgebungsprozess aufweisen, Zwergstaaten wie Liechtenstein und der Bundesratsstimmen des Landes. tion unangetastet lassen. muss das aber kein Nachteil sein. Im San Marino einmal außer Betracht, ge- Funktional betrachtet wäre das jedoch Einfaches Referendum und Vetoini- Gegenteil: Sind die direktdemokrati- stehen in Europa nur vier Länder – nur eine Scheinlösung, da die eigentli- tiative haben gegenüber der Volksge- schen Verfahren vernünftig ausgestaltet, Litauen, die Schweiz, die Slowakei und che Bestimmung der Bundesratsbeteili- setzgebung den Vorteil, dass ihnen der könnten sie dazu beitragen, vorhandene Ungarn – den Bürgern ein positives Ge- gung ja gerade darin liegt, die Verwal- parlamentarische Gesetzesbeschluss be- Blockierungstendenzen im „Parteien- setzgebungsrecht zu. Darunter befinden tungskompetenz der Länder in den Ge- reits vorausgeht. Damit wäre nicht nur bundesstaat“ zurückzudrängen und ge- sich bezeichnenderweise gleich drei setzgebungsprozess einzubringen. (In der Bundesrat weiter voll beteiligt und rade dadurch produktive Problemlösun- mittel- und osteuropäische Staaten, die der Schweiz entfällt dieses Problem, das Problem der verfassungsgericht- gen herbeiführen. das Instrument nach dem Zusammen- weil die Kantone bei der Durchführung lichen Kontrolle entschärft. Es entfiele bruch des Kommunismus aus einem de- der Bundesgesetze tatsächlich autonom auch die Notwendigkeit, Ausschlussge- IV. mokratischen Überschwang heraus ein- sind.) genstände festzulegen, die das Instru- geführt haben. Blickt man über Europa Sind die Plebiszite als Initiativrechte ment in der Länderpolitik heute weit- Damit sind wir an einem entschei- hinaus, ist die Volksinitiative nur in ei- ausgestaltet, stehen sie drittens in ei- gehend unbrauchbar machen. Für die denden Punkt angelangt. Bisher war nigen lateinamerikanischen Ländern nem natürlichen Spannungsverhältnis Auslösung der Vetoinitiative müsste le- unterschiedslos von der „Direktdemo- und – auf der gliedstaatlichen Ebene – zum parlamentarischen Parteienwettbe- diglich ein Quorum fixiert werden, das kratie“ oder den „Plebisziten“ die Rede, in rund der Hälfte der US-Bundesstaa- werb. Das plebiszitäre Gesetzgebungs- – ohne abschreckend hohe Hürden auf- so als ob es sich um ein klar definierba- ten verbreitet. Auffällig ist, dass es sich recht – egal ob als Veto- oder positive zubauen – eine missbräuchliche Inan- res, immer gleiches Instrumentarium hier wie bei der Schweiz allesamt um Initiative ausgestaltet – gibt der jeweili- spruchnahme verhindert. handelt. Dies gilt jedoch allenfalls für nicht-parlamentarische Systeme han- gen Opposition ein willkommenes Auch eine so „abgespeckte“ Version den Volksentscheid, der am Ende eines delt. Offenbar wirft die Einführung ei- Mittel an die Hand, Gesetzesvorhaben der Direktdemokratie würde den Regie- plebiszitären Verfahrens steht. Tatsäch- nes plebiszitären Gesetzgebungsrechts der Regierungsmehrheit über den Um- rungsprozess in Deutschland nachhaltig lich ist für den Charakter und die Wir- im Kontext einer parlamentarischen weg einer Volksabstimmung zu durch- beeinflussen. Dies gilt insbesondere für kung der Plebiszite entscheidend, wer Demokratie so große Probleme auf, kreuzen. In einer solchen Situation ist die Vetoinitiative, deren konsensuelle einen solchen Entscheid auslösen darf. dass sich nur ganz wenige europäische die Regierung natürlich gut beraten, Wirkungen jenen der positiven Initiati- Drei Varianten lassen sich hier unter- Staaten zu einem so radikalen Schritt Widerstände zu antizipieren und in ih- ve vergleichbar sind. In einem lupenrei- scheiden: 1. Der Volksentscheid ist ver- durchringen konnten. Würde die ren Planungen zu berücksichtigen. Die nen mehrheitsdemokratischen System fassungsrechtlich vorgesehen („obligato- Bundesrepublik dem nacheifern, wäre Volksinitiative wirkt also ihrer Logik wie dem britischen wäre ein solches In- risches Referendum“). 2. Der Entscheid sie – was die potenzielle Reichweite der nach „konsensuell“, indem sie für eine strument zweifellos ein Fremdkörper. In wird von den Regierenden angesetzt Direktdemokratie angeht – selbst der breite Interesseninklusion sorgt. Damit der Bundesrepublik würde es sich dem- („einfaches Referendum“). 3. Der Ent- Schweiz voraus, die die positive Geset- unterminiert sie das Prinzip der alter- gegenüber in die bestehenden Struktu- scheid wird vom Volk selbst qua Initia- zesinitiative bis heute nur als Verfas- nierenden Regierung, auf dem der ren gut einfügen, die schon heute erheb- tive erzwungen. Dabei kann es sich ent- sungsinitiative kennt. mehrheitsdemokratische Parlamenta- lichen Konsensdruck verursachen. Bei weder um eine „negative“ Initiative rismus wesensmäßig basiert. In der normalen Mehrheitsverhältnissen handeln, das heißt die Möglichkeit, ei- Schweiz hat das dazu geführt, dass im (wenn die Regierung von einer Partei nen vom Parlament bereits getroffenen Sind die Plebiszite als Ini- Laufe der Zeit alle großen Parteien und oder einer kleinen Koalition gestellt Gesetzesbeschluss zu Fall zu bringen, Verbände in den Regierungsprozess in- wird), kann die Opposition gegen deren oder um die Befugnis, einen solchen tiativrechte ausgestattet, tegriert wurden und ein fest umrissenes Gesetze entweder das Verfassungsge- Beschluss positiv herbeizuführen. Für stehen sie in einem natür- Konkordanzsystem ausbildeten. richt anrufen. Oder sie nutzt ihre Stel- letzteres hat sich in der Bundesrepublik Wenn die Initiative mit derartigen lung im Bundesrat aus, wo ihr durch der Begriff der „Volksgesetzgebung“ ein- lichen Spannungsverhältnis Schwierigkeiten behaftet ist, wie lässt den erwartbaren Sanktionswahleffekt gebürgert. zum parlamentarischen sich dann das trotzige Festhalten der bei Landtagswahlen früher oder später Aus normativer Sicht spricht vieles Plebiszitbefürworter an der Volksgesetz- die Mehrheit zufallen dürfte. Gerade dafür, die (positive) Initiative als vor- Parteienwettbewerb. gebung erklären? Die Antwort liegt im letzteres hat sich für die Regierungs- zugswürdigste Form der Direktdemo- konstitutionellen Erbe, das die Verfas- fähigkeit des Landes in der Vergangen- kratie zu betrachten. Im Falle des Refe- sungsgebung in Deutschland auf dieses heit als Problem erwiesen, weil es häu- rendums liegt es im Ermessen von Par- Diese Feststellung ist umso wichtiger, Modell schon Mitte des 19. Jahrhun- fig zu Blockaden führt, statt einen posi- lament oder Regierung, ob sie das Volk als die Einführung von Volksinitiative derts verpflichtet hatte. Der so einge- tiven Einigungszwang zu erzeugen. Die entscheiden lassen, bleibt die Direktde- und -begehren auf nationaler Ebene in schlagene Pfad der Direktdemokratie gleichzeitige Einführung von Vetoinitia- mokratie also ein Instrument der Politik Deutschland nicht nur im Vergleich wurde weder bei der Weimarer Reichs- tive und einfachem Referendum könnte „von oben“. Im Rahmen der Volksge- zur Länderebene, sondern auch im verfassung 1918/19 noch bei den 1946 dem vielleicht entgegenwirken. „ setzgebung erfolgt der plebiszitäre Im- Vergleich zu anderen Nationen eher und 1947 geschaffenen vorgrundgesetz- puls demgegenüber „von unten“. Hier schwierigere Probleme aufwerfen wür- lichen Länderverfassungen verlassen können die Bürger selber in Aktion tre- de. Erstens stellt sich die Frage nach und stand auch bei den Novellierungen ten und sich als Gesetzgeber anstelle der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bzw. Neuschöpfungen der Länderver- der repräsentativen Institutionen set- der Volksbeschlüsse. In Staaten mit ei- fassungen in den achtziger und neun- zen. Auf den ersten Blick scheint es ner stark plebiszitären Tradition wie der ziger Jahren Pate. Mit Blick auf das sympathisch, dass Länder und Kommu- Schweiz oder Frankreich ist diese übli- Grundgesetz erweist sich dies bis heute nen in der Bundesrepublik sich sämt- cherweise nicht vorgesehen. Hält man als schwer überwindliche Hypothek. In- lich diesem fortschrittlichen Modell ver- dagegen an einem Letztentscheidungs- sofern scheint es nicht übertrieben, die Aus der schrieben haben. Von der positiven Be- recht des Verfassungsgerichts fest, darf Stagnation der Debatte weniger den wertung bleibt bei näherer Betrachtung es im Prinzip keinen Unterschied zwi- Gegnern als den Befürwortern der Ple- allerdings nicht viel übrig. Einerseits schen parlamentarisch oder plebiszitär biszite anzulasten. Solange diese auf das Akademie zeigt sich, dass die erschwerte Anwend- zustande gekommenen Gesetzen geben. untaugliche Modell der Volksgesetzge- Die Katholische Akademie Bayern barkeit der plebiszitären Verfahren eine Da Volksentscheidungen nur selten vor- bung fixiert bleiben, dürfte die Direkt- hat einen weiteren Schritt in Rich- unmittelbare Folge der Entscheidung kommen und sich dann zumeist auf demokratie im Bund auch künftig chan- tung Nachhaltigkeit gemacht. Die für das Volksgesetzgebungsmodell dar- Materien erstrecken, die von den Bür- cenlos sein. rund 12 000 Exemplare unserer Do- stellt: Gerade weil man den Bürgern die gern als besonders wichtig empfunden kumentationszeitschrift „zur debat- potenziell weit reichendesten Mitwir- werden, wäre die nachträgliche Annul- V. te“ werden seit Kurzem auf umwelt- kungschancen eröffnet, sieht man sich lierung eines Volksbeschlusses unter zertifiziertem Papier gedruckt. Im gezwungen, diese in der Praxis sogleich Legitimationsgesichtspunkten freilich Doch wie lauten die Alternativen? Impressum, das in der aktuellen Aus- wieder zu entwerten! Andererseits pro- heikel. Deshalb wird man vermutlich Durchmustert man die Vorschläge von gabe auf der Seite 48 zu finden ist, voziert die Volksgesetzgebung Konflik- um eine verfassungsgerichtliche ex ante- SPD, FDP, Grünen und Linkspartei, so erscheint jetzt regelmäßig das Logo te, falls es den Initiatoren doch einmal Kontrolle der begehrten Gesetze nicht stellt man fest, dass sich die drei zuerst „FSC“. Das Kürzel steht für „Forest gelingen sollte, die Hürden zu über- umhinkommen. genannten ausschließlich auf die Volks- Stewardship Council“. Ziel der Or- springen und sich gegen den Willen des Noch sehr viel gravierender wäre gesetzgebung versteifen, während die ganisation ist die umweltfreundliche, parlamentarischen Gesetzgebers zu stel- zweitens das Problem einer angemesse- Linkspartei neben der positiven Initiati- sozialförderliche und ökonomisch len. Zu welchen Weiterungen das führt, nen Beteiligung der Länder am Gesetz- ve immerhin noch die Vetoinitiative zu- tragfähige Bewirtschaftung von Wäl- konnte man in Hamburg sehen, wo die gebungsprozess, die zu den mit Ewig- lassen will, die in der Schweiz unter dern, wie es in der Eigendarstellung regierende CDU die Wahlrechtsreform, keitsrang versehenen Prinzipien unserer dem Begriff „fakultatives Referendum“ des „FSC“ heißt. Und zwar weltweit. die von der Initiative „Mehr Demokra- Verfassung gehört. Weil plebiszitäre geläufig ist. Einfache oder obligatori- Die unabhängige, gemeinnützige tie“ durchgesetzt worden war, noch in Verfahren nur Sinn machen, wenn sie sche Referenden sind in keinem der Nicht-Regierungsorganisation wurde der laufenden Wahlperiode wieder die repräsentativen Körperschaften Entwürfe vorgesehen. 1993 als ein Ergebnis der Konferenz kippte. Dass eine solche Missachtung beim abschließenden Entscheid voll- Ein systemverträgliches und mithin „Umwelt und Entwicklung“ in Rio plebiszitär ergangener Beschlüsse weder ständig verdrängen, lassen sie sich mit taugliches Modell sähe anders aus. Es de Janeiro gegründet. Heute ist der das Ansehen der Parteien noch die Le- einem – wie immer gearteten – Zustim- müsste die Prioritäten umkehren und „FSC“ in über 80 Ländern mit natio- gitimation der Direktdemokratie för- mungsrecht des Bundesrates nicht ver- statt einer positiven Gesetzesinitiative nalen Arbeitsgruppen vertreten. dert, liegt auf der Hand. einbaren. Im Gesetzentwurf der rot-grü- eine Kombination von Vetoinitiative Das Label „FSC“ garantiert, dass Die Bedenken verstärken sich weiter, nen Bundesregierung hat man versucht, und einfachem Referendum anstreben. das Papier, das wir für unsere Zeit- wenn man den Blick auf die internatio- dieses Problem nach dem Vorbild des Darüber hinaus wären eine nicht ver- schrift verwenden, ein Produkt aus nale Ebene richtet. Der Vergleich er- schweizerischen „Ständemehrs“ zu pflichtende (konsultative) Gesetzes- nachhaltiger Waldbewirtschaftung gibt hier zunächst einen überraschen- lösen: Die Stimmen beim Volksent- initiative und – in bestimmten Berei- ist. den Befund. Während das einfache scheid werden gleichzeitig als Bundes- chen – ein obligatorisches Referendum

16 zur debatte 5/2011 ist von Volksinitiative, Volksbegehren Der Abstimmungsbürger aber entschei- Chancen und Grenzen plebiszitärer und Volksentscheid – kann, obschon det in der Wahlkabine unter dem mitunter der gegenteilige Eindruck er- Schutz des Wahlgeheimnisses. Die Beteiligungsformen in Deutschland weckt wird, gewiss nicht allen diesen Volksgesetzgebung entzieht Herrschaft Übeln abhelfen. Vielleicht ist es aber der Kontrolle der Öffentlichkeit. Herr- Hans H. Klein möglich, das Risiko einer Abkoppelung schaft wird privatisiert. Der Abstim- der Politik von den Bürgern zu verrin- mungsbürger ist nicht abwählbar. gern. Aus verfassungsrechtlicher Sicht wäre die Ergänzung der mittelbaren VII. durch Elemente der unmittelbaren De- mokratie grundsätzlich unbedenklich, Direkte Demokratie begünstigt das wobei es natürlich auf die konkrete Aus- politische Engagement, das sich man- gestaltung ankommt. Auch verfassungs- gels Zeit und fachlicher Vorbildung nur politisch ist zu differenzieren. Volksiniti- wenige leisten können. Die gebildete ativen, die den Gesetzgeber zwingen, Mittelschicht wird – entgegen dem für sich eines bestimmten Themas anzuneh- die Demokratie konstitutiven Prinzip men, ohne ihn zu präjudizieren, sind der politischen Gleichheit – privilegiert. eher unschädlich. Das gilt umso mehr, Der typische „Wutbürger“ ist weder I. als es angesichts des Gedrängels der Arbeiter noch Handwerker. In der di- Parteien in der (eher linken) Mitte an rekten Demokratie hat derjenige einen Die repräsentative Demokratie er- Alternativen fehlt und wegen der durch Vorsprung im Prozess der politischen freut sich national wie international unterschiedliche Mehrheiten in Bundes- Willensbildung, der in der Lage ist, die allgemeiner Anerkennung. Sie gilt – bei tag und Bundesrat bedingten faktischen dafür erforderlichen organisatorischen allen Mängeln – als diejenige Staats- Allparteienkoalition Lähmungserschei- Vorkehrungen zu treffen und den not- form, die bürgerliche und politische nungen unübersehbar sind. Diskutabel wendigen finanziellen Aufwand zu trei- Freiheit am zuverlässigsten garantiert. ist auch die Bestätigung allfälliger Ver- ben; das sind vor allem Parteien und Miteinander frei konkurrierende politi- fassungsänderungen, einschließlich der Verbände. Ein Korrektiv zur „Parteien- sche Parteien sind eine unabdingbare einer 2/3-Mehrheit bedürftigen Europa- herrschaft“ wären Plebiszite also nur Voraussetzung gelingender Demokratie gesetze (Art. 20 Abs. 1 S. 3 GG) durch und sie haben einen überragenden Volksentscheid. Anteil am Erfolg des demokratischen Direkte Demokratie begüns- Modells. V. tigt das politische Engage- II. Problematisch wird es dann, wenn ment, das sich mangels Zeit die Volksgesetzgebung den Vorrang der Trotz alledem ist verbreitet von einer repräsentativen vor der direkten Demo- und fachlicher Vorbildung Krise der Demokratie die Rede, besser kratie in Frage stellt und das nicht nur nur wenige leisten können. vielleicht: von einer der im geschicht- aus verfassungsrechtlichen Gründen. lichen Ablauf immer wieder zu beob- Der Thüringische Verfassungsgerichts- achtenden Schwächephasen. Bei der hof hat in Übereinstimmung mit der sehr bedingt, zumal die Instrumente der Ursachenanalyse kommen vor allem die wohl überwiegenden Meinung in der direkten Demokratie im parlamentari- Parteien schlecht weg, die sich freilich Staatsrechtslehre eine Prävalenz der schen Regierungssystem gerade der noch nie und nirgendwo besonderer Prof. Dr. Hans Hugo Klein, Bundesver- parlamentarischen vor der Volksgesetz- Opposition die Möglichkeit geben, die Beliebtheit erfreuten. Das gilt besonders fassungsrichter a. D., Professor für gebung als verfassungsrechtlich geboten Entscheidung des Wählers und damit in Deutschland, wo die Menschen noch öffentliches Recht an der Universität angesehen (Entscheidung vom der parlamentarischen Mehrheit min - immer der in der konstitutionellen Göttingen 19.09.2001, ThürVBl 2002, S. 31 [37]). destens punktuell zu konterkarieren. Monarchie wie im Ersatzkaiser-System Zu selbständigem Handeln rechtlich Natürlich wird sich die Mehrheit darauf der Weimarer Republik gepflegten und faktisch befähigte Leitungsorgane einstellen: Sie wird für ihre Entschei- keinen Standort gebundenen „global sind notwendige Voraussetzung auch dung die Zustimmung der Minderheit players“; einer demokratischen Herrschaftsorga- zu gewinnen versuchen, um sie gegen Zu leugnen ist nicht, dass nisation (Ernst-Wolfgang Böckenförde). eine etwaige Volksabstimmung zu im- die Parteien immer wieder • die oft sachbedingte Beschleunigung Über eine bloße Balance- und Korrek- munisieren. Direkte Demokratie unter- der Entscheidungsverfahren, die keine turfunktion sollten plebiszitäre Ver- bindet tendenziell den politischen Wett- selbst dazu beitragen, ihr Zeit lässt für überlegte Deliberation, fahren also nicht hinausgehen. Denn bewerb und befördert, wie das Beispiel Ansehen zu vermindern. die überdies durch die stetig wachsen- mangelnde Effektivität staatlichen Han- der Schweiz zeigt, die Konkordanz - de Problemkomplexität erschwert delns delegitimiert die Demokratie. demokratie. wird; Aus diesem Grund ist die parlamentari- Überzeugung anhängen, es gebe ein jen- sche oder repräsentative Demokratie VIII. seits der Parteien angesiedeltes Gemein- • das weitgehende Versagen zumal der nicht die der Not großräumiger Verhält- wohl, das bedauerlicherweise in der öffentlichrechtlichen Medien, die im nisse und hoher Bevölkerungszahlen Wenn schon Wahlen in hohem Maße Parteiendemokratie der „überpartei- Wettlauf um die Quote statt Infor- geschuldete zweitbeste, sondern die ei- stimmungsabhängig sind, sind es Ab- lichen“ Vertretung ermangele. Aller- mation über Tatsachen vorrangig gentliche Form der Demokratie. Der stimmungen erst recht. Stimmungen las- dings: Zu leugnen ist nicht, dass die Unterhaltung, Sport, politischen Ak- sich öffentlich vollziehende Prozess der sen sich erzeugen. Die mediale Vermitt- Parteien immer wieder selbst dazu bei- tionismus (Trendsetting) und Effekt- politischen Willensbildung im Parla- lung, erweitert durch die Möglichkeiten tragen, ihr Ansehen zu vermindern: von hascherei im Angebot haben; ment vermittelt der parlamentarischen des Internet, führt dazu, dass der Ab- persönlichen Verfehlungen über ein als Gesetzgebung ein Maß an „Richtigkeits- stimmende nicht so sehr über die ggf. selbstherrlich und abgehoben empfun- • ein immer undurchsichtiger werden- gewähr“ (Peter Badura), das die auf komplizierte Abstimmungsfrage ent- denes Entscheidungsverhalten bis hin der und damit – zu Recht oder zu die Entscheidung einer einzelnen Sach- scheidet als vielmehr darüber, was ihm zu panikartigen Kurswechseln, die den Unrecht – den Verdacht unheiliger frage konzentrierte Volksgesetzgebung medial als diese nahegebracht wird Mangel an Führungsqualität offen legen Allianzen mit der Politik nährender nicht erreicht, weil sie der Notwendig- (Paul Kirchhof). Gewinner der Abstim- und die kurzatmige Orientierung an de- Lobbyismus, einhergehend mit der keit enthoben ist, den Gesamtzusam- mung wird regelmäßig sein, wer über moskopischen Umfragen verraten. Im sog. paktierten Gesetzgebung, in der menhang der sich dem Gesetzgeber die wirkmächtigere mediale Unterstüt- Wettstreit um die sog. Mitte büßen sie sich die wachsende Macht der Ver- stellenden Aufgaben in den Blick zu zung verfügt. Richard von Weizsäcker Profil und Konturenschärfe ein. bände niederschlägt; nehmen, und sich dem „Ausgleichsme- sprach einmal von der medialen Um- chanismus der Kompromisse“ (Badura) wertung der Wichtigkeiten. Die realple- III. • das schwindende Vertrauen in die entzieht. biszitäre Demokratie ersetzt die parla- Problemlösungsfähigkeit der politi- mentarische Debatte durch das Stim- Der Kursverlust der repräsentativen schen und wirtschaftlichen Eliten; VI. mungsbild, die Momentaufnahme (Ralf Demokratie lässt sich damit allein indes- Dahrendorf). sen nicht erklären. Die Ursachen sind • die mit dem fortschreitenden Indivi- Der Kern der Demokratie ist das „re- vielfältig, ich kann nur einige nennen: dualismus einhergehenden Phänome- sponsible government“. Der Sozialde- IX. ne der Auflösung sozialer Milieus, der mokrat Franz Neumann hat es vor Jahr- • die Abwanderung politischer Entschei- nachlassenden Bindungskraft von zehnten so formuliert: „Das Wesen des Das häufig anzutreffende „Argu- dungsprozesse auf supra- und interna- Großorganisationen und die gewach- demokratischen politischen Systems be- ment“, wenn dem Volk zugetraut werde tionale Ebenen („Entgrenzung der Po- sene Bereitschaft zum gesellschaft- steht … nicht in der Beteiligung der zu wählen, müsse ihm erst recht zuge- litik“) und der dadurch bedingte Ver- lichen Engagement; Massen an den politischen Entschei- traut werden, über Einzelfragen abzu- lust an Transparenz und bürgerschaft- dungen, sondern darin, politisch verant- stimmen (Einzelfragen sind es übrigens licher Beteiligung – es ist kein Zufall, • die scheinbare Verwissenschaftlichung wortliche Entscheidungen zu treffen.“ nicht immer), setzt Äpfel mit Birnen dass die Lokalpolitik, die für den Bür- der Politik in ungezählten „Experten“- Verantwortlichkeit hat eine dialogische gleich. Der Wähler vergibt ein politi- ger überschaubar ist, größeres Vertrau- Runden, die dann vermeintlich keine Struktur: „Wem Entscheidungsmacht sches Mandat, er schenkt – einer Per- en genießt als die auf höheren Ebenen; Alternativen lässt. anvertraut ist, der kann zur Rede ge- son oder Partei – Vertrauen auf Zeit. IV. stellt und zur Verantwortung gezogen Der Abstimmende entscheidet – wie der • die globalisierungsbedingt schwinden- werden“ (Peter Graf Kielmansegg). Mandatsträger – über ein oder mehrere de Steuerungsfähigkeit der Politik Die Einführung sog. realplebiszitärer Zur Verantwortung kann nur gezogen Sachprobleme, aber anders als dieser in gegenüber weltweit agierenden, an Verfahren auf Bundesebene – die Rede werden, wer öffentlich entscheidet. aller Heimlichkeit.

5/2011 zur debatte 17 X. empfängt und nicht, wie von den Plato- nis ten behauptet wurde, Sehstrahlen Schließlich: In den Mitgliedstaaten Historische Woche 2011 aus sendet. Die Optik lehrte, dass die der EU gibt es zwar verbreitet das In- empfangenen Strahlen um so schwächer strument der Volksabstimmung, dessen sind, je weiter der Weg ist, den sie vom Anwendung oft in der Hand der Regie- Objekt zum Auge zurückgelegt haben. renden liegt, also eine Prämie auf den Entfernteres erscheint also dunkler als Machtbesitz darstellt. Auch konsultative Europa im näher Liegendes. Die so aufgefasste Tie- Volksbefragungen sind verschiedentlich fenverdunkelung darf nicht mit dem Ef- vorgesehen. Eine gewisse Ausnahme bil- fekt von Beleuchtung verwechselt wer- det Italien, dessen Verfassung allerdings den. In der Darstellung der Landschaft, nur die Initiative zur Änderung oder 15. Jahrhundert die sich weit in die Tiefe erstreckt, ver- Aufhebung geltender Gesetze zulässt. leitet dieses Prinzip Bartolo di Fredi Die direkte Bürgergesetzgebung wäre dazu, die am oberen Bildrand sichtbare also EU-weit ein Sonderfall. Die Schweiz Herbst des Mittelalters – Bergkette fast schwarz zu malen. kennt auf der Bundesebene das Recht 1423 vollendete Gentile da Fabriano der Bürger, ein beschlossenes Gesetz zu im Auftrag der Familie Strozzi sein Fall zu bringen, und die sog. Verfassungs- Frühling der Neuzeit? Altarbild der „Anbetung der Könige“ initiative, also die Befugnis, durch Volks- (Abb. 1), das in der Tradition des soge- entscheid die Verfassung zu ändern. In nannten Weichen Stils, des höfischen den USA gibt es die Volksgesetzgebung Stils der internationalen Gotik steht. auf der Ebene des Gesamtstaats nicht. Gentiles Interesse gilt vor allem der ge- nauen Wiedergabe der Gegenstände. XI. Die Regel der Tiefenverdunklung hat Die Historische Woche 2011 widmete unsere Gegenwart beeinflussen. Gentile getreu befolgt. Sein Bild unter- Die Einführung der allgemeinen sich dem Spätmittelalter. Unter dem Zusätzlich zur geplanten Herausgabe scheidet sich von demjenigen Bartolo di Volksgesetzgebung würde die parlamen- Titel „Europa im 15. Jahrhundert. eines Sammelbandes, in dem alle Vor- Fredis allerdings darin, dass er sich be- tarische Demokratie einem Stresstest Herbst des Mittelalters – Frühling der träge berücksichtigt werden, doku- müht, Beleuchtungseffekte wiederzuge- mit gänzlich ungewissem Ausgang Neuzeit?“ nahmen Experten viele Fa- mentiert „zur debatte“ die beiden ben. Nur drei Jahre nach der Vollen- unterwerfen. Rücknehmbar wäre sie cetten dieser Epoche in den Blick, in Abendvorträge, in denen die Geistes- dung dieses Altars malte in Florenz nicht. Handlungsbedarf besteht auf an- der grundlegende Entwicklungen ih- geschichte beziehungsweise die Kunst- Masaccio eine „Anbetung der Könige“ deren Feldern. Ich nenne Beispiele: Es ren Ausgang nahmen, die die Ge- geschichte im Mittelpunkt standen. (Abb. 2), die gänzlich anders aussieht. bedarf, mit Ulrich Sarcinelli zu reden, schichte der Neuzeit teilweise bis in Im Gegensatz zu Gentile verzichtet einer „kommunikativen Runderneue- Masaccio auf die Wiedergabe von De- rung der repräsentativen Demokratie“, tails. Er arbeitet mit dem Prinzip einer einer Umstellung „von der ex-post- zur Reduktion auf die einfache, monumen- Präventivkommunikation“. Die Bertels- tale Form. Nicht Materialillusion son- mann-Stiftung hat in ihrer Studie Erblickte und konstruierte Wirklichkeit. dern die Wirkung plastischer Präsenz ist „Politik beleben, Bürger beteiligen“ sein Ziel. Daran hat die Helldunkel- (2010) dazu sehr erwägenswerte Vor- Die Malerei des 15. Jahrhunderts in den Modellierung entscheidenden Anteil, schläge gemacht. Statt theatralischer die hier als Beleuchtung durch ein von Selbstbespiegelung in unzähligen, immer Niederlanden und in Italien links einfallendes Licht verstanden wer- unerträglicher werdenden Talkshows er- den kann. Die Figuren werfen sogar ei- wartet der interessierte Bürger von der Frank Büttner nen Schatten. Die Regel der Tiefenver- Politik die aktive Einbeziehung in Ent- dunkelung gilt hier auch nicht mehr für scheidungsvorgänge, einen ergebnisoffe- die Landschaft. Die Berge werden um nen Diskurs, wie er spät genug im Medi- so heller, je weiter sie entfernt zu sein ationsverfahren um „Stuttgart 21“ statt- scheinen. Ihre Farbe geht schließlich so- gefunden hat. Das schließt die Rückbe- I. gar in Blau über. Damit folgt er unserer sinnung der öffentlichrechtlichen Me- alltäglichen Seherfahrung. Masaccios dien auf ihren Auftrag zur Grundversor- Der epochale Umbruch der Kunst im Gemälde ist eines der ersten italieni- gung ein. „Legitimation durch Verfah- Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, schen Beispiele für die Abkehr von den ren“ (Niklas Luhmann) ist, zumal bei der sich im frühen 15. Jahrhundert an- tradierten Darstellungsprinzipien. Ange- Großprojekten, nicht mehr ausreichend, bahnte, war nach der gängigen Auffas- sichts der ganz auf die plastische Form uneingeschränkte Transparenz auf allen sung eine Leistung Italiens. Auch wenn reduzierten Berge fällt es allerdings Entscheidungsebenen in allen staat- sich für diese Epoche des Wandels der schwer, hier von Landschaftsdarstellung lichen Verfahren geboten. Legalität des Begriff „Renaissance“ erst seit dem 18. zu sprechen. Die Landschaft ist nicht Verfahrens schafft allein noch keine Ak- Jahrhundert durchzusetzen begann, war mehr als eine Hintergrundfolie. zeptanz. Die Bürger müssen beteiligt der Bedeutungskern des Begriffs, die werden, bevor Entscheidungen fallen. Wiedergeburt der Antike, schon den II. Nicht mehr Abstimmungen, sondern Zeitgenossen bewusst. Der Rückgriff mehr Mitsprache lautet die Forderung und der Wettstreit mit der Antike führte Höchst bemerkenswert ist noch et- des Tages. Demokratie ist Deliberation die italienische Kunst auf den Gipfel, was anderes: Während Gentile in sei- in Permanenz und Transparenz. den sie in der römischen Hochrenais- nem Gemälde die Köpfe der großen sance erreichte. Wenn man die Kunst- Schar des Gefolges der drei Könige XII. geschichte nur aus dem Blickwinkel der übereinander gestaffelt darstellt, er- Antikennachahmung betrachtet, fällt es scheinen sie bei Masaccio annähernd In seinem Erinnerungsbuch mit dem schwer, das, was im 15. Jahrhundert auf einer Höhe. Dass die Figuren schönen Titel „Letzten Endes meine ich nördlich der Alpen geschaffen wurde, hintereinander stehen, erkennen wir, doch“ schreibt Theodor Eschenburg, der Renaissance zuzurechnen. Üblich wenn wir auf ihre Beine blicken: nach mit der Ausbreitung des Partizipations- ist es, hier noch vom Spätmittelalter zu hinten hin werden die Figuren immer gedankens sei ein Element der Unbere- sprechen. Man muss sich jedoch fragen, kürzer. Das sogenannte Prinzip der chenbarkeit, ja der Unregierbarkeit in ob man damit der sogenannten altnie- Prof. Dr. Frank Büttner, Professor für Isokephalie, das hier angewendet wur- die Politik gekommen, und er vermutete derländischen Malerei gerecht wird, der Kunstgeschichte mit besonderer Berück- de, steht in unmittelbarem Zusammen- den Grund dafür in einem Umbruch im Kunst in den von Burgund beherrschten sichtigung der Kunstgeschichte Bayerns hang mit dem Prinzip der konstruierten Demokratieverständnis, der an die südlichen Niederlanden, die mit Jan van an der Universität München Perspektive, für das Masaccio mit dem Grundlagen gehe. Die Deutschen haben Eyck, Rogier von der Weyden und an- bereits erwähnten Fresko der „Trinität“ eine fatale Neigung, sich politischen deren Meistern eine einzigartige Höhe ein einzigartiges frühes Beispiel geliefert Schwierigkeiten durch vermeintliche erreichte, die selbst die italienischen Um 1400 bewegte sich die italieni- hat. Dieses Wandbild ist das älteste und Patentlösungen zu entziehen. Die Auf- Meister beeindruckte. sche Malerei noch auf den Bahnen, die wichtigste erhaltene Beispiel für die nahme von Staatszielbestimmungen in Jan van Eyck, dessen Hauptwerk, der Giotto hundert Jahre zuvor mit seinen konsequente Anwendung der Linear- die Verfassungstexte, so meint man bei- „Genter Altar“, zwischen 1430 und Werken gewiesen hatte. Ein Beispiel für perspektive. Ihre Erfindung war für die spielsweise, erledige das Problem. So 1435 entstand, und Masaccio, der um diesen konservativen Stil ist die um Entwicklung der Kunst ein epochales, glaubt man auch, Politikverdrossenheit 1426 in Florenz das Wandbild der „Tri- 1385 in Siena geschaffene „Anbetung wenn auch nicht voraussetzungsloses durch die Einführung von Volksabstim- nität“ geschaffen hat, können als Prota- der Könige“ von Bartolo di Fredi. Auf- Ereignis. mungen gleichsam wie durch Zauber- gonisten der Kunstentwicklung in den fällig ist das Bemühen um plastische Vorausgegangen waren Bildexperi- hand verschwinden lassen zu können. Niederlanden und in Italien gelten: Modellierung. Der Maler bedient sich mente des Architekten Brunelleschi, In Wahrheit handelt es sich um eine ro- Masaccio als der erste Praktiker der dabei des Prinzips der Tiefenverdunke- von denen frühe Beschreibungen be- mantische Flucht aus der Realität, die linearperspektivischen Konstruktion, lung, das in der Malerei um 1300 neu richten. Eines dieser um 1415 geschaffe- nach zugegeben mühsamer täglicher Eyck als Meister einer detailgenauen entdeckt worden war. Dieses Prinzip nen Bilder stellte das Florentiner Baptis- Anstrengung im Gespräch mit dem Bür- Wiedergabe der Wirklichkeit. Beide ha- stützte sich auf die Lehren der Optik, terium dar, wie es sich vom Mittelportal ger verlangt und nicht danach, dass sich ben ein gemeinsames Ziel: die genaue die im späten 13. Jahrhundert große Be- des Domes zeigt. Es spricht alles dafür, die Politik ihrer Verantwortung entle- Wiedergabe der Wirklichkeit. Doch die- deutung erlangt hatte. Damals setzt sich dass Brunelleschi bei der Ausführung digt, indem sie ihre Entscheidungskom- ses Ziel versuchen sie auf unterschied- die Erkenntnis durch, dass das Auge des Bildes von der Aufmessung des Ge- petenzen abgibt. „ lichen Wegen zu erreichen. im Prozess des Sehens Lichtstrahlen bäudes ausging, die er mit einem Gerät

18 zur debatte 5/2011 vorgenommen haben dürfte, das dem der Maler eine Bühne für die von ihm seit Anfang des 14. Jahrhunderts ge- darzustellende Historie schaffen, deren bräuchlichen Jakobsstab entsprach. Wahrscheinlichkeit durch den konstru- Wenn der vertikale Messstab fixiert ierten Handlungsraum gestützt und gar- blieb, lagen die Messpunkte in einer antiert wird. Überzeugungskraft ge- Ebene und konnten auf ein Blatt über- winnt nach Alberti die Historie aber tragen werden. Die Erscheinung des erst, wenn die Darstellung der Figuren Gegenstandes und das Bild sind zuein- korrekt und die Wiedergabe der Affekte ander proportional. Damit konnte das überzeugend ist. Bild den Anspruch erheben, „richtig“ zu Dass Masaccio starke Affekte darzu- sein. stellen vermochte, bewies er in den Leon Battista Alberti hat mit seinem Fresken der Brancacci-Kapelle in Flo- 1435 verfassten Malerei-Traktat dem renz (1425 bis 1428). In der „Vertrei- neuen Verfahren zum Durchbruch ver- bung aus dem Paradies“ zeigt er die Ur- holfen. Das von ihm erfundene und be- eltern in tiefster Verzweiflung. Wenn schriebene „Velum“ war die Umsetzung man neben dieses Fresko die Darstel- der Erfindung Brunelleschis in einen lung von Adam und Eva in Jan van Zeichenapparat. Dürer hat dieses Ver- Eycks nur wenige Jahre jüngerem „Gen- fahren in einem Holzschnitt illustriert. ter Altar“ stellt, kann man ein vergleich- Die Spitze eines kleinen Obelisken mar- bares Streben nach Wirklichkeitstreue kiert den Augenpunkt. Die vom zu konstatieren. Zwar kann van Eyck kei- zeichnenden Objekt, einem liegenden ne Affektdarstellung wie Masaccio bie- Frauenakt, zum Augenpunkt laufenden ten, weil er die beiden nicht als han- Strahlen, durchkreuzen ein Fadengitter. delnde Figuren zeigt. Sie verdienen Der so markierte Punkt wird auf das aber das Prädikat genauer Naturnach- quadrierte Zeichenblatt übertragen. Mit ahmung, weil van Eyck sie in porträt- diesem Apparat konnte demonstriert hafter Genauigkeit dargestellt hat. werden, dass das Bild im Grunde ein Wenn man das Trinitätsfresko Massa- Schnitt durch die Sehpyramide ist, cios mit dem Genter Altar van Eycks gleichsam ein offenes Fenster, durch das vergleicht, kann man Übereinstimmun- die Sehpyramide hindurchläuft. Dieses gen in der Figurendarstellung, aber Verfahren war aber nur zur Wiedergabe Unterschiede in der Darstellung von tatsächlich existierender Dinge geeignet. Innenräumen feststellen. Der Unter- Damit aber war es für die Maler nur be- schied zwischen beiden Künstlern wird dingt verwendbar, deren wichtigste Auf- noch größer, wenn man die Land- gabe es damals noch war, Altarbilder zu schaftsdarstellungen in der Brancacci- schaffen oder in Wandbildern biblische Kapelle mit dem „Genter Altar“ ver- Geschichten zu vergegenwärtigen. Auch gleicht. Van Eyk kennt die Regeln der für Alberti war die vornehmste Aufgabe Perspektive und das Prinzip der isoke- Abb. 1: In den Uffizien in Florenz ist des Malers die „Historia“, das narrative phalen Figurendarstellung nicht, doch diese Darstellung der Anbetung der Bild. seine Landschaftswiedergabe wirkt weit Könige zu sehen. Gentile da Fabiano Albertis eigener, für die Entwicklung natürlicher. schuf sie 1423. der Perspektive bahnbrechender Beitrag Zum gleichen Urteil kommt man, war die Erfindung eines Konstruktions- wenn man Masaccios „Anbetung der verfahrens, das später als „costruzione Könige“ mit der um 1430 zu datieren- leggitima“ bezeichnet wurde. Wenn bei den „Geburt Christi“ in Dijon konfron- Brunelleschi und mit Albertis „Velo“ tiert, die dem Meister von Flémalle zu- real Vorhandenes „richtig“ abgebildet geschrieben wird (Abb. 3). Wenn man wird, so war mit Albertis Konstruk- in diesem Bild nur auf die Figuren blickt, tionsverfahren die Möglichkeit gegeben, wird man viele gotische Züge entde - fiktive Wirklichkeiten zu erschaffen. cken. Doch schon am Stall findet man Die linearperspektivische Konstruktion erstaunliche naturalistische Details. ist dabei Garant der angestrebten „Rich- Noch erstaunlicher ist die Hintergrunds- tigkeit“ und Wahrscheinlichkeit der landschaft, die von der goldenen, unter- Bildwelt. Dahinter steht ein grundsätz- gehenden Sonne beleuchtet wird. Die licher Wandel in der Auffassung des Bil- kahlen Bäume (es ist Winterszeit) wer- des, der sich seit dem späten 13. Jahr- fen lange Schatten. Die Gebäude der hundert angebahnt hatte. Im frühen Stadt im Hintergrund spiegeln sich im Mittelalter, etwa bei Isidor, galt die Ma- Wasser und der Fluss verliert sich in lerei als trügerisch oder gar lügnerisch. dunstiger Ferne. Nirgendwo in der In den Optiktraktaten wurden „pictura“ gleichzeitigen italienischen Malerei und „scriptura“ auf eine gleiche Stufe wird man eine vergleichbar naturalisti- gestellt, weil beide mit den Grundprin- sche Landschaft finden. zipien von Figur und Ordnung arbeiten. Bilder sollten gelesen werden. Mit Giot- IV. to kam der Umschwung. Boccaccio rühmte seine Fähigkeit, alles naturge- Noch um 1400 hatte sich die burgun- treu darstellen zu können. Er habe „die dische Malerei an der italienischen Kunst wieder zu neuem Lichte erho- Trecento-Malerei orientiert. Der Um- ben“, nachdem sie Jahrhunderte lang schwung der Bildauffassung wurde in unter Irrtümern begraben lag. Man der Buchmalerei vorbereitet, die damals kannte zwar kein originales Gemälde in jener Region in höchster Blüte stand. aus der Antike, wohl aber den bei Innerhalb weniger Jahre entwickelt sich Vitruv überlieferten Grundsatz, dass in der französisch-burgundischen Buch- nur solche Gemälde gutzuheißen sind, malerei eine einzigartige Kultur der die der Wirklichkeit ähnlich sind: „quae Landschaftsdarstellung. So findet man sunt similes veritati“ und ohne Verstoß in den „Très Riches“ des Herzogs Jean gegen die Wirklichkeit korrekte Ver- de Berry, an der die Brüder van Lim- hältnisse („certas rationes“) wiederge- burg zwischen 1410 und 1416 gearbeitet ben. Das war mit der neuen Methode haben, eine neue Qualität der Land- Albertis zu erreichen. schaftsmalerei, in der Wiedergabe bota- nischer Details wie in der Berücksichti- III. gung des jahreszeitlich bedingten Cha- rakters der Landschaft. Noch einen Das Kunstwerk der „Historia”, das Schritt weiter ging Jan van Eyck in den nach Alberti das höchste Ziel aller Illustrationen des sogenannten Turin- künstlerischen Bemühungen ist, ver- Mailänder Stundenbuchs, das für Jean langt aber mehr als genaue Naturnach- de Berry begonnen wurde und nach des- ahmung. Es entsteht in einem Produk- sen Tod 1417 zunächst an Wilhelm IV. tionsprozess, der der Rhetorik entspre- von Bayern-Flandern-Hennegau kam Abb. 3: Um 1430 entstand diese Dar- chend mit der „inventio“ beginnt, die in und dann an dessen Nachfolger Johann stellung der Geburt Christi. Zugeschrie- der „compositio“ umgesetzt wird und Graf von Bayern-Holland, für den Jan ben wird sie dem Meister von Flémalle mit Linie und Farbe realisiert wird. Mit van Eyck nachweislich gearbeitet hat. und hängt heute im Musée des Beaux- dem von Alberti kodifizierten perspekti- In der „Geburt Johannes des Täufers“ Arts in Dijon. vischen Konstruktionsverfahren konnte wird, ohne genaue Kenntnis der Linear-

