Z Literaturwiss Linguistik (2016) 46:183–200 DOI 10.1007/s41244-016-0013-7

THEMENBEITRAG

»Make them vomit« Heroin von

Gerhard Kaiser

Online publiziert: 19. Juli 2016 © J.B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart 2016

Zusammenfassung Der Beitrag schlägt eine ›dichte Beschreibung‹ des Songs He- roin vor, der auf dem ersten von The Velvet Underground im Jahr 1967 erschien. Meine These lautet, dass Heroin – vor dem Hintergrund der pop-histori- schen Umwälzungen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die man als eine ›Sattel- zeit‹ der Popmusik ansehen kann – aus einem dreifachen Prozess der ›Verkunstung‹ resultiert, der auf verschiedenen Typen von Konventionsverletzung beruht. Diese betreffen die konventionellen Regeln der Verpackung (Andy Warhols Bananenco- ver), ebenso textliche (die ebenso neutrale wie pointiert literarische Darstellung des Drogenkonsums) und musikalische Konventionen (J. Cales dissonante Viola-Per- formance und M. Tuckers ebenso dilettantisches wie geniales Schlagzeug), die in ihrer Kombination eine jener provokanten Grenzüberschreitungen ergeben, welche die Grammatik und Semantik der populären Musik nachhaltig verändert haben. Da- rüber hinaus besitzt das Ende des Stückes einen jener seltenen Momente, der sich, unter Bezug auf die Arbeiten von Roland Barthes und des Pop-Theoretikers Diedrich Diederichsen, als ›punctum‹ bezeichnen lässt.

Schlüsselwörter Popkultur · Dichte Beschreibung · Pop Art · Punktum · Performance

»Make them vomit« Heroin by The Velvet Underground

Abstract The article offers a »thick description« of the song Heroin, which ap- peared on the first album of The Velvet Underground in 1967. My thesis is that Heroin – against the backdrop of pop-historical upheavals of the second half of

G. Kaiser () Universität Göttingen, 37073 Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] 184 G. Kaiser the 1960s, which may be considered a ›saddle period‹ (›Sattelzeit‹) of pop music – results from a triple process of ›artification‹ (›Verkunstung‹), committing different types of convention violation. These concern the conventional rules of packaging (Andy Warhol’s banana cover), as well as textual (neutral as well as pointedly liter- ary portrayal of drug use) and musical ones (J. Cale’s discordant viola performance and M. Tucker’s amateurish as ingenious drums), combining to yield one of those provocative transgressions that sustainably altered the grammar and semantics of popular music. In addition, the end of the piece features one of those rare mo- ments, which, by reference to Roland Barthes’ work and to pop theorist Diedrich Diederichsen, can be called »punctum«.

Keywords Pop culture · Thick description · Pop art · Punctum · Performance

Wenn böse Menschen doch Lieder hätten, dann klänge eines davon vielleicht wie Heroin von Velvet Underground. Mit seiner Länge von über sieben Minuten, mit sei- nen achtundvierzig Versen, in denen aus der Perspektive eines Süchtigen lakonisch und ohne großes Für und Wider die Erfahrungen des Heroinrausches beschrieben werden, mit einer vom Bratschen-drone und von tribalistischen Trommeln angetrie- benen Musik, die in der letzten Minute in ein kakophonisches und dissonantes Finale umschlägt, fordert der Song auch heute noch gängige Pophörgewohnheiten heraus. Und doch – wenn Listen und Lorbeeren nicht lügen, dann ist der Leumund dieses Songs wie auch des , auf dem er 1967 zum ersten Mal erscheint (The Velvet Underground & ), mittlerweile tadellos. In den Kritikerlisten des taucht Heroin stets unter den fünfhundert besten Songs aller Zeiten auf, und das Album schafft es gar auf Platz dreizehn der besten Langspielplatten aller Zeiten.1 Als eines von nur 225 wurde das Album zudem 2007 in die National Recording Registry der Library of Congress aufgenommen.2 Bei Heroin handelt es sich also um Weltkulturerbe, zumindest Nationalkulturerbe. Und wie es sich mit solch hoch- dekorierten Kulturerbstücken aus dem Bereich der Künste nun einmal verhält: Über ihren Erfolg vergisst man die Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens, den Willen zur Obszönität, der sich in ihnen manifestiert und die Geste des gereckten Mittelfingers, der sie sich einmal verdankten, ganz so, als sei es schon immer völ- lig selbstverständlich gewesen, dass es sie gibt. Eines der Anliegen der folgenden Analyse ist es, wieder freizulegen, wie wenig ›normal‹ Heroin seinen Zeitgenossen erschienen sein muss. Es soll sozusagen an die Mittelfingerhaftigkeit dieses Songs erinnert und in diesem Zusammenhang rekonstruiert werden, in welche Richtungen er einst zeigte.

1 Nr. 455 in der Ausgabe vom 07.04.2011. Rolling Stone: 500 Greatest Songs of All Time. In: http://www. rollingstone.com/music/lists/the-500-greatest-songs-of-all-time-20110407/the-beatles-penny-lane- 20110526 (26.01.2016). 2 Vgl. Library of Congress: Complete National Recording Registry List. In: https://www.loc.gov/ programs/national-recording-preservation-board/recording-registry/complete-national-recording-registry- listing/ (26.01.2016). »Make them vomit« 185

1 Reeling in the years: Vorüberlegungen zu den Zeiten des Pop

Pop und seine Beobachtung finden in zwei unterschiedlichen Zeitsystemen statt. Während Pop selbst nach ungefähr sechzig Jahren – vorangetrieben durch seine medial beschleunigte Entwicklung und Verbreitung – schon in seiner eigenen Post- moderne angelangt ist, in der alle Ausdrucksmittel durchgespielt, erschöpft und rekombiniert scheinen, die Archive geöffnet werden und die Heroen und Heroinen der Frühzeit tot sind oder ihre diesmal definitiv letzte Abschiedstournee bestreiten, tritt die Popbeobachtung gerade erst in ihr nachmythisches Zeitalter ein. Gerade erst nachmythisch, das meint: Noch immer zirkulieren in der Popbeobachtung eine Un- zahl von meist zunächst mündlich überlieferten Anekdoten und Geschichten, die in ihrer Summe zwar so etwas wie Popgeschichtsschreibung ergeben, um deren Wahr- heit man allerdings nicht selten fürchten muss. Nicht wenige solcher Geschichten ranken sich um den ersten Auftritt einer Band oder eines Künstlers. Das ästhetische Frühlingsopfer von Velvet Underground fällt mitten in den eisigen Winter von New York. Denn der erste Auftritt von (Gesang, Gitarre), (Bratsche, Tasteninstrumente und, wenn nötig, Bass), (Gitarre) und Maureen Tucker (Schlagzeug) unter dem Namen The Velvet Underground findet am 11. De- zember 1965 an der Summit High School in New Jersey statt. Sterling Morrison erinnert sich in einer nicht autorisierten Biografie der Band daran folgendermaßen: At Summit we opened with »There She Goes Again«, then played »Venus in Furs«, and ended with »Heroin«. The murmur of surprise that greeted our ap- pearance as the curtain went up increased to a roar of disbelief once we started to play »Venus«, and swelled to a mighty howl of outrage and bewilderment by the end of »Heroin«. Al Aronowitz [damaliger Manager der Band; GK] observed that we seemed to have an oddly stimulating and polarizing effect on audiences.3 Eine andere, ebenfalls unautorisierte, Biografie ergänzt den Vorfall noch um zwei kollabierende junge Mädchen und eine kollektive Saalflucht.4 Auch wenn man sich fragen mag, was die Geschichte der Musik wohl ohne ihre Ohnmachtsanfälle und Saalfluchten wäre, so verdichtet sich in dieser Anekdote (ergänzt um viele ande- re rund um die frühe Auftrittspraxis der Band) doch eine Haltung, die John Cale knapp, aber treffend so beschreibt: »Our aim was to upset people, make them feel uncomfortable, make them vomit.«5 Der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen be- tont in einem anderen Zusammenhang die »Frechdachsigkeit, die fiese Frische und den Kommando-Ton«6 der frühen Pop-Modelle: Eben eine solche Frechdachsigkeit und fiese Frische samt Kommandoton zeigen sich im Blick auf die Selbstdarstel- lungspraxis der Velvet Underground.

