Make Them Vomit« Heroin Von the Velvet Underground
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Z Literaturwiss Linguistik (2016) 46:183–200 DOI 10.1007/s41244-016-0013-7 THEMENBEITRAG »Make them vomit« Heroin von The Velvet Underground Gerhard Kaiser Online publiziert: 19. Juli 2016 © J.B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart 2016 Zusammenfassung Der Beitrag schlägt eine ›dichte Beschreibung‹ des Songs He- roin vor, der auf dem ersten Album von The Velvet Underground im Jahr 1967 erschien. Meine These lautet, dass Heroin – vor dem Hintergrund der pop-histori- schen Umwälzungen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die man als eine ›Sattel- zeit‹ der Popmusik ansehen kann – aus einem dreifachen Prozess der ›Verkunstung‹ resultiert, der auf verschiedenen Typen von Konventionsverletzung beruht. Diese betreffen die konventionellen Regeln der Verpackung (Andy Warhols Bananenco- ver), ebenso textliche (die ebenso neutrale wie pointiert literarische Darstellung des Drogenkonsums) und musikalische Konventionen (J. Cales dissonante Viola-Per- formance und M. Tuckers ebenso dilettantisches wie geniales Schlagzeug), die in ihrer Kombination eine jener provokanten Grenzüberschreitungen ergeben, welche die Grammatik und Semantik der populären Musik nachhaltig verändert haben. Da- rüber hinaus besitzt das Ende des Stückes einen jener seltenen Momente, der sich, unter Bezug auf die Arbeiten von Roland Barthes und des Pop-Theoretikers Diedrich Diederichsen, als ›punctum‹ bezeichnen lässt. Schlüsselwörter Popkultur · Dichte Beschreibung · Pop Art · Punktum · Performance »Make them vomit« Heroin by The Velvet Underground Abstract The article offers a »thick description« of the song Heroin, which ap- peared on the first album of The Velvet Underground in 1967. My thesis is that Heroin – against the backdrop of pop-historical upheavals of the second half of G. Kaiser () Universität Göttingen, 37073 Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] 184 G. Kaiser the 1960s, which may be considered a ›saddle period‹ (›Sattelzeit‹) of pop music – results from a triple process of ›artification‹ (›Verkunstung‹), committing different types of convention violation. These concern the conventional rules of packaging (Andy Warhol’s banana cover), as well as textual (neutral as well as pointedly liter- ary portrayal of drug use) and musical ones (J. Cale’s discordant viola performance and M. Tucker’s amateurish as ingenious drums), combining to yield one of those provocative transgressions that sustainably altered the grammar and semantics of popular music. In addition, the end of the piece features one of those rare mo- ments, which, by reference to Roland Barthes’ work and to pop theorist Diedrich Diederichsen, can be called »punctum«. Keywords Pop culture · Thick description · Pop art · Punctum · Performance Wenn böse Menschen doch Lieder hätten, dann klänge eines davon vielleicht wie Heroin von Velvet Underground. Mit seiner Länge von über sieben Minuten, mit sei- nen achtundvierzig Versen, in denen aus der Perspektive eines Süchtigen lakonisch und ohne großes Für und Wider die Erfahrungen des Heroinrausches beschrieben werden, mit einer vom Bratschen-drone und von tribalistischen Trommeln angetrie- benen Musik, die in der letzten Minute in ein kakophonisches und dissonantes Finale umschlägt, fordert der Song auch heute noch gängige Pophörgewohnheiten heraus. Und doch – wenn Listen und Lorbeeren nicht lügen, dann ist der Leumund dieses Songs wie auch des Albums, auf dem er 1967 zum ersten Mal erscheint (The Velvet Underground & Nico), mittlerweile tadellos. In den Kritikerlisten des Rolling Stone taucht Heroin stets unter den fünfhundert besten Songs aller Zeiten auf, und das Album schafft es gar auf Platz dreizehn der besten Langspielplatten aller Zeiten.1 Als eines von nur 225 wurde das Album zudem 2007 in die National Recording Registry der Library of Congress aufgenommen.2 Bei Heroin handelt es sich also um Weltkulturerbe, zumindest Nationalkulturerbe. Und wie es sich mit solch hoch- dekorierten Kulturerbstücken aus dem Bereich der Künste nun einmal verhält: Über ihren Erfolg vergisst man die Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens, den Willen zur Obszönität, der sich in ihnen manifestiert und die Geste des gereckten Mittelfingers, der sie sich einmal verdankten, ganz so, als sei es schon immer völ- lig selbstverständlich gewesen, dass es sie gibt. Eines der Anliegen der folgenden Analyse ist es, wieder freizulegen, wie wenig ›normal‹ Heroin seinen Zeitgenossen erschienen sein muss. Es soll sozusagen an die Mittelfingerhaftigkeit dieses Songs erinnert und in diesem Zusammenhang rekonstruiert werden, in welche Richtungen er einst zeigte. 1 Nr. 455 in der Ausgabe vom 07.04.2011. Rolling Stone: 500 Greatest Songs of All Time. In: http://www. rollingstone.com/music/lists/the-500-greatest-songs-of-all-time-20110407/the-beatles-penny-lane- 20110526 (26.01.2016). 