3. Deutsch-Österreichisch- Ungarisch-Serbisch
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3. DEUTSCH-ÖSTERREICHISCH- UNGARISCH-SERBISCH-KROATISCH- SLOWENISCHE KONFLIKTGEMEIN- SCHAFT 1848-1918 Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Borysŀaw, die Pferdehändler aus der Bácska, die Mos- lems aus Sarajevo, die Maronibrater aus Mostar, die ‚Gott erhalte‘ (die Kai- serhymne) singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alpentälern, sie alle singen die ‚Wacht am Rhein‘. Joseph Roth, Radetzkymarsch (1932) Südslawen und Deutsche in der Habsburgermonarchie 219 Südslawen und Deutsche in der Habsburgermonarchie Zwischen 1840 und 1914, zwischen den ersten politischen Kämpfen der „Illy- rier“ und der „Magyaronen“ in Kroatien-Slawonien und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, durchmaßen die Kroaten, Serben und Slowenen der Habsburgermo- narchie einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess, der einerseits von der Politik der österreichischen und ungarischen Regierung, andererseits wesentlich von einem zum Teil beträchtlichen sozialökonomischen Wandel und den Integrationskräften des modernen Nationalismus geprägt war. Das zeigte sich sowohl im deutlichen Bevölke- rungsanstieg, im nahezu revolutionären landwirtschaftlichen Modernisierungsprozess, in der langsam beginnenden Industrialisierung, in der allmählichen Urbanisierung und in der stark von außen beeinflussten Kapitalisierung als auch im gesellschaftli- chen Wandel mit dem Aufbau des Rechtsstaates, der sprunghaften Ausweitung des Bildungsprozesses, der Entwicklung eines selbständigen Bauernstandes, der Ausweitung und Differenzierung des Bürgertums und der Entstehung der Industriearbeiterschaft. Freilich bestanden für die Ausbildung moderner Nationalgesellschaften eine Reihe von Imponderabilien, die einerseits eine Konzentration der Nationalbewegung — wie etwa bei den Tschechen — erschwerten, andererseits aber die Prägung multieth- nischer und multikultureller Gemeinsamkeiten förderten – vor allem in Südungarn und Ostslawonien sowie in den größeren Städten zwischen Temeschwar (Temesvár, Timişoara) und Triest (Trieste, Trst).398 Sowohl die serbische als auch die kroatische und die slowenische Nation, wie sie sich in Intellektuellengruppen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Konturen abzuzeichnen begannen, waren „ein Amalgam von Altem und Neuem, von Sta- tik und Prozess, Tradition und Wandel“. Sie wurden nicht einfach „erfunden“, weil alle ihre Bestandteile – wie Sprache, ethnische Verwandtschaft, Konfession, Mythen oder die Erinnerung an ein „goldenes Zeitalter“ – bereits vorhanden ge- wesen waren. Das wichtigste Bindemittel der entstehenden Nation – das National- bewusstsein – war das Ergebnis eines Prozesses, der gerade eingesetzt hatte und sich noch einige Jahrzehnte, letztlich bis zur Jahrhundertwende, hinziehen sollte. „Neu war die stromlinienförmige Zusammenführung der traditionellen Elemen- 398 A. J. P. TAYLOR, The Habsburg Monarchy 1809-1918 (London ³1948); Fran ZWITTER – Jaroslav ŠIDAK – Vaso BOGDANOV, Les problèmes nationaux dans la Monarchie des Habsbourg (Beograd 1960); Jaroslav ŠIDAK – Mirjana Gross – Igor KARAMAN – Dragovan ŠEPIĆ, Povijest hrvatskog naroda g. 1860-1914 (Zagreb 1968); Mirjana GROSS, Die Anfänge des modernen Kroatien. Ge- sellschaft, Politik und Kultur in Zivil-Kroatien und -Slawonien in den ersten dreißig Jahren nach 1848 (Wien – Köln – Weimar 1993); Arnold SUPPAN, Die Kroaten, in: Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. III: Die Völker des Reiches, 1. Teilband (Wien 1980) 626-733; Dimitrije DJORDJEVIĆ, Die Serben, in: Ebenda, 1. Teilbd., 734-774; Janko PLETERSKI, Die Slowenen, in: Ebenda, 2. Teilbd., 801-838; Helmut RUMPLER und Martin SEGER, Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. IX/2: Soziale Strukturen. Die Ge- sellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen. Nach dem Zensus von 1910 (Wien 2010). 220 Deutsch-Ungarisch-Südslawische Konfliktgemeinschaft 1848-1914 te, ihre nationale Aufladung, wechselseitige Verknüpfung und Neukomposition sowie die Ausklammerung dessen, was in diese Komposition nicht hineinpasste. Erfunden wurde nicht die Tradition, sondern erfunden wurde die ethnische […] Exklusion.