3 DeRogatis, Jim: The Velvet Underground. An Illustrated History of a Walk On The Wild Side. Minnea- polis 2009, S. 34. 4 Vgl. Hogan, Peter: The Rough Guide to The Velvet Underground. London 2007, S. 19. 5 DeRogatis (wie Anm. 3), S. 5. 6 Diederichsen, Diedrich: »Ist was Pop?« In: Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart 2013, S. 244–258, hier S. 258. 186 G. Kaiser

Es als ein bewusstes Ziel auszugeben, zum Kotzen gefunden zu werden, zeugt von zweierlei: erstens von der Reflektiertheit und der Bewusstheit des eigenen äs- thetischen Handelns und – zugleich und darüber hinaus – zweitens davon, an wel- chem historischen Punkt sich die Popgeschichte 1965 mit Velvet Underground (und anderen Akteuren und Bands) befindet. Pop wird – um bei einem der großen Kul- turtheoretiker der Moderne, bei Friedrich Schiller, zu borgen – sentimentalisch; sentimentalisch hier ganz im Sinne Schillers verstanden, d.h. nicht etwa gefühlsse- lig, sondern: selbstreflexiv.7 Pop reflektiert auf die Bedingungen seiner Möglichkeit und seiner Erscheinungs- und Rezeptionsweisen und ist damit eben nicht mehr: naiv. Möglicherweise – darüber muss man streiten – erscheint dann die weltzeitlich gemessen gewiss kurze Zeitspanne der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in der Pop- zeitrechnung als eine Art Sattelzeit der kurzen und beschleunigten Popgeschichte. Wenn Elvis also der große Naive der Popgeschichte war (und es – vielleicht liegt darin seine besondere Tragik – bis zu seinem Ende blieb), Bob Dylan (spätestens seit Bringing It All Back Home) und die Beatles (seit Rubber Soul und Revolver) irgendwann um 1964/65 den Schritt vom Naiven zum Sentimentalischen vollzogen, dann waren The Velvet Underground von Beginn ihres öffentlichen Auftretens an durch und durch sentimentalisch. Dies soll im Folgenden exemplarisch an dem Song Heroin und an dem Album, in dessen Kontext es erschienen ist, nachvollziehbar werden. Der von John Cale beschworene vomitive appeal der Velvet Underground kann, wenn man ihn in eine neutralere Beobachtungssprache übersetzt, als das transformative Potenzial der Band bezeichnet werden. Dieses transformative Potenzial führt sowohl bei Heroin als auch bei dem Album The Velvet Underground & Nico, in das es eingebettet ist, zu mehre- ren Grenzüberschreitungen, die auf das zeitgenössische Publikum verstörend gewirkt haben und die im Folgenden beschrieben, kontextualisiert und analysiert werden sol- len. In der Summe – so meine These – führen diese Grenzüberschreitungen zu einem Ergebnis, das hier in Ermangelung eines besseren Begriffs als Verkunstung des Pop bezeichnet werden soll.

2 Bananen des Bösen – Verkunstung I: Die Verpackung

Die Geschichte des Pop ist, daran hätte Adorno seine Freude, auch die Geschichte seiner Verpackungen. 1967 ist für die Verpackungsgeschichte des Pop ein bedeutsa- mes Jahr. Am 1. Juni des Jahres erscheint das achte Album der Beatles: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, das auch verpackungsgeschichtlich neue Maßstäbe im Pop

7 Schillers asymmetrisches Gegenbegriffspaar ist freilich alles andere als scharf umrissen, gleichwohl trifft man wohl einen Grundzug seiner Überlegungen, wenn man als sentimentalisch jene modernere, selbst- entzweite Haltung zur Kunst bezeichnet, die nicht mehr naiv schafft, sondern zugleich auf ihr Schaffen reflektiert: »Denn eben diese reine Einheit ihres Ursprungs und ihres Effekts ist ein Charakter der naiven Dichtung. Ganz anders verhält es sich mit dem sentimentalischen Dichter. Dieser reflektiert über den Ein- druck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt.« (Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung.In: Ders.: Sämtliche Werke. Band V. Erzählungen und theoretische Schriften. Hg. Wolfgang Riedel. München 2004, S. 694–780, hier S. 720. »Make them vomit« 187 setzt.8 Von der eben erwähnten Sentimentalisierung und Verkunstung des Pop zeugt es gleich in mehrfacher Hinsicht: 1. Ist für seine Gestaltung maßgeblich der renom- mierte Pop-Art-Künstler Peter Blake verantwortlich. 2. Werden auf der Rückseite der gatefold-Albumhülle zum ersten Mal sämtliche Texte der Songs abgedruckt, was ihnen die Aura einer gleichsam literarischen Dignität verleihen soll. 3. Illustriert die Vorderseite, dass und wie die Band sich mittlerweile selbst historisch geworden ist: Die Beatles von 1967 stehen hier als eine in Phantasieuniformen verkleidete Al- ter-Ego-Band neben sich selbst, d.h. neben ihren eigenen Wachsfiguren, die sie – man sieht es an den Moptop-Frisuren – in der Frühphase ihrer Karriere abbilden. Umgeben werden sie von einer Riege von Heldinnen und Helden aus der Populär- und der sogenannten Hochkultur, deren Spektrum – um hier nur einige zu nennen – von Albert Einstein und Karl Marx über Bob Dylan, Karlheinz Stockhausen, Oscar Wilde, Edgar Allan Poe und Dylan Thomas bis zu dem Boxer Sonny Liston und den Schauspielern Marlon Brando, Stan Laurel, Oliver Hardy und Marilyn Monroe reicht. Was hier in der Praxis der Cover-Gestaltung und des Albums selbst vor sich geht, sollte der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler dann ein Jahr später auf eine nachmals berühmte Formel bringen, die die etablierten Grenzen zwischen hoher und Unterhaltungskultur für nichtig erklärt: »Close the gap, cross the border!«9 Bereits im März des gleichen Jahres erscheint ein Album, das diese Inszenierung einer Grenzüberschreitung zwischen Pop und Kunst (und umgekehrt) strukturell schon vorwegnimmt, eben jenes Album The Velvet Underground & Nico, auf dem Heroin die prominente Position des ersten Songs auf der zweiten Seite einnimmt und dessen Cover von dem renommierten Pop-Art-Künstler Andy Warhol gestaltet wurde. »Produced by Andy Warhol« ist auf der Rückseite der LP zu lesen, was hier vor allem bedeutet, dass Warhol der Band Verstärker kauft, sie in seiner Factory proben lässt und jene Aufnahmesitzungen finanziert, aus denen das Album schließ- lich hervorgeht. Heroin selbst wird in drei Sessions am 25.04.66 in den New Yorker Scepter Studios, im Mai 1966 in den TTG-Studios in Kalifornien und schließlich noch einmal am 25.10.66 in den MGM-Studios New York in drei unterschiedlichen Varianten eingespielt.10 Trotz der Unterstützung durch den prominenten Künstler- mäzen gestaltet es sich zunächst, so erinnert sich John Cale, als äußerst schwierig, eine Plattenfirma für die Veröffentlichung zu finden: We made the album ourselves and then took it around because we knew that no one was going to sign us off the streets. And we didn’t want any A&R department telling us what songs we should record. We took it to Ahmet Ertegun [der Chef von Atlantic-Records; GK] and he said, ›No Drug songs.‹ We took it to Elektra, and they said, ›No violas‹. Finally we took it to Tom

