Sonntag, 22. August 2021 15.04 – 17.00 Uhr

Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

Der Einsame: Schuberts Persönlichkeit (8/21)

Heute wird‘s heikel, denn heute soll es um Schuberts Persönlichkeit gehen. Was ist er für ein Mensch? Geschildert wird Schubert als unsicher, kapriziös, launisch, „grillenhaft“, phlegma- tisch, melancholisch, hektisch, schüchtern, unbeholfen, fröhlich, trotzig, arrogant, auch mal zynisch, sarkastisch, schroff, störrisch oder liebenswürdig – und aus all dem dürfen Sie sich jetzt etwas aussuchen, dürfen Sie Ihren Schubert „konfigurieren“, Ihr Schubert-Bild. Unter Alkoholeinfluss soll er übrigens auch gerne randaliert haben. „Der Einsame“, so lautet heute der Titel – und so heißt auch dieses Lied:

1 DG 4‘23 00173 „Der Einsame“ D 800 472115-2 , Tr. 124 Hubert Giessen, Klavier (1965)

Fritz Wunderlich, am Klavier begleitet von Hubert Giessen, mit dem „Einsamen“ von Franz Schubert, ein Lied von 1825 nach einem Gedicht von Karl Lappe. Wunderlich galt lange als der ideale Schubert-Interpret schlechthin, sozusagen als naiv und wissend zugleich. Das trifft sich hier mit einer idyllisch-biedermeierlichen Szene, die erst am Schluss, in der letzten Stro- phe des Liedes, enthüllt, worum es geht. Die Grillen, das Feuer, die „stille Ländlichkeit“ – das ist alles nur Fassade. Fassade für eines der großen Schubert-Themen: die Einsamkeit. Das einerseits bittere, andererseits immer wieder notwendige Alleinsein.

Heute wird‘s heikel, wie gesagt. Weil es heikel ist, über einen Künstler zu sprechen, der schon so lange tot ist, über 190 Jahre nämlich. Selbst kann man ihn nicht mehr befragen, und die Quellenlage bei Schubert – das kommt erschwerend hinzu – ist dürftig. Schriftliches hat er kaum hinterlassen, und was seine Zeitgenossen so von sich geben, in Erinnerungen oder Briefen, ist zwangsläufig gefärbt. Von der persönlichen Wahrnehmung, von Vorliebe und Abneigung, vom Verhältnis, wie es war oder wie man es sich gewünscht hätte. Im Rahmen der Musikwissenschaft stellt die Biografieschreibung einen eigenen Forschungsbereich dar. Wer notiert was warum? Wer lässt was wann weg? Wo endet die Wahrheit, und wo beginnt so etwas wie Dichtung? In Zeiten von fake news sind das brisante Fragen. Sie spitzen sich zu, sobald es um die Persönlichkeit eines Künstlers geht, um seinen Charakter, sein Wesen. Sobald der Fokus sich also vom Werk ab- und dem Menschen zuwendet (wobei die Grenzen hier sicher fließen). Würden Sie Franz Schubert gerne kennenlernen? Und wenn ja: welchen Schubert denn so?

Franz Schubert – 8. Folge Seite 2 von 9

Fangen wir mit dem jungen an, der sich 1813/14 daran macht, eine musikalische Komödie zu schreiben, „Des Teufels Lustschloss“ nach August von Kotzebue. Das Sujet: eine Treue- probe. Die Form: ein mit gesprochenen Dialogen zwischen den Musiknummern.

Hören Sie die Haydn Sinfonietta Wien unter Manfred Huss mit der Ouvertüre.

2 DG Franz Schubert 8‘33 LC: 00173 „Des Teufels Lustschloss“ D 84 4795545 0 Ouvertüre CD 8/ Track 3 Haydn Sinfonietta Wien Ltg.: Manfred Huss (1997)

D 84, die Ouvertüre zu Schuberts Singspiel „Des Teufels Lustschloss“, das seine konzertante Uraufführung erst 50 Jahre nach Schuberts Tod erlebte, 1879. Bis zur ersten szenischen Realisierung dauerte es dann noch mal 100 Jahre, das Potsdamer Hans-Otto-Theater schrieb damit Theatergeschichte, 1978 – ohne dass sich diese „natürliche Zauberoper“, so nennt Schubert das Stück in der zweiten Fassung, jemals durchgesetzt hätte.

