2. Sonderkonzert
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MARTIN GRUBINGER 2. SONDERKONZERT 17/18 Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind. PÄRT AHO SIBELIUS 2. SONDERKONZERT Arvo Pärt Cantus in Memory of Benjamin Britten 6‘ (*1935) für Streichorchester und eine Glocke Kalevi Aho Sieidi. Konzert für Schlagwerk und Orchetser 36‘ (*1949) – Pause – Jean Sibelius Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43 46‘ (1865 – 1957) 1. Allegretto 2. Tempo Andante, ma rubato 3. Vivacissimo 4. Finale. Allegro moderato Martin Grubinger Schlagzeug Boris Kehrman Moderation Osmo Vänskä Dirigent SWR Symphonieorchester 16.12.17 19.00 GROSSES HAUS Dauer ca. 2 ¼ Stunden, mit Moderation und anschließendem Künstlertreff GRENZENLOSE MUSIK Finnland: das Land der 1000 Seen, der Sau- und reichen Klang zu erreichen, teilt der nen, des Schwermuts. Nationen wecken estnische Komponist Arvo Pärt die Fraktio- Assoziationen. Mal stimmen sie, mal gehen nen auf. Zweigeteilt sind erste und zweite sie an der Realität vorbei. Künstler wie Violinen wie auch die Bratschen, Celli und Komponisten sind einfach zu neugierige Kontrabässe. Ein zehnstimmiges Streichor- Naturen, um enge Grenzen zu ertragen. chester ergibt sich – und ein so genannter Schon vor 300 Jahren standen Reisen an „Augmentationskanon“. Pärt verlängert zu- der Tagesordnung und im Dienste, Erfah- nehmend die rhythmischen Notenwerte rungsschätze zu bereichern. Jean Sibelius und vergrößert die Intervalle zwischen den sammelte viele Erfahrungen in Berlin, Wien Tönen. Der Cantus ist ein meditativ ange- und Paris. Im Grunde ist er Europäer, den- legtes Requiem. Geschrieben ist es im An- noch gilt er als der finnische Komponist denken an den 1976 gestorbenen engli- schlechthin. Sibelius und sein Landsmann, schen Komponisten Benjamin Britten. der postmoderne Polystilist Kalevi Aho, Kurz nach dessen Tod begann Pärt mit der komponieren tiefgründig, nähern sich – Komposition. wie auch der Este Arvo Pärt – einer rituel- len Musik. Aber gehen die 2. Sinfonie und „Während dieser Zeit war ich offensicht- Kalevi Ahos Schlagzeug-Konzert Siedi auf lich an einer Stelle angelangt, in der ich die in „typisch Finnischem“? Und wie steht es Größe eines solchen Verlustes erkannt mit Cantus in Memory of Benjamin Brit- habe. Unbeschreibliche Schuldgefühle, so- ten? Ist es etwa typisch estnische Musik? gar mehr als dies, kamen in mir auf. Gerade hatte ich Britten für mich entdeckt. Erst Arvo Pärt kurz vor seinem Tod fing ich an, die Rein- Wiederholungen gehören zum Ritual. heit seiner Musik schätzen zu lernen. Sie Eine regelmäßig geschlagene Glocke auf beeindruckte mich in ähnlicher Weise wie dem Ton A ist tonangebend in diesem die Balladen von Guillaume de Machaut. Cantus in Memory of Benjamin Britten. Außerdem wollte ich Britten über einen Mitsamt ihrer Obertöne bestimmt sie die langen Zeitraum hinweg auch persönlich Harmonik des gesamten Streicherappa- kennenlernen – und jetzt werde ich nie die rats. Um einen harmonisch differenzierten Möglichkeit dazu haben.“ 2 Arvo Pärt 3 Leben und Tod symbolisiert der streng rus- harmonic Orchestra und dem Gothenburg sisch-orthodox Gläubige durch Lautstärken. Symphony Orchestra. Die besondere Land- Wie aus dem Nichts beginnt die Glocke mit schaft Lapplands habe ihn zu diesem Werk leisen Schlägen im dreifachen Pianissimo. inspiriert, so Aho. Früher war der Berg, in Nach und nach setzen die Streicher ein und dessen Nähe das Festival stattfindet, eine schaffen jenes irisierend-flimmerndes Stim- Kultstätte nordfinnischer Schamanen. Da mengeflecht, das als Pärts „Tintinnabuli- lag es für Aho nahe, sich auf die Trommelri- Stil“ bekannt wurde. „Tintinnabulum“ heißt ten indigener Völker zu beziehen. Der ehe- im Lateinischen Glockenspiel. Für Pärt ist malige Musikwissenschaftler konzentriert der reduktive Aspekt besonders wichtig: sich jedoch nicht auf Finnland, sondern steuert ganz bewusst auch südliche und „Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn fernöstliche Regionen an. ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhi- „Schon in den 90er Jahren wollte ich meine gen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit musikalische, vor allem auch rhythmische einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue Sprache bereichern. Dann hörte ich die Musik aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, von anderen klassischen Musikkulturen: ara- einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klän- bische, indische, chinesische Musik. In arabi- ge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. scher Musik ist die Rhythmik sehr komplex. So habe ich es Tintinnabuli genannt.“ Das passiert meist in Form von ganz leichten Variationen rhythmischer Motive. Da habe ich Das in seiner Einfachheit doch komplexe Ge- viele Ideen bekommen, auch für Sieidi.