5/2011 zur debatte 19 perspektive ein Raumbild entfaltet, das auf dem Weg zum autonomen Bild. unbekannten Wirklichkeitstreue in der Wirklichkeit und Ideal und zeigt das mit seinen Details einen einzigartigen Dass in dieser Entwicklung das pro- Porträtmalerei. In der Sepulkralkunst auch. Die ins Metaphysische reichenden Einblick in die Alltagskultur jener Zeit fane Bild wachsende Bedeutung erhielt, wie auch als Stifterbild hat das Bildnis Theorien des Disegno haben hier ihre vermittelt. Geradezu sensationell ist die liegt auf der Hand. Ein herausragen- eine lange Tradition, doch das als Tafel- Wurzeln. Die altniederländischen Maler Landschaft am unteren Seitenrand des des Beispiel dafür ist Jan van Eycks bild isolierte Porträt ist eine Errungen- fassen das „Verisimile“ ganzheitlich, als Bildes, das die Taufe Christi darstellt. sogenannte „Arnolfini-Hochzeit“. schaft des späten 14. Jahrhunderts. Totalität von Figur und Welt auf. Das Noch vor dem Gemälde des Meisters Dargestellt ist Giovanni Arnolfini, ein Jakob Burckhardt hatte in seiner „Kul- Bild soll Spiegel der Wirklichkeit sein, von Flémalle in Dijon wird hier ein Kaufmann aus Lucca, der seit 1421 in tur der Renaissance“ die Entwicklung jedes Detail erfassen und wiedergeben. Landschaftsraum dargestellt, der den Brügge lebte, mit seiner Frau Giovanna des Individuums als zentrales Phäno- Die Transzendenz ist in dieser Wirklich- Blick von dem detailliert wiedergegebe- Cenami. Das bürgerliche Schlafzimmer men der Epoche herausgestellt. Es lag keit gegenwärtig, scheint durch sie hin- nen Vordergrund in weite, lichte Ferne wird mit der größten Genauigkeit nahe, das gleichzeitige Aufkommen des durch und muss in den Bilder genauso schweifen lässt. wiedergegeben. Eine Besonderheit des isolierten Porträts damit in Zusammen- gesucht und erfasst werden wie in der Bildes ist der Spiegel, der an der Rück - hang zu bringen. Bei gleich großem Wirklichkeit. V. wand des Raumes hängt. Darin ist nicht Interesse für die neue Bildgattung in Die niederländischen Maler der zwei- nur das Paar zu erkennen, sondern den Niederlanden und in Italien sind ten Generation wie Petrus Christus Zu dieser von einem atmosphäri- auch zwei Männer, in Rot und Blau ge- deutliche Unterschiede in der Bildkon- oder Dieric Bouts übernahmen die Re- schen Licht geprägten, kleinen Land- kleidet. Die Inschrift über dem Spiegel: zeption festzustellen. In der Frühzeit geln der konstruierten Perspektive und schaft wird man in der gleichzeitigen „Johannes de Eyck fuit hic 1434“ ist des italienischen Porträts findet man benutzten sie, um die Wahrscheinlich- italienischen Malerei kein Gegenstück mehr als eine Signatur. Der Maler be- fast ausschließlich Profildarstellungen, keit in der Wiedergabe der Wirklichkeit finden. Alberti ging in seinem Malerei- kennt sich als Augenzeuge. Sein Bild ist wie die Werke Pisanellos zeigen, bei- zu erhöhen. Sie ließen sich von den Ita- traktat von den Lehren der wissen- Dokument der Eheschließung. Der in spielsweise das Bildnis des Leonello lienern in der Figurenkomposition und schaftlichen Optik aus. Er schloss sich der getreuen Wirklichkeitswiedergabe d’Este von 1441. Ein Grund für diese der Anlage der Bilderzählung anregen. der These an, dass die vom Objekt aus- liegende Wahrheitsanspruch hebt das Vorliebe war, dass dieser Bildtypus In vielem jedoch waren die Italiener die gehenden Strahlen mit wachsender Gemälde in den Rang einer Urkunde. durch die kunstgeschichtliche Tradition Nehmenden. Niederländische Werke Distanz schwächer werden, ein Effekt, ausgezeichnet war, denn es war der wurden schon früh als Sammlerstücke der durch die zwischen Objekt und Be- Bildtypus der Medaille, die im Rückgriff nach Italien gebracht und bewundert. trachter liegende Luft verstärkt wird. auf die Antike in der Renaissance eine Später kamen dann auch große Bild- Die vermeintlich wohlbegründete Regel Der Spiegel galt schon im- neue Blüte erlebte. Die Bevorzugung werke nach Italien, wie der von Hugo der Wissenschaft hat für Alberti ein grö- mer als ein Instrument, in des Profilbildnisses hat aber auch etwas van der Goes gemalte Altar der Familie ßeres Gewicht als die Seherfahrung, die mit dem für die italienische Kunst cha- Portinari in Florenz. Künstler wie Do- er tagtäglich machen konnte. Zwar er- und mit dem man die Wirk- rakteristischen Primat des Linearen zu menico Ghirlandaio standen, wie die wähnt er, dass die Luft oft im Bereich lichkeit erkennen kann. tun, das in der Kunsttheorie der Hoch- Figuren und die Hintergrundlandschaft des Horizonts mit weißem Dunst renaissance Triumphe feiern sollte. Wie seiner „Anbetung der Hirten“ von 1485 durchzogen zu sein scheint, um nach das alte Beispiel des Schattenrisses belegen, unter dem Eindruck niederlän- oben im fließenden Übergang zur eige- Dass der Spiegel in diesem Zusam - lehrt, ist die Profillinie das einfachste discher Vorbilder. Besonders intensiv nen blauen Farbe zurückzukehren. menhang eine entscheidende Rolle und eindeutigste Mittel, eine Person ab- war der niederländische Einfluss in Dass dies der Regel der Tiefenverdunk- spielt, ist mehr als ein origineller Einfall zubilden. Sie ist sozusagen die Abstrak- Venedig. Dort hat er ganz entscheidend lung widerspricht, scheint ihm nicht des Malers. Der Spiegel galt schon im- tion der Erscheinung. Dem gegenüber zu der Entwicklung der Landschafts- aufgefallen zu sein. mer als ein Instrument, in und mit dem scheinen die Personen in den Bildnis- darstellung beigetragen, die über die Der grundlegende Unterschied zwi- man die Wirklichkeit erkennen kann. sen van Eycks und seiner Zeitgenossen Gemälde Bellinis zu Tizian führen soll- schen der Florentiner und der nieder- Er war nicht nur Metapher für die Ma- körperlich greifbar zu sein. te. Auch die italienische Porträtkunst ländischen Bildauffassung, liegt in dem lerei, sondern auch für Schriften, die die verdankt den Niederländern einiges, Umgang mit dem Licht. Masaccio stellt Wirklichkeit, auch die religiöse Wirk- VII. wie die Bildnisse von Antonello da zwar die Schlagschatten der Figuren lichkeit, zusammenfassen und vermit- Messina belegen können. dar, doch sein Bild ist insgesamt merk- teln. Seit dem Aufblühen der Optik im Wenn man eine Summe des Ver- Eine für die weitere Entwicklung ent- würdig lichtlos, vom Eigenwert der späten 13. Jahrhundert wurden die Phä- gleichs zieht, dann kann man sagen, scheidende Wendung nahm die italieni- Buntfarben geprägt. In dem von Alberti nomene der Spiegelung mit besonderer dass in Italien wie in den Niederlanden schen Malerei im späten 15. Jahrhun- postulierten Werkprozess stehen Zeich- Intensität untersucht. Die Beschäftigung das „Verisimile“ das Ziel der Bildgestal- dert durch die Rezeption der antiken nung („circumscriptio“) und „composi- mit der Spiegelung, die parallel zu der tung ist, doch dieses Ziel wird auf un- Formensprache. Architektur und Skulp- tio“ am Anfang, erst danach folgt die Erforschung der Wirkungen des Lichtes ter schiedlichen Wegen zu erreichen tur waren darin vorausgegangen. In der „receptio luminum“, der Lichteinfall. verlief, war eine Schule der Wahrneh- versucht. Fundament der italienischen Malerei waren antike Themen vielfältig Jan van Eyck malte sozusagen mit dem mung. Sie konnte lehren, die Wirklich- Bildauffassung ist die wissenschaftlich rezipiert worden, doch bis weit in die Licht. Um 1435 schuf er für Nicolas keit punktgenau wiederzugeben. Für die begründbare Konstruktion, die die Pro- zweite Jahrhunderthälfte hinein wurden Rolin, den Kanzler von Philipp dem niederländischen Künstler war der Spie- portionalität zwischen Bild und Wirk- sie in zeitgenössischen Phantasiekostü- Guten von Burgund, ein Madonnenbild, gel das Paradigma, dem sie zu folgen lichkeit garantiert, und die bei der men dargestellt. Ganz anders dagegen das in der Mitte zwischen der Madonna bestrebt waren. Zeichnung ansetzende Ausführung, der von Marcantonio Raimondi nach und dem sie anbetenden Stifter einen Sozusagen im Wettstreit mit dem wobei die handelnde menschliche Figur einer Vorlage Raffaels ausgeführte Ausblick in eine weite, sonnendurch- Spiegelbild gelangten die altniederlän- im Mittelpunkt steht. Das Konstrukt Kupferstich, der sich in seinem Figuren- tränkte Landschaft zeigt. Dass die Dar- dischen Meister zu einer bis dahin des Bildes steht in der Mitte zwischen stil eng an die antike Plastik anlehnt. stellung auf genauster Beobachtung be- ruht, zeigt ein kleines Detail. Das Chris - tuskind trägt eine gläserne Kugel mit dem Kreuz darauf, Symbol der Welt. Das Fenster, durch das das Licht von rechts her einfällt, spiegelt sich auf der Oberseite der Kugel. Es spiegelt sich noch einmal auf der Innenseite und es wirft wie ein Brennglas einen gebündel- ten Lichtstrahl auf den Bauch des Kin- des. Ein solches Lichtspiel war nur durch genauste Beobachtung der Wirk- lichkeit zu erfahren.

VI.

Um seine Beobachtungen des Wech- selspiels von Gegenstand, Farbe und Licht umzusetzen, perfektionierte van Eyck die Technik der Ölmalerei. Sie er- möglichte ihm punktuelle Genauigkeit und einen aus vielfachen Schichten be- stehenden Aufbau der Farbe. Der be- deutendste Fortschritt gegenüber der mittelalterlichen Tempera-Technik lag in der Möglichkeit des Lasierens, das ei- nen bis dahin in der Kunst unbekann- ten Detailrealismus ermöglichte. Der Abb. 2: Ein Werk von Masaccio: Anbe- forschende Blick in die Wirklichkeit tung der Könige von 1426. Das Gemäl- und seine künstlerische Umsetzung de ist heute in der Gemäldegalerie der brachten auch weiter reichende Impul- Staatlichen Museen zu Berlin zu sehen. se. Je mehr die Qualität der Malerei als ein hoch zu schätzender Wert anerkannt wurde, desto mehr wurden Bilder um ihrer selbst willen erworben und gesam- melt. Das war ein entscheidender Schritt

20 zur debatte 5/2011 Die lateinische Inschrift sagt: „Gegen- entsprechen. Denn alles, was ist, ist ein über der Schönheit verlieren Geist, Die Geburt neuzeitlichen Denkens, oder: Einzelnes oder aus Einzelnem Zu- Tugend, Königreiche, Gold ihren Reiz“. sammengesetztes, so dass die Wissen- Mit diesem Preis der Schönheit, setzt das erste Jahrhundert des Humanismus schaften keine Abbilder der Realität sich das Blatt entschieden von der sind, sondern lediglich menschliche Be- mittelalterlichen Allegorese ab, die in Eckhard Keßler griffsmodelle, Systeme von Zeichen, die dem Mythos des Parisurteils die Wahl auf die Dinge hinweisen. Sie lassen die- zwischen der vita contemplativa, activa se aber nicht als das, was sie wirklich und voluptaria erkannte und die Ent- sind, erkennen. scheidung des Paris als warnendes Zwar stand es dem Gläubigen frei, Exempel auffasste. In der so gefeierten darauf zu vertrauen, dass Gott von sei- Schönheit wird die Naturwahrheit ner Freiheit keinen Gebrauch macht, transzendiert. Zugleich mit dem Rück- Der Begriff des Humanismus wurde und dem professionellen Logiker, sich griff auf die antike Form war in Florenz im 19. Jahrhundert zur Bezeichnung ei- mit der formalen Notwendigkeit der Be- mit den Werken der Brüder Pollaiuolo, ner geistigen Bewegung im Italien des griffsmodelle zufrieden zu geben: zuver- Botticelli und Signorelli das großforma- 15. Jahrhunderts geprägt, die sich mit lässige Sicherheit konnten scholastische tige mythologische Tafelbild geschaffen einer noch nie dagewesenen Intensität Philosophie und Theologie aber nicht worden. Das war ein weiterer entschei- um die Rezeption der gesamten antiken mehr gewährleisten, wirkliche Gebor- dender Schritt auf dem Weg zum auto- Kultur bemühte. Sie war die Initialzün- genheit konnten Theologie und Philoso- nomen Bild, den die gleichzeitige nie - dung für die klassische Philologie der phie nicht mehr geben. derländische Malerei noch nicht mit- Neuzeit und die mit ihr verbundene machte. „humanistische“ Bildung. In dieser Be- Das individuelle Szenarium: Weitere wesentlichen Beiträge zur deutung wird sie in der Regel auch bis Die Entwicklung Petrarcas Begründung der neuzeitlichen Bildauf- heute verstanden. fassung hat Leonardo da Vinci geleis tet. Aber dieser Humanismus des 15. In dieses Szenario des späten Mittel- Sie können als Synthese der italieni- Jahrhunderts war nicht nur eine rück- alters wird im Jahr 1304 in Arezzo schen und niederländischen Bildauffas- wärts gewandte Bildungsbewegung, als Francesco Petrarca (Abb.1) geboren, in sung gewertet werden. In der „Verkün- die er fraglos anerkannt wird, sondern ihm hat er Orientierung gesucht und digung“, einem seiner ersten Bilder er war auch – was meist übersehen wird aus ihm hat er Wege hinaus gewiesen – verbindet er die korrekte Konstruktion – ein zukunftsweisender Anstoß, der von Anfang an unbehaust. der sich verkürzenden Architektur, mit dem neuzeitlichen Denken den Weg be- Sein Vater, der Notar Ser Petracco, der Luftperspektive der Landschaft und reiten konnte. ist – wie Dante zwei Jahre zuvor – aus der exakten Nachbildung botanischer Diese „philosophische“ Leistung des Florenz verbannt worden und so lernt Details. Um 1490 begann er mit dem in- Humanismus gründet in zwei Szena- der kleine Francesco das Leben des tensiven Studium der Lehren der Optik, rien, in dem allgemeine Szenarium der Emigranten kennen, an wechselnden deren Thesen er durch genaue Natur- spätmittelalterlichen Krise von Lebens- Orten – in Arezzo, Incisa, –, bis beobachtungen kritisch überprüfte. Er welt und geistiger Orientierung und Prof. Dr. Eckhard Keßler, Professor für der Vater sich 1312 in Carpentras, im erkannte die Unzulänglichkeiten der dann, darin verankert, in dem indivi- Geistesgeschichte und Philosophie der Einzugsbereich der Avignoneser Kurie, nur auf die richtige Konstruktion ver- duellen Szenarium des Francesco Pe- Renaissance an der Universität Mün- als Notar niederlässt. Dort erhält der trauenden Darstellung, deckte die Feh- trarca, des meist nur als Dichter der chen Sohn eine vom römischen Patriotismus ler auf, die zum Beispiel bei falscher, zu Liebe zu Laura bekannten geistigen geprägte Elementarbildung, um an- naher Annahme des Augenpunktes auf- Vaters des Humanismus im 14. Jahr- schließend auf Wunsch des Vaters als treten können. Ihm wurde die von der hundert. formaler Notwendigkeit beruht, dann Zwölfjähriger erst in Montpellier und Linearperspektive notwendig vernach- muss auch der erkannte Sachverhalt von 1320 an in Bologna Jurisprudenz lässigte Bedeutung des beidäugigen Se- Die Krise des späten Mittelalters notwendig sein und der logischen Not- zu studieren und den Grundstein für hens für die plastische Wahrnehmung wendigkeit der Erkenntnis die ontologi- seine Bibliothek zu legen. 1326, nach bewusst und er versuchte dieses Defizit Betrachtet man das 14. Jahrhundert, sche Notwendigkeit des Erkannten ent- dem Tod des Vaters, bricht er das unge- durch das Sfumato, die extrem fein ab- so kann man ohne Übertreibung sagen, sprechen. Wenn aber die ganze Welt er- liebte Studium ab und kehrt nach Avig- gestufte Hell-Dunkel-Modellierung, zu dass es in hohem Maße von negativen kennbar sein soll, muss sie auch als non zurück, wo er als Mitglied der kompensieren. Aufgrund seiner Natur- Erfahrungen gezeichnet und verunsi- Ganze determiniert sein und nicht ein- Entourage des Kardinals Giovanni Co- beobachtungen verbesserte er die bis chert wurde. Die Ordnungsmächte des mal ihr göttlicher Schöpfer darf frei lonna seine erste philologische Großtat dahin geübte Praxis der Luftperspek- Mittelalters, Kaisertum und Papsttum, sein, in seiner Schöpfung etwas zu ver- vollbringt: Er verbindet die bereits be- tive. Er stellte fest, dass ferne Berge waren geschwächt. Die Kirche durch ändern. kannten und die neu aufgefundenen wegen des Dunstes, der sich in Erdnähe die „babylonische Gefangenschaft“ in Dekaden des Livius – 1328/29 – zur sammelt, nach oben hin dunkler er- Avignon (1309 bis 1377), das „große Einheit der ersten Ausgabe von dessen scheinen. Auch wenn Leonardo nur we- Schisma“ (1378 bis 1417) und den an- „Römischer Geschichte“. nige seiner Werke vollendet und keine schließenden „Konziliarismus“ (1417 bis Betrachtet man das 14. Die Arbeit am Livius und ihr Erfolg seiner theoretischen Schriften publiziert 1459); das Reich durch die Kämpfe zwi- Jahrhundert, so kann man inspirieren ihn, ein Haus in Vaucluse hat, verbreiteten sich seine Lehren schen Fürsten, Städten und machtlosen am Fuß des Mont Ventoux zu erwerben rasch. So hat er ganz entscheidend zur Kaisern, den hundertjährigen Krieg zwi- sagen, dass es in hohem und selbst römische Geschichte zu Grundlegung der neuzeitlichen Bildauf- schen England und Frankreich (1339 Maße von negativen Erfah- schreiben – keine „Neufassung“ des fassung beigetragen, nach der ein Ge- bis 1453), die endlosen Kämpfe zwi- Livius, sondern zunächst die Viten be- mälde den visuellen Eindruck der Wirk- schen Guelfen und Ghibellinen in Ita- rungen gezeichnet und ver- rühmter Männer vom König Romulus lichkeit so genau wie möglich wieder- lien. Eine Reihe von Missernten und unsichert wurde. bis zu Kaiser Titus – in der Absicht, die geben soll, um dem Betrachter die Illu- Hungersnöten lieferten die Bevölkerung Zeitgenossen zur Besinnung auf die alt- sion des Blicks durch ein offenes Fens- wehrlos der Pest aus, die zwischen 1347 römischen Tugenden zu bringen und in ter zu vermitteln. und 1350 ca. 30 Prozent der Einwohner Das aber widerspricht nicht nur dem der Hoffnung, als Rühmer der Ruhm- Das Postulat genauester Wirklich- Europas hinwegraffte. Die darauf fol- christlichen Gottesbegriff, sondern vollen selbst Ruhm zu erwerben, um keitswiedergabe, das im 15. Jahrhundert gende Wirtschaftskrise führte zu den auch, wie der Franziskaner Johannes dann, zwei Jahre später, 1338/39, noch in den Mittelpunkt der Bildauffassung ersten Bankrotten, zu Bauernaufstän- Duns Scotus (ca. 1266 bis 1308) zu Be- ein Epos über Scipio Africanus zu be- gestellt wurde, war ein entscheidender den und städtischen Revolten. Der Flo- ginn des 14. Jahrhunderts zeigt, der Er- ginnen. Schritt zur neuzeitlichen Kunstauffas- rentiner Giovanni Villani bricht seine fahrung des menschlichen Handelns, in Obwohl von beiden Werken zum sung. Seine Wirkung hat dieses Postulat Chronik im Jahre 1348 ab mit der Er- dem manches nicht notwendig ist, son- Ruhme Roms und der Römer erst weni- bis heute nicht verloren. Zwar wurde mahnung: dern auch „nicht sein kann“ und folg- ge Teile abgeschlossenen sind, wird ihr seine Geltung von der bildenden Kunst „Und, Leser, merke wohl, dass die lich „kontingent“ ist. Da aber die Ur- Autor am 8. April 1341 in Rom als der Moderne relativiert, doch in Photo- oben genannten Zerstörungen und sache von etwas Kontingentem auch Dichter und Historiker gekrönt: eine graphie, Film und digitalen Bildern Gefahren durch Erdbeben große Zei- selbst kontingent sein muss, und die Ur- frühe, vielleicht zu frühe Erfüllung sei- wirkt es weiter fort. Mit diesem Postulat chen und Strafen Gottes sind und nicht sache einer kontingenten Ursache eben- ner nicht verhehlten Ruhmessehnsucht, kam das Kriterium von „richtig“ und ohne große Ursache und Erlaubnis Got- falls – bis hinauf zur ersten Ursache –, denn nach der Krönung in Rom nimmt „falsch“ in den Bilddiskurs, das auf die tes geschehen. Und von solchen Zei- so muss auch diese frei verursachen und er die Arbeit am Epos ernsthaft mittelalterliche Kunst nicht angewandt chen und Wundern hat Jesus Christus, folglich die ganze Schöpfung, als Wir- überhaupt nur noch einmal, auf der werden könnte. Mit dem „verisimile“ als er seinen Schülern predigte, gesagt, kung dieses freien göttlichen Willens Rückkehr von Rom, in Parma, auf, die des Bildes wurde ein Geltungsanspruch dass sie erscheinen sollten am Ende der kontingent sein. Wenn aber nichts in an den Viten 1343 zum ersten und letz- erhoben, der den Betrachter – ganz den Welt.“ (Giovanni Villani: Cronica. Con der Schöpfung notwendig sein kann, ten Mal. Regeln der Rhetorik entsprechend – le continuzioni di Matteo e Filippo, XII, kann auch nichts in der Schöpfung ge- Einschneidende Veränderungen in überreden und überzeugen sollte. Noch 124, Turin 1979, S. 288) wusst werden. seinem Leben lassen den Wunsch, rö- weiter gingen jene, die dem neuzeit- Zu diesen in der Außenwelt gegebe- Ein anderer Franziskaner, Wilhelm mische Größe und römische Tugend zu lichen Bilde einen Wahrheitsanspruch nen Irritationen traten nicht weniger von Ockham (1300 bis 1349/59), teilt feiern, verflüchtigen: 1347 scheitert zuerkannten, weil es die Wirklichkeit tiefgreifende Erschütterungen in der geis- den Voluntarismus seines Ordensbru- Cola di Rienzos Versuch, die alt-römi- zeigt, wie sie ist, oder das Metaphysi- tigen Orientierung. ders, geht aber noch einen Schritt wei- sche Republik wiederherzustellen, den sche als wirklich vor Augen zu führen Wenn, wie die scholastische Philo - ter: Er zeigt nicht nur, dass die Struktu- Petrarca – zur Bestürzung seiner Freun- vermag. Dass Bilder allerdings auch sophie lehrte, Wahrheit in der adaequa- ren von Denken und Sein nicht über- de in Avignon – unterstützt hatte, und lügen können, hat die jüngere Ge- tio rei et intellectus, der Angleichung einstimmen, sondern auch, dass den lässt den Gekrönten, von seinem Gesin- schichte vielfach bewiesen. „ von Erkenntnis und erkanntem Sach- Allgemeinbegriffen, aus denen die Logik nungsgenossen nicht weniger als von verhalt besteht, und Erkenntnis auf deduziert, keine allgemeinen Entitäten seinem römischen Traum enttäuscht,

5/2011 zur debatte 21 verbittert zurück. Zur gleichen Zeit die Vernunft – ratio – im ersten Buch in der Taten der „viri illustres“ gewesen der als „allgemeiner Beistand des Erd- breitet sich ausgehend von Sizilien in 122 typischen, gewöhnlich als glücklich ist, und wie er in der Praefatio zu De kreises“ der stoische Tugendheld Her- ganz Italien die Pest aus; zahlreiche empfundenen Situationen und im zwei- remediis die Vernunft, die uns zusam- kules gerechnet wird, sind Bürger der Freunde Petrarcas fallen ihr zum Opfer, ten Buch in 132 normalerweise als un- men mit Gedächtnis und Voraussicht civitas terrena und die Tugend, die dem unter ihnen, wie er am 24. März 1348 glücklich empfundenen Situationen ka- den Tücken der Fortuna ausliefert, als Wirken der Fortuna widerstreitet, ist erfährt, die dauerhaft aus der Ferne ge- suistisch gegen jedes emotionale Über- Ursache unseres Elends anklagt, und nicht die christliche Tugend der Demut, liebte Laura. Erschüttert, gescheitert, maß argumentieren lässt – gegen Freu- dann die gleiche Vernunft zur „Burgher- des Gehorsams, der Frömmigkeit und verlassen meidet Petrarca die Freunde de und Hoffnung ebenso wie gegen rin“ der Verteidigung unserer Seelenru- der Liebe, sondern der praktischen in Avignon und flieht 1351 noch ein Schmerz und Furcht. Das gemeinsame he ernennt, so lässt Petrarca auch hier, Tüchtigkeiten und geistigen Fertigkei- letztes Mal nach Vaucluse. Ziel dieser Dialoge aber ist zu erken- im Dialog über „Trauer und Elend“, die ten, soweit sie dem praktischen Han- Er hält Rückschau und bearbeitet sei- nen, dass die Vernunft, mit Gedächtnis Vernunft zunächst zugeben, dass die deln zuarbeiten. Die sapientia, die im ne Briefe für die Veröffentlichung, er und Voraussicht begabt, uns zwar mit Aspekte des „Elends der menschlichen Mittelalter nach antikem Vorbild als zieht Bilanz und ermannt sich zu einem dem ständigen Wandel der Dinge kon- Situation“ weit größer und vielfältiger „Kenntnis der menschlichen und gött- neuen Projekt: Zwar hält er an den frontiert und dadurch der Fortuna aus- sind als die Aspekte des Glücks; dann lichen Dinge, verbunden mit dem Stre- Viten fest, an den berühmten Männern, liefert, so dass es manchmal scheinen aber lässt er die Vernunft sich zur Be- ben nach dem guten Leben“ (Isidor von den viri illustres und an der morali- könnte, es wäre besser, überhaupt un- wältigung dieses allgemeinen Elends auf Sevilla: Etymologiarum libri VIII, Ox- schen Zielsetzung – aber die Fokussie- vernünftig zu sein wie die Tiere, dass den Schöpfer Gott – Deus Creator – be- ford 1911, II, 24, S. 1-3) definiert wur- rung auf Rom ist aufgegeben. Petrarcas aber die gleiche Vernunft uns auch befä- rufen, der in seiner absoluten Allmacht de, besteht faktisch nur noch im „Stre- Blick weitet sich auf die ganze Welt: es higt, uns in diesem Wandel zu behaup- – potentia absoluta – zwar diese unbe- ben nach dem guten Leben“ (Leonardo sind die berühmten und vorbildlichen ten. ständige und unberechenbare Welt ge- Bruni Aretino: Isagoge, in: Ethik des Männer aller Länder und Zeiten, deren Mit der These, dass die Vernunft schaffen habe, zugleich aber auch den Nützlichen, S. 142/43), ihren hohen Viten er nun zu sammeln und zu verei- ebenso Verursacher wie Heilmittel des Menschen zu seinem Bild und Gleich- Rang hat sie an die prudentia, die Klug- nen beschließt: Angesichts der keinen menschlichen Elends ist, nimmt Petrar- nis geschaffen und dazu bestimmt und heit, abgetreten. verschonenden Pest tritt die Sorge um ca in der Vorrede zu den „Heilmitteln“ befähigt hat, ebenfalls Schöpfer zu sein, Petrarca formuliert diese neue Be- die Situation des Römers und des Rö- die Grundspannung der Situation des und die kontingente Struktur der Welt, stimmung des Menschen in seinem Ge- mertums, die condicio Romana, hinter Menschen – condicio humana – wieder die sich im Wandel der Fortuna mani- spräch mit Augustinus „Über den gehei- der Sorge um die Situation der Mensch- auf, die er schon in der Vita Adams ent- festiert, nicht nur zu erleiden, sondern men Widerstreit meiner Sorgen“ kühn so: heit, die condicio humana, zurück. wickelt hatte. Dort beruhte sie lediglich auch im Rahmen seiner Fähigkeiten zu „Ich sage mir nämlich, den Ruhm, So wie in der ersten Vitensammlung statt auf der Ambivalenz der Vernunft, seinen eigenen Gunsten zu nutzen und den man sich hier erhoffen kann, muß (vor 1338/39) die Geschichte mit Ro- auf der des freien Willens, der einer- zu gestalten. man auch, solange man hier ist, zu er- mulus, dem ersten Römer, begann, be- seits, durch Adams falschen Gebrauch, „Habt ihr denn so wenig Grund zur werben suchen. An jenem größeren ginnt sie nun mit Adam, dem ersten zum Quell der miseria des Menschen Freude?“, fragt die Ratio: „Da ist jenes Ruhm wird man sich im Himmel freuen Menschen und Ursprung allen mensch- wurde, sich aber andererseits, nach der Bildnis und Gleichnis Gottes des Schöp- können, wo, wer einmal dorthin ge- lichen Elends. Über ihn kann man nur fers im Inneren eurer Seele: der Erfin- kommen ist, an den irdischen Ruhm in „fruchtlose und verspätete Klagen“ dungsgeist – ingenium –, das Gedächt- nicht einmal mehr denken mag. Des- ausbrechen: als vir illustris, als Vor- nis – memoria –, die Voraussicht – pro- halb sei dies die Ordnung, dass man und Leitbild ist er höchst ungeeignet – Das Vertrauen in die Ver- videntia –, die Sprache – eloquium –, so sich unter Sterblichen vorrangig um und doch ist der gleiche Adam auch die lässlichkeit der geoffenbar- viele Erfindungen – inventa –, so viele vergängliche Dinge sorge: die ewigen Wurzel, aus der, mag sie auch noch so Künste – artes –, die diesem Geist und sollen nach den vergänglichen kom- bitter und dornig – amara et aspera – ten göttlichen Vorsehung diesem Körper dienstbar sind und in de- men. Denn von diesen Dingen zu jenen sein, alle jene illustren Männer stam- ist generell der Furcht vor nen alle eure Bedürfnisse aus göttlicher gibt es einen geordneten Übergang; von men, die nach ihm zu Leitsternen der einem unvorhersehbaren Gnade beschlossen sind; und dann auch dort aber steht uns kein Rückweg offen“ Menschheit geworden sind. so viele günstige und zwingende Gele- (Petrarca: meum, S. 198). Aber auch der Elan, diesen Plan um- Tun einer wandelbaren genheiten, und so viele Arten von Din- zusetzen, ist augenscheinlich nur von Fortuna gewichen. gen, die nicht nur euren Bedürfnissen, Die artistische Methode kurzer Dauer: Petrarca erläutert zwar in sondern auch euren Vergnügungen die- der praktischen Vernunft einer zeitkritischen Praefatio sein Vor- nen.“ (Petrarca: De remediis ..., S. 190) haben, bedeutende Männer, die außer- Wenn angesichts der Freiheit der Petrarca reagiert also auf die durch gewöhnlich berühmt gewesen seien – Vertreibung aus dem Paradies, bei rich- schöpferischen Allmacht Gottes der die kontingente Struktur der Schöpfung excellenti quadam gloria floruisse –, zu tigem Gebrauch durch die Kinder Mensch weder die Ordnung dessen, was bedingte Unfähigkeit des homo sapiens, sammeln, um durch die Erinnerung an Adams in den viri illustres zum Segen ist, mit Sicherheit erkennen noch die das erstrebte Wissen zu erreichen, mit deren Tugenden – commemoratione vir- auswirkte. Diese Parallelität zwischen Ordnung dessen, was sein wird, berech- der Transformation der Vernunft zum tutum – die Laster zu bekämpfen. Er dem „alle Zeiten umfassenden Plan“ der nen kann, ist die Bestimmung des Men- Instrument des schöpferischen Men- schreibt auch noch in Vaucluse insge- viri illustres und den Büchern De reme- schen als Lebewesen, das, – wie Aristo- schen, das als praktische Vernunft sein samt zwölf Viten, zehn biblischer und diis zeigt, dass trotz des Abbruchs mit- teles sagt – „von Natur aus nach Wissen Handeln in der kontingenten Welt zu zwei mythologischer Herkunft, bricht ten in der Vita des Herkules die Proble- strebt“ und im kontemplativen Leben steuern vermag. Gegenstand der Ver- aber in der letzten, über Herkules, den matik, die dem „alle Zeiten umfassen- des Philosophen und dem meditativen nunft ist also nicht mehr das, was not- stoischen Tugendhelden, unvermittelt den Plan“ zugrunde liegt, im veränder- Dasein des Religiosus seine höchste Le- wendig ist, was es ist, sondern das, was ab, und nimmt nach der Übersiedlung ten, nun philosophisch-kasuistischen bensform erreicht, nicht mehr realisier- auch anders sein kann, das sich also in von Vaucluse nach Mailand die Arbeit Kontext durchaus weiter verfolgt wird. bar. Veränderung befunden hat, befindet, an diesem Plan nie wieder auf. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit und befinden wird. Dabei kann sie sich Wir kennen den Grund nicht, aber es Die Bewältigung der Fortuna: der geoffenbarten göttlichen Vorsehung der drei Erkenntnisvermögen – der Er- mag sein, dass der endgültige Abschied homo creator ist generell der Furcht vor dem unvor- innerung, der Intuition und der Voraus- von Vaucluse und der Anfang in neuer hersehbaren Tun einer wandelbaren sicht –, bedienen, die den Aspekten der Umgebung auch eine Revision der Le- Bereits 1353 und damit ganz am An- Fortuna gewichen. Sie wird für das gan- Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und bensplanung nötig machte, dass die Re- fang und lange vor der erst 1360 ent- ze 15. Jahrhundert der Inbegriff des Zukunft – entsprechen und mit deren alisierung des ehrgeizigen Projektes an- standenen Vorrede verfasst, findet sich menschlichen Elends, und folglich auch Hilfe der Mensch die drei Stationen im gesichts der umfangreichen aber unbe- in De remediis ein Dialog zwischen Ver- der Erzfeind des menschlichen Glückes Prozess des Werdens verfolgen kann: friedigenden, häufig mit Mythischem nunft und Schmerz mit dem Titel: De sein, gegen den es sich zu behaupten gilt. vom „Noch nicht“ über das „Jetzt“ zum vermischten Quellenlage entmutigend tristitia et miseria – „Über Traurigkeit Dass der Mensch aber zu solcher „Nicht mehr“ und wieder zurück zum wirkte, und dass schließlich der durch und Elend“. Obwohl im zweiten Teil als Selbstbehauptung überhaupt fähig ist, „Noch nicht“ – in immer neuen Umläu- Herkules entstandene engere Kontakt Nummer 93 eher versteckt, hat er eine beruht auf seiner als Bild und Gleichnis fen wie das Rad der Fortuna, und in mit der Stoa Zweifel an der ausschließ- besondere Bedeutung: Er lokalisiert De des Schöpfergottes eigenen Freiheit, in ständigem Fortschreiten zu neuen Zie- lichen Konzentration auf historische remediis sowohl in der Tradition des den Gang der Dinge einzugreifen und len. Wer dieses Fortschreiten beherr- Exempla weckte. Renaissance-Humanismus als auch in den Handlungsspielraum, der sich aus schen will, muss das Ziel kennen und der der mittelalterlichen Traktate über dem Mangel an Determiniertheit ergibt, den Weg, auf dem das Ziel mit mög- Die Bedrohung durch die Fortuna die Situation des Menschen. Denn ein- nach Gutdünken zu benutzen. Damit er lichst großer Sicherheit, wenn er- erseits bietet Petrarca ihn dem Prior der aber diese Freiheit auch ausüben kann, wünscht, erreicht, und, wenn uner- Wie dem auch sei – im Mai 1353 Kartause von Mailand als Ersatz für das kennt er als animal rationale nicht nur wünscht, vermieden werden kann. oder 1354, im Jahr seiner Übersiedlung von Papst Innozenz III. nicht ausge- das Gegenwärtige, wie das am kurzen In Venedig wird 1501 posthum die nach Mailand oder im Jahr danach, be- führte Gegenstück zu dem Traktat Pflock des Augenblickes angebundene umfangreiche Enzyklopädie des Huma- ginnt Petrarca sein umfangreichstes la- „Über das Elend der menschlichen Situ- Tier, sondern ist dank seines Gedächt- nisten Giorgio Valla mit dem Titel: Re- teinisches Werk, das zugleich auch sein ation“, so dass er als Abschluss der nisses und seiner Voraussicht fähig, die rum expetendarum et fugiendarum libri erfolgreichstes wurde: De remediis utri- mittelalterlichen Diskussion über die Prozesse der Veränderung von der Zu- – „Was man erstreben oder vermeiden usque fortunae – „Heilmittel gegen conditio humana gelten kann, und an- kunft über die Gegenwart in die Ver- soll“ – veröffentlicht, die das gesamte Glück und Unglück“: Zwischen 1474 dererseits betont Petrarca seine kontext- gangenheit zu überschauen und plan- Wissen unter der Perspektive der Hand- und 1756 gab es 28 Drucke des lateini- bedingte andere Argumentationsweise, voll und schöpferisch zu eigenem Vor- lungsrelevanz darzustellen versucht, schen Originals und mehr als 50 Über- wodurch der Dialog die humanistische teil zu nutzen. und die, mag sie auch nur schlecht ge- setzungen in 9 verschiedene Sprachen, Tradition der dignitas hominis Abhand- So wie das Schöpfertum Gottes sich lingen, doch zeigt, wie ernst der Praxis- davon 13 ins Deutsche: Es wurde als lungen eröffnet. im Hervorbringen, Leiten und Erhalten bezug des Wissens genommen wurde. Hausbuch des europäischen Bürgers So wie Petrarca in der Vita Adams der irdischen Welt manifestiert, lenkt Etwa um die gleiche Zeit veröffent- zum Bestseller. dessen Sündenfall als die erste Ursache auch das Schöpfertum des Menschen licht ein Humanist und Arzt aus Ferra- Es besteht aus zwei Büchern, in de- allen Elends der Menschen ausführlich sein Denken und Trachten auf das irdi- ra, Niccolao Leoniceno, seine einfluss- nen Petrarca nicht durch historische beklagt, um dann daran zu erinnern, sche Leben. Petrarcas viri illustres, die reiche Untersuchung über die Methode Exempla „Lebensberatung“ gibt, sondern dass der gleiche Adam auch die Wurzel gute Frucht aus der Wurzel Adams, zu des Galen, in der er, der wörtlichen

