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Bund/Länder-Messprogramm für die Meeresumwelt von Nord- und Ostsee

Munitionsbelastung der deutschen Meeresgewässer – Bestandsaufnahme und Empfehlungen (Stand 2011)

Claus Böttcher, Tobias Knobloch, Niels-Peter Rühl, Jens Sternheim, Uwe Wichert, Joachim Wöhler

10.4.1.4 Sachstandsbericht chemische Munition im Versenkungs- gebiet Helgoländer Loch

www.munition-im-meer.de

Sachstands- und Bewertungsbericht Munitionsversenkung HELGOLAND

Stand: 23.11.2010

1 Einleitung...... 3 2 Zusammenfassung...... 3 3 Die Munitionsversenkungsstelle ...... 4 3.1 Der Ort ...... 4 3.2 Eigenschaften ...... 5 3.2.1 Tiefe und Wasserdruck ...... 5 3.2.2 Relief und Boden am Meeresgrund...... 5 3.2.3 Strömungen...... 6 3.2.4 Austausch in der Wassersäule...... 7 3.2.5 Lebensraum ...... 8 3.2.6 Fischereiwirtschaft ...... 8 3.3 Geschichtliche Aspekte zur Insel Helgoland ...... 8 4 Anlass und Erkundigungen...... 8 4.1 Hinweise auf und Belege für Tabun-Granaten ...... 8 4.2 Kampfstoff und Kampfstoffmunition...... 8 4.2.1 Technische Eigenschaften der Feldartilleriegranate (10,5 cm) ...... 9 4.2.2 Produktionsort und Produktionsmenge der 10,5 cm-Tabungranaten .... 9 4.2.3 Ereignisse und Unfälle mit Tabun ...... 10 4.3 Transporte von Kampfstoffmunition...... 10 5 Chronologischer Ablauf der Ereignisse ...... 11 5.1 Auffinden und Einlagern im Erdbunker, 1945...... 11 5.2 Munitionsbergung 1949...... 11 5.2.1 Abtransport von Neuenkirchen...... 12 5.2.2 Transport von Kampe nach Bremerhaven ...... 12 5.2.3 Anfahrt zum Versenkungsgebiet ...... 12 5.2.4 Versenkung...... 13 5.2.5 Rückfahrt...... 13 6 Unterwasserhindernisse südlich HELGOLAND...... 14 7 Auswertung ...... 15 7.1 Munitionsart und Menge...... 15 7.2 Bergung und Versenkung...... 15 7.3 Zustand der Munition...... 16 8 Maßnahmen ...... 17 8.1 Gefährdungsanalyse ...... 17 8.1.1 Bewohner von Helgoland ...... 17 8.1.2 Marineaktivitäten ...... 17 8.1.3 Arbeiten am Meeresgrund...... 17 8.1.4 Fischerei...... 17 8.1.5 Berufsschifffahrt ...... 17 8.1.6 Freizeitschifffahrt...... 17 8.2 Maßnahmen der Gefahrenabwehr ...... 18 8.2.1 Die amtliche Seekarte ...... 18 8.2.2 Verbot von Arbeiten am Meeresgrund ...... 18 8.2.3 Verbot der Fischerei...... 19 8.2.4 Militärischer Übungsbetrieb...... 19 8.3 Meeresschutz...... 19 8.3.1 Europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) ...... 19 8.3.2 Schutzgebiete in der Nordsee...... 20 8.4 Weiterer Umgang mit der Versenkungsstelle ...... 21 8.5 Fortsetzung der Gefahrerforschung ...... 21 9 Anhang...... 22 9.1 Bewertung von TABUN im Ökosystem...... 22 9.1.1 Neuer Stand der MERCW-Studie...... 22 9.1.2 BSH (1993) ...... 22 9.1.3 Norwegian Pollution Control Authority (www.sft.no)...... 22 9.1.4 Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume ...... 22 10 Abkürzungsverzeichnis ...... 23 11 Abbildungsverzeichnis ...... 23 12 Glossar ...... 24 12.1 Seekartennull (LAT) ...... 24 12.2 Granate „Ga 39“ ...... 24 12.3 Der Kampfstoff „Tabun“...... 24 12.3.1 Bezeichnungen ...... 24 12.3.2 Eigenschaften des Stoffes ...... 24 12.3.3 Toxikologie...... 25 12.4 Chemical Defence Laboratory...... 25 12.5 Wehrmacht...... 25 12.5.1 Der Generalquatiermeister (GQM) ...... 26 12.5.2 Die Heeresmunitionsanstalten (H.Ma) ...... 26 13 Quellen ...... 27

Seite 2 von 28 1 Einleitung In deutschen Seekarten des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrografie, Ham- burg, ist seit 19451 etwa 2,6 Seemeilen südlich der Insel Helgoland (Kreis , Schleswig-Holstein) ein „Munitionsversenkungsgebiet“ eingetragen. Die Signatur ist kreisrund, hatte bis Februar 2009 einen Durchmesser von einer Seemeile (1,852 km) und liegt mit ihrem Zentrum etwa bei 54° 08’ N und 7° 53’ O. Inzwischen vorliegende Unterlagen belegen, dass an dieser Stelle neben anderen Dingen auch rund 6.000 Artilleriegranaten versenkt wurden, die mit dem Kampfstoff TABUN2 geladen waren. Diese Unterlage bereitet den Sachverhalt auf, bewertet die Erkenntnisse und macht Vorschläge zum weiteren Vorgehen.

2 Zusammenfassung Es bestehen keine vernünftigen Zweifel mehr daran, dass 1949 unter deutscher Lei- tung rund 6.000 Artilleriegranaten, gefüllt mit dem Nervenkampfstoff TABUN, südlich HELGOLAND versenkt wurden. Die Munition stammt von einem Eisenbahntransport, der im April 1945 durch Luftangriffe im Kreis Diepholz (Niedersachsen) gestoppt wurde. Die englischen Besatzungstruppen haben die teilweise eingegrabene, teilwei- se verstreut liegende oder beschädigte Munition im Juni 1945 in sieben Erdgruben direkt neben den Eisenbahngleisen des Güterbahnhofes von Neuenkirchen (heute Gemeinde Schwaförden) gesichert. Im Sommer 1949 sind die Granaten durch das Niedersächsische Bombenräumkom- mando geborgen und dann zwischen dem 26. und 28. September 1949 etwa vier Kilometer südlich der Insel HELGOLAND von Bord des Motorfrachtschiffs ANNA aus versenkt worden. Die Wassertiefe im so genannten HELGOLÄNDER LOCH beträgt zwischen 45 und 55 m. Die Versenkungsstelle liegt außerhalb von ausgewiesenen Schutzgebieten, jedoch innerhalb eines militärischen Übungsgebietes, für das es jedoch nur anlassbezogene Befahrungsregelungen gibt. Die Ansteuerung des Helgoländer Südhafens von West und Süd erfolgt auch über die Versenkungsstelle.

Eine konkrete Gefahr besteht nach übereinstimmender Aussage einbezogener Fachleute nicht. Dennoch handelt es sich bei dem versenkten Material um potentiell sehr gefährliche Gegenstände, insbesondere für die Fischerei, bei Arbeiten am Mee- resgrund (Ankermanöver) oder bei Bergungsversuchen. Die Versenkungsstelle ist im amtlichen Seekartenwerk des Bundesamtes für See- schifffahrt und Hydrografie (BSH) seit 1945 eingetragen und seit dem Frühjahr 2009 auf Veranlassung des für Katastrophenschutz von einer Seemeile Durchmesser auf 1,2 Seemeilen vergrößert dargestellt.

Der sorgfältige Umgang mit versenkter Kampfstoffmunition setzt in jedem Fall eine weitere Erkundung des Meeresgrundes voraus. Die zuständigen Landes- und Bun- desbehörden sollten daher zunächst prüfen, inwieweit detaillierte Fernerkundungen

1 Nachrichten für Seefahrer Nr. 831 von 1945, aufgrund der Mitteilung des Deutschen Minenräum- dienstkommandos Schleswig-Holstein, vom 29.09.1945 2 Tabun ist ein Nervenkampfstoff, der auch „Grünring 3“ oder „Spitzenkampfstoff“ genannt wurde, vgl. Ziffer 12.3 Seite 3 von 28 mit modernster Sonartechnik ausgeführt werden können und ggf. entsprechende Untersuchungen in gemeinsamen Aktionen veranlassen.

