Birgit Poppe

„Ich bin Ich“ Die Frauen des Blauen Reiter Inhalt

Einleitung 6 Kunst, Liebe Werke und Leben und Landleben 60 der Künstlerinnen 110 Die drei Frauen des Blauen Reiter 12 Inspirationen Das Ende des und Vorbilder 70 Blauen Reiter 145 Künstlerglück und Liebeswirrungen 42 Künstler- Anhang 150 Freundschaften 78 Maria Marc Mutter mit Kindern, um 1913 Der gelbe Busch, 1915

10 11 Alte Pinakothek erbauen ließ. Sie war eines der größten und modernsten Mu- seumsgebäude der Welt und machte die königliche Gemäldesammlung nach seinem Ideal der Volksbildung für die Öffentlichkeit zugänglich. Bereits seit 1823 existierte in München einer der ältesten Kunstvereine, der sehr populär war und zur Jahrhundertwende immerhin etwa 6000 Mitglieder besaß. König Maximilian I. hatte 1808 die Königliche Akademie der Bildenden Künste gegründet, eine angesehene Kunstakademie, die 1885 einen imposanten Neu- bau am Siegestor erhielt. Der weltweit führende Ruf der Institution wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit den „Malerfürsten“ Franz von Lenbach (1836 – 1904) sowie Franz von Stuck (1863 – 1928), der seit 1895 als Professor an der Akademie der Bildenden Künste lehrte, gefestigt. Hier studierten und , die späteren Gründer des Blauen Reiter sowie weitere Mitglieder der Künstlergruppe wie Paul Klee und Alfred Kubin. Frauen hingegen waren als Studentinnen erst ab 1920 zugelassen. Die Künst- lerausbildung erfolgte noch unter konservativen Grundsätzen als reine Ate- lier arbeit nach strengen Richtlinien, außerdem wurden besonders die hand- werklichen Fähigkeiten geübt. In dieser verstaubten Atmosphäre ent wickelten

einige Künstler den Wunsch nach einer freien, weltoffenen Kunstausbildung Franz Marc mit und wandten sich unter dem Eindruck des Realismus und des französischen Maria Franck und Anne Klein unter einer seiner Impressionismus bewusst von der konventionellen Atelier malerei ab. 1896 Anatomiezeichnungen, wurden in München die Zeitschrift Simplicissimus, ein Satireblatt – unter an- München, 1908 derem von Gabriele Münter sehr geschätzt –, sowie die kunstvollere Publika- tion Jugend – Münchener illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, die den „Sezessionsstil“ als „Jugendstil“ in Deutschland einleitete, gegründet. Zwar griff der ästhetisierende Stil des Filigranen, Floralen und Vegetabilen in Kunst, Design und Architektur nicht wie in Wien und Paris ins Stadtbild ein, öffnete aber allgemein die Einstellung für lebensreformerische Ideen und für die Avantgarde. Auch bekam die Grafik einen völlig neuen Stellenwert. Neue Ideen und eine besondere Freizügigkeit lagen um 1900 in München in der Luft und inspirierten die zahlreichen Neuankömmlinge. Viele von ihnen ließen sich im Münchener Stadtteil Schwabing nieder, wo man damals preis- günstig wohnen konnte, weil am Rande der Großstadt gelegen. So stellte Schwabing eine spannungsreiche Nahtstelle zwischen der Metropole München und dem Dachhauer Land dar und war noch eher ländlich geprägt. Hier lebten Kleinbauern, Handwerker und Arbeiter, die zum Entzücken der Zugereisten Gabriele Münter (oberste teils noch bayerische Trachten trugen. Schon Ludwig I. hatte mit seiner Reihe, vierte von links) in der Zeichenklasse von Angelo Jank, 1901