22 zur debatte 5/2011 Bedeutung des griechischen méthodos Legitimität durch den Heilungserfolg Petrarca, wie für den auf sich selbst ge- Lesen voranzugehen hat, orientieren entsprechend, die Methode der „Kunst“, belegen muss. stellten Humanisten moralische Orien- sich aber stattdessen an den rhetori- der ars oder griechisch téchne-, als den Die Vernunft, die unter dem gleich- tierung möglich ist. Ausgehend von dem schen Erfordernissen des sprachlichen bestmöglichen Weg zur Erreichung ei- zeitigen Druck der realen und der theo- Grundsatz, dass es um der Selbsterhal- Umgangs mit kontingenten Sachverhal- nes Zieles definiert: retischen Krise des späten Mittelalters tung der Menschheit willen keine allge- ten. „Das Ziel – finis – ist die Regel – re- in Erklärungsnot geraten war und durch mein verbindliche Hierarchie der Le- Die humanistische Erweiterung der gula – und der Prüfstein – examen – den Humanismus von einem spekulati- bensweisen geben kann und folglich je- Grammatik bedeutete aber nicht nur von allem, was in einer jeden Kunst – ven zu einem praktischen Vermögen des Individuum seine Lebenswahl selbst eine Reform des Lehrplanes, sondern ars – oder Wissenschaft – scientia – transformiert worden ist, zeichnet sich verantwortlich vornehmen muss, rät er, auch eine Revolution der Methode des überliefert wird. Denn das wird Prinzip also dadurch aus, dass ihr letztes Ziel zunächst die verschiedenen real gegebe- Lesens und der durch das Lesen erwor- und Theorem einer Kunst genannt, was statt der Wahrheit der Nutzen ist, ihre nen Möglichkeiten zu eruieren: in die- benen Kenntnisse. Denn Mangels hin- für das schnellere oder bessere Errei- Tätigkeit statt der Betrachtung des Seins sem Falle, anhand der Rechtsgeschichte reichender logischer Vorbildung konnte chen des Zieles dieser Kunst nützlich die Lenkung des Werdens, ihr Instru- zu untersuchen, welche Arten von der Schüler der Humanisten nicht wie ist. Andernfalls, wenn sie keinen Nut- ment statt der begrifflichen Erkenntnis Rechtsgelehrten es gegeben hat und der Schüler des Mittelalters Lesen als zen in Hinblick auf das Ziel der Kunst die konkrete Erfahrung und dass ihre folglich weiterhin geben kann, um ent- Analyse der argumentativen Struktur leisteten, würden sie, wie Galen im Verbindlichkeit statt auf der Notwen- scheiden zu können, ob und wenn ja der Texte betreiben. Er konzentrierte Buch, das De optima doctrina über- digkeit auf der Realisierbarkeit beruht. welches Juristen-Dasein ihm erstrebens- sich stattdessen darauf, bemerkenswerte schrieben ist, sagt, auch nicht Theorem wert zu sein scheint. Anschließend Ereignisse und besonders gelungene genannt werden.“ (Nicolaus Leonice- Die experimentelle Moral heißt er ihn überlegen, ob die Belastun- Formulierungen zu exzerpieren und un- nus, De tribus doctrinis ordinatis se- gen und die Annehmlichkeiten dieser ter bestimmten Gesichtspunkten, soge- cundum Galeni sententiam) Petrarca selbst expliziert diesen neu- Lebensweise seinen geistigen, körper- nannten Topoi, zu ordnen, mit dem Im Sinne dieser Ausrichtung auf ein en Denkstil nur für den Bereich der mo- lichen und sozialen Möglichkeiten an- Ziel, sich einen möglichst umfangrei- Ziel ist der als Ebenbild des Schöpfer- ralischen Orientierung, deren bekla- gemessen wären, um schließlich frei die chen Vorrat vielfältiger Sachkenntnisse gottes definierte Mensch ein artifex, ein genswerter Zustand ihn, wie die Zeit- Lebenswahl zu treffen. Hat so das han- und Redeweisen, die sogenannte copia Künstler, nicht im Verständnis der kritik seiner Vorreden zu den Viten delnde Subjekt sein Ziel bestimmt, muss rerum et verborum, zu verschaffen, um „schönen Künste“, sondern der die Na- zeigt, zur Historiographie motiviert hat. er dessen Verbindlichkeit durch un- fähig zu werden, selbst Texte zu produ- tur beherrschenden Technik, ein homo Die Antike hatte die „Geschichte“ als beirrtes Verfolgen selbst sichern, denn zieren und – wie es die Rhetorik forder- faber. Er besitzt als solcher keine narratio rerum gestarum – „Tatenbe- nur so kann es dem Menschen als te – in jeder Situation angemessen zu Kenntnis notwendiger Gesetzmäßig- richt“, definiert, wobei der „Täter“ unbe- Hypothese für das Experiment des Le- reden. Hatte er aber einmal gelernt, die keiten sondern nur auf Erfahrung beru- stimmt bleibt. Wenn Petrarca die Ge- bens dienen, in dessen – „vom Himmel“ Argumente so zu ordnen, dass sie den hende Annahmen oder Hypothesen schichte auf Viten beschränkt, reduziert gewährtem – Gelingen oder Scheitern besonderen Umständen der kommuni- über kausale Zusammenhänge, deren er die Täterschaft unter Ausschluss der sich die objektive Angemessenheit sei- kativen Situation entsprachen, dann Gültigkeit für den jeweiligen „Fall“ sich göttlichen Providenz auf Handlungs- ner Lebenswahl manifestiert. war er auch in der Lage, die Sachver- erst in der Anwendung erweist und möglichkeiten, die tatsächlich einmal Dem antiken Topos entsprechend halte und Erfahrungen, die er im Pro- nach dem Erreichen oder Verfehlen von Menschen realisiert wurden, und dient so die Geschichte wieder als ma- zess des Lesens exzerpiert hatte, so zu des Zieles bemessen wird. Nützlich- wenn er die Täterschaft noch weiter auf gistra vitae, als Lehrmeisterin des Le- ordnen, dass sie der jeweiligen Hand- keit ist daher das Ziel jeden Vernunft- Menschen, die „Großartiges und Her- bens. Sie wird, neben den drei sermozi- lungssituation entsprachen und erfolg- gebrauchs, nicht Erkenntnis, und Erfah- vorstechendes“ geleistet haben, ein- nalen Disziplinen Grammatik, Rheto- reiches Handeln ermöglichten. rung ist die Grundlage, auf der die Ver- schränkt, verengt er den Gegenstands- rik, Poetik und der Moralphilosophie Die humanistische Grammatik, die nunft das Handeln in der kontingenten bereich der Geschichte weiter auf jene zum fünften Schulfach der Humanisten, zunächst in den italienischen und dann Welt zu steuern versucht. Das gilt für Taten, die durch ihre Großartigkeit zum das die abstrakten „Vorschriften“ der auch in den übrigen europäischen Uni- alle Techniken, aber auch für jene Diszi- Exemplum werden und durch ihre emo- Philosophen durch die Beispiele histori- versitäten Eingang fand, war daher in plinen, die bis dahin den Anspruch der tionale Valenz zur Identifikation mit scher Erfahrung ergänzt und der Moral- der Regel fest mit der Rhetorik und der Wissenschaftlichkeit erhoben hatten, dem Täter begeistern und zur Nach - philosophie gleichgestellt oder sogar Poesie verbunden und vor allem bei wie z. B. die Medizin, die nun zur scien- ahmung der Tat führen können. vorgezogen wird. den Juristen, zu deren Metier das „Re- tia sive ars operativa, zur angewandten In einem Brief, der einen Studenten Als Sammlung der Beschreibungen den“ seit alters gehörte, willkommen, Wissenschaft oder Kunst, wird und ihre bei der Berufswahl berät, beschreibt unzähliger Lebensexperimente ist sie deren Berufsausbildung sie, wie der eine Schatzkammer konkreter Hand- deutsche Humanist Jakob Wimpfeling lungsmöglichkeiten und Stifter von Ver- am Ende des 15. Jahrhunderts neidvoll bindlichkeiten. Sie dient nicht nur, wie feststellte, erheblich verkürzte und ver- bei Petrarca, dem selbst bestimmten besserte. Nutzen des Individuums, sondern auch Aber die Methode des exzerpieren- der Sozialethik; sei es auf der Ebene der den Lesens wirkte sich nicht nur auf die kleinsten Gemeinschaft dem Nutzen rhetorische Praxis aus. Unmittelbare der Familie wie bei Leon Battista Alber- Folgen des neuen Grammatikunterrich- ti oder auf der politischen Ebene dem tes sind z. B. noch im 15. Jahrhundert Gemeinwohl, wie bei Palmieri, der das, die Kommentare zur „Naturgeschichte“ was sich für die Gemeinschaft als nütz- des Plinius. Statt sich – scholastisch – lich erwiesen hat, mit deren höchstem um Konsistenz und formale Richtigkeit Wert gleichsetzt, oder auch zur kriti- der Argumentation zu bemühen, unter- schen Prüfung tradierter Wertvorstel- ziehen sie die Beschreibungen natür- lungen, wie bei Poggio Bracciolini, der licher Phänomene einer Überprüfung das Laster der Habgier als unverzicht- an der Natur selbst und geben damit bare Bedingung sozialen Handelns zur der auf konkreter Beobachtung beru- Tugend erhebt oder auch bei Machia- henden empirischen Naturkunde einen velli, der die Staatsraison, die Bewah- dauerhaften Anstoß. rung des jeweiligen politischen Zustan- Einen entschiedenen Schritt über die des, zum Prinzip der Politik macht. Grenzen des Grammatikunterrichtes hinaus tut wenig später Jacques Lefèvre Die Generalisierung der Rhetorik d’Etaples, der in Paris beginnt auch die systematischen Schriften des Aristoteles Allen diesen Fällen moralischer exzerpierend zu lesen und die Exzerpte Orientierung ist gemeinsam, dass sie als nach eigenen Zielsetzungen neu zu or- erfahrene Sachverhalte erinnert werden ganisieren. und nicht notwendig sind, sondern nur Auch auf das Buch der Natur wird in der Vergangenheit einmal wirklich diese Methode des zergliedernden und waren, so dass aus ihnen für Gegenwart exzerpierenden Lesens angewendet, wie und Zukunft auf die Möglichkeit ge- z. B. von Leon Battista Alberti bei sei- schlossen werden kann, dass entspre- ner analogen Mathematisierung der chendes Handeln wiederum erfolgreich Perspektive im 15. Jahrhundert, und in sein wird. der Mitte des 16. Jahrhunderts von Ve- Sie gehören daher zu jenen Sachver- salius bei der Entwicklung der anatomi- halten, die Aristoteles in seiner Rheto- schen Methode für die Erforschung des rik als Sachverhalte definiert, „die sich menschlichen Körpers. auch anders verhalten können“ und Längerfristig wird schließlich die von über die wir „beratschlagen“ müssen Leoniceno mit Berufung auf Galen pro- (Aristoteles: Rhetorik I, 2). Wenn daher klamierte Bemessung des Wahrheits- die Humanisten auf die Grammatik des wertes einer Erkenntnis nach ihrem Quintilian zurückgreifen, die nicht nur Beitrag zur Erreichung angestrebter Foto: akg-images die lateinische Wort- und Formenlehre Ziele dazu führen, dass Philosophie und Dieser Ausschnitt aus dem Fresko und Syntax lehrt, sondern als Propä- Wissenschaft generell nicht mehr das „Begräbnis der Heiligen Lucia“ von Alti- deutik der Rhetorik auch in die Textlek- eine gemeinsame Ziel der einen Wahr- chiero da Zevio – entstanden um 1380 – türe einführt, entsprechen sie zwar heit verfolgen, sondern je nach ihren zeigt ein Bildnis des italienischen nicht dem Lehrplan der scholastischen Fragestellungen und Zielsetzungen par- Humanisten Francesco Petrarca (Mitte). Universität, in dem die Logik dem zelliert, Wahrheit nur noch relativ zu

5/2011 zur debatte 23 ihrer Betrachtungsweise – consideratio über die Banalität des alltäglichen Le- – beanspruchen kann: Cesare Cremoni- bens hinauszugelangen ist. ni, der große konservative Gegner Ga- Noch immer aber stehen wir vor den lileis, wird dessen neue Theorie der vier von Kant spontan formulierten Fra- Milchstraße nicht verwerfen, weil sie „Wind des gen, in denen er die Aufgabe der Auf- falsch sei, sondern weil sie sich nicht in klärung zusammengefasst hat: Was kön- den aristotelischen Kosmos, der das ein- nen wir wissen? Was sollen wir tun? zige konsistente Modell der gesamten Was dürfen wir hoffen? Und die vierte Natur sei, einfügen lasse. „ Absoluten“ Frage, alle drei zusammenfassend: Was ist der Mensch? (Der erste Bereich ist die Philosophie als Metaphysik; der Gekürzte Fassung des Manuskripts. zweite die Moral und die Ethik, und der Die ungekürzte Fassung mit Fußnoten Mystische Weisheiten der dritte, Hoffnung, ist die Religion.) Wir und u. a. mit je einem Kapitel über Pla- leben in einem Raum der Hoffnung, tonismus und Aristotelismus in der Re- Postmoderne? von dem ungewiss ist, wie er überhaupt naissance wird im geplanten Sammel- inhaltlich gefüllt werden kann. Das band „Europa im 15. Jahrhundert“ ab- heißt, wir haben Glaubensstile, die sich gedruckt werden. Dieser Sammelband zusehends individuell auffasern. Jeder wird voraussichtlich Anfang kommen- Das Zeitalter der Postmoderne, in men. Gibt es aber vielleicht dennoch einzelne glaubt anders als der andere, den Jahres im Pustet Verlag erscheinen. dem wir uns nach Ansicht vieler be- Hoffnung, eine untilgbare Sehnsucht und besteht auch darauf, diesen Glau- finden, ist vor allem negativ definiert: auf das Absolute. Das Forum „Wind ben auch individuell verwirklichen zu Es fehlt in allen für uns Menschen re- des Absoluten. Mystische Weisheiten dürfen. Berger bekommt mit seiner levanten Feldern an einer zielgenauen der Postmoderne?“ mit Professor postmodernen Vermutung, dass jeder Literatur: Ausrichtung, an Gewissheiten, an Alois Maria Haas wollte sich zumin- Christ faktisch ein Häretiker – einer, Orientierung. Diese Beliebigkeit re- dest auf die Suche machen. Die Ver- der aus seinem Glauben irgendetwas Eckhard Keßler: Historia magistra vi- giert nicht zuletzt auch im Spirituellen anstaltung fand am 16. April 2011, ihm Passendes auswählt – weitgehend tae. Zur Rehabilitation eines überwun- und Religiösen. Eine auf das Absolute dem Samstag vor Palmsonntag, statt. recht. denen Topos, in: R. Schörken (Hg.): Der hin ausgerichtete Religion hingegen „zur debatte“ dokumentiert die beiden Die grundsätzliche Unbestimmbar- Gegenwartsbezug der Geschichte, Stutt- wird kaum noch zur Kenntnis genom- überarbeiteten Referate des Tages. keit aller Lebensbereiche lässt sich auf gart 1981. vielen Ebenen des Lebens vorfinden, Eckhard Keßler: Petrarca und die und sie wird zudem von berühmten Geschichte, München 1988. postmodernen Philosophen themati- Eckhard Keßler: Renaissance Huma- siert. Dass insbesondere dominierende nism: the Rhetorical Turn, in: Angelo Philosophen – unter ihnen Lyotard, Mazzocco (Hg.): Interpretations of Re- Derrida und Giorgio Agamben – sich naissance Humanism, Leiden/Boston auf religiöse Traditionen der Vergangen- 2006. heit rückbeziehen, macht unser Unter- Eckhard Keßler: La ‘Philologie mora- Blick auf die postmoderne Situation nehmen interessant: Was wird denn da le’. L’unité de la compétence linguisti- überhaupt noch tradiert? Und warum que et de l’éducation morale chez Pé- Alois Maria Haas betrachten diese Philosophen die Ver- trarque, in: Ut philosophia poesis. gangenheit so skeptisch? Ihnen er- Questions philosophiques dans l’écritu- scheint die Welt insgesamt als kontin- re de Dante, Pétrarque, Bocacce, Paris/ gent, unbegründet, unstabil, unbe- Vrin 2008. stimmt. Eckhard Keßler: Die Philosophie der An den Anfang meines Büchleins Renaissance: Das 15. Jahrhundert, (Wind des Absoluten. Mystische Weis- München, C.H. Beck, 2008. heit der Postmoderne, Freiburg 22010) Eckhard Keßler: Niccolò Machiavel- habe ich eine Liste von Sätzen gestellt, lis experimentelle Moral, in: M. Knoll, I. die zeigen, dass große Denker der Neu- S. Saracino (Hg.): Niccolò Machiavelli. zeit, allen voran Martin Heidegger, fest- Die Geburt des Staates, Stuttgart 2010. Peter L. Berger, ein in den USA wir- legten, dass das Absolute das schlecht- Sabrina Ebbersmeyer, Eckhard Keß- kender Österreicher, hat 1968 Spuren hin Unbestimmbare und Unbestimmte ler, Martin Schmeisser (Hg.): Ethik des der Transzendenz aufzuzeigen versucht. sei. Damit ist es das a priori Unmögli- Nützlichen. Texte zur Moralphilosophie Die heutige Philosophie (er meinte vor che, Undenkbare, Unbeobachtbare, Un- im italienischen Humanismus, Mün- allem die amerikanisch-analytische fassbare – also alles das, was Rilke in chen 2007. Philosophie) finde auf dem Niveau ei- für ihn guten Augenblicken jeweils als E. H. Wilkins: Life of , Chi- nes müde gewordenen Geschäftsman- besonders attraktiv an seiner Situation cago 1961. nes statt, der nach dem Essen vor sich empfunden hat. Dieses Unbestimmte G. Martellotti, in: Petrarca: De viris hindöse – es sei ein absolutes Abrut- wird nun ganz früh auf Bestimmbarkeit illustribus, hg. v. G. Martellotti, Florenz schen in die Banalität feststellbar (Auf zurückgeführt. Wittgensteins berühmter 1964. den Spuren der Engel, 1991). Fast 45 Satz, der immer wieder kolportiert wird, Erich Hochstetter: Viator mundi. Ei- Jahre später ist klarer geworden, was lautet: „Worüber man nicht reden kann, nige Bemerkungen zur Situation des dies heißt, denn wir leben in der Säku- darüber muss man schweigen.“ So Menschen bei Wilhelm von Ockham, larität, wie das Charles Taylor von der spricht der frühe Wittgenstein. Das in: Franziskanische Studien 32, 1950. McGill University in Montreal nannte nicht Beredbare, das nicht Sagbare, das Lorenzo Valla: Gesta Ferdinandi (Ein säkulares Zeitalter, 2009), oder, ist für ihn das Mystische, das heißt das Regis Aragonum, ed. O. Besomi, Padua um es mit einem Musicaltitel aus dem Geheimnisvolle und Undurchschaubare 1973. Jahr 1934 zu sagen, in den Zeiten des schlechthin. Vielleicht tritt es einmal in Coluccio Salutati: De nobilitate le- „Anything goes“. Weil dies auch mein Erscheinung und zeigt sich, aber es ist gum et medicinae, München 1990. Geburtsjahr ist, möchte ich daran an- nicht jedem durchschnittlichen Men- P. O. Kristeller: Die humanistische knüpfen. schen gegeben, seiner Epiphanie beizu- Bewegung, in: ders.: Humanismus und „Anything Goes“ ist ein Synonym für wohnen. Renaissance I, München 1974. „Postmoderne“ geworden, also die Ab- Prof. Dr. Alois Maria Haas, Professor An sich genommen ist Wittgensteins Pietro Paolo Vergerio: De ingenuis lösung von einer Moderne, die noch ihr für deutsche Literaturgeschichte an der Satz natürlich Unfug. Denn in jeder moribus et liberalibus studiis adule- Heil darin sah, eine Art Entwicklung Universität Zürich sprachlichen Äußerung ist das Moment scentiae, in: Atti e Memorie della R. oder Fortschritt für die Welt benennen von Unbestimmbarkeit gegenwärtig. Accademia di Padova 34, 1918. zu können. Das ist heute nicht mehr Denn dieses Moment ist ja gerade der Guarino Veronese: Prohemium in der Fall. Triumphal ist die herrschende Antrieb, dass wir darüber reden. Der principio lecturae Valerii, in: Wiener Beliebigkeit und damit eine ideologi- alle Religionen eine Systemverwirkli- umgekehrte Satz scheint mir sinnvoller: Studien, 1896. sche Verlogenheit, mittels der Fragen chung des Heils dar, die ihren Gläubi- Selbst wenn ich schweige, rede ich. Das Lynn Thorndyke: University Records nach dem Sinn des Lebens ausgeblen- gen offeriert, sich darin einzufügen und hat schon der pythagoreische Wander- and Life in the Middle Ages, New York det werden. Man kann es auch mit Ro- zu leben. Das widerspricht natürlich prediger und Wundertäter Apollonius 1975. bert Musil („Der Mann ohne Eigen- grundlegend der Versicherung, dass das, von Tyana (um 40 bis 120) – ein Zeit- Jakob Wimpfeling: Isidoneus Germa- schaften“) sagen: Der herrschende was geschehen soll, nicht bestimmbar genosse Jesu Christi – nach seinem von nicus, in: J. Freundgen (Hg.): Jakob „Möglichkeitssinn“, der zementiert, dass ist. Aber faktisch ist Beliebigkeit der ei- Philostratos verfassten Lebensroman er- Wimphelings pädagogische Schriften, nicht feststellbar ist, wie es weitergehen gentliche Name für den Gang der Din- kannt. Er soll gesagt haben: kai to sio- Paderborn 1898. soll, dass wir praktisch in einer Zeit der ge. Um es im Rahmen der Orthodoxie pan logos – „auch Schweigen ist Re- George Sarton: Appreciation of An- reinen Probe leben, ohne dass wir wis- zu benennen: Wir leben nicht mehr den“. Schweigen hat immer Zeichen- cient and Medieval Science during the sen, was noch passieren könnte. Dieses ohne weiteres in einer fides quae, in ei- funktion. Dass Wittgenstein mit seinem Renaissance (1450-1600), Philadelphia Projekt steht zu allen Zeitvorstellungen nem Glaubenszusammenhang, der be- Satz selber nicht ganz glücklich war, 1953. der christlichen Konfessionen quer, die stimmbar ist in Glaubenssätzen, son- zeigt sich in seiner Selbstverteidigung Juan Louis Vives: Über den Unter- sich mit der Säkularisierung, welche die dern wir leben allenfalls noch in einer gegen den Vorwurf, er möchte gläubige richt in den Wissenschaften, IV, 1, in: Sinn tragende Heiligkeit der Zeitabläufe fides qua, in einem Glauben, der nicht Menschen verunglimpfen. Dagegen hält Pädagogische Schriften, Freiburg 1896. profaniert, nicht abfinden können. unbedingt in Sätzen formalisierbar ist, er fest, dass er äußerste Hochachtung Denn die christliche Religion stellt wie der aber doch darüber orientiert, wie für diese Menschen in sich empfinde,

24 zur debatte 5/2011 wenn er ihnen das Redenkönnen über ihr letztlich glaubt, sprachlich vollkom- verschiedenen Aussagen sie wieder in alterliche Situation in Städten des 14. Nicht-Sagbares abspreche. Der spätere men im Bereich des Unbenennbaren be- Frage stellt. Das ist das sogenannte indi- Jahrhunderts vorstellen. Wer ein mittel- Wittgenstein hat dann seine Meinung lässt. Angespielt wird hier auf das, was sche catuskoti, ein Urteilsvierkant, wie alterliches Werk wie „Das Netz des Teu- geändert. Er sah ein, dass Sprache ei- Dionysius Areopagita (um 500 n. Chr.) es die indische Scholastik früh schon fels“ liest, wird mit Erstaunen feststel- gentlich das ist, worin das, von dem ich dann als die via apophatica, als den konzipiert hat, und das materiell darin len, dass alle an der Textilfärbung enga- spreche, gerade der Fall ist. Das heißt, Weg des Neinsagens bezüglich des Re- besteht, dass man über das Absolute gierten Handwerker, also die Umfärber Sprache ist Vollzug des Sprechens, und dens über Gott bezeichnet. Es gibt da- (Brahman) letztlich nur sagen kann, er- oder Einfärber oder Pelzbearbeiter, zu- dieses muss sich definieren durch sei- neben natürlich eine kataphatische, stens, dass es ist, zweitens, dass es aber unterst in der Hölle angesiedelt sind. nen Vollzug. Schönstes Beispiel dafür also Ja sagende Redeweise über Gott auch nicht ist, drittens, dass es weder ist Warum? Weil jede Stadt ein kleines sind die Mystiker(innen), die verschie- und seine Eigenschaften. noch nicht ist, und schließlich viertens, Quartier am Stadtrand hat, in dem in dene modi loquendi, Redeweisen, ken- Genau diese „Eigenschaften Gottes“ dass es sowohl ist wie es auch nicht ist. großen Bottichen der Harn der Stadt nen, wenn sie über die Unsagbarkeit ih- werden in der damals herrschenden Also ein Ensemble aller logisch mög- gespeichert wird, der zur Pelzbearbei- rer Erfahrung der Gotteinigung berich- abrahamitischen Religion etwa vom lichen Aussagen. Dieses Vierkant-Urteil, tung gebraucht wird. Von daher ist na- ten. Sie benützen Katachresen (abge- 7. Jahrhundert an ein entscheidendes das praktisch wörtlich auch bei Cusa- türlich jeder der Hölle verdächtig, der storbene Metaphern), sprachliche Paral- Thema: Raimundus Lullus (1232–1316) nus (Nikolaus von Kues, 1401–1464) sich mit solchen Dingen beschäftigt. lelismen, Hyperbeln, Distanz- und sagt: Das, was ich über Gott sagen muss vorkommt, finden wir in den meisten Jedem Predigthörer ist es klar, worum Spreng-Metaphern und verwegene und ohne das er nicht gedacht werden fernöstlichen Religionen. es sich handelt. Alles Wegschaffen hat Sprachbilder und überfordern so die kann, das ist die entscheidende Rede Wir greifen hier – was sehr selten ist in solcher Bildlichkeit einen positiven Sprache, um so in das „überhelle Licht“ über Gott. Lullus ist somit eindeutig ein – etwas inhaltlich Identisches in den Sinn. der Gottheit gelangen zu können. Anhänger der kataphatischen (Ja sagen- verschiedenen Mystiken der Welt, das Ähnliche Reinigungsbestrebungen den) Rede über Gott. Er summiert wie gerade in der Abfolge und Art der Ein- spiegeln sich auch in philosophischen II. ein Muslim oder wie ein Jude die Eigen- beziehung des negativen und paradoxen Orientierungen, etwa im Zen-Buddhis- schaften Gottes, seine tausend Namen Diskurses in allen Großreligionen greif- mus. Ich möchte nur einen Fall benen- Wenn ich von Mystik spreche, dann und seine vielen Attribute und über- bar ist. Es lässt sich im Daoismus, im nen. Das ist Lin Chi, ein Zen-Buddhist gebrauche ich den Ausdruck im ur- schreitet damit natürlich auch die Rede- Brahmanismus, im Vedantismus, natür- aus dem 9. Jahrhundert, der – erhöht sprünglichen Sinn. Wenn man so will, fähigkeit. Aber er wagt den Schritt lich auch im Zen-Buddhismus finden. sitzend – auf seine Jüngerschar blickt ist „Mystik“ eine christliche Erfindung, innerhalb der Sprache, während der Solche Erkenntnisse sind für mich et- und es liebt, seine Jünger mit Schlägen obwohl das Wort mustikÒj begriffsge- Apophatiker Dionysius ein Eintreten in was, das weit über das hinausgeht, was und Anbrüllen zu Satori zu erwecken. schichtlich natürlich aus dem Neuplato- die lichthelle Finsternis des göttlichen man sonst über Ähnlichkeit oder Ver- Auch er macht Gebrauch vom catuskoti: nismus stammt, wo es leicht inflationär Abgrunds fordert, der letztlich nur das gleichbarkeit der verschiedenen Mysti- „Manchmal nehme ich die Person geworden ist. Es gibt neuplatonisch ei- sein kann und von dem nur das gesagt ken in den verschiedenen Religionen weg, aber nicht die Umstände, wenn ich nen „mystischen Hafen“; vor allem gibt werden kann, was er nicht ist. festzustellen meint. Die Sprechart über Leute anspreche oder über etwas rede. es eine theoria mystike, eine „mystisch das Absolute ist hier das Vergleichbare, Manchmal nehme ich die Umstände in Gott kulminierende Beschauung“; obwohl natürlich je verschiedene kultu- weg, aber nicht die Person. Manchmal bei Proklos findet sich im fünften Jahr- Die Juden sagen, Gott hat relle Formalien in den Sprachen wirk- nehme ich sowohl Person als auch Um- hundert das volle Vokabular des Mysti- sam sind. Wenn wir den Inhalt des Ge- stände weg. Manchmal nehme ich we- schen (des Verborgenen, Geheimnisvol- sich klein gemacht und sagten berücksichtigen, ist dies das Ver- der Person noch Umstände weg.“ len, Undurchschaubaren) entfaltet. Aber hat sich aus dem eigenen gleichbare. Von daher kommt der epo- Erstes Beispiel: die Person weg: sofern die Antike den Begriff mystikos ché, der Demontage des Sagbaren auf „Frühling, Sonne erstrahlt, bedeckt die auf ihren Mysterienglauben bezieht, Nichts die Schöpfung allen Bedeutungsebenen, ein Rang zu, Erde mit Brokat, wallendes Babyhaar trifft er nicht etwas, das vergleichbar erschaffen. der schon den genialen Dionysius Areo- hängt herab wie weiße Seidenfäden.“ wäre mit dem christlichen Mysterium; pagita vor mehr als 1500 Jahren qualifi- Da haben Sie keine Person drin; es ist mystikos im Sinn des antiken Myste- ziert hat, eine Dimension menschlicher ein Vorgang, in sich geschlossen, wie es rienkults betrifft die Einweihung in die Was der Postmoderne vor allem ent- Rede zu sichten, die sich der Transzen- die Zen-Buddhisten lieben. Satori be- Mysterien. Wenn ich eingeweiht bin, gegen kommt ist die Aussage, dass Gott denz, der Möglichkeit der Überschrei- steht darin, dass Wasser, das vorher bin ich aber nicht ein „Myste“, obwohl schlechthin „das Nichts“ (aller ihn ein- tung ihrer eigenen Möglichkeiten ver- bergauf floss, nun plötzlich fließt, wie es das Wort auch hin und wieder fällt, son- engenden Bestimmungen) ist. Die Juden pflichtet weiß, nämlich der hyperroché von sich selber her fließt. Also: die be- dern ich bin vor allem ein „Epóptes“, sagen, Gott hat sich klein gemacht und (Überschreitung), die jedes Ja und Nein glückende Unwidersprüchlichkeit des- also einer, der nun weiß, was es mit der hat sich aus dem eigenen Nichts die in der via eminentiae in den Bereich sen, was ist, das ist Satori. Initiation auf sich hat und der diese In- Schöpfung erschaffen (Zimzum). Die des Überschwangs transponiert. Es han- Zweiter Fall, Umstände weg: „Bereits itiation auch tatsächlich mit Leib und Christen sagen Ähnliches. Das Nichts, delt sich um die ekstatische Aussage im ausgeführt, durchdringen die Befehle Seele durchgestanden hat. Sein Wissen sagt Meister Eckhart (um 1260–1328), Reden über Gott: Gott ist überschön, des Herrschers die ganze Welt, der Ge- bezieht sich nicht auf irgendein esoteri- aus dem Gott die Welt erschafft, ist er Gott ist übergut. Das heißt, das Präfix neral im Grenzland lässt nicht Rauch- sches Wissen, sondern auf die Kenntnis selber. Das geht zurück bis ins 9. Jahr- „über“ markiert die Negation alles noch Staubwolken auffliegen.“ Das ist des Ritus, in dem diese Initiation ge- hundert, wo Johannes Scotus (oder Er- denkbaren Guten, signalisiert aber reine „Action“, und keine Umstände schieht. iugena) und viele andere Ähnliches be- doch, dass, was ich hier anziele, wenn werden geschildert. Wir wissen, es geht Von daher gibt es eine grundsätzliche haupten. Den Auftakt zu diesem Bezug ich über Gott rede, etwas schlechthin irgendwie um Krieg, sonst nichts. Umdeutung im Übergang von der Anti- zwischen Skepsis und Mystik hat der Überschreitendes ist. Dritter Fall, Person und Umstände ke ins Christentum. Mystikós wird im Münchner Anarchist Gustav Landauer weg: „Die Verbindungen zu den Präfek- frühen Christentum vor allem für drei (1870–1919) gegeben in seinem noch III. turen Bing und Fen sind gänzlich abge- Bereiche gebraucht. Zunächst für die heute lesenswerten Büchlein über schnitten, sie sind isoliert und unabhän- Dinge des Ritus; die Eucharistie ist na- „Skepsis und Mystik“. Von daher gibt es einen ganz starken gig.“ Das ist eine Frontmeldung, die dar- türlich das corpus Christi mysticum. Die ganze negative Theologie will asketischen Zug im Christentum, der über etwas sagt, wie es ist, ohne dass Die Semantik vom Corpus Christi mys- also die Redeweise über Gott nicht auf bis heute natürlich fühlbar geblieben ist Person und Umstände genannt werden. ticum hat sich dann von der Eucharistie irgendwelche Bestimmungen fixiert se- und sich in einer skeptischen Haltung Im vierten Fall: weder Person noch auf den Kirchenkörper verlagert und hen. Wenn Saulus, getroffen vom gött- gegenüber voreiligen Urteilen doku- Umstände weg: „Wenn der Herrscher in umfasst somit die soziale Dimension lichen Lichtblitz, vom Pferde fällt und mentiert, vor allem aber auch in einer den Juwelenpalast empor schreitet, sin- dieser Kirche. Eine zweite Ebene ist die blind wird, sieht er nichts: videbat nihil. Tendenz zur Aufklärung: Das Verbor- gen alte Bauern ihre Weisen.“ Da haben Heilige Schrift und ihre Schriftsinne, die Meister Eckhart deutet diesen Satz so: gene muss ans Licht gebracht und sicht- wir alles zusammen: Eine Situation, in sich in ein Viererschema aufgegliedert Er sah das Nichts selber, nämlich das bar gemacht werden. Zu denken ist der die Umstände und die Person(en), haben. Und drittens bezieht sich mysti- Nichts Gottes als jene Figuration, die an den Entwurf einer spirituellen die Bauern, die singen, sich versammelt kós auf das, was in der Schrift zu lesen sich dadurch definiert, dass sie durch Psychoanalyse in der Nachfolge alter vorfinden. ist. Dahinter steht eine bestimmte Auf- gar nichts definiert werden kann. Auch Mönchspraktiken bei Johannes Tauler Ich möchte einen vergleichbaren Ent- fassung von der Bibellektüre: Wenn mir in einer Predigt sagt er deutlich: Auf (1300–1361), der sagt: das „Gemüt“ des wurf im Blick auf Meister Eckhart vor- das Gelesene nicht existenziell zu eigen dem Weg hierher habe ich mein ganzes Menschen, das noch etwas anderes als legen, eine Predigt, die man noch kaum wird, kann die Schrift nicht den Geist- Predigtkonzept geändert. Ich habe mich das Goethezeitliche Gemüt meint, ist kennt. In dieser Predigt wird die mors charakter tragen, den sie haben müsste, gefragt, wieso muss Gott erhöht wer- der Ort (lat. mens), in dem sich alle mystica, das mystische Sterben, geschil- sondern sie bleibt leerer Buchstabe. Ich den; jetzt reißen wir ihn einmal in die Kraft der intelligentia (Einsicht), alle dert. Der Mensch, der sich der mysti- muss also selbst ein Myste werden; und Tiefe. „Enthöhen“ wir Gott! Und dann Kraft der ratio, und vor allem die Fähig- schen Erfahrung nähert oder genähert ich muss durch einen „Mystagogen“, fügt er an: Gott ist nicht Geist, Gott ist keit des Subjekts, das ein gemüete hat – wird – es ist ja ein Gnadenvorgang –, wie die Kirchenväter sagen, eingeführt nicht gut, Gott ist nicht schön, Gott ist und jeder Mensch hat ein gemüete! – der ist in einem Absterben begriffen; die werden in die geheimen Zusammen- all das, was immer auch positiv aus- sich selber in einem gewaltigen wider- Mystiker nennen das „Lebendig Ster- hänge des Heilswissens. denkbar ist, gerade nicht. Gott trägt die böugen in sich selber, in den eigenen ben“. Teresa von Avila (1515–1582) hat Schier tausend Jahre nach Pyrrhon Abweisung jeder singulären Festlegung Seelengrund, bis in die eigenen Abgrün- darüber ein wunderbares Gedicht ge- (365–275) behauptet David Hume in sich selbst. de hinein zu erkennen. Das heißt, der schrieben: vivo sin vivir en mi („ich (1711–1776): Ihr Mystiker realisiert gar Diese negative Theologie hat sich in Grund der Seele unter dem Aspekt sei- lebe, weil ich nicht lebe in mir“). Diese nicht, dass ihr eigentlich Skeptiker seid, Sätzen geäußert, die – das hat kürzlich ner reditio completa, seiner Zurückbeu- Kombination von Leben und Tod fin- denn ihr seid letztlich nichts anderes als Hans Peter Sturm in Augsburg glanz- gungsfähigkeit auf sich selber und auf det sich schon in St. Gallen im frühen Atheisten. Und warum seid ihr dies? voll gezeigt (Urteilsenthaltung oder die eigene existenzielle Einheit (nach Mittelalter: media in vita in morte su- Weil ihr etwas praktiziert, was die Reli- Weisheitsliebe zwischen Welterklärung Thomas von Aquin), das ist das Gemüt. mus. Luther wird das umdrehen: media gionen ansonsten gerade nicht prakti- und Lebenskunst, 2002) – sich in einer Und dieses Gemüt ist faktisch überdeckt in morte in vita sumus. In jedem Fall zieren. Ihr praktiziert eine totale epoché Form der Urteilsenthaltung äußert, die von unheimlichen Schmutzablagerun- handelt es sich um eine bedeutungs- in eurem Denken, das heißt einen praktisch alle Möglichkeiten des Re- gen. Tauler bezeichnet sie bildhaft als starke Dialektik von Leben und Tod. Denkhalt, indem ihr den Bezug zur Ein- dens über das Absolute implizierend 30, 40 Bärenhäute. Um das Bild zu Nach Eckhart hat nun der Mensch heit mit dem Göttlichen, also das, was summiert und in der Reihung dieser verstehen, muss man sich die mittel- einen Tod zu sterben, der sich dreifach

5/2011 zur debatte 25 ausfaltet. Der erste Tod ist der Tod des Das hat einen Hintergrund in escha- „Ereignis“ ist das Schlüsselwort (das in ungebrochener Dynamik verbleibt, Geistes, Verlust des Geistes als Verlust tologischen Texten, in denen die Zeit zudem Heidegger falsch – im Sinn von wird Sinn produziert. Alles Erscheinen- der Geschaffenheit der Seele. Sie wird als Endzeit sich präsentiert, und man „Sich-zu-eigen-Geben“ – etymologisiert de gravitiert auf Sinn hin. Und dieser ins Ungeschaffene zurückversetzt. „Wer- nichts anderes zu tun hat, als sich zu hat). Aber „Ereignis“ ist im gut Goethe- Sinn besteht, wie schon Platon im sieb- den, der ich war, bevor ich war“: Das konzentrieren auf das, was eben kom- schen Sinn das „Eräugnis“, was ich mit ten Brief gesehen hat, im Funkenschlag sagen muslimische Mystiker, das sagen men und das nicht mehr von der Welt dem Auge gerade noch erhasche. Das eines Lichts, über das der Mensch keine christliche Mystiker. Implizit bedeutet sein wird. Gianni Vattimo hat diesen ist Ereignis. Und das Ereignis dominiert Verfügungsgewalt hat. Denn die sich in das Rückkehr im Sinne der neuplatoni- Ge danken zum Rückgrat seines „schwa- und ist – nach Musils „Möglichkeits- ihm ereignende Wahrheit ist ein Fun- schen epistrophé (Rückkehr) in den chen Denkens“ gemacht, ähnliches hat sinn“ – jene Kultur des „Manns ohne kenschlag, der in einem Moment im Le- Ideenschoß Gottes, so dass ich der wer- Agamben für seine messianische Exis- Eigenschaften“, der in potentia animae, ben aufspringt, wo ich (nach Dionysios de, der ich war, bevor ich war. Und das tenz gedacht und so fort. Auch Alain gewissermaßen in seelischer Potenz Areopagita) ou monon mathon alla kei ist dann eine Existenz als Gott in Gott. Badiou hat ein Buch darüber geschrieben, bloß, gegenwärtig ist, ohne je etwas in pathon ta theia – wo ich nicht mehr ler- Der zweite Tod ist dann ein göttlicher in Form einer atheistischen Darstellung einer bestimmten Option ratifizieren zu nend (das Wort mathein ist heute noch Tod. Wenn ich in der Ungeschaffenheit dieses Themas. Es ist sehr spannend müssen. Es ist dies der Entwurf von Ka- in „Mathematik“ enthalten) und ratio- des Bildes meiner selbst in Gott ange- wahrzunehmen, wie ein Rückgriff auf kanien im „Mann ohne Eigenschaften“, nal die Wahrheit erarbeite, sondern wo kommen bin, dann sterbe ich noch den Urapostel der Christen dermaßen ein Staat, der „sich selbst irgendwie nur ich theia pathon, wo ich Göttliches, das durch meinen eigenen Archetyp hin- wichtig wird. noch mitmachte“, eine wunderbare For- Wahre schlechthin „erleiden“ muss. Die durch, von Gott in die Gottheit hinein. mulierung für viele Staaten, die heute höchste geistige Anstrengung führt zu Eckhart macht den Unterschied „Gott“/ noch oder wieder in ähnlicher Menta- dieser vita passiva, worin eine tief emp- „Gottheit“. „Gott“ ist für ihn Gott unter Aber Ereignis ist im gut lität lavieren. fundene Gelassenheit als Ereignis der dem Aspekt seiner Dreifaltigkeit ad Das negative Ergebnis des Ganzen, analytisch nicht entschlüsselbaren extra, nach außen. „Gottheit“ ist der Goethischen Sinn das dass, wo alles möglich ist, überhaupt Wahrheit selbst geschehen kann. Und dynamisch mit „Gott“ zusammenhän- „Eräugnis“, was ich mit nichts mehr geht. Also, „anything goes“ das wäre dann eben der neue Sinn, der gende Aspekt der Gottheit in Gott, geht dann gerade nicht mehr. Das heißt, sich mir als eine Gabe sunder warumbe, nämlich seine anonyme Einheit. Gott dem Auge gerade noch alles wird steril. Wenn wir heute diesen ohne benennbaren Grund schenkt. Das ist ein dynamisches Modell. Gott ist für erhasche. Umbruch, der in der Ästhetik geschieht, wäre die Gabe schlechthin. Es gibt die- Eckhart ein im gewürke (eins im Zu- und den viele aktive Künstler mit der sen Schlüs selsatz in Heideggers raunen- sammenwirken). Auf Grund der inne- Intention wahrnehmen, möglichst von der Sprechweise, wonach die Zeit – als ren göttlichen Dynamik kann ich über Was geschieht, wenn ich immer weg- Sinn freie Erscheinungen auftreten zu Zeitlichkeit des Daseins verstanden – Gott den Dreifaltigen hinein sterben in räume, hinten wegräume und auch vor- lassen – und dies bis zur Ekel- und „selber die Gabe eines Es gibt [bleibt]“ die Gottheit. Aber ich verbleibe ja nicht ne wegräume, also im Sinn der Husserl- Schmerzgrenze – dann wird man sich (Zur Sache des Denkens, 21976, S. 18). dort; das Ganze ist nur dynamisch vor- schen epoché, der vollkommenen Ent- schließlich notgedrungen nach dem Das ist für ihn ein „Schicken des Ge- stellbar. Der dritte Tod besteht nun dar- haltung des Denkens über Vergangen- Sinn des Unsinns umsehen müssen. schicks von Sein, im Reichen der Zeit in, dass ich, wenn ich durch den gött- heit und Zukunft? Es geschieht, und Die negative Statik, die uns aufge- zeigt sich ein Zueignen, ein Übereig- lichen Tod gestorben bin, ich in ein Be- das ist nun ein ganz starker Zug in un- zwungen wird, die verpufft dann in Er- nen“, das ins Ereignis mündet (ebd., gräbnis in der Gottheit gerate und dort serer Gegenwart: es geschieht ganz ein- scheinungen, die im Reiz des Ereignisses 20). „Es“ im „Es gibt“ bleibt für ihn an- gewissermaßen verschwinde, in der dort fach. Es geschieht Gegenwart von dem, vielleicht einen Moment einer explosi- onym. Der einzige, der sich die Freiheit herrschenden Anonymität. was gerade der Fall ist. ven Dynamik entfalten. Die Künstler nehmen kann, auch anonym der Geber Eckhart macht das sehr anschaulich Darüber haben sich viele Gedanken mögen die Präsenzkultur gegenüber der der Gabe des Seins zu sein, ist für die und sagt, Gott muss durch die Gardero- gemacht. In der Ästhetik gibt es derzeit bedrückenden Sinnkultur sehr wohl als Mystik Gott. Angelus Silesius (Johannes be seiner selbst, muss sich nackt auszie- eine ganz große Bewegung, die auf Prä- Befreiung empfinden, weil sie die Dis- Scheffler, 1624–1677) formuliert es so: hen und verschwindet dann im Nir- senz setzt. Hans Ulrich Gumbrecht in pensierung vom Denken als Entlastung gendwo seiner Nacktheit. Das ist der Stanford (USA) oder Dieter Mersch in von Zwang empfinden. Gleichwohl ist GOTT LÄSST SICH, Extrem-Terminus für die epoché des Deutschland schließen im Grunde an klar, dass alles Geschehende nicht ab- WIE MAN WILL geistlich Tot-Seins. Und dann geschieht den Weckruf an, den Susan Sontag seits der Denkfähigkeit geschehen kann. Gott gibet niemand nichts; etwas sehr Seltsames. Die Seele be- 1963 in New York in die Welt losge- Bei einem denkenden Wesen, wie es er stehet allen frei, kennt in diesem Moment, oder erkennt schickt hat: „Against Interpretation“, der Mensch ist, rückt alles von ihm Dass er, wo du nur ihn so willst, – mittelhochdeutsch bekennen heißt ja Aufstand gegen dieses ewige Interpre- Wahrnehmbare in Sinnbezirke des Den- ganz deine sei. erkennen – „dass in das Reich Gottes tieren, Kommentieren und Darüber- kens und Redens hinein. Es kann nichts (Cher. Wandersmann I, 21; vgl. I 174) keine Kreatur gelangen kann“. Wenn Schwatzen, was wesentlich sei. Weg da- sinnlos werden, auch wenn wir seit sie diesen dritten Tod erfahren hat, so mit. Lasst die Dinge so erscheinen, wie Luther die geheimnisvolle, „mystische“ Christlich orientierte Philosophen enphfint di sele ir selbs und get ir eigen sie sind. Es liegt alles irgendwie gleich- Sinnhaftigkeit des Gegebenen immerzu wie Jean-Luc Marion denken heute in weg und ensuocht got nimmer, und all- zeitig in der Luft. Lasst das sein, was abzubauen gewöhnt sind. Luther war der Spur der Gabe, die Sein und Zeit hie so stirbet sie iren hohsten tot. So- Erscheinung ist, ohne Kommentar. ein kluger Taktiker; er hat sich theore- für den Menschen sein könnte. Was bald die Seele nun merkt, dass niemand Oder die Hippies: „Let it hang out.“ tisch gegen die vierfachen Schriftsinne noch wachsen dürfte, ist die Sehnsucht ins Reich Gottes gelangen kann, sofern Damit stehen wir natürlich mitten in gewendet, aber faktisch an ihnen festge- danach, der Gabe, die einen Anspruch er Kreatur ist, merkt und spürt die Seele jener Situation, in der Inhalte gewisser- halten. Unaufhörlich entsteht so neuer stellt, intellektuell und existentiell ge- sich selber und geht nun ihren eigenen maßen verschwunden sind, zugunsten Sinn. Und daher bin ich überzeugt, so- wachsen sein zu können. „ Weg, sie sucht Gott überhaupt nicht dessen, was sich formal ereignet. lange das Ganze nicht stagniert, sondern mehr, und so stirbt sie ihren höchsten Tod. Sie tritt in die säkulare Existenz- weise; das ist mindestens visiert hier, wenn er gleichzeitig in anderen Pre- digten als die eigentliche christliche Existenzweise nicht die kontemplative Existenz der Maria, sondern die eben weltorientierte Existenz der Martha feiert.