Das ist also der junge Schubert: irgendwo zwischen barockem Maschinentheater und klassi- scher Liebes- bzw. Treueprobe, wie man sie von der „Zauberflöte“ her kennt oder später aus dem „“ oder dem „Freischütz“. Lebenskräftig klingt diese Musik, bildhaft, jung, unge- stüm. Und auch ein bisschen ungelenk. Der 16-, 17-jährige Schubert meldet hier einen Anspruch an, und das ist uns ja schon öfter begegnet. Er will mitspielen, er will auf die große Bühne, auch wenn die Welt noch nichts von ihm ahnt. Wie stellen wir uns den jungen Kom- ponisten vor? Es gibt ein Ölgemälde, wahrscheinlich des österreichischen Malers Josef Abel, das zeigt einen jungen Mann am Klavier: Vatermörder, hoch geschlossene Weste, volles lockiges Haar, volle Lippen, verträumter Blick hinter der Brille. Der junge Mann auf dem Bild hat keinen Namen, aber so könnte Franz Schubert ausgesehen haben. Und so sieht er gut zehn Jahre später aus: volles Haar, volle Lippen, sehr willensstarkes Kinn, sehr männlich, aber auch gemütlich, ein bisschen wie ein freundlicher Beethoven vielleicht. Das jedenfalls zeigt die Gesichtsmaske, die in den mittleren bis späten 1820er Jahren von Schubert gemacht wor- den ist, eine Maske, die als Vorlage für eine Büste diente und dem Subjekt lange Ateliersitzungen ersparen sollte.

Die Musik aus dieser Zeit klingt so:

3 ONYX Franz Schubert 4‘44 LC: 0 „Gute Nacht“ aus: „Winterreise“ D 911 (Müller) 4010 Christine Schäfer, Sopran Track 1 Eric Schneider, Klavier (2006)

Christine Schäfer und Eric Schneider mit „Gute Nacht“, dem ersten Lied, dem ersten Gesang aus der „Winterreise“ – und die Sopranlage, die hohe Stimme habe ich hier mit Bedacht gewählt. Bei einer weiblichen Interpretin nämlich tut man sich viel schwerer, ins

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übliche Identifikationsmuster zu verfallen von: Schubert = das lyrische Ich = der Winterrei- sende. Die Musik wird also abstrakter begriffen, „fremder“, und das hat der späte Schubert in seiner Modernität verdient, finde ich. Die Stimme eines Menschen, das sagt nicht nur die moderne Psychologie, gehört unbedingt zu seinem Wesen, zu seinem Charakter dazu. Der ganz junge Schubert soll eine ausgesprochen schöne Singstimme besessen haben, die Stimme ist gewissermaßen seine Eintrittskarte ins Internat, ins Wiener Stadtkonvikt. Als er sie verliert, im Stimmbruch, ist es auch mit dem Konvikt bald wieder vorbei – für den Her- anwachsenden sicher eine traumatische Kombination. Hinüberretten ins Erwachsenenalter konnte er das Singen jedenfalls nicht. „Seine Stimme war schwach, aber sehr gemütlich“, berichtet einer seiner Hüttenbrenner-Freunde. „In seinem 19. Jahr sang er Bariton und Tenor; im Notfalle, wenn eben eine Dame fehlte, übernahm er, da er ein umfangreiches Falsett besaß, auch die Alt- oder Sopranpartie ...“

4 Capriccio Franz Schubert 2‘58 LC 08748 „Das Wandern“ aus: „Die schöne Müllerin“ D 795 10774 Jochen Kowalski, Track 1 Markus Hinterhäuser, Klavier (1997)

„Das Wandern“: der Countertenor Jochen Kowalski mit dem ersten Lied aus der „Schönen Müllerin“, begleitet wurde er von Markus Hinterhäuser. Hat der erwachsene Schubert so gesungen, wenn im Kreise der Schubertiaden „eben eine Dame fehlte“, wie Hüttenbrenner schreibt? Vielleicht. Aparte Vorstellung jedenfalls, dass Schubert in fast jede Rolle schlüpft.

