Reisen-spezial [Ressort-Übersicht]

Editorial Here comes the sun! VON KARIN CEBALLOS BETANCUR (221 Wörter) Essay Beim Sonnenbad ist man dem Ursprung so nahe wie dem Untergang VON JENS JESSEN (1681 Wörter) Göttliche Show Am Strand von Ipanema ist das Leben so hell und leicht VON VIKTORIA MORASCH (2410 Wörter) 1800 Stunden Ein Sonnenaufgang an Deutschlands sonnereichstem Ort, der Zugspitze VON CHRISTOF SIEMES (2019 Wörter) Tanger Den freien Geist findet man in der marokkanischen Hafenstadt noch immer VON CHRISTIAN SCHÜLE (3239 Wörter) Lichtblicke 16 Orte zum Warmwerden, direkt um die Ecke VON ALARD VON KITTLITZ, FELIX DACHSEL, STEFAN SCHMITT, MARTIN MACHOWECZ, IRIS MAINKA, SANDRA DANICKE, CLAAS TATJE, ANNA VON MÜNCHHAUSEN, ANNE HÄHNIG, LAURA CWIERTNIA, JOHANNES GERNERT, VALERIE SCHÖNIAN, WOLF ALEXANDER HANISCH, RUDI NOVOTNY, URS WILLMANN, ANTONIA BAUM (3243 Wörter) Kanalküste Es gibt einen Ort, an dem das ganze Jahr über die Sonne scheint. Man muss sie nur anknipsen VON KARIN CEBALLOS BETANCUR (1503 Wörter) Bondi Beach Lernt unser Autor an diesem legendären Strand in Australien endlich das Surfen? VON LEIF RANDT (2723 Wörter) Die Beatles und ich Unser Autor pilgert zum Beatles-Aschram in Indien, um Frieden mit der Band zu schließen VON BJØRN ERIK SASS (3137 Wörter) Bonustrack Here comes the sun: Wie das Frühlingsgefühl seinen eigenen Song bekam VON KARIN CEBALLOS BETANCUR (300 Wörter)

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

EDITORIAL

VON KARIN CEBALLOS BETANCUR

Vor einigen Jahren erzählte mir ein mexikanischer Freund, er habe den Beatles- Song Here Comes the Sun erst richtig verstanden, nachdem er ein halbes Jahr in England gelebt hatte. Vorher, in Mexiko, habe er immer gedacht: Here comes the sun – na und?

In Hamburg dagegen kennt man dieses Gefühl, das der Erlösung vorausgeht, nur zu gut: Monatelang hat es auf uns gehagelt, geregnet und geschneit. Das bisschen Strahlen, zu dem sich die Sonne aufraffen konnte, brachte kaum mehr als ein Teelicht. Wir finden: Es reicht.

Hauen Sie mit uns ab – an den Strand von Ipanema, wo der Sonne applaudiert wird, wenn sie im Meer versinkt; nach Tanger, dessen Licht Kiffer und Künstler seit je fasziniert; nach Sydney, wo man am Bondi Beach surfen lernen kann, aber nicht muss; nach Rishikesh, wo die Beatles vor 50 Jahren nach Erleuchtung suchten.

Und sollten Sie jetzt denken: Klar scheint am anderen Ende der Welt die Sonne! Aber ich hab gerade keine Zeit/kein Geld/keine Lust, weit weg zu fliegen. Kein Ding. Wir empfehlen 16 nahe gelegene Orte, an denen Ihnen schon im März mit ein bisschen Glück die Sonne mitten ins Gesicht scheint. Sun, sun, sun, here it comes!

Foto: William Eggleston, Untitled, 1971-1974 ©Eggleston Artistic Trust, Courtesy David Zwirner, New York/London/Hong Kong nächster Artikel: Essay Beim Sonnenbad ist man dem Ursprung so nahe wie dem Untergang

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

ESSAY Der Sonne erlegen

Aufwärmen, Bräunen, Welken: Beim Sonnenbad ist man dem Ursprung so nahe wie dem Untergang Wo die Sonne ihren Auftritt hat, deutet sich sogleich etwas von dem Übermaß an, zu dem sie in der Lage ist