IV.

Wir sind immer noch auf den Spuren der epoché, der Urteilsenthaltung und der negativen Theologie. Was heute ganz prominent wichtig geworden ist, und zwar insbesondere in Frankreich, Italien und in Deutschland ist, dass alle prominenten postmodernen Denker mit der Zeit ein Buch über den Heiligen Paulus schreiben. Dabei wird immer wieder 1 Korinther 7, 29–36 aufgeführt. Alle beziehen sich, geheim oder nicht geheim, zurück auf Heideggers Analyse dieser Stelle. Und diese Stelle lautet: „Das möchte ich euch sagen, Brüder, die Zeit steht unter Druck.“ Es ist Eschatologie angesagt. „Möchten hin- fort jene, die Frauen haben, so leben, als hätten sie keine, die Traurigen so, als weinten sie nicht, die Frohen, so als freuten sie sich nicht, (...).“ Dieses be- Akademiedirektor Dr. Florian Schuller rühmte hos mé (griechisch): „wie wenn (li.) moderierte das Podiumsgespräch nicht“. Leben wie wenn nicht... Wir mit Professor Haas. können es sogar absolut nehmen: leben wie wenn man gestorben wäre.

26 zur debatte 5/2011 II. des Denkens, die nur in vergleichender Vir desideriorum es: Eine Theologie Mobilisation menschlicher arebeit Um einen Eindruck von der „verlore- (Mühsal im senen [Subst.: sende] von der Sehnsucht nen Dimension“ und der „Tiefe“ der re- Durst und Liebesstreben) veranschau- ligiösen, das heißt christlichen Sehn- licht werden kann. Die damit anvisierte Alois Maria Haas suchtsmotivik zu geben, ist Meister Eck - Form vitaler Entbehrung ist Ansatz zur hart (um 1260–1328) sicher die richtige vollen geistigen Konzentration auf das Persönlichkeit, da bei ihm die Teleolo- fehlende Objekt – auf den Trank gegen gie des Absoluten wie bei keinem an- den Durst und die Erfüllung exklusiver dern Mystiker des Mittelalters gegeben Liebe. Dem endlichen Geschöpf genügt ist. In seinen „Reden der Unterweisung“ nur noch das Unendliche vollen Genü- schreibt er: gens. Es geht um die Erweckung eines „Gott ist so weit, dass sich in seinem „Wer Gott so, (das heißt) im Sein, „pèlerin de l’absolu“ (Léon Bloy), der Raum auch die Sehnsucht nach uner- hat, der nimmt Gott göttlich, und dem erst in der vollen Kontemplation des füllbarer Sehnsucht ausschwingen leuchtet er in allen Dingen; denn alle ausstehenden Gutes dessen mögliches kann.“ (Hans Urs von Balthasar) Dinge schmecken ihm nach Gott, und volles Genügen erblickt. Eckhart geht Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen es dabei um Gott. Wer Gott „haben“ will, I. sichtbar. In ihm glänzt Gott allzeit, in dem muss erst alles im Modus radikaler ihm vollzieht sich eine loslösende Ab- Entbehrung göttlich werden. Dann erst Die heute unsere Zivilisation prägen- kehr und eine Einprägung seines gelieb- erfolgt der „Durchbruch“ als ein exis - de Präsenzkultur mit ihrem grundsätz- ten gegenwärtigen Gottes. Vergleichs- tentieller Sprung in das Ersehnte. Das lichen Verzicht auf Sinnaspekte des Er- weise so, wie wenn es einen in rechtem Entbehrungsmoment ist eine vitale epo- scheinenden ist ambivalent. Als nicht Durst heiß dürstet: so mag der wohl an- ché, ein Eintritt in die Einöde und Wüs- deutbare und einzuordnende Erschei- deres tun als trinken, und er mag auch te vollkommener innerlicher „Abgeschie- nungen (ohne geistigen Reflex) sind sie wohl an andere Dinge denken; aber denheit“ und Enthaltung von allem Vie- fähig, bei den Betroffenen zwar starke was er auch tut und bei wem er sein len (die bei Eckhart mit dem mystischen seelische Blockierungen (Schrecken, mag, in welchem Bestreben oder wel- Tod konnotiert ist). Ängste, Ekel) oder auch positive seeli- chen Gedanken oder welchem Tun, so Nikolaus von Kues (1401–1464) wird sche Erschütterungen der Lust und vergeht ihm doch die Vorstellung des aus der Perspektive menschlicher Ratio Freude zu bewirken, sie führen aber Trankes nicht, solange der Durst währt; über dieses absolute Wissen sagen, dass kaum zu tragfähigen Erkenntnissen. So und je größer der Durst ist, um so stär- es überhaupt nicht wissbar ist, non igi- bleiben sowohl die Ereignisse wie deren ker und eindringlicher und gegenwärti- tur comprehensibilis est veritas absolu- Auswirkungen in sich irrational, will sa- ger und beharrlicher ist die Vorstellung ta. Die absolute Wahrheit, die kann gen: ohne Sinn. Es stellt sich die exis - des Trankes. Oder wer da etwas heiß man nicht wissen im Sinne einer techni- tentielle Frage, ob der Mensch sich der- und mit ganzer Inbrunst so liebt, dass schen Erreichbarkeit; Wahrheit kann art nivellieren lassen will und freiwillig ihm nichts anderes gefällt und zu Herze nur in einer Art intuitivem Raptus ge- auf eine ihn tragende Grunderfahrung Prof. Dr. Alois Maria Haas, Professor geht als (eben) dies, und er nur nach schehen. Zu erinnern ist an das platoni- eines ihn tragenden Lebenssinns Ver- für deutsche Literaturgeschichte an der diesem verlangt und nach sonst gar sche Motiv der Ereignishaftigkeit, des zicht zu leisten gewillt ist. Wenn wir uns Universität Zürich nichts: ganz gewiss, wo immer ein sol- lichthellen Aufblitzens von Wahrheit, nicht den Schritt von einer „verneh- cher Mensch sein mag, oder bei wem wie es im 7. Brief Platons geschildert menden Vernunft“ zu einer rein „pro- oder was er auch beginnt oder was er wird. Es ist mit Eckhart eine „Über- fan-säkularen“ Alltagsvernunft des post- tut, nimmer erlischt doch in ihm das, fahrt“, die in den überswank von Gottes modernen „Anything goes“ einfach auf- reißenden Zeit wie der unseren, die sich was er so sehr liebt, und in allen Dingen wesen (= Sein) mitten hineinführt. Und nötigen lassen möchten, dann muss durch totale Inkonsistenz und Endlich- findet er (eben) dieses Dinges Bild, und diese Transzendenz ist etwas, das natür- dem von Immanuel Kant in „weltbür- keit auszeichnet, solche Fragen stellt, dies ist ihm um so stärker gegenwärtig, lich gerade im Moment ihrer Unerreich- gerlicher“ Absicht gestellten Fragenka- der sieht sich zunächst – als gläubiger je mehr die Liebe stärker und stärker barkeit den Menschen zu unaufhör- talog in vollem Umfang, insbesondere Christ – einer übermächtigen Vergan- wird. Ein solcher Mensch sucht nicht licher Gottessehnsucht anspornt. Es aber der dritten Frage nach dem Grund genheit mit einem Erbe gegenüber, das Ruhe, denn ihn behindert keine Unru- bringt ihn dazu, seinen Funken, den er der Hoffnung Rechnung getragen wer- sich in den über die Jahrhunderte hin he. – Dieser Mensch findet weit mehr nach Meister Eckhart in sich trägt, und den. Mein Thema also konzentriert sich summierten Systemen von in Kirchen, Lob vor Gott, weil er alle Dinge als der nichts anderes ist als die reine Ge - auf die postmoderne Möglichkeit von Sekten und Mystik gesammeltem Wis- göttlich und höher erfasst, denn sie in genwart Gottes im Nichts meiner Ge- Religion und fragt mit Kant, ob heute sen abgelagert hat. Alle diese Systeme sich selbst sind. Traun, dazu gehört Ei- schöpflichkeit, weiter glühen zu lassen. noch Formen und Denkweisen sichtbar waren anfällig für rituelle Sklerotisie- fer und Hingabe und ein genaues Ach- Der französische Theologe Henri de sind, die sich nicht einfach im Rahmen rungen und orthodoxe Fixierungen hin- ten auf des Menschen Inneres und ein Lubac hat in seinem Buch „Auf den ihres bloßen Vollzugs- und Ereignis - sichtlich Glaubens- und Lebensform. waches, wahres, besonnenes, wirkliches Wegen Gottes“ den ungeheuren Abfall charakters erschöpfen, sondern die im Arnold Gehlen spricht 1967 von „kultu- Wissen darum, worauf das Gemüt ge- vom Gottesglauben in der Moderne mit platonischen Sinn etwas Gutes, das rellen Kristallisationen“ und der „stabi- stellt ist mitten in den Dingen und unter starken Worten stigmatisiert. Dessen heißt Letztgültiges bringen und meinen. lisierten Endgültigkeit von Religionen“, den Leuten. Dies kann der Mensch Grund erkennt er im herrschenden Was kann ich hoffen? indem er deren „weltreligiösen“ Rang in nicht durch Fliehen lernen, indem er „Psitazismus“ – Papageiengeschwätz, Der Titel meiner kleinen Überlegung: Anschlag brachte. Es konnte und ist in vor den Dingen flüchtet und sich äußer- Heuchelei, Aberglauben, kindisches „Vir desideriorum es“, ist nach seinem der Tat auch geschehen, dass dabei im- lich in die Einsamkeit kehrt; er muss Wesen, Konvention, Routine, insgesamt biblischen Ursprung im Danielbuch (um mer wieder der lebendige Antrieb, ge- vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, eine Umschreibung dessen, was für uns 165 vor Chr.) ein Gotteswort an den wissermaßen der Quellpunkt aller am die Dinge zu durchbrechen und seinen (50 Jahre später) in der Tat die heutige widerspenstigen Propheten und besagt: Absoluten orientierten Lebens- und Gott darin zu ergreifen und den kraft- Medienwelt repräsentiert: ein unendli- Du bist ein Mann meiner Sehnsucht – Glaubensformen – die im Menschen voll in einer wesenhaften Weise in sich ches Ensemble völlig sinnfreier Verlaut- ich habe Dich erwählt. Es handelt sich unauslöschbare Sehnsucht, sich über hineinbilden zu können.“ barungen, zusammengehalten einzig also um eine Selbstaussage des erwäh- sich hinauszudenken auf eine Herkunft, durch die Selbstenthemmung einander lenden Gottes, um einen Genetivus sub- die gleichzeitig Zukunft sein könnte – imitierender, nichtssagender Stimmen. jectivus. Schon die Kirchenväter haben völlig aus der Perspektive geraten ist. Die absolute Wahrheit, die Dass diese Pseudoereignisse zu Drei- ihn aber zu einem Genetivus objectivus Wie kaum irgendeinmal in der Ge- viertel unsere Existenz bestimmen, so umgedeutet: Du bist ein Mann, dessen schichte der Menschheit herrschen kann man nicht wissen im dass weder Kult noch Gebet, weder Me- Lebenssinn von Sehnsucht geprägt ist. Endlichkeit, Entzauberung (Max We- Sinne einer technischen Er- ditation noch Kontemplation irgendwo Die große Frage ist bei allen sozial und ber) und auf allen Ebenen Hoffnungs- einen Platz in diesem Rahmen hätten, religiös relevanten Aufbrüchen immer losigkeit. reichbarkeit. ist ihm ein großes Ärgernis, und er wieder: wo ist der Glanz der Frühe – Gleichwohl geht das Gerücht um von mahnt: Passt auf und habt Misstrauen der ursprüngliche Antrieb – geblieben, einem „Wiederkommen“ der Religion. gegenüber solchen Urteilen. Gleichwohl die Frische des Anfangens, das Aufge- Recht hat diese Fama darin, dass jede Es geht in diesem Text um das uralte, soll dieser ungeheure „Abfall“ uns den schlagen-Sein der Augen zur Emergenz Religion ihre Unmittelbarkeit der Erfah- schon von den Vätern diskutierte Pro- kleinen Funken nicht aus dem Blick ge- des Neuen, die sich ja im Falle des Chris- rung des Göttlich-Absoluten je neu zu blem des „Gotthabens“ und der Sehn- raten lassen, der im Grund unserer See- tentums in einer eigentlichen Explosion erwerben und zu erstreben hat, wenn sucht danach (als desiderium naturale le leuchtet – eine Anspielung an die neuer geistiger Befindlichkeit dokumen- sie nicht sterben soll. Dass dies in den videndi Deum im Geiste des Thomas scintilla animae, den Funken, der in tierte. Diese Frage ist für jede Haltung Weltreligionen auch immer wieder ver- von Aquin). Unter den vielen hier zu- der Seele als deren göttlicher Kern prä- der Sehnsucht wesentlich, da sie eine sucht wird, ist selbstverständlich. Selten sammenlaufenden fetischistischen, dä- sent ist. Nach Eckhart kann er nicht Antwort darauf sucht, wie denn das Ob- jedoch gelingt es den Gläubigen, in den monischen, enthusiastischen, platoni- einmal bei den in der Hölle Schmach- jekt der Sehnsucht beschaffen ist. Und „Zauber des Anfangs“ einzutreten und schen, neutestamentlichen, griechi- tenden gelöscht werden. dieses Objekt ist und muss sein etwas aus der Position des sehnsüchtigen Su- schen, jüdischen Traditionen findet sich Dies ist der Ansatzpunkt aller star- Neues. chers heraus Neues (das durchaus das natürlich vor allem auch eine metaphy- ken Sehnsüchte des Menschen, der in Am Anfang stehen natürlich die Alte sein kann) in den Blick zu fassen. sisch-mystische Tradition (über noûs einer geistig vielgestaltigen, ihn mit Pro- Lebendigkeit der Glaubensfrage und die Zu groß ist das Gewicht der religiösen und lógos). Eckhart vertritt in seiner fanem völlig überschwemmenden Welt denkerische Bemühung um eine abso- „Kristallisationen“ in psycho-sozialen kleinen phänomenologischen Betrach- lebt, in der keinerlei Übersicht herrscht lute Wahrheit zur Diskussion, welche und ökonomisch-monetären Zwängen. tung der christlichen Gottessehnsucht und die Ereignisse sich tagtäglich jagen über die menschliche Bemühung von Es gibt aber Existenzen, die in vorbild- das mögliche Haben Gottes im Sinn ei- und eines erschreckender als das ver- Glauben und Wissen erlangbar ist. licher Art die gestrandete Glaubenszeit ner seinsorientierten Wahrnehmung. gangene ist. Dass angesichts solcher Be- Darüber möchte man Genaueres wis- aufzubrechen und zu verflüssigen ver- Für ihn gilt schlechterdings: Esse est drängnis eine Sehnsuchtssprache im sen. Wer sich aber in einer fließend mochten. Ihnen zuzuhören ist gut. Deus. Der Satz intendiert eine Umkehr Sinn eines eigenen mystischen modus

5/2011 zur debatte 27 loquendi zum Tragen kommen muss – definieren, ihren aktuellen Wert: De- als Artikulation eines Drangs und Ver- siderium est cupiditas sive apetitus re langens zum Ausbruch aus notvollen aliqua potiundi, quae ejusdem rei me- Verhältnissen – entspricht einer Wider- moria fovetur et simul aliarum memo- spruchslogik, die sich nicht mit der Ver- ria, quae ejusdem rei appetendae exis- strickung ins Ungefähre zufrieden gibt. tentiam secludunt coercetur. „Sehn- Die Sehnsucht nach dem Absoluten sucht ist eine Begierde, anders formu- schafft sich ihre eigene Sprache in Vari- liert ein Trieb, irgendein Ding zu besit- anten emotional erotischer, intellektuell zen, die von der Erinnerung an dieses paradoxer und/oder metaphorisch Ding genährt und zugleich von der Er- katachrestischer Sprachformen. Deren innerung an andere Dinge, die die Grundziel ist die sowohl ästhetisch wie Existenz des ersehnten Dinges aus- rhetorisch geprägte sprachliche Selbst- schließen, gehemmt wird.“ Oder noch überschreitung auf die Wahrnehmung etwas einfacher: tristitia, quatenus ab- des Absoluten, das sprachlich nur noch sentiam ejus quod amamus respicit stammelnd oder im Schweigen wahrge- desiderium vocatur. „Sehnsucht ist nommen werden kann. Die Sprache der Trauer wegen der Absenz dessen, was Sehnsucht ist grundlegend auch die wir über alles lieben“; Sehnsucht ist Sprache der Hoffnung. mithin die innere Distanz und Ferne, die uns schmerzlich vom Geliebten III. trennt. Der Gedanke partizipiert ganz klar am Hauptmotiv der Frauenmystik Von daher ist zurückzuschauen auf des Mittelalters und deren Größen wie jene geistigen Formationen in der Margareta Porete, Hadewijch oder Denk- und Theologiegeschichte, die ja Mechthild am amor de lonh (Fernliebe), nach Kant in der Hoffnung gipfeln, dass wie sie die Troubadoure Südfrankreichs im Kern eines jeden Menschen ein un- für ihre erotischen Sehnsüchte ent- verletzlicher Adel als höchste Dignität wickelten. göttlicher Gegenwart wirksam sei. Es ist Sich im Zusammenhang des Unsi- dies die spezifische Form, welche die cheren ans denkbar Sichere zu halten deutsche Mystik der Gottebenbildlich- empfiehlt sich. Die Spiritualität der keit des Menschen (Gen 1, 26) zugebil- Sehnsucht gründet auf einem Begehren, ligt hat. das sich die Liebe zum Göttlichen über Wo sich dieses Ebenbild im Men- alle ihre Gefährdungen hinweg nicht schen findet, war schon die Frage der nehmen lassen möchte. Die mensch - Kirchenväter. Ursprünglich haben die Foto: akg-images liche Liebe der Troubadoure hat ihr Ur- Väter das Ebenbild Gottes im Men- Der Theologe, Bischof und Kardinal bild denkerisch sicherlich in der Gottes- schen als ein dreifaltiges gesehen, ver- Nikolaus von Kues (1401–1464) meint liebe. Gott ist von seiner paradoxen borgen in den drei obersten Kräften der aus der Perspektive der menschlichen Präsenz her uns immer im Nahen fern Seele, in den sogenannten potentiae an- Ratio, das absolute Wissen sei über- und im Fernen nah. Die echte Sehn- imae: intellectus, memoria und volun- haupt nicht wissbar. sucht und ihre Trauer finden sich ei- tas. Die memoria spiegelt Gott Vater als gentlich nur in der Sehnsucht nach dem Ideenreservoir und väterlichen Schoss Absoluten. Dass aber auch diese ent- aller logoi spermatikoi. Der intellectus behrungsreiche Trauer eine höchst sinn- ist zu identifizieren mit dem lógos, in Vorstellung einer Einswerdung der des IV. volle Lebensfigur bieten kann, zeigen dem die Welt entworfen worden ist, Nous mit dem Hen, dem Einen, besteht uns die mystischen Dithyrambiker die- worin die Schöpfung und Schöpfungs- in der „Sehnsucht nach dem Sehen“ Auch die griechischen Väter haben – ser Sehnsucht, die heute endlich ihren theologie grundgelegt ist. Mitten in der (éphesis gàr ópseos hórasis) und diese wenigstens in nuce – eine Sehnsuchts- geistigen Rang bekommen, der ihnen Nacht, als der Lauf der Nacht seine Sehnsucht ist unbeendbar. Ein Christ, theologie entwickelt: neben dem „Hirt gebührt. Mitte erreicht hatte, erhebt sich dann der nach seiner eigenen Aussage die des Hermas“, Klemens von Alexandrien Es wäre völlig falsch, an dieser Stelle im Himmel vom Thron Gottes das gött- „platonischen [das heißt Plotins] Bü- (um 150–215), Origenes (185–254), nicht noch mit allem Nachdruck darauf liche Wort und springt hinunter auf die cher“ ein Jahrhundert später gelesen aber auch Gregor von Nyssa hinzuweisen, dass die christliche Mystik Erde, in den Schoß der Jungfrau. Das ist hat, ist Augustinus (354–430). Er ent- (335/40–394) und viele andere. Im 13. (zusammen mit der jüdischen und isla- wickelt aus dieser Schau eine Theologie Jahrhundert ist kirchengeschichtlich lei- mischen) mit dem Tenor ihrer sie tra- der Sehnsucht nach Gott. Sein Stich- der die große Scheidung geschehen, in genden Sehnsucht nach dem Absoluten Der Begriff „spiritualitas“ wort heißt desiderium, Unruhe, Wün- der sich das in Universitäten denkerisch in einem strengen Gegensatz zu fern- schen, Lechzen nach der Stillung seines konstruktive, aber spirituell auf die östlichen Mystiken – allen voran zur kommt schon in der Spät- Lebensdurstes in Gott. Dies ist sein Dauer defizitäre scholastische System bud-dhistischen „Mystik“ (sofern der antike in christlichen Texten summum bonum, das ihm vor den in- zwischen Glaubensleben und Dogma Buddhismus überhaupt mit Mystik in neren Augen steht. Aber das Streben geschoben hat. Die Dynamik lebendiger Zusammenhang gebracht werden darf) vor. nach ihm artikuliert sich natürlich auf Spiritualität wurde so – ungleich zur – gesehen und gedeutet werden muss. den Wegen einer konkreten Gottesvor- Entwicklung in der Ostkirche – im Kern Ziel des Satori und der Buddha-Natur dann der zweite göttliche Schub, wo der stellung, wie es in der Offenbarung unangemessen gebremst. „Spiritualität“ ist eine tiefe und abgründige Bindungs- lógos menschengestaltig wird. Das grundgelegt ist. Er artikuliert diese wurde so immer mehr zum ausge- losigkeit von allem Leid und aller Sehn- heißt, in der Soteriologie haben wir also Sehnsucht folgendermaßen: sonderten Bereich im Glaubensleben. sucht des Menschen hinein in ein be- eine Schöpfungstheologie enthalten, die „Gott dehnt aus im Verzug, im Fern- Der Begriff spiritualitas kommt freiendes Erlöschen (Nirwana). Der keinesfalls vernachlässigt werden darf. bleiben das Sehen, und im Sehnen schon in der Spätantike in christlichen Christ kann nur im Umschlag des Hätten die Kirchen dies nachhaltiger dehnt er aus die Seele, und im Ausdeh- Texten vor. Gemeint ist eine gegenüber Nichts (der Sehnsucht) in die Fülle und berücksichtigt, unterstünden sie weniger nen macht er sie fassensweiter. Sehnen dem „Buchstaben“ geforderte Geist- niemals umgekehrt gerettet werden. „ dem Zwang, auf die Verderbnisse der wollen wir also, weil wir erfüllt werden orientiertheit des Verstehens der Heils- Zeit weniger moralisch als positiv evan- sollen, ausdehnen wollen wir uns zu botschaft. Im 19. Jahrhundert wird gelisch zu reagieren. ihm, dass er erfülle, wenn er kommt.“ „Spiritualität“ zum Streitbegriff unter Wo liegt das Bild Gottes in der See- Augustins ganz klare Aussage bietet Katholiken. Da wird diskutiert, welcher le? Findet es sich in den drei Kräften eine Sehnsuchtstheologie, deren An- Orden oder welche Ordensgemeinschaft der Seele, die spiegelbildlich zur Trinität sporn gerade ihre letztendliche Nicht- Recht hat in ihrer Art, wie sie den Gottes die Präsenz Gottes im Menschen erfüllbarkeit ist, die zur Dynamik einer christlichen Glauben lebt. Gibt es nur artikulieren, oder – das ist dann die laufenden Steigerung führt. Je mehr eine Spiritualität für alle Christen? Lehre von Eckhart, Tauler und Seuse – Leere, umso mehr Fülle. Also herrscht Oder gibt es einen Pluralismus verschie- ist es noch tiefer in mir, in der „Spitze eine dialektische Spannung zwischen dener Spiritualitäten in der Kirche? der Seele“ (acies mentis), in deren Fülle und Leere, die einst zur öster- Heute ist „Spiritualität“ zur Schablone Werden Sie höchstem und äußerstem Punkt, im lichen Vollendung führen wird, da das verkommen, die semantisch von „Well- Mitglied und Wipfel in der Seele, im anthos tou nou, Geschehen des nächtlichen Gangs des ness“ bis „Meditation“, „Erholung“ alles helfen Sie! in der Blume der obersten Vernunft? Ist Heilands in die Unterwelt zur lichthel- sagen kann. Dass die Entwertung dieses das der Ort, wo alle menschlich-gött- len Auferstehung führen wird. Augusti- kostbaren Begriffs nicht unbedingt nur Verein Freunde lichen Energien kumulieren, wie (nach nus: „So wie man liebt, ist man; du bedauerlich ist, belegt das Potential sei- und Gönner Eckhart) der dreifaltige „Gott“ in der liebst die Erde du wirst Erde sein. Du ner Offenheit für die Sehnsucht nach der Katholischen Einen „Gottheit“? Dort wird nach Aus- liebst Gott; was soll ich da sagen. Wirst dem Absoluten, um die es heute doch Akademie kunft der deutschen Mystiker das Ab- du Gott sein? Von mir selber her wage zentral zu gehen scheint. Das Ausste- in Bayern bild Gottes, des ein-drei-faltigen Gottes ich das nicht zu sagen. Hören wir also hende des Heils hält immer wieder den gespiegelt. die Schrift: Ich habe gesagt, ihr seid geistigen Raum offen für ein mögliches Sehnsucht nach dem Absoluten ist Götter (Ps 81, 6), ihr seid Söhne des Ankommen neuer Identitäten. Und so aber auch in der Philosophie und Spiri- Allerhöchsten.“ bekommt Spinozas (1632–1677) Defini- Jahresbeitrag ab Euro 50,– tualität des heidnisch-hellenistischen Aus Scham darüber, was nicht gesagt tion des Sehnsuchtaffekts, nach der die Neuplatonismus artikuliert worden, et- werden darf, beruft er sich auf den Romantiker begierig griffen, um ihre ei- Infos unter: wa bei Plotin (205 – 270). Seine höchste Wortlaut des Psalms 81,6. genen Neigungen zum Göttlichen zu www.kath-akademie-bayern.de

28 zur debatte 5/2011 die über ‚harte‘ personenbezogene Da- von Alkoholmissbrauch etc.). Kontro- ten, aber auch darüber hinaus Auskunft vers fallen die Meinungen zu den The- Öffentliche Fachtagung über das persönliche und soziale Le- men politische und religiöse Ansichten bensumfeld geben. Insbesondere geht aus: Hier sehen die einen ein Konflikt- die Studie der Frage nach, wie die Ju- und Diskriminierungspotenzial, wäh- gendlichen sich zu Fragen des Daten- rend die anderen von der Norm geleitet schutzes und der Persönlichkeitsrechte sind, dass diese Informationen offen zu Privatheitsschutz positionieren, denn selten werden sie zeigen kein Problem sein dürfe. selbst dazu gehört, warum sie in wel- cher Weise mit eigenen persönlichen In- • Austarieren sozialer Beziehungen formationen und denen ihrer Online- und Trennung verschiedener Lebens- im Internet als Freunde umgehen und was sie zu ent- bereiche: Bei der Frage, welche Infor- sprechenden Thesen wie der z.B. der mationen und Fotos sie besser nicht Veränderung von Privatsphäre zu sagen einstellen, denken die Jugendlichen haben. auch darüber nach, wen aus dem per- Bildungsaufgabe Die Studienergebnisse bieten Hin- sönlichen Umfeld sie damit womöglich weise einerseits für die pädagogische kränken könnten (z.B. die Ex-Partner Arbeit, die nur dann gelingen kann, durch Fotos der neuen Liebe) oder wem Das Internet hat viele Bereiche unse- leichtfertigen Umgang mit Online- wenn sie die Perspektive der Jugend- gegenüber sie Details ihrer Lebens- und res Alltags grundlegend verändert. Netzwerken, weisen darauf hin, dass lichen nachvollzieht und aufgreift, an- Gedankenwelt nicht offenbaren möch- Während es einerseits nahezu unbe- viele sich dieser Zusammenhänge dererseits für die Gestaltung Sozialer ten (z.B. Autoritäten aus den Leistungs- grenzte Informationsmöglichkeiten noch immer zu wenig bewusst sind. Netzwerkdienste und deren Rahmenbe- bereichen Schule und Arbeitswelt). bietet, öffnet sich jeder Nutzer zu- Die öffentliche Fachtagung „Privat- dingungen, die sich an den Bedürfnis- gleich als Teil einer globalen Kommu- heitsschutz im Internet als Bildungs- sen der Nutzenden orientieren muss. Wenig Bewusstsein haben die befrag- nikationsgemeinschaft mehr oder we- aufgabe“ der Akademie in Zusammen- Entsprechende Schlussfolgerungen wer- ten Jugendlichen hingegen in Bezug auf niger freiwillig dem fremden Zugriff arbeit mit der Bayerischen Landeszen- den aus den Ergebnissen dieser Studie Dimensionen, die sie über persönliche auf persönliche Daten. In nie gekann- trale für neue Medien (BLM) griff am formuliert. Erfahrungen nicht wahrnehmen kön- tem Ausmaß vermischen sich so in der 24. Mai 2011 medienwissenschaftliche, nen: digitalen Welt die Grenzen zwischen rechtliche, pädagogische und ethische Aufbau der Studie Öffentlichem und Privatem. Alarmie- Aspekte der Problematik auf. „zur • Datenmissbrauch durch Dritte ist rende Erfahrungen, etwa aus dem debatte“ dokumentiert die Beiträge. Befragt wurden insgesamt 63 Heran- eine Dimension, von der die meisten wachsende im Alter von 13 bis 19 Jah- befragten Jugendlichen nur eine vage ren mit qualitativen Verfahren in Ein- Vorstellung haben, z.B. durch das Me- zelfallstudien (11) sowie in Gruppener- dienecho auf Datenskandale. Auch die hebungen (52). Funktion bestimmter ,harter Daten‘, wie z.B. des Geburtsdatums für die Identifi- Schutzwürdige Daten: Begründungen zierung von Individuen ist einem gro- Persönliche Informationen ßen Teil der befragten Jugendlichen „So was schreibt man doch erst gar nicht bewusst. in aller Öffentlichkeit? nicht rein!“ (Mädchen, G11, 172) Jugendliche machen sich – in unter- • Kontrolle und Überwachung sind Ulrike Wagner schiedlichem Maße und unterschiedlich Dimensionen, die nur den älteren und tiefgehend – durchaus Gedanken dar- höher gebildeten Jugendlichen in ihrer über, was sie wem in Sozialen Netz- individuellen und gesellschaftlichen werkdiensten über sich mitteilen wollen Tragweite bewusst sind. Den Jugend- und was besser nicht. Mit dem Thema lichen, die an Hauptschulen befragt Datenschutz und Persönlichkeitsrechte wurden, sind Kontroll- und Überwa- intensiv und systematisch auseinander- chungsmöglichkeiten nur im Rahmen Problemaufriss gesetzt haben sich allerdings die wenig- von Strafverfolgung vorstellbar oder sten befragten Jugendlichen – dies wa- wenn sie auf das soziale Nahfeld (El- Dass Jugendliche in populären Sozia- ren dann ältere und höher gebildete. In tern, eifersüchtige Partner, ... ) bezogen len Netzwerkdiensten wie schülervz.net, ihren Begründungen, warum welche sind, z.B. in Bezug auf Standortangaben facebook.com, lokalisten.de, myspace. persönlichen Informationen schutzwür- in Sozialen Netzwerkdiensten. com etc. unbedacht persönliche Infor- dig sind, sprechen die Jugendlichen fol- mationen preisgeben könnten, ist eine gende Dimensionen an: Relevante Informationsquellen Sorge, die viele Eltern und Erziehende der Jugendlichen umtreibt. Und dies insofern nicht zu • Schutz vor unerwünschten Begeg- Unrecht, als manche Online-Plattfor- nungen und Kontakten: Weitgehende Die befragten Jugendlichen befinden men an Hinweisen auf die Tragweite Einigkeit besteht bei den befragten Ju- sich in Bezug auf die Themen Daten- solcher Veröffentlichungen sparen und gendlichen darüber, dass Angaben, die schutz und Persönlichkeitsrechte auf die Nutzenden darüber hinaus implizit Aufschluss über die Wohnung und an- sehr unterschiedlichem Informations- oder explizit dazu auffordern, sich mit dere regelmäßige Aufenthaltsorte geben stand. Gut Informierte finden sich eher umfangreichen Angaben zur eigenen könnten, in Online-Plattformen nicht unter den älteren und besser gebildeten Person einem großen Publikum zu prä- auftauchen sollten, weil damit ein Risi- Jugendlichen, während der Informa- sentieren; hinzu kommt, dass Online- ko verbunden ist belästigt zu werden. tionsstand der befragten Hauptschüle- Freunde, die ja häufig auch Offline- Gleiches gilt für die Angabe von Kon- rinnen und Hauptschüler recht lücken- Freunde sind, durch zusätzliche Infor- taktdaten, bei denen sich die Interak- haft erscheint, auch wenn sie deutliches mationen (Kommentare, Fotoverlinkun- tion nicht gut steuern lässt, wie z.B. der Interesse an diesen Themen zeigen. Die gen etc.) dazu beitragen können, dass Handynummer. Jugendlichen konstruieren ihr Wissen mehr Persönliches bekannt wird als den aus den Gegebenheiten der Plattformen, Betreffenden recht sein kann. • Soziale Asymmetrie: Dass diejeni- z.B. aus den Aufforderungen, die in der Der Schutz persönlicher Daten und gen, die ihr Online-Profil anschauen, konkreten Gestaltung der Plattformen die Wahrung von Persönlichkeitsrechten Dr. Ulrike Wagner, Direktorin des JFF – viel mehr Persönliches über sie erfahren liegen. in Sozialen Netzwerkdiensten liegen nur Institut für Medienpädagogik, München könnten als sie selbst umgekehrt über begrenzt in der Hand der einzelnen diese, ist ein wesentlicher Grund für Weitere vorrangige Quellen für Nutzenden. Technische Gegebenheiten, Zurückhaltung bei der Angabe persön- entsprechendes Wissen und relevante rechtliche Rahmenbedingungen, Interes- licher Informationen. Darüber, welche Handlungsnormen sind: sen der Anbieter sowie so ziale Normen Informationen hier besonders sensibel – das sind die Bedingungen, auf die die Ziel der Studie sind, herrscht nur in Bezug auf das The- • Peergroup und andere Plattform- Nutzungsmotive, das Wissen und die ma Familie weitgehende Einigkeit. Sehr nutzende: Jugendliche lernen die Sozia- Fähigkeiten derjenigen treffen, die sich Die Studie „Persönliche Informatio- unterschiedlich fallen die Einschätzun- len Netzwerkdienste über ihre Freunde in diesen Online-Netzwerken präsentie- nen in aller Öffentlichkeit? Jugendliche gen zu den Punkten Freizeitbeschäfti- kennen; diese erklären ihnen die Funk- ren und austauschen. Ein kompetenter und ihre Perspektiven auf Datenschutz gungen, Hobbys, Aktivitäten mit Freun- tionen der Plattformen und machen sie Umgang mit diesen Bedingungen ist und Persönlichkeitsrechte in Sozialen den, Beziehungen, eigene Biografie, auf bestimmte Risiken aufmerksam. Wie auch für erwachsene Nutzende eine Netzwerkdiensten“ im Rahmen des Pro- Nebenjobs sowie religiöse und politi- andere mit persönlichen Informationen Herausforderung; bei Jugendlichen jekts „Das Internet als Rezeptions- und sche Einstellungen aus. umgehen, hat ebenfalls Orientierungs- kommen zusätzlich entwicklungstypi- Präsentationsplattform“ im Auftrag der funktion. Schmücken z.B. andere ihr sche Motive – Autonomiestreben, Iden- BLM aus dem Jahr 2010 gibt Aufschluss • Vermeidung von Angriffen und Dis- Profil mit Fotos, so kann dies durchaus titätsentwicklung, Integration in die über die Motive und Regeln, nach de- kriminierung: Welche Informationen Ju- ein Anreiz sein gleichzuziehen. Peergroup, Erproben sozialer Beziehun- nen Jugendliche ihr Handeln in Online- gendliche als Anlass für Konflikte und gen – sowie ihr teilweise noch begrenz- Netzwerken ausrichten und die auch ih- Diskriminierung sehen, hängt stark von • Medien: Jugendliche nehmen rele- ter Erfahrungshorizont ins Spiel, wenn ren Umgang mit persönlichen Informa- ihren lebensweltlichen Erfahrungen ab. vante Informationen in den Medien es um die Abschätzung von Risiken und tionen und Persönlichkeitsrechten mit- Einig sind sich die Jugendlichen, dass durchaus wahr, wie z.B. die Berichter- die Suche nach Orientierungspunkten bestimmen. Unter ‚persönliche Informa- Bilder die peinlich werden können, zu stattung über diverse Datenskandale. für das eigene Online-Handeln geht. tionen‘ werden hier solche verstanden, vermeiden sind (z.B. Nacktfotos, Folgen Allerdings suchen nur ältere und höher