“399 Da die rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und zivilisatorischen Bedingungen in den einzelnen von Kroaten, Serben und Slowenen bewohnten Kronländern zum Teil sehr unterschiedlich waren, beeinflussten diese verschie- denen Entwicklungsstände und historisch geprägten Mentalitäten die Entstehung einer modernen kroatischen, serbischen und slowenischen Nationalgesellschaft nachhaltig, wirkten die gesamte Zwischenkriegszeit nach und überdauerten teil- weise sogar die Tito-Ära. Auch das Nebeneinander- und Zusammenleben mit den Deutschen gestaltete sich unterschiedlich und hing wesentlich von der jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Position der Deutschen als Großgrund- besitzer, Industrielle, Kaufleute, Bildungsbürger, Handwerker, Bauern, Industrie- oder Landarbeiter ab. So zeitigten etwa die Geschäftsbeziehungen der Industriel- len, Kaufleute und Handwerker in den kroatisch-slawonischen Städten nach Krain, in die Steiermark und nach Südungarn nachhaltige zivilisatorische Wirkungen – bis hin zur Übernahme vieler deutscher und ungarischer Wörter in die kroatisch- serbische Geschäftssprache.400 Als der erste Direktor der seit 1840 selbständigen „Direktion für die adminis- trative Statistik“, Karl von Czoernig, 1846 erstmals eine Umfrage nach der gespro- chenen Sprache durchführte, um nach der Sprache der Ortsmehrheit eine „Eth- nographie der österreichischen Monarchie“ zu erstellen, war unbeabsichtigt ein Nukleus für alle späteren – von Juristen meist noch verschärften – Auseinander- setzungen um den „nationalen Besitzstand“ geschaffen worden, der die Habsbur- germonarchie bis 1918 – aber auch Jugoslawien von 1918 bis 1991 – beherrschen sollte. Denn sobald sich eine ethnische Gruppe als Voraussetzung für die Teilhabe am öffentlichen Leben einer zahlenmäßigen Überprüfung aussetzen musste, wur- den sowohl die kollektive Nationalitätenstatistik als auch das individuelle natio- nale Bekenntnis in der Schule, vor der Behörde, vor Gericht oder im nationalen Kataster ein Politikum. Die oktroyierte Verfassung für das Kaisertum Österreich vom 4. März 1849 hatte zwar den sich ankündigenden nationalen Kampf der „gleichberechtigten Volksstämme“ noch vertagen können, mit dem Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger in Cisleithanien von 1867 und dem ungarischen Gesetzesartikel XLIV aus dem Jahre 1868 waren aber die Auseinandersetzungen um das Nationalitätenrecht und die Nationalitä- tenpolitik in Österreich-Ungarn für die nächsten Jahrzehnte eröffnet. Obwohl die modernen Nationalitätenzählungen ab 1880 in Cisleithanien „nur“ nach „der im 399 SUNDHAUSSEN, Geschichte Serbiens, 120; vgl. Ivo GOLDSTEIN, Croatia. A History (London 1999); Peter ŠTIH – Vasko SIMONITI – Peter VODOPIVEC, Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur (Graz 2008). 400 Vgl. SCHÖDL, Donau (²2002); SUPPAN, Adria (²2002). Südslawen und Deutsche in der Habsburgermonarchie 221 gewöhnlichen Umgang verwendeten Sprache“ bzw. in Transleithanien nach der „Muttersprache“ fragten, entstand ein zunehmender politischer Druck der jewei- ligen Majorität und der „majorisierenden Wirkung der Umgangssprache […] in Richtung eines national homogenen Territoriums“.401 Nach dem Ausgleich von 1867 und der Schaffung zweier moderner Staats- wesen innerhalb der Österreichisch-Ungarischen Monarchie lebten Slowenen, Kroaten und Serben sowohl in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern als auch im Königreich Ungarn. Nach den Ergebnissen der Volkszählun- gen von 1910 lebten in Österreich-Ungarn einschließlich Bosniens und der Her- zegowina etwa 1,349.000 Slowenen, 2,911.000 Kroaten, 2,021.000 Serben und 612.000 südslawische Muslime. Alle drei südslawischen Nationalitäten waren auf mehrere habsburgische Kronländer verteilt, die südslawischen Muslime – die zwar konfessionsrechtlich nicht aber nationalitätenrechtlich anerkannt waren – lebten ausschließlich in Bosnien-Herzegowina. In der österreichischen Reichs- hälfte wurden nach der Umgangssprache 1,252.940 Slowenen gezählt, die den größten Teil der Bevölkerung Krains, die absolute Mehrheit in Görz-Gradisca, eine starke Minderheit in Triest, der Steiermark und in Kärnten sowie eine klei- nere Minderheit in Istrien stellten. Die nach der österreichischen Volkszählung unter 783.334 „Serbisch-Kroatisch“ Sprechenden zusammengefassten Kroaten und Serben sind nach Angaben zur Konfession in 678.000 Kroaten und 105.000 Serben zu differenzieren: Demnach lebten in Dalmatien etwa 508.000 Kroaten (= 80 %) und 102.000 Serben (=16 %), in Istrien etwa 167.000 Kroaten (= 43 %) und 1000 Serben, in Triest etwa 1000 Kroaten und 1500 Serben. Auch in Bosni- en-Herzegowina sind die 1,822.564 „Serbisch-Kroatisch“ Sprechenden nur nach der Konfession aufzuteilen: in 810.000 Serben (= 42,6 %), 612.000 Muslime (= 32,2 %) und 400.000 Kroaten (= 21,1 %).402 Im gesamten Königreich Ungarn (einschließlich von Kroatien-Slawonien und Fiume) lebten 1910 nach der Muttersprache 93.174 Slowenen, 1,833.162 Kroa- ten, 1,106.471 Serben sowie 88.209 Bunyevatzen (Bunjevci) und Schokatzen (Šokci). Die Kroaten wohnten vor allem in den acht Komitaten Kroatien-Slawo- niens, in der Stadt Fiume (Rijeka) sowie in einigen Komitaten des westlichen und südwestlichen Ungarns.