“ schehen mündet im liegenden Streicher- klang, dann in der Stille. Ein Zirkelschluss Nach der Djembe kommen Tom-Toms wie am Ende – die Glocke verklingt. Tam-Tams, dann eine Darabuka, eine kleine Trommel mit Schnarrsaiten, diverse Holzblö- Kalevi Aho cke und ein Marimbaphon. Für den arg be- Die Extase gehört zum Ritual. Schon in den anspruchten Martin Grubinger ist Sieidi ersten Takten von Kalevi Ahos Sieidi ist zwar dankbar, aber auch eine enorme Her- klar: In diesem Schlagwerk-Konzert geht es ausforderung.Auswendig müsse man das ums Rauschhafte. Virtuos beginnt Martin fast 40-minütige Werk spielen, sagt Grubin- Grubinger das fast 40-minütige Werk mit ger. Zudem bringt die Virtuosität physische Schlägen auf einer Djembe, einer Becher- Belastung mit sich. trommel aus Westafrika. Die große Bass- trommel des europäischen Orchesters Kalevi Aho spielt als Geiger selbst in einem kommt hinzu. Mit trockenen Schlägen be- Orchester. Mit der klassischen Musiktraditi- ginnt ein Komponist, der nicht Maß halten on ist er aufs Engste vertraut, doch auch will: „Wenn man in der Musik nicht über- aus Literatur und Natur bezieht der umfas- treibt – das ist nichts“, sagt Kalevi Aho. send Gebildete seine Inspirationen. Aho ist Kalevi Aho ist Finne. 1949 in Forssa gebo- ein Kind globaler Zeiten. Zugleich blickt er ren, komponiert er gern in seinem Sommer- zurück auf die traditionelle Harmonik sowie haus in der Nähe von Turku. Sieidi entstand auf die schon im 18. und 19. Jahrhundert für das finnische Freiluftfestival Luosto- etablierte Gattung des virtuosen Instrumen- Classic in Kooperation mit dem London Phil- talkonzerts. 4 Kalevi Aho 5 Jean Sibelius gebrochener Perspektive: Hier der National- Auch das Essenzielle, das Wesentliche ge- komponist, der sich mit finnischen Mythen, hört zum Ritual. „Keine toten Noten“ forderte zum Beispiel dem Nationalepos Kalevala be- Jean Sibelius von seinen Kompositionsschü- schäftigte – dort der viel reisende Europäer, lern. Weder ein lässiges en passant noch ge- der eine zeitlang in Berlin studierte, in Wien lockerte Zügel kamen so in Frage. Sibelius wohnte oder in Frankreich wichtige Kompo- ging es um einen Beziehungszauber, um so nisten traf. Tendenziell sind die als typisch etwas wie tönende Architektur. Seine Klang- finnisch apostrophierten Einflüsse im Früh- gebäude sind nicht im traditionellen Sinne werk zu verorten, in den programmatischen gestützt durch markante Themen – meint Tondichtungen Finlandia von 1900 oder der auch der Sibelius-Biograf Volker Tarnow: Lemminkäinen-Suite von 1896. „Sibelius’ Zweite ist unverkennbar als heroi- Kurz nach 1900 erfindet sich Sibelius neu. sche Finalsinfonie im Sinne Beethovens kon- Ein unbekannter Mäzen ermöglicht ihm einen zipiert; zugleich revolutioniert sie den klassi- längeren Aufenthalt in Italien, wo die 2. Sin- schen Typus des Sonatenhauptsatzes, indem fonie entsteht. Bukolisch gelassen, in präch- sie die Arbeit mit klar umrissenen, kontradik- tigem Dur klingen die ersten Takte und legen torischen Themen durch ein sich organisch so die Vorstellung des schönen Italiens nahe. entwickelndes Motivgeflecht ersetzt.“ Doch Sibelius geht es um anderes als nur um Stimmungen. Ihm liegt das innermusikalische An Beethoven kam kein Sinfoniker vorbei, Geflecht am Herzen, damit auch jenes auto- selbst Sibelius nicht. Dass Tarnow gerade nom-absolute der Gattung Sinfonie. Aus der die 2. Sinfonie in einem Atemzug mit Beet- fallenden Dreitonkette des Beginns bezieht hoven nennt, hat Gründe. Ziellos beginnt das er sämtliche Motive und – der große Melodi- Werk mit Dreiklangsfeldern und weckt Erin- ker Sibelius! – kantablen Linien. Solch unbe- nerungen an die leeren Quinten der Neun- dingte Konzentration fördert jenes „Extati- ten. Es folgen meist skeptische, mitunter sche“ sowie „Schamanenhafte“, das ein auch tief düstere Episoden. Am Ende steht Student von Sibelius aus der 2. Sinfonie her- jedoch – wie bei Beethoven – der Sieg, der aushörte. Architektur zeichnet sich nicht nur Jubel, das bereits erwähnte Heroische. Von durch tragende Mauern aus – auch die Fas- der Verehrung des Bonner Meisters ist in sade ist wichtig. Sibelius’ Klangfarben sind den Schriften von Sibelius viel zu erfahren. aufregend. Oft verweilt er bewusst länger an Offenbar begann sie schon früh: einem Ort, um alles auszukosten, um immer wieder mit der orchestralen Farbpalette zu „In meiner Jugend studierte ich in Wien experimentieren. Weltferne Techniken im und mein Klavier wurde von einem alten Sinne eines abstrakten „Glasperlenspiels“ Mann gestimmt, der Beethovens Klavier in (Hermann Hesse) sind dies nicht unbedingt. dessen letzten Jahren zu stimmen pflegte. Wohl aber unterstreichen sie eine Tendenz Wie wundervoll war es, in diese Augen zu der 2. Sinfonie: Sie ist kein Nationalopus, sie blicken, die den Meister der Neunten