5/2011 zur debatte 29 gebildete Jugendliche, die in Bezug auf dabei wesentliches Merkmal von teil- • Wie man sich selbst präsentieren andererseits bringen sie – sofern darauf das Thema bereits sensibilisiert sind, ak- weise stereotypen Weiblichkeitsinsze- soll: authentisch zeigen oder Angaben angesprochen – den Anbietern Sozialer tiv nach unabhängiger Information in nierungen und das Spielen mit Iden- faken – Fake-Angaben können unter Netzwerkdienste und den entsprechen- der Tages- und Wochenpresse sowie in titätssfacetten ist für die Vertreterinnen bestimmten Umständen zwar dem den Aufsichtsstrukturen Vertrauen ent- einschlägigen Online-Quellen. Weniger dieser Strategie charakteristisch. Die Schutz der eigenen Person dienen oder gegen. Die meisten verlassen sich dar- kritische und weniger gebildete Jugendli- Online-Netzwerke sind für sie Räume, der Attraktivität des Profils (oder wenn auf, dass diese korrekt mit ihren Daten che greifen hier allein auf Massenme- in denen Probehandeln vollzogen es um das anzugebende Alter geht, die umgehen bzw. dafür sorgen, dass dies dien, insbesondere Boulevardberichter- werden kann. Diese Befragten sind nur Teilnahme am Netzwerk erst ermög- geschieht. Dem stehen nur sehr wenige stattung zurück. mit (teilweise erheblichem) Aufwand lichen); die soziale Erwartung besteht gegenüber, die hier grundsätzliches identifizierbar, denn sie wollen inkogni- jedoch darin, zu wissen „mit wem man Misstrauen für angebracht halten. Mit- Weniger zentral sind bisher folgende to bleiben, um unbehelligt Erfahrungen es zu tun hat.“ verantwortung für andere bzw. für die Informationsquellen: zu machen. Weitere Regeln gehen mit der Not- Inhalte der Plattformen zu übernehmen, wendigkeit einher, die Aktivitäten der lehnen die Jugendlichen in der Regel ab, • Eltern: Eltern sind nur für die jün- anderen Nutzenden und deren Kontak- weil sie dies als Gegensatz zum Selbst- geren Befragten Ansprechpartner, wenn Auch der Aufforderungs- te im Auge zu behalten, so dass eine verantwortungsprinzip empfinden. es um Soziale Netzwerkdienste geht. Dynamik gegenseitiger sozialer Kontrol- Auch diejenigen, die das Themenfeld Als einschlägige Wissensquelle sind El- charakter der Plattformen so- le entstehen kann. Auch Reziprozitäts- noch wenig reflektiert hatten, waren tern dann relevant, wenn sie selbst So- wie relevante Dynamiken normen, die die Angabe persönlicher durchaus aufgeschlossen für die damit ziale Netzwerkdienste nutzen oder sich Informationen tangieren, spielen in un- verbundenen Fragen. Und nicht nur aus beruflichen Gründen damit ausken- des sozialen Miteinanders terschiedlichen Handlungskontexten auf zwischen den Jugendlichen zeigen sich nen. Eltern formulieren vor allem Re- werden von älteren Jugend- den Plattformen eine Rolle. So begrün- Unterschiede in Hinblick auf den offe- geln, z.B. ob und welche Bilder die Ju- den die Jugendlichen, die Erfordernis nen Umgang mit persönlichen Informa- gendlichen einstellen dürfen. lichen durchaus thematisiert. persönliche Informationen zu zeigen, tionen und die kritische Reflexion ihrer unter anderem damit, dass sie auch selbst Handlungsbedingungen. Auch das indi- • Informationsangebote der Plattfor- andere Nutzende anhand entsprechen- viduelle Handeln ist häufig nicht konsis- men: Diese Informationen spielen für Der konkrete Umgang mit persön- der Informationen einschätzen wollen. tent und nicht selten durch Widersprü- die meisten Befragten eine eher unter- lichen Informationen ist diesen Motiven che und Ambivalenzen geprägt. Hier geordnete Rolle. Sie werden dann wahr- nachgelagert, er wird gespeist aus einem Positionen zu Datenschutz und bieten sich vielfältige pädagogisch nutz- genommen, wenn sie nutzerfreundlich Konglomerat aus plattformseitigen Ein- Persönlichkeitsrechten bare Ansatzpunkte. aufbereitet und möglichst in konkrete stellungsoptionen, persönlichen Schutz- Handlungszusammenhänge, z.B. in das bedürfnissen und Risikoabwägungen so- In ihren Stellungnahmen zu aktuell Fazit Hochladen von Bildern oder Videos, in- wie Überlegungen zu sozialen Erwar- diskutierten Fragen im Themenfeld Da- tegriert sind. Rein sachliche und wenig tungen. Nahezu alle Befragten der Ein- tenschutz und Persönlichkeitsrechte In diesen Netzwerken souverän zu verständlich aufbereitete Texte, wie z.B. zelfallstudien – sowohl diejenigen, die zeichnen sich folgende Positionen der handeln, ist ein hoher Anspruch, der die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, ihr Profil ohne Einschränkung allen Jugendlichen ab: nicht nur die Handlungsfähigkeit der werden von Jugendlichen in der Regel Internetnutzenden verfügbar machen, Subjekte selbst tangiert, sondern auch zwar durch Häkchen bestätigt, aber als auch diejenigen, die es bis auf weni- • Veränderung von Privatsphäre: Die im Zusammenspiel mit den medialen nicht gelesen. ge Angaben nur bestätigten Freunden Aussagen der Jugendlichen zeigen deut- Rahmenbedingungen zu sehen ist. Die öffnen – sind der Auffassung, dass sie lich, dass die Privatsphäre für sie ein Ergebnisse verdeutlichen, dass die Inter- • Lehrkräfte: Die Lehrkräfte werden den jeweiligen Adressaten nur ein ober- schützenswerter Raum ist. Damit un- aktionen in Online-Netzwerken als so- von den Jugendlichen in Hinblick auf flächliches Bild ihrer Person zeigen, mittelbar verbunden ist für sie die Be- ziales Handeln zu begreifen sind, in de- Soziale Netzwerkdienste häufig als vor- auch wenn durchaus Unterschiede in stimmung darüber, welche persönlichen nen die Regeln und Normen des sozia- eingenommen empfunden und daher Umfang und Detailliertheit feststellbar Informationen sie wem gegenüber of- len Miteinanders teilweise auf technisch nicht als kompetente Ansprechpartner sind. fenlegen. Während vor allem die jünge- vermittelte Kommunikationsformen wahrgenommen. ren und niedriger Gebildeten großen- übertragen werden, teilweise aber auch Regeln und Normen, die den Umgang teils überzeugt davon sind, dass diese neu zu verhandeln sind. Der Umgang Motive und Präsentationsstrategien mit persönlichen Informationen mit persönlichen Informationen ist da- tangieren von im Hinblick auf Datenschutz und Die Motivlagen, die in engem Zu- Die Befragten machen sich Persönlichkeitsrechte entscheidend sammenhang mit den Entwicklungs- Was und wie viel Jugendliche in On- tangiert. aufgaben zu sehen sind, können als line-Netzwerken von sich zeigen, ist für ihr soziales Umfeld er- Eine bessere Unterstützung von ju- Hauptantriebskräfte für die Wahl des auch davon beeinflusst, welche sozialen kennbar und sind für gendlichen Nutzenden erscheint durch Sozialen Netzwerkdienstes gelten. In Spielregeln und Normen in diesen pädagogische Angebote, aber auch die Hinblick auf die motivational begründe- Netzwerken gelten, insbesondere von Außenstehende nur mit Auf- Plattformgestaltung notwendig. In pä- te Erkennbarkeit bzw. Maskierung der solchen Regeln und Normen, die in der wand erkennbar. dagogischen Handlungsfeldern ist mit eigenen Person für bestimmte Perso- Nutzungspraxis greifbar werden. Diese dafür Sorge zu tragen, dass Verhandlun- nenkreise wurden in den Ergebnissen sind heterogen und nicht unbedingt gen zur Privatsphäre nicht zur Privat - drei Präsentationsstrategien herausge- widerspruchsfrei, wie z.B.: Entscheidungsfreiheit in Sozialen Netz- sache einzelner Individuen gemacht arbeitet: werkdiensten gegeben ist, wird von Äl- werden, sondern dass die Bedingungen • Wie mit Verantwortung umzugehen teren und Kritischeren erkannt, dass zur sozialen Miteinanders gemeinschaftlich • Eine erste Strategie ist durch das ist: sich einmischen oder andere ma- Wahrung dieser Autonomie unweiger- getragen werden. Hauptmotiv sozialer Einbettung ge- chen lassen – Nahezu alle Befragten lich auch eine – im Grunde kaum zu kennzeichnet. Es geht diesen Befragten sind der festen Überzeugung, dass jede leistende – Kontrolle des Handelns an- Konkret lassen sich aus den Ergeb- vor allem darum, für ihren bereits beste- bzw. jeder selbst dafür verantwortlich derer gehört. Denn diese nehmen sich- nissen folgende Ansatzpunkte und henden Bekannten- und Freundeskreis ist, was sie oder er in Online-Netzwerke die Freiheit, nach eigenem Ermessen zu Leitlinien für die pädagogische Arbeit erkennbar zu sein und diesen über einstellt. Daraus leiten sie die Regel ab, beurteilen, was sie an Informationen schlussfolgern: Interaktionen zu pflegen und zu erwei- dass es sich nicht gehört, sich in das über Dritte einbringen. Auch der Auf- tern. Diese Befragten machen sich für einzumischen, was andere auf der Platt- forderungscharakter der Plattformen so- • Mediale Erfahrungsräume und Mo- ihr soziales Umfeld erkennbar und sind form tun, solange es die eigenen Rechte wie relevante Dynamiken des sozialen tivlagen der Heranwachsenden respek- für Außenstehende nur mit Aufwand nicht einschränkt. Damit weisen sie die Miteinanders werden von älteren Ju- tieren: Die Jugendlichen betrachten On- identifizierbar. Übernahme von Verantwortung für das gendlichen durchaus thematisiert. Dass line-Netzwerke als Räume für selbstbe- Handeln anderer von sich. durch veränderte soziale Normen ein stimmtes Agieren. Der Wunsch nach so- • Befragte, die die zweite Strategie sozialer Druck zur Offenlegung persön- zialer Zugehörigkeit und gleichzeitig verfolgen, haben das Ziel, ihre Interes- • Wie mit formalisierten Normset- licher Informationen entstehen könnte, autonom handeln zu können, bildet die sen zu vertiefen und ihre Talente zu zungen umzugehen ist: Rechte Dritter wird jedoch nur von sehr kritischen Ju- zentrale Orientierungslinie. Innerhalb zeigen. Über ihre damit verbundenen als Verhandlungssache – Das Einver- gendlichen angesprochen. dieser sind es gerade die Ambivalenzen Fähigkeiten und Kenntnisse, z.B. im Be- ständnis einzuholen, wenn Rechte Drit- und Widersprüche im Handeln der Ju- reich der Fotografie oder bestimmter ter betroffen sind (Urheberrechte, Recht • Überwachung und Kontrolle: Diese gendlichen selbst, an denen weiter sen- Musikrichtungen, können sie ihre Kom- am eigenen Bild), wird von den Jugend- Diskussion ist den meisten Jugendlichen sibilisiert und diskutiert werden kann. petenzen unter Beweis stellen und sie lichen nicht als unabdingbar wahrge- nur in Bezug auf konkrete Interaktions- Mit den Jugendlichen gemeinsam Alter- finden in den Online-Netzwerken nommen, unter anderem weil es ihnen partner gewärtig. Die weitgehenden nativen zu erarbeiten, wie Ziele erreicht Gleichgesinnte, die diese zu schätzen zu aufwändig erscheint. Vielmehr gehen prinzipiellen Auswertungs- und Aggre- werden können, erscheint dabei als er- wissen. Diese Befragten wollen erkenn- sie davon aus, dass die Entscheidung, gationsmöglichkeiten der Daten, die in folgversprechender Weg. bar sein und verzichten auf eine Ver- was sie von anderen zeigen oder über Sozialen Netzwerkdiensten anfallen, schleierung ihrer Identität, um inhalt- sie äußern können, im eigenen Ermes- sind den Jugendlichen entweder kaum • Strukturwissen vermitteln: Die liche Diskussionen rund um ihre Inter- sen liegt. Dabei orientieren sie sich an bewusst oder sie haben nur eine vage grundlegenden Strukturen der Angebote essen und Talente führen zu können. ihrer Einschätzung, wann die Betroffe- Vorstellung davon. Auch die Anbieter zu verstehen, bildet das entscheidende nen verärgert sein könnten. Umgekehrt als Akteure, die Zugriff auf ihre Daten Fundament, um das eigene Handeln re- • Eine dritte Strategie kann als spie- ist es ihnen durchaus wichtig, wie sie haben, haben die meisten Befragten flektieren und die Plattformen bewerten lerisch-experimentell bezeichnet wer- selbst von anderen dargestellt werden. nicht im Blick. zu können. Auf dieser Basis können ge- den. Diese Befragten bewegen sich un- Hier haben einige die Erfahrung ge- meinsam entsprechende Qualitätskrite- ter einem Pseudonym in Online-Netz- macht, dass ihre Einwände übergangen • Selbstverantwortung und Mitverant- rien für die Einschätzung der Plattfor- werken, sie spielen mit verschiedenen oder zum Verhandlungsgegenstand ge- wortung: Die Jugendlichen beanspru- men entwickelt werden, deren Tragfä- Rollen und erproben Handlungsweisen. macht werden. chen einerseits Selbstverantwortung für higkeit sich auch an der Passung zum Das „Designen der Persönlichkeit“ ist die sie betreffenden Informationen, eigenen Alltag (z.B. in Bezug auf die

30 zur debatte 5/2011 Interessen nachgehen und sich in Di- skussionen einbringen. Auch hier ste- hen sie vor einem Dilemma. Einerseits gilt es, sich vor Diskriminierung zu schützen, andererseits wollen sie Stel- lung beziehen. Hier ist gemeinsam mit den Jugendlichen zu reflektieren, wel- che Möglichkeiten der Beteiligung und des gemeinsamen Handelns in welchen Online-Räumen möglich und sinnvoll sind.

Mediale wie gesellschaftliche Rah- menbedingungen müssen für die Einzel- nen transparent und nachvollziehbar sein bzw. werden. Die Ergebnisse bieten folgende Hinweise für die Gestaltung der Angebote und deren Rahmung: • Informationen zu Datenschutz und Persönlichkeitsrechten im Handlungs- kontext verankern – Informationen zu Datenschutz und Persönlichkeitsrechten müssen klar und verständlich formuliert sein. Werden darüber hinaus Informa- tionen an den Stellen gegeben, an denen sie handlungsrelevant sind, z.B. beim Hochladen von Bildern, stoßen die Ju- gendlichen leichter darauf und können sie in ihre Entscheidungen einbeziehen. Das Podium diskutierte unter der Lei- Auf dem Podium saßen: Gerhart Baum, tung von Akademiedirektor Dr. Florian Prof. Wolf-Dieter Ring, Prof. Marie-The- • Konsequenzen des Handelns auf Schuller (Mi.), der als Mitglied im Me- res Tinnefeld und Dr. Thomas Petri den Plattformen transparent und au- dienrat sachkundig moderieren konnte. (v.l.n.r.). genfällig machen – Die Konsequenzen des eigenen Handelns können nachvoll- ziehbar dargestellt werden, indem z.B. Motivlagen und Fragen der Jugend- die Folgen der gewählten Einstellungs- lichen) bemisst. Ein weiteres Ziel ist die optionen zur Zugriffskontrolle in Hin- Vermittlung von Kriterien für die Ein- blick auf andere Nutzende veranschau- schätzung relevanter Informationsquel- licht werden. Aber auch die Auswer- len bezüglich Seriosität und Sachkom- tungsmöglichkeiten von Daten durch petenz. die Anbieter müssen transparent ge- macht werden, damit die Nutzenden in- • Gegenseitige Erwartungshaltungen formiert zustimmen können. und Kontrolle als Handlungsdimensio- nen sichtbar machen: Die Anerkennung • Angebote an die Schutzbedürfnisse durch die anderen im Netzwerk bildet der Jugendlichen anpassen – Die Platt- die Voraussetzung, um sich den Wunsch formen haben prinzipiell die Möglich- nach sozialer Zugehörigkeit erfüllen zu keit technische Lösungen anzubieten, können. Um dies zu erreichen, müssen die den Schutzbedürfnissen der Nutzen- die Jugendlichen mehreren Erwartungs- den stärker entsprechen und ihnen die haltungen Genüge tun, wobei Rezipro- Wahrung der Rechte Dritter erleichtern. zitätsnormen relevant werden. Hier Denkbar wären z.B. Plattformfunktio- entsteht u.U. auch ein Druck, immer nen, die beim Upload von Fotos oder mehr preisgeben zu müssen, der auch Videos das Einholen des Einverständ- durch die Plattformen gestützt wird. nisses der Abgebildeten erleichtern, so Entsprechende Dynamiken sowie sol- dass eine Veröffentlichung erst erfolgt, che gegenseitiger sozialer Kontrolle ge- wenn alle relevanten Zustimmungen meinsam herauszuarbeiten und der be- vorliegen. wussten Reflexion zugänglich zu ma- Verena Weigand, Jugendschutzreferentin Ring, dem BLM-Präsidenten: Frau Wei- chen, erhöht die Möglichkeiten des sou- • Qualitätskriterien entwickeln und der Bayerischen Landeszentrale für gand leitete bei der Fachtagung eine der veränen Umgangs mit diesen medialen mit Orientierungshilfen für Jugendliche neue Medien, im intensiven Gespräch Gesprächsgruppen, bei der es um Me- Angeboten. und Erziehende verbinden – Für die mit ihrem Chef, Professor Wolf-Dieter dienpädagogik ging. meisten Jugendlichen ist Transparenz im • Verantwortungsbewusstsein stärken: Umgang mit den Daten der Nutzenden Die Befragten bestehen vehement dar- noch kein entscheidendes Kriterium für auf, für ihr Handeln selbst verantwort- die Auswahl Sozialer Netzwerkdienste. lich zu sein und ihre eigenen Entschei- Ein entsprechendes Qualitätsbewusst- dungen treffen zu können. Sie verknüp- sein lässt sich durch unabhängige Infor- fen diesen Anspruch zumeist mit der mations- und Orientierungsangebote Abgrenzung von einer Einmischung in schärfen, so dass hier ein Wettbewerb das Handeln anderer. Hier gilt es die um das gerechtfertigte Vertrauen der selbstbestimmten Freiräumen. Online- Punkte herauszuarbeiten, in denen sie Nutzenden initiiert wird. „ Netzwerke dienten ihnen zur Fortset- zur Mitverantwortung aufgerufen sind, Presse zung von „Offline-Kontakten“, zum in- z.B. wenn Rechte anderer verletzt wer- haltlichen Austausch oder aber zur den. Die Sozialen Netzwerkdienste bie- Identitätsfindung. Einerseits gebe es ten automatisierte Funktionen an, um eine Erwartungs-, andererseits eine z.B. problematische Inhalte zu melden. Kontrollspirale unter den Teilnehmern, Diese ermöglichen grundsätzlich nicht Privatheitsschutz dabei werde das Recht auf Privatheit nur die Integrität der eigenen Person, zur Verhandlungssache. sondern auch die der anderen zu wah- Münchner Kirchenzeitung Einen ganz anderen Ansatz wählte Ma- ren. Genau zu diesen Fragen müssen 5. Juni 2011 – So viele junge Gesichter rie-Theres Tinnefeld. Die Professorin für mit den Jugendlichen gemeinsam Hand- hat die Katholische Akademie selten ge- Datenschutzrecht rückte das Recht auf lungsoptionen erarbeitet werden, die ih- sehen. Auf die Frage, wer bei Facebook Privatheit nah an die unantastbare ren Bedürfnissen nach Schutz, aber sei, gingen dann auch fast alle Hände Menschenwürde. Während der Schutz auch nach sozialer Einbettung entspre- im Saal hoch. Gemeinsam mit der Lan- räumlicher Privatsphäre in allen zivili- chen. Die Stärkung der Mitverantwor- deszentrale für neue Medien ging die sierten Kulturen anerkannt werde, ent- tung hat mit Blick auf die gegenseitige Akademie der Frage nach, ob der grenze das Cyberspace nahezu alles, Kontrolle der Nutzenden jedoch auch Schutz der Privatsphäre im Internet ge- wobei es gleichzeitig viele Erwartungen klare Grenzen. währleistet ist. nicht erfülle. Ein ausgewogenes Verhält- Ulrike Wagner vom Institut für Medien- nis von Nähe und Distanz als Voraus- • Partizipationsmöglichkeiten auf- pädagogik in München nahm den Blik- setzung gelungener Beziehungen etwa zeigen: Über das Motiv der Einbettung kwinkel der Jugendlichen ein. Sie su- sei kaum mehr möglich. in das unmittelbare Umfeld der Peer- chen nach sozialer Zugehörigkeit und Johannes Schießl group hinaus wollen Jugendliche ihren

5/2011 zur debatte 31 die das Gewissen der Menschen tief spricht vom Garten als Rahmen des Privatheit als Voraussetzung verletzt haben.“ Nichts anderes verlangt „Bei-sich-Seins“. Um Menschen sol- Gerhart Baum (2009: 54), wenn er an- cherart Freiräume zu nehmen, haben menschenrechtlicher Freiräume? gesichts des wachsenden „Sicherheits- faschistische Staaten (z.B. Nazi-Deutsch- wahns“ im Kontext von Cyberspace und land, das Apartheidregime) und sozialis - Marie-Theres Tinnefeld Ground Zero ängstliche Bürger auffor- tische Staaten (z.B. China) Landschaf- dert „Verantwortung für Grundrechte“, ten und Gärten vernichtet oder Men- für die unbeobachtete Entfaltung ihrer schen aus ihnen vertrieben (Tinnefeld Privatheit, zu übernehmen, ohne die sie 2006: 8; 2008: 81ff.). weder als individuelle Personen noch An dieser Stelle möchte ich ein Ge- als Teilnehmer am gesellschaftlichen dicht von Alexander Solschenizyn ein- und politischen Diskurs existieren blenden, der sich im Gefängnis an ver- I. können. lorene Freiräume des Gartens und ihre Unter Demokratie ist schließlich lebensspendende Kraft erinnert: Vor elf Jahren endete ein Jahrtausend auch das Regieren durch das Volk der und viele Menschen ängstigen sich, dass Bürger zu verstehen. Damit wird deut- Alexander Solschenizyn „Atem“ noch weit mehr zu Ende gegangen sein lich, dass Bürger zusammen mit ihren (1970): könnte als nur ein Zeitabschnitt, der für Staaten die einzigen wirkmächtigen Be- unser Verständnis von Kultur, Natur schützer ihrer unveräußerlichen Men- „Nachts war Regen gefallen, und nun und Technik, über das Woher und Wo- schenrechte sind. Die Europäische wandern Wolken über den Himmel – hin des Menschen ausschlaggebend ist. Menschenrechtskonvention (EMRK), ab und zu sprüht Nässe herab. Ich ste- Peter Handke wandte sich bereits im die darauf basierende Europäische he unter einem Apfelbaum, der zu ver- Jahr 1979 in seiner Erzählung „Langsa- Charta der Grundrechte (EGRC) sowie blühen beginnt, und atme. me Heimkehr“ gegen unbestimmte, oft nationale Verfassungen versuchen dem Nicht allein der Apfelbaum, sondern pathologische Ängste und die Etikettie- nachhaltig Rechnung zu tragen, in dem auch die Gräser ringsumher haben die rung der Epoche als eines Zeitalters des sie die Anerkennung der Menschen- Feuchtigkeit aufgesogen – kein Name Misstrauens, der Sonnenfinsternis oder rechte in unmittelbare Nähe zum Ge- lässt sich finden für jenen süßen Duft, der Hölle. Handke ließ gleichzeitig aber danken der unantastbaren Menschen- der die Luft erfüllt. Ich sauge ihn ein keinen Zweifel aufkommen, dass eine würde rücken (Art. 1 EGRC und fast mit der vollen Kraft meiner Lunge, mei- beginnende systematische Zerstörung wortgleich Art. 1 I GG). ne ganze Brust spürt den Wohlgeruch. menschlicher Lebensgrundlagen ins Den Inhalt der Würde begründe – so Ich atme, atme – einmal mit offenen Zentrum der literarischen und wohl Günter Dürig (1956: 123) – die Fähig- Augen, dann wieder mit geschlossenen auch der politischen Betrachtung rücken keit des Menschen sich „seiner selbst be- Augen. Ich weiß nicht zu sagen, was muss. Nüchtern spricht der Dichter von wusst zu werden, sich selbst zu bestim- schöner ist. einer notwendigen „Zukehr zur Welt“ men und die Umwelt zu gestalten“. Ent- Dies ist wohl jene einzigartige, aller- und der damit verbundenen „augen- faltungsfreiheit wird hier in einer eher kostbarste Freiheit, deren uns das Ge- öffnenden Angst“. Prof. Dr. Marie-Theres Tinnefeld, Profes- bildlichen Wortbedeutung als Wachsen fängnis beraubt: so zu atmen, hier zu Die grundlegende Überlegung des sorin für Datenschutzrecht an der Fach- der Persönlichkeit (Art. 2 I GG) ver- atmen. Keine Speise dieser Erde, kein Dichters lässt sich mit einschneidenden hochschule München, Publizistin standen, im Innersten wie auch im Wein, ja nicht einmal der Kuss einer Entwicklungen im 21. Jahrhundert ver- selbstgewählten Kontakt mit anderen Frau erscheint mir süßer als diese Luft binden, die angstauslösend sind, aber Menschen, die sich gegenseitig anerken- – diese Luft, gesättigt von Blühen, auch augenöffnend sein können für die nen (Suhr 1976: 107). Der Einzelne Feuchtigkeit und Frische, ist es auch Bedeutung der Menschenrechte und des Die Denker der Aufklärung haben braucht dazu einen mentalen (inneren) nur ein winziges Gärtchen, eingezwängt Erbes all dessen, was auch den Wert diesen Zusammenhang deutlich er- Freiraum, „weil zur menschlichen Ent- zwischen den Käfigen fünfstöckiger von Privatheit und Lebens(frei)räumen kannt. Es mag zwar „zur Ironie der Ge- faltung die Besinnung gehört wie das Häuser. Das Knattern der Motorräder, ausmacht. Das Thema soll im Kontext schichte“ gehören, dass sich die christ- Atemholen zum Sprechen“ (Suhr 1976: das Geheul der Plattenspieler, das Ge- von drei folgenschweren Veränderun- liche Zeitrechnung gerade in der Zeit 97). Gleichzeitig ist jede Person auch trommel der Lautsprecher entschwinden gen menschlicher Lebensräume be- der Aufklärung endgültig durchsetzte, in auf private Rückzugsräume im wört- meinem Bewusstsein. Solange man trachtet werden: der christliche Überlieferungen bröckel- lichen Sinne angewiesen. Das Bundes- noch unter einem Apfelbaum nach dem ten (Maier 1991: 42). Es fällt aber auch verfassungsgericht (BVerfGE 27, 1, 6 – Regen atmen kann – solange lässt es • Der geografische Raum wird von ei- auf, dass die Aufklärer den Säkularisie- ständige Rechtsprechung) umschreibt sich auch leben.“ nem digitalen Raum überlagert, der rungsprozess mit der Erklärung von all- unter Bezugnahme auf die Wohnung nicht nur virtuell in menschlicher Er- gemeinen Menschenrechten verbanden den Sinn von Privatheit als „Innen- Im wachsenden Cyberspace aber, wo fahrung und Zeit ist. und umweltrelevante Aufgaben – wie raum“, wo man sich selbst besitzt“, Menschen mit Hilfe subtiler Informa- sie schon die Genesis enthält – in eini- „in dem man in Ruhe gelassen wird und tionstechnologien persönliche Informa- • Die Welt wird von Ground Zero aus gen ihrer Verfassungen niederschrieben. ein Recht auf Einsamkeit genießt“. tionen und Lebensbilder aus dem kör- in offenen Gesellschaften neu vermes- So ist die Virginia Bill of Rights von In allen zivilisierten Kulturen der perlich-physischen Raum audio-visuell sen und überwacht. 1776 nicht nur die erste vollständige Welt ist der Schutz räumlicher Privat- erfassen, weltweit verbreiten und verän- Menschenrechtserklärung. Sie spricht heit, der Respekt vor der Wohnung, ein dern, werden menschliche Erfahrungen • Die Menschen werden von den Ereig- auch von Rechten, die den Erklärenden anerkanntes Rechtsgut (Art 8 EMRK, und Vorstellungen von Raum und Zeit nissen in Fukushima aufgeweckt, wo und ihrer Nachkommenschaft als Basis Art. 7 EGRC, Art. 13 GG u.a.). In sei- neu geprägt. Schon 1983 hat das Bun- gewaltige Kräfte der Natur und der und Grundlage zukommen. ner Entscheidung zum Großen Lausch- desverfassungsgericht (BVerfGE 65, 1) Atomtechnik Lebensräume auf Dauer In modernen westlichen Verfassun- angriff hat das Bundesverfassungsge- sich mit den neuen technischen Metho- unbewohnbar machen. gen, etwa im deutschen Grundgesetz, richt (BVerfGE 109, 279, 314) betont: den der Datenverarbeitung und ihren wird dagegen ein nachhaltiger Umwelt- „Auch die vertrauliche Kommunikation grundrechtlichen Risiken befasst. Im Die aktuellen Entwicklungen lassen schutz „nur“ als Staatsziel (so in Art. benötigt ein räumliches Substrat jeden- Zuge des technisch geprägten Wandels zwar vieles, was uns bisher vertraut war, 20 a GG) deklariert. Darüber hinaus falls dort, wo die Rechtsordnung um der hat das höchste deutsche Gericht das in einem anderen Licht erscheinen. Bei wäre zu fragen, ob er nicht als Daseins- höchstpersönlichen Lebensgestaltung Recht auf Privatheit mit einem Daten- allen neuen Erklärungs- und Deutungs- aufgabe – gleichsam im Spiegel des bib - willen einen besonderen Schutz ein- schutz-Grundrecht (1983) und einem ansätzen erinnern sie aber daran, dass lischen Gartens – im Rahmen freiheit- räumt und die Bürger auf diesen Schutz IT-Grundrecht (2008) verbunden, die menschliche Lebensgestaltung immer licher Menschenrechte fortgeschrieben vertrauen.“ Der Schutz ist nicht auf die dem Einzelnen auch in digital vernetz- auch an geografische Räume und Kul- und ins Zentrum der „Weltkarte“ auch häusliche Sphäre begrenzt, sondern ten Räumen seine informationelle Pri- turkreise gebunden ist. Dieser Umstand des 21. Jahrhunderts gerückt werden schließt halböffentliche (Innenhöfe, vatheit (informationelle Selbstbestim- führte im Mittelalter dazu, dass die sollte. Hausgärten, Gemeinschaftsgärten) und mung) sichern sollen (Art. 2 I iVm Art. 1 christ liche „Gesellschaft“ häufig ein öffentliche Räume (Parkanlagen, Lau- I GG; vgl. auch Art. 8 EMRK; Art. 8 Bild des Paradieses mit seinen Leben II. ben) ein, in denen der Einzelne mit Fa- EGRC). Im Brennpunkt stehen insbe- spendenden Flüssen in den Mittelpunkt milienangehörigen oder Freunden unge- sondere Probleme, die die Voraussetzun- der Weltkarte rückte, gemäß dem Bibel- Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der stört kommunizieren möchte (BVerfGE gen einer selbstbestimmten Einwilligung wort: „Und Gott pflanzte einen Garten Aufklärung, wurde die Anerkennung 101, 361). von Kindern und Jugendlichen in Da- in Eden ...“ (Genesis 2, 8; Schlögel von Menschenrechten zum Kennzei- Zur freien Entfaltung seiner Persön- tenprozesse (Beisenherz/Tinnefeld 2009: 158). chen einer zivilisierten Kultur. In der lichkeit ist der Mensch immer auf Räu- 2011: 112) und ihre Selbstdarstellung Der biblische Garten wird in der Präambel der Déclaration des droits de me angewiesen, in denen er sich einrich- und Kommunikation in der virtuellen Genesis als eine Daseinsgabe des l’homme et du citoyen von 1789 findet ten kann, Ruhe und Geborgenheit fin- Welt und mithin ihre Medienmündigkeit Schöpfers (Genesis 2, 8) und Daseins- sich der signifikante Satz, „dass die Un- det, Gefühle ausleben, Gedanken frei berühren. Die Relevanz und Bedeutung aufgabe des Menschen (Genesis 2, 15) kenntnis, das Vergessen oder die Ver- äußern, ungestört und unbeobachtet mit von Medienbildung ist bei den Verant- verstanden. Dahinter verbirgt sich die achtung der Menschenrechte die einzi- anderen, mit denen er sich familiär oder wortlichen so noch nicht angekommen. Forderung nach Verantwortung für die gen Ursachen des öffentlichen Unglücks freundschaftlich verbunden fühlt, zu- Einige Studien haben nach Auskunft der Zukunft der Erde und ihrer jeweiligen und der Verderbtheit der Regierungen sammen sein kann (Hohmann-Denn- Kommunikationswissenschaftlerin Birgit Menschen. Anders formuliert: Die sind“. Und die Allgemeine Erklärung hardt 2006: 85f.). Nach Michael Conan Stark (Johannes Gutenberg Universität gegenwartsbezogene Gesellschaft, um der Menschenrechte (AMER) von 1948 (1999: 202) geben besonders „Räume Mainz) herausgefunden, dass kulturüber- die es dabei auch geht, hat die zeit- fordert nach zwei mörderischen Welt- des Gartens ... Individuen die Chance, greifend eine „Entgrenzung subjektiver lose Aufgabe, die Erde zu bebauen und kriegen eine fortschreitende Gewähr - ihren persönlichen Ausdruck zu ent- Expressivität“ zu beobachten sei. Diese zu bewahren, auch aus Achtung vor leistung dieser Rechte, „da die Verken- wickeln und ein Gespür für Kraft und Entwicklung habe bei bestimmten Fern- den Lebensrechten künftiger Genera- nung und Missachtung der Menschen- Selbstentfaltung zu entwickeln“. Der sehformaten begonnen und erreicht nun tionen. rechte zu Akten der Barbarei führten, Gehirnforscher Ernst Pöppel (2006: 25f.) in der virtuellen Welt eine neue Stufe.

32 zur debatte 5/2011 III. IV. 57–59) hat die möglichen Konsequen- Handke, Peter (1979), Langsame Heim- zen erkannt, die sich aus der Zerstörung kehr, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Zweifellos haben sich mit dem vir- Der virtuelle Raum ermöglicht zwar der Umwelt für den Schutz der Privat- Main tuellen Raum das Wesen und die Funk- Menschen und Organisationen, flexibler heit ergeben können. Nach Auffassung tion der Zeit-Raum-Verhältnisse und und schneller auf realräumliche Ereig- des Gerichts verletzt die Beeinträchti- Hohmann-Dennhardt, Christine (2006): damit menschliche Lebensbedingungen nisse zu reagieren. Gleichzeitig entste- gung der Umwelt sowie fehlende Risi- Freiräume – Zum Schutz der Privatheit. tiefgreifend verändert. Paul Virilio hen aber neue Angriffsformen. Feinde koinformationen über mögliche Um- In: Duttge, Gunnar/Tinnefeld, Marie- (1989: 151, 163) vermutet bereits am operieren nicht von einem festen welteinbrüche das Recht auf die Theres (Hg.): Gärten, Parkanlagen und Ende des vergangenen Jahrhunderts, Territorium aus, sondern über die Kom- Privatsphäre betroffener Bürger (Art. 8 Kommunikation. Lebensräume zwi- dass die neuen Medien und ihre Ge- munikation im Internet. Sie inszenieren EMRK). Mit anderen Worten: Der Um- schen Privatsphäre und Öffentlichkeit, schwindigkeit über Zeit und Raum sie- ihre Angriffe und lassen dabei die Me- weltschutz ist wesentlicher Teil des Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin gen werden. Aber gibt es überhaupt ei- dien des Feindes für sich arbeiten. Ein grundrechtlichen Schutzes der Privat- nen von der sinnlichen Welt abgelösten eindrucksvolles Beispiel dafür ist die heit. Diese Sicht bietet eine Chance Kafka, Franz (2007), Betrachtungen unkörperlichen Raum? Berichterstattung über die Terroran- zum „In-sich-gehen“. Auch die natürli- über das Leben, Kunst und Glauben, Auch Menschen mit „allgegenwärti- schläge vom 11. September 2001. che Umwelt steht für das tatsächliche Beck Verlag München. ger“ Präsenz im Cyberspace sind an Ground Zero bedeutet einen nie ge- Vermögen, Privatheit zu entfalten. Mit physikalische Räume gebunden, wo sie kannten Einbruch in die westliche Zivi- der Installation abgestorbener Bäume Maier, Hans (1991), Die christliche Zeit- anderen Menschen fühlbar begegnen, lisation. Die höllische Attacke von 9/11, aus Megacities – wo Städte gegen die rechnung, Herder-Verlag, Freiburg wo sie lieben, essen, hungern und ster- bei der das weltbekannte Symbol von Landschaft gebaut werden – könnte der ben, demokratische Revolutionen auslö- New York, das „World Trade Center“, chinesische Künstler Ai Weiwei diese Pöppel, Ernst (2006): Das menschliche sen, wo das Ticken der Uhren und das vom terroristischen Feuersturm erfasst Dimension angesprochen haben. Maß – der Garten. In: Duttge,Gunnar/ Zeitmaß der eigenen Kultur ihr privates und die Körper der Todesspringer in der Tinnefeld (Hg.), Gärten, Parkanlagen Leben und ihre Kommunikation mit- Tiefe am Boden zerschmettert wurden, VI. und Kommunikation, Lebensräume zwi- bestimmen. wird Fernsehzuschauer und Internetnut- schen Privatsphäre und Öffentlichkeit, Die Erwartung, dass sich das globale zer bis heute in Endlosschleifen gezeigt. In einer seiner letzten Aufzeichnun- Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin Netz als ein Medium unverzerrter men- Die Folge ist nicht nur eine andauernde gen schrieb Franz Kafka (2007: 66) den schenrechtlicher Kommunikation be- Erschütterung, sondern auch ein zuneh- Satz: „Wir sind nicht nur deshalb sün- Schlögel, Karl (2009), Im Raume lesen währen könne, hat sich nicht erfüllt. mender Hass vieler Menschen auf den dig, weil wir vom Baum der Erkenntnis wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschich- Die Erfahrung zeigt zwar, dass Men- islamischen Terror. Er ist wie auch jede gegessen haben, sondern auch deshalb, te und Geopolitik, 3. Auflage, Fischer schen die neuen Möglichkeiten im Cy- andere Art von Fundamentalismus das weil wir vom Baum des Lebens noch Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. Main berspace im Sinne der Meinungs- und Gegenteil von Toleranz und gefährdet nicht gegessen haben.“ Wenn wir das Informationsfreiheit, im Interesse von die freiheitlich verfasste Entfaltung des Bild des Lebensbaumes gleichsam als Staeck, Klaus/Odenthal, Johannes demokratischen Wahlen und Bürger- Menschen in einer offenen Gesellschaft, lebendige Lektion zum Thema Privat- (2010): Vorbemerkung. In: Valentien, revolutionen fruchtbar nutzen. Für viele die im Schutzbereich der Privatheit an- heit betrachten, dann erkennen wir den Donata (Hg), Wiederkehr der Land- ist es aber auch zur Gewohnheit und gelegt ist. Zusammenhang innerer Freiräume und schaft, Akademie der Künste, Berlin Regel geworden, Intimes und Privates Mit Blick auf Ground Zero ist in örtlicher Freiräume als Voraussetzung in sozialen Netzwerken „zwanglos“ un- westlichen Staaten ein Präventionskon- menschlicher Entfaltung. Und wenn wir Suhr, Dieter (1976) Entfaltung der Men- ter die Leute zu bringen, um mehr öf- zept entstanden, wonach nicht nur alle das Fragezeichen hinter dem gestellten schen durch die Menschen, Duncker & fentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. irgendwie arabisch aussehenden Men- Thema erklären wollen, dann bezieht Humblot Verlag, München/Berlin Sie handeln gleichsam wie Narziss, der schen überprüft werden – bekannt als sich das Zeichen im Wesentlichen auf narkotisierte Jüngling, der in sein Spie- racial profiling. Inzwischen wird auch Cyberspaces, in dessen Netzwerken der Tinnefeld, Marie-Theres (2006: 8). Der gelbild verliebt ist. Sie suchen eine me- in westlichen Staaten tendenziell alles erdgebundene Text der Privatheit noch Garten Eden und die Freiheitsrechte diale Selbsterweiterung und öffnen da- und jeder weltweit beobachtet, ohne nicht oder jedenfalls noch nicht genug heute. In: Duttge,Gunnar/Tinnefeld, bei die Rückzugsräume ihrer privaten Rücksicht auf Privatsphären und ver- gelesen, eingerichtet und ausgeführt Marie-Theres (Hg.), Gärten, Parkanlagen und kommunikativen Existenz einer trauliche Telekommunikationsräume. wird. „ und Kommunikation, Lebensräume zwi - unbegrenzten Öffentlichkeit. Die um ihre Sicherheit und Stabilität schen Privatsphäre und Öffentlichkeit, Viele stellen nicht nur ihre Wohnung besorgten Staaten gefährden dabei Literatur: Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin via webcam ins Internet. Sie beobach- selbst die zivilen Grundlagen ihrer Kul- ten heimlich auch geschützte Räume tur und dies häufig mit Zustimmung Baum, Gerhart (2009), Rettet die Tinnefeld, Marie-Theres (2008), Apart- der Anderen und übertragen Garten- verunsicherter Bürger, die ihre unver- Grundrechte! Bürgerfreiheit contra heid-System und klassifizierte Freiräu- fes te ihrer Nachbarn per Video ins äußerlichen Menschenrechte um einer Sicherheitswahn, Verlag Kiepenheuer & me. In: Fischer, Hubertus/Wolschke World Wide Web. Dieses Zeitphänomen vermeintlichen größeren Sicherheit Witsch, Köln Bulmahn, Joachim (Hg), Gärten und ist beunruhigend: Notwendige Formen willen nicht verteidigen. Parks im Leben der jüdischen Bevölke- von Nähe und Distanz werden preis- Behringer, Wolfgang (2007), Kulturge- rung nach 1933, Martin Meidenbauer gegeben, durch die soziale Beziehungen V. schichte des Klimas. Von der Eiszeit bis Verlagsbuchhandlung, München erst ihre eigenständige Bedeutung er- zur globalen Erwärmung, 2. Auflage, halten. Technologische Herrschaft und Aus- C.H. Beck-Verlag, München Virilio, Paul (1989), Die Sehmaschine, Sind Personen wirklich frei, wenn sie beutung der Naturressourcen durch zit. Nach Sandbothe, Mike: Zeit und nur beliebig mit eigenen und fremden Menschen haben nachweislich „zur fun- Beisenherz, Gerhard /Tinnefeld, Marie- Medien, in: Medien& Zeit (1993), Berlin persönlichen Informationen im physi- damentalen Veränderung des natür- Theres (2011), Aspekte der Einwilli- kalischen und virtuellen Raum umge- lichen Lebensraumes ERDE geführt“ gung, DuD Heft 2 Weiß, Ralph/Groebel, Jo (2002) (Hg.), hen können? Was bedeutet ein Willkür- (Staeck/Odenthal 2010: 8). Joseph Wei- Privatheit im öffentlichen Raum zwi- Freiheitsbegriff, ein „Was-Jeder-Will- zenbaum (2008: 13), einer der wach- Conan, Michel (1999): From Vernacular schen Individualisierung und Entgren- Modell“ im Verhältnis zur Freiheit des samsten Kritiker des technologischen Gardens to a Social Anthropology of zung?, Leske+Budrich, Opladen Anderen? Kann sich nur der Eine frei Größenwahns und Analytiker der sozia- Gardening: In: Ders (Hg.), Perspectives entfalten, während der Andere immer len Dimensionen der digitalen (Wissens) on Garden Histories, Dumbarton Oaks Weizenbaum Joseph (2008): Wir gegen nur entfaltet wird (Suhr 1976:107), etwa Gesellschaft, vermutet: „Selbst ... wenn Research Library and Collection, die Gier. Die Erde könnte ein Paradies seine Daten in den Netzen von Angebot die Wissenschaft das komplexe System Washington, D.C. sein – wenn wir sie nur richtig deuten und Nachfrage freizügig von Dritten der Natur verstehen würde, bliebe noch würden, SZ v. 08.01.2010 verarbeitet und genutzt werden? der Widerstand gegen den Menschen zu Dürig, Günter (1956), Der Grundrechts- Eltern stellen Videos ihrer Kinder in schaffen, der aus Gier Städte und Wäl- satz von der Menschenwürde, AöR 81 sozialen Netzwerken vermeintlich ge- der in eine brennende Hölle verwan- schlossener Freundeskreise ein und ge- delt.“ „Die Erde könnte“ – so Weizen- fährden damit deren Persönlichkeits- baum – „ein Paradies sein, wenn wir sie rechte. Schüler diskriminieren Mitschü- nur richtig deuten würden“. ler an globalen Internetprangern und Die Natur kennt zwar seit jeher dra- Kriminelle betreiben einen verhängnis- matische Veränderungsprozesse (Beh- vollen, strafbaren Internet-Handel mit ringer 2007: 17ff). Sie geraten aber häu- pornografischen Kinderdarstellungen. fig erst durch menschliches Tun zur Die betroffenen Kinder werden emotio- Katastrophe. In Fukushima hat die Ver- nal und in ihrem Recht auf Intimität in flechtung von bislang unvorstellbaren schlimmster Weise verwundet. Im Inter- Naturgewalten und unzureichend gesi- net gehen keine dieser verletzten Men- cherter Atomtechnik eine Zerstörung schen-Bilder verloren. Bislang kann und Verstrahlung menschlicher Lebens- über den Tod hinaus auf alle einmal räume auf Dauer eingeleitet. vernetzten Informationen dauerhaft zu- Das Szenario im Frühjahr 2011 hat gegriffen werden. vielen Menschen eine Hölle gezeigt Die Digitalisierung macht es notwen- und sie aufgeweckt, natürliche Lebens- dig, Medienkompetenz zu entwickeln. bedingungen wahrzunehmen, die für Vor allem in der Sozialisationsinstanz ihre freie Entfaltung selbstverständ- Schule ist die „Arbeit mit Information“ lich sein sollten, aber im Bann neuer Prof. Dr. Marie-Theres Tinnefeld – hier ernst zu nehmen. Es gibt inzwischen Technologien in Vergessenheit geraten im Gespräch mit Ex-Innenminister Studien, die sich kulturübergreifend sind. Gerhart Baum – leitete zusätzlich einen dem Thema Privatheit und Medienhan- Der Europäische Gerichtshof für Arbeitskreis. Dort besprach man die deln befassen (Weiß/Groebel: 2002). Menschenrechte (EGMR NVwZ 1999, Themen Recht und Datenschutz.