Neben der Einsamkeit ist die Fremdheit ein großes Schubert-Thema, das haben wir bei der „Winterreise“ gesehen und gehört, „Fremd bin ich eingezogen“. Die Summe, die Schubert aus diesen Topoi zieht, die auch Topoi seiner Zeit sind, des Biedermeier, der Empfindsamkeit, der Romantik, seine Summe ist – das Wandern. Und das ist nächste, große Schubert-Thema. Das Wandern als Ausdruck der Suche, der ständigen Bewegung und des Ausgleichs zwischen den so sehr ambivalenten Kräften, die an seiner Künstlerseele zerren. Wenn Schubert als launisch und liebenswürdig beschrieben wird, als melancholisch und fröhlich, schüchtern und arrogant, dann zeigt das eine mindestens gegensätzliche Persönlichkeit. Eduard von Bauernfeld nennt ihn in seinem Nachruf vielsagend eine „Doppelnatur“: „nach innen Poet und von außen eine Art Genuss-Mensch“. Das Wandern ist die Kunst- und Lebensart beide Pole, ja das Bipolare überhaupt miteinander ins Verhältnis zu setzen.

Drei „Wanderer“-Lieder, nach Gedichten von Georg Philipp Schmidt von Lübeck, August Schlegel und Johann Gabriel Seidl. Es musizieren Andrè Schuen und Daniel Heide.

5 Avi Franz Schubert 12‘51 LC: 15080 „Der Wanderer“ D 493 (Schmidt v. Lübeck) 3. Fassung 8553373 „Der Wanderer“ D 649 (Schlegel) Tracks 1 + 12 „Der Wanderer an den Mond“ D 870 + 2 Andrè Schuen, Bariton Daniel Heide, Klavier (2019)

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Der junge italienische Bariton Andrè Schuen und der Pianist Daniel Heide – und drei „Wan- derer“ von Franz Schubert. Haben Sie bemerkt, wie unterschiedlich der Wanderschritt aus- fällt? Stapfend, stampfend wie zuletzt im „Wanderer an den Mond“, leichtfüßig wie in der Schlegel-Vertonung, erst schwebend, dann stürmisch wie in „Ich komme vom Gebirge her“.

Das Wandern als Ausdruck einer Lebensspannung, einer Lebensambivalenz. Da ist der junge Komponist, der Zauberopern schreibt – und der ältere, der mit der „Winterreise“ einen Lie- derzyklus von „24 schauerlichen Gesängen“ in die Welt setzt; da ist der Lehrergehilfe, der nichts anderes als Künstler sein will; da ist der Einsame im Kreis seiner Freunde; da ist der Wanderer, der seine Heimatstadt Wien zeitlebens kaum verlässt; da ist der Sohn, der mit dem Vater hadert, bis zum Schluss, bis ans eigene Sterbebett; und da ist der Liederkomponist auf dem Weg zum „Höchsten in der Kunst“, zur Messe, zur Oper, zur Sinfonie. Vielleicht sind das alles Widersprüche. Vielleicht kann es das jeweils eine bei Schubert aber auch ohne das jeweils andere gar nicht geben. „In seinem Charakter mischten sich Zartheit mit Derbheit, Genussliebe mit Treuherzigkeit, Geselligkeit mit Melancholie“, ruft ihm sein Dichterfreund Johann Mayrhofer nach, und das klingt, als mischte es sich eben nicht (mischen im Sinn von vermischen), sondern als stünde das eine oft unvermittelt neben dem anderen. Wie Schu- bert manche Geselligkeit oft wortlos verlässt, ohne Vorwarnung oder weitere Erklärung, so wechseln bei ihm offenbar die Gemütszustände und Haltungen. Einerseits erkennt er gewisse Autoritäten an, den Vater, seine Lehrer, Beethoven als musikalisches Monument. Andererseits widersetzt er sich ihnen auch: dem Vater, indem er dem ihm vorgeschriebenen Lebensweg nicht folgt, seinen Lehrern, indem er so vieles, was sie ihm beibringen wollen, bereits beherrscht – und Beethoven, indem er den berühmten Zeitgenossen zwar fleißig stu- diert und zitiert, aber sehr wohl eigene Wege geht.

Die erste Sinfonie in D-Dur ist dafür ein gutes Beispiel. „Von jeher sind die zweiten und drit- ten Sätze der Symphonien wegen ihrer weniger exponierten Stellung Versuchsfelder der Komponisten“, schreibt die Musikhistorikerin Veronika Beci in ihrem Schubert-Buch. Als wäre genau das auch Schuberts Strategie, in jungen Jahren, in den Ecksätzen die Konventio- nen zu bedienen – und sich in „unbeobachteten Momenten“ beherzt auszuprobieren.