8 Zum Folgenden siehe vor allem Grasskamp, Walter: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur. Berlin 2004. 9 Fiedler, Leslie A.: »Cross the Border – Close the Gap«. In: Playboy 12 (1969), S. 151, S. 230, S. 252–254 und S. 256–258. 10 Das Album erschien in der Erstpressung bei Verve (V6-5008). Wenn im Folgenden auf Musik und Text des Songs rekurriert wird, so liegt diesen Bezugnahmen (wenn nicht anders angegeben) folgende Edition zugrunde: The Velvet Underground & Nico: 45th Anniversary Deluxe Edition. Universal Records 2012. 188 G. Kaiser

Wilson, who was at Columbia, and he said to wait until he moved to MGM and we could do whatever we wanted with him on their Verve label, which turned out to be true and MGM did sign us. They signed The Mothers of Invention at the same time, trying to revamp Verve and go psychedelic, or something.11

Warhol hatte die Band Ende 1965 bei einem Konzert entdeckt und, da er sich in dieser Phase mit der Idee einer Art Pop-Gesamtkunstwerk aus eigenen Filmen, Lightshow, Ausdruckstanz und Musik beschäftigte, passten sie bestens in sein Kon- zept einer »Pop-Idea«: [W]e were really interested in everything that was going on. The Pop idea, after all, was that anybody could do anything, so naturally we were all trying to do it all. Nobody wanted to stay in one category; we all wanted to branch out into every creative thing we could – that’s why when we met the Velvet Underground, at the end of ’65, we were all for getting into the music scene, too.12 Auf Drängen Warhols (und sehr zum Ungemach des jedwede Konkurrenz fürch- tenden Lou Reed) wird die Gruppe ergänzt um die deutsche Sängerin Nico (Christa Päffgen), die Warhol als »chanteuse« etikettiert und von der er sagt: »Sie war ge- heimnisvoll und europäisch, eine echte Mondgöttin.«13 Ab April 1966 tourt der gesamte Warhol-Factory-Tross dann mit einer für damalige Verhältnisse irritierend lauten, bunten und schockierenden Multimediashow durch die USA, die als The Exploding Plastic Inevitable annonciert wird. Doch zurück zum Cover des ersten Albums (das übrigens nicht Warhols ers- tes ist. Schon seit Ende der 1940er Jahre entwirft er LP-Hüllen für klassische und für Jazzplatten). »It’s an extremely pretty sexy banana, and the album cover peels, which is nice, to reveal the inside of a very sexy, groovy banana«14,sodieBeschrei- bung Lou Reeds. Das Bananenmotiv ist im Rahmen von Warhols künstlerischem Schaffen nicht neu. Schon 1957 taucht es in einer seiner Zeichnungen auf, 1964 in einer Fotoserie und ab 1964 mehrmals in Filmproduktionen, so etwa in dem Kurzfilm MARIO BANANA, in dem ein fiktiver Transvestit namens Mario Montez über die gesamte Filmlänge von vier Minuten dabei gezeigt wird, wie er lustvoll und eindeutig auf orale Sexualpraktiken anspielend eine Banane verzehrt.15 Diese sexuelle Konnotationsebene wird auch auf dem Cover wieder aufgegriffen, ist doch das Fruchtinnere, das zum Vorschein kommt, wenn man die Schale abgezogen hat (»peel slowly and see«, so der auch als laszive Anweisung lesbare Aufdruck über der Banane), fleischfarben.

11 Bockris, Victor/Malanga, Gerard: up-tight. The Velvet Underground Story. London u.a. 2002, S. 68. 12 Warhol, Andy/Hackett, Pat: POPism. The Warhol ‘60s. New York/London 1980, S. 134. 13 Warhol, Andy: »POPism. Meine 60er Jahre.« In: Goer/Greif/Jacke (wie Anm. 6), S. 142–155, hier S. 148. 14 DeRogatis (wie Anm. 3), S. 99. 15 Vgl. Gier, S. Klaus: Andy Warhols Record- und Cover Design. Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 114 et passim. »Make them vomit« 189

Dieses Spiel mit der doppelten Konnotierbarkeit zwischen grellem, poppigem Trash an der Oberfläche und provokanten, verruchten, sexuellen Unterströmungen harmoniert bestens sowohl mit dem Namen der Band (der auf der Vorderseite der Albumhülle gerade nicht auftaucht und den sie vom Titel einer reißerisch aufge- machten Reportage über sado-masochistische Praktiken übernehmen) als auch mit jenen Songs auf dem Album, die – wie etwa Venus in Furs – in der Öffentlichkeit tabuisierte Sexualpraktiken zur Sprache bringen. Mit der Signatur »Andy Warhol« (in der Handschrift von Warhols Mutter) wird die Grenzüberschreitung zwischen Pop und Kunst gleichsam zertifiziert und es wird deutlich, wie Pop und Kunst hier wechselseitig als Ressourcen füreinander fungieren (sollen): Während die Musik der Velvet Underground dem etablierten Künstler Warhol und seiner »Pop-idea« auch ein junges Publikum erschließen sollen (sozusagen qua hippem Underground- Effekt), wird das Debütalbum der Band durch die mit der Signatur des Künstlers versehene, zeit- und kostenaufwendige Cover-Gestaltung in den Rang eines Kunst- werks erhoben. Auf die Inszenierung einer solchen, auf den ersten Blick durchaus absatzträchtigen Grenzüberschreitung zielt, wenn auch in platterer, weil anbiedern- der Weise, die Marketingstrategie der Plattenfirma Verve, die vollmundig verkündet: What happens when the daddy of Pop Art goes Pop Music? The most under- ground album of all! It’s Andy Warhol’s hip new trip to the current subterranean scene. Sorry, no home movies. But the album does feature Andy’s Velvet Un- derground (they play funny instruments). Plus his this year’s Pop Girl, Nico (she sings, groovy). Plus an actual Warhol banana on the front cover (don’t smoke it...peel it)!16 Neue Wege der paratextuellen Rezeptionslenkung (zumindest für den Popbereich) zeigt auch die Gestaltung der Innenseiten des aufklappbaren Albums, die mit bisher gängigen Standards in bezeichnender Weise bricht. Präsentiert werden hier zehn Auszüge aus Rezensionen der E.P.I-Show des Jahres 1966. Diese Collage entpuppt sich bei genauer Betrachtung als eine gezielte Beobachtung der Popbeobachtung, als ein montiertes Protokoll der Distinktion. »Your worst reviews are your best reviews«17, so lautet ein Leitspruch Warhols, den sich die Band zu eigen macht, wenn sie mit den Texten auf den beiden Innenseiten auf die sonst im Genre der Liner Notes üblichen, hagiografischen Töne gänzlich verzichtet. In allen Ausschnitten erscheint die Band in einem ambivalenten, bisweilen gar kritischen Licht, in einem Licht aber, in dem immer zugleich auch der Anspruch der Gruppe aufgeblendet wird, »to work on music«, so Sterling Morrison in einer Selbstcharakterisierung, »that was different from ordinary rock ’n’ roll.«18 Dieser nachdrückliche Distinktionswille bleibt denn auch der frühen Kritik nicht verborgen, den die Gruppe dann wiederum in ihren Selbstdarstellungsmodus inte- griert: Von einer »secret marriage between Bob Dylan und The Marquis de Sade«, von einer »savage series of atonal thrusts and electronic feedback«, von »discordant music, throbbing cadences, pulsating tempo« ist in den abgedruckten Kritiken die

16 DeRogatis (wie Anm. 3), S. 100. 17 Vgl. Bockris/Malanga (wie Anm. 11), S. 108. 18 Ebd., S. 25. 190 G. Kaiser

Rede. »Art has come to the discotheque and it will never be the same again«, so einer der Autoren, »the flowers of evil are in full bloom«, so ein anderer.19 Dass der Kritiker hier die Baudelaire’schen Blumen des Bösen bemüht, ist freilich kein Zufall und hängt nicht nur damit zusammen, dass die Band keinen »herkömmlichen Rock’n’Roll« spielt. Es liegt auch an den Texten der Songs, und freilich nicht zuletzt an dem von Heroin.