VON JENS JESSEN

Dem Charme der Sonne kann sich niemand entziehen. Wenn nach einer Ewigkeit von Dunkelheit und Kälte die ersten goldenen Strahlen durchbrechen, wird selbst in der Großstadt die Versuchung übermächtig, sich für Momente an eine schmutzige Hauswand zu lehnen, die Himmelswärme zu spüren, die Augen zu schließen. Hinter den Lidern erscheint zum ersten Mal wieder das glühende Rot, das den Sommer ahnen lässt. Noch ist er fern, noch lässt die Luft frösteln, aber die dunklen Ziegel der Hauswand haben schon begonnen, die Infrarotanteile des Lichtes zu speichern und in winzigen Dosen an den Rücken abzugeben. Mit anderen Worten: Der Mensch friert plötzlich nicht mehr. Vielleicht wird ihm sogar, in diesem schmutzigen, aber sonnenbeschienenen Großstadtwinkel, ein bisschen zu heiß? Denn das ist das Hinreißende an der Sonne, dass sie überall, wo sie ihren Auftritt hat, sogleich etwas von dem Übermaß andeutet, zu dem sie in der Lage ist. In jedem ihrer Strahlen ist auch Wüste, blendet glitzernder Strand, wütet die Hitze eines fernen Ferientages.

Und erst recht in den Bergen, in der dünnen, trockenen Höhenluft. Schon in den Spätwintertagen bereitet die Sonne das tolle, wie trunkene Vergnügen, den Schnee, diesen gewaltigen Kältespeicher, schmelzen zu sehen. Unglaublicherweise hat er keine Macht mehr gegenüber den Strahlen. Bäche beginnen unter dem Eis zu sprudeln, verwandeln die Schollen in durchscheinende Zuckerkrusten, legen schmale Streifen Wiese frei, auf denen sich das vergessene Wunder der Vegetation entfaltet. Der Krokus blüht, für Flachländer ein unvorstellbares Wunder. Überhaupt alles verwandelt sich, und an den Dächern der Skihütten wachsen aus schmelzendem Wasser die schillernden Zapfen, die mitunter, wie behauptet wird, den einen oder anderen Gast erschlagen. Vor den Hütten aber, diesen lärmenden Amüsierstätten, verwandeln sich auf den Liegestühlen auch die eben noch tobenden Après-Ski- Touristen in bewegungslose Echsen. Sie sind nicht mehr besoffen, sie sind besinnungslos der Sonne erlegen. Was tun sie da, indem sie nichts tun? Hoffen sie, dass ihnen in der Sonne etwas gegeben wird, was sonst nur, wie in der Bibel verheißen, der Herr den Seinen im Schlafe gibt? Das kleine Quäntchen himmlischen Lichts

Das abgegriffene Wort von den Sonnenanbetern, ein wirklich scheußlich vernutztes und dummes Wort, es scheint doch etwas auszudrücken. Auch wenn unbestimmt bleibt, worum genau gebetet, was erfleht und welche Erleuchtung erwartet wird, muss der Philosoph nüchtern feststellen, dass die Menschen dazu neigen, sich in die Sonne zu hauen und dort erwartungsvoll abzuwarten. Auch das kleine Quäntchen himmlischen Lichts, das im Alpenvorfrühling oder, deutlich rätselhafter, im Strandkorb auf Sylt bibbernd aufgelesen wird, ist wahrscheinlich als Vorgriff auf das große metaphysische Sonnenbad zu verstehen, das traditionell im Hochsommer an südlichen Küsten praktiziert wird.

Das Sonnenbad ist eine Kulturtatsache – jedenfalls in unserer Kultur –, selbst wenn es derzeit nicht den besten Ruf genießt. Es gilt als proletarisch und ungesund, und wer die Touristen an der Playa de las Américas beobachtet, die ihre Haut der Sonne Teneriffas aussetzen, bis sie sich blaurot verfärbt, wird diese Einschätzung nicht rundheraus bestreiten wollen. Unsäglich müssen die Qualen sein, die ein T-Shirt bereitet, wenn es für die abendliche Party über die verbrannte Haut gezogen wird. Aber die harten Jungs, von den nicht weniger harten Mädels ganz zu schweigen, die in todesmutigen Horden aus Manchester oder Bochum in die Sonne geflogen sind, haben kein Problem damit oder höchstens eines, das für Witze taugt. Sie beweisen gerne ihre Verachtung für Hautkrebs und andere Zukunftssorgen, wie denn überhaupt das Zittern um die Gesundheit eine Sache der Alten ist. Das Sonnenbad ist eine Kulturtatsache – jedenfalls in unserer Kultur