Abbildung 1: Auszug aus der elektronischen Seekarte des BSH, Stand Sept. 2008)

Der Einsatz von ferngesteuerten Unterwasservideoaufnahmegeräten und die wis- senschaftliche Analyse der Sedimente am Meeresgrund können darüber hinaus hel- fen, die tatsächliche Gefahrensituation in dem konkreten Fall zu ermitteln. Auf dieser Grundlage könnte dann entschieden werden, ob die Bearbeitung der Versenkungs- stelle, zum Beispiel analog zu einem Altlastenverfahren an Land, erfolgen sollte. 3 Die Munitionsversenkungsstelle

3.1 Der Ort Die genutzte Versenkungsstelle liegt rund 2,6 Seemeilen südlich der Insel Helgoland, und damit innerhalb der 12-Seemeilen Zone und in der Deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone. Als Wasserbehörde gemäß § 110 Landeswassergesetz ist das Ministerium für Land- wirtschaft, Umwelt und ländliche Räume und für den Bereich der Seeschifffahrtsstra- ße (Schifffahrtspolizei) das Wasser- und Schifffahrtsamt Tönning (WSD Nord) zu- ständig. Die allgemeine Gefahrenabwehr obliegt dem Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein.

Die Nordsee hat an dieser Stelle, die auch „Helgoländer Loch“ genannt wird, eine Wassertiefe von 45 bis 57 Meter. Die Stelle ist seit 1945 als „unrein - Munition“ und auch als „dumping area“ in aktuellen elektronischen Seekarten eingetragen. Die „dumping area“ ihrerseits liegt etwa in der Mitte eines militärischen Übungsgebietes (military practice area), für das anlassbezogen Einfahrverbote erlassen werden.

Seite 4 von 28 Für die Ansteuerung von Helgoland durch die von Süden kommende Schifffahrt wird die Untiefentonne „Helgoland-O“ genutzt. Diese Tonne markiert die Südost-Grenze des Naturschutzgebietes „Helgoländer Felssockel“.

Von der Südost-Ecke des Naturschutzgebietes „Helgoländer Felssockel“ bis zum Nordrand der Signatur „dumping area“ sind es rund 0,6 Seemeilen (entspricht etwa 1,1 km). Die Versenkungsstelle liegt außerhalb des Seevogelschutzgebietes Helgo- land, vgl. Ziffer 8.3.2.

Abbildung 2: Tiefenprofil der angegebenen Versenkungsstelle (Quelle: VPS 2008)

3.2 Eigenschaften Der für die Versenkung genutzte Ort wird in Sekundärquellen wechselnd als Schlick- loch, Helgoländer Loch oder Helgoländer Tiefe Rinne bezeichnet. Das Seegebiet „Schlickloch“ liegt jedoch weiter entfernt von Helgoland. Das Munitionsversden- kungsgebiet liegt im Helgoländer Loch oder in der Helgoländer Tiefen Rinne. Untersuchungen des Meeresbodens bestätigen, dass sich zwar auch in diesem Teil der Nordsee Schlickansammlungen finden, diese beschränken sich jedoch auf einen kleinen Teil des hier ziemlich tiefen Meeresgrundes.

3.2.1 Tiefe und Wasserdruck Die Wassertiefe in dem Versenkungsgebiet liegt zwischen 45 und 57 m unter See- kartennull. Damit herrscht am Meeresgrund ein gegenüber der Meeresoberfläche 4 bis 6-fach höherer Druck.

3.2.2 Relief und Boden am Meeresgrund Der topografischen Seekarte nach liegt die Versenkungsstelle am Südrand eines Lochs von rund 4 Seemeilen Breite (West-Ost) und 1,1 Seemeilen Länge (Nord- Süd), an dessen tiefster Stelle ca. 57 m Wassertiefe (bezogen auf das aktuelle See-

Seite 5 von 28 kartennull = LAT3) erreicht werden. Das Gelände erscheint ungleichartig, steil bis mäßig geneigt. Die Überdeckung wird mit Kies, Sand und Schlick angegeben. Zwei Hochpunkte oder Hindernisse überragen das allgemeine Niveau um ca. 8 m.

Abbildung 3: Auszug aus der topografischen Seekarten (BSH, 2002)

3.2.3 Strömungen Die Strömung an der Oberfläche der Nordsee wird vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie mit einem Modell berechnet. Die saisonale Oberflächenzirkulation der Nordsee im Jahr 2004 wird in nachfolgenden Ausschnitten gezeigt. Dargestellt ist das Vektormittel aus Strömungsfeldern des Computermodells „BSHcmod“. Die Stabi- lität der Zirkulation (in %, farbig) ist definiert als Verhältnis Vektormittel zu Betrags- mittel.

Jan, Feb, Mrz. 2004 Apr, Mai, Jun. 2004

3 LAT = lowest astronomical tide, vgl. Ziffer 12.1 Seite 6 von 28 Jul, Aug, Sep. 2004 Okt, Nov, Dez. 2004

Wichtig ist, dass hier nur die Hauptströmungsrichtung und -intensität an der Oberflä- che des Meeres dargestellt wird (BSH, 2006). Lokale Prozesse aus der Gezeiten- strömung und andere Effekte der horizontalen Durchmischung bleiben unberücksich- tigt. Damit kann auf dieser Grundlage auch keine Aussage über den Einfluss von Strömung auf am Meeresgrund freigesetzte Chemikalien getroffen werden.

3.2.4 Austausch in der Wassersäule Über den Austausch aus der Tiefe heraus an die Oberfläche kann für das Versen- kungsgebiet ebenfalls keine verbindliche Aussage getroffen werden. Generalisierend kann man feststellen, dass sich der Wasserkörper der Nordsee isotermisch schichtet. Zwischen den Tiefenlinien – 20 m und – 40 m verläuft diese Sprungschicht regelmä- ßig, in jahreszeitlich wechselnden Tiefen. Am Übergang dieser Schichten wird der Austausch durch das Wasser gehemmt, jedoch keinesfalls hermetisch unterbunden.

Abbildung 4: Temperaturschichtung (°C) entlang 56 ° N im Sommer 2004 (BSH, 2006)

Seite 7 von 28 3.2.5 Lebensraum Über die Besiedlung dieses Lebensraums durch bestimmte (geschützte) Tier- oder Pflanzenarten liegen dem Amt für Katastrophenschutz keine Erkenntnisse vor.

3.2.6 Fischereiwirtschaft In einem Vermerk des Bundesverkehrsministeriums aus dem Jahr 1959 wird ausge- führt: „Gerade die Gebiete im Helgoländer Raum spielen in fischereilicher Sicht eine besondere Rolle und seien als sehr wertvoll anzusehen“ (AZK, 1981; BMV, 1959). Sowohl das Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume (LLUR) als auch die BLE können für die Jahre 2004 bis 2008 keine Nutzung des Versenkungs- gebietes durch die Erwerbsfischerei mehr feststellen (LLUR/BLE, 2009).

3.3 Geschichtliche Aspekte zur Insel Helgoland Am 18. und 19. April 1945 wurde die Insel Helgoland durch einen sehr schweren Luftangriff eigentlich unbewohnbar. Zwei Jahre später, am 18. April 1947, hat die Royal Navy den Versuch unternommen, das Eiland durch die größte jemals herbei- geführte, nichtnukleare Explosion vollständig zu zerstören. Der so genannte „big bang“ verursachte zwar umfangreiche Zerstörungen, der Umriss der Insel und auch die „Lange Anna“ überstanden das Ereignis aber weitgehend unbeschadet. Erst am 1. März 1952 wurde die Nordseeinsel Helgoland wieder in deutsche Ver- waltung gegeben. Mit der hohen Belastung der Insel und der Gewässer rund herum mit konventionellen Kampfmitteln leben Bewohner und Touristen seit dem. 4 Anlass und Erkundigungen

4.1 Hinweise auf und Belege für Tabun-Granaten Am 24. November 2008 lud die Fraktion „Bündnis 90 DIE GRÜNEN“ im Niedersäch- sischen Landtag zu einem Fachgespräch „Munitionsaltlasten in der Nordsee – Altes Risiko - neue Bewertung?“ ein. Als Referent war neben anderen Dr. Stefan Nehring, Koblenz, geladen. In seinem Vortrag verwies er auf eine seines Erachtens zuverläs- sig belegte Versenkungsaktion südlich Helgolands. Hinweise auf diese Maßnahme konnte man bereits Meyer, 2009, entnehmen, doch es ließen sich zunächst keine weiteren Belege zu den Feststellungen dieser Autoren finden. Im Jahr 2008 gelangen Dr. Nehring Funde in englischen und deutschen Archiven (CDL, GB, 1945 und GQM 1945). In der Veranstaltung hat Dr. Nehring den im Raum stehenden Hinweis dann als unabhängig belegtes Faktum veröffentlicht.