3 Kein Leichtmatrose – Verkunstung II: Der Text

»He was writing about things other people weren’t«20, so beschreibt John Cale seinen Eindruck, als Reed ihm im Frühjahr 1965 neben einem Song über eine sadomasochistische Beziehung (Venus in Furs) und einem über die Probleme bei der Beschaffung von harten Drogen (I’m Waiting for the Man) zum ersten Mal auch Heroin vorspielt, einen Song, den Reed 1964, als 22-Jähriger, noch in seiner College-Zeit geschrieben hat. Zieht man die Mitte der 1960er Jahre im Popbereich üblichen Textstandards in Betracht, ist Cales Befund gewiss absolut zutreffend. Zwar wurden die Freuden und Nöte des Drogenkonsums auch vorher schon in einigen Jazz- und Bluessongs – etwa dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Versionen zirkulierenden Cocaine Blues oder in Songs wie Take a sniff on me oder Reefer Man – besungen. Auch in einigen Liedern von Bob Dylan, wie etwa Mr. Tambourine Man von dem Album Bringing it all back home oder Visions of Johanna und Rainy Day Women No. 12 & 35 auf dem 1966 erschienenen Doppelalbum Blonde on Blonde, finden sich Anspielungen auf Drogenerfahrungen. Dass in einem Popsong jedoch dergestalt ausführlich, vom Titel an ausdrücklich und ohne jede semantische Bemäntelung, dafür aber mit literarischen Strategien Drogenerfahrungen beschrieben werden, darf man durchaus als häretischen Akt bezeichnen. Und diese Mischung aus unmittelbarer Direktheit, Ausführlichkeit und Literarisierung bleibt ein Alleinstellungsmerkmal von Heroin,auchwennmanihn mit jenen Drogensongs vergleicht, die in dieser Phase wie Pilze aus dem Boden schießen (Eight Miles High von den Byrds, Lucy in the Sky von den Beatles, White Rabbit von den Jefferson Airplane oder Are you experienced? von Jimi Hendrix, um hier nur einige zu nennen). Lou Reed selbst hat dies in späteren Interviews einerseits immer wieder versucht herunterzuspielen: »I’m still not sure what was such a big deal. So there’s a song called ›Heroin‹. So what?«21 Andererseits aber insistiert auch er durchaus auf der zeitgenössischen Sonderstellung des Textes: »Lyrically, I don’t think there was too much else apart from Dylan and the Velvets that was engaging that part of your head. [...] There was such a narrow-minded view of what a song could be.«22

19 Alle Zitate nach dem Abdruck der Albumhüllen-Innenseiten in Gier (wie Anm. 15), S. 287. 20 Wall, Mick: Lou Reed. The Life. London 2013, S. 22. 21 Hogan (wie Anm. 4), S. 245. 22 Wall (wie Anm. 20), S. 59 f. »Make them vomit« 191

Mit einer solch engstirnigen Sicht bricht der Text gleich in dreifacher Hinsicht: erstens (und vergleichsweise banal) durch seine schiere Länge.23 Der Song besteht insgesamt aus achtundvierzig Versen. Diese gliedern sich wiederum, folgt man dem Verlauf des Songs, in vier Abschnitte von unterschiedlichem Umfang. Jeder Ab- schnitt wird durch die refrainartig zum Einsatz kommende, resignativ wiederholte Einsicht »And I guess that I just don’t know« (V. 8 und 9, V. 18 und 19, V. 29 und 30, V. 47 und 48) beschlossen. Während im ersten Abschnitt ein überwiegend paarreimiges und im letzten Abschnitt ein unregelmäßiges Reimschema zu erken- nen ist, bestehen die mittleren Abschnitte weitestgehend aus ungereimten Versen. Der Umfang der Abschnitte nimmt zunächst stetig um jeweils einen Vers zu (ohne den Refrain umfasst der erste Abschnitt sieben Verse, der zweite acht und der dritte neun Verse), um dann im vierten und letzten Abschnitt schließlich sprunghaft auf sechzehn Verse anzuschwellen, wodurch auch formal der Umstand abgebildet wird, dass sich hier ein Sprecher-Ich in einen immer hektischer werdenden, unkontrol- lierbaren Rausch aus drogeninduzierten Gedanken hineinsteigert. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die ersten drei Abschnitte jeweils mit »I« beginnen (»I don’t know just where I’m going« [V. 1], »I have made a big decision« [V. 10], »I wish that I was born a thousand years ago« [V. 20]), während am Beginn des letzten Abschnittes an die Stelle des »I« eben das »Heroin« tritt (»Heroin, be the death of me« [V. 31]), so dass der im Text herbeigesehnte Akt der Depersonalisation und Entselbstung im Zeichen der bewussten Entscheidung für die Droge auch auf diesem Wege augenfällig wird. Zweitens bricht der Song dadurch, dass er als Rollenpoem angelegt ist und damit seine ›Erzählung‹ durchgängig intern fokalisiert bleibt, mit bestimmten moralischen Konventionen, die angesichts des sujets erwartbar wären. Reed selbst insistiert in Selbstkommentaren wiederholt, der Song sei »just about taking heroin, from the point of view of someone taking it«.24 Genau in dieser Perspektivierung jedoch liegt der entscheidende Bruch, denn das moralische Urteil einer übergeordneten In- stanz (will man nicht die Musik, was die Angelegenheit aber auch nicht eindeutiger macht, für eine solche halten) bleibt konsequent aus: Weder wird in einem mo- raldidaktischen Sinne vor der Drogenerfahrung gewarnt, noch wird an irgendeiner Stelle ausdrücklich, wie etwa in dem mehrfach wiederholten Schlussausruf »Feed your head!« im Song White Rabbit von Jefferson Airplane, zu ihr aufgefordert. Die- se Ambivalenz in moralischen Dingen wird dadurch noch verstärkt, dass sich der Sprecher zwar als ein durchaus wortmächtiges Ich präsentiert, aber eben auch als ein letztlich orientierungslos bleibendes, das ungeachtet der drogeninduzierten Er- fahrungen am Ende mit einem finalen »and I guess that I just don’t know« (V. 48) genauso klug ist wie am Anfang, wenn es im ersten Vers heißt: »I don’t know just where I’m going«. Drittens speist sich die Semantik, derer sich das sprechende Ich bedient, um sein ›künstliches Paradies‹ des Heroinrausches zu besingen, keineswegs aus populären

23 Als Vorbild für solche textlichen wie musikalischen Ausdehnungsübungen darf man sicherlich Bob Dylan vermuten, dessen Sad Eyed Lady oft the Lowlands von der 1966 erschienenen LP Blonde on Blonde mit einer elf Minuten Spielzeit eine ganze LP-Seite beanspruchte. 24 Hogan (wie Anm. 4), S. 244 f. 192 G. Kaiser