Das Tonhalle-Orchester Zürich unter David Zinman mit dem Andante und dem Menuett aus der Sinfonie Nr. 1 in D-Dur D 82.

6 RCA Records Franz Schubert 9‘38 Label Sinfonie Nr. 1 D-Dur D 82 00316 2. Andante/ 3. Menuetto: Allegretto – Trio 871472 Tonhalle-Orchester Zürich Ltg.: David Zinman (2011)

„Das Menuett kommt im Haydnschen Gewand daher, und der Schluss-Satz ist zweifellos von Mozart angeregt. Im Andante freilich lässt sich Schuberts Individualität bereits präziser aus- machen“, so schreibt der hellhörige Kritiker der Times zur ersten öffentlichen Aufführung von Schuberts erster Sinfonie, 1881 im Crystal Palace in London. Wir hörten den zweiten und dritten Satz aus dieser Sinfonie, das Andante und das Menuett, David Zinman leitete das Tonhalle-Orchester Zürich.

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„Mich soll der Staat erhalten, ich bin für nichts als das Komponieren auf die Welt gekommen“ - das soll Schubert gesagt haben. Überliefert freilich ist der Ausspruch nicht im Originalton, als Zeugnis des Komponisten selbst, sondern in den „Erinnerungen seiner Freunde“, die zusammengestellt hat. Eine Quelle aus zweiter Hand also, deren Zuverlässig- keit schwer einzuschätzen ist. Nehmen wir an, Schubert würde dieser Satz nur in den Mund gelegt – was wollen die Freunde damit erreichen? Der Ruf nach staatlicher Subventionierung, der Musiker, der ganz im Komponieren aufgehen kann: das entspricht ziemlich genau der romantischen Genie-Ästhetik, die den Künstler als Medium wahrnimmt. Er versetzt sich in einen Zustand der Entrückung (oder wird in einen solchen Zustand versetzt) und schöpft darin seine Kunst. Dazu passen auch andere Äußerungen, etwa diese hier von Josef Hütten- brenner: „Beim Komponieren kam mir Schubert wie ein Somnambule vor. Seine Augen leuchteten dabei, hervorstehend wie von Glas.“ Der tagträumende, offenen Auges schlaf- wandelnde, den Blick in ferne Welten richtende Komponist: das ist das Schubert-Bild, das hier weitergegeben wird. Zufällig oder nicht entspricht es der Zeit, der aufkommenden Romantik und, nicht zuletzt, den Wünschen und Sehnsüchten der Freunde. Das Bild eines gestorbenen Künstlers, lernen wir, ist formbar.

Natürlich liefert Schubert dafür gewisse Voraussetzungen. Mit seinem Drang, sich zurückzu- ziehen, mit seiner Arbeitswut und -disziplin, an die kaum etwas anderes in seinem Leben heranreicht – und mit seiner Musik. Hören Sie das erste der Impromptus op. 90, das nur ein Thema kennt: das Marschieren an sich, den Wanderrhythmus.

Es spielt Krystian Zimerman.

7 DG Franz Schubert 9‘06 LC 00173 Impromptus D 899 423 612 2 Nr. 1 c-Moll Track 1 Krystian Zimerman, Klavier (1991)

In diesem Impromptu scheint jede Ambivalenz aufgehoben, schon dadurch, dass es nur ein Thema gibt – ein bisschen so, als fügte sich die Musik in ihr selbst gewähltes Schicksal. Und das lautet: die Gegensätze aushalten, die in der Kunst wie die des Lebens. Ein Schritt vor den anderen, setzen, mal stoisch, mal in energischem Staccato, mal ganz lyrisch, ganz Legato. Bloß keinen Stillstand! Die Musik darf nicht stehenbleiben, eine Urangst unter Musikern. Wir hörten den polnischen Pianisten Krystian Zimerman mit dem Impromptu N° 1 in c-Moll D 899 von Franz Schubert. Eine bemerkenswert schnörkel- und schlackenlose Interpretation.