5/2011 zur debatte 33 beispielsweise weil Datenverarbeiter mit soll. Beispielsweise ist die Datenverar- Grundrechtliche Freiheitsgestaltung nicht immer freundlichen Absichten beitung möglichst transparent zu gestal- nach Nutzern suchen, die bestimmte ten: Daten sind grundsätzlich vorrangig im Wandel der Zeit: Das Beispiel Eigenschaften aufweisen. Das kann der bei den Betroffenen zu beschaffen. Im Arbeitgeber sein, der nach Daten eines Regelfall haben die Betroffenen einen Datenschutz Bewerbers sucht, das können Kriminel- Anspruch auf Auskunft über die über le sein, die in Jugendnetzwerken uner- sie erfassten Daten. Die Rechte auf Thomas Petri fahrene neue Opfer ausfindig machen Berichtigung, Löschung oder Sperrung wollen usw. Die Datenempfänger profi- gehören ebenfalls zu den Mitwirkungs- tieren bei ihrer Nutzung des web2.0 von rechten der Betroffenen. der Selbstoffenbarung Anderer, ohne Das Volkszählungsurteil verändert die damit verbundenen Risiken tragen den Datenschutz grundlegend. Noch 1. Einleitung zu müssen. Bei allen unbestreitbaren heute nimmt das Bundesdatenschutzge- Chancen, die das Internet bietet: Es lädt setz auf seine Leitgedanken ausdrück - „Datenschutz ist im Zeitalter von zugleich zu Verhaltensweisen ein, die lich Bezug, in dem es in § 1 Abs. 1 web2.0 nicht mehr zu gewährleisten.“ der Rechtsstaat seit Jahrhunderten ver- BDSG 2003 vorsieht: „Zweck dieses „Die eigentliche Gefährdung für die Per- sucht zurückzudrängen. Zugleich weist Gesetzes ist es, den einzelnen davor zu sönlichkeitsrechte geht nicht mehr von das Internet insoweit eine neue frei- schützen, dass er durch den Umgang dem Staat, sondern vom gesellschaft- heitsbedrohende Dimension auf, als In- mit seinen personenbezogenen Daten in lichen Raum aus.“ „Die junge Genera- formationen potentiell ewig verfügbar seinem Persönlichkeitsrecht beeinträch- tion legt keinen Wert mehr auf Daten- sind: „Das Internet vergisst nicht“. tigt wird.“ Damit wird der Schutz vor schutz – schauen Sie doch einmal, wie Missbrauch durch den entwicklungsof- viele Daten junge Leute über sich im 3. Grundrechtliche Freiheitsgestaltung fenen Schutz vor Beeinträchtigung des Internet preisgeben.“ Bei Gesprächen im Wandel Persönlichkeitsrechtes abgelöst. über den Privatheitsschutz im Internet Seit Mitte der Neunziger Jahre wird werden fast immer solche Überlegungen Wenn Grundrechtsschutz die Ant- der Datenschutz auch im Europäischen angestellt. Treffen sie inhaltlich zu? wort des Staats auf tatsächliche Frei- Raum normativ verankert. Die Daten- Trifft es insbesondere zu, dass die heute heitsbedrohungen sein soll, ist damit die schutzrichtlinie 95/46/EG und die E- junge Generation im Gegensatz zu frü- Frage nach dem datenschutzrechtlichen Commerce-Richtlinie 2002/58/EG er- heren Generationen keine Sensibilität Schutz für die heutige freiheitliche weitern den Anwendungsbereich des für ihre Privatsphäre hat? Kom munikation aufgeworfen. Wich- deutschen Datenschutzrechts, indem sie Wagen wir doch einmal einen Ver- tige Impulse für eine Entwicklung des die althergebrachte Unterscheidung gleich mit der Vergangenheit, z. B. mit Datenschutzrechts werden durch die zwischen öffentlichem und nichtöffent- dem 18. Jahrhundert. Es war das Zeit- Grundrechte und die Europäische lichem Bereich auflösen. Art. 8 Charta alter, in dem die Briefkultur ihren Hö- Rechtsentwicklung gesetzt, die zugleich der Grundrechte der Europäischen hepunkt erreichte. Vor allem Mitglieder auf das Verständnis von Datenschutz Union vom 18.12.2000 sieht ausdrück- des Bildungsbürgertums brachten in Dr. Thomas Petri, Bayerischer Landes- einwirken. lich ein Grundrecht auf Datenschutz Briefen gegenüber Freunden und Be- beauftragter für den Datenschutz, Wegbereitend für den Datenschutz ist vor. Mit Inkrafttreten des Vertrags von kannten tiefste Gefühle zum Ausdruck, München das so genannte Mikrozensusurteil vom Lissabon wird es Bestandteil des Euro- deren Art wir zu Schulzeiten vielleicht 16. Juli 1969. Das Bundesverfassungs- päischen Primärrechts sein und weitere bei Briefromanen wie Goethe‘s Werther gericht bestätigt zunächst, dass das Impulse für eine Fortentwicklung des oder bei Rousseau‘s Nouvelle Héloise Grundgesetz dem einzelnen Bürger ei- Datenschutzes setzen können. kennen gelernt haben. sozialen Netzwerken, mit Twittern und nen unantastbaren Bereich privater Le- In seiner Entscheidung vom 27. Fe- Briefe waren häufig nicht nur dazu mit anderen web2.0-Anwendungen bensgestaltung gewährt, der der Einwir- bruar 2008 zur so genannten Online- bestimmt, sich mit einem Freund über wohl ebenfalls das beschriebene Grund- kung der öffentlichen Gewalt entzogen Durchsuchung hat das Bundesverfas- intimste Gefühle und persönliche Er- bedürfnis nach Selbstentfaltung zu be- ist. Zugleich stellt es fest, dass der Staat sungsgericht aus dem Grundgesetz das fahrungen auszutauschen. Sie wurden friedigen. Auch sie sucht nach Gedan- nicht das Recht für sich in Anspruch „Recht auf Gewährleistung der Vertrau- in Bekanntenkreisen und Salons wie kenaustausch mit Gleichgesinnten. nehmen kann, den Menschen zwangs- lichkeit und Integrität informationstech- z.B. denen von Rahel Varnhagen von Auch sie vertraut darauf, dass ein Miss- weise in seiner ganzen Persönlichkeit zu nischer Systeme“ abgeleitet. Das Ge- Ense, Henriette Herz oder Caroline brauch durch die Adressaten ihrer Bot- registrieren und zu katalogisieren. In richt hat bei dieser Neuschöpfung deut- Schelling laut gelesen und bildeten die schaften nicht stattfindet. Soziale Netz- dieser Entscheidung klingt ein Grund- lich darauf hingewiesen: Gesetzgebung, Grundlage für einen intensiven Gedan- werke verleiten dabei Menschen dazu, recht auf Datenschutz als Ausfluss der Verwaltung und Rechtsprechung haben kenaustausch. mehr Informationen über sich preiszu- Menschenwürde und des Selbstbestim- künftig stärker zu berücksichtigen, dass Ich glaube nicht, dass die Briefschrei- geben, als sie beispielsweise in einem mungsrechts des Einzelnen bereits an. die Nutzung der Informationstechnik benden dabei ihre exhibitionistischen persönlichen Gespräch einem Gegen - Möglicherweise hat diese Entscheidung für die Persönlichkeit und die Entfal- Triebe auslebten oder die Adressaten über anvertrauen würden. Web2.0-Nut- einen wesentlichen Impuls für die ers ten tung des Einzelnen eine früher nicht ab- das Vertrauen der Absender missbrauch- zer sind dabei keineswegs durchweg un- Datenschutzgesetze gesetzt. sehbare Bedeutung erlangt hat. Das ten. Vielmehr dienten derartige Brief- reflektierte Exhibitionisten, sondern be- In den Siebziger Jahren des 20. Jahr- neue „IT-Grundrecht“ wie das Recht auf austausche jedenfalls auch den Zwecken wegen sich in einem Spagat zwischen hunderts treten die ersten Datenschutz- Gewährleistung der Vertraulichkeit und der Selbstfindung und Selbstvergewisse- ihrem Bedürfnis nach Mitteilung einer- gesetze in Kraft. Sie sehen in erster Linie Integrität häufig auch genannt wird, rung des Briefe Schreibenden und der seits und andererseits ihrem Bedürfnis nur einen Schutz vor Missbrauch vor. schützt zunächst die Vertraulichkeit ei- Adressaten. Sie sind damit Ausdruck nach Privatsphäre. Eine besondere Situ- So trägt § 1 Abs. 1 BDSG 1977 folgen- nes IT-Systems. Das heißt, dass nur be- von Freiheitsgestaltung, die sich im Ge- ation besteht bei Kindern und Jugend- den Wortlaut: „Aufgabe des Datenschut- rechtigte Personen auf die im System spräch realisiert. Die Briefschreibenden lichen, die ab einem Alter von 6 Jahren zes ist es, durch den Schutz personenbe- verfügbaren Informationen zugreifen des 18. Jahrhunderts konnten sich dabei (!) im besonderen Maß in Sozialen zogener Daten vor Missbrauch … der können. Weiterhin soll aber auch die öffnen, weil sie sich bei den Adressaten Netzwerken engagiert sind und bei de- Beeinträchtigung schutzwürdiger Belan- unter Gleichgesinnten oder zumindest nen eine relativ große Unbefangenheit ge der Betroffenen entgegenzuwirken.“ freundschaftlich Gesinnten wussten. bei der Preisgabe persönlicher Daten Der Gedanke der Freiheitsgestaltung Selbst wenn man den Briefschreiben- festzustellen ist. durch Datenschutz wird durch das den einen gewissen Narzissmus unter- Indes bestehen erhebliche Unter- Bundesverfassungsgericht im Dezember stellt, bringt die Briefkultur ein Grund- schiede zwischen den Brieflesungen der 1983 besonders deutlich formuliert. Es bedürfnis zum Ausdruck, das in Reli- Salons im 18. und beginnenden 19. stellt in dem unter Datenschützern be- gion, Philosophie, Sozial- und Rechts- Jahrhundert und den heutigen Sozialen rühmten „Volkszählungsurteil“ zunächst wissenschaften in vielfältiger Weise und Netzwerken. Anders als die Gastge- fest, dass Datenschutz eine grundrecht- in unterschiedlichen Zusammenhängen ber(innen) der Salons ermöglichen die liche Wurzel hat. Zugleich erweitert es betrachtet worden ist. Beispielsweise heutigen Betreiber von Netzwerken die den Schutzumfang ganz erheblich. Da- kann der suchende Mensch Emmanuel Zusammenkunft von Menschen aus tenschutz wird als grundrechtliche Ge- Levinas zufolge sich und seinen Lebens- vorwiegend kommerziellen Gründen. währleistung nicht mehr nur mit dem sinn nur in der Bewegung zum Anderen Ein zweiter Unterschied besteht darin, Schutz der Privatsphäre gleichgesetzt, entdecken. Ganz ähnlich bringt Martin dass soziale Netzwerke einen über- die vor staatlicher Ausforschung be- Buber dieses Grundbedürfnis mit den schaubaren Freundeskreis vorgaukeln, wahrt. Jetzt wird dem Einzelnen das Worten auf den Punkt: „Ich werde am aber regelmäßig nicht gewährleisten Recht verbürgt, im Grundsatz an ihn Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wollen und aufgrund der technischen betreffenden Datenverarbeitungspro- wirkliche Leben ist Begegnung.“ Nach Systemarchitektur auch nicht können. zessen gestaltend mitzuwirken. Das dem Verfassungsrechtler Dieter Suhr ge- Verzichtet der Internetnutzer auf Bundesverfassungsgericht prägt hierzu schieht die Entfaltung der Persönlichkeit Maßnahmen zum Selbstschutz und den Begriff der „informationellen des Menschen durch den (anderen) nimmt ohne Vorsichtsmaßnahmen an Selbstbestimmung“. Dieses Recht wird Menschen. derartigen Sozialen Netzwerken teil, of- aus dem allgemeinen Persönlichkeits- fenbart er sich so potentiell einem welt- recht aus Artikel 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 2. Freiheitsverwirklichung und weiten Adressatenkreis. Solange er des Grundgesetzes abgeleitet. Es besagt Freiheitsbedrohungen in Sozialen Glück hat, trifft er tatsächlich nur auf sinngemäß, dass der Einzelne auch im Mit der Thematik Medienethik befasste Netzwerken Ähnlich Gesinnte und verbleibt ansons- Zeitalter der automatisierten Datenver- sich die Gesprächsgruppe von Dr. Alex - ten in der „Anonymität der Masse“. arbeitung grundsätzlich selbst über die ander Filipovi´c. Er arbeitet am Institut Die heutige „Facebook-Generation“ Im Internet kann sich dieser „glück- Preisgabe und Verwendung seiner per- für Christliche Sozialwissenschaften der versucht mit ihrer Kommunikation in liche“ Zustand jedoch jederzeit ändern, sönlichen Daten bestimmen können Universität Münster.

34 zur debatte 5/2011 Integrität von IT-Systemen gewährleis - Zeitalter der vernetzten Datensysteme tet werden. Nach den Feststellungen zu gewährleisten. Das ist umso bedeut- Privatheitsschutz als Bildungsaufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist selbst samer, als Nutzer im „Web2.0“ zugleich dann ein Eingriff in den Schutzbereich Daten über sich veröffentlichen und Gerhart Rudolf Baum des IT-Grundrechts anzunehmen, wenn Daten Fremder erheben. Damit werden zum Beispiel Sicherheitsbehörden ein zahlreiche Grundprinzipien des Daten- informationstechnisches System infil- schutzes in tatsächlicher Hinsicht vor triert haben, ohne dabei schon perso- große Herausforderungen gestellt, weil nenbezogene Daten erhoben zu haben. sie allzu oft keine Beachtung finden. Das Bundesverfassungsgericht hat in Wie bereits angedeutet kann ein Nutzer, diesem Fall zum ersten Mal das Pro- der Informationen über sich im Internet blem aufgegriffen, dass die Technikent- preisgibt, insbesondere nicht darauf ver- wicklung neben Chancen auch Bedro- trauen, dass andere, lesende Nutzer sei- I. hungen für informationelle Freiheiten ne Daten in seinem Sinne verwenden. mit sich bringt, selbst wenn die verwen- Angesprochen ist dabei ein Kernprinzip Vieles ist mir in Erinnerung gekom- deten Daten (noch) keinen Personenbe- des Datenschutzes: Das Zweckbindungs- men, als ich den bisher schon gehalte- zug aufweisen. prinzip. nen Vorträgen zugehört habe. Es steigt Die politischen Entscheidungsträger in mir auch langsam so ein Zorn auf, aller Ebenen (EU, Staaten, Länder und nämlich der Zorn auf die jahrelange Das Bundesverfassungsge- Kommunen) haben vielfältige Möglich- Untätigkeit der Politik. Wir brauchen keiten, wie sie auf dieses Phänomen Datenschutz, wir brauchen Schutz richt zieht für die staatliche reagieren und ihren Schutzauftrag erfül- durch Schutzbereiche, die festgelegt Datenerhebung den Schluss, len. Es scheint dabei einvernehmlich die werden – nicht von uns, die wir aller- Erkenntnis vorzuherrschen, dass es not- dings verantwortungsvoll mit Daten dass im Internet leicht wendig ist, die Netzsicherheit und tech- umgehen sollten. Es ist der Staat, der erhältliche Daten nicht nologischen Datenschutz zu stärken. eine unverzichtbare Schutzfunktion Technologischer Datenschutz heißt vor wahrnehmen muss. Dieser Schutzfunk- schutzwürdig sind. allem: Anbieter von Webdienstleistun- tion ist er nicht nachgekommen. Er hat gen müssen sich stärker als bisher auf die umfassende Novellierung des Da- Aus datenschutzrechtlicher Sicht ist vorsorgliche Vermeidung von Risiken tenschutzrechtes früh erkannt. Ich war das Urteil des Bundesverfassungsge- auf dem Wege der technischen Ausge- Datenschutzminister als Innenminister richts zur Online-Durchsuchung bahn- staltung ihrer Dienstleistung ausrichten. und zuständig für das erste Daten- brechend, zugleich ambivalent. Denn es Der Gesetzgeber sollte dazu technisch schutzgesetz, das im Bundestag behan- enthält neben den Feststellungen zum neutrale Schutzziele formulieren, um delt worden ist. Dann gab es immer neuen IT-Grundrecht einen Teil, der sich den Datenschutz zukunftsfähig zu ge- wieder kleine Verbesserungen, aber eine mit dem staatlichen Zugriff auf allge- stalten. Ebenso wichtig ist es, dass die umfassende Revision des total veralte- mein zugängliche Daten befasst. Nach technischen Voreinstellungen von Web- ten Datenschutzrechts steht aus. Gerhart Rudolf Baum, Bundesminister Auffassung des Bundesverfassungsge- angeboten den Schutz der Privatsphäre Die Kriterien wurden schon genannt; des Innern a. D., Rechtsanwalt, Köln richts soll „eine Kenntnisnahme öffent- begünstigen, anstatt sie zu schwächen sie liegen seit 2001 mit Gutachten diffe- lich zugänglicher Informationen dem (Privacy by Default). renziert im Einzelnen vor. Aber keiner Staat grundsätzlich nicht verwehrt“ Die Nutzer müssen besser über Da- traut sich heran. Es gibt verwirklichte sein. Mit anderen Worten soll kein Ein- tenverarbeitung informiert werden so- Teile, so beispielsweise zum Beschäfti- griff in das allgemeine Persönlichkeits- wie einfacher als bisher Auskunft über gungsdatenschutz: Ein Gesetzentwurf bewusst sind. Ich will nicht verkennen, recht von Betroffenen vorliegen, „wenn gespeicherte Daten verlangen, Berichti- ist vorgelegt worden, der zwar in die dass die Autonomie, die gesucht wird, eine staatliche Stelle im Internet verfüg- gungen von unrichtig gespeicherten Da- richtige Richtung geht, den grundgesetz- die Selbstbestimmung, die gesucht wird, bare Kommunikationsinhalte erhebt, ten veranlassen oder ihre Löschung lichen Vorgaben aber nicht entspricht. die Ausweitung der Kommunikation, die sich an jedermann oder zumindest durchsetzen können. Frau Tinnefeld und Herr Petri wissen, positive Perspektiven hat. Uns erleich- an einen nicht weiter abgegrenzten Per- Neben allen diesen Maßnahmen der wovon ich rede. Und hier zeigen sich tert das Internet das Leben. Das geht sonenkreis richten.“ Diese Feststellung politischen Entscheidungsträger wird Lobby-Einflüsse. Es gibt starke wirt- schon mit meinem kleinen Handy. ist dogmatisch fragwürdig und in ihren dabei allerdings auch zu berücksichti- schaftliche Einflüsse, die sich gegen die Wenn ich irgendjemanden suche oder Auswirkungen kaum überschaubar. Das gen sein, dass die Menschen bei der Durchsetzung bestimmter Ziele richten. ein Lokal aufsuchen will, gehe ich ein- Bundesverfassungsgericht zieht für die Nutzung des Internet stärker als bisher Wir erinnern uns an einen Daten- fach über Google und bekomme Infor- staatliche Datenerhebung den Schluss, selbst einen sorgfältigen Umgang mit ei- schutzgipfel in Berlin – mit großem mationen, wie das vor fünf oder zehn dass im Internet leicht erhältliche Daten genen Daten, aber auch mit personen- Aufsehen. Als Ergebnis wurde der Jahren noch nicht möglich gewesen ist. nicht schutzwürdig sind. bezogenen Daten Dritter pflegen müs- Adresshandel eingeschränkt. Daten- Das sind positive Elemente. sen. Geboten ist eine Sensibilität der schutzgipfel, Umweltgipfel, das sind Positiv ist auch, dass die arabische 4. Grundrechtlicher Schutzauftrag Nutzer für mögliche Gefahren und das Dinge, die aus einer Augenblickssitua- Freiheitsbewegung überhaupt nicht vor- Wissen darüber, welche Maßnahmen tion heraus entstehen. Der Berg kreißt stellbar wäre ohne die Kommunikation Gleichwohl schützen Datenschutz- des Selbstschutzes möglich und sinnvoll und gebärt ein Mäuschen. über das Internet. Ägypten hat das grundrechte auch nach den Feststellun- sind. Es fehlt die Nachhaltigkeit in der Internet ja zwei Tage abgeschaltet und gen des Bundesverfassungsgerichts Grundrechtlich geschützte Freiheits- Verfolgung politischer Ziele. Das sehen dann gesehen, dass die Wirtschaft zu- nicht nur vor einem ungezügelten Da- gestaltung setzt mit anderen Worten wir hier beim Datenschutz ganz deut- sammenbricht. In China ist es ähnlich; tenzugriff durch den Staat, sondern Verantwortlichkeit des Menschen für lich. Es ist ja so, wie das Verfassungsge- China versucht sich abzuschotten gegen richten an ihn einen Schutzauftrag, ein den Schutz eigener und fremder Daten richt in einer völlig vergessenen Ent- unangenehme politische Aktivitäten. Mindestmaß an Privatsphäre auch im voraus, die erlernt werden muss. „ scheidung 2006 gesagt hat: „Das allge- Die starke Abhängigkeit der chinesi- meine Persönlichkeitsrecht gewährleis - schen Wirtschaft vom Internet kommt tet, dass in der Rechtsordnung gegebe- in Konflikt mit dem freien Informa- nenfalls die Bedingungen geschaffen tionsaustausch. und erhalten werden, unter denen der Einzelne selbstbestimmt an Kommuni- II. kationsprozessen teilnehmen und so seine Persönlichkeit entfalten kann. Natürlich ist es irgendwo erschre - Dem Einzelnen muss ein informationel- ckend, wenn man hört, dass ein junger ler Selbstschutz tatsächlich möglich und Mensch nach der Statistik mehrere zumutbar sein. Ist das nicht der Fall, be- Stunden am Tag vor dem Computer steht eine staatliche Verantwortung, die sitzt. Ich meine, früher haben wir nicht Voraussetzung selbstbestimmter Kom- vor dem Computer gesessen, sondern munikationsteilhabe zu gewährleisten. wir haben uns mit Freunden getroffen. In einem solchen Fall kann dem Betrof- Man trifft sich jetzt mit Freunden im fenen staatlicher Schutz nicht unter Be- Internet. Die digitale Revolution über- rufung auf scheinbare Freiwilligkeit ver- rollt unser Leben mit einer Eigendyna- sagt werden.“ mik und verändert unsere Lebensge- Scheinbare Freiwilligkeit ist es, wenn wohnheiten – eine Zäsur vergleichbar wir einen Flug buchen, und die Flug- mit der industriellen Revolution des 19. gastdaten gespeichert werden und dann Jahrhunderts. Es ist ein ganz tiefer Ein- noch an die Amerikaner zusammen mit schnitt, und ein Teil der Aspekte ist hier anderen die Privatheit betreffenden In- schon geschildert worden. formationen weitergegeben werden. Wir Es entsteht ein Datenhunger bei den machen das freiwillig; wir bewegen uns öffentlichen Instanzen. Es ist so verfüh- in einer Gesellschaft, in der wir ständig rerisch, wenn man so viele Daten sam - Verstanden sich persönlich sehr gut und Spuren hinterlassen, Millionen von meln, speichern, auswerten kann. Der tauschten ihre Argumente aus: Gerhart Spuren weltweit, und das hat eine Tsu- Präventionsstaat, in dem wir uns befin- Rudolf Baum (li.) und Professor Wolf- nami-ähnliche Geschwindigkeit ange- den, der im Bereich der inneren Sicher- Dieter Ring. nommen, begleitet von Gefahrendimen- heit möglichst viel wissen will und ver- sionen, über die wir uns noch gar nicht gisst, uns von Risiken zu befreien, die

5/2011 zur debatte 35 nicht auszuschließen sind. Wir können Namen, Herr Petri, im Namen der Da- davon, dass wir uns frei bewegen kön- Alltags durch das Heraufziehen des ver- sie höchstens mindern. Die Vorratsda- tenschützer des Landes, erneut in sei- nen und nicht das Gefühl haben, dass netzten Digitalzeitalters hat viele Men- tenspeicherung ist ein Ausdruck dieser nem neuesten Bericht im Bundestag uns jemand beobachtet, unsere Daten schen an ihrer Mündigkeit zweifeln las- Gier: sechs Monate sollen alle Kommu- aufgefordert, jetzt solche Schutzpflich- speichert und uns diese irgendwann sen. Das hat auch mit der Komplexität nikationsdaten gespeichert werden. Al- ten zu formulieren. vorhalten kann. Das ist die eigentliche der Technologien zu tun, deren Funk- les, was wir machen, wird gespeichert, Ich bin mir vollkommen darüber im Gefahr. Aus Millionen von Daten kön- tionsweise immer schwerer zu durch- ohne dass wir – 350 Millionen Euro- Klaren, dass wir das nicht alleine tun nen sehr schnell eigene Persönlichkeits- schauen ist.“ Gefordert ist die Erarbei- päer – irgendeinen Anlass dazu gegeben können, sondern dass wir ein interna- profile gebildet werden, die gar nicht tung eines persönlichen Standpunktes haben. Zugang wird dann allerdings nur tionales Problem des Datenschutzes ha- stimmen müssen, die aber uns als Per- zu der Frage, welche Daten wir über unter bestimmten engen Voraussetzun- ben, ein europäisches und ein interna- sönlichkeit analysieren und sogar in der uns freigeben wollen. Es ist ein absolut gen gewährt. Aber wie wir das Leben tionales Problem. Die großen Daten- Lage sein sollen, unser Verhalten in be- dummer Spruch, zu sagen, ich habe kennen, wird von diesen Möglichkeiten banken sitzen in Amerika. Das sind im stimmten zukünftigen Situationen ge- nichts zu verbergen. Jedenfalls darf er natürlich Gebrauch gemacht werden. Grunde, wie jemand gesagt hat, „infor- nau vorherzusagen. Es muss Löschungs- nicht dazu führen, dass wir dem ande- Die Zahl der Telefonüberwachungen in mation-empires“, mit einer ungeheuren pflichten geben, die so automatisiert ren absprechen, dass er möglicherweise Deutschland ist kontinuierlich angestie- Datenmacht. Unsere freie Marktwirt- werden, dass bestimmte Daten einfach etwas zu verbergen hat. Verbergen heißt gen, die Zahl der Informationen, die die schaft geht davon aus, dass wir Markt- verschwinden. ja auch wem gegenüber etwas zu ver- Nachrichtendienste sich bei Banken macht kontrollieren. Diese neue Markt- bergen. Sie, wir alle haben etwas zu ver- und anderen Institutionen holen, ist an- macht wird von niemandem kontrol- bergen. Diese Verharmlosung der Situa- gestiegen. liert. Das ist eine internationale Aufga- tion ist vollkommen unzureichend und Hier gibt es also einen Datenhunger be. Die großen Datenbanken sind ja Wir brauchen also einen falsch. beim Staat, der Freiheitseinschränkun- auch, und das ist ein weiterer Aspekt, verbesserten Datenschutz. Wir müssen sehen, dass das Netz ein gen in Kauf nimmt. Es wurden die Ur- ungenügend geschützt gegen illegale Elefantengedächtnis hat. Wir müssen teile erwähnt: Online-Durchsuchung ist Eingriffe. Datensicherheit ist vielfach Das ist auch ein Schutz der- die Mündigkeit auch dadurch stärken, nicht verboten, aber an enge Vorausset- nicht gewährleistet, und ich habe größ- jenigen, die das Netz benut- dass wir darauf achten, dass wir nicht zungen geknüpft worden, Vorratsdaten- tes Misstrauen, wenn irgendwo eine zu Werbezwecken ausgenutzt werden, speicherung ebenso. Der Lauschangriff neue große Datenbank eingerichtet zen. Aber wir brauchen vor was heute vielfach der Fall ist. Das wird in der Wohnung ist praktisch tot, weil wird, z.B. ELENA mit Millionen von allem eine digitale Mündig- noch sehr viel stärker werden. Wir wer- das Gericht gesagt hat, hier wird ein Arbeitnehmerdaten, dass nicht irgend- den Objekte einer gezielten Werbung Kernbereich privater Lebensgestaltung wann die Möglichkeit besteht, jedenfalls keit im Netz. aufgrund der Daten werden, die wir berührt. Wir haben durchaus auch im für Hacker, da hineinzugehen. Und wer hinterlassen. Da können wir uns weh- Sicherheitsbereich Chancen, durch Da- hindert eigentlich den Staat, das zu ma- ren mit Phantasiedaten, wir können uns tenverarbeitung Kriminalität zu be- chen, wenn er die Notwendigkeit sieht? Ich bin sehr skeptisch. Ich gehe da- reduzieren auf das absolut Nötigste. kämpfen, wie das letzte Ereignis gezeigt von aus, dass eine Information, die ein- Aber im Grunde bleibt das Problem, hat, der zu Ermittlungen in Düsseldorf III. mal im Netz war, im Grunde daraus dass wir mit einer Technologie konfron- und in Nordrhein-Westfalen geführt hat, nicht mehr verschwindet. Es gibt Ver- tiert sind, die wir überhaupt nicht be- aber die Balance zwischen Sicherheit Die Menschenwürde möchte ich an- schlüsselungstechnologien, es gibt herrschen, mit der wir noch nicht rich- und Freiheit darf sich nicht zu Lasten sprechen, bevor ich dann zu dem The- Schutzmechanismen, aber gehen Sie tig umgehen. Ich meine nicht nur die der Freiheit verändern. ma komme, das mir im Kernbereich ge- bitte nicht mit Sicherheit davon aus, Facebook-Nutzer, sondern wir alle. stellt ist. Die Menschenwürde ist nach dass irgendetwas vergessen wird. Der Ich stehe fassungslos vor der Tatsa- unserem Grundgesetz, das wurde schon Mensch lebt mit der Gnade des Verges- che, dass es zwar eine Enquete-Kom- erwähnt, unantastbar. Das ist eine sehr sens. Wir können vergessen; das ist mission des Deutschen Bundestags gibt, Es ist die große Versuchung, weitreichende Festlegung des Grundge- ein Lebenselement. Das Netz vergisst aber die Bundesregierung überhaupt den Datenhunger zu befrie- setzes. In keiner europäischen Verfas- nichts, und eines Tages wird uns vorge- keine Anstalten macht, hier etwas zu sung ist das sittliche Prinzip der Men- halten, was wir gemacht haben oder unternehmen. Die Enquete-Kommis- digen. Die Tendenz wird zu- schenwürde so ausgeprägt wie bei uns, was wir gedacht haben. sion hat einen eher schwachen Bericht nehmen. Ich gehe mit mei- auch nicht in den Lissabon- und sonsti- verfasst. Auch zur Medienkompetenz ist gen europäischen Grundrechten. Das IV. bisher nicht viel gesagt. Da gibt es eine ner Lebenserfahrung davon Menschenbild des Grundgesetzes ist ge- eigene Arbeitsgruppe. Ich möchte mal aus, dass alles, was tech- prägt von der Absage an die Barbarei. Wir brauchen also einen verbesserten sehen, was da im nächsten Jahr wirklich nisch möglich ist, irgendwo Sie haben die Absage an die Barbarei Datenschutz. Das ist auch ein Schutz herauskommt, und ich bin doch einiger- zitiert, Frau Tinnefeld, in der allgemei- derjenigen, die das Netz benutzen. Aber maßen enttäuscht über die bisherigen mal versucht wird. nen Erklärung der Menschenrechte. wir brauchen vor allem eine digitale Ergebnisse dieser Enquete-Kommission, Unsere Verfassungsväter und -mütter, Mündigkeit im Netz. Das ist ja hier viel- auch wenn uns ein wirklich substantiel- 61 Männer und 4 Frauen, haben gesagt, fach angesprochen worden. Wir müssen ler Zwischenbericht angekündigt ist. Es ist die große Versuchung, den Da- wir wollen eine Zäsur haben. Es gibt also auch unsere jungen Menschen be- Ich schließe mit einem Zitat eines tenhunger zu befriedigen. Die Tendenz Rechte des Menschen, über die auch fähigen, mit dem Netz umzugehen. Es Mannes, der um 1670 in einem politi- wird zunehmen. Ich gehe mit meiner der Staat nicht verfügen darf, und das wird niemand an ein Steuer eines Autos schen Traktat gesagt hat – ich meine Lebenserfahrung davon aus, dass alles, ist das Prinzip der Menschenwürde, das gelassen ohne Führerschein. Wo gibt es den niederländischen Philosophen Ba- was technisch möglich ist, irgendwo unabwägbar ist. Auf diesem Prinzip ruht etwas Vergleichbares wie einen Daten- ruch Spinoza: „Der Zweck des Staates mal versucht wird. Das heißt also, wer die ganze Verfassungsordnung, und es führerschein – auch wenn das Wort ist in Wahrheit die Freiheit“. Daran hindert eigentlich die Sicherheitsbehör- gilt absolut. irreführend ist? Wir sollten die Men- müssen wir uns halten, meine Damen den, die Daten aufzunehmen, die wir Grundrechte können Sie abwägen, schen mündiger machen für den Um- und Herren. Wir müssen unser Grund- auf der Autobahn hinterlassen? Das ge- können Sie in Relation stellen zu ande- gang mit dem Internet. gesetz leben, auch im Netz. Nur da- schieht ja schon mit Lastkraftwagen. ren Grundrechten, können Werteent- Digitale Mündigkeit bedeutet, dass durch halten wir es lebendig. Nur da- Das Auto ist ein informationelles Sys - scheidungen treffen. Das Prinzip der wir auch gegen diesen Netz-Exhibitio- durch bewahren wir das Erbe einer tem; wir geben da mit GPS (Global Po- Menschenwürde ist nicht abwägbar. nismus kämpfen müssen. Das ist ja eine wunderbaren Verfassung, die zum ers- sitioning System) dauernd Signale, die Der frühere Verfassungsrichter Grimm ganz neue Form der Senkung der ten Mal in der Geschichte unseres Lan- gespeichert werden: ein wunderbares sagt, dass nach unserer Verfassungsord- Schamgrenze, die wir erleben. Ich mei- des wirklich die Freiheit zu garantieren Feld für die Sicherheitsbehörden. Glau- nung die Eingriffe, wie sie die Amerika- ne, dass wir da in einer schwierigen versucht, und dabei bisher durchaus er- ben Sie doch bloß nicht, dass CIA und ner beispielsweise machen, indem sie Grenzsituation sind. Einerseits möchten folgreich war. „ andere amerikanische Geheimdienste ihre terroristischen Gegner einfach ver- wir die Möglichkeiten des Netzes nut- nicht Facebook durchforsten. Das ma- nichten, nach unserem Grundgesetz zen, andererseits sehen wir, dass damit chen sie sicher; das geht ganz schnell. selbst mit einer Grundgesetzänderung Gefahren verbunden sind. Wenn in 10 Nach bestimmten Kernbegriffen wird überhaupt nicht möglich wären. Diese oder 20 Jahren einmal alle Informatio- das gesamte Netz durchsucht. Daten- strenge Bindung an die Menschenwürde nen über Sie zusammengeführt werden, hunger also im Interesse des Staates, ist das Kennzeichen unseres Grundge- werden Sie sich wundern, was da an überbordendes Interesse, das immer setzes, und das bringt uns auch in Kon- Extrakt aus Ihrem Leben herausgezo- wieder begrenzt werden muss. flikt mit der Europäischen Union. Na- gen wird, und wer weiß, wer das eines Der Datenhunger bei den Privaten – türlich hätte das Gericht am liebsten die Tages nutzt. Ich dramatisiere vielleicht das ist auch schon angeklungen – ist Vorratsdatenspeicherung beendet, aber ein bisschen, aber ich bin beeindruckt, durch Gewinninteresse motiviert. Sie fi- sie hatten Furcht, damit in einen Kon- was in den letzten 20 Jahren passiert ist. nanzieren sich mit unseren Daten, sie flikt mit der Europäischen Union zu tre- Es sind 20 Jahre vergangen, seitdem das verkaufen unsere Daten, sie verwerten ten. Sie haben deshalb ein Urteil vorge- Internet eingeführt wurde. Twitter gibt unsere Daten. Wir sind Datengeber; wir legt, das im Grunde alle Bedenken, alle es seit fünf Jahren, und es wird jetzt zahlen mit Daten, wenn wir diese Netze Gefahren aufzeigt, und dann haben sie millionenfach genutzt. Es ist eine Bewe- benutzen. Diese Datensammelwut ist eine kleine Tür dafür gelassen, dass eine gung, die sich dynamisch entwickelt, sehr besorgniserregend. Was heißt jetzt gesetzliche Neuregelung doch noch bei der wir nicht Zuschauer sein dürfen. informationelle Selbstbestimmung, möglich ist. Diese Orientierung an der Wir müssen eingreifen. wenn wir gar nicht mehr wissen, welche Menschenwürde ist also eine der In dem sehr guten, gerade erschiene- Spuren wir hinterlassen? Deshalb wäre Grundlagen für viele Entscheidungen nen Buch von Constanze Kurz und es ja vernünftig, wenn Auskunftspflich- des Bundesverfassungsgerichts. Frank Rieger „Die Datenfresser“ steht: ten verbindlich werden würden. Das Dann noch das andere, das Sie er- „Mündigkeit ist die Befähigung zum wäre so ein Punkt für eine Datenschutz- wähnt haben: Wir müssen uns frei füh- selbstständigen, eigenverantwortlichen novellierung. Der Bundesbeauftragte für len als Bürger, wir dürfen uns nicht be- Handeln. Die Änderung der Spielregeln, den Datenschutz hat auch in Ihrem obachtet fühlen. Die Demokratie lebt Gepflogenheiten und Mechanismen des

36 zur debatte 5/2011 auch das diskutieren wir nicht mehr; greift viel zu kurz und ist ganz weit weg Medienkompetenz und Jugendschutz das scheint im Moment „gegessen“. vom Kind. Weil es vor allem im Internet Das Missbrauchspotenzial solcher Angebote gibt, die Kinder und Jugend- Wolf-Dieter Ring Datenerfassungen ist für mich ein ganz liche, so medienkompetent sie auch im- grundsätzliches Problem, vor allem mer sein mögen, nicht verkraften kön- wenn in naher Zukunft die Möglichkeit nen, sollen und müssen: etwa gewalt- bestehen soll – wie Medienberichten verharmlosende und -verherrlichende, derzeit zu entnehmen ist – dass dies mit politisch extremistische und pornografi- einer automatischen Gesichtserkennung sche Inhalte. Wer es wirklich für sinn- kombiniert werden kann. Da sind wir voll hält, dass Kinder und Jugendliche dann sehr schnell bei Fragestellungen in durch die Konfrontation mit solchen In- Richtung: Persönlichkeitsprofile anferti- halten Medienkompetenz einüben, Das Thema dieser Veranstaltung gen; die Frage, wie man inzwischen mit „Privatheitsschutz im Internet als Bil- dem Handy nachverfolgen kann, wenn dungsaufgabe“ ist ausgesprochen span- jemand unterwegs ist, wie lange er sich Was uns in der Bayerischen nend und wichtig, auch angesichts des wo aufgehalten hat. Man muss sich nur dramatischen Veränderungsprozesses, vorstellen, was das bedeutet, wenn sol- Landeszentrale für neue den wir im Bereich der Medien erleben. che Daten in die falschen Hände kom- Medien immer sehr am Dieser Wandel ist, wie wir alle ja zu- men, und welchen Missbrauch man mit nehmend merken und spüren, von ganz solchen Daten treiben kann. Insoweit Herzen liegt und wo wir grundsätzlicher Bedeutung. fände ich es richtig und wichtig, dass sehr aktiv sind, ist das man den Schutz von Privatheit auch auf Enquete-Kommission des Deutschen diese Bereiche hin verstärkt diskutiert. Thema Medienpädagogik Bundestags: „Internet und digitale Uns allen sollte klar sein, dass wir und Medienkompetenz. Gesellschaft“: bunte Zusammenset- nicht so lässig und locker unsere per- zung für komplexe Problemthemen sönlichsten Bilder und Informationen ins Netz stellen sollten. Was das Ein- müsste als Erziehungsziel Abstumpfung Weil die Enquete-Kommission „Inter- stellen von Daten ins Internet eigentlich und Gefühllosigkeit propagieren. Das net und digitale Gesellschaft“ hier ange- bedeutet, sollten möglichst viele wissen ist eine Argumentation, die mich em- sprochen wurde, möchte ich einige und sich immer wieder bewusst machen pört. Und wie man dem Zwischenbe- Worte dazu sagen: – das läuft unter dem Stichwort „Das richt der Enquete-Kommission – hof- Seit Mai 2010 tagt die vom Deut- Internet vergisst nichts“. fentlich vor der Sommerpause – ent- schen Bundestag eingerichtete Enquete- nehmen wird, sind wir diesen Thesen Kommission „Internet und Digitale Ge- Medienpädagogik kann Jugendschutz hoffentlich ein Stück weit erfolgreich sellschaft“ in regelmäßigen Sitzungen. nicht ersetzen entgegen getreten. Ihr Auftrag ist es, möglichst bis Sommer Um Missverständnissen vorzubeu- 2012 in einem Abschlussbericht politi- Prof. Dr. Wolf-Dieter Ring, Präsident Noch eine abschließende Anmerkung gen: Selbstverständlich ist Medienkom- sche Handlungsempfehlungen zu erar- der Bayerischen Landeszentrale für zu dem ganzen Komplex: Was uns in petenz im Zeitalter des Internets wich- beiten, die der weiteren Verbesserung neue Medien (BLM), München der Bayerischen Landeszentrale für tiger denn je. Doch sie ist keine Alter- der Rahmenbedingungen der Informa- neue Medien immer sehr am Herzen native, sondern eine Ergänzung zum tionsgesellschaft in Deutschland dienen. liegt und wo wir sehr aktiv sind, ist das Jugendschutz. Nicht zuletzt, weil die Insgesamt sind es stattliche 42 vom Thema Medienpädagogik und Medien- Medienpädagogik auf alle Kinder und Bundestag vorgegebene komplexe Pro- Privatheit eine wesentliche Grundlage kompetenz. Natürlich ist es richtig und Jugendlichen, aber auch auf Erwach- blemthemen, die dafür nach dem Einset- in einer freien Gesellschaft ist und dass wichtig, und das gehört für mich zu un- sene und vor allem Erziehende, zielt. zungs auftrag des Bundestags – unabhän- sie Schutz verlangt. Mit der Vermittlung serem Bildungsauftrag, dass man Me- Der Jugendschutz dagegen hat an er- gig von und zusätzlich zu aktuellen dieser Werte und ihrer Bedeutung kann dienkompetenz vermittelt, dass man die ster Stelle ein Auge auf die Heranwach- Gesetzgebungsverfahren – von der man nicht früh genug anfangen. Bedeutung der Technik und deren Risi- senden, die nicht zu Hause beim Me- Enquete-Kommission untersucht wer- ken erkennt, die Gestaltungsmöglich- dienkonsum begleitet und unterstützt den sollen. Google Streetview, Videoüberwachung keiten und all das, was dazugehört. werden. Nötig ist eine intensive Koordi- Der Enquete-Kommission gehören 17 und andere Datenschutzprobleme Nur darf das nicht falsch verstanden nation und Kooperation beider Berei- Mitglieder des Deutschen Bundestages werden. So vertreten manche die These che. „ aller dort vertretenen politischen Par- Ich finde auch richtig, dass wir das – wie ich es auch in der Enquete-Kom- teien an. Außerdem wurden von den nicht nur in Richtung Staat einfordern, mission erlebt habe –, dass medien- einzelnen Fraktionen weitere 17 Perso- sondern in besonderer Weise auch von kompetente Kinder und Jugendliche nen als Sachverständige in die Enquete- der Wirtschaft. Auch dort merke ich sich selbst schützen könnten. Eine Ar- Kommission berufen – ich bin dabei der natürlich in der Enquete-Kommission, gumentationsweise, die man derzeit im einzige Sachverständige aus dem „klas- wie die Interessensgegensätze aufein- Zusammenhang mit der Diskussion sischen“ Medienbereich (sofern man anderprallen. Dass auch die Wirtschaft über den Jugendschutz im Internet häu- hierunter auch den Rundfunkbereich hier gefordert ist, ist völlig klar. Wenn fig hört. Doch diese Argumentation versteht) und der einzige Sachverstän- wir uns die aktuellen Fälle ansehen – dige aus Bayern. Google, Sony oder Microsofts Bing Die Meinung von Experten aus Wis- Maps – dann sind wir sehr schnell beim senschaft und Forschung wird hier also Thema Privatheit und Schutz persön- – anders als in den ständigen Ausschüs- licher Daten. Da möchte ich anmerken, sen des Bundestags – nicht nur bei spe- dass wir uns in dieser Gesellschaft auf ziellen Anhörungen eingeholt, die exter- die Probleme von Googles Streetview nen Sachverständigen sind vielmehr gestürzt haben, als ob der Untergang selbst Mitglieder der Enquete-Kommis- des Vaterlandes damit verbunden wäre. sion. Gemeinsam und gleichberechtigt Dass wir ganz andere Datenschutzpro- sollen sie mit den Abgeordneten die ih- bleme schon sehr lange haben, die nen übertragenen Themen bearbeiten. durch die zunehmenden technischen Die Zusammensetzung der Enquete Verknüpfungsmöglichkeiten entstanden ist also bunt gemischt: Alle politischen sind – und die durch den uninformier- Parteien des Bundestags sind vertreten ten und sorglosen Umgang mit eigenen und viele Meinungen, entsprechend gibt persönlichen Informationen insbeson- es kontroverse Diskussionen zu allen dere in den sozialen Netzwerken noch Fragen, auch zu Fragen des Datenschut- verstärkt werden – ist zeitweise ein biss- zes, auch zu Fragen des Jugendschutzes, chen zu kurz gekommen. zum Beispiel in der Projektgruppe Me- Ich gehöre zu denjenigen, die die To- dienkompetenz, der ich angehöre. In talüberwachung mit Videokameras in dieser Projektgruppe sind wir inhaltlich diesem Lande kritisch sehen. Das ist an sehr weit, auch wenn es umstrittene vielen schleichend vorbeigegangen. An Themen gibt. Gestritten wird beispiels- mir nicht; aber es hat nichts genützt, es weise über die Frage, ob im Internet al- zu kritisieren. Sie haben mittlerweile an les ungeregelt und frei zugänglich sein allen möglichen Plätzen – und es nimmt soll. Alles, was geregelt wird, gilt bei ei- ständig zu – eine ständige Erfassung von nigen sehr schnell als Zensur, und dann Verhaltensweisen durch Videokameras, sind wir schon mitten im heutigen The- mit dem Hinweis, man würde damit ma. Der Schutz der Privatheit im Inter- Verbrechen vermeiden können. Sie ha- net – das sehe ich in besonderer Weise ben damit eine Datensammlung in einer mit Blick auf Kinder und Jugendliche – Form, die man zumindest einmal kri- Einen weiten Erfahrungshorizont bringt seiner Ansicht nach nicht trauen wür- ist für uns alle wichtig. Konsens ist in- tisch hinterfragen muss. Das finde ich der ehemalige FDP-Minister Gerhart den, für einen wirksamen Datenschutz zwischen, dass wir uns ständig weiter- noch problematischer als einen Wagen, Rudolf Baum mit. Er kritisierte die po- zu sorgen. bilden müssen und mit diesen Fragestel- der im Auftrag von Microsoft herum- litisch Verantwortlichen scharf, die sich lungen auseinandersetzen müssen, dass fährt und Häuserfassaden abfilmt. Aber