Blues- oder Folkquellen, sondern sie resultiert neben den eigenen Erfahrungen Reeds vorrangig aus einem Rückgriff auf literarische Ressourcen, die von den poète mau- dits des 19. Jahrhunderts über Herman Melvilles Billy Budd bis zu den beat poets in Reeds Gegenwart reichen. Dieser literarische Anspielungsreichtum des Textes soll hier anhand einiger Beispiele wenigstens angedeutet werden: Mit der »großen Entscheidung« des Sprecher-Ichs (»I have made a big decision«, so verkündet es am Beginn der zweiten Strophe), sein bisheriges Leben bzw. das Leben überhaupt zu annulieren (»I’m gonna try to nullify my life«, V. 11), schreibt es sich ein in die traditionsreiche Reihe jener verfemten Poeten und Hipsters, die von Baudelaire und Rimbaud über Burroughs bis zu Ginsberg aus Gründen des ennui zu Drogen griffen und den Akt der dionysischen Selbstberauschung mit verbotenen Giften zugleich als ein anti-bürgerliches Bekenntnis verstanden wissen wollten. Die- se dezidiert anti-bürgerliche Stoßrichtung der Entscheidung wird im Song allerdings erst im vierten Abschnitt ins Spiel gebracht, wenn der Sprecher versichert: I really don’t care anymore About all you Jim-Jims in this town And all the politicians making crazy sounds And everybody putting everybody else down And all the dead bodies piled up in mounds (V. 37–41). Der gesellschaftskritische Aspekt des Drogenkonsums scheint hier zwar auf, steht aber keineswegs im Mittelpunkt und wirkt im Gesamtgefüge des Textes ohnehin – vor allem mit den wahrscheinlich auf den Vietnamkrieg anspielenden »dead bo- dies« – wie eine eher flüchtige Reminiszenz an Dylans frühe Protestlyrik. Wichtiger hingegen erscheint die Entscheidung selbst, die Entscheidung mithin, das eigene Leben vollständig ins Zeichen der Droge zu stellen: »Heroin, it’s my wife and it’s my life« (V. 32), so das den eigenen Körper wie das eigene Leben hingebende, gleichwohl denkbar lakonische Bekenntnis. Diese Nüchternheit und nachdrückliche Reuelosigkeit, mit der die gesamte Existenz der Droge überantwortet wird, findet ih- re literarische Vorprägung vor allem in William S. Burroughs 1953 veröffentlichtem, ebenso erfolgreichem wie skandalträchtigem Roman Junkie, dessen ursprünglicher Untertitel bezeichnenderweise »Confessions of an unredeemed Drug Addict« lau- tet. Unerlöst aber bleibt der Erzähler des Romans – wie dessen Ende eindrücklich nahelegt – aus der eigenen Entscheidung heraus, weiter, auf der Suche nach dem ultimativen Kick, dem »final fix« ein Leben im Zeichen der Drogen zu führen: I read about a drug called yage, used by Indians in the headwaters of the Amazon. [...] I decided to go down to Colombia and score for yage. [...] I am ready to move on south and look for the uncut kick that opens out [...] Kick is seeing things from a special angle. Kick is momentary freedom from claims of the aging, cautious, nagging, frightened flesh. Maybe I will find in yage what I was looking for in junk and weed and coke. Yage may be the final fix.25 Ebenso wichtig wie die Entscheidung zur Droge erscheinen im Song aber auch jene Erfahrungen, die durch das Heroin ermöglicht werden. Scheint es sich zu-

25 Burroughs, William S.: Junky [1953]. London 2002, S. 152. »Make them vomit« 193 nächst um eine Art religiös konnotierter Selbstübersteigerung zu handeln, wenn der Sprecher sich als Ziel setzt, »to try fort he the kingdom if I can« (V. 2) und seinen Zuhörern versichert »[a]nd I feel just like Jesus’ son« (V. 7), so mündet diese Übersteigerung schließlich in einen allumfassenden, erhebenden Zustand von Betäubung, von Bewusst- und Sorglosigkeit. »Thank you God that I’m not aware/ Thank you God that I just don’t care« (V. 45 f.), so wird dieser Zustand besungen, der, wie dem Hörer bereits einige Verse früher beschieden wird, besser sei als der Tod: »And then I’m better off than dead« (V. 35). Die Verbindung von Rausch und quasi-religiöser Elevation, wie sie in Heroin ironisch-blasphemisch durch die lakonische Rede von »Jesus’ son« in die Pop-Grammatik eingeschrieben wird, ist freilich ein kulturgeschichtlich ehrwürdiger, bis zu den Dionysien und Bacchanalien der Antike zurückreichender Topos, der dann im 19. Jahrhundert durch die Schriften eines Thomas De Quincey – The Confessions of an English Opium Eater (1821) – oder eines Baudelaire literarisch neu befeuert wird. In Baudelaires 1860 erschie- nener, eigentlich drogenkritisch intendierter Schrift, Die künstlichen Paradiese. Die Dichtung vom Haschisch, heißt es etwa über die Wirkungen der Droge auf ihren Konsumenten: Eine Stimme wird in ihm laut (ach! es ist seine eigene!) und sagt zu ihm: »Du hast nun das Recht, dich als allen Menschen überlegen zu betrachten. Keiner weiß und könnte all das verstehen, was du denkst und empfindest. [...] Du bist ein König, den die Vorübergehenden verkennen und der in der Einsamkeit seiner Überzeugungen lebt [...]« Niemand wird sich darüber wundern, daß aus dem Hirn des Träumers ein erhabener Schlußgedanke entspringt: »Ich bin zum Gott geworden!« Daß ein wilder, glühender Schrei mit solcher Gewalt, socher Macht aus seiner Brust dringt, daß er, wenn Wille und die Gläubigkeit eines trunkenen Mannes wirksam wären, die auf den Himmelswegen verstreut wandelnden Engel umwerfen würde: »Ich bin ein Gott!«26 Diese Flamme der selbsterkorenen chosen few wird – diesmal ins Positive gewen- det – von den beat poets der 1950er und -60er Jahre wieder aufgenommen. Auch in Allen Ginsbergs 1959 publiziertem Langgedicht »Howl« wird die Verbindung von Drogenkonsum und transzendenter Erwähltheit gleich am Beginn beschworen, wenn die »best minds of my generation [...] dragging themselves through the negro streets at dawn looking for/an angry fix« zugleich als »angelheaded hipsters« angerufen werden, »burning for the ancient heavenly connection/to the starry dynamo in the machinery of night«.27

26 Baudelaire, Charles: Die künstlichen Paradiese. Die Dichtung vom Haschisch. Zürich 1988, S. 70 f. und 74 f. 27 Ginsberg, Allen: Howl and Other Poems. San Francisco 1959, S. 9. Bezeichnenderweise ist Lou Reeds Sicht auf den Drogenhandel in ethnisch geprägten Stadtvierteln weitaus weniger romantisch als dieje- nige Ginsbergs. Auf dem gleichen Album, das Heroin enthält, wirft der Song I’m Waiting for the Man einen ungeschönteren Blick auf die Realität jener ethnischen Konflikte in den USA, die freilich auch beim Drogenverkehr nicht zur Ruhe kommen: »Hey, white boy«, so wird der auf seinen Dealer wartende, offen- sichtlich weiße Sprecher angerempelt, »what you doin‘uptown?/Hey, white boy, you chasin’our women around?«. 194 G. Kaiser

Literarisch vorgeprägt ist ebenfalls die umfassende Bewusst- und Sorglosigkeit, jene Befreiung von den Zwängen des Wachbewusstseins, die der Sprecher in Heroin feiert, kurzum: jene Freiheit von sich selbst und dem ganzen Rest (»Where a man can[] be free/[...]/of himself and those around«, V. 26 und V. 28), die einer heilsamen Lähmung gleichkommt. Den Zustand einer solchen, nahezu vollständigen Paralyse schildert etwa Burroughs in der Einführung zu seinem 1959 erschienenen Roman Naked Lunch: I lived in one room in the Native Quarter of Tangier. I had not taken a bath in a year nor changed my clothes or removed them except to stick a needle every hour in the fibrous grey wooden flesh of terminal addiction. [...] I could look at the end of my shoe for eight hours. [...] If a friend came to visit – and they rarely did since who or what was left to visit – I sat there not caring that he had entered my field of vision [...] and not caring when he walked out of it. If he had died on the spot I would have sat there looking at my shoe waiting to go through his pockets. Wouldn’t you?28 Vor allem die literarischen Referenzen zu den drogenaffinen beat poets überra- schen kaum, da auch Lou Reed selbst sie in Interviews immer wieder und gerne betont hat.29 Kaum gebührende Berücksichtigung indes hat in der Interpretationsge- schichte des Songs bisher der dritte Abschnitt gefunden, in dem sich das sprechende Ich zeitlich wie räumlich weit entfernt von den Übeln der großen Stadt in einem großen Schiff auf dunklen Meeren imaginiert: I wish that I was born a thousand years ago I wish that I‘d sailed the darkened seas On a great big clipper ship Going from this land here tot hat/Put on a sailor’s suit and cap Away from the big city (V. 20–25) Es ist bezeichnenderweise der einzige Abschnitt, in dem vom Heroin überhaupt nicht die Rede ist. Zudem lässt der rousseauistische Wunsch, der großen Stadt den Rücken zu kehren, gerade bei einem Autor wie Reed, der sich in einem Song selbst als »New York City Man« bezeichnet und gleich ein ganzes Album nach der Stadt benannt hat, aufhorchen.30 Reeds Liebe zu New York ist ebenso notorisch wie vielbesungen und über jeden Verdacht eines pastoralen Hippietums ist der Sänger erhaben.31 Was also hat es mit diesem befremdlich anmutenden Einschub auf sich?