Geht es um Schubert, den „Menschen“, wird gerne betont, wie still, bescheiden und zurück- haltend er gewesen sein soll, solange es nicht um seine Kunst ging. Daraus entspringt das zweite schwierige Schubert-Bild, das sich uns in den Weg stellt. Der in seiner Musik Entrückte bekommt sozusagen einen Widergänger. Der Schriftsteller Rudolf Hans Bartsch gibt ihm 1912 einen Namen: „Schwammerl“, so nennt er seinen Schubert-Roman, und spätestens damit hat Schubert seinen Spitznamen weg. Der Kleine, Nette, Pausbäckige, der den anderen zum Tanz aufspielt, das ist der Schwammerl. Immer gut zu haben, immer gut gelaunt. Aus

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heutiger Perspektive ist das entweder Wahnsinn oder Strategie. Die Strategie könnte besa- gen: wo der Künstler so nahbar ist, so vertraut – kein „Göttlicher“ wie Mozart, kein „Titan“ wie Beethoven –, da kennt auch die Kunst keine Abgründe.

8 Berliner Philhar- Franz Schubert 5‘21 moniker Record- „Alfonso und Estrella“ ings Nr. 3 „Versammelt Euch, Brüder“ LC 13781 Christian Gerhaher, BPHR 150061-7 Rundfunkchor Berlin Tr. 704 Berliner Philharmoniker Ltg.: (2005)

Ein Ensemble aus dem ersten Akt von Schuberts Oper „Alfonso und Estrella“ - „Versammelt Euch, Brüder“. Nikolaus Harnoncourt leitete den Rundfunkchor Berlin und die Berliner Phil- harmoniker. Schubert und die Oper, das wird in aller Ausführlichkeit nächsten Sonntag mein Thema sein. Hier und heute nur so viel: Das klingt, auf Anhieb, recht putzig und singspielartig, wenig nach einer ausgewachsenen dreiaktigen Oper und schon gar nicht nach einem „romantischen Ideendrama“. Ist es aber trotzdem. Schon durch die Geschichte, Schober schreibt das , eine Geschichte über das siegreiche Aufbegehren gegen neue Macht- verhältnisse; das vertont Schubert 1820: die Musik ist durchkomponiert, das heißt, es gibt keine gesprochenen Dialoge mehr, sie wird von einer Art Leitmotivik gelenkt (lange vor Wag- ner), und ist meisterhaft instrumentiert. Werke wie „Alfonso und Estrella“ haben zweifellos subversive Qualitäten, das will ich damit sagen, nur leider werden die bis weit ins 20. Jahr- hundert hinein nicht gesehen und nicht gehört. Schuberts Persönlichkeit scheint ganz ähnlich zu gehen. Das Schwammerl wird vorgeschoben, das Genie verkannt.

Ein tolles Beispiel für das, was bei Schubert oft unter der Oberfläche schlummert, ist seine fünfte Sinfonie. Auf Anhieb ein „klassischer“ Viersätzer, im Detail aber ein Dokument für „misslungenes Aufbegehren und Fügung“ – so nennt das Veronika Beci, und ich finde, das trifft es. Nehmen wir das Menuett, normalerweise ein Satz, an dritter Stelle, der Ruhe ins sinfonische Geschehen bringen soll. Qua Tradition, aber auch durch seinen Rhythmus und durch die Rückkehr zur Grundtonart. Nichts davon bei Schubert! Sein Menuett steht in der Mollparallele g-Moll und die Streicher setzen fort, was sie in den beiden vorangehenden Sät- zen begonnen haben: sie stören. Sie stören die Bläser, sie stören den Rhythmus und das har- monische Konzept. Nichts ist hier, wie es sein soll.

Allegro molto – Trio: Die Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti.

9 EMI CLASSICS Franz Schubert 5‘06 LC: 06646 Sinfonie Nr. 5 B-Dur D 485 764873-2 3. Menuetto: Allegretto molto – Trio Tr. 307 Wiener Philharmoniker Ltg.: Riccardo Muti (1988)

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Nach all den Abwegen und Schroffheiten mutet das Satzende doch ein bisschen schal an, und das gilt für die ganze Sinfonie. Das war das Menuett aus Schuberts Fünfter in B-Dur D 485. Eine Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern unter Riccardo Muti.