28 29 Empfindens der bürgerlichen Gesellschaft unschicklich und damit undiskuta- bel für Künstlerinnen. Doch die Frauen wurden selbstbewusster und begannen im Zuge der Frauenbewegung ihr Recht auf professionelle Ausbildung anzumelden. So forderten die Künstlerinnen die offizielle Aufnahme an den Künstlerakade- mien und -organisationen. Auch strebten sie wie ihre männlichen Kollegen die Teilnahme an Wettbewerben und ihren Sitz in den entsprechenden Jurys an. Diese Anrechte waren notwendig, um als Künstlerinnen überhaupt öf- fentlich wahrgenommen zu werden. Thematisiert wurden diesbezüglich auch die Ausbildungsmöglichkeiten. Es gab nur wenige Ausnahmen öffentlicher Förderung. Vorreiter diesbezüglich war im 19. Jahrhundert im amerikani- schen Philadelphia die Pennsylvania Academy of the Fine Arts, die sich schon 1844 für Frauen öffnete. Das viel umstrittene Aktstudium wurde dort ab 1868 ein- geführt. In Europa wurde seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben Lon- don vor allem die Kulturhauptstadt Paris zu einem wichtigen Zentrum für weibliche Künstler. In der französischen Kunstmetropole boten sich auch den Frauen vielfältige Möglichkeiten der künstlerischen Ausbildung, dennoch blieb ihnen hier ebenfalls ein staatlicher Abschluss versagt. In Deutschland verwehrte man den Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert den Zugang zu den offiziellen Akademien. Gabriele Münter Erst in den 1920er Jahren der Weimarer Republik war es für Künstlerin- Selbstporträt vor Staffelei nen möglich, eine akademische Ausbildung einzuklagen. Bis zu diesem Zeit- um 1909 punkt hatten Frauen an den renommierten deutschen Kunstakademien weit- gehend keinen Zutritt. Allerdings gab es in Deutschland auch frühzeitig schon vereinzelte Bestrebungen, den Künstlerinnen bessere Ausbildungs- möglichkeiten zu schaffen: So entstand bereits 1867 in Berlin der Verein Berli- ner Künstlerinnen mit angegliederter Zeichen- und Malschule des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen in Berlin. 1882 folgte die Gründung der Da- menmalakademie des Münchener Künstlerinnen-Vereins, die auch Gabriele Münter und Maria Franck besuchten. Der Künstlerinnen-Verein München bestand offiziell bis 1967, sorgte aber vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Furore. Laut Satzung war das offi- zielle Ziel der Institution: „… den kunst- und kunstgewerbetreibenden Damen Gelegenheit zu gegenseitiger Anregung in ihrem Schaffen und gegen- Gabriele Münter Bildnis Marianne seitiger Unterstützung in ihren Bestrebungen zu geben, Sinn und Geschmack von Werefkin, 1909

32 33 Zur Gründung des Blauen Reiter

Voller Elan stürzten sich Kandinsky und Marc Ende 1911 in die Planung ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung sowie eines informativen Begleitbuchs mit Bildern und Texten, das ihre Theorien unterstützen sollte: , eine revolutionäre Künstlergemeinschaft mit innovativen Ideen, war „Nun werden Ausstellungen geboren. der Redaktion des Eigentlich hatten Kandinsky und Marc schon viel früher, nämlich im Blauen Reiters gemacht; Sommer 1911, in Murnau und Sindelsdorf mit ihren Vorbereitungen begon- du hörst bald näheres – nen. Längst hatten sie den Namen Blauer Reiter für ihre Aktivitäten gefun- halte Dich bereit.“ den, und es gab dazu auch eine Anekdote, die Kandinsky gern erzählte: „Wir fanden den Namen ,Der Blaue Reiter‘ beim Kaffee in der Gartenlaube…, wir Maria Franck in einem Brief an , liebten beide Blau, Marc Pferde, ich Reiter. So kam der Name wie von 1911 selbst.“ Kandinsky hatte jedoch schon viel früher „Reiterbilder“ gemalt, so ent- „Wir werden suchen, stand unter dem Titel Der Blaue Reiter bereits im Jahre 1903 ein wegweisendes das Zentrum der modernen Werk, in dem er den Helden mit blauem Umhang dynamisch auf einem wei- ßen Pferd präsentiert. Die Farbe Blau symbolisiert Reinheit, ist die Farbe der Bewegung zu werden.“ Romantik und gilt seit dem 19. Jahrhundert als Zeichen für den progressiven Franz Marc in einem Brief an Paul Marc, 1911 Geist der Avantgarde, dazu Kandinsky: „Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels.“ Die Reiterfigur hat ihren Ursprung in der Volkskunst in der Gestalt des Heiligen Georgs, des Sinnbildes für Bewegung, Aufbruch und Neuerung. Der Blaue Reiter, so strebte Kandinsky an, symbolisierte die Kraft und Würde einer geistigen Erneuerungsbestrebung. Münter bezeichnete Kandinsky als den Initiator und Mittelpunkt der Bewegung und erklärte: „Wenn er seinem Sam- melband den Namen ,Der Blaue Reiter‘ gab, so war es nichts anderes, als wenn er drauf geschrieben hätte: ,Ich‘.“ Den Kaffee in der Laube servierte sicherlich Maria Marc, denn die ge- mütlichen Kaffeestunden bei den Marcs in Sindelsdorf waren legendär. Aber Mitglieder des Blauen Reiter auf dem Balkon der Ainmillerstraße der Beitrag der Frauen am Blauen Reiter ging weit über hausfrauliche Tätig- 36, München. Von links: Maria keiten hinaus und darf keineswegs unterschätzt werden. Die Künstlerinnen, und Franz Marc, Bernhard allen voran Gabriele Münter, begleiteten den gesamten Entstehungsprozess Koehler, Heinrich Campendonk, Thomas von Hartmann, vorn und engagierten sich ebenfalls für die Ausstellungen und den Almanach. sitzend Wassily Kandinsky, Dennoch ist Münter nicht einmal im Impressum des Buches aufgeführt, ob- 1911/1912

