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Gebautes : Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall

Katharina Brichetti

Kritische Rekonstruktion am Pariser nur von unterschiedlichen Stadtvorstellungen der Versuch der historischen Bezugnahme wie Platz, Friedrichswerder Süd, während des Kalten Krieges geprägt worden beispielsweise beim Schlossplatz oder beim Friedrichswerder Nord und an der war, sondern auch eine Stadt zu vereinen, die Schinkelplatz am Friedrichswerder Nord. Hier Friedrichstraße alles doppelt hatte wie zwei Stadtzentren, zwei bezieht sich die Rekonstruktion nicht nur auf Regierungen, zwei Staatsopern usw. Zudem den städtebaulichen Grundriss, sondern auch befanden sich viele Areale wie beispielsweise auf die bauliche Rekonstruktion. Die Annä- der Pariser und der Leipziger Platz auf Grund herung an die historische Stadt umfasst nicht der politischen Teilung, des Mauerbaues und nur die planerische Praxis der Rekonstruktion Die Wiederaufnahme der Gedächtnisspuren der darauf folgenden Abrisse „im Zustand ei- von Straßen und Plätzen, sondern bestimmt im Berliner Städtebau nach der Wiederver- ner inneren Peripherie“.1 Erst vor dem Hin- auch eine begriffliche Rückkehr zur vorsozia- einigung war laut dem damaligen Berliner tergrund einer solchen radikalen Zerstörung, listischen Stadt. Wegen des starken Geschichts- Baudirektor Hans Stimmann nur vor dem Hin- städtebaulicher Brüche und innerer Periphe- bezuges wurde die Kritische Rekonstruktion tergrund eines schwerwiegenden Verlustes an rie-Bildung wird das Stadtmodell der Kritischen insbesondere im Bereich der historischen Mit- Geschichte denkbar. Stadtstruktur war Rekonstruktion, das innerhalb der Berliner Mit- te angewandt und bezieht sich im Wesentlichen von der Stadtgestaltung aus der Zeit der Kriegs- te angewandt wurde, verständlich (Abb 1). Die auf die Stadterweiterungen bis 1860. zerstörungen und des Kalten Krieges geprägt. Kritische Rekonstruktion ist eine Methode, die Beide politischen Systeme in Ost- und West- den historischen Stadtgrundriss auf seine Re- Der Pariser Platz Berlin verdrängten durch den Einzug der mo- konstruierbarkeit hin überprüft, um Schwer- dernen Stadtvorstellung die vorangegangenen punkte wie zentrale Plätze, erlebbare Abläufe historischen Schichten. Während in Westber- des historischen Wachstums wieder an die rich- lin ein neues Zentrum mit dem Schwerpunkt tigen Stellen zu legen. Der Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor der autogerechten Stadt entwickelt und das Im Folgenden werden vier Areale Berlins symbolisiert wie kein anderer Ort Berlins die Wohnen zunehmend aus der Innenstadt ver- vorgestellt, die mittels der Kritischen Rekons- deutsche Geschichte der vergangenen zwei drängt wurde, bestimmte eine neue Weitläu- truktion wiederaufgebaut wurden. Die Metho- Jahrhunderte. Der Pariser Platz war immer ein figkeit durch große Plätze und Magistralen das de der Kritischen Rekonstruktion, die laut Hans Ort der politischen Geschichte und ist heute neue Image der sozialistischen Planung im his- Stimmann „zu achtzig Prozent aus Stadtrecher- über die Stadtgrenzen hinaus das Symbol der torischen Zentrum Ostberlins. Der einpräg- che“ bestand, ist in ihrer Umsetzung sehr viel- Wiedervereinigung. same, aus dem 13. Jahrhundert stammende fältig.2 Je bedeutsamer – politisch wie historisch Das Brandenburger Tor, das als einziges Grundriss der Gründungskerne Berlins und – der Ort, desto ausgeprägter und stringenter von ursprünglich 18 Toren erhalten ist, stellt Cöllns sowie die barocken Stadterweiterungen heute einen der stärksten Identifikationspunkte 1 Hans Stimmann: Kritische Rekonstruktion und aus dem 17. Jahrhundert waren 1989 fast völ- steinerne Architektur für die , in: der Stadt dar, aber nicht nur historisch, sondern lig ausgelöscht. Von der baulichen Substanz her Annegret Burg: Neue Berlinische Architektur. auch städtebaulich: da das Zentrum während ist Berlin demnach eher eine Stadt des späten Eine Debatte, Berlin u. a. 1994, S. 107. der Zweiteilung Berlins an der Peripherie lag, 19. und des 20. Jahrhunderts. Auch galt es, 2 Zitat von Hans Stimmann: Interview mit Hans war der Pariser Platz durch den Mauerfall von Stimmann in Berlin am 9.2.2000. 1991-1996 eine zweigeteilte Stadt zu vereinen, die nicht Senatsbaudirektor für Bau- und Wohnungswe- seiner peripheren Stellung wieder in den Mit- sen Berlin, 1996-1999 Staatssekretär für Stadt- entwicklung, Umweltschutz und Technologie in Berlin, 1999-2006 Senatsbaudirektor für Stadt- entwicklung Berlin, ab 2008 Honorarprofessor in Dortmund. 132

telpunkt der Stadt gerückt. Der Pariser Platz, der ursprünglich als Entree der Stadt diente, bekam seine ursprüngliche städtebauliche Be- deutung in seiner axialen Ausrichtung auf den Kernbereich der historischen , dem Palast der Republik (ursprünglich Schloss), wieder zurück. Dieser historische Ort präsentierte sich zur Zeit der Maueröffnung 1989 als leere Flä- che. Als Grundlage für weitere Diskussionen und Planungen am Pariser Platz entstanden im Auftrag der beiden Senatsverwaltungen (Bau- en, Wohnen und Verkehr und Bau- und Woh- nungswesen) drei Gutachten.3 Wie schon zur Zeit der IBA bildete die historische Analyse die Grundlage der Gutachten. In den beiden Gut- achten zur städtebaulichen Wiederherstellung des Pariser Platzes wurden unterschiedliche historische Schichten festgestellt, welche die Bezugspunkte für die neue Bebauung bilden sollten. Die Bebauung am Pariser Platz weist vier historische Schichten auf: Die barocke Be- Abb. 1 Berliner Mitte, 1989. , und . Quer durch das Bild zieht sich die Trasse der Gertrauden- bauung von etwa 1735 bis 1791 (Abb. 2), die und Grunarstraße. klassizistische Bebauung von etwa 1791 bis das Quarré (Pariser Platz), das Oktogon (Leip- Schlüter und die Anlegung des Tiergartens. 1865 (Abb. 3), die historistische Bebauung – ziger Platz), das Rondell (Belle-Alliance-Platz, Die Erstbebauung, die im wesentlichem auch als wilhelminische Bebauung bezeichnet – heute ). kurz nach 1735 entstand, setzte sich aus zweige- von etwa 1866 bis 1918 und der Zustand (Abb. Am Ausgang des Quarrés zum Tiergar- schossigen, barocken, palaisartigen Bauten mit 4), der 1989 (Abb. 5) vorgefunden wurde. Um ten entstand nach Entwürfen Philipp Gerlachs hohem Walmdach zusammen. Das „Erschei- den Entstehungsprozess der städtebaulichen zwischen 1734 und 1738 die erste repräsenta- nungsbild“ der sieben spätbarocken Stadtpa- Gutachten in ihrer Kausalität nachvollziehen zu tive Toranlage.5 Das Tor bestand lais war durch ein hohes Maß an Einheitlichkeit können, ist es sinnvoll, in einem kurzen Abriss aus zwei barocken Torpfosten, geschmückt mit gekennzeichnet. Diese barocke und homogene auf die vier verschiedenen historischen Ebenen Pilastern und Trophäen, welche die Torflügel Erstbebauung ließ dem Brandenburger Tor viel einzugehen. hielten (Abb. 2). Das Quarré wurde seit 1730 freie Fläche und Raum, da die Traufkante rela- mit Palais bebaut. tiv niedrig war. Sie lag in der Regel „bei 8–10 Die erste historische Schicht: der barocke In diese Zeit des Ausbaus Berlins zur ba- Metern, die Firstlinie bei 14–16 Metern“.6 In Platz 1735–1790 rocken Stadt erfolgt auch die Erweiterung des dieser barocken Phase war das Tor „die offens- Berliner Stadtschlosses 1698 unter Andreas te, jedoch geringste betonte Stelle“.7