Erst meint man die Rokoko-Puderquaste stauben zu sehen – und plötzlich ist doch alles gut, alles B-Dur? Veronika Beci hat Recht, wie gesagt, wenn sie hier von „misslungenem Aufbe- gehren und Fügung“ spricht, vom Sieg des „hergebrachten Musters“. Schubert komponiert sein Komponieren, wenn man so will, und das heißt in dieser frühen Zeit, 1816/17, vor allem: Er komponiert für den Vater und gegen den Vater. Auf Krise folgt Versöhnung in diesem komplizierten Verhältnis, auf Versöhnung stets neuerliche Krise. Der Tod der Mutter macht das nicht besser, ebenso wenig Schuberts Abgang aus dem Konvikt. Sagen wir so: Solange Franz jun. von seiner Hochbegabung profitieren kann, duldet Franz sen. seine Extratouren. Als er von der Schule fliegt, ist es damit vorbei, er soll und muss Lehrer werden. Und wird es nicht, entzieht sich, geht ins Risiko. Mit der Folge, zum Beispiel, dass der Sohn, als er sich mit Syphilis infiziert, das Weite suchen muss, sicher auch, um vor der väterlichen Schule kein schlechtes Beispiel abzugeben. Wenn Schubert komponiert, dann komponiert er immer auch gegen die ihm drohende kleinbürgerliche Existenz an.

1821 etwa, in diesem Lied, das sehr leicht autobiografisch zu verstehen ist: „Der Unglückli- che“. Es singt Dietrich Fischer-Dieskau.

10 DG Franz Schubert 6‘04 LC: 00173 „Der Unglückliche“ D 713b 477 8991 Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton CD 13, Track Gerald Moore, Klavier 10 (1966)

„Da stürzte dich ein grausam Machtwort nieder/ aus deinen Himmeln nieder“ – so dichtet Caroline Pichler, und das lässt sich leicht als rüdes Ende einer Liebesbeziehung deuten. Bei Schubert bietet sich noch eine andere Lesart an: Das Machtwort spricht der Vater, und die Himmel sind nicht die Himmel der Liebe, sondern die der Kunst. Wir hörten Dietrich Fischer- Dieskau und Gerald Moore mit dem „Unglücklichen“ D 713b.

Ist Schubert unglücklich? Diese Frage wird gern mit dem „Traum“ beantwortet, einem Text, den Schubert im Juli 1822 schreibt. Er, der eigentlich kein Schreiber ist, setzt sich hin und schreibt – ja, was eigentlich? Eine Novelle, einen „literarischen Erguss der Fantasie“, wie Otto Erich Deutsch es nennt. Darin geht es, wie der Titel sagt, um einen Traum, den Schubert gut selbst geträumt haben könnte.

Es liest Udo Samel.

MEIN TRAUM gelesen von Udo Samel 3‘47

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Mein Traum

Ich war ein Bruder vieler Brüder und Schwestern. Unser Vater und unsere Mutter waren gut. Ich war allen mit tiefer Liebe zugethan. — Einstmahl führte uns der Vater zu einem Lustge- lage. Da wurden die Brüder sehr fröhlich. Ich aber war traurig. Da trat mein Vater zu mir und befahl mir, die köstlichen Speisen zu genießen. Ich aber konnte nicht, worüber mein Vater erzürnend mich aus seinem Angesicht verbannte. Ich wandte meine Schritte und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich in ferne Gegend. Jahre lang fühlte ich den größten Schmerz und die größte Liebe mich zertheilen. Da kam mir Kunde von meiner Mutter Tode. Ich eilte sie zu sehen, und mein Vater von Trauer erweicht, hinderte meinen Eintritt nicht. Da sah ich ihre Leiche. Thränen entflossen meinen Augen. Wie die gute alte Vergangenheit, in der wir uns nach der Verstorbenen Meinung auch bewegen sollten, wie sie sich einst, sah ich sie liegen. Und wir folgten ihrer Leiche in Trauer und die Bahre versank. — Von dieser Zeit an blieb ich wieder zu Hause. Da führte mich mein Vater wieder einstmahls in seinen Lieblingsgarten. Er fragte mich ob er mir gefiele. Doch mir war der Garten ganz widrig und ich getraute mir nichts zu sagen. Da fragte er mich zum zweiten- mahl erglühend: ob mir der Garten gefiele? — Ich verneinte es zitternd. Da schlug mich mein Vater und ich entfloh. Und zum zweiten- mal wandte ich meine Schritte, und mit einem Her- zen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich abermals in ferne Gegend. Lieder sang ich nun 12 lange, lange Jahre. "Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz; Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe. So zertheilte mich die Liebe und der Schmerz. Und einst bekam ich Kunde von einer frommen Jungfrau, die erst gestorben war. Und ein Kreis sich um ihr Grabmahl zog, in dem viele Jünglinge und Greise auf ewig wie in Seligkeiten wandelten. Sie sprachen leise, die Jungfrau nicht zu wecken. Himm- lische Gedanken schienen immerwährend aus der Jungfrau Grabmahl auf die Jünglinge wie leichte Funken zu sprühen, welche sanftes Geräusch erregten. Da sehnte ich mich sehr auch da zu wandeln. Doch nur ein Wunder, sagten die Leute, führe in diesen Kreis. Ich aber trat langsamen Schrittes, innen Andacht und fester Glaube, mit gesenktem Blicke auf das Grab- mahl zu, und ehe ich es wähnte, war ich in dem Kreis, der einen wunderlieblichen Ton von sich gab; und ich fühlte die ewige Seligkeit wie in einen Augenblick zusammengedrängt. Auch meinen Vater sah ich versöhnt und liebend. Er schloß mich in seine Arme und weinte. Noch mehr aber ich. Franz Schubert.