92 93 Natalja Gontscharowa Stillleben mit Porträt und weißem Laken, 1881

Schönes u. sind lebendige Geister.“ Gontscharowa hatte 1913 in Moskau eine große Retrospektive, auf der fast alle ihre Bilder gezeigt wurden, die von 1903 bis 1913 entstanden waren – außer denen, die anlässlich des Herbstsalons in „Sie besitzt die Beherztheit der Galerie Waldens in Berlin zu sehen waren. einer Äbtissin, Offenheit der Später entwarf die Künstlerin Bühnenbilder und Kostüme für Sergej Dja- Gesichtszüge und des Blicks. gilews Russisches Ballett in Paris. 1918 war sie mit Larionow endgültig dorthin Sie lächelt selten, doch wenn, übergesiedelt und erhielt 1938 die französische Staatsbürgerschaft. Natalja dann bezaubernd. Ihre Gontscharowa starb am 17. Oktober 1962 in Paris. Gestik ist sparsam, aber ausdrucksvoll. In ihrer Mo- Als Freundin des Blauen Reiter heute kaum noch bekannt ist die deutsch-rus- dernität, ihrer Innovativität, sische Malerin Elisabeth Epstein (1879 – 1956). Diese Künstlerin war mit ihrem Erfolg, ihrem Ruf, zwei Bildern – einem Porträt und dem Stillleben Disteln – auf der Ersten Aus- ihrem Glanz, ihrem Stil stellung vertreten. Auch im Almanach findet sich ein Beitrag von ihr. stellt die Gontscharowa eine Natalja Gontscharowa Epstein schrieb auch Texte über Kunst. So veröffentlichte die Kunstzeit- einzige Herausforderung Bauern, 1911 schrift Der Sturm ihren Text zum Kubismus Einige Gedanken über Bildentstehung. dar… Die Gesamtper- 1913 folgte ein Artikel über Abstrakte Kunst unter dem Titel Das Lächerlich- sönlichkeit der Natalja sein. Im Ersten Deutschen Herbstsalon der Galerie Der Sturm stellte Epstein zwei Gontscharowa wird durch Porträts aus. zwei Dinge charakterisiert: Talent und harte Arbeit.“ Marina Cvetaeva, 1929