3 1991 erschien das erste Gutachten von Bern- in: Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Ver- hard Strecker und Dieter Hoffmann-Axthelm. kehr (Hg.): Der Pariser Platz. Wiedergewinnung Berlin wurde 1701 unter dem König von Preu- (Bernhard Strecker und Dieter Hoffmann-Axt- eines historischen Stadtraumes, Berlin 1998, S. ßen Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) zur Re- helm (Verf.), Senatsverwaltung für Bau- und 20–25.) sidenzstadt. Acht Jahre später beschloss der Wohnungswesen (Hg.): Pariser Platz. Kritische 4 Michael S. Cullen, Uwe Kieling: Das Brandenbur- Rekonstruktion des Bereiches, Berlin 1991.) 1992 ger Tor, Ein deutsches Symbol, Berlin 1999, S. 14. König, „die fünf Städte seiner Residenz – Berlin, folgte das zweite Gutachten von Hildebrandt 5 Jürgen Tietz (Hg.): Bernhard Winking. Das Palais Cölln, Friedrichswerder, die Dorotheen- und Machleidt, Walter Stepp und Wolfgang Schäche. am Pariser Platz, Berlin 1999, S. 9. die Friedrichstadt – zu einer zusammenzufas- (Machleidt, Stepp, Schäche (Verf.): Senatsver- 6 Wolfgang Schäche: Zur Geschichte und stadt- sen“.4 Im Auftrag von Friedrich Wilhelm I. legte waltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz räumlichen Bedeutung des Pariser Platzes, in: Philipp Gerlach die drei großen Torplätze an – (Hg.): Städtebauliches Gutachten Umfeld Reichs- Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Ver- tag Pariser Platz, Berlin 1992.) Beide Gutachten kehr: Der Pariser Platz, Wiedergewinnung eines beschäftigten sich mit der allgemeinen städtebau- historischen Stadtraumes, Berlin 1998, S. 9. lichen Wiederherstellung des Pariser Platzes, wäh- 7 Annalie Schoen: Leitbilder, Ziele, Konzepte, in: rend sich das letzte Gutachten (1993) von Bruno Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Ver- Flierl und Walter Rolfes im Wesentlichen auf die kehr (Hg.): Der Pariser Platz, Wiedergewinnung Gestaltung der Gebäude am Pariser Platz bezog. eines historischen Stadtraumes, Berlin 1998, S. 17. (Bruno Flierl, Walter Rolfes: Gestaltungsregeln 133

Abb. 2: Pariser Platz, Die barocke Bebauung von etwa 1735 bis 1791. Abb. 3: Pariser Platz, Die klassizistische Bebauung von etwa 1791 bis 1865. Pariser Platz – Das Brandenburger Tor mit den nach Plänen von August Stüler erbauten Häusern Pariser Platz 1 und 7, Stahlstich von Johann Poppel, 1860.60 Die zweite historische Schicht: der für die anderen Gebäude am Pariser Platz setzte Die dritte historische Schicht: der klassizistische Platz 1791–1865 1828 bis 1830 Karl Friedrich Schinkel mit dem historistische Platz 1866–1918 Palais Reedern.12 Die von Schinkel eingeführ- te Formensprache sollte bis in die 1880er Jahre für die Bebauung des Pariser Platzes verbind- Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- lich bleiben.13 „Der in der Fassade zweigeschos- „Seit dem Abbruch der Stadtmauer 1867“ derts fand infolge des Bedeutungszuwachses sige, walmdachbekrönte Palais-Typus wurde stand das Brandenburger Tor völlig frei.16 Mit der Straße „“ bei den nachfol- durch den schon erwähnten drei- bis vierge- der Gründung des Deutschen Kaiserreichs un- genden Bebauungen ein „Maßstabssprung in schossigen Palazzo-Typus ersetzt, bei dem sich ter Wilhelm I. und Bismarck als neuem Reichs- der Höhe“ statt, so dass gemäß der Bautaxa von die Traufhöhen bzw. Attikaoberkanten in sen- kanzler wird Berlin zur Residenz des deutschen 1755 „der Hausbau in der Regel von einer drei- sibler Korrespondenz zur Gesimslinie des Kaisers und Reichshauptstadt. Der Pariser Platz geschossigen Fassadenwand“ ausging.8 Brandenburger Tores bezogen.“14 So wurden bekam damit eine stärkere wirtschaftliche und Durch das „königliche Repräsentations- auch im klassizistischen Stil von August Stüler politische Position, da er nun das Regierungs- bedürfnis“ und das „steigende Verkehrsauf- die beiden Gebäude am Pariser Platz 1 und 7 viertel, verschiedene Botschaften (britische, kommen“ veranlasste Friedrich Willhelm II. für Carl August Sommer (links) und für Lou- französische) und auch Banken beheimate- in seiner kurzen Regentschaft von 1786–1797 is Liebermann (rechts) 1844–1846 entworfen. te. Mit dem Bau des Reichstagsgebäude von den Neubau des Stadttores, das ursprünglich Das Haus unmittelbar neben dem Brandenbur- Paul Wallot (1884–1894) in der Nähe des Pa- mit offiziellem Namen „Friedenstor“ hieß.9 Der ger Tor, das dem Kaufmann Louis Liebermann riser Platzes wurde dieser zum Bestandteil des Name Friedenstor bezog sich auf die künstleri- gehörte, wird später Wohnsitz und Atelier sei- Regierungsviertels, was dem Platz zusätzliche sche Konzeption, die mit den Reliefs der Qua- nes Sohnes , des berühmten Bedeutung verlieh, da er fortan in jede Staats- driga den Triumph des Friedens zum Inhalt impressionistischen Malers. Der Adel wohnte feierlichkeit einbezogen wurde. Das von Schin- hatte. Carl Gotthard Langhans wurde mit dem bevorzugt in der Wilhelmstraße oder am Pari- kel um- und ausgebaute Palais Reedern wurde Bau des neuen klassizistischen Tores (1789– ser Platz.15 zugunsten des neuen 1906 abge- 1791) beauftragt, welches das erste bedeutende tragen. Der wilhelminische Platz wird von ganz 8 Schäche (wie Anm. 6), S. 9. Bauwerk des Klassizismus in Berlin ist. 9 Cullen, Kieling (wie Anm. 4), S. 8. neuen Gebäudehöhen bestimmt. Die „Trauf- Mit dem neuen Tor wurde „die barocke 10 Schäche (wie Anm. 6), S. 10. höhen auf der Tiergartenseite“ ziehen mit dem Maßstäblichkeit des Platzes außer Kraft“ ge- 11 Ebd., S. 11. Hauptsims des Tores gleich.17 Durch die neuen setzt und „eröffnete die Dimension einer neu- 12 Tietz (wie Anm. 5), S. 12. Gebäudehöhen wird „der spätklassizistisch-wil- 13 Herbert Schwenk: Berliner Stadtentwicklung von en Raumbildung“.10 Zudem hatte Langhans A–Z, Berlin 2001, S. 137. helminische Platz“ mehr durch die Baumassen nicht nur städtebaulich, sondern auch architek- 14 Schäche (wie Anm. 6), S. 11. „als durch das Tor“ bestimmt.18 tonisch mit dem Bau des Brandenburger Tores 15 Peter Schubert, Günter Schneider: Potsdamer „den endgültigen Bruch“ mit dem Barock voll- Platz. Magischer Ort und Stadt der Zukunft, Ber- zogen.11 Den weiteren neuen Bezugsrahmen lin 2000. 16 Cullen, Kieling (wie Anm. 4), S. 7. 17 Strecker, Hoffmann-Axthelm (wie Anm. 3), S. 13. 18 Annalie Schoen (wie Anm. 7), S. 17. 134

Abb. 4: Pariser Platz, Die historistische Bebauung (rechte Seite) – auch als wilhelminische Bebauung bezeichnet – Abb. 5: Pariser Platz, Die Leerfläche, 1989, gekennzeichnet von von etwa 1866 bis 1918. Kriegszerstörungen, Abriss der Ruinen und Mauerbau.