28 Burroughs, William: Naked Lunch. New York 1959, S. IX. 29 Siehe etwa Wall (wie Anm. 20), S. 60. 30 Der Song NYC Man befindet sich auf dem 1996 erschienen Album Set The Twilight Reeling, das Kon- zeptalbum New York veröffentlichte Reed 1989. 31 So findet sich etwa auf dem vierten, 1970 veröffentlichten Velvet Underground-Album, Loaded,der urbanophile Bekenntnissong Train‘round the bend, in dem das Sprecher-Ich – völlig zeituntypisch – nach einem gescheiterten Versuch eines hippiesken Bauern- und Landlebens sehnsüchtig auf den Zug wartet, der ihn wieder zurück in die Stadt bringen wird: »Train round the bend/Taking me away from my coun- try/I’m sick of the trees take me to the city/Train coming round the bend/Oh, train coming round the bend« (The Velvet Underground: Train round the bend. Auf: The Velvet Underground: Loaded. Atlantic Records K40113). »Make them vomit« 195

Zunächst haben natürlich auch die Verbindung von Rausch und Meerfahrt sowie die Urbanophobie ihre literarischen Vorgänger. Schon in Arthur Rimbauds berühm- tem Langgedicht »Bateau ivre«, »Das trunkene Schiff«, lässt sich die befreiende Schifffahrt auch lesen als Metapher für die Stadien eines mit wechselnden Substan- zen berauschten und sich von allen Zwängen befreienden Bewusstseins: »[H]inunter gings die Flüsse, wohin, das stand mir frei«, so heißt es bei Rimbaud in der dritten Strophe und erst auf den Wogen des Absinths erwächst dem sprechenden Ich die rechte poetische Freiheit zu: Des Meers Gedicht! Jetzt konnt ich mich frei darin ergehen, Grünhimmel trank ich, Sterne, taucht ein in milchigen Strahl und konnt die Wasserleichen zur Tief gehen sehen: ein Treibgut, das versonnen und selig war und fahl.32 Stadtüberdrüssigkeit und -flucht wiederum ist von Rousseau über Goethe und die Romantiker bis zu den amerikanischen Transzendentalisten und Allen Ginsberg ein fester Topos im Repertoire intellektueller Kulturkritik. Das zweite Kapitel etwa von Ginsbergs »Howl« besteht aus einer einzigen Klage gegen den »Moloch«, die »sphinx of cement and aluminium«, die »bashed open their skulls and ate up their brains and imagination«.33 Jedoch, das stadtflüchtige, sprechende Ich in Heroin will eben nicht nur einfach hinaus auf die Meere, sondern es imaginiert sich auf diesen Fahrten im schmucken Matrosenhabit, wodurch schließlich noch eine weitere, kul- turgeschichtlich bedeutsame Traditionslinie aufgerufen wird: die des schönen Matro- sen als ikonischer Chiffre eines homosexuellen Begehrens. Literaturgeschichtliche Verkörperungen dieses Typus finden sich etwa in der erst 1924 aus dem Nachlass publizierten Erzählung Billy Budd von Herman Melville, in den Matrosengestalten bei Hans Henny Jahn und im 1947 geschriebenen Skandalroman Querelle von Jean Genet. Die populärkulturellen Wiedergänger dieses Typus – man denke etwa an die Matrosenkollektion eines Jean Paul Gaultier oder an einen Song wie In the na- vy von den Village People – gehören mittlerweile zum festen kulturgeschichtlichen Repertoire einer homosexuellen Ikonografie. »Im Matrosen«, so resümiert Wolfgang Popp seine Analysen von Männlichkeits- bildern, »verdichtet sich eine literarische Chiffre der homosexuellen Phantasie, in der wesentliche Momente des homosexuellen Begehrens zusammentreffen: körper- liche Männerschönheit, Virilität, erotische Ausstrahlung, maskuline Kameraderie, die reine Männergesellschaft auf dem Schiff, [...] die Frauen ausschließt, [...] der gemeinschaftliche Kampf gegen die Elemente von Meer und Wind auf der lebenser- haltenden Insel des Schiffes«.34 In diesem frühen Song Reeds wird diese mögliche Lesart freilich – gleichsam als Ausdruck adoleszenter Desorientiertheit – nur ange- deutet. In späteren Liedern – wie etwa Sister Ray, in dem ein sailor, »who’s big

32 Rimbaud, Arthur: Das trunkene Schiff. Le Bateau ivre. Übertragen von Paul Celan. Frankfurt a.M. 2008, S. 9. 33 Ginsberg (wie Anm. 27), S. 17. 34 Popp, Wolfgang: Männerliebe. Homosexualität und Literatur. Stuttgart 1992, S. 100. 196 G. Kaiser anddressedinpinkandleather«35 auftaucht, oder auf dem Album Transformer – werden solche und andere sexuelle Grenzüberschreitungen weitaus offensiver und eindeutiger zum Thema.36 In Heroin indes wird der Hörer mit einem Sprecher-Ich konfrontiert, das sich der eigentlichen Bedeutung seines Wunsches möglicherweise noch nicht recht be- wusst ist. »I don’t know just where I’m going« heißt es ja gleich im ersten Vers und das Verlangen, »[to] put a spike into my vein« (V. 4) »‘cause it makes me feel like I’m a man« (V. 3) würde auch als Substitut für ein ganz anders gelagertes Be- gehren lesbar. Diese Lesart soll hier nicht überreizt werden und Rückschlüsse von literarischen Texten auf das Leben ihrer Autoren sind freilich immer problematisch. Allerdings drängt sich ein solcher Bezug im vorliegenden Fall dergestalt auf, dass er wenigstens kurz angedeutet werden soll. Es ist bekannt und in sämtlichen Biografien nachzulesen, dass Lou Reeds Eltern ihn 1959 als Siebzehnjährigen ins Creedmore State Psychiatric Hospital einwiesen. Dort sollte er sich einer zweimonatigen Elek- troschocktherapie unterziehen, um dadurch von seinen seltsamen, im Verdacht der Homosexualität stehenden Verhaltensweisen kuriert zu werden.37 Berücksichtigt man dies, so erhält die in den Versen 33 bis 38 beschriebene Funktionsweise des Heroins einen weiteren, biografisch aufgeladenen Nebensinn: Because a mainer to my vein Leads to a center in my head And then I’m better off than dead ‘Cause when the smack begins to flow I really don’t care anymore About all you Jim-Jims in this town. Das Heroin funktioniert sozusagen wie eine Elektroschocktherapie: Ein Schalter (»mainer«) wird – eben wie bei der Schocktherapie – umgelegt, das Heroin fließt wie der Strom und bedient im Kopf einen Nervenknoten, wodurch ein Vergessen und eine Gleichgültigkeit einsetzen, die zu allererst alle Jim-Jims der Stadt betreffen, sodann aber auch das eigene Selbst, von dem es sich zu befreien gilt. Ein Vergessen, das mithin auch jenes für das eigene Selbst konstitutive Verlangen mitumfasst, für das das Heroin als Ersatz fungiert.