Natürlich gibt es auch eine gesundheitsbewusste Jugend (nicht unbedingt an der Playa de las Américas), die sich vegan ernährt und mit Grund vermutet, dass bedenkenloses Rösten in der Sonne nur etwas für Leute ist, die ebenso wenig Skrupel haben, Fleisch von toten Tieren zu grillen. Die Sorge ums moralische und leibliche Wohl aber ist Sache einer verwöhnten Mittelstandsjugend, die Anlass hat, von der Zukunft, von beruflichen Erfolgen, anhaltender Schönheit zu träumen.

Der soziale Abstieg des ausgiebigen Sonnenbads hat allerdings etwas historisch Kurioses. In feudalen, vorindustriellen Zeiten galt Blässe als vornehm und gesund, weil nur Feldarbeiter, die im Freien bis zum Umfallen schufteten, sonnenverbrannt waren. Erst als die Feldarbeiter zu Fabrikarbeitern wurden, in lichtlosen Hinterhöfen wohnten und ihrerseits eine nun nicht mehr gesunde Blässe zeigten, entdeckten die besitzenden Klassen die Reize von Natur und Sommerfrische und einem getönten Teint. So unromantisch es klingt: Auch die Wertschätzung des Sonnenbads ist eine Frage der Produktionsverhältnisse, die sich unterdessen ein drittes Mal verschoben haben. Die digitale Avantgarde, die ihre Tage und Nächte am Bildschirm verbringt, kann nicht sonnengebräunt sein. Das können, wie ehedem im 18. Jahrhundert, nur die unterqualifizierten Verlierer der Gesellschaft, die mit ihrem Teint verraten, dass sie den Anschluss an die Moderne verpasst haben.

Insofern hat die Sonnenbräune ziemlich an Sex-Appeal verloren. Wer mit Bräune prunkt, wie es, sagen wir mal: Dieter Bohlen unverdrossen tut, der teilt damit gleichzeitig mit, bei welchem Publikum er ankommen will. So viel zur Theorie des Sonnenbads.

Die Praxis zeigt aber noch eine ganz andere Seite, die nur insofern mit dem soziologischen Befund zusammenhängt, als sie sich ebenfalls um Gesundheit wenig schert. Einige Menschen legen sich ab und zu in die Sonne, um sich vielleicht für ein paar Minuten aufzuwärmen. Andere setzen sich der kosmischen Strahlung aus wie Extremsportler oder Drogenkonsumenten, die eine Grenzerfahrung suchen.

Was tut so ein Freak in der Sonne? Er träumt. Es sind aber nicht mehr die Träume aus Erinnerungsfetzen und Fantasien, die im abgedunkelten Hotelzimmer über den mittags Schlafenden kommen. Eine weitere Macht schaltet sich ein und befördert ein Delirium, das aus allem Persönlichen hinausführt. Insofern hat die Sonne, die man sich aufs Hirn knallen lässt, tatsächlich etwas von einer Droge, allerdings keiner bewusstseinserweiternden, sondern einer bewusstseinsverkleinernden. Die Welt schrumpft zu einem Backofen, in dem das Hirn schmort und Blasen wirft, kleine, schillernde Blasen, die einer Fata Morgana ähneln. Was man gerade eben, als die Augen sich für einen Wimpernschlag öffneten, am Strand wahrnahm, die verrostete Cola-Dose, die Schöne im Sari, das heulende Kind, verwandelt und verformt sich, wird zu Monstern, überirdischen Bildern des Liebreizes oder ewigen Jammers.

Es gibt die volle Wirkung nicht ohne Missbrauch und ungünstige medizinische Prognose

Nach einiger Zeit entkleiden sich die Erscheinungen aber jeglicher Bedeutung, werden zu leeren Chiffren des bloßen Seins. Eine wunderbare buddhistische Ruhe überkommt den Sonnenbadenden: So ist das also, so ist das eben allhier auf Erden, man weint, man ist schön, man rostet. Nur die Sonne zählt, die Sonne ist der göttliche Strahl, der die Welt erschafft und nun wieder versengt. In der Sonne ist man dem Ursprung nahe wie dem Untergang. Als Kind hat man vielleicht geweint, als Frau wäre man vielleicht schön gewesen, als Cola-Dose rostet man jetzt vor sich hin. Alles ist gut, alles ist vergebens – es ist alles vergebens, weil alles schon gut ist. Weil es in Wahrheit nichts zu hoffen, zu streben und zu tun gibt. Man wärmt sich und welkt in der Sonne. Das ist alles.