Die vierte historische Schicht: Leerfläche von nationalsozialistischen Regierungsstellen bezo- und Hoffmann-Axthelm dem Brandenburger 1946–1989 gen. 1937 musste die Akademie der Künste den Tor einen Zuwachs an bildlicher Prägnanz er- Pariser Platz räumen, damit Hitler seinen Ar- bracht habe. Daher sei der Phase der Leerfläche chitekten in unmittelbarer Nach- eine ebenso große Bedeutung zuzumessen wie barschaft zur Reichskanzlei hat. Das Hotel den „anderen historischen Schichten“.24 Noch ehe der Pariser Platz im Krieg zerstört Adlon war im Übrigen „das einzige Gebäude werden sollte, begann infolge der nationalso- am Platz, das seine Funktion bis zu seiner Zer- Gutachten zur Wiederbebauung des Pariser zialistischen Planungen für die Welthauptstadt störung beibehielt“.20 Der Platz selbst wurde Platzes Germania bereits die erste geplante Zerstö- für Aufmärsche und Massenkundgebungen ge- rung. Im Zuge der von Albert Speer geplanten nutzt.21 Der letzte Bombenangriff 1945 legte Nord-Süd-Achse entlang des Tiergartens wur- den Platz endgültig in Schutt und Asche. Nur de ein überdimensional großer Kuppelbau vor- das Brandenburger Tor mit seiner Quadriga, Insgesamt gab es drei Gutachten zum Pariser gesehen, der sowohl das Parlamentsgebäude als Nebengebäude des Adlon und Reste der Aka- Platz. Beide Gutachten (Strecker und Hoff- auch das Brandenburger Tor in seinen Schatten demie der Künste blieben erhalten.22 In den mann-Axthelm und Machleidt, Stepp und gestellt hätte. Beinahe wären im Dritten Reich fünfziger Jahren wurden die letzten Überbleib- Schäche) verfolgen eine Wiederherstellung des die beiden offenen Säulenhallen des Branden- sel bzw. „in Teilen wiederaufbaufähige, ruinöse historischen Stadtgefüges nach dem Prinzip der burger Tores und die beiden Stülerschen Bau- Bausubstanz“ abgeräumt.23 Kritischen Rekonstruktion – also gemäß der alten ten der Speerschen Planung zum Opfer gefallen, Mit der Teilung Deutschlands und dem Parzellen- und Nutzungs-Strukturen. „Die Hal- um dem Verkehr ausreichend Platz zu verschaf- Bau der Mauer 1961 wird der Pariser Platz Sym- tung“ des Pariser Platzes als vornehmster öf- fen.19 Die Häufung der jüdischen Namen und bol und Schnittstelle der zweigeteilten Stadt. fentlicher Raum Berlins, als „Empfangssalon“, des jüdischen Besitzes auf dem Pariser Platz Zur Zeit der Wiedervereinigung war der war eine weitere Forderung.25 war wohl auch eine der Ursachen, warum der Platz durch die ausschließliche Präsenz des 19 Günter Peters: Kleine Berliner Baugeschichte, Pariser Platz den megalomanen Planungen Al- Tores auf der leeren Fläche, sowie durch einige Von der Stadtgründung bis zur Bundeshauptstadt, bert Speers und Hitlers gewichen wäre. Gebäudereste der Akademie der Künste geprägt Berlin 1995, S. 178. Auf Hitlers Befehl wurden die Gebäude (Abb. 5). Auch diese Schicht des Leerstands ist 20 Ebd., S. 36. am Pariser Platz enteignet, geräumt und von historisch bedeutsam, da diese laut Strecker 21 Laurenz Demps: Der Pariser Platz, Berlin 1995, S. 112. 22 Ebd., S. 120. 23 Schäche (wie Anm. 6), S. 11. 24 Strecker, Hoffmann-Axthelm (wie Anm. 3), S. 13. 25 Ebd., S. 9. 135

Abb. 6: Die französische Botschaft von Christian de Portzamparc, Fertigstellung 2002. „als wichtigstem Gebäude des Platzes“ herzu- stellen.26 Ausdrücklich wurde als Architekturgebot von Strecker und Hoffmann-Axthelm die „Aus- übung einer modernen Architektursprache“ gefordert und „die Anfertigung historischer Repliken“ ausgeschlossen.27 Ähnliches postu- lierte Wolfgang Schäche, um eine „abbildhafte Rekonstruktion“ nur als „falsch verstande- ne Geschichtsbeschwörung“ zu vermeiden.28 Auch das dritte Gutachten zur Gestaltungssat- zung von Flierl und Rolfes betonte, dass es sich bei der Kritischen Rekonstruktion „um die Re- konstruktion des verlorenen Platzes in seiner Raumgestalt handle“ und „nicht um eine Re- konstruktion der Gebäude“. 29 Das heißt: alle drei Gutachten sprachen sich eindeutig gegen die Nachahmung histo- rischer Architektur aus.30 Abb. 7: Akademie der Künste (links) von Günter Behnisch und Werner Durth, Fertigstellung 2005 und DG Bank (Deutsche Die Gutachten unterscheiden sich aller- Genossenschaftsbank) von Frank O. Gehry (rechts), Fertigstellung 2001. Wegen der strengen Gestaltungsvorgaben des Senats dings hinsichtlich der historischen Zeitspan- verlegte Gehry seine für ihn charakteristischen organischen Architekturformen ins Gebäudeinnere. ne, auf die sie sich beziehen. Der von Strecker Gemeinsam war beiden Gutachten, dass tursprache, wenngleich innerhalb bestimmter und Hoffmann-Axthelm vorgelegte Entwurf es sich um eine „Rehabilitierung der Struktu- Richtlinien in Bezug auf Maßstäblichkeit, Glie- 26 Schoen (wie Anm. 7), S. 16. ren“ handelte und nicht um die Wiederher- derung und Orientierung auf die historische 27 Strecker, Hoffmann-Axthelm (wie Anm. 3), S. 28, stellung von Bildern. Daher schlugen sie vor, Stadtstruktur, durchzuführen. Insbesondere 29. die Planungen in einer zeitgemäßen Architek- galt es, eine Beziehung zum Brandenburger Tor 28 Schäche (wie Anm. 6), S. 13. 29 Flierl, Rolfes (wie Anm. 3), S. 20. 30 Strecker, Hoffmann-Axthelm (wie Anm. 3), S. 9. 136