4.2 Kampfstoff und Kampfstoffmunition Kampfstoffe werden wie folgt definiert: „Chemische Kampfstoffe sind toxische Che- mikalien, die den Tod oder eine (zeitweilige oder permanente) Schädigung von Mensch und Tier hervorrufen“ (http://www.chemgapedia.de). Meist werden die chemischen Kampfstoffe nach ihrer physiologischen Wirkung klas- sifiziert: • Augenreizstoffe (z.B. Bromaceton) • Nasen- und Rachenreizstoffe (z. B. Clark I) • Lungenreizstoffe (z.B. Chlor) • Hautschädigende Kampfstoffe (z.B. Schwefel-Lost) • Nervenkampfstoffe (z.B. Tabun) • Blutgifte (z. B. Blausäure)

Seite 8 von 28 Von Kampfstoffmunition spricht man, wenn eine geeignete Aufbereitung eines Kampfstoffs so mit einem Kampfmittel (z.B. Granate oder Bombe) verbunden wird, dass es der Bestimmung des Kampfmittels entsprechend eingesetzt und z.B. durch die Explosion konventionellen Sprengstoffs im Zielgebiet verteilt werden kann.

Neben der Kampfstoffmunition gibt es zum Beispiel noch Sprühbüchsen oder Kanis- ter mit Kampfstoff, um die Chemikalien auf anderem Wege zu verteilen als durch verschießen (Granaten) oder abwerfen (Bomben).

4.2.1 Technische Eigenschaften der Feldartilleriegranate (10,5 cm) Granaten sind dickwandige Projektile, die mittels einer Treibladung (konventioneller Sprengstoff) aus Rohrwaffen (z.B. Mörser, Kanone, Haubitze) verschossen werden können. Im Granatenkopf befindet sich ein Hohlraum. Je nach Zweck kann dieser Hohlraum zum Beispiel mit Sprengstoff, Nebelstoff, Kampfstoff oder Kombinationen daraus gefüllt werden. Der Hohlraum einer Kampfstoffgranate ist meist mit einer Schraube an der Außenseite der Granate oder am Boden verschlossen. An der Spitze des Granatenkopfs können Zünder montiert werden, welche Spreng- stoff, zum Beispiel in einer bestimmten Höhe, beim Aufschlag oder zeitlich verzögert nach dem Eindringen in den Boden, zur Explosion bringen. Durch einen Farbcode nachträglich aufgebrachter Lackringe wurde der Füllstoff der konkreten deutschen Kampfstoffgranate von außen kenntlich gemacht.

Die für die Risikobewertung aus der Munitionsart wesentlichen Merkmale sind

a) Wandstärke des Gefechtskopfes b) Art des Verschlusses des Hohlraums c) Vorhandensein und Art des Zünders

Die 10,5 cm Feldhaubitzengranate Ga 39 wird in den technischen Unterlagen mit Gesamtmassen zwischen 13,7 und 15,4 kg beschrieben. Die Angaben zum Volumen der Kampfstofffüllung sind einheitlich mit 1,5 Liter angegeben (KRD SH 1962).

4.2.2 Produktionsort und Produktionsmenge der 10,5 cm-Tabungranaten Tabun wurde durch Stellen der Wehrmacht in einem Versuchslabor des Heereswaf- fenamtes in Spandau und in einer Pilotanlage in Munster (Niedersachsen) syntheti- siert (Kahlert 2005). Nach einem Bericht, den Ministerialrat Dr. Emil Ehmann, ehe- maliger Chef der „Herstellungs- und Beschaffungsabteilung für Chemikalien“ im Hee- reswaffenamt, nach dem Krieg auf Betreiben amerikanischer Stellen fertigte, gab es nur eine Produktionsstätte für Tabun: Das so genannte „Hochwerk“ der Anorgana GmbH (Tochtergesellschaft der IG-Farben). Das Werk befand sich in Dyhern- furth/Oder (heute polnisch: Brzeg Dolny, ca. 40 km entfernt von Breslau [Wroclaw]). Ehmann schreibt: „Um Transporte dieses hochtoxischen Stoffes in Kesselwagen zu vermeiden, wurde die Erzeugung im Herstellerwerk selbst in Bomben und Granaten abgefüllt. Kapazität der Füllstelle im Monat 270 000 leichte Feldhaubitzen-Granaten (l.F.H.) oder 250 000 schwere Feldhaubitzen-Granaten (s.F.H.) oder 12 500 Bomben.“ (Ehmann-Bericht, NRW 1981)

Die Gesamtproduktion des Dt. Reiches wird von ihm mit 12.000 t Tabun angegeben.

Seite 9 von 28 Der Anlage zu einem Bericht der Alliierten (Appendix to C.D.R.5/I.S. No.80, [Datum unbekannt]) ist zu entnehmen, dass von den Alliierten zu dem Zeitpunkt 443.350 leichte FH-Granaten (Ga 39, 10,5 cm) mit ca. 1.750 t Tabun sichergestellt wurden.

Im Rahmen der Vorbereitung dieses Berichtes wurde nicht nach von der Wehrmacht unabhängigen Produktionsstätten für Kampfstoffe gesucht. Denkbar ist, dass zu den genannten Mengen noch die Produktion der SS an anderen Orten hinzugezählt wer- den muss.

4.2.3 Ereignisse und Unfälle mit Tabun Über Unfälle und andere Vorkommnisse mit Tabun und Tabun-Munition liegen Auf- zeichnungen aus dem „Hochwerk“ und aus -Eidelstedt vor:

Bei der Herstellung und Abfüllung sollen sich von 1939 bis 1945 bis zu 300 Unfälle mit der hochgiftigen Chemikalie ereignet haben, die mind. 10 Beschäftigte getötet haben. In Hamburg-Eidelstedt wurden im September 1979 acht Granaten (10,5 cm) mit Ta- bunfüllung auf dem Gelände der ehemaligen Firma Stolzenburg gefunden; Sicher- stellung und Abtransport beschäftigten die Behörden damals drei Tage lang.

4.3 Transporte von Kampfstoffmunition Umfassende Nachforschungen zu Transporten von Kampfstoffmunition im Allgemei- nen sind im Zusammenhang mit diesem Bericht nicht angestellt worden. Dem Bericht des Generalquartiermeisters des Heeres, Abteilung I (vgl. Ziffer 12.5.1), vom 14. April 1945, über die Sicherstellung von Spitzenkampfstoffmunition können folgende Fak- ten über den gesuchten Munitionstransport hinaus entnommen werden:

In einem so genannten „Führerbefehl“ hatte die Reichsregierung die Sicherstellung von Kampfstoffmunition auf „Kähne“ angeordnet, Ziel der Kampfstoffkähne sollte WESERMÜNDE (seit 1947 BREMERHAVEN) sein. Die Munitionszüge der Reich- bahn wurden über verschiedene Munitionsanstalten im bereits umkämpften Reichs- gebiet nach Nordenham gelenkt. Der Eisenbahntransport von Munition war offenbar ein übliches Verfahren. An der Umschlagstelle Nordenham sollte die Munition von der Schiene auf „Binnenkähne“ umgeladen werden. Der Berichterstatter stellte fest, dass am 11. April 1945, um 17:00 Uhr „3 Züge bis auf 5 Fünf Wagen, die während der Fahrt durch Tiefflieger zerstört wurden, waren bereits auf Binnenkähne verladen und nach WESERMÜNDE abgeschleppt. Der Verbleib des 4. Zuges konnte trotz eingehender Nachforschungen […] nicht festgestellt wer- den“ (GQM 1945)

Der Verbleib der auf die Binnenkähne umgeschlagenen Kampfstoffe geht aus den Akten des Amtes für Katastrophenschutz hervor: Es handelt sich hier um die Ta- bungranaten, die 1945 am Ausgang der Flensburger Förde versenkt und später wie- der gehoben und in der BISKAYA erneut versenkt wurden.

Für die Fragestellung dieses Berichtes sind demnach 1 Zug und 5 Wagen relevant.