Udo Samel las diesen Text „Mein Traum“ von Schubert. Der Sohn, der sich dem Lieblingsgar- ten des Vaters verweigert, der Vater, der mit körperlicher Gewalt und Liebesentzug reagiert, die Kunst, jene „fromme Jungfrau“, als Erlöserin und Versöhnerin – dieser Traum bietet alles, was die klassische Psychoanalyse braucht. Und er ist vielfach psychoanalytisch gedeutet wor- den, als Versuch des Sohnes, das Verhältnis zum Vater schöpferisch zu verarbeiten. Das funk- tioniert allerdings auch musikalisch. Schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat der Musikwissenschaftler Arnold Schering Schuberts „Traum“ als poetisches Programm zu seiner „Unvollendeten“ gelesen, und dafür gibt es Anhaltspunkte: die gemeinsame Entstehungs- zeit, das Zweigeteiltsein (die zwei Sätze in der Sinfonie, die zwei Teile der Traum-Erzählung) oder der Antagonismus von „Liebe“ und „Schmerz“. Dieser Antagonismus könnte im musi- kalisch Utopischen und im musikalisch Distopischen bei Schubert seine Entsprechung finden, in der Schönheit seiner Melodien einerseits und in seiner oft krassen Expressivität anderer- seits. Sie merken schon, der Boden, auf dem ich mir hier bewege, auf dem sich die Schubert-

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Forschung bewegt, schwankt. Doch selbst wenn Schuberts „Traum“ nur ein Spiel sein sollte, eine fantastische Spielerei unter Freunden, spiegelt sich auch darin etwas von jener Grund- Ambivalenz, jener Lebensspannung, die so typisch ist für ihn.

Allegro moderato: der erste Satz aus der Unvollendeten. Es spielen die Wiener Philharmoni- ker, es dirigiert Carlos Kleiber.

11 DG Franz Schubert 13‘56 LC: 00173 Sinfonie N° 8 h-Moll D 759 „Unvollendete“ 449 745 2 1. Allegro moderato Track 5 Wiener Philharmoniker Ltg.: Carlos Kleiber (1979)

Carlos Kleiber am Pult der Wiener Philharmoniker, wir hörten den ersten Satz aus der Sinfo- nie N° 8 in h-Moll, der so genannten „Unvollendeten“.

Dass Schubert weder nur das neckische Schwammerl ist noch nur das weltentrückte Genie, zeigt ein Wutausbruch, zu dem er sich einmal in einem Wiener Kaffeehaus hinreißen lässt und den ich Ihnen nicht vorenthalten will. Schubert gerät mit ein paar Musikern aneinander, Stühle fliegen, Gläser klirren. „Ich bin nicht bloß ein Lieder-Kompositeur, wie‘s in der dum- men Zeitung steht und wie die dummen Menschen nachschwätzen – ich bin Schubert!“, soll der Komponist geschrien haben. „Franz Schubert, den alle Welt kennt und nennt! Der Großes gemacht hat und Schönes, das ihr gar nicht begreift! Und der noch Schöneres machen wird – das Allerschönste! Kantaten und Quartette, Opern und Sinfonien!“ Da nehme ich ihn doch beim Wort, gleich nächste Woche, in Folge 10, wenn es hier heißt: „Bretter, die kein Glück bedeuten: Schuberts Weg zur Oper“. Ich bin Christine Lemke-Matwey und wünsche Ihnen noch einen guten Sonntagabend.

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