Abb. 8: DG Bank von Frank O. Gehry Abb. 9: Das neue Hotel Adlon von Ernst-Rüdiger Patzschke und Rainer-Michael Klotz, Fertigstellung 1997. gab dem Symbolzuwachs des Tores durch die schossige Bebauung sollte höchstens 18 Meter metrisch sein und sich von unten nach oben inzwischen sechsundvierzigjährige Freistel- Traufhöhe betragen. in drei horizontale Zonen gliedern.34 Um die lung den Vorzug und orientierte sich am baro- Grundlage der konkreten Bebauung wurde Geschlossenheit des Platzes zu wahren, wurde cken Palais-Typ mit einer Höhe von 10 Metern. das von Machleidt, Stepp und Schäche erstellte „der Anteil von Fenster- und Türöffnungen an Diese niedrige zweigeschossige Bebauung mit Gutachten. Begründet wurde diese Auswahl der Gesamtfassade der Gebäude“ auf „50 %“ höchstens 10 Metern Traufhöhe schien ih- mit der „deutlicheren Ausformulierung der begrenzt.35 Auch die Richtlinien hinsichtlich nen den „Zuwachs bildlicher Prägnanz“ zu Platzwände“, die „dem Platz eine größere Stär- des Materials und der Farbgebung wurden auf dokumentieren, der die anderen historischen ke“ verleihen würde. Die dagegen von Strecker das Brandenburger Tor abgestimmt. Die Mate- Schichten ihrer Auffassung nach überwog.31 und Hoffmann-Axthelm vorgeschlagene, „an rialien sollen aus Stein mit stumpfer Oberfläche Das Brandenburger Tor sollte dabei als Wahr- der historischen Barockfigur orientierte Trauf- oder aus Putz bestehen, die Farbe soll zwischen zeichen freigestellt bleiben. höhe von zehn Metern erschien stadträumlich den Tönen „Ocker, Gelb und Grau“ liegen.36 Das von Machleidt, Stepp und Schäche nicht ausreichend und dem klassizistischen Eine wesentliche Aufgabe der Gestaltungs- herausgegebene Gutachten bezog sich auf die Torbau nicht angemessen“.33 satzung bestand Bruno Flierl zufolge in der Bebauung nach dem Bau des Brandenburger Das dritte zusätzliche Gutachten von Bru- „Wahrnehmung der geometrische Raumform Tores 1791 und orientierte sich „außerdem an no Flierl und Walter Rolfes, das die Gestal- des Platzes“.37 Vom Platze aus sollte die – ober- der Gesimskante des Brandenburger Tores mit tungsregeln für den Platz festsetzte, forderte halb der gegenüberliegenden Traufkante – an- einer Höhe von 16,70 Metern“, die dabei als vor allem, Merkmale der alten historischen Ge- steigende Bebauung (bis zu 30 Meter Höhe) in Orientierung für das gesamte architektonische bäude aufzunehmen, die Entsprechungen zum Richtung Behrendstraße nicht zu sehen sein.38 Ensemble fungieren sollte.32 Deren vierge- Brandenburger Tor aufwiesen. Dieses sym- bolische Tor Berlins – das einzige historische 31 Ebd., S. 13. Die Wiederbebauung des Pariser Platzes 32 Schoen (wie Anm. 7), S. 17. Relikt – wie die bauliche Angliederung an die 33 Ebd., S. 17. Straße „Unter den Linden“ bildeten den we- 34 Die untere Zone bildet die Basiszone „mit einer sentlichen Bezugsrahmen für die Wiederher- Höhe von 5,40–6,00 Metern“. Die mittlere Zone stellung des Pariser Platzes. Dementsprechend Die Kritische Rekonstruktion erfolgte an dem besteht aus drei Geschossen und darf die Höhe der Hauptgesimslinie von 16,70 Metern nicht über- richteten sich Bauvolumina und die architek- historisch und politisch bedeutsamen Pari- schreiten. Die dritte Zone betrifft die Attika mit tonische Gestaltungssatzung ganz nach dem ser Platz in ausgesprochen stringenter Weise: maximal 20 m Höhe für die Unterbringung eines klassizistischen Tor und dem früheren, drei- bis Durch die Wiederherstellung des historischen weiteren Geschosses und die rückwärtige, höhere viergeschossigen Palazzo-Typus, bei dem sich Stadtgrundrisses – der historischen Raumfigur, Bebauung der nördlichen und südlichen Parzellen die Traufhöhen bzw. Attikaoberkanten in sen- der beiden Schmuckgrünflächen, der Beibe- mit maximal 30 m Höhe. In: Elke Kleinwächter- Jarnot: Bebauungsplan, in: Senatsverwaltung für sibler Korrespondenz zum Torbau auf dessen haltung der historischen Parzellierung, der ge- Bauen, Wohnen und Verkehr (Hg.): Der Pariser Gesimslinie bezogen. Jede Fassade müsse sym- schlossenen Baukörper mit architektonischen Platz. Wiedergewinnung eines historischen Stadt- raumes, Berlin 1998, S. 29. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Zitiert aus dem Interview mit Bruno Flierl, Archi- tekturhistoriker, am 6.12.2006 in Berlin. 38 Ebd. 137

Gestaltungssatzungen (massiver, viergeschos- siger Palazzo-Typus) sowie der Aufnahme traditioneller Nutzungen – wurde ein vorneh- mer, repräsentativer Charakter – wie vor dem Zweiten Weltkrieg – geschaffen. Traditionelle Nutzungen wie Botschaften (französische, amerikanische, britische), die Akademie der Künste, Hotel und Banken werden durch neue städtische Nutzungen wie Dienstleistungen, Gastronomie und sogar Wohnungen ergänzt. Heute haben sich vor allem Banken (DG-Bank von Frank O. Gehry, Dresdner Bank von Ger- kan, Marg & Partner (gmp), Allgemeine Hypo- theken Bank von Bernhard Winking am Pariser Platz angesiedelt. Die Stadtstruktur sowie die städtebauliche Form lehnen sich an die klassi- zistische und historistische Phase an. Schon in dieser Zeit war das Brandenburger Tor durch die Baumassen sehr stark eingerahmt. Auch dass die beiden ersten Gebäude „Unter den Linden“ die höchsten sind, entspricht dem Abb. 10: Die Rekonstruktion der Kommandantur von Thomas van den Valentyn für das Medienunternehmen Bertelsmann wurde historiscrhen Zustand. Die erhöhte Staffelge- 2003 fertiggestellt. schoss-Bebauung war wirkungslos, so dass die Gebäudehöhen das Brandenburger Tor sehr ihren Achsen und Proportionen am Vorgänger- Auch die Kleihues-Gebäude erwecken einengen. bau (Abb. 7).39 beim unkundigen Besucher die falsche Vor- Die Gestaltungssatzung hat erstaunlicher- Paradoxerweise hat die Gestaltungssatzung stellung, es handele sich um alte Gebäude. Aus weise zu recht unterschiedlichen Ergebnissen bei einigen Gebäuden die Geschichte in epigo- ökonomischen Gründen wurden die Häuser geführt. Einige Architekten haben sich durch naler und purifizierender Weise wiederkehren Sommer und Liebermann höher und schmä- die Gestaltungssatzung nicht einengen lassen: lassen, was Flierl und Rolfes in ihren Gutach- ler (mehr Fenster) als die Originale (heutiger wie die französische Botschaft von Christian de ten keineswegs so beabsichtigt hatten. So bildet Bau 4 Geschosse, vorheriger Bau 3 Geschosse) Portzamparc (Abb. 6), die DG Bank (Deutsche das Hotel Adlon von Patzschke, Klotz und Part- gebaut. Die Historisierung und falsche Propor- Genossenschaftsbank) von Frank O. Gehry ner ein extremes Beispiel historisierender Fas- tionalisierung ist daher auch im Kontext markt- (Abb. 7). Gehry hat seine ausdrucksstarke bau- sadenrekonstruktion wilhelminischer Pracht wirtschaftlicher Interessen zu sehen, so dass plastische Formensprache ins Innere des Ge- (Abb. 9). Das Adlon, im Übrigen mit 435 Mil- die Investorenpolitik völlig aufging. Das Adlon bäudes verlegt (Abb. 8). lionen das teuerste Gebäude am Pariser Platz, bildet heute einen wichtigen touristischen An- Die Französische Botschaft hat trotz ihrer erweckt nur den Anschein einer Rekonstruk- ziehungspunkt am Pariser Platz. Die Pseudo- modernen Architektursprache einige Bezüge tion des Original-Gebäudes von 1907. So ver- Geschichtlichkeit bleibt dem Laien verborgen. zu dem ursprünglichen Bau hergestellt. Den- mitteln beispielsweise die Geschosshöhen Das Gebäude der Dresdner Bank von gmp noch wirkt die Gestaltung unabhängig und (heutiger Bau 6, vorheriger Bau 5 Geschosse) stellt eine weitere hintergrundlose Historisie- selbstbewusst. Der Entwurf geht sowohl mit ein historisch völlig falsches Bild des ursprüng- rung dar, obgleich sich das Gebäude weder in den historischen Anforderungen als auch mit lichen Zustands. der Achsenanzahl noch in der Höhe an dem der Gestaltungssatzung schöpferisch um und Vorgängerbau von Stüler orientiert. 39 Durch die Intervention des damaligen Bundesprä- zeigt damit, wie viel trotz enger Gestaltungs- sidenten Roman Herzog konnte eine Ausnahme- Für den gesamten Platz lässt sich daher fest- vorgaben möglich ist. Selbst die Akademie regelung für den gläsernen Bau erwirkt werden. stellen, dass zu enge Gestaltungsvorschriften der Künste von Günter Behnisch und Werner Verständlich wird diese Ausnahmeregelung aus schlechte Architektur nicht zu verhindern ver- Durth, die mit ihrem Glasbau aus dem „stei- drei Gründen: erstens plante Hitlers Architek- mögen. Allerdings haben sie dazu beigetragen, tenstab von hier aus die neue Reichshauptstadt nernen Kontext“ herausfällt, orientiert sich in Germania; zweitens verschrieb sich die Akademie eine homogene Geschlossenheit zu erzeugen. der Künste immer innovativen Bewegungen; drit- tens sollte die Glasfassade die missliche Nordlage durch den Einfall von Tageslicht ausgleichen. 138