35 The Velvet Underground: Sister Ray.Auf:The Velvet Underground: White Light/White Heat.Verve 1968. V6-5046. 36 Zu einiger Berühmtheit brachte es etwa Reeds lakonisch erzählte Geschichte eines Transvestiten auf Walk on the wild side. Dort heißt es: »She shaved her legs and then he was a she.« (Lou Reed: Walk on the wild side. Auf: Lou Reed: Transformer. RCA 1972. LSP-4807. 37 Zu dieser in den USA der 1950er Jahre nicht unüblichen Praxis siehe etwa Wall (wie Anm. 20), S. 1: »For the next eight weeks, young Lewis underwent hour-long bouts of ECT, three times a week, ostensibly to cure him of his burgeoning homosexuality and, more generally, to purge him of all his other wicked ways.«. »Make them vomit« 197

4Violance – Verkunstung III: Die Musik

»I don’t make records for fucking flower children«38, betont Lou Reed 1976 in ei- nem Interview. Und in der Tat: Obwohl Heroin vom Konsum harter Drogen handelt, als Begleit- oder Beförderungssound eines Drogenrausches will und kann man es sich nicht vorstellen. Der Song ist – in diesem Sinne und im Vergleich etwa mit Stücken wie Dark Star von den Grateful Dead oder Interstellar Overdrive von den frühen Pink Floyd – keine psychedelische Musik. Lou Reed selbst und die gesamte Band haben diesen anti-psychedelischen, anti-hippiehaften Distinktionsgestus kon- stant gepflegt. Dieser Impetus wie auch der konsequente Verzicht auf instrumentales Virtuosentum erklärt übrigens die spätere Anschlussfähigkeit der Band innerhalb des Punk. Noch 2003 betont Reed in einem Interview: »Well, we [VU] were also really, really smart and the [West Coast hippy] stuff was really, really stupid. It was purely a matter of brains.«39 Aber die Musik auf Heroin ist nicht nur nicht psychedelisch, sondern sie bricht auch in anderer Hinsicht bewusst mit einigen Konventionen des damaligen Pop. Dass dies durchaus nicht von Beginn an so war, wird deutlich, wenn man sich durch die nunmehr auf der 2012 veröffentlichten Jubiläumsausgabe des Albums (anlässlich seines Erscheinens vor fünfundvierzig Jahren) vorliegenden, früheren Versionen des Songs hört, d.h. wenn man jene Varianten berücksichtigt, die es dann nicht auf das erste, reguläre Album der Band geschafft haben. Die nunmehr mög- liche, historisch-genetische Rekonstruktion der Song-Geschichte erfreut das Philo- logenherz zwar gewiss mehr als das Ohr des Musikliebhabers, gleichwohl ist der durch sie mögliche Befund von popgeschichtlicher Bedeutung: Überrascht doch vor allem die in Warhols Factory entstandene Probeaufnahme des Songs vom 3. Januar 1966 durch einen noch deutlichen Folk-Charakter, der sich sowohl in John Cales volkstanzartiger Melodieführung an der Bratsche als auch in Reeds dylanisierender Phrasierung niederschlägt.40 Man kann das musikalische Programm der Band bis zum schließlichen Erscheinen des ersten Albums als das einer konsequenten Ent- Standardisierung, Ent-Dylanisierung und Ent-Folklorisierung des eigenen Sounds bezeichnen. Jedoch nicht nur der Folk, sondern auch standardisierte Bluesriffs wer- den auf Heroin bewusst vermieden. Dass der Song dann in der Tat wie kaum etwas Anderes aus dieser Zeit klingt, liegt indes kaum an Lou Reeds oder Morrisons auf diesem Stück durchaus konven- tionellem Gitarrenspiel. Das Akkordgerüst, das den Song trägt, ist denkbar einfach,

38 Hier zitiert nach Johnstone, Nick: LouReed.InHisOwnWords.London 2005, S. 66. Im gleichen Inter- view wird, wenn Reed über sein äußerst umstrittenes, zur Gänze aus Feedbacks und Geräuschen collagier- tes Doppelalbum spricht, transparent, dass und wie auch die Wahl der ›richtigen‹ Drogen zum Repertoire von Reeds anti-hippieskem, proto-punkigem Distinktionsgestus gehört: »I only take methedrine which most people don’t realize is a vitamin, Vitamin M. If people don’t realize how much fun it is listening to Metal Machine Music, let ‘em go smoke their fucking marijuana which is just bad acid anyway. And we’ve already been through that and forgotten it. I don’t make records for fucking flower children.« (ebd.). 39 Wall (wie Anm. 20), S. 45. 40 Nachzuhören auf The Velvet Underground: Heroin (The Factory Rehearsals, previously unreleased). Auf: The Velvet Underground (wie Anm. 10), CD 2, Track 13. 198 G. Kaiser besteht es doch lediglich aus den beiden Akkorden D und G41, zwischen denen gewechselt wird. »Ein Akkord«, so Lou Reeds immer wieder zitierter Ausspruch, »reicht völlig, zwei sind Angeberei, mit dreien ist man schon beim Jazz«.42 Der je- weils nach zwei Versen vor allem durch Morrisons Rhythmusgitarre eingeleitete und von ihr getragene Tempowechsel, an dessen Ende die Band wieder in den Ausgangs- rhythmus zurückkehrt, untermalt die auch im Text zu beobachtende beschleunigte Gedankenreihung. Das eigentliche Distinktionspotenzial liegt freilich im Bratschen- spiel John Cales, das für den entscheidenden Verfremdungs- und Verkunstungseffekt sorgt. Cale, ein klassisch ausgebildeter Pianist und Organist aus Wales, tourt bereits im Alter von dreizehn Jahren mit dem Welsh Youth Orchestra durch Europa. Während seiner Ausbildung zum Musiklehrer am Goldsmith College in London (die er dann abbricht) entdeckt er mit der Musik von John Cage und Karlheinz Stockhausen die experimentelle Avantgarde für sich. 1963 gewinnt er ein achtwöchiges Leonard Bernstein-Stipendium unter der Leitung von Iannis Xenakis, das ihn ans Berkshire Music Center in Massachusetts führt. Von dort zieht es ihn nach New York, wo er Mitglied des Theater of Eternal Music des Avantgarde-Komponisten LaMonte Young wird. Markenzeichen des Young’schen Ensembles aus Saxofon, Stimme, gestrichener Gitarre und Bratsche waren zum Teil auf mehrere Stunden ausgedehnte Improvisa- tionen über bordunartige, oftmals elektronisch erzeugte Brummgeräusche, den soge- nannten drones. Youngs Musikkonzept, in dem östliche und westliche Musikkulturen mit religiösen Transzendenzansprüchen amalgamieren, zielt auf die Aufhebung der musikalischen Zeit, um in einer potenziell unendlichen Klangentfaltung der »eternal music« den Aufschein einer als ewig und wahr vorgestellten universellen Struktur herbeizuführen. Kurzum: Als Cale durch einen Zufall mit Lou Reed zusammentrifft und jene Band gründet, die Velvet Underground werden sollte, ist er von Rock und Pop noch nahezu unberührt. Sterling Morrison beschreibt die frühen Proben der Band denn auch folgendermaßen: Lou would walk in with some sort of scratchy verse and we would develop the music. [...] John was trying to be a serious young composer, he had no background in , which was terrific – he knew no clichés. You listen to his bass lines, he didn’t know any of the casual riffs, it was totally eccentric.43 Cale bespannt seine Bratsche mit den Stahlseiten einer E-Gitarre, verstärkt sie elektrisch und importiert in die Musik seiner neuen Band jene nun ihrem spiritu- ellen Überbau und ihrem rein avantgardistischen Umfeld enthobenen, klangmächti- gen drones, mit denen er zuvor im Ensemble LaMonte Youngs experimentiert hatte.