2 Vgl. Library of Congress: Complete National Recording Registry List. In: https://www.loc.gov/ programs/national-recording-preservation-board/recording-registry/complete-national-recording-registry- listing/ (26.01.2016). »Make them vomit« 185 1 Reeling in the years: Vorüberlegungen zu den Zeiten des Pop Pop und seine Beobachtung finden in zwei unterschiedlichen Zeitsystemen statt. Während Pop selbst nach ungefähr sechzig Jahren – vorangetrieben durch seine medial beschleunigte Entwicklung und Verbreitung – schon in seiner eigenen Post- moderne angelangt ist, in der alle Ausdrucksmittel durchgespielt, erschöpft und rekombiniert scheinen, die Archive geöffnet werden und die Heroen und Heroinen der Frühzeit tot sind oder ihre diesmal definitiv letzte Abschiedstournee bestreiten, tritt die Popbeobachtung gerade erst in ihr nachmythisches Zeitalter ein. Gerade erst nachmythisch, das meint: Noch immer zirkulieren in der Popbeobachtung eine Un- zahl von meist zunächst mündlich überlieferten Anekdoten und Geschichten, die in ihrer Summe zwar so etwas wie Popgeschichtsschreibung ergeben, um deren Wahr- heit man allerdings nicht selten fürchten muss. Nicht wenige solcher Geschichten ranken sich um den ersten Auftritt einer Band oder eines Künstlers. Das ästhetische Frühlingsopfer von Velvet Underground fällt mitten in den eisigen Winter von New York. Denn der erste Auftritt von Lou Reed (Gesang, Gitarre), John Cale (Bratsche, Tasteninstrumente und, wenn nötig, Bass), Sterling Morrison (Gitarre) und Maureen Tucker (Schlagzeug) unter dem Namen The Velvet Underground findet am 11. De- zember 1965 an der Summit High School in New Jersey statt. Sterling Morrison erinnert sich in einer nicht autorisierten Biografie der Band daran folgendermaßen: At Summit we opened with »There She Goes Again«, then played »Venus in Furs«, and ended with »Heroin«. The murmur of surprise that greeted our ap- pearance as the curtain went up increased to a roar of disbelief once we started to play »Venus«, and swelled to a mighty howl of outrage and bewilderment by the end of »Heroin«. Al Aronowitz [damaliger Manager der Band; GK] observed that we seemed to have an oddly stimulating and polarizing effect on audiences.3 Eine andere, ebenfalls unautorisierte, Biografie ergänzt den Vorfall noch um zwei kollabierende junge Mädchen und eine kollektive Saalflucht.4 Auch wenn man sich fragen mag, was die Geschichte der Musik wohl ohne ihre Ohnmachtsanfälle und Saalfluchten wäre, so verdichtet sich in dieser Anekdote (ergänzt um viele ande- re rund um die frühe Auftrittspraxis der Band) doch eine Haltung, die John Cale knapp, aber treffend so beschreibt: »Our aim was to upset people, make them feel uncomfortable, make them vomit.«5 Der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen be- tont in einem anderen Zusammenhang die »Frechdachsigkeit, die fiese Frische und den Kommando-Ton«6 der frühen Pop-Modelle: Eben eine solche Frechdachsigkeit und fiese Frische samt Kommandoton zeigen sich im Blick auf die Selbstdarstel- lungspraxis der Velvet Underground. 3 DeRogatis, Jim: The Velvet Underground. An Illustrated History of a Walk On The Wild Side. Minnea- polis 2009, S. 34. 4 Vgl. Hogan, Peter: The Rough Guide to The Velvet Underground. London 2007, S. 19. 5 DeRogatis (wie Anm. 3), S. 5. 6 Diederichsen, Diedrich: »Ist was Pop?« In: Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart 2013, S. 244–258, hier S. 258. 186 G. Kaiser Es als ein bewusstes Ziel auszugeben, zum Kotzen gefunden zu werden, zeugt von zweierlei: erstens von der Reflektiertheit und der Bewusstheit des eigenen äs- thetischen Handelns und – zugleich und darüber hinaus – zweitens davon, an wel- chem historischen Punkt sich die Popgeschichte 1965 mit Velvet Underground (und anderen Akteuren und Bands) befindet. Pop wird – um bei einem der großen Kul- turtheoretiker der Moderne, bei Friedrich Schiller, zu borgen – sentimentalisch; sentimentalisch hier ganz im Sinne Schillers verstanden, d.h. nicht etwa gefühlsse- lig, sondern: selbstreflexiv.7 Pop reflektiert auf die Bedingungen seiner Möglichkeit und seiner Erscheinungs- und Rezeptionsweisen und ist damit eben nicht mehr: naiv. Möglicherweise – darüber muss man streiten – erscheint dann die weltzeitlich gemessen gewiss kurze Zeitspanne der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in der Pop- zeitrechnung als eine Art Sattelzeit der kurzen und beschleunigten Popgeschichte. Wenn Elvis also der große Naive der Popgeschichte war (und es – vielleicht liegt darin seine besondere Tragik – bis zu seinem Ende blieb), Bob Dylan (spätestens seit Bringing It All Back Home) und die Beatles (seit Rubber Soul und Revolver) irgendwann um 1964/65 den Schritt vom Naiven zum Sentimentalischen vollzogen, dann waren The