Der heutige Zustand bietet wieder den in sich ruhenden Charakter eines Platzes, der vor allem auch durch den Ausschluss des Individu- alverkehrs erreicht wurde. Wie sehr der Verkehr einen Platz unbrauchbar machen kann, zeigt der Leipziger Platz zur Genüge. Bereits 1993 wurden die beiden Schmuckgrünflächen und die angrenzenden Gehwegabschnitte „in leicht vereinfachter Form“ sowie die Gitter wieder- hergestellt.40 Die ursprüngliche Gestaltung der zwei Grünanlagen, die zur Umfahrung von Kut- schen diente, wurde übernommen und hält die Besucher von den Gebäuden auf Abstand. Ein Abstand, der allerdings vielleicht auch beab- sichtigt ist. Die Geschlossenheit der Baukörper im Erdgeschoss verstärkt den eher abweisenden Charakter einiger Gebäude. Der Pariser Platz wurde wieder als hoch- wertige Adresse hergestellt, wie auch die durch die Geschlossenheit erzeugte Ruhe und Stille. Auch die Akademien, Botschaften und Ban- ken sind dieselben wie einst und bilden mit Abb. 11: 1962 beschloss die DDR-Regierung, die Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel (1831-36) abzureißen. 2004 wurde vom der rekonstruierten Boskettenanlage eine Art Verein Internationale Bauakademie Berlin e.V. die Schaufassade der Bauakademie fertig gestellt, eine aufwendige Gerüst­ Empfangssalon für touristische, politische oder konstruktion mit bedruckten Planen in den Originalmaßen. Großveranstaltungen jeglicher Art. Schwerpunkt des Planwerks Innenstadt dürfnissen einer fortschrittlichen Gesellschaft wurde auf die Verdichtung dieses Gebietes gerecht zu werden. Werderscher Markt, Friedrichswerder durch Wohnen, Nutzungsmischungen und Als grundlegend für die neue Planung am Nord Nutzungsvielfalt gelegt, um den Friedrichswer- Friedrichswerder galt die Berücksichtigung der der wiederzubeleben.42 Stadtplätze Werderscher Markt und Schinkel- Durch die Rückführung einer kleinteiligen platz sowie der Friedrichswerderschen Kirche Parzellierung erwachten fast alle vom Stadt- und der zu rekonstruierenden Bauakademie. Nach der Wiedervereinigung war ein Großteil grundriss verschwundenen Straßen zu neuem Durch den Rückgriff auf den historischen Ver- der städtebaulichen Strukturen des Friedrichs- Leben. lauf der Prinzengasse wird das Bebauungsgebiet werders, des ersten Stadterweiterungsgebietes Am Friedrichswerder Nord, in unmittel- in zwei Parzellen unterteilt und die Verbindung der Doppelstadt Berlin-Cölln, verschwunden. barer Nähe zum Schloss und zu den kulturellen zwischen der Friedrichswerderscher Kirche Durch Kriegszerstörung und Nachkriegsab- und politischen Institutionen der Hauptstadt, und dem Schinkelplatz wiederhergestellt. Die risse war der historische Stadtgrundris völlig erfolgt eine maßstabgetreue städtebauliche Re- ursprüngliche Wirkung des Schinkelplatzes entfremdet. Die von Johann Gregor Memhardt konstruktion des historischen Viertels, das vor wird durch die Blockbebauung zurück gewon- angelegten Gassen und Straßenzüge waren allem durch Karl Friedrich Schinkels Bauten nen und die Reste des Werderschen Marktes er- vom Stadtplan getilgt und der Stadtteil präsen- wie die Friedrichswerdersche Kirche (1824– halten eine städtebauliche Fassung, so dass die tierte sich als eine Grünanlage bzw. Parkfläche 1831) und die Bauakademie (1832–1836) ge- beiden Plätze wieder in ihren historischen Ab- mit einigen Solitärbauten im stark entdichte- prägt worden war. messungen entstehen. Der Werdersche Markt ten Innenstadtraum. Zahlreiche Straßen wie Schinkel hatte in Berlin als erster in über- wurde bis nach dem Zweiten Weltkrieg über- „die Kleine Kurstraße, die Kreuzstraße, die Alte geordneten Zusammenhängen geplant und für wiegend von den markanten roten Backstein- Leipziger Straße, die Werdersche Rosenstraße, Berlin einen städtebaulichen Plan aufgestellt, gebäuden der Friedrichswerderschen Kirche die Falkoniergasse, die Niederlagstraße und die der die fehlgewachsenen Entwicklungen der und der Bauakademie geprägt. Die Komman- Unterwasserstraße“ verschwanden.41 Vergangenheit berichtigte, um den neuen Be- dantur wurde zum Teil rekonstruiert (Abb. 10).

40 Elke Kleinwächter-Jarnot (wie Anm. 34), S. 33. 41 Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hg.): Friedrichswerder. Mitten in Berlin, gestern heute morgen, Berlin 2003, S. 3. 42 Ebd., S. 1. 139