Seite 10 von 28 5 Chronologischer Ablauf der Ereignisse

5.1 Auffinden und Einlagern im Erdbunker, 1945 Der Chronist des Dorfes Neuenkirchen (Samtgemeinde Schwaförden, Kreis Diep- holz, Niedersachsen) schrieb: „…denn neben dem Bahngelände hatte man einen Transport Gasgranaten ausgeladen und nur ganz flach eingegraben. […] Diese Gas- granaten mußten nach Kriegsende von Neuenkirchnern wieder ausgegraben und in Bremen auf ein Schiff verladen werden“ (Meyer, 2009) Ergänzend kann dem „Hinweis auf eine Grabungsaktion“ der Polizeiinspektion Mainz 2 entnommen werden, dass Frau Lieselotte Dietz, geb. Koppe, (geb. 01.02.1923) im Herbst 2008 angab, …“ jeder Hof hatte eine Person zu benen- nen, die für Grabungsarbeiten abgestellt werden sollte [… ich] bekam durch Befragen heraus, dass im Bereich des Bahnhofsgeländes in Neuenkirchen (Niedersachsen) durch eine Vielzahl von Personen irgendwelche Gegenstände vergraben worden seien. [Ich] vermutete die ganze Zeit über, dass es sich um gefährliche Gegenstände gehandelt haben könnte, da alle an der Grabung beteiligten mit schwerer, gummiert scheinender Schutzbekleidung ausgerüstet worden seien“ (Polizei, 2008). Die von ihr benannten Zeugen wurden angetroffen und die weiteren Ermittlungen bestätigen das Bild. Dem Bericht des „Chemical Defence Laboratory“ an „The War Office“, vom 22.06.1945 ist zu entnehmen, dass Arbeiten im Zusammenhang mit einem explo- dierten Munitionszug an der Koordinate MR W689650 durchgeführt wurden. Es sind dort 5 Wagons aufgefunden worden, von denen 3 durch Explosionen und Feuer schwer beschädigt waren, unter anderem auch Wagons mit den Tabun-Granaten. Die auch verstreut aufgefundene (teilweise undichte) Munition wurde durch englische Stellen zunächst zusammen mit cirka 4 Zentner des „Entgiftungsmittels“ LOSANTIN4 in sieben Erdgruben (ca. 3 x 6m und 2,40 m tief) vergraben. Dem Bericht ist weiter zu entnehmen, dass für die Arbeiten ein Dienstkommando aus 30 bis 35 Einwohnern des Dorfes gebildet wurde. Die Männer wurden mit Schutzklei- dung und Atemschutzmasken ausgestattet, unter Atemschutz musste jedoch nicht gearbeitet werden. Die Maßnahme hat 4 Tage gedauert. Angegeben wird eine Men- ge von 100 tons5.

5.2 Munitionsbergung 1949 Eine Unterlage, die detailliert Auskunft über die Bergungsmaßnahme gibt, die wohl 1949 am Bahndamm bei Neuenkirchen stattgefunden hat, liegt dem Amt für Katast- rophenschutz bis heute nicht vor. Die Chronik des Dorfes Neuenkirchen enthält den Hinweis, dass die Granaten „…nach Kriegsende von Neuenkirchnern wieder ausge- graben [… wurden …] natürlich unter strengster Aufsicht der Briten“. Der Sprengmeister beim Kampfmittelbeseitigungsdienst (KBD) Niedersachsen erin- nert sich ebenfalls an die Maßnahme. Er gibt 1981 zu Protokoll, dass • die Granaten an der Bahnlinie Sulingen - Bassum (Kreis Diepholz, Nds.) aus- gegraben wurden,

4 Calziumhypochlorid 5 Wenn sich die Angabe auf die Maßeinheit „britische Tonne“ [tn.l.] beziehen sollte, kann mit 1 tn.l. = 1,016 t umgerechnet werden. Seite 11 von 28 • es sich um bezünderte 10,5 cm FH-Granaten mit Füllschraube gehandelt habe und dass diese • nicht farblich markiert gewesen seien (Schwarz, 1981). Die Kennzeichnung für deutsche Tabun-Granaten waren drei grünen Ringe überein- ander. In dem Bericht der britischen Stellen wird über die „Ablagerung“ von 100 tons „GRÜNRING 3“ Granaten in Erdbunkern berichtet (CDL, GB, 1945). Das Fehlen der farbigen Markierung kann durch die Einwirkung von Feuer und / oder des Entgif- tungsmittels auf die Granaten erklärt werden.

5.2.1 Abtransport von Neuenkirchen Der Chronist von Neuenkirchen gibt an, dass die Granaten „in Bremen auf ein Schiff verladen werden.“ Diese Angabe scheint nicht präzise zu sein, es waren aber wohl auch keine Dorfbewohner mehr an den weiteren Maßnahmen beteiligt. Den Unterlagen ist zu entnehmen, dass vergleichbare Maßnahmen 1949 bereits von deutschen Stellen durchgeführt wurden – wenn auch auf Anordnung und unter Auf- sicht der Britischen Militäradministration. Daher erscheint der Bericht von Hans Schwarz, seinerzeit seit 4 Wochen im Dienst des „Bombenräumkommandos Nieder- sachsen“ und auch 1981 noch für den Kampfmittelbeseitigungsdienst für das Land Niedersachsen tätig, zutreffend zu sein: „Die Granaten sind dann per LKW nach KAMPE an den Küstenkanal gebracht und auf einen Kutter (MS) verladen worden“ (Schwarz, 1981).

Der Abschrift des Monatsberichts der „Wasserschutzpolizei Gruppe Niedersachsen; Emden, den 28.09.1949; Auszug aus dem Ergänzungsbericht zum Monatsbericht September 1949“ ist unter Ziffer 4. zu entnehmen: „In Kampe -Küstenkanal km 28,05- werden zurzeit etwa 100 t ehemaliger deutscher Kampfstoff-Munition auf ein Motorschiff verladen. Die Munition kam von Sulingen und soll auf dem Wasserwege verfrachtet und südlich Helgoland versenkt werden. Die Bewachung der Munition am Verladeplatz wird durch die Land- polizei durchgeführt. Für die Begleitung des Fahrzeugs von Bremerhaven zum Ver- senkungsplatz ist ein Dienstboot der WSP. Niedersachsen vorgesehen. Techn. Bewachung und Leitung an Bord des Frachtmotorschiffes liegt in Händen des Leiters des Bombenbeseitigungskommandos Hannover (WSP Gr Nds. 1949).

5.2.2 Transport von Kampe nach Bremerhaven Über die Fahrt von KAMPE nach BREMERHAVEN wird im Ergänzungsbericht für Oktober der WSP Niedersachsen berichtet, dass „[…] die polizeiliche Sicherung die- ses Munitionstransportes (wurde) vom Verladeplatz am Küstenkanal (km 28) bis Bremerhaven durch das WSP.-Boot „N 9 übernommen (wurde) […]“ (WSP Gr Nds. 1949).

5.2.3 Anfahrt zum Versenkungsgebiet Die genaueste vorliegende Dokumentation der Maßnahme ist dem Bordbuch des begleitenden Bootes „Niedersachsen 5“ der Wasserschutzpolizei entnommen. Ge- mäß der Kopfzeile der Seite ist er am 30. September 1949 erstellt worden, also erst nach dem Abschluss der Maßnahme.

Seite 12 von 28 Nach diesem Bericht haben sich WSP N5 und M/S ANNA auf der Reede vor BRE- MERHAVEN getroffen. Außer der Besatzung des M/S ANNA sind das Bombenbesei- tigungskommando Hannover mit 20 Personen, an ihrer Spitze dessen Leiter, Herr Sieptmann, und die Wasserschutzpolizei, Aufsichtsperson Polizeiinspektor Borchert, an Bord gekommen Die Fahrt zum Versenkungsgebiet begann am 25.09.1949, um 20:00 Uhr und endete mit dem Eintreffen südlich HELGOLAND am 26.09.1949, 08:19 Uhr (Weser-Ems, 1980). Damit hätte die Fahrt etwas über 12 Stunden gedauert und wäre mit einer Ge- schwindigkeit von ca. 3,5 Knoten erfolgt.

5.2.4 Versenkung Die Position der Versenkung wird im Bordbericht des WSP-Bootes N 5 angegeben: „Versenkungsort war laut Befehl der Mil. Reg. die Position 54° 08’ N und 7° 53’ O in der Nordsee, etwas 2 ½ sm südlich Helgoland.“ Das Wetter war gut, „Windstärke 1, Seegang 1“ (WSP N5, 1949). Dem Bericht der Bezirksregierung Weser-Ems vom 10.03.1980 ist die Ergänzung „an der 50m-Tiefenlinie“ zu entnehmen, offen bleibt die Quelle für diese Information (Weser-Ems, 1980).

Der zeitliche Ablauf der Maßnahme ist im Bordbuch nicht weiter dokumentiert wor- den. Angenommen werden darf eine Dauer von rund 48 Stunden - vom 26.09., 08:10 Uhr, bis 28.09.1949, 09:00 Uhr. Leider bleibt auch offen, ob die ANNA mehr oder weniger fest lag oder in sehr langsamer Fahrt durch das Versenkungsgebiet gelaufen ist.

5.2.5 Rückfahrt Dokumentiert ist die Rückfahrt mit ihrem Ende am 28.09.1949, 14:30 Uhr, in BRE- MERHAVEN (Weser-Ems, 1980. Wenn die angenommenen Zeiten stimmen, wäre die Rückfahrt mit rund 8 Knoten Fahrt erfolgt.