5/2011 zur debatte 37 oder mit der sozialwissenschaftlichen Glückserzeugend kann offensichtlich Vorstellung eines komplexen innerwelt- nur ein Ehrenamt sein, das dem Gesetz lichen Zustands, in dem das Individuum der Balance entspricht, auf dem Schema „ein dauerndes Gleichgewicht oder gar von Hingabe und Äquivalent beruht. Mitglieder- den Einklang zwischen seinen gesell- Hingabe ohne Äquivalent ist einseitig schaftlichen Aufgaben, zwischen den ge- und kann als glücksverhindernd, ja als samten Anforderungen seiner sozialen unglückserzeugend erlebt werden. Existenz auf der einen Seite und seinen versammlung persönlichen Neigungen auf der anderen 2. Formen ehrenamtlichen Seite gefunden hat“ (Norbert Elias). Engagements Dementsprechend ist das Panorama der KEB Bayern der Quellen des Glücks nicht unend- 2.1 Schauen wir einmal auf einige lich, und diese sind auch nicht gleich Formen ehrenamtlichen Engagements: verteilt. Auf die Frage, was man glaube, Wer „Helfen“ definiert als einen Beitrag „was Menschen glücklich macht“, sagen zur Bedürfnisbefriedigung eines ande- mehr als die Hälfte des (2006) vom In- ren Menschen (Niklas Luhmann), der stitut für Demoskopie Allensbach Be- hat zweifelsfrei einen einseitigen Begriff fragten: viele Freunde (48%), Erfolg im der Hilfe. Zwar wird in einer solchen Zur Mitgliederversammlung 2011 der des abendlichen Festvortrags von Beruf (55%), einen Beruf zu haben, in Definition Hilfe als soziale Beziehung Katholischen Erwachsenenbildung Professor Michael Ebertz aus Freiburg. dem man aufgeht, der einem Freude gedacht, also A hilft B, aber eben als Bayern (KEB) trafen sich die Vertreter Aus Anlass des Europäischen Jahres macht (64%). Knapp und mehr als zwei eine einseitige, asymmetrische soziale der 127 Verbände am 3. und 4. Juni des Ehrenamtes sieht die KEB Bayern Drittel sehen Quellen des Glücks darin, Beziehung. Es ist der Typus der Hilfe dieses Jahres in München. Ein beson- in diesem Jahr das Nachdenken über Kinder zu haben (63%), Menschen, die als Geschenk, könnte man sagen, der derer Programmpunkt der Versamm- die Bedeutung ehrenamtlichen En- einen lieben (75%), in einer Familie eine einfache Form des „Besitzwech- lung war diesmal die Auszeichnung gagements als einen Schwerpunkt (75%), in einer glücklichen Ehe oder sels“ (Georg Simmel) darstellt. Eine an- von drei herausragenden Bildungsver- ihrer Arbeit an. „zur debatte“ doku- Partnerschaft (79%), also im privaten dere, primitivere Form des Besitzwech- anstaltungen mit je einem „best prac- mentiert im Anschluss den überarbei- Leben. Auch, eine Aufgabe im Leben zu sels ist übrigens – so Georg Simmel – tice Preis“ (siehe Kasten). Vom Glück teten Vortrag von Professor Ebertz. haben, einen Lebenssinn zu haben der Raub, aber den blende ich im Fol- des Ehrenamtes war dann der Titel (68%), wird als Glücksquelle gesehen, genden aus, obwohl eine Hingabe ohne und natürlich die diesseitige Mutter Gegenleistung, ohne Äquivalent, dann, aller Glücksquellen, die Gesundheit wenn diese Hingabe nicht als Geschenk (88%). gedacht war, dem Raub durchaus nahe- Wenn man schaut, welche Quellen kommt. des Glücks in den Antworten etwas we- Der positive Typus der einseitigen niger besetzt sind, dann sieht man, dass Hilfe, den ich auch die direkt schenken- weniger als die Hälfte der Befragten als de Hilfe nennen möchte, lässt sich viel- Glücksquelle Glaube bzw. religiöse leicht am besten an der Szene des heili- Vom Glück des Ehrenamts Überzeugung (29%), viel Geld haben gen Martin veranschaulichen, dessen (41%), ein schönes Hobby haben (43%) Namenstag wir ja gern feiern und die Michael N. Ebertz und – und das lässt uns jetzt schon auf- Kinder traditionell mit Laternenumzü- horchen – Gutes tun, anderen helfen gen begehen. Martin schenkt dem Bett- (42%) nennen. Immerhin sind es 42 %, ler einen Teil des Mantels, also A hilft die so etwas nach den neuesten demos- B. Das heißt, A gibt B, aber B nicht A. kopischen Befragungen aussagen. Er- Wer hilft, gibt, ohne zu nehmen, und staunlich ist, dass vier von fünf Befrag- der Empfangende, B, der Bettler, ten in Deutschland zumindest über nimmt, ohne zu geben. einige kräftig sprudelnde Quellen des Glücks zu verfügen scheinen, denn die 2.2 Denken lässt sich zweitens auch Wer vom Glück des Ehrenamts redet, deutliche Mehrheit der deutschen Be- eine indirekt schenkende Hilfe, wenn kennt auch das Anti-Ehrenamts-Ge- völkerung sagt, dass sie bis jetzt in ih- etwa Martin einen Stellvertreter zum dicht, das vielfach Wilhelm Busch und, rem Leben viel Glück (78%) bzw. im Bettler schicken und schenken lässt. in einer abgewandelten Version davon, großen und ganzen Glück gehabt (61%) Unsere übliche Praxis des Spendens Joachim Ringelnatz zugeschrieben wird, hat. Wir sind offensichtlich doch ein kommt diesem Typus sehr nahe, ließe ohne dass man um den wahren Autor recht glückliches Völkchen hier. sich aber auch nochmals differenzieren. weiß: Auf die Frage, in welchen Situationen man schon einmal Glück empfunden 2.3 Im religiösen, etwa im christ- „Willst du froh und glücklich leben, habe, kommt übrigens – nach vielen lichen Kontext wird das ausbleibende lass kein Ehrenamt dir geben. privaten und intimen Glückssituatio- Nehmen, das A unterlässt, bzw. das aus- Willst du nicht zu früh ins Grab, nen, wie Verliebt-Sein, im Urlaub, Zu- bleibende Geben, das B unterlässt, ge- lehne jedes Amt gleich ab.“ sammensein mit Freunden, wenn mir wissermaßen durch den himmlischen etwas Schwieriges gelingt, Zusammen- Lohn ersetzt, der postmortal erfolgt: das Dagegen steht der häufig in Poesie- sein mit dem Partner, nach einer be- ewige Leben. Hier haben wir eine dritte alben zu lesende Volksweisheitsspruch: standenen Prüfung, nach der Geburt ei- Form helfenden Engagements. Das nes Kindes, beim Sex – an neunter Stel- Gleichnis vom barmherzigen Samariter „Willst du glücklich sein im Leben, le die Antwort: „Als ich gelobt wurde, (Lk 10, 29-37) wurde bekanntlich re- trage bei zu andrer Glück, Anerkennung gefunden habe“. Auch daktionell von Lukas mit der einleiten- denn die Freude, die wir geben, dieses Ergebnis des Instituts für Demos - den Frage verbunden: „Lehrer, was kehrt ins eigne Herz zurück.“ kopie Allensbach sollte uns aufhorchen muss ich getan haben, um ein ewiges lassen. Liest man nämlich auf diesem Leben zu erben?“.In Matthäus 25, 31–46, Hier ist zwar nicht direkt vom Eh- Hintergrund der ganz gewöhnlichen wo das Endgericht visioniert wird, wird renamt die Rede, aber davon, dass viele Glückserwartungen das Wilhelm Busch ebenfalls für karitatives Geben die Leis - glauben, durch ihr freiwilliges Tun zugeschriebene Gedicht weiter, dann tung des ewigen Lebens versprochen. Glück zu bewirken, und zwar bei ande- Prof. DDr. Michael N. Ebertz, Professor wird einem klar, weshalb der volkstüm- Muten wir uns das Endgericht kurz ein- ren wie bei sich selbst. Ehrenamt wäre für Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege liche Dichter das ehrenamtliche Enga- mal zu: also ein Austausch von Glück nach dem und kirchliche Sozialarbeit an der gement eher mit Unglück als mit Glück Motto: Glück ich dir, glückst du mir. Katholischen Hochschule Freiburg/Br. assoziiert; heißt es doch in der zweiten „Wenn aber der Menschensohn kom- Wer auch immer Recht hat, der volks- Strophe: men wird in seiner Herrlichkeit und alle tümliche Dichter oder die dichterische Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf Volksweisheit, beide bringen irgendwie außergewöhnlichen, sozusagen super- „Wieviel Mühen, Sorgen, Plagen, dem Thron seiner Herrlichkeit. Und alle das Thema Glück ins Spiel, wenn es um lativistischen Augenblickszustand, ein wieviel Ärger musst du tragen, Völker werden vor ihm versammelt die freiwillige Tat geht. Spitzenerlebnis, bezeichnen, aber das gibst viel Geld aus, opferst Zeit, werden, und er wird sie voneinander gewöhnliche Glück, wie es auch demos- und der Lohn: Undankbarkeit!“ scheiden wie ein Hirte die Schafen von 1. Glück oder Unglück kopisch erhoben wird, meint doch die den Böcken scheidet, und wird die zeitlich tendenziell dauerhafte Erfül- Ehrenamtliches Engagement kann Schafe zu seiner Rechten stellen und Klären wir zunächst einmal, was sich lung, und zwar von Wünschen, vor al- offensichtlich eine Glücksbremse oder die Böcke zur Linken. unter Glück verstehen lässt, um dann lem an Prestige und Geltung, an Ge- ein Glücksgas sein, je nachdem mit wel- Da wird dann der König sagen zu de- der Frage nachzugehen, wie es um das sundheit, an zwischenmenschlichen Be- chen weiteren Erfahrungen, mit welchen nen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Glück des Ehrenamts bestellt sein mag. ziehungen, an materiellem Wohlstand, weiteren Entlohnungen oder Gegenleis- Gesegneten meines Vaters, ererbt das Auch wenn häufig die Pluralisierung aber auch an immateriellen Zuständen. tungen es verbunden ist. Sind diese Reich, das euch bereitet ist von Anbe- und Sinnentleerung des Glücksbegriffs Dieses Moment der zeitlichen Dauer, Gegenleistungen negativ – das Gedicht ginn der Welt! Denn ich bin hungrig ge- beklagt wird, weil er nichts Objektivier- und möglicherweise nur dieses, teilt der spricht hier von Undankbarkeit –, sind wesen und ihr habt mir zu essen gege- bares mehr enthalte, zeigt sich doch, alltagsweltliche Glücksbegriff durchaus dementsprechend auch die Erfahrungen ben. Ich bin durstig gewesen und ihr dass die gesellschaftlich gängigen Be- mit der christlichen Heilsvorstellung, des Ehrenamts negativ. Sie werden habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein deutungen von Glück nicht beliebig va- dass wahres Glück nur bei Gott, in der dann als einseitig empfunden, obwohl Fremder gewesen und ihr habt mich gabundieren. Freilich kann Glück einen Ruhe Gottes (Augustinus) zu finden ist, sie als zweiseitig erwartet werden. aufgenommen. Ich bin nackt gewesen

38 zur debatte 5/2011 und ihr habt mich gekleidet. Ich bin wird ja heute in der Verkündigung unse- Nacht „in tiefem Schlafe […] Christus 2.4 Viertes Beispiel: Im beruflichen krank gewesen und ihr habt mich be- rer Kirche gern ausgelassen, seit den mit seinem halben Soldatenmantel be- Kontext wird die Gabe zum Beispiel des sucht. Ich bin im Gefängnis gewesen 1950er Jahren ungefähr. Ich weiß, wo- kleidet, den er dem Armen gegeben hat- hauptamtlichen Sozialarbeiters oder Er- und ihr seid zu mir gekommen. von ich rede; habe ich doch meine theo- te“. Also A gibt, ohne direkt – von B – wachsenenbildners, nennen wir ihn Dann werden ihm die Gerechten ant- logische Doktorarbeit über den Wandel zu nehmen; B nimmt, ohne direkt von wieder A, durch einen generalisierten worten und sagen: Herr, wann haben der eschatologischen Vorstellungen in A zu geben, weil beide glauben – glau- Lohn, den er erhält, gegenbalanciert. wir dich hungrig gesehen und dir zu es- der Verkündigung von 1860 bis in die ben sollen –, dass ein Dritter im Spiel A hilft also B; der, der hilft, nimmt sen gegeben, oder durstig und haben dir Gegenwart geschrieben. Spannend, was ist, der stellvertretend die Gegenbalan- nichts von B, erhält aber einmal im Mo- zu trinken gegeben? Wann haben wir sich da alles geändert hat. Das ganze cierung, die Gegengabe, den Tausch, nat sein Geldeinkommen. Und B dich als Fremden gesehen und haben Jenseits hat sich verändert, aber das ist garantiert. Dieser Dritte, C, sorgt dafür, braucht A keine Gegenleistung zu ge- dich aufgenommen, oder nackt und ha- ein anderes Thema; sogar unser Gott dass A geben kann, ohne nehmen zu ben. Wir können also sagen: Wer hilft, ben dich gekleidet? Wann haben wir hat sich verändert; aber auch das ist ein müssen, und B nehmen kann, ohne ge- gibt, ohne direkt vom Hilfsbedürftigen dich krank oder im Gefängnis gesehen anderes Thema (vgl. Michael N. Ebertz, ben zu müssen. Es bleibt in dem bibli- zu nehmen, und wem geholfen wird, und sind zu dir gekommen? Und der Die Zivilisierung Gottes). schen Beispiel bei einer einseitigen Hil- nimmt eine Hilfe in Anspruch, ohne ge- König wird antworten und zu ihnen sa- Zurück zum Glück des Ehrenamts! A fe zwischen A und B, die freilich durch ben zu müssen. Ein Dritter, in der Regel gen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr hilft also B und erhält etwas von einem einen Dritten gegenbalanciert wird und der staatliche, quasi-staatliche oder getan habt einem von diesen meinen Dritten, C. Der, der hilft, also A, nimmt von daher nicht mehr schenkende, auch kirchliche Arbeitgeber, schiebt geringsten Brüdern, das habt ihr mir ge- nichts von B, erhält aber stattdessen et- sondern vielleicht indirekt tauschende sich gleichsam als C dazwischen und tan. was bei der Endabrechnung, die ihm Hilfe genannt werden kann. vertritt oder ersetzt das Nehmen von A Dann wird er auch sagen zu denen versprochen wird. Oder umgekehrt ge- Aber hier wird schon etwas deutlich, und das Geben von B, obwohl der sei- zur Linken, geht weg von mir, ihr Ver- sagt: Die ausbleibende Antwort der Ar- worauf ich hinauswill. Es bestätigt sich nerseits direkt genommen, aber eben di- fluchten, in das ewige Feuer, das berei- men auf die Gabe der Jünger wird er- bereits der Satz des Klassikers der So- rekt nichts gegeben hat. Wichtig bei die- tet ist dem Teufel und seinen Engeln: setzt durch eine Gegengabe durch den ziologie, in dem Fall nicht Max Weber, sem Unterfall des einseitigen Helfens ist Denn ich bin hungrig gewesen und ihr Dritten. Die entscheidende Vorausset- sondern Georg Simmel, dass „aller Ver- und bleibt: A gibt B, und A empfängt habt mir nicht zu essen gegeben …“. zung, die hier in der Vision vom Endge- kehr der Menschen […] auf dem Sche- Lohn, aber nicht von B, der vielmehr richt bezüglich des helfenden Handelns ma von Hingabe und Äquivalent“ be- nimmt, ohne zu geben. Die Balance In dieser Vision vom Weltgericht, das gemacht wird, ist freilich, dass Jesus ruht, also der Balancierung von Geben scheint geschädigt. Beschädigt ist zwar – man muss es immer wieder betonen – selbst als Stellvertreter von B dargestellt und Nehmen, von Nehmen und Geben nicht die Balance von Leistung und kein klerikales, kein priesterlich-liturgi- wird: der Armen, der Hungernden, der bedarf. Im religiösen Kontext erzwingt Gegenleistung von und für A, denn A sches, sondern ein Caritas-Gericht ist, Dürstenden, der Heimatlosen, Kranken, der Glaube an die Stellvertretung der hat ja gegeben und genommen, wenn wird die Gabe der Jünger gegenüber den Nackten, der Knastis. „So wie ihr einem Armen durch Jesus und an den Ersatz auch nicht von B. Beschädigt ist viel- Armen gegenbalanciert durch das ewige dieser meiner geringsten Brüder getan der Gegenleistung durch das religiös mehr die Balance von Leistung und Leben, und die ausbleibende Gabe, das habt, habt ihr mir getan“ (Lk 25,40); höchste Gut, das ewige Leben, das – so Gegenleistung von und für B, denn B ausbleibende Äquivalent wird gegenbal- denn ich hungerte und ihr gabt mir zu Georg Simmel wörtlich – „Hin- und hat genommen, aber nicht gegeben, anciert durch die ewige Bestrafung im essen“ usw. (Lk 25, 35f). Hergehen von Leistung und Gegenleis - vielleicht nicht einmal Dankeschön ewigen Feuer. Diese Passage habe ich Auch der heilige Martin übrigens, so tung und sorgt für diese Wechselwir- gesagt. gerade nicht mehr weiter vorgelesen, sagt die Legende weiter, sah nach voll- kung, ohne die es keine soziale Balance und dieser Aspekt des ewigen Lebens brachter helfender Tat in der folgenden und [keinen] Zusammenhalt gibt“.

„best practice Preis“

Die Katholische Erwachsenenbildung Schmid, der Vorsitzende des Landes- Dr. Claudia Pfrang, die Geschäftsführe- Auszeichnung nach München gekom- Bayern (KEB) hat drei besondere Ver- komitees der Katholiken in Bayern. rin, nahmen die Ehrung und den men. anstaltungen aus dem umfangreichen Überreicht wurden die Schecks von Scheck entgegen. Eine Veranstaltungsreihe des KAB- Programm ihrer insgesamt 127 Mit- Dr. Florian Schuller, dem Vorsitzenden Ausgezeichnet wurde ebenfalls das Bildungswerks Regensburg zum „Bedin- gliedsverbände ausgewählt und mit ei- der KEB Bayern, und Dr. Albert KAB-Bildungswerk Augsburg für seine gungslosen Grundeinkommen“ wurde nem „best practice Preis“ von je 2000 Schmid. Veranstaltung mit dem Titel „Sozialtag ebenfalls besonders gewürdigt. Stellver- Euro prämiert. Die Veranstaltungen be- Für seine Veranstaltung „Jugend- der katholischen Verbände“. Kai Kaiser, tretend für die Einrichtung nahmen fassten sich im Rahmen der Sozialethi- armut – (k)ein Thema?!“ wurde das KAB-Sekretär des Kreisverbands Mem- Markus Nickl, der Diözesansekretär der schen Offensive der KEB mit der Zu- Kreisbildungswerk Ebersberg ausge- mingen-Unterallgäu, und Sylvia Nerf- KAB Regensburg, und Agnes Kerscher, kunft des Sozialstaats. Die Laudatio auf zeichnet. Die Erste Vorsitzende des Kreitschy, Geschäftsführerin des KAB die Diözesanschriftführerin, Scheck und die Ausgezeichneten hielt Dr. Albert Bildungswerks, Jutta Sirotek, und Bildungswerks Augsburg, waren für die Auszeichnung entgegen.

Dr. Florian Schuller (li.) und Dr. Albert Schmid (re.) freuen sich mit den Vertre- terinnen und Vertretern der drei ausge- zeichneten Einrichtungen.

5/2011 zur debatte 39 Gleichwohl bleibt das Glück des „für die die Rechtsform nicht eintritt, bürgerschaftlichem Engagement), dann Soziales Kapital ist ein weiteres hauptberuflichen Sozialarbeiters oder wo das Äquivalent für die Hingabe stellt sich die Frage, worin – außer der Stichwort, das freilich nur selten in den Erwachsenenbildners gewahrt, ist doch nicht erzwungen werden kann“ (Georg Dankbarkeit – nicht-monetäre Gegen- Blick gerät. Es gibt ja bekanntlich Leu- ähnlich dem religiösen Beispiel an die Simmel). So ist Kaufen, wie wir gesehen leistungen bestehen können, die zur ba- te, die nicht singen können und den- Stelle des richtenden und vergeltenden haben, auch nicht einfach identisch mit lancierenden Glückserfahrung des Eh- noch in den Männer-Gesangverein ge- Gottes der Arbeitgeber getreten, mit Tauschen, und nicht einfach nur eine renamts beizutragen vermögen, zumal hen, weil sie dort, zumindest nach der dem entscheidenden Unterschied, dass Variante des Hin und Her, des Gebens dann, wenn für die ehrenamtlich Enga- Gesangsprobe, mit Honoratioren oder der hauptberufliche Sozialarbeiter oder und Nehmens. Tauschprozesse in einer gierten A die Adressaten ihres Engage- Experten in Kontakt und darüber bei- Erwachsenenbildner auf die Gegenleis - Gesellschaft, Gabe und Gegengabe, ge- ments selbst nicht für das notwendige spielsweise zu nützlichen Informatio- tung für seine Arbeit nicht bis zum schehen häufig auch ohne Rechtsform Äquivalent sorgen können, also zum nen kommen, ohne dafür ökonomi- Jüngsten Tag warten muss. Entschei- und ohne Geldtransfer, aber auch ohne Beispiel der Dank ausbleibt. Muss dann sches Kapital einsetzen zu müssen. dend ist außerdem, dass hier Geld, also Realtransfer. A hilft B, leistet also einen nicht ein C, wenn nicht Gott oder ein ökonomisches Kapital, ins Spiel kommt monetären oder einen Realtransfer, zum Arbeitgeber, dann eben ein anderes C, und nicht, wie im religiösen Beispiels- Beispiel in Gestalt einer personalen so- eine Organisation, an die Stelle von B fall, religiöses Kapital. Ich nenne diesen zialen Dienstleistung, ohne dass B diese treten? Was sind das für andere Formen Eine andere Form der Typus der Hilfe deshalb die indirekt durch Geld oder eine Kuh zurückerstat- nicht monetärer, nicht geldförmiger Ge - Gegenleistung liegt im kaufende oder bezahlte Hilfe. tet. Häufig hat B nur die Dankbarkeit, genleistungen, für die eine Organisation, die gewissermaßen zur „Stellvertreterin in deren Rahmen ja das ehrenamtliche Organisationsimage, aber 2.5 Ein fünftes Beispiel, eine fünfte des Rechts“ und des Geldes oder eben Engagement geschieht, sorgen kann? auch in den Organisations- Form lässt sich denken und wird prakti- der Kuh wird. Die Dankbarkeit ist, wie Ich will abschließend ein paar Stich- ziert, die man als den Typ der direkt Georg Simmel schreibt, „das subjektive worte nennen. Das erste Stichwort lau- werten und Organisations- kaufenden Hilfe bezeichnen kann. B Residuum des Aktes des Empfangens tet Zweckerfüllung. Das heißt, die Orga- zielen. geht auf den Markt und kauft bei A eine oder auch des Hingebens“. Und wir nisation bietet Zugang zu Aufgaben, Ware oder eine Dienstleistung, tauscht alle, die wir hier sitzen, glaube ich, wis- Leistungen und Gütern, mit denen et- sie also gegen Geld. A hilft B, und B sen und spüren, was dieses Wort mit was Erwünschtes bewirkt werden kann, Neben diesem sozialen Kapital kann gibt A Geld. Kommt Geld ins Spiel, den vier Buchstaben „Dank“ bedeutet. zu denen man aber ohne die Organisa- auch die Erfahrung von Gemeinschaft kann dies als nicht immer angemessen Wir wissen es dann am besten, wenn er tion keinen Zugang erhalten oder die und Geselligkeit. als Äquivalent meiner empfunden werden, weil Geld auch ausbleibt: „Nicht einmal ein Danke- man auch nur kollektiv, das heißt in ehrenamtlichen Gabe wirken. Voraus- eine symbolische Wirkung hat. So wer- schön wurde gesagt!“ Hier haben wir es Kooperation, produzieren kann. Das ist setzung hierfür ist freilich, dass eine Or- den etwa familiale Solidaritätsbeziehun- schon eine Gegenleistung. Zwar kann ganisation Gelegenheiten bietet, dass gen freigehalten, „rein“ gehalten – zu- ich ja zum Beispiel zu Hause in der Ba- über die Entwicklung von fachlichen Ar- mindest bei mir zu Hause – davon, dewanne meinen Tenor anwerfen und beitszusammenhängen und kollektiver Geld in die Tauschbeziehung zu schie- singen, aber ich kann nicht vierstimmig Produktentwicklung hinaus ein Wir-Ge- ben. Dann wird nämlich aus der Solida- singen, und die Badewanne ist zu klein, fühls entstehen und sich entfalten kann. ritätsbeziehung etwas anderes. Es ist et- um das irgendwie hinzukriegen. Also Auch die Ästhetik des Mobiliars, der was anderes, ob die Hilfeleistung eines nutze ich die Organisation des Männer- Gebäude- und Raumgestaltung kann als Kindes im Familienhaushalt mit Geld gesangsvereins, wo der Tenor ja noch Gegenleistung für ein ehrenamtliches entlohnt wird oder nicht. Prostitution die führende Stimme sein darf, um in Engagement dienen und eine wichtige übrigens gilt vielen auch deshalb als an- Kooperation mit anderen bei der Pro- Voraussetzung der dabei sich einstellen- stößig, weil in die intime sexuelle Kom- duktion von Schallereignissen ein kol- den Glücksgefühle sein. munikation Geld eingebaut wird, ein se- lektives Gut zu produzieren. Wenn das Ein letztes Stichwort will ich noch xueller Realtransfer gegen einen mone- gelingt, dann liegt bereits in der Zweck - für eine Gegenleistung nicht-monetärer tären Transfer erfolgt. Geld wird näm- erfüllung eine Gegenleistung, die ich al- Art dalassen: Gerade kirchliche Organi- lich in seiner symbolischen Kraft auch lein gar nicht erfahren könnte. sationen können einen spirituellen zu einem Zerstörer normativer Ord- Eine andere Form der Gegenleistung Mehrwert als Äquivalent ehrenamt- nung (Friedrich Fürstenberg), zum Aus- liegt im Organisationsimage, aber auch lichen Engagements entfalten. Hierzu druck qualitativ eben anderer Sozial- in den Organisationswerten und Orga- gehören Angebote geistlicher Beglei- beziehungen, zum Symbol der Auflö- nisationszielen. Voraussetzung ist natür- tung, gemeinschaftlicher Reflexion und sung und der Aufhebung von spezifi- lich, ich bin nicht ehrenamtlich bei der Meditation, um das ehrenamtliche En- schen Sozial- bzw. Solidaritätsbezie- Mafia tätig, sondern bei einer Organisa- gagement und sonstige Aspekte des Le- hungen. tion, die selbst nicht nur Bekanntheit, bens auch im Licht des Glaubens sehen Georg Simmel bringt noch einen an- sondern auch gesellschaftliche Wert- zu lernen, was ich vielleicht allein zu- deren Aspekt ins Spiel, wenn er schreibt, schätzung genießt, und Ziele hat, mit hause in meinem Kämmerlein auch dass beim Kauf betont wird, „dass der denen man sich identifizieren, an denen nicht so hinkriege. tatsächlich vor sich gehende Tausch Gerhard Müller, 1. Vorsitzender der man sich orientieren kann, und wo sich Für die Gegengabe der Gabe trägt zwei ganz heterogene Dinge betrifft, KEB Neu-Ulm, ließ sich von Professor das Engagement als sinnvolle Zeit erle- somit C, also die Organisation, das Ma- welche eben nur durch den gemeinsa- Ebertz’ Vortrag so anregen, dass er ihn ben lässt. Die Organisation bietet mir nagement der Organisation, die auf eh- men Geldwert zusammengehalten und mit leichter Feder trefflich portraitierte. dann einen Rahmen sinnvoller Zeitge- renamtliches Engagement baut, selbst vergleichbar werden. Also wenn eine staltung als Gegenleistung für mein Verantwortung oder zumindest Mitver- Handarbeit etwa in früheren Zeiten, wo Zeitopfer. antwortung. Das Glück des Ehrenamts, noch kein Metallgeld verbreitet war, mit Prestige ist ein drittes Stichwort. Die die Balancierung von Geben und Neh- einer Kuh oder Ziege erkauft wurde, so Voraussetzung ist, dass differenzierte men, liegt also weitgehend auch in der waren das völlig heterogene Dinge, die Positionen mit differenziertem Status Hand des Organisationsmanagements aber durch den gemeinsam in beiden vorgehalten werden und zu diesen Äm- und darf nicht einfach privatisiert, das steckenden ökonomischen, abstrakt-all- tern innerhalb der Organisation Zu- heißt in das Belieben des ehrenamtlich gemeinen Wert zusammengehalten und gangsmöglichkeiten bestehen. Das von Engagierten delegiert werden. Das tauschbar wurden. In der modernden mit einer direkt tauschenden Form der der Organisation vorgehaltene symboli- Glück des Ehrenamts mag ein riskantes Geldwirtschaft ist diese Heterogenität Hilfe zu tun, eine zweiseitige Hilfe, die sche Kapital der Ehre, des Prestiges, des Glück sein, immer auch Risiko, und auf den Gipfel getrieben. Denn das Geld nicht identisch ist mit der soeben ge- Status, wirkt dann – etwa über einen Gnade, es ist aber auch die Aufgabe der ist, weil es das Allgemeine in allen ver- nannten direkt kaufenden Hilfe. Wenn Statusaufstieg – wie ein Gewinn, wie Organisation, für günstige Bedingungen tauschbaren Gegenständen darstellt, also der Dank ausbleibt, ja, Undank- eine Gegenleistung des ehrenamtlichen des Glückens des Ehrenamts vorzusor- nicht im Stande, das Individuelle an ih- barkeit einsetzt, wie es das Wilhelm Engagements, die mir sonst verschlos- gen. Dies gilt schon für den Abholpro- nen auszudrücken; und daher kommt Busch zugeschriebene Gedicht treffend sen bleibt. zess, das heißt, wenn es um die Gewin- über die Gegenstände, insoweit sie als sagt, dann bleibt die ehrenamtliche Vor- Das vierte Stichwort wäre Kompe- nung von Ehrenamtlichen geht. Das gilt verkäuflich figurieren, ein Ton von De- leistung ohne Gegenleistung, sie gerät tenzentwicklung und Kompetenzsiche- für den Begleitungsprozess, das heißt, klassierung, von Herabsetzung des Indi- in eine Disbalance: „Das Hin- und Her- rung. Die Voraussetzung ist, dass die wenn es um die Einarbeitung in neue viduellen an ihnen auf das Allgemeine, gehen von Leistung und Gegenleistung“ ehrenamtlich Engagierten kontinuier- Felder des ehrenamtlichen Engage- das diesem Dinge mit allen anderen, ist gestört, „ohne die es“, nochmals lich angesprochen, begleitet, beraten ments geht. Dies gilt auch für den gleichfalls verkäuflichen, und vor allen Simmel, „keine soziale Balance und werden, vielleicht ein Coaching oder Nachhaltigkeitsprozess, wenn es also Dingen mit dem Gelde selbst gemein- [keinen] Zusammenhalt gibt“. Soll also Supervision und Aus- und Fortbildungs- darum geht, einen Engagement-Ein- sam ist.“ ehrenamtliches Geben glückserzeugend möglichkeiten durch Hauptamtliche er- bruch zu verhindern und die Kompe- Für unzählige Hingaben und Leistun- sein, braucht es die Erfahrung eines halten – bei entsprechendem Einsatz tenzen der Ehrenamtlichen zu schonen gen kann „das Äquivalent erzwungen Äquivalents. Das Glück des Ehrenamts von personellen und finanziellen und zu sichern. Ohne Gegenleistung, werden. Bei allen wirtschaftlichen Tau- liegt offensichtlich in der Balance-Er- Ressourcen. Ehrenamt ist für die Orga- das ist also meine Botschaft, kein Glück schen (sic!), die in Rechtsform gesche- fahrung von Geben und Nehmen. nisation nie kostenlos zu haben. des Ehrenamts! Deshalb sollte es im hen, bei allen fixierten Zusagen für eine Das nächste Stichwort lautet Partizi- Gedicht, wie ich meine, besser heißen: Leistung, bei allen Verpflichtungen aus 3. Geben und geben pation. Voraussetzung seiner Wirksam- einer rechtlich regulierten Beziehung – keit ist, dass ehrenamtlich Engagierte „Willst du froh und glücklich leben, erzwingt die Rechtsverfassung das Hin- Unterstellt, dass wir Einverständnis durch die Organisation Handlungsspiel- lass‘ ein Ehrenamt dir geben. und Hergehen von Leistung und Gegen- darin haben, dass ehrenamtliches Enga- räume, etwa der Partizipation, der Mit- Gibst manch‘ Geld aus, opferst Zeit, leistung“, so der Klassiker unseres gement eine freiwillige und nicht auf wirkung bei Entscheidungen, der Eigen- Glück kommt schon: mit Dankbar- Themas, Georg Simmel. monetäre Gegenleistung gerichtete Tä- verantwortung, der Selbstgestaltung, der keit.“ „ tigkeit, und zwar im Auftrag einer Orga- Ausdrucksmöglichkeit, d.h. auch eine 2.6 Nun bestehen aber unzählige Be- nisation, meint (so würde ich Ehrenamt Bühne der Selbstdarstellung erhalten, ziehungen – das ist mein sechster Fall –, definieren, auch im Unterschied zu die sie woanders nicht haben.

40 zur debatte 5/2011 Sommernacht der Künste

Finissage und Kammeroper

I. und Bob haben sich jedoch inzwischen ineinander verliebt. Sie flüchten und Bildende Kunst und eine Kammer- nehmen dabei die Habseligkeiten der oper: Das war die Mixtur, die in diesem alten Jungfer mit. Als Miss Todd zurück- Jahr die „Sommernacht der Künste“ kehrt und realisiert, was geschehen ist, den Besuchern bot. Rund 300 Gäste fällt sie in Ohnmacht. waren am Abend des 4. Juli 2011 in die Die Achterbahnfahrt der Gefühle Akademie gekommen, um zunächst die zwischen Hoffnung, Liebe und Enttäu- Finissage der Ausstellung „ausrichtung“ schung, gepaart mit wunderbarer Musik zu erleben. Junge Künstlerinnen und und viel Komik, kam beim Publikum Künstler, Studierende der Klasse Jete- gut an. Besonders die künstlerische lová der Akademie der Bildenden Küns - Darbietung der vier Sängerinnen und te in München, hatten unter diesem Sänger, Ensemblemitglieder des Augs- Motto rund zwei Monate ihre Arbeiten burger Theaters, und die musikalische im Kardinal Wendel Haus und im Park Begleitung am Flügel durch Samuele der Akademie gezeigt. Luigi Sgambaro, der auch die musikali- Drei der Künstler waren an diesem sche Leitung der Kammeroper hatte, Abend gekommen und stellten sich, be- fand einhellige Bewunderung. Großer gleitet von ihrer Professorin Magdalena Applaus verabschiedete die Künstler. Jetelová, den Fragen zu ihren Werken. Ein ausgezeichnetes Buffet, anregen- Die Finissage diente auch der Präsenta- de Gespräche im Park und die angeneh- tion eines Ausstellungskatalogs. Dieser men Temperaturen taten ein Übriges, Katalog mit schönen Farbfotografien damit auch die „Sommernacht der und aufschlussreichen Erläuterungen Künste 2011“ bei allen Mitwirkenden stellt auch die jungen Künstler vor. Er Gespräch über bildende Kunst: Prof. direktor Dr. Florian Schuller und die und Besuchern in guter Erinnerung ist für 5 Euro über die Katholische Aka- Magdalena Jetelová (2. v. li.), ihr Assis- drei Studierenden Julika Meyer, Susi bleibt. Wa demie zu erwerben. tent Carlos de Abreu (li.), Akademie- Gelb sowie Seung-Il Chung.

II.

Die Kammeroper „Die alte Jungfer und der Dieb“ von Gian Carlo Menotti (1911 bis 2007) war der zweite Pro- grammpunkt der Sommernacht. Diese groteske Oper in 14 Szenen, ist eine In- szenierung des Theaters Augsburg. Die Chefdramaturgin Katharina John stellte das Stück, das von Guillermo Amaya inszeniert wurde, zu Beginn vor und be- richtete auch über die Arbeit des Thea- ters in der schwäbischen Metropole. Gian Carlo Menotti, der Komponist, wurde mit nur 13 Jahren am Konserva- torium in Mailand aufgenommen. 1928 ging er in die USA, setzte dort seine Ausbildung fort und 1937 wurde seine erste Oper, „Amelia Goes To The Ball“, uraufgeführt, mit der er auch großen Er- folg beim Publikum hatte. Die Kam- Schön sein für Bob, in den sie sich ver- Miss Todd (sitzend) bekommt Besuch Katharina John ist die Chefdramaturgin meroper „The Old Maid And The Thief“ knallte: Die „alte Jungfer“ Miss Todd von Miss Pinkerton. Die beiden Damen des Theaters Augsburg. „Die alte Jung- entstand für das Radio, war eine Auf- lässt sich von Hausmädchen Laetitia aus der amerikanischen Kleinstadt woll- fer und der Dieb“ hieß das Stück, das tragsarbeit der Gesellschaft NBC – heu- „verjüngen“. Nützen tut es am Ende ten eigentlich über die Welt plaudern; Frau John und Mitglieder ihres Ensem- te eine der großen Broadcast-Networks nichts. doch dann platzt Bob in die Idylle. bles nach München mitbrachten. der USA – und wurde auch 1937 erst- mals gesendet. Der Inhalt des Stücks ist schnell er- zählt: Frau Todd, die „alte Jungfer‘, ist Vorsitzende mehrerer kleiner Wohltä- tigkeitsvereine und lebt gemeinsam mit ihrer Haushaltsgehilfin Laetitia in einer amerikanischen Kleinstadt. An einem verregneten Nachmittag lädt Frau Todd ihre Freundin Frau Pinkerton zum Kaf- fee, um über die aktuellen Geschehnisse der Welt zu plaudern. Mitten in die Kleinstadtidylle platzt ein Unbekannter mit Namen Bob. Von seinem Charme verzaubert verliebt sich die alte Jungfer in den jungen Mann und nimmt ihn bei sich auf. Und das, obwohl Frau Todd und Laetitia glauben, dass Bob der ge- suchte Dieb sein könnte, der vor Kur- zem aus dem Gefängnis entflohen ist. Frau Todd möchte den mittellosen Bob mit Geld beeindrucken und beginnt, aus den Kassen der Wohltätigkeitsvereine Geld verschwinden zu lassen. Bald stellt sich heraus, dass Bob nur ein Landstrei- cher und kein Verbrecher ist und dass Noch steht der Teddy zwischen den Lie- Am Ende holten sich die Künstler den Eggers, Sophia Christine Bommer er Miss Todds Liebe nicht erwidern benden. Doch schließlich werden Laeti- verdienten Applaus ab; Pianist Samuele (Sopran), Sara Hedgpath (Sopran) und wird. Sie beschließt zur Polizei zu ge- tia und Bob ein Paar. Luigi Sgambaro, Bariton Jan Friedrich Stephanie Hampl (Mezzosopran). hen, um die Schuld der Einbrüche auf ihn zu wälzen. Ihre Angestellte Laetitia

5/2011 zur debatte 41 Junge „Ich suche nicht – ich finde“ Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen Akademie und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden – das ist das völlig Neue!