Auch die öffentlichen Parks mit moderner Gartenarchitektur wurden städtebaulich neu definiert und waren politisch bestimmt. Hans Stimmann zufolge stellen sie „eine Verbeugung vor den PDS-Bewohnern“ dar, die den unbe- bauten Zustand der DDR Planung am Fried- richswerder belassen wollten.46 Zudem musste ein Sicherheitsabstand zum Auswärtigen Amt eingehalten werden. Die Planung des Townhouse-Viertels im Süden des Werderschen Marktes als reines Wohngebiet ist ein einmaliges Beispiel der Rückführung des Stadtgrundrisses zu einer kleinteiligen Parzellierung und steht ganz im Kontrast zu den umliegenden Großbauten. Um sich in die Umgebung einzufügen, sind die Häuser fünf Geschosse hoch und in der Regel 6,50 Meter breit.47 Wegen seiner ruhigen In- nenbereiche und der dennoch sehr zentralen Lage wird ein hohes Maß an Wohnqualität ge- Abb. 12: Townhouses. Städtebauliches Gesamtkonzept von Prof. Bernd Albers. Die Häuser werden Townhouses genannt, da sie währleistest. innerstädtisches Wohnen im Haus mit Garten ermöglichen. Mit den Townhouses (Abb. 12) gelang es Hans Stimmann, den Liegenschaftsfonds zum Diese drei tragenden räumlichen Elemente sol- Friedrichswerder Süd ersten Mal davon zu überzeugen, die Grundstü- len durch Neubauten auf dem historischen cke parzelliert zu verkaufen. Obgleich die Par- Stadtgrundriss ergänzt werden. Ebenso wird die zellierungen in den Bebauungsplan eingetragen Bauakademie wiedererrichtet (Abb. 11). Damit wurden, obliegt der Verkauf der Grundstü- beide Schinkelschen Bauten, die Bauakademie Im Gegensatz zum Friedrichswerder Nord, der cke dem Staat, vertreten durch die Finanzver- und die Friedrichswerdersche Kirche, als soli- auf einer stringenten Rekonstruktion beruht, waltung und den Liegenschaftsfonds. Da der täre Backsteingebäude unverkennbar bleiben, fand an dem Friedrichswerder Süd, der ersten Verkauf ganzer Blocks als Parzellen sich als schreibt die Gestaltungssatzung hellen Putz vor. Stadterweiterung, eine „komplette Neuerfin- arbeitssparender für den Liegenschaftsfonds Links von der Friedrichswerderschen dung“ bzw. „freie Interpretation“ des Stadtquar- darstellt, war es beinahe unmöglich, die klein- Kirche entsteht eine parzellierte Wohn- und tiers statt.43 teilige Parzellierung durchzusetzen. Der Lie- Geschäftsbebauung mit übernommenem Die Planung von privat finanzierten Stadt- genschaftsfonds hat lediglich die Aufgabe, Stadtgrundriss sowie der Wiederherstellung häusern auf sehr schmalen Parzellen zwischen städtische Grundstücke zu veräußern, mit dem der Falkoniergasse, eines ehemaligen Wohn- 125 und 280 Quadratmetern ist eine Annähe- Ziel, möglichst viel Geld einzunehmen, und orts von Falknern. rung an die vorgründerzeitliche Nutzungsstruk- dies läuft der Idee der Kleinparzellierung zuwi- tur. Die zehn verschiedenen Stadthaustypen der.48 Vor allem in dem gewerblichen Bereich 43 Zitiert aus dem Interview mit Hans Stimmann am 12.3.2008 in Berlin. knüpfen an das traditionelle, bürgerliche Woh- mit einem Wohnanteil von 20 % fand die klein- 44 Uwe Aulich: Wohnen und arbeiten im Town- nen an. 48 Grundstücke wurden zum Kauf an- teilige Parzellierung – etwa in der Friedrich- house. Auf dem Friedrichswerder soll sich der Mit- geboten, die innerhalb kürzester Zeit für „950 straße – überhaupt keine Berücksichtigung.49 telstand ansiedeln, in: Berliner Zeitung, Nr. 303, Euro pro Quadratmeter“ verkauft wurden.44 Dadurch, dass aber das Areal der Townhouses 30. Dez. 2003, S.19. 45 Ebd. In den unteren Etagen der vier bis fünfge- aus 100 % Wohnen bestand, konnte der Fi- 46 Zitiert aus dem Interview mit Hans Stimmann am schossigen Häuser („mindestens 800.000 Euro nanzsenator Thilo Sarazin von der Bedeutung 12.3.2008 in Berlin. Baukosten“) sollen die neuen Bewohner ihre der kleinteiligen Parzellierung als Mittelstands- 47 Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: Fried- Geschäfte, Büros, Kanzleien und Ateliers -ein förderung überzeugt werden.50 Um Grund- richswerder (wie Anm. 41), S. 25. richten, während sie darüber wohnen.45 stücksspekulationen zu vermeiden, wurden 48 Zitiert aus dem Interview mit Hans Stimmann am 12.3.2008 in Berlin. 49 Ebd. 50 Ebd. 140

erschwerende Verkaufsbedingungen festgesetzt. Vor dem Verkauf wurde der Grundstückspreis als Festpreis bestimmt. Zudem wurden 50 Ver- träge notariell beglaubigt, in denen die Eigen- tümer unterschreiben mussten, nicht mehrere Grundstücke aufzukaufen. Auch mussten sich die Eigentümer verpflichten, ihre Grundstücke nicht vor Ablauf von zehn Jahren zu verkaufen; zudem wurde ein Grundstücksfestpreis veran- schlagt, um reines Wohnen überhaupt in die- sem Bereich preislich zu ermöglichen.51 Am Friedrichswerder Süd und Nord wird das Spektrum der Interpretationsmöglichkeiten der Kritischen Rekonstruktion gut ablesbar. Beide Quartiere unterscheiden sich er- heblich voneinander: der südliche Teil wurde vollständig neu entworfen, während die städte- baulichen Strukturen und einige Gebäude des nördlichen Teils rekonstruiert wurden. Die kleinteilige Wohnbebauung am Fried- richswerder Süd zeugt von erstaunlicher Aktu- alität und Zukunftsfähigkeit. Abb. 13: Friedrichstraße 1910.

Die Friedrichstraße – dem nördlichen Bereich um den Bahnhof die Privatisierung der wertvollsten City-Are- Friedrichstraße und dem südlichen Bereich. ale in Form blockweiser Vermarktung bereits Nach der Wiedervereinigung wurden die 1991 gestellt, noch vor Stimmanns Amtsantritt zu DDR-Zeiten halb fertig gestellten Roh- als Senatsbaudirektor.55 An der Friedrichstraße Vor dem Zweiten Krieg galt die Friedrichstraße bauten der Platten-Postmoderne abgerissen, konnte Stimmann „nur Fassadenschliff anbrin- als eine der lebendigsten Straßen Berlins (Abb. beispielsweise die Friedrichstadt-Passagen. gen“.56 Die zu mächtig geratenen Blocks orien- 13). Es gab mehr Lokale als Hausnummern. „Nach einem Investorenauswahlverfahren, das tierten sich zwar an die Berliner Traufhöhe von Wegen der Mischung aus Wohnungen, Büros, der später ermordete Hanno Klein von der Se- 22 Metern, sind „aber mit ihren Dach- und Un- Hotels, Restaurants, Theatern, Variétés, leichten natsbauverwaltung koordiniert hatte, wurden tergeschossen bis zu 14 Etagen“ nichts anderes „Tingeltangel-Lokalen“, Bier- und Kaffeehäu- die Büros Ungers, Pei / Cobb / Freed und Nou- als verkappte Hochhäuser, die von den Inves- sern war die Friedrichstraße der „Mittelpunkt vel / Cattani zum Bau je eines Blockes ausge- toren zur Hälfte unter die Erde verlegt wurden. der Vergnügungskultur“.52 Ein Häuserblock wählt (Abb. 14).“54 Fälschlicherweise wird die Von allen drei Blocks ist Jean Nouvels Lafay- bildete bereits ein Stück Stadt, da er aus einer Planung der Friedrichstraße zumeist Stimmann ette-Kaufhaus noch der interessanteste. Sym- Vielzahl unterschiedlich bebauter Parzellen be- zugeschrieben. Jedoch waren die Weichen für bolisch stellt sich das Innere des Kaufhauses stand. In der Zeit der deutschen Teilung wurde als gläserner Kegel dar. An Hand dieser gewal- 51 Ebd. der Bahnhof Friedrichstraße zum Grenzbahn- 52 Bernhard Strecker, Dieter Hoffmann-Axthelm tigen, eintönig und leblos wirkenden Blocks hof. Die DDR-Regierung betrieb seit Mitte der (Verf.), Senatsverwaltung für Bau- und Woh- zeigt sich die Bedeutung einer kleinteiligen Be- achtziger Jahre „den systematischen Wieder- nungswesen, Berlin (Hg.): Bahnhof Friedrichstra- bauung. Die Außengestaltung der Blocks mit aufbau der Friedrichstraße als Gegenpol zum ße, Städtebauliches Strukturkonzept, Berlin 1992, ihren steinernen Fassaden in nichtssagender S. 14. Kurfürstendamm“.53 Nach dem Mauerfall kam 53 Günter Peters: Kleine Berliner Baugeschichte, S. Wiederholung wirkt nur monoton. Durch die es zu einem erneuten Bauboom in der Fried- 269. Verlagerung der Stadt in die kommerziellen In- richstraße. 54 Benedikt Hotze: Ein handfester Auftakt. Die nenwelten der gigantesken Blocks geht der öf- Die Friedrichstraße wurden in zwei ver- Friedrichstraße – Ortsbegehung aus gegebenem fentliche Raum und das eigentlich gewünschte schiedenen Teilbereichen wieder aufgebaut Anlaß, in: Architektenkammer Berlin (Hg.): Stadtmodell der Europäischen Stadt verloren. Architektur in Berlin, Jahrbuch 1996, S. 74. 55 Ebd. 56 Gerwin Zohlen, Auf der Suche nach der verlore- nen Stadt, Berliner Architektur am Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 134. 141