Seite 13 von 28 6 Unterwasserhindernisse südlich HELGOLAND Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie führt eine Datenbank über Unter- wasserhindernisse. Es hat dem Amt für Katastrophenschutz im Dezember 2008 ei- nen Auszug des relevanten Gebietes zur Verfügung gestellt. Das Hindernis mit der Nummer 9596 wurde damals als „irrelevant“ angesehen, zum einen wegen des da- maligen Anlasses der Suche in diesem Gebiet zum anderen, weil er außerhalb des Versenkungsgebietes liegt.

Abbildung 5: Grafische Darstellung der Unterwasserhindernisse südlich von HELGOLAND, BSH 2008 Auf Antrag des Amt für Katastrophenschutz unternahm das BSH eine Messfahrt mit dem Vermessungs-, Wracksuch- und Forschungsschiff (VWFS) ATAIR im Januar 2009. In seinem Bericht stellt das BSH Unterwasserortungen von drei Objekten im fraglichen Bereich genauer dar. Die Echos im Sidescan Sonar passen zu „Rüstungs- altlasten“ im Allgemeinen. Von einem Objekt kann mittels Fächerlot auch eine Hö- henmessung gemacht werden. Das BSH beschreibt diesen Kontakt wie folgt: „Die gut reflektierende Fläche erstreckt sich über ca. 10m*5m. In einem Umkreis von ca. 45m*30m sind kleinere Einzelteile zu sehen, die wahrscheinlich mit dem mittleren Objekt in Zusammenhang stehen. […] Die Echolotung ergab, daß es sich offensicht- lich um einen seicht ansteigenden Hagel von knapp 2m Höhe über dem übrigen Grundniveau handelt. Der umgebende Grund hat eine Tiefe von ca. 49,3m LAT6. Die Oberkante des Objektes wurde mit 48,00m gelotet.“

6 LAT = lowest astronomical tide, vgl. Ziffer 12.1 Seite 14 von 28 Ob es sich hier wirklich um die gesuchte Munition handelt ist unklar!

Abbildung 6: Sonarbild vom 21.01.09 - mit fest am Schiff montiertem Schwinger 7 Auswertung

7.1 Munitionsart und Menge Der Ehmann-Bericht belegt, dass es die Munition gegeben hat (Ehmann-Bericht, NRW 1981), die Alliierten haben ab 1945 rund 445.000 Stück 10,5 cm-Granaten mit Kampfstofffüllung sichergestellt. Der Bericht des Generalquartiermeisters des Heeres beweist, dass der „verlorene“ Transport „Spitzenkampfstoffmunition“ enthalten hat. Die britischen Stellen berichten im Detail über die Beteiligung von Kampfstoffgrana- ten (Greenring 3) an der Auffindestelle Neuenkirchen (Krs. Diepholz). Der Chronik und der Schilderung der Zeitzeugen ist zu entnehmen, dass „Gasgranaten“ im Be- reich des Bahnhofs von Neuenkirchen sowohl 1945 als auch 1949 manipuliert wur- den.

7.2 Bergung und Versenkung Sowohl bei den polizeilichen Ermittlungen im September 2008, als auch bei meinem Besuch im April 2009 wurde die Auffindestelle durch unterschiedliche Personen übereinstimmend aufgezeigt. Die Vegetationsstörungen geben heute noch einen ge- wissen Hinweis auf die Erdgruben, die 1949 wieder geschlossen wurden.

Seite 15 von 28 Abbildung 7: Ehemaliger Güterbahnhof Neuenkirchen (Foto: Böttcher, 2009)

Bordbücher und Ergänzungsberichte der Niedersächsischen Wasserschutzpolizei beschreiben die Verlade-, Transport- und Versenkungsmaßnahmen. Offen bleibt al- lein auf wessen Veranlassung genau die Bergung erfolgte und welche Rolle britische Stellen bei der Auswahl des Versenkungsgebietes spielten. Die Entscheidung für das damals unbewohnte und nach der alliierten Planung auch niemals wieder zu besiedelnde HELGOLAND liegt auf der Hand und Kampfstoffmu- nition ist auch später noch im Meer versenkt worden – wenn auch in größeren Tiefen.

7.3 Zustand der Munition Dem Amt für Katastrophenschutz liegen keine Daten, Bilder oder Erkenntnisse zum aktuellen Zustand der Munition vor. Es fehlt auch am technischen Beweis dafür, dass das geortete Hindernis tatsächlich Munition enthält oder dass es sich gar um die ge- suchte Munition handelt. Im Rahmen dieser Untersuchungen sind vielmehr Hinweise auf weitere Versenkun- gen im so genannten HELGOLÄNDER LOCH nach dem 2. Weltkrieg und auch aus der Zeit nach dem 1. Weltkrieg zutage getreten (RSM, 1921 und BMV, 1959).

Seite 16 von 28 8 Maßnahmen Dem Abschlussbericht „Chemische Kampfstoffmunition in der südlichen und westli- chen Ostsee - Bestandsaufnahme, Bewertung und Empfehlungen …“ (BSH, 1993) kann entnommen werden, dass von Kampfstoffmunition, die mit Tabun geladen ist, nach damaliger Ansicht keine konkreten Gefahren für die Meeresumwelt ausgehen. Die Experten empfahlen insbesondere in der Abwägung der Risiken einer Bergung und Entsorgung an Land das Belassen am Meeresgrund.

8.1 Gefährdungsanalyse Dem Kampfmittelräumdienstes Schleswig-Holstein liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass von diesem Munitionstyp besondere Gefahren ausgehen. Es ist auch kein Vorfall bekannt geworden, dass an dieser Stelle Granaten aufgefischt wurden. Da es sich um bezünderte Granaten handeln soll, weisen die Fachleute auf das er- höhte Risiko einer Detonation hin, wenn die Granaten manipuliert werden sollten.

8.1.1 Bewohner von Helgoland Aufgrund der räumlichen Entfernung wird auch für den unwahrscheinlichen Fall der gleichzeitigen Freisetzung von Tabun aus mehreren Granaten keine Gefahr für Men- schen auf der Insel gesehen.

8.1.2 Marineaktivitäten Aktivitäten der Marine am Grund des HELGOLÄNDER LOCHS könnten das Risiko einer schnellen Freisetzung erhöhen.

8.1.3 Arbeiten am Meeresgrund Bei Arbeiten am Grund der Nordsee besteht allergrößte Gefahr sowohl für Taucher als auch für die Besatzungen der Basis- oder Arbeitsschiffe (Kabelleger, Anker, pp.).

8.1.4 Fischerei Die Fischerei mit Grundnetzen birgt grundsätzlich das Risiko des Auffischens von Sprengkörpern vom Grund der Nordsee. Das moderne Fanggeschirr läuft allerdings überwiegend auf Rollen über den Meeresgrund, weshalb kleine Granaten kaum mehr aufgenommen werden. Daten des Bundesamtes für Landwirtschaft und Ernährung weisen im betroffenen Bereich, zurück bis zum Jahr 2004, keinerlei Aktivitäten der europäischen Erwerbsfischer auf. Unterlagen des Bundesamtes für Naturschutz kann für das Jahr 2006 eine Fischereifrequenz von bis zu 2 Fischereifahrten im Jahr ent- nommen werden.

8.1.5 Berufsschifffahrt Der Frachtverkehr und vor allem die Routen der Seebäderschiffe führen über bzw. dicht an dem Versenkungsgebiet vorbei. Über die tatsächlichen Auswirkungen auf die Besatzung eines Schiffes, das sich bei einer Freisetzung von Tabun in einer Tiefe von ca. 50 m unmittelbar über der Freisetzungsstelle befindet, kann das Amt für Ka- tastrophenschutz keine fundierten Einschätzung vorlegen.

8.1.6 Freizeitschifffahrt Es gilt das gleiche wie unter 8.1.5 festgestellt, mit dem Unterschied, dass kreuzende Segelboote eine potentiell vorhandene Gaswolke unter Umständen mehrfach durch- fahren und dass diese Wasserfahrzeugführer nicht in gleicher Weise zuverlässig, zum Beispiel über Funk, gewarnt werden könnten. Seite 17 von 28 8.2 Maßnahmen der Gefahrenabwehr

8.2.1 Die amtliche Seekarte Als erste Maßnahmen hat das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie auf Veranlassung des Amtes für Katastrophenschutz in den Nachrichten für Seefahrer Nr. 9/2009 die Änderung der Größe der Versenkungsstelle veröffentlicht. Das Ver- senkungsgebiet schließt nun das Unterwasserhindernis 9596 (vgl. Ziffer 6) ein und hat seit dem einen Durchmesser von ca. 1,2 Seemeilen.

ca. 1,2 SM

Abbildung 8: Auszug aus der Seekarte nach Änderung des Versenkungsstelle im März 2009

Die amtliche deutsche Seekarte könnte darüber hinaus durch den ergänzenden Hin- weis „Befahren gefährlich“ und einen Hinweis auf einen erläuternden Randtext er- gänzt werden. Um dies zu erreichen, müsste ein begründeter Antrag an das BSH gerichtet werden.