41 Dass diese Akkordfolge durchaus auch mit bluesverwandten Songs kompatibel ist, demonstrieren ein Jahr später dann die Rolling Stones mit ihrem Stray Cat Blues (auf: The Rolling Stones: Beggars Ban- quet. Decc 1968. LC 0171), dessen Grundriff – eingestandenermaßen – von Velvet Undergrounds Heroin inspiriert wurde (siehe Appleford, Steve: The Rolling Stones. Rip This Joint. Die Story zu jedem Song. Schlüchtern 2002, S. 80). 42 Siehe etwa den Nachruf des Rolling Stone zum Tod von Lou Reed. In: http://www.rollingstone.de/lou- reed-saenger-von-the-velvet-underground-und-rock-pionier-ist-tot-361225/ (06.02.2016). 43 Hogan (wie Anm. 4), S. 17. »Make them vomit« 199

Einen solchen drone setzt Cale auch auf jener Version von Heroin ein, die dann schließlich auf das Album gelangt. Er beginnt nach fünfunddreißig Sekunden und Cale hält ihn ca. fünf Minuten, wodurch eine schwebende, unheilschwangere und bedrohliche Atmosphäre erzeugt wird, bis er – bezeichnenderweise nach dem Wort »dead« in Vers 35 – in eine kontrollierte Kakophonie ausbricht. Es ist jedoch nicht nur dieser durch Cales Bratschenspiel erzeugte Verkunstungseffekt, der den beson- deren Sound der Band ausmacht. Ein weiteres – zumindest für übliche Popstandards – verfremdendes Element zielt in eine auf den ersten Blick genau entgegengesetzte Richtung. Gemeint ist hier das Schlagzeugspiel Maureen Tuckers. Allein der Um- stand, dass überhaupt eine Frau am Schlagzeug sitzt, ist Mitte der 1960er Jahre sicherlich noch ungewöhnlicher, als es heute vielleicht immer noch ist. Damit aber nicht genug: Wenn Cale der Band sozusagen einen Schuss high-brow-Exzentrik ver- leiht, dann bringt Maureen Tucker jenes Maß an Dilettantismus ins Spiel, den später vor allem die Punkaffinen unter den Velvet Underground-Nachfolgebands und Fans goutieren sollten. Denn Maureen Tucker besitzt zwar ein Schlagzeug (deshalb, weil sie zudem ein Auto ihr eigen nennt und die Gruppe zu Auftritten fahren kann, wird sie überhaupt als Ersatz für ihren Vorgänger in die Männergruppe aufgenommen), aber sie hat vor ihrem Engagement bei den Velvet Underground noch nie in einer Rockband gespielt und ist eine völlig unausgebildete Schlagzeugerin. Ihr Set besteht in der Regel nur aus den beiden Standtoms, die sie im Stehen spielt. Dies führt dazu, dass auch sie – wenn auch aus anderen Gründen als Cale – gängige Rockclichés gar nicht erst ins Spiel bringt. Eben dies wird auf Heroin besonders deutlich, wenn Tucker nicht den für Rocksongs üblichen backbeat spielt (mit der Betonung auf der »zwei« und der »vier«), sondern einen durchgängigen, pulsierenden, tribalartigen Achtelrhythmus, der dem Stück einen beschwörenden, gleichsam schamanischen Charakter verleiht. Vor allem durch das Zusammenspiel der beiden Cliché-Vermeidungsartisten Cale und Tucker entsteht nun gegen Ende der Aufnahme einer jener raren Momente in der Popmusik, die Diedrich Diederichsen in Anlehnung an Roland Barthes als »punctum« bezeichnet. Das »punctum« ist nach Diederichsen ein Detail, das die Kontingenz und Unwiederbringlichkeit des phonografisch aufgezeichneten Moments freilegt. »Seine Voraussetzung ist, dass für den Betrachter gerade da, wo die Spur des Moments eingefroren erscheint, etwas Rührendes, Vergängliches, Lebendiges aufblitzt.« In diesem Zusammenhang komme der Phonografie die Rolle zu, »die Seele, das Kontingente, das Heilige im kulturindustriellen Produkt zu bezeugen: die Zufälligkeiten, die Kiekser, das Korn der Stimme, die Körperlichkeit und die Spur der Produktion auch in den Unfällen und Unschärfen im Umgang mit den (elektrischen) Geräten und Maschinen«.44 Einen solchen Moment kann man auf Heroin erkennen. Unmittelbar nachdem Cales kalkulierter Violaausbruch seinen kakophonisch-dissonanten Höhepunkt er- reicht (bei Minute 6:20), geschieht zweierlei: Tuckers Schlagzeugspiel setzt unver- mittelt aus und verleiht gerade dadurch, dass es ausfällt, dem Crescendo Cales eine besondere Prägnanz und Eindrücklichkeit. Dies geschieht aber, wie ein Vergleich mit den früheren Versionen des Stückes zeigt, keineswegs absichtlich, sondern weil die

44 Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014, S. XX f. 200 G. Kaiser

Schlagzeugerin ihre Mitmusiker aufgrund des Lärms im Studio (das Stück wurde – anders als heute in der Regel üblich – in einem Take und ohne Overdubs eingespielt) nicht mehr hören kann: »It just became this mountain of drum noise in front of me«, so erinnert sich Tucker an die Aufnahme, »I couldn’t hear shit. So I stopped, and being a little whacky, they just kept going, and that’s the one we took.«45 Fast gleichzeitig aber, zwei Sekunden nachdem Tucker aussetzt (Minute 6:22), hört man ein kurzes Lachen Lou Reeds bei dem Wort »heroin«, das sich offen- sichtlich nicht auf den Text, den er gerade singt, bezieht. Es klingt vielmehr wie das Lachen desjenigen, der fast ungläubig und freudig erstaunt über die schiere Klanggewalt, die brutale Energie und den wall of sound, den gerade in diesem Au- genblick seine Bandkollegen, allen voran John Cale, entfalten. Dies aber ist zugleich der kurze Moment, in dem der gesamte Verkunstungsaufwand, der rund um und mit Heroin betrieben wird, umschlägt in eine unmittelbarere Weise des Ausdrucks, eines Ausdrucks, der dann doch wieder fast etwas Naives, zumindest aber etwas Anrüh- rendes hat. Es sind solche kurzen Momente des Unverstellten, die der Punk dann zehn Jahre später, freilich erfolglos, wieder auf Dauer zu stellen bemüht ist. Nach diesem Fehlmoment, der zugleich ein Höhepunkt des Songs ist, nimmt Tucker ihr Spiel wieder auf und die Band mündet für die letzte halbe Minute in das outro des Songs ein, der endet, wie er begann. Der Rest ist schnell erzählt: Kurz nach dem Erscheinen des Albums wird es aufgrund von Rechtsstreitigkeiten wegen eines Fotos auf der Cover-Rückseite vom Markt genommen und erscheint erst ein halbes Jahr später in geänderter Verpackung. Es steht für kurze Zeit auf Platz 171 der amerikanischen Billboard-Charts, verkauft in den ersten fünf Jahren lediglich knapp dreitausend Kopien und verschwindet dann aus dem Fokus der Popgeschichte; bis es ab Mitte der 1970er Jahre wieder auftaucht, um seitdem nicht mehr zu verschwinden. Velvet Underground veröffentlichen ein zweites Album, das noch extremer und geräuschintensiver und noch erfolgloser ist. Danach feuert Lou Reed John Cale aus der Band. Gemäß der Devise des Künstlers Martin Kippenberger – »Ich kann mir nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden« – nimmt die Band nun noch zwei weitere Alben mit wunderschönen, meist sehr eingängigen Popsongs auf, die aber ebenfalls erfolglos bleiben. Am 28. August 1970 spielt Lou Reed ein letztes Konzert mit Velvet Underground und verlässt dann die Band, um wieder zurück zu seinen Eltern zu ziehen. Noch unwahrscheinlicher also als der Anfang der Band – ein bezahlter Fließbandsongschreiber aus New York, ein walisischer Avantgardemusiker, eine Schlagzeugerin, die noch nie in einer Rockband gespielt hat, gründen unter erzwungener Hinzunahme eines deutschen Models eine Band unter der Protektion einer der erfolgreichsten Gegenwartskünstler der Zeit – erscheint ihr Ende.

45 Hogan (wie Anm. 4), S. 245.