Die städtebauliche Grundlage für den Be- reich des Bahnhofs Friedrichstraße bildete der 1992 ausgelobte Ideenwettbewerb „Bahnhofs- bereich Friedrichstraße“.57 Für diesen Bereich erarbeiteten Bernhard Strecker und Dieter Hoffmann-Axthelm ein städtebauliches Struk- turkonzept. Neben dem Bahnhofskomplex um- fasste das Wettbewerbsgebiet insgesamt neun Blöcke sowie das Internationale Handelszent- rum Berlin. 1993 wurde der Entwurf des Ber- liner Architekturbüros Nalbach und Nalbach mit dem ersten Preis ausgezeichnet und sollte Grundlage für die städtebauliche Planung bil- den.58 „In den Empfehlungen für die Überar- beitung schlug das Preisgericht u. a. vor, für den IHZ-Block das mit einem 2. Preis ausgezeichne- te Konzept des Berliner Architekten Christoph Langhof in die Nalbachsche Gesamtkonzep- tion zu übernehmen.“59 Der Bereich Bahnhof Friedrichstraße hat durch den Rückgriff auf die alte Stadtstruktur und den Verzicht auf histori- Abb. 14: Das Quartier 206 des New Yorker Büros Pei, Cobb, Freed & Partner, Fertigstellung 1996. sierende Fassaden viel von seiner historischen Identität als Vergnügungs- und Reisezentrum nachts ist dort die berühmte Amüsiermeile das symbolträchtige Brandenburger Tor gera- wiedererlangt. Besonders gelungen erscheint der Friedrichstraße noch nicht wie in früheren de noch standhalten. Am Leipziger Platz hat die Eingliederung des Internationalen Han- Zeiten zu neuem Leben erwacht. aber die allzu strenge Gestaltungssatzung zu ei- delszentrums. Durch die Orientierung an der ner monotonen Rasterarchitektur geführt und alten Straßenbreite konnte der Verkehrslärm Von der Rekonstruktion bis zur freien die Gebäude einer innovativen und individu- reduziert werden. In der Friedrichstraße sind Interpretation ellen Architektursprache beraubt. Gegenüber noch viele Gebäude wie der Admiralspalast, dem schillernden erscheint der Bahnhof Friedrichstraße, der Tränenpalast Die Kritische Rekonstruktion ist in ihrer Umset- der einstige Schmuckplatz, der Leipziger Platz, und der Friedrichstadtpalast erhalten, so dass zung sehr vielfältig. Je bedeutsamer – politisch blass und formlos. Die historisierende Sprache die Gefahr von Künstlichkeit oder Sterilität von wie historisch – der Ort, desto ausgeprägter bezeugt aber auch das öffentliche gesellschaft- Beginn an kaum bestand. und stringenter der Versuch der historischen liche Bedürfnis nach Geschichte, das allzu ger- Am Beispiel der zwei Bereiche der Fried- Bezugnahme. Beim Pariser wie beim Leipziger ne von Investoren zur besseren Vermarktung richstraße sind eindeutig die negativen Aus- Platz wurde durch die Wiederherstellung des aufgenommen wird. wirkungen von überdimensionierten Blocks historischen Stadtgrundrisses versucht, den re- Die Unfähigkeit der Architekten, am zu erkennen. Die riesige Blockgröße der Büros präsentativen Charakter – wie vor dem Zwei- Leipziger Platz nichts als eine Computer-Ras- Ungers, Pei / Cobb / Freed und Nouvel / Catta- ten Weltkrieg – wiederherzustellen. Bei beiden terarchitektur zu gestalten, entspricht ihrem ni haben die Friedrichstraße in diesem Bereich Plätzen orientieren sich Stadtstruktur und städ- Unvermögen, Fassaden ein komplexes und so- nicht wieder zu der erwünschten exklusiven le- tebauliche Form an der klassizistischen und mit auch interessantes Gesicht zu geben (Abb. bendigen Flaniermeile in direkter Konkurrenz historistischen Phase. 15, 16). Hier klaffen das Ideal derKritischen Re- zum Kurfürstendamm machen können. Die Gestaltungssatzungen haben dazu konstruktion und das gesellschaftliche Wunsch- Dagegen besitzt das Areal um den Bahnhof beigetragen, das Stadtbild zu idealisieren und denken der Investoren auseinander. Friedrichstraße durch die Aufnahme der alten teilweise hintergrundlos zu historisieren, was Aber auch ohne Gestaltungssatzung un- Parzellierung und Nutzungsvielfalt wieder eine z. B. in allen drei Gutachten zum Pariser Platz terband die Bezogenheit des Planwerks auf die urbane City-Qualität, als Ort der Ankunft, als eindeutig abgelehnt worden war. Der Pariser Vorkriegstextur des steinernen Berlin indirekt Geschäftstraße und Touristenattraktion. Nur Platz konnte den Gestaltungssatzungen durch zeitgenössische und experimentelle Umset-

57 Brigitte Jacob: die . Maßnahmen und Projekte, in: Architektenkammer Berlin, Architektur in Berlin, Jahrbuch 1995, S. 57. 58 Ebd. 59 Ebd. 142

Abb. 16: Der Leipziger Platz, 1928. Abb. 17: Der wiederaufgebaute Leipziger Platz. zungen. Der Aufruf zu historischer Stadtstruk- lierten Grundstücke zu einem sehr günstigen mann für die Schwierigkeit der Umsetzung tur mündete über die Debatte um die steinerne Festpreis verkauft. Zusätzliche Verträge ver- der kleinteiligen Parzellierung verantwortlich, Stadt in eine historisierende Fassadengestal- hinderten, dass die Käufer mehrere subven- da Berlin „durch die Verstaatlichung Profiteur tung, obgleich es Hoffmann-Axthelm zufol- tionierte Grundstücke kaufen konnten. Dem der hypertrophen Stadtplanung des Sozialis- ge aus stadtplanerischer Sicht „gleichgültig“ damaligen Baudirektor Stimmann gelang es, in mus war“, sondern eher die kulturelle Frage, die sei, in welchem Stil gebaut werde.60 Der Neu- diesem Bereich den Liegenschaftsfonds davon durch jahrzehntelanges Planen in Blöcken ge- bau in historisierender Form ist Ausdruck zu überzeugen, den Mittelstand über die klein- prägt war.65 der erwünschten Stimmungsbilder, als deren teilige Parzellierung zu fördern. Diese Tendenz Allerdings förderten auch Sonderabschrei- Folge zumeist eine mittelmäßige Architektur des Liegenschaftsfonds zur Vermarktung in bungen den Aufschwung des Büroflächenneu- entsteht. ganzen Blöcken stammt noch aus der Zeit des baus und damit auch die Zusammenlegung In Berlin bestand die Schwierigkeit einer- sozialen Wohnungsbaus. In dieser Phase wur- von Parzellen. Auch hier hat man versäumt, seits darin, das anerkannte und nachhaltige den ganze Blöcke von Wohnungsgenossen- beispielsweise durch ein politisch-ökono- Leitbild der Europäischen Stadt aufzugreifen, schaften geplant.62 Auch während der IBA-Zeit misches Programm „zur Förderung mittelstän- andererseits aber auch darin, Areale städtebau- wurde in Blöcken und nicht in Parzellen ge- discher Bauherrenschaft“ einzugreifen, wie lichen Strukturen der DDR-Moderne als Hin- dacht. Von diesem Denken in Blöcken, beklag- Hans Stimmann gesteht.66 Diese steuerlichen terlassenschaft der Geschichte zu wahren. te Stimmann, sei die Berliner Finanzverwaltung Abschreibungsmöglichkeiten für Immobi- Aber selbst bei der Methode der Kritischen noch immer geprägt.63 Die Botschaft der Klein- 60 Zitiert aus dem Interview mit Dieter Hoffmann- Rekonstruktion war Hans Stimmann zufolge teiligkeit und der Mischung, die gerade in der Axthelm, freier Stadtplaner und Schriftsteller, am der Versuch, „die parzelläre Stadt zu etablie- Zukunft entscheidend sein wird, um den Mit- 21.12.2007 in Berlin. ren“, „immer die größte Niederlage“ gewesen.61 telstand über die kleinteilige Parzellierung und 61 Zitiert aus dem Interview mit Hans Stimmann am Nur am Friedrichswerder erfolgte eine klein- die damit verbundene Eigentumsbildung in der 12.3.2008 in Berlin. 62 Ebd. teilige Parzellierung. Um Grundstücksspeku- Stadt zu halten, hat „als kulturelle Entscheidung 63 Ebd. lationen zu vermeiden und Einzelhäuser zu die Berliner Liegenschaftsfonds nie erreicht“.64 64 Ebd. ermöglichen, wurden die kleinteilig parzel- Nicht wirtschaftliche Interessen macht Stim- 65 Ebd. 66 Hans Stimmann: Kritische Rekonstruktion und steinerne Architektur für die Friedrichstadt, in: Annegret Burg: Neue Berlinische Architektur, Eine Debatte, Berlin u.a. 1994, S. 114. 143