Die Option eines Einfahrtverbotes, ggf. mit Betonnung des Gebietes in der Nordsee, ist noch nicht weiter untersucht worden.

8.2.2 Verbot von Arbeiten am Meeresgrund Die Trassierung von Leitungen in einem Bereich rund um das Versenkungsgebiet sollte im Rahmen der Raumordnung rechtskräftig verboten werden; genau wie das

Seite 18 von 28 Versenken von Steinen, Schrott oder anderen Körpern (Forschungsroboter, Darstel- lungsminen, Anker, pp).

8.2.3 Verbot der Fischerei Aufgrund der Daten der BLE sind zunächst keine Vorbereitungen zum vorbeugenden Verbot der Fischerei getroffen worden. Die Fachbehörde muss im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens abwägen, welche Maßnahmen zweckmäßig, notwendig und angemessenen erscheinen.

8.2.4 Militärischer Übungsbetrieb Wenn die vorliegenden Informationen der Marine zugänglich gemacht werden, sind die Regeln für den Übungsbetrieb in diesem Bereich anzupassen. Der Marine sollte dieser Bericht daher inklusive aller Anlagen zur Verfügung gestellt werden.

8.3 Meeresschutz Zum Schutz der Nordsee gibt es eine Vielzahl von überregionalen Initiativen und Or- ganisationen sowie zuständige Verwaltungen. Gegenstand der Arbeiten dieser Ein- richtungen sind auch die im Meer versenkte Munition und ihre Umweltauswirkungen. Überwiegend vertretene Fachmeinung ist, dass nach bisherigem Kenntnisstand von dieser Munition keine erhebliche Umweltgefährdung ausgeht und dass – sofern al- ternative und umweltschonende Techniken nicht anwendbar sind – eine Bergung der Munition möglicherweise höhere Risiken bedeuten könnte, als das Belassen am Meeresboden. Es gibt hierzu aber auch andere fachliche Einschätzungen. Ursache hierfür ist, dass bisher hinsichtlich der Wirkung von sprengstofftypischen Verbindun- gen oder Kampfstoffen auf die Meeresumwelt kaum neuere Forschungsergebnisse und insgesamt nur wenige wissenschaftliche Arbeiten existieren. Bisher ausgeführte und verfügbare Analysen belegen allerdings die oben genannte Fachmeinung. Zur Verbesserung des Kenntnisstands sind weitere Arbeiten notwendig und geplant. Niedersachsen wird zum Beispiel an ausgewählten Munitionsversenkungsgebieten eine Neubewertung möglicher ökotoxikologischer Auswirkungen durchführen. Es ist vorgesehen, diese Prüfungen auf schleswig-holsteinische Gewässer auszudehnen.

Auf internationaler Ebene ist das Oslo-Paris-Übereinkommen (OSPAR) von beson- derer Bedeutung für den Schutz der Nordsee. Es handelt sich hier um eine internati- onale Organisation der Anrainer des Nordostatlantiks einschließlich der Nordsee. Sie beruht im Wesentlichen auf zwei Konventionen, die 1972 in Oslo und 1974 in Paris zunächst getrennt gegründet und 1992 zusammengeführt wurden. OSPAR berichtet periodisch über Munitionsfunde in der Nordsee und befasst sich mit der Bewertung ihrer Umweltrelevanz. Die für den schleswig-holsteinischen Meeresschutz zuständige Stelle der Landesre- gierung ist das Referat V 43 des Ministeriums für Landwirtschaft, Umwelt und ländli- che Räume.

8.3.1 Europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) „Die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie schafft den Ordnungsrahmen für die notwen- digen Maßnahmen aller EU-Mitgliedsstaaten, um bis 2020 einen „guten Zustand der Meeresumwelt“ in allen europäischen Meeren zu erreichen oder zu erhalten. Alle eu- ropäischen Meeresanrainerstaaten sind verpflichtet, dies in ihren jeweiligen Meeres- regionen durch die von kohärenten Erarbeitung und Durchführung von nationalen Strategien umzusetzen.“ (Quelle BfN: http://www.habitatmare.de/de/eu-meerespolitik-rahmenrichtlinie.php)

Seite 19 von 28 8.3.2 Schutzgebiete in der Nordsee Auf den Bereich der Nordsee legt sich ein Netz nationaler und gemeinschaftlicher Schutzgebiete. In einer Karte des Ministeriums für Landwirtschaft, Umwelt und ländli- che Räume (MLUR) sind die Gebiete in der Deutschen Ausschließlichen Wirtschafts- zone (AWZ) zusammengefasst. Hinzu kommen Natura 2000-Gebiete in den Küsten- gewässern und damit dem Zuständigkeitsbereich der Länder. Der Großteil der schleswig-holsteinischen Küstengewässer ist bereits in dieses Netzwerk integriert, einschließlich des gesamten Nationalparks Wattenmeer und des Helgoländer Fels- sockels.

Das Versenkungsgebiet liegt außerhalb dieser Schutzgebiete.

Abbildung 9: Karte der Schutzgebiete der Nordsee (MLUR, 2004), rot markiert die Lage des Versenkungsgebiets bei HELGOLAND Seite 20 von 28 8.4 Weiterer Umgang mit der Versenkungsstelle Bei der Versenkungsstelle handelt es sich nicht um eine Altlast im Sinne des Bun- des-Bodenschutzgesetzes, da dieses bei Gewässerbetten nicht einschlägig ist. Als Konsequenz aus der konkreten Beurteilung der Situation im Jahr 1981 (AZK, 1981), der ähnlichen Rahmenempfehlung der Bund/Länder-Arbeitsgruppe „Chemi- sche Kampfstoffe in der Ostsee“ aus dem Jahr 1993 und der Gefährlichkeit einer Bergung tabunhaltiger Granaten, könnte diese Versenkungsstelle aber analog zum Vorgehen bei Altlasten behandelt werden. Dazu gehört die Erfassung der betroffenen Fläche, eine Gefährdungsabschätzung, die regelmäßige gutachterliche Überprüfung der vorhergesagten Entwicklung bzw. bei Erfordernis die Sanierung.

Bislang ist es überwiegende Fach-Auffassung, dass durch Tabunaustritte aus korro- dierender Munition ins Meerwasser aufgrund der schnellen Zersetzung keine erhebli- che Beeinträchtigung der Meeresumwelt zu besorgen ist (vgl. Ziffer 12.3.3).

In einer derzeit von Niedersachsen und Schleswig-Holstein beauftragten Studie zur erneuten Bewertung möglicher ökotoxikologischer Auswirkungen der Munitionsalt- lasten in Küstengewässern wird derzeit untersucht, ob es Anhaltspunkte für eine Neubewertung der Sachlage gibt.

8.5 Fortsetzung der Gefahrerforschung Der sorgfältige Umgang mit versenkter Kampfstoffmunition setzt in jedem Fall eine weitere Erkundung des Meeresgrundes voraus. Die zuständigen Landes- und Bun- desbehörden sollten daher zunächst prüfen, inwieweit detaillierte Fernerkundungen mit modernster Sonartechnik ausgeführt werden können und ggf. entsprechende Untersuchungen in gemeinsamen Aktionen veranlassen. Die genaue Erfassung der betroffenen Fläche an sich stellt jedoch schon eine tech- nische Herausforderung dar.

Als Grundlage für die im weiteren Verfahren erforderliche Gefährdungsabschätzung muss neben der Flächenausdehnung auch geklärt werden, welche weiteren Versen- kungen in diesem Bereich stattgefunden haben. Schon heute liegen dem Innenmi- nisterium Hinweise auf Versenkungen nach dem Ersten und auch wiederholt nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Es ist möglich, dass an dieser Fundstelle neben den ca. 90 t Kampfstoffmunition bis zu 90.000 t konventioneller Munition versenkt wurden.

Für die Abstimmung und Durchführung weiterer Arbeitsschritte werden Kampfmittel- räumdienst und Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume die be- reits etablierte Kooperation fortsetzen.