(Pablo Picasso) „Kreativität – Ein Seminar für Entdecker“

Bereits zum dritten Mal fand in der („Aha!“) über Wortkettengebilde zum Jungen Akademie das Kreativitätssemi- Geschichtenerzählen. Da bildeten vier nar statt. An eineinhalb Tagen im Mai Leute einen „vierköpfigen Drachen“, wurde den Teilnehmerinnen und Teil- der ein Märchen erzählen sollte – doch nehmern, zumeist Studierende aus den jeder durfte immer nur ein einziges unterschiedlichsten Fachbereichen, ein Wort beitragen, so dass der Fortgang bunter Reigen an Workshops geboten. des Satzes gar nicht gesteuert werden Dabei standen weniger direkt anwend- konnte. Oder man zeigte sich gegensei- bare Kreativitäts-„Techniken“ im Mittel- tig Gegenstände aus seiner (nur in der punkt, von denen es heißt, dass man Vorstellung vorhandenen) „Schatztru- damit quasi „aus dem Stand“ kreativer he“, die der andere, obwohl nicht sicht- denken könne. Die Übungen, die von bar, phantasiereich kommentieren durf- den Referenten angeleitet wurden, führ- te. Wer vorher vielleicht gedacht hatte, ten die Teilnehmer des Seminars viel- ihm würde spontan nichts Gescheites mehr auf einem Weg, der sie die inne- einfallen, wurde an diesem Abend eines wohnende Kreativität entdecken und Besseren belehrt. wecken ließ und die gemeinsame Grunddimension spielerischen bzw. III. künstlerischen und beruflichen Han- delns deutlich machte. Der Samstag wurde von Professor Michael Brater gestaltet, der zu künst- I. lerisch-kreativen Übungen anleitete, die er mit der fürs Berufsleben nötigen Den Anfang machte der Kulturwis- Kreativität verband. Mit Stift und Pa- senschaftler und Spiele-Erfinder Marco pier, Ton und Kreppklebeband lernten Teubner. Voraussetzungen und Bedin- die Teilnehmer, wie es ist, ohne Zielvor- gungen für kreatives Denken und Han- stellungen an das gegebene Material deln wurden gesammelt, gewichtet und heranzugehen, aus dem „Anschauen“ diskutiert. „Aus dem Chaos zur Schön- mit den Fingern das Tun zu bestimmen, heit führt die Kreativität“, war einer der nicht nach-zudenken, sondern mit-zu- Vorschläge, die aus der Gruppe kamen. denken. Der künstlerische Prozess wur- Oft bewegen sich unsere Gedanken in de als ergebnisoffen wahrgenommen. tief eingegrabenen Bahnen wie in einem Die bewusst ausgeklammerten Zielvor- Flussbett. Solche Bahnungseffekte gelte stellungen erzeugen eine Unsicherheit, es immer wieder bewusst zu durchbre- die Innovation und Kreativität auslöst. chen, so Teubner, um wirklich neue „Die Absicht“, so wurde die Malerin Ideen entstehen zu lassen. Ob Kreati- Maria Lassnig von Brater zitiert, „wäre Am Samstagnachmittag verwandeln die vität ganz besonders Momenten von etwas Bestimmtes, im Wege Stehendes. Teilnehmer den Viereckhof durch ihre Panik entspringt, wie der indische Re- Ich habe aber etwas Unbestimmtes als Installationen auf Klebeband in einen gisseur Shekhar Kapur, in einem Inter- Anfang, das ich erst während der Arbeit Kunst-Raum. net-Beitrag eingespielt, postuliert, wur- bestimmen möchte, … damit es, wenn de jedoch kontrovers diskutiert. es da ist, mich überrascht.“ Teubner erzählte auch von seiner Deshalb, so Brater, reagieren Künst- Arbeit als Spiele-Erfinder. Oft sei es ler „auf die Offenheit nicht mit einem schwierig, den Prozess von der Idee bis Plan oder theoretischen Überlegungen. hin zur vollständigen Ausführung durch- Sondern sie handeln. Sie fangen einfach zuziehen. Denn zur produktiven Kreati- an.“ Dieses Handeln ist einerseits ein vität gehört nicht nur die Freude an im- freies, absichtsloses Spielen, in dem der mer neuen sprühenden Einfällen, son- Gegenstand, das Material erkundet dern auch die Arbeit, diese bis ins Detail wird und Unerwartetes wahrgenommen umzusetzen, auch wenn der Weg müh- werden kann. Indem jede Handlung sam wird. Andererseits: „Wenn du eine den Gegenstand verändert, was wieder Lösung für eine Aufgabe hast, die besser wahrgenommen werden muss und die ist, als die, an der du bisher arbeitest, nächste Handlung beeinflusst, entsteht lass die alte Lösung beiseite und beginne ein Dialog zwischen Material und mit der neuen, besseren Idee von vorne.“ Künstler – wenn die Offenheit dafür da Und: „Gib dich nicht mit einer einzigen ist. Nicht das Nach-Denken, sondern Idee zufrieden.“ Sonst, so Teubner, ver- das Mit-Denken bestimmt den künstle- wendet man seine Zeit womöglich auf rischen Prozess, denn: „Ich ... möchte mittelmäßige Ausführungen. am Ende ein Bild erhalten, das ich gar nicht geplant hatte ... ich möchte ja gern II. etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann“ (Maler Nach dieser ersten Annäherung an Gerhard Richter). die Kreativität und einer Stärkung beim Was hat dies alles aber mit der heuti- Abendessen brachte Karin Krug, Mit- gen Welt und unserer Arbeitswelt zu gründerin des Münchner Improvisa- tun? Diesen Brückenschlag leistete Bra- Der Kulturwissenschaftler und Spiele- tionstheaters „fastfood theater“, noch ter am Ende des Tages nach einer ab- Erfinder Marco Teubner (li.) zeigt an mehr Schwung in den Abend. Spiele- wechslungsreichen Reihe von Übungen. einem von ihm entwickelten Spiel den risch lockte sie die Teilnehmer von ein- Die postmoderne (Arbeits-)Welt ist ge- Verlauf eines kreativen Prozesses. fachen Übungen zur Wahrnehmung prägt vom Zerbrechen übergreifender

42 zur debatte 5/2011 Orientierungen. Folgen daraus sind ste- tiger Wandel, Subjektivierung und hö- here Autonomie, verbunden mit höhe- rem Druck auf den Einzelnen, Offen- heit der Prozesse statt festgelegter Stan- dards, die flexible (Berufs-)Biografie als individuelle Gestaltungsaufgabe. Wissen und Können, Selbstentfaltung und Krea- tivität des Einzelnen werden wichtigste Faktoren der Wertschöpfung. „Der Künstler wird dadurch zum Rollenmodell für den neuen Arbeits- markt“, folgert Brater. Denn wie im künstlerischen Prozess ist die berufliche Tätigkeit heute Handeln unter Unge- wissheit, bei dem sich ständig alles ver- ändert, Unplanbares geschieht, Ent- scheidungen getroffen und Risiken ge- tragen werden müssen. „Es gibt keine Regeln und Vorgaben, alles muss selbst bestimmt werden, aus dem sich selbst tragenden Wechsel von Handeln und Wahrnehmen“, so Brater. Künstlerische Bildung ist also kein Luxus, sondern Nicht das Nach-Denken, sondern das Ausgangspunkt für ein bestimmtes Ver- Mit-Denken bestimmt den künstleri- hältnis zur Welt, das heute für jeden schen Prozess. Dies erfuhren die Teil- wichtig wird. Denn Ziel einer künstleri- nehmer beim freien Formen mit Ton un- schen Bildung ist nach Carl-Peter ter Anleitung von Professor Brater. Buschkühle „die Bildung und Erzie- hung zu einem Subjekt, welches auf- Prof. Dr. Michael Brater erforscht den grund seiner geistigen Beweglichkeit in Nutzen künstlerischen Handelns in der der Lage ist, sich selbst und sein Leben beruflichen Bildung. selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu gestalten.“

IV.

Vom Künstlerischen im Berufsleben zur Künstlerin als Beruf: Am Ende des Tages besuchten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Annegret Hoch in ih- rem Atelier, das nahe der Donnersber- gerbrücke in München liegt und durch viel Licht und einen sagenhaften Aus- blick über München besticht. Die Male- rin stellte zunächst jüngere Entwick - lungsstufen ihres künstlerischen Arbei- tens vor. Aus Mustern und Formen, die sie in ihrer Umgebung vorfindet ent - wickelt sie raumgreifende geometrische Formen in leuchtenden Farben. Sie ar- beitet auf Tapeten und Stoffen, es ent- stehen aber auch Werke, die auf Wän- den und Decken von Räumen und Häu- Die Künstlerin Annegret Hoch ent- sern aufgebracht werden und die Archi- wickelt ihre großformatigen Kunstwerke tektur ganzer Gebäude aufnehmen und (einige sind im Hintergrund zu sehen) betonen. Kürzlich führte sie ein Projekt oft aus geometrischen Mustern, die sie am Kindergarten mit Jugendtreff, der in ihrer Umgebung vorfindet. Einrichtung „An der Schäferwiese“ in München, aus. Bis zum Ende des eineinhalbtägigen Ein langes, von vielen interessierten Seminars stehen die Teilnehmer im re- Fragen der Teilnehmer geprägtes Ge- gen Austausch unter einander und mit spräch folgte: über Initialpunkte, Ver- den Referenten. Hier besuchen sie lauf und Dauer eines künstlerischen Annegret Hoch in ihrem Atelier. Prozesses, über Schwierigkeiten und Grenzen einer Existenz als freischaffen- der Künstlerin, ja sogar über die Frage, ob man abstrakte Bilder auch „anders herum“ aufhängen könne. „Nein!“ war die klare Antwort Hochs, „denn das verändert die Wirkung des Bildes total.“ Um dies zu demonstrieren, ließ sie sich sogar dazu überreden, einige ihrer Bil- der umzudrehen. Der Effekt war so deutlich, dass ihr sofort alle zustimm- ten.

Damit gingen eineinhalb Tage zum Thema Kreativität zu Ende. Eine Teil- nehmerin zog das Fazit: „Es hat mir schon lange kein Seminar so viel ge- bracht wie dieses.“ Und eine andere: „Super! So was könnten mehr Men- schen gebrauchen.“ Dafür wird gesorgt: Nächstes Jahr wird es wieder auf dem Programm der Jungen Akademie stehen. Carolin Neuber

Karin Krug (li.) vermittelt den Teilneh- Kreativität als ergebnisoffener Prozess mern, dass eine positive Haltung zur stand im Mittelpunkt des Seminars der Welt (Aha!) unsere Wahrnehmung be- Jungen Akademie und der dort erstell- einflusst. ten Installationen. Hier sieht man eine davon im Detail.

5/2011 zur debatte 43 „Dieses Wirtschaftsunternehmen oder scheinbar alter Sprache von der Sub- diese Fußballmannschaft hat viel Sub- stanz nicht mehr verstanden wird? Es stanz“, dann meinen wir eine Wirklich- gab zu dieser Debatte ein lehramtliches keit, die nicht sichtbar ist, die aber den Dokument, das Paul VI. 1965, und zwar Fronleichnam eigentlichen Zusammenhalt oder gar interessanterweise noch vor Ende des die eigentliche Kraftquelle eines kom- Konzils, eigens zu dieser Diskussion plexen Gefüges ausmacht. Oder wenn veröffentlichen ließ: Die Enzyklika wir angesichts der Rede eines Men- „Mysterium fidei“. Darin heißt es – ich schen zu dem Urteil finden: „Was der da paraphrasiere ein wenig salopp: Wenn sagt, das hat wirklich Substanz“, dann die neuen Begriffe wie Transsignifika- meinen wir auch nicht etwas Gegen- tion oder auch ähnlich Transfinalisation ständliches, sondern in der Regel eine helfen, das Mysterium der Wandlung besonders qualitätsvolle geistige Fun- tiefer zu verstehen, dann ist das gut und dierung. legitim, aber die Kirche kann auf den Nun aber gab und gibt es dennoch Begriff der Transsubstantiation dennoch einen Mainstream von Theologen und nicht verzichten, denn dieser bringt das Der festliche Abend zum Fronleich- Trinken, die traditionelle Tombola mit Philosophen, der meint „Substanzonto- gemeinte Mysterium der Wandlung im- namsausklang am 23. Juni 2011 ver- vielen glücklichen Gewinnern, das ge- logie“, gehe heute nicht mehr; eine mer noch am besten zur Sprache. sammelte rund 350 Menschen in der lungene Konzert des Münchner Posau- Wirklichkeitsauffassung also, deren Wenn wir die Fragestellung nach Katholischen Akademie. Im Rahmen nenensembles, die Unterhaltungsmu- Ausgangspunkt die Substanz ist, die sei dem Bezugszusammenhang zuspitzen, der Feier verlieh Direktor Dr. Florian sik der „Gloryland-Jazzband“, viele viel zu gegenstandsbezogen. Vielleicht dann läuft es meines Erachtens auf et- Schuller das Freundeszeichen der Aka- gute Gespräche und das gemeinsame erinnern sich einige von Ihnen noch, was hinaus, was zwar auf den ersten demie an den Münchner Erzbischof Singen zum Ende der Veranstaltung dass vor allem in den 60er Jahren des Blick plausibel, aber beim zweiten, ge- Kardinal Reinhard Marx. Der Salesia- sorgten dafür, dass der festliche Abend letzten Jahrhunderts eine Debatte dar- naueren Hinblick nicht mehr hinnehm- ner Don Boscos Prof. Dr. Stefan Oster auch eine fröhliche Veranstaltung wur- über anhob, ob man nicht den Begriff bar erscheint. Wenn nämlich die Bei- entwickelte bei seinem Referat über de. „zur debatte“ dokumentiert das der Substanz in diesem sperrigen Wort spiele mit der Flagge oder dem Geld- die Transsubstantiation eine besondere Referat von Professor Oster, die kurze „Transsubstantiation“ ersetzen könnte schein für Transsignifikation stehen, Sicht auf die religiöse Dimension des Laudatio auf Kardinal Marx und zeigt durch einen Begriff, der dem heutigen dann geht es hier zuerst um Bedeutung Festes Fronleichnam. Gutes Essen und Bilder des Abends. Denken, vor allem auch der heutigen für mich oder Bedeutung für uns. Ein Philosophie angemessener sei. Promi- 100-Euro-Schein hat für einen Mann im nente Theologen und Philosophen wie Dschungel des Amazonas vermutlich zum Beispiel Bernhard Welte oder Ed- keinerlei Bedeutung in unserem Sinn ward Schillebeeckx favorisierten Mo- und er würde ihn vielleicht benutzen, delle, die den Bezugs- und Deutungszu- um damit nächtens sein Feuer anzufa- sammenhang, aus denen ein Begriff ent- chen. Der Wert entsteht erst durch die steht, in den Mittelpunkt des Nachden- kollektive Wertzuschreibung von uns kens rückten. Wenn ich – um ein Bei- und für uns. Wir selbst machen letztlich Das eucharistische Brot und die Wand- spiel von Welte aufzugreifen – drei ver- die significatio, die Bedeutung. schiedenfarbige Stoffbahnen aneinander Aber gilt das immer und in jedem lung der Welt. Einige Anmerkungen nähe, dann erhalte ich einen neuen Fall? Ist alles immer nur das, was es für Gegenstand mit ganz neuer Bedeutung: mich oder für uns bedeutet? Oder gibt zum Verhältnis von Transsubstantiation eine Nationalflagge zum Beispiel; einen es auch eine Wirklichkeit, die auch Gegenstand, der manchem so wichtig dann wirklich ist, wenn sie uns gerade und so bedeutend und damit so wirk- nichts bedeutet? Gibt es eine Wirklich- und Bekehrung lich wird, dass er zum Beispiel viel ris- keit an sich oder für sich und nicht nur kieren würde, um zu verhindern, dass eine Wirklichkeit für mich oder für Stefan Oster SDB dieser Gegenstand beschmutzt oder ver- uns? Sie spüren vielleicht, wie wir hier ächtlich gemacht würde. Ist also mit der an wichtige Fragen rühren, an Fragen, Flagge eine neue Substanz entstanden, die unser Weltverhältnis insgesamt be- wenn Substanz für das steht, was für treffen. Denn wenn alles, was es gibt, mich wirklich ist? nur dann wirklich ist, insofern es uns Oder um einen Bezug zur Ökonomie etwas bedeutet, dann kann es auch sein, herzustellen: Wenn wir in unserer Ge- dass wir Dinge oder auch lebendige We- sellschaft Geldscheine verwenden, dann sen genau deshalb marginalisieren, weil I. wäre das bloße Papier nicht allzu viel sie uns nichts mehr bedeuten oder weil wert und auch die Produktionskosten sie uns lästig geworden sind. Eine Welt, Wenn Sie heute versuchen, gläubige für einen beispielsweise grünen 100- die nur aus kollektiver significatio, aus Katholiken oder gar Theologiestuden- Euro-Schein mit Silberstreifen wären kollektiver Bedeutungszumessung oder ten das Wort „Transsubstantiation“ feh- zwar nicht gering, aber sie würden noch kollektiver Sinnstiftung entsteht und be- lerfrei nachsprechen zu lassen, dann er- längst nicht rechtfertigen, dass so ein steht, die kann nämlich im Extremfall leben Sie in der Regel, dass das nur in Stück Papier dann tatsächlich ein auch dahin kommen, dass sie bestimm- seltenen Fällen auf Anhieb funktioniert. Tauschäquivalent wäre für das, was te Lebewesen oder Menschen für be- Das Wort ist – gelinde gesagt – aus der man für 100 Euro eben bekommt. Der deutungslos erklärt, für hinderlich oder Mode. Und das ist es, obwohl die Kir- Schein ist also deshalb so viel wert, weil lästig in einer Welt, deren Deutungs- che an diesem Begriff stets mit großem wir uns alle zusammen mit dem Staat und Bedeutungshoheit ich selbst habe Nachdruck festgehalten hat, wenn sie als Deutungsautorität in unserem Be- oder die sich eine bestimmte Gruppe das zentrale Geschehen beschreiben zugszusammenhang darauf geeinigt ha- angemaßt hat. wollte, das sich in ihrem höchsten und ben, dass dieser Schein diesen Wert hat. Wir haben nur allzu gut in Erinne- tiefsten liturgischen Vollzug ereignet: Hat hier also der Geldschein an rung, dass es in unserer eigenen Vergan- die Wandlung. Das Entscheidende an Wirklichkeit, an Substanz gewonnen? genheit Gruppen gegeben hat, die für diesem Wort „Transsubstantiation“ ist Hat sich die Substanz des Papiers ver- sich ein alleiniges Deutungs- und Be- natürlich der Begriff der Substanz. wandelt in ein kostbares Gut? Oder ist deutungsmonopol der Wirklichkeit be- Trans-substan-tiation bedeutet Wand- das, was eigentlich stattfindet eher eine ansprucht hatten, was sich dann genau lung der Substanz. Und die entschei- „Transsignifikation“ des Papiers, ein Be- deshalb in Ideologie verkehrt hat; so dende Frage ist deshalb selbstverständ- deutungswandel, der aber ganz reale, sehr, dass sie zum Beispiel Menschen, lich: Was meinen wir, wenn wir diesen man könnte auch sagen ganz substan- die dem jüdischen Volk zugehörten, für Begriff benutzen? Was meint Substanz? zielle Konsequenzen hat? Man hat also so unbedeutend erklärt haben, dass sie Es gab und gibt im philosophischen und ab den 1960er Jahren gedacht, das Wort sich vermeintlich das Recht zuschreiben theologischen Denken seit langem die Prof. Dr. Stefan Oster SDB, Professor von der Transsignifikation kann uns konnten, sich an ihnen zu vergehen Auffassung, der Begriff der Substanz für Dogmatik und Dogmengeschichte auch wirklich weiterhelfen im Nach- oder sie auszurotten. Sie sehen, wenn stehe für eine spezifische Lehre von al- an der Philosophisch-Theologischen denken über das Geheimnis der Eucha- wir die Geschichte mit der Deutung ins lem Wirklichen, die primär gegen- Hochschule Benediktbeuern ristie, zumal dann, wenn wir einsehen, totale Extrem treiben, wenn wir sagen, standsorientiert ist, die vom Gegen- dass unsere Wirklichkeit primär das ist, alle Wirklichkeit ist nur das, was sie uns stand her denkt. Die Substanz ist ein was sie für uns bedeutet, was ihre „sig- bedeutet, dann kommen wir im Extrem- Ding, insbesondere ein materielles mehr möglich sei, mit den Mitteln einer nificatio“ für uns ist? fall tatsächlich in Teufels Küche, also in Ding. In heutiger Alltagssprache kommt dann so genannten Substanzontologie einen Bereich, in dem uns Wirklichkeit ein solches Verständnis etwa dann zum über die eucharistische Wandlung nach- II. primär als verführerischer oder auch be- Ausdruck, wenn wir von chemischen zudenken. drohlicher Schein vorgestellt wird und Substanzen sprechen, wir beziehen uns Ich halte eine solche Ansicht nicht Sie sehen an den Beispielen, dass in dem wir immer zur verkehrten signi- damit vor allem auf deren materielle für überzeugend, sondern für einseitig, diese Position durchaus viel für sich hat. ficatio verführt werden. Beschaffenheit. Und weil man mit Sub- weil reduktionistisch. Denn gerade in Aber die Frage bleibt dennoch: Kann Natürlich haben die erwähnten Den- stanz eben Materialität und damit unserer alltäglichen Sprache benutzen man nun den Begriff der Substanz tat- ker wie Welte, Schillebeeckx oder ande- Gegenständlichkeit verbindet, waren wir das Wort Substanz durchaus auch sächlich einfach ersetzen durch signifi- re solche Gefahren auch gesehen und und sind nun viele zeitgenössische The- in anderen Zusammenhängen als nur in catio? Und könnte man dann damit et- daher versucht, ontologisch differenzier- ologen der Ansicht, dass es heute nicht materiellen. Wenn wir etwa sagen: was ins Heute hinüberretten, was in te Denkmöglichkeiten auszuarbeiten.

44 zur debatte 5/2011 Dass diese Versuche andererseits gerade dennoch allesamt Fragen offen lassen und es sich bei aller Ausdifferenzierung der einzelnen Unternehmen dennoch stets – wenn auch hintergründig verbor- gen – als notwendig erwies, so etwas wie Substanz dazu zu denken, hat in ei- ner umfangreichen Studie dazu Notger Slenczka gezeigt.

III.

Ich hoffe nun, diese wenigen Hinwei - se genügen, um zu zeigen, dass allein die significatio, allein die Bedeutungszu- messung von uns her, und der Bedeu- tungszusammenhang, den wir herstel- len, nicht ausreichen; es muss daher un- serer Bedeutungszumessung irgendet- was vorausliegen, dass uns zugleich ein Kriterium dafür geben sollte, ob wir un- sere Wirklichkeit angemessen deuten oder eben nicht. Ein Kriterium also, das uns sagt, dass es unter allen Umständen falsch ist, Juden als Untermenschen zu deuten oder Klassenfeinde des Kommu- nismus als subersive Elemente, die ins Arbeitslager gehören. Dieses Kriterium, das all unserer significatio voraus liegt die Wirklichkeit Obwohl es feucht und auch etwas kühl Deutung vorausliegen muss, ist die des Kindes in seiner Hilfsbedürftigkeit war, machten es sich viele Gäste an den menschliche Person selbst. Ich bin also selbst. Und diese hilfsbedürftige Wirk- Tischen im Park bequem. von diesem Ausgangspunkt her der lichkeit des Kindes wäre auch dann ge- Ansicht, dass die menschliche Person geben, wenn die Mutter das nicht sehen und gerade nicht ein Gegenstand der ei- und die neue Bedeutungszuschreibung gentliche Inbegriff dessen ist oder sein nicht leisten könnte. Man kann also sa- sollte, was wir philosophisch Substanz gen: Jemanden lieben bedeutet, dass er nennen: also ein exemplarischer Inbe- in dem, was und wer er schon ist und griff von alledem, was wir meinen, sein kann, wirklich wird für mich und wenn wir „wirklich“ sagen. Freilich wichtig wird für mich. Der liebende könnte man mir Folgendes vorhalten: Blick erschließt Realität, er erschließt, „Die Tatsache, dass du hier nun einen wer und was einer ist. Er erschließt aber Personbegriff des Menschen stark auch, was in einem steckt und insofern machst und diesen zum Inbegriff des ge- berührt er, was einer sein kann. Wir schaffenen Wirklichen erklärst, ist doch sind nämlich alle auch geschichtliche selbst wieder nur eine Deutung.“ Es ist Wesen, sind werdende Wesen – und die so. Dieses Argument kann ich tatsäch- menschheitliche Erfahrung lehrt, dass lich nicht widerlegen. Ich kann meinen die Liebe in der Lage ist, den Anderen Gesprächspartner nur bitten, sich mit nicht nur als momentane, punktuelle mir auf den Weg zu machen, um dieser oder gegenständliche Wirklichkeit zu spezifischen Erfahrung von Wirklich- verstehen, sondern die Liebe nimmt an, keit, die ich damit meine, auf die Spur was ist und ist gerade deshalb in der zu kommen. Lage, im anderen mit hervorzubringen, Erst der Weg selbst kann dann zur Er- gewissermaßen hervorzulieben, was neuerung einer Erfahrung von Wirklich- auch noch in ihm ist, was sich aber jetzt keit führen, die eng mit dem zusammen- noch nicht aktualisiert. hängt, was die Christen Bekehrung nen- Um im Beispiel des Kindes zu blei- nen. Sie erschließt sich, wenn wir darü- ben: Die Mutter, der Vater, der gute ber nachdenken, was passiert, wenn uns Lehrer erkennen im Kind, gerade weil ein Mensch wichtig wird und mehr sie es in seiner Wirklichkeit sehen, auch Kardinal Friedrich Wetter, bis 2007 noch, wenn wir uns einen anderen Men- was in ihm steckt, woraufhin es sich Erzbischof von München und Freising, schen wirklich wichtig werden lassen; entfalten und entwickeln könnte. Und ist ein gern gesehener Gast in der Aka- wenn wir also – mit Habermas gespro- sie vertrauen darauf, dass diese Entfal- demie, hier im Gespräch mit Prälat chen – in Bezug auf einen Menschen die tung möglich ist, auch wenn sie jetzt Siegfried Schindele. reine Beobachterperspektive verlassen noch nicht sichtbar ist. Die Mutter und uns in die Teilnehmerperspektive spricht schon mit dem Kind als könnte begeben. Am intensivsten wird das viel- es schon sprechen und befähigt es da- leicht deutlich, wenn zum Beispiel ein mit ins Sprechen hinein. Das heißt: Der Neugeborenes im Kreis einer funktionie- liebende Blick auf die Wirklichkeit der renden Familie ins Leben eintritt. Die anderen Person schließt schon einen engsten Bezugspersonen des Kindes, vor Akt des Vertrauens, einen Akt des gläu- allem die Mutter, fangen dann nämlich bigen Zutrauens mit ein. Oder anders an, zuerst vom Kind her zu denken und gesagt: Das Wirklich-Werden des Ande- von seinen Bedürfnissen. Und wenn die ren für mich ist nicht zu haben, ohne Mutter vorher zum Beispiel sehr karrie- dass ich vertraue, dass diese Wirklich- reorientiert gelebt hat oder ein wie auch keit, die mir da entgegenkommt, das immer zu denkendes eher selbstbezoge- Potenzial hat, auch wirklich gut und nes Leben gelebt hat, dann wird ihr die- wahr zu sein und es immer mehr zu ses Denken vom Kind her und auf das werden. Der, der sich der anderen Per- Kind hin nicht immer leicht fallen. Aber son so zuwendet, der gibt aber damit im Normalfall überwiegt der natürliche den Anderen in seine eigene Wirklich- Drang der Zuwendung, überwiegen keit frei und eröffnet ihm die Möglich- auch die Verantwortung und die Ein- keit, sich gerade von dort her, von sei- sicht in die dramatische Hilfsbedürftig- ner eigenen Wirklichkeit her zu zeigen keit und Abhängigkeit eines Neugebore- und zu entfalten. nen, um sich zu diesem manchmal An diesen Beispielen wird nun deut- schwierigen Wechsel des Blickwinkels lich: Unsere Zumessung von Bedeutung bewegen zu lassen. zu einer Wirklichkeit, unsere significa- Und wenn wir uns nun fragen: Wen- tio, ist je angemessener, je mehr sie det sich die Mutter dem Kind zuerst diese Wirklichkeit, wie sie sich aus sich Ein gesuchter Gesprächspartner am deshalb zu, weil sie ihm jetzt diese selbst entfalten kann, bejaht und frei- Fronleichnamsabend: Kardinal Bedeutung zuschreibt? Dann kann gibt. Ein solches Selbstsein einer leben- Reinhard Marx tauscht sich mit Brigitte man sagen: Ja, das tut sie. Aber dieser digen Wirklichkeit, die mir in der Gedon aus. Bedeutungszuschreibung, dieser neuen Person des Anderen begegnet, ist dann

5/2011 zur debatte 45 Freundeszeichen für Kardinal Marx

Es ist gute Tradition geworden, dass heren, präepiskopalen Karriereschritt als wir am Fronleichnamstag einen lieben Akademiedirektor der Kommende nicht Mitmenschen besonders in den Blick nur nicht vergessen, sondern wohl sehr nehmen, der sich als guter Freund der bewusst in sein Verständnis der Not- Katholischen Akademie Bayern erwie- wendigkeiten kirchlicher Präsenz in sen hat. Anlass dazu kann ein Jubiläum heutiger Gesellschaft und heutiger Zeit sein, ein Berufs- oder Lebensjubiläum, mit hineingenommen hat. Das heißt, Sie oder auch ein Abschied. Heute ist es ein wissen nicht nur, wie Akademien ticken, Abschied. Wir müssen uns voraussicht- sondern auch wie Akademiemenschen lich verabschieden von einem lieben ticken. Nachbarn. Natürlich sind Sie gemeint, Und genau einen solchen Bischof als sehr verehrter Herr Kardinal. Protektor braucht unsere Katholische Wir hoffen zwar intensiv, dass Sie Akademie Bayern, sie insbesondere. auch beim Fronleichnamsfest 2012 Denn wir sind zwar in der akademi- unser Münchner Erzbischof und Kardi- schen katholischen Landschaft bestens nal sein werden. Aber wenn alle Vorzei- positioniert. Aber zugleich muss der chen nicht täuschen, werden Sie dann Konsens aller verantwortlichen Träger nicht mehr einfach über unseren Park immer neu herbeigeführt werden. Sehr Nach seinem Vortrag konnte Professor vom Schlösschen Suresnes her zur dankbar sind wir deshalb, dass wir uns Stefan Oster SDB (re.) den Abend in der Akademie schlendern können, sondern bei Ihnen, sehr verehrter Herr Kardinal, Akademie weiter genießen. müssen leider den beschwerlichen Weg in guten, fürsorglichen Händen wissen von der hektischen, lauten, schlecht be- dürfen – was mir persönlich bei vielen lüfteten Innenstadt hinaus ins vom na- Anlässen deutlich wurde. Dass diese hen Englischen Garten verwöhnte geistige Verbundenheit auch über die Schwabing auf sich nehmen, weil die nun zu erwartende rein kilometermäßig Renovierung des Erzbischöflichen Palais größere Distanz erhalten bleibe, diesen in der Kardinal-Faulhaber-Straße durch unseren Wunsch und – wie ich glaube – das Staatliche Bauamt doch an ihr Ende auch Ihren möge das Freundeszeichen gekommen sein wird. der Akademie symbolisieren. Seit Sie am 2. Februar 2008 Ihren Es ist vom Künstler Max Faller gestal- erzbischöflichen Dienst hier in der ka- tet und stellt Christus in der Ruhe dar – tholischen Ur-Metropole München be- das alte Meditationsbild der „Herrgotts- gonnen hatten, waren wir Nachbarn, ruhe“. Möge es zukünftig an irgendeiner nur durch Bäume und Rasen voneinan- Wand des Erzbischöflichen Palais Er- der getrennt, oder besser: dadurch mit- innerungszeichen sein – Zeichen unse- einander verbunden. Ich habe diese rer Dankbarkeit und unserer steten Ein- Situation von Anfang an als eine sehr ladung: Wenn Sie ab und an Sehnsucht glückliche gesehen. Zugegeben, ein paar nach geistiger Ruhe und intellektuellem kritische Stimmen gab es, die mich frag- Austausch haben – wir freuen uns über ten: „Geht denn der überhaupt wieder jeden Besuch von Ihnen, jedes Auftau- heraus? Da ist es doch viel schöner als chen, jede Präsenz. Sie tun uns ausge- in der Innenstadt.“ sprochen gut. Mir war immer klar, dass Sie nach re- Und umgekehrt versprechen wir Ih- lativ kurzer Zeit vom Schloss Suresnes nen, dass wir das sehr ernst nehmen, werden Abschied nehmen müssen. Und was Sie einmal zu Ihrem eigenen Wap- gleichzeitig habe ich diese Nähe sehr penspruch formuliert haben. Der lautet dankbar als eine äußerst positive Chan- bekanntlich: „Ubi spiritus Domini ibi li- ce wahrgenommen. Eine große Chance bertas.“ „Wo der Geist Gottes wirkt, da Der CSU-Landtagsabgeordnete Joachim nehme Gesprächspartner. Hier ist er im für uns, dass wir Sie und Sie uns von ist Freiheit.“ Freiheit ist ja eines der Unterländer (li.) findet – so sagt er – Gespräch mit Domkapitular Prälat Anfang Ihres Dienstes an wahrnehmen, Hauptelemente von Akademiearbeit. beim Fronleichnamsabend immer ange- Josef Obermaier. beobachten, einschätzen und wertschät- Aber dazu gehört, was Sie so ausführen: zen konnten. Und ich hoffe, dass auch „Wir können Freiheit als das große Ge- für Sie diese drei Jahre als eine gute Zeit schenk der Liebe Gottes sehen, mit dem in Ihre späteren Lebenserinnerungen wir sorgsam umgehen sollen.“ eingehen werden. In all diesen Monaten haben wir Sie Florian Schuller als einen Bischof erlebt, der seinen frü-

Der Akademiedirektor (li.) durfte auch Akademiedirektor Dr. Florian Schuller den oberbayerischen Bezirkstagspräsi- überreicht das Freundeszeichen an dent Josef Mederer und seine Frau Kardinal Reinhard Marx. Maria begrüßen.

46 zur debatte 5/2011 aber notwendig ein von mir und meinen Projektionen und Zuschreibungen Unterschiedenes. Denn wir kennen auch alle das Phänomen, dass wir uns in Menschen täuschen oder täuschen lassen, dass wir im anderen sehen, was wir gerne hätten, was aber nicht da ist. Die wirkliche Liebe – im Sinn des Evangeliums – macht sehend, was ist und sein kann. Und es wäre eher eine ichhafte Zuwendung zum Anderen, die sich selbst so gerne im Anderen wider- spiegeln würde, die der Volksmund meint, wenn er von einer Liebe spricht, die blind macht. Und wenn ich vorher über Bekeh- rung gesprochen habe, dann hieße das nach dem hier Ausgeführten: Meine sig- nificatio orientiert sich jetzt nicht mehr an dem, was sie selbst von sich her ger- ne für wichtig hält. Sie konstruiert die Wirklichkeit nicht mehr nur nach ihrem „Für-mich-gut-sein“ oder „Für-mich- wahr-sein“, sondern sie orientiert sich jetzt nach dem freien Selbstsein der an- deren Wirklichkeit. Jemanden zu lieben bedeutet, dass der Andere von sich selbst her und gerade von seinem Unterschieden-Sein von mir trotzdem für mich wichtig wird. Das Münchner Posaunenensemble spielte unter der Leitung von Thomas IV. Horch (li.). Es wirkten mit Elmar Spier, Uwe Schrodl und Quirin Willert. Von hier können wir nun zurückkeh- ren zur Frage der Substanz in unserem Begriff der Transsubstantiation: Wenn ich gesagt habe, der Inbegriff des Sub- stantiellen ist die Person – und zwar in ihrer vorausliegenden Unabhängigkeit von meiner Bedeutungszumessung – dann können wir von hier aus vielleicht besser verstehen, warum der Begriff der Transsubstantiation für die Kirche den- noch wichtig ist und bleibt – trotz aller Versuche, das Mysterium mit anderen Begriffen zu verstehen. Wir glauben, der Herr selbst ist in der eucharistischen Brot- und Weingestalt gegenwärtig – und zwar als Person – freilich jetzt als gottmenschliche Person. Die eucharisti- schen Gestalten sind deshalb nicht mehr das, worauf sie dem Augenschein nach hinweisen. Sie sind nicht mehr das, für was sie unser sinnlicher Blick gerne halten würde, sie sind vielmehr erfüllt von der personalen Gegenwart des Herrn, die auch dann gegeben wäre, wenn dieses gegenständlich Sichtbare für mich nicht mehr wäre als nur Brot. Aber wir wollen Vertrauende sein, Der glückliche Gewinner und der zu- Maximilian Schaumeier, der zusammen Regierungssprecherin Daniela Philippi Glaubende sein: Das heißt in Analogie friedene Spender: Pfarrer Anton Hangl, mit seiner Frau Gisela gekommen war, interessierte sich für Kunst. Sie studierte zur menschlichen Person: Wir geben langjähriger Seelsorger von Sankt hat in den vergangenen Jahrzehnten be- eingehend die Arbeiten der Schüler der diese Wirklichkeit vertrauensvoll frei in Clemens in München (re.), gewann reits 30 Fahrräder für die Fronleich- Klasse Jetelová, die im Sommer in der ihr Eigenes. Das ist nicht mehr nur ein eines der Fahrräder. Wirtschaftsprüfer nams-Tombola gestiftet. Akademie ausgestellt waren. Ding, das mir zur Verfügung steht, son- dern wenn ich bejahe, dass Christus selbst hier gegenwärtig ist, dann beginnt die umgekehrte Bewegung meines Den- kens und Wahrnehmens, dann beginnt Bekehrung. Dann fange ich an, von der Gegenwart des Herrn zu denken und meine significatio, meine Bedeutungs- zuschreibung orientiert sich daran, dass sich mir diese Wirklichkeit als die per- sonale Gegenwart des Herrn selbst er- schließt. Nicht mehr ich mache Bedeu- tung, sondern eine unabhängige Wirk- lichkeit, eine substanzielle, personale Wirklichkeit ist mir vorweg und ist des- halb der neue Maßstab meiner Bedeu- tungszumessung. Deshalb fallen Katholiken vor dem gewandelten eucharistischen Brot in die Knie. Weil der vertrauende Glaube ih- nen dort eine Wirklichkeit eröffnet, die ihnen gerade darum wichtig geworden ist, weil sie es von sich selbst her je schon ist. Sie ist personale Anwesenheit Christi in dieser Welt und in dieser ver- borgenen Gestalt. Und unsere vertrau- Andrang auch bei der Tombola. Die Dorothea Grashey gewann das zweite ensvolle Zuwendung zu dieser Wirk- vielen Sachspenden machten es wieder Fahrrad. „Ich bin so froh. Ich kann es lichkeit erschließt dann zugleich deren möglich, viele Gewinne bereitzuhalten. gut gebrauchen, weil ich nur ein sehr Potenzial, mich und mein Leben und Die Lose wurden – auch das ist gängige altes Rad daheim habe.“ das Leben von uns als Kirche von dort Praxis – alle gekauft. her bestimmen, verändern und vertiefen

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zu lassen. Diese Gegenwart verändert und verschiebt nämlich im gelingenden Fall auch die Maßstäbe von allem, was uns wichtig ist. Die Transsubstantiation ist letztlich das Wirklichwerden Gottes in unserem Leben und in unserer Welt. Sie ist das Siegel auf dieses Wirklich- werden. Und in dem Maß, in dem wir uns auf diese uns vorausliegende Wirk- lichkeit einlassen, verändert sich von dort her unser Blick auf unsere Wirk- lichkeit insgesamt. Unweigerlich wer- den dann nämlich von neuem vor allem die anderen menschlichen Personen in unser Blickfeld einrücken und uns von sich selbst her selbst die Aufforderung entgegen tragen, dass sie uns wichtig werden sollen, dass sie uns Nächste werden dürfen, weil sie selbst als Perso- nen Orte der Anwesenheit Gottes sind. Und nicht nur das: Die ganze Schöp- fung wird bei einem solch veränderten Blickwinkel, der aus der Anbetung wächst, durchsichtig werden auf die An- wesenheit Gottes in ihr. Die Schöpfung als Ganze hat nämlich ihre eigene Wirklichkeit und Dignität, das heißt auch die Schöpfung hat ihre anfängli- che, eine Art vorpersonale Substantia- lität, also ihr Wirklich-Sein, nicht dar- Die Gloryland-Jazz-Band swingte dies- aus, dass wir zuerst ihr diese Dignität mal im Saal – die feuchte Witterung kraft unserer significatio zuteilen. zwang sie ins Innere der Akademie. Vielmehr lernen wir besonders vom eucharistischen Mysterium der Trans- substantiation her verstehen, dass die Schöpfung diese Dignität unabhängig von uns schon hat, weil der Schöpfer in ihr gegenwärtig ist und immer tiefer in ihr erkannt sein will. Wo Wandlung der Welt als Gegenwart Gottes in der Eucharistie wirklich gläubig bejaht wird, da verwandelt sich mir und uns allen die Welt. „ Literatur: S. Oster, Person und Transsubstantia- tion. Mensch-sein, Kirche-sein und Eu- charistie – eine ontologische Zusam - menschau, Freiburg/BaselWien 2010 B. Welte, Auf der Spur des Ewigen. Philosophische Abhandlungen über ver- schiedene Gegenstände der Religion und der Theologie, Freiburg/Basel/Wien 1965 N. Slenczka, Realpsäsenz und Ontolo- gie. Untersuchungen der ontologischen Grundlagen der Transsignifikations- lehre, Göttingen 1993

Weihbischof Engelbert Siebler genoss Prof. Dr. Franz Henrich, Akademie- den Park und die zwanglose Atmos- direktor von 1967 bis 2000, kommt phäre. gerne in seine frühere Wirkungsstätte. zur debatte

Themen der Katholischen Akademie in Bayern

Herausgeber, Inhaber und Verleger: Katholische Akademie in Bayern, München Direktor: Dr. Florian Schuller Verantwortlicher Redakteur: Dr. Robert Walser Layout: Josef Breuer, Augsburg Fotos: Akademie Anschrift von Verlag u. Redaktion: Katholische Akademie in Bayern, Mandlstraße 23, 80802 München Postanschrift: Postfach 40 10 08, 80710 München, Telefon 089/381020, Telefax 089/38102103, E-Mail: [email protected] Druck: Kastner AG – das medienhaus, Schloßhof 2 – 6, 85283 Wolnzach. zur debatte erscheint zweimonatlich. Kostenbei- trag: jährlich € 35,– (freiwillig). Überweisungen auf das Konto der Katholischen Akademie in Bayern, bei der LIGA Bank: Kto.-Nr. 2 355 000, BLZ 750 903 00. Nachdruck und Vervielfältigun- gen jeder Art sind nur mit Einwilligung des Herausgebers zulässig.

Das Nachspeisen-Büffet war – wie je- Rechtsanwalt Hans-Peter Hoh: Er ist des Jahr – ein besonderer Anziehungs- Mitglied im geschäftsführenden Vor- punkt für die Gäste. stand des Malteser Hilfsdienst e.V. und der Akademie verbunden.

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