lieninvestitionen waren einer nachhaltigen modernisiert und umgebaut wird. Die meis- Alexanderplatz konnte das Planwerk keine Stadtentwicklung wenig zuträglich und förder- ten Entscheidungen werden von Eigentümern Kurskorrekturen mehr vornehmen. Dennoch ten die anonymen Bürobauten anonymer In- getroffen. Wenn sich eine Stadt auf eine breite wurde das patchwork- und brachlandschaftar- vestmentfonds. gestreute Eigentümerschicht stützt, besteht we- tige Berlin wieder zu einer Einheit zusammen- Auch das Investitionsvorranggesetz förder- niger die Tendenz einseitiger Besitzname von gefügt, in der die städtebauliche Textur der te finanzstarke Großinvestoren. Beim Verkauf anonymen Konzernen. Da der Altstadtbereich historischen Mitte wieder ablesbar ist. von Grundstücken bevorzugte das Investiti- Berlins kaum über diese Eigentümer verfügte, Durch das Modell Kritische Rekonstruktion, onsvorranggesetz Großinvestoren und benach- war es daher ganz entscheidend gewesen, lee- Europäische Stadt und Städtebaulicher Denkmal- teiligte private Einzelkäufer, denn es war ein re Flächen wie die Parkflächen, das Abstands- schutz kann wenigstens gewährleistet werden, Nachweis über Investition und baldige Reali- grün, die überdimensionierten Verkehrstraßen dass das Tempo der Veränderung einer Stadt sierung erforderlich. Damit wurde die Zusam- und die Hochhäuser (Fischerinsel) der sozia- in einem gemäßigten Rahmen verläuft und menlegung von Parzellen zu Blöcken gefördert, listischen Planung wieder zurückzubauen und sich nicht – wie bereits in einigen außereuropä- was sich auf die eigentlichen Planvorgaben mit Eigentümern zu füllen, um der Mitte wie- ischen Städten – alle fünfzehn Jahre verändert. des Planwerks kontraproduktiv auswirkte. Das der eine verstärkte Lobby zu geben, die sich um Vermittels dieser Modelle können die Problem der Umsetzung der kleinteiligen Mi- die Belange der Stadt kümmert. größten Probleme wie Gentrifizierung, kom- schung bestehe nach dem Stadtsoziologen Die Debatte über die Eigentumsstrukturen merzielle Großbauten verhindert oder zumin- Hartmut Häußermann auch darin, dass es auch innerhalb des Blockes steckt noch in den An- dest verlangsamt werden. Nur sie vermögen es, „kaum noch kleinteilige gesellschaftliche Ak- fängen und muss Hans Stimmann zufolge wei- die eigentliche Idee durchzusetzen – die soziale tivitäten“ gebe, „wie die, die ihren baulichen tergeführt werden, zumal die Eigentumsbildung und selbstbestimmte Stadt der Bürger. Ausdruck in 19. Jahrhundert und zu Beginn zur Rentenvorsorge und Mittelstandsförderung des 20. Jahrhunderts“ fänden. So sei es auch auf Grund der immer schlechter werdenden so- nicht verwunderlich, dass es sehr schwierig zialen Bedingungen in Zukunft eine immer grö- sei, diese Mischung aus Wohnen und Arbeiten ßere Rolle spielen wird.69 wiederherzustellen.67 Das heißt jedoch nicht, Viele Faktoren – das Tempo des Wieder- dass man versuchen sollte, wieder eine höhere aufbaus, Berlins schwierige Finanzlage, falsche Dichte und Vielfalt zu erzeugen, die wiederum Wachstumsprognosen, das gesellschaftliche Ausdruck für ein kulturelles Milieu ist und ein Bedürfnis nach Geschichtsbeschaffung, die Erlebnis von Stadt erzeugt. Diese dichten und von Hassemer eingeleiteten Wettbewerbsver- vielfältigen urbanen Strukturen bilden wieder- fahren – erschwerten als Rahmenbedingungen um auch ein für die Wissensproduktion güns- die Umsetzung der Kritischen Rekonstruktion. tigeres, innovativeres Klima und sind somit für Dennoch konnte Hans Stimmann durch die eine Stadt wie Berlin, die immer eine weltweite Wiedereinführung des verloren gegangenen kulturelle Bedeutung hatte, ganz entscheidend. dreidimensionalen Denkens im Städtebau und Das Modell der Europäischen Stadt steht sein beständiges Festhalten an den Grundele- auch als Idee für eine bürgerliche Gesellschaft – menten der Europäischen Stadt, Berlins Geni- für Bürger, die in demokratischer Selbstverwal- us loci weiterentwickeln und die schlimmsten tung die Stadt bestimmen. Die Parzelle und der Auswirkungen des globalen Drucks von Sei- öffentliche Platz stehen für demokratisch-öf- ten der Investoren verhindern. In vielen Punk- fentlich verstandene Räume und Grundrechte. ten wie dem parzellenorientierten Denken, der Für ein Stadtentwicklungskonzept sei es Vervielfältigung der Eigentümerverantwor- laut Häußermann daher „grundsätzlich richtig, tung, der Vermeidung und Auflösung (Rück- zu sagen, die Bürger sollen auch die Eigentümer bau) von Großbauvorhaben, der Verwendung der Stadt sein, die sich mit ihren ganzen Leben- von alterungsfähigen Baumaterialien deckt sich 67 Zitiert aus dem Interview mit Hartmut Häußer­ sumständen in der Stadt verankern“.68 Nur so die Methode der Kritischen Rekonstruktion mit mann, Professor für Stadtsoziologie, am 22.5.2008 in Berlin. kann verhindert werden, dass ganze Quartiere dem Städtebaulichen Denkmalschutz. 68 Ebd. von großen Investitionsgesellschaften bestimmt Bei den von Hassemer eingeleiteten Wett- 69 Zitiert aus dem Interview mit Hans Stimmann am und von einem privaten Developer entwickelt, bewerben für den Potsdamer Platz und den 12.3.2008 in Berlin.