Seite 21 von 28 9 Anhang

9.1 Bewertung von TABUN im Ökosystem

9.1.1 Neuer Stand der MERCW-Studie Im Rahmen der Erstellung eines nationalen Lagebildes versenkte Munition durch ei- ne ad hoc-Arbeitsgruppe im Rahmen des Bund-Länder Messprogrammes (BLMP, www.blmp-online.de) werden die neueren Ergebnisse, unter anderem der MERCW- Studie ausgewertet.

9.1.2 BSH (1993) Aufgrund der vorliegenden Kenntnisse und Untersuchungen kann eine großräumige Gefährdung der marinen Umwelt durch im Meerwasser gelöste Kampfstoffe ausge- schlossen werden. Aufgrund des sehr begrenzten Umfangs und der Immobilität des Sediments besteht jedoch nach jetziger Kenntnislage keine Gefährdung der marinen Fauna und Flora. Durch Kampfstoffe verursachte, nachteilige Auswirkungen auf die marine Umwelt sind bisher nicht bekannt geworden. (BSH, 1993)

9.1.3 Norwegian Pollution Control Authority (www.sft.no) “Tabun […] is much more soluble in water than sulfur mustard and the arsenic con- taining agents. Tabun will, in addition, decompose fairly rapidly to water soluble de- composition products. The toxicity is, however, much higher than the other com- pounds and could in a worst-case scenario affect a large amount of sea-water. […]

Tabun do dissolve in water, and with a density similar to seawater (1.00-1.03 g/cm2), tabun is expected to be dissolved in the water during a leakage. […] Literature that addresses the effects of CWA exposure on marine biota is very limited. Ecotoxicity data are summarized in the tables containing ecotoxicity data for each compound (Chapter 4). As a conclusion, CWAs seem to have a medium toxicity to marine biota, where tabun seems to be the most toxic with a PNEC of 6*10-4 mg/l. The solubility of tabun might explain some of the toxicity compared with the more unsoluble CWA. A toxicological investigation in the Swedish dumping zone studied enzyme activity (acetylcholinesterase) in crabs caged nearby a scuttled wreck. The results showed no statistical changes compared with a control group (Granbom in Kaffka, 1996). The current investigation of the scuttled ships by a ROV, performed by FFI, bore witness of an abundant marine life nearby the ships, indicating non-toxic levels (TA-1907, 2002

9.1.4 Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Bei allmählicher Korrosion und Tabun-Freisetzung dürfte - nach den chemischen Ei- genschaften des Tabuns zu urteilen - grundsätzlich keine erhebliche Gefahr für die Meeresumwelt bestehen. Allerdings ist die Schädigung einzelner Organismen nicht auszuschließen, wenn diese unmittelbar nach Freisetzung mit Tabun in Kontakt kommen. Bei einer Bergung von bereits teilweise korrodierten Tabunwaffen könnte es zu einem weiteren Aufbrechen der Munitionskörper und damit ggf. zu einer plötzli- chen Freisetzung größerer Mengen von Tabun kommen. […] Vor diesem Hintergrund scheint ein Belassen der Granaten am oder im Meeresboden derzeit sinnvoller als umfangreiche Bergungen oder Sprengungen.

Seite 22 von 28 Eine abschließende Entwarnung für das Belassen der Tabun-Granaten vor Helgo- land ist aber nicht möglich, weil weder die konkrete Lage noch der Zustand der je- weiligen Munitionskörper bekannt ist und es sich bei insgesamt 90 Tonnen [bis zu 13t Tabun] auch nicht um gänzlich irrelevante Mengen handelt. Zur Lage hat das BSH in einem Vermerk von 2001 lediglich ein Versenkungsgebiet um eine Punktkoordinate angegeben […] (V 434, 2008) 10 Abkürzungsverzeichnis AfK Amt für Katastrophenschutz AWZ Deutsche Ausschließliche Wirtschaftszone BfN Bundesamt für Naturschutz (www.bfn.bund.de) BLE Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (www.ble.bund.de) BSH Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie (www.bsh.bund.de) GQM Generalquartiermeister HELCOM Helsinki-Commission Baltic Marine Environment Protection Com- mission (www.helcom.fi) KBD Kampfmittelbeseitigungsdienst (Niedersachsen) KRD Kampfmittelräumdienst (Schleswig-Holstein) LKN Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (www.schleswig-holstein.de/lkn) LLUR Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume MLUR Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume OKH Oberkommando des Heeres OSPAR Oslo-Paris-Commission (www.ospar.org) WHG Wasserhaushaltsgesetz WSV Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (www.wsv.bund.de) 11 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Auszug aus der elektronischen Seekarte des BSH, Stand Sept. 2008). 4 Abbildung 2: Tiefenprofil der angegebenen Versenkungsstelle (Quelle: VPS 2008) .. 5 Abbildung 3: Auszug aus der topografischen Seekarten (BSH, 2002) ...... 6 Abbildung 4: Temperaturschichtung (°C) entlang 56 ° N im Sommer 2004 (BSH, 2006) ...... 7 Abbildung 5: Grafische Darstellung der Unterwasserhindernisse südlich von HELGOLAND, BSH 2008 ...... 14 Abbildung 6: Sonarbild vom 21.01.09 - mit fest am Schiff montiertem Schwinger.... 15 Abbildung 7: Ehemaliger Güterbahnhof Neuenkirchen (Foto: Böttcher, 2009)...... 16 Abbildung 8: Auszug aus der Seekarte nach Änderung des Versenkungsstelle im März 2009...... 18 Abbildung 9: Karte der Schutzgebiete der Nordsee (MLUR, 2004), rot markiert die Lage des Versenkungsgebiets bei HELGOLAND...... 20 Abbildung 10: Strukturformel von Tabun (Quelle: de.wikipedia.org)...... 25

Seite 23 von 28 12 Glossar

12.1 Seekartennull (LAT) Seekarten dienen der Schifffahrt als wesentliche Orientierungsgrundlage für eine si- chere Fahrt. Die Tiefenangaben darin sind Mindestwassertiefen; sie beziehen sich auf das Seekartennull (SKN) als Tiefenhorizont, der möglichst selten unterschritten werden soll. In den europäischen Nordsee-Anrainerstaaten ist das SKN unterschied- lich definiert, woraus sich in den jeweiligen Seekartenwerken verschiedene Bezugs- horizonte und Zahlenangaben ergeben.

Ab 2005 werden in allen Anrainerstaaten die Seekarten auf ein einheitliches See- kartennull umgestellt, das als örtlich "niedrigst möglicher Gezeitenwasserstand" bzw. "lowest astronomical tide" (LAT) berechnet wird.

12.2 Granate „Ga 39“ Kürzel Ga steht für den Kampfstoff „Tabun“ Ga 39 für „10,5 cm Feldhaubitzengranate „Grünring“

12.3 Der Kampfstoff „Tabun“ „Tabun ist ein Nervenkampfstoff, der 1936 vom deutschen Chemiker Gerhard Schra- der, der damals für die I.G. Farben tätig war, entdeckt wurde. […] Es ist ein Phos- phorsäureester und von der Struktur her vielen Pflanzenschutzmitteln ähnlich. Tabun ist eine farblose bis bräunliche Flüssigkeit mit fruchtigem, bei Erhitzen bittermandel- artigem Geruch.“ (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Tabun)

12.3.1 Bezeichnungen Zeitgenössisch: Grünring, Spitzenkampfstoff, Ga, code Name 9/91, später Le100, Gelan“, Stoff 83, Trilon 83, Grünring 3 und schließlich TABUN.

12.3.2 Eigenschaften des Stoffes Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Tabun

Andere Namen • Dimethylphosphoramidocyanidsäureethylester • P-Cyano-N,N-dimethylphosphonamidsäureethylester • GA Summenformel C5H11N2O2P Molare Masse 162,13 g·mol−1 Aggregatzustand: flüssig Dichte: 1,08 g·cm−3 (dicht an der Dichte von Nordseewasser) Schmelzpunkt: −48 °C Siedepunkt 246 °C (Zersetzung) Dampfdruck: 8,4 Pa (20 °C) Löslichkeit : mäßig löslich in Wasser, gut löslich in organischen Lösungsmitteln

Seite 24 von 28 Abbildung 10: Strukturformel von Tabun (Quelle: de.wikipedia.org)

12.3.3 Toxikologie „Die Wirkung des Tabuns tritt gleich nach Kontamination ein und ist, je nach Exposi- tionsdauer und Konzentration, sehr drastisch. Sie kann über mehrere Monate anhal- ten. Es beginnt mit vermehrter Schleimbildung im Nasen-Rachenraum, psychische Störungen, unkontrolliertes Zucken der Muskulatur, Übelkeit und Pupillenverengung und -lähmung. Bei höheren Dosen kommen starke Speichel und Schleimsekretion, Krämpfe von Magen und Darm, Blutdruckabnahme und Verlangsamung des Herz- schlages und Atemstörungen hinzu. Im schwersten Fall kommt es zu Atemstillstand durch Lähmung des Atemzentrums und zu Herz-Kreislaufversagen“ (BSH, 1993).