102 103 In Schytomyr in der Ukraine als Elisabeth Hefter 1879 geboren, studierte die junge Frau ab 1895, wie Natalja Gontscharowa, an der Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Baukunst. Ihr Lehrer war der Maler Leonid Pasternak (1862 – 1945), einer der ersten russischen Impressionisten, der wie Ilja Repin zu den Wanderaussteller, also der Genossenschaft für Wanderausstellungen, gehörte. 1896 zog die junge Künstlerin zur weiteren Ausbildung nach Mün- chen, wo sie im Atelier Ažbè Kandinsky und Jawlensky traf, mit denen sie sich schnell anfreundete. Seitdem besuchte sie auch den Salon der Marianne von Werefkin. Zu ihren Bekannten zählte die russische Malerin Olga Marko- wa Meerson (1878 – 1929), die in Kandinskys Phalanx-Schule eine wichtige Rolle spielte, und die wie Werefkin und Jawlensky in der Giselastraße wohn- te. 1898 heiratete sie den Arzt und Stadtrat Dr. Mieszyslaw Epstein (1868 – 1931), im März 1899 kam ihr Sohn Alexander zur Welt. Ihre Bilder zeigten stilistische Parallelen zu den neoimpressionistischen Werken Jawlenskys, weshalb dieser Epstein später als seine Schülerin bezeichnete. Sie bevorzugte die Primärfarben Rot, Gelb und Blau, die sie mit den Sekundärtönen Violett, Grün und Orange sowie den Nichtfarben Schwarz und Weiß verband. August Macke Zu Studienzwecken ging Epstein erstmals 1904 nach Paris, wo sie Sonia Bildnisstudie Delaunay-Terk kennen lernte, die wie sie aus der Ukraine stammte und mit Elisabeth Epstein, 1912 der sie zeitweise in der gleichen Pension in Paris am Boulevard du Montpar- nasse wohnte. Als Epstein 1906 erneut in Paris weilte, traf sie sich dort mit Münter und Kandinsky. Letzterer stellte wie sie im Rahmen junger russischer Künstler im Salon d’Automne aus, wo auch Natalja Gontscharowa Bilder prä- sentierte. 1908 zog Epstein nach der Scheidung von ihrem Mann endgültig von München nach Paris und wurde so für ihre Münchener Kollegen ein wichtiger Kontakt zur Pariser Kunstszene, besonders zum Ehepaar Sonia „Frau Epstein führt in und . 1910 war sie auch Teilnehmerin an Sonia Delaunays diesem kleinen Provinz- Sonntagskreis Mouvement franco-russe. Als Marc und Macke 1912 nach Paris reisten, besuchten sie auf Kandin- städtchen, das mich in skys Empfehlung Elisabeth Epstein, die auf sie als Künstlerin einen großen der Dämmerung an Eindruck machte. Von Macke stammt eine charakteristische Bleistiftzeich- Murnau und Tölz Elisabeth Epstein nung, die die elegante Frau in ihrem häuslichen Milieu darstellt, eine zarte, erinnerte, ein einsames, Stillleben mit Blume und Früchten, 1905 kapriziöse Gestalt mit großen Augen. melancholisches Leben Seit 1914 lebte Epstein in Genf und hatte weiterhin Verbindung mit We- zwischen ihren Bildern.“ refkin und Jawlensky, die mittlerweile in die Schweiz emigriert waren. Erst Marc über den Besuch in in den 1930er Jahren trat sie wieder mit ihren Werken in Ausstellungen in Montmorency, 1912

104 105 Sonia Delaunay (zweite von links) und ihre Freunde Elisabeth Epstein und Alexander Smirnow, 1907

Paris in Erscheinung. Epstein traf dort 1934 auch Kandinsky wieder, der die jahrzehntelange Freundschaft in einem Brief an Jawlensky erwähnte: „Un- längst war bei uns E. I. Epstein. Was für eine nette Frau, ein guter, lieber Mensch. Wir sprachen über Sie und erinnerten uns der alten vergangenen Tage und rechneten aus, wie lange wir uns kennen. Es ergaben sich 40 Jahre.“ Von 1937 bis zu ihrem Tod 1956 lebte Epstein in Genf. Obwohl von ihr 70 Gemälde bekannt sind, geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Als Malerin Lisaweta Iwanowna verewigte sie Thomas Mann in seiner Erzählung Tonio Kröger von 1902.

Auch die russisch-französische Künstlerin und Designerin Sonia Delaunay- Terk (1885 – 1979) kann zum Umfeld des Blauen Reiter gerechnet werden, denn die Pariserin ebenfalls stellte 1913 im Ersten Deutschen Herbstsalon in der Berliner Galerie Der Sturm vier avantgardistische Gemälde und mehrere Sonia Delaunay kunstgewerbliche Arbeiten aus. Zudem war sie befreundet mit Elisabeth Ep- Philomène, 1907 stein, die Kandinsky kannte und den Kontakt der Delaunays zum Blauen Reiter herstellte.

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