Für die ökotoxikolgische Bewertung ist die im Vergleich zu anderen Kampfstoffen gute Wasserlöslichkeit und die biologische Abbaubarkeit hoch verdünnter Lösungen von besonderer Bedeutung. „Tabun ist gut wasserlöslich und relativ wenig beständig. Bei einer Temperatur von 7°C beträgt die Halbwertze it im Wasser ca. 5 Stunden. Bei der Hydrolyse entstehen nichttoxische Phosphorsäureester und Blausäure. Die gifti- ge Blausäure wird relativ leicht zu ungiftiger Ameisensäure, bzw. ihrem Natriumsalz umgesetzt.“ (BSH, 1993). Die Mischstoffe zur Stabilisierung des Tabuns in den Waffen (oft Chlorbenzole) sind hinsichtlich der natürlichen Abbau- bzw. Akkumulationsprozesse ebenfalls problema- tisch (TA-1907, 2002

12.4 Chemical Defence Laboratory Als Konsequenz aus den Erfahrungen des ersten Weltkrieges entwickelten die briti- schen Landstreitkräfte Fähigkeiten zur Abwehr von Angriffen mit chemischen Waffen. Die Struktur der ABC-Einheiten (NBC-Units) lässt sich im Rahmen dieses Berichtes nicht umfassend aufarbeiten. Zur Absicherung der Richtigkeit der Abschrift wurde nur geprüft, ob die Absendestelle und der aus den Verfügungen nachvollziehbare Mel- deweg für den geschilderten Fall plausibel sein kann. Nach mündlicher Mitteilung britischer Stellen an die Deutsche Marine hat die ange- gebene Einheit in dem Raum operiert und auch über die dargestellten Fähigkeiten verfügt. Die Kopie der relevanten Kriegstagebücher wurde zugesagt, ist aber noch nicht eingetroffen.

12.5 Wehrmacht Im Zusammenhang mit diesem Bericht sind zwei Einrichtungen besonders relevant:

Seite 25 von 28 12.5.1 Der Generalquatiermeister (GQM) „Der Generalquartiermeister war früher ein höherer Offizier, der mit den Anordnun- gen zur Unterbringung der Truppen betraut war. Nach der Bildung der Generalquar- tiermeisterstäbe diente er als Chef seines jeweiligen Stabes, und nachdem diese Stäbe in vielen Armeen zum Generalstab erweitert worden waren, neben dem Chef des Generalstabs als Offizier mit besonderen Obliegenheiten.

In den meisten Heeren gab es den Generalquartiermeister nur während eines Feld- zuges.“ (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Generalquartiermeister)

Von 1939 bis 1945 nahm ein General im Generalstab des Oberkommandos des Heers (OKH) die Aufgaben des Generalquartiermeisters wahr. In seinen Stabsbe- reich fiel unter anderem die Verantwortung für die Heeresversorgung, die Kriegsver- waltung und den Nachschub […]. Ihm unterstanden neben anderen auch die Gene- rale der Nachschubtruppen, der Artillerie und der Nebeltruppe.

Im Sachgebiet I der Gruppe QU 3 der Abteilung Heeresversorgung wurden alle Gas- kriegsfragen bearbeitet und in der Gruppe Nachschubtransporte alle Eisenbahn- transportaufträge des GQM. Zur Nebeltruppe gehörten auch die Entgiftungsabteilungen, die vielleicht am ehesten der heutigen ABC-Abwehrtruppe entsprechen; mehr: http://www.lexikon-der- wehrmacht.de/Gliederungen/Oberkommando/generalquartiermeister.htm.

12.5.2 Die Heeresmunitionsanstalten (H.Ma) Die Heeresmunitionsanstalten waren meist aus Kooperationen der Staates mit Fir- men entstanden. Die Rechtsformen waren unterschiedlich, vielfach waren es tat- sächlich Anstalten des öffentlichen Rechts.

Die Anlage Dyherrenfurth/Oder (auch „Hochwerk“ genannt) war nach Angaben von Ehmann die einzige Stelle, an der Tabun synthetisiert wurde. Die Anlage soll dem- nach eine reicheigene „Montananlage“ gewesen sein, die durch das Oberkommando des Heeres (OKH) an die I.G. Farben verpachtet worden war. Die I.G. Farben ihrer- seits ließ die Anlage durch ihr Tochterunternehmen ANORGANA GmbH betreiben. Das Produktionsvolumen an Tabun gibt Ehmann mit 12.000 t (Stand Januar 1945) an (Ehmann-Bericht, NRW 1981).

Seite 26 von 28 13 Quellen AZK, 1981 Vermerk: Versenkung von chemischen Kampfstoffen im Bereich des Landes Schles- wig-Holstein (IV AZK – 400 – 521, vom 10. Dezember 1981

BMV, 1959 Bundesverkehrsministerium – Referat See 9, 2. Oktober 1959; Vermerk Munitions- versenkung in der Nordsee

BSH, 1993 Chemische Kampfstoffe in der südlichen und westlichen Ostsee; Bestandsaufnahme, Bewertung und Empfehlungen; Bericht einer Bund/Länder Arbeitsgruppe „Chemische Kampfstoffe in der Ostsee“, Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie, Hamburg

BSH, 2006 Nordseezustand 2004, Berichte des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrogra- phie, Hamburg, Rostock. Nr. 40/2006

BSH, 2009 Schreiben des BSH an AfK, Az. 1624/Amtshilfe Munitionssuche/01/09-N3 mit anlie- gendem Bericht.

CDL, GB, 1945 No 3 Chemical Defence Laboratory RE, Großbritannien; 22 June 1945; Schreiben an ‚The War Office‘ mit angefügter Meldung ‚Disposal of 100 8/497*-

Ehmann-Bericht, NRW 1981 Produktionsstätten und Produktionshöhe – Kampfstoffe, Bericht aus den 1950iger Jahren, Innenministerium NRW, 1981

GQM 1945 Generalstab des Heeres, Generalquartiermeister, Abt. I; 14. April 1945; Bericht des Generalquartiermeisters des Heeres über die Sicherstellung von Spitzenkampfstoff- munition vom 14. April 1945.

Kahlert 2005 WHY HITLER DID NOT DEPLOYE NERVE AGENT IN WORLD WAR II, Dr. Heinrich Kahlert, Furtwangen

Meyer, 2009 Seite 31 der Chronik des Dorfes 27251 NEUENKIRCHEN, Hermann Meyer, 2009

Oberholz, 1991 Andreas Oberholz: Tödliche Gefahren aus der Tiefsee. 1. Auflage – Düsseldorf, Kommunal-Verlag (ISBN 3-87433-077-X)

Polizei, 2008 Ermittlungsvorgang der Polizeiinspektion Mainz 2 (323026/18092008/1117), vom 18.09.2008, und Ermittlungsvermerk Polizeistation Schwaförden (200801344457- 001), vom 25.09.2008 Seite 27 von 28 Rapsch & Fischer, 2000 Hans-Jürgen Rapsch; Udo Fischer: Munition im Fischernetz: Altlasten in der Deut- schen Bucht. Oldenburg, Isenseeverlag (ISBN 3-89598-673-9)

RSM, 1921 Reichsschatzministerium; Berlin, den 25. August 1921; Aktennotiz über eine Bespre- chung im Ministerium für Handel und Gewerbe am 25.08.1921

Schwarz, 1981 Bericht über die Versenkung von Granaten mit Kampfstoffinhalt im Seegebiet HEL- GOLAND im Jahr 1949

TA-1907, 2002 Investigation and risk assessment of ships loaded with chemical ammunition scuttled in Skagerrak (TA-1907/2002)

Weser-Ems, 1980 Schreiben der Bezirksregierung Weser-Ems, Az. 301-12243, vom 10.03.1980

WSP Gr Nds. 1949 Wasserschutzpolizei Gruppe Niedersachsen; Emden, den 25.10.1949; Auszugswei- se Abschrift aus dem Ergänzungsbericht zum Monatsbericht für September und Ok- tober 1949 (Archiv Dr. Nehring)

WSP N5, 1949 Auszug aus dem Bordbuch des Bootes „Niedersachsen 5“ der Wasserschutzpolizei, vom 30. Sept., 1949

LLUR/BLE, 2009 Bericht des LLUR, Abt. 3 zur Fischerei südlich Helgoland; Auswertung der Daten der Fischerei durch die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), 2009

KRD SH 1962 Technische Beschreibungen der Feldhaubitzengranate Ga 39

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