Das berühmte Einswerden mit der Schöpfung, das gibt es hier, vorausgesetzt, man geht die Sache ungesund und exzessiv genug an. Denn auch das hat das Sonnenbad mit anderen Drogen gemein: Es gibt die volle Wirkung nicht ohne Missbrauch und ungünstige medizinische Prognose. Natürlich empfiehlt es sich, die Sonnencreme mit dem höchsten Schutzfaktor zu wählen, denn ein Sonnenrausch soll keinen Sonnenbrand bewirken. Aber ein kleiner Sonnenstich – nun, den kann man nicht ausschließen. Und außerdem, was heißt schon Schutzfaktor? Der höchste derzeit erhältliche, so um die fünfzig herum, verspricht auch nur, dass man fünfzigmal länger in der Sonne bleiben kann als ohne diesen Schutz. Aber was wäre die ungeschützt mögliche Dauer? In welchem Land, zu welcher Tageszeit, bei welchem Wetter, für welche Haut?

Im Sonnenbad geht ohnehin die Zeit verloren. Allerdings – ein Paradox – nicht für lange. Die Zeit meldet sich zurück, unabweislich und unfairerweise mithilfe des Körpers, den man schon preisgegeben hatte. Noch bevor der große Sonnenstich einsetzt, mit Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Herzanfällen, gibt es schon die ersten kleinen Stiche. Die Gelenke schmerzen, die Haut brennt, der Schweiß rinnt nicht mehr, er steht als fester Salzwasserspiegel auf Brust und Stirn. Man will jetzt aufstehen. Es ist, auch wenn man das Nirwana gerade jetzt nicht gern verlässt, gänzlich unabweisbar: Man will aufstehen jetzt, fort aus der Sonne, das ist sonnenklar.

Für Hunde ist es eine Art Kneippkur oder Sauna

Man torkelt, man schwankt, es ist einem schwarz vor Augen, wo eben noch das leuchtende Rot unter den Lidern war. Jetzt nicht fallen! Nicht hasten, sachte in den Schatten und um Himmels willen: nichts Kaltes trinken. Höchstens heißen Tee in kleinen Schlucken, aber keinen Kräutertee, keinen Gesundheitshexentrank, das wäre zu viel des Gegengiftes, sondern schwarzen, grünen Tee oder Mate, zur Stabilisierung des Kreislaufes und um der alten Regel zu genügen, dass Drogen nicht ersatzlos abgesetzt, sondern gegebenenfalls schrittweise durch andere, mildere ersetzt werden sollten. Es wäre im Übrigen auch eine moralische, eine charakterliche Katastrophe, plötzlich aufs brutal Gesunde zu setzen, nachdem man sich gerade gegen jeden Geist der Schonung bewusst dem Ungesunden preisgegeben hat. So viel Selbstwiderlegung tut niemandem gut.

Interessant ist es, Hunde am Strand zu beobachten. Hunde knallen sich gerne in die Sonne, aber man kann auch erkennen, dass sie es nicht zur Entspannung tun. Nach einiger Zeit erheben sie sich mühsam, betäubt, unsicher auf den Beinen und mit anklagend zum Himmel verdrehten Augen. Sie schleppen sich in den Schatten, suchen die kälteste, zugigste Stelle und kehren nach einiger Zeit in die Sonne zurück. Es ist eine Art Kneippkur oder Sauna für sie, ein regelmäßiger Wechsel von Hitze- und Kälteerfahrung. Wahrscheinlich sollte man von den Hunden lernen, müsste sich allerdings im Klaren darüber sein, dass die temperierte Anwendung nicht mehr der Vollform des Sonnenbades entspricht und unter seinen psychedelischen Möglichkeiten bleibt.

Trotzdem könnte es befriedigend sein, sich auf Kurzbesuche im verbotenen Sonnenland zu beschränken. Gerade den echten Sonnenjunkies dürfte die Andeutung genügen. Wie bei Trinkern, denen ein winziger Schluck, manchmal ein Schnuppern am Schnaps reicht, um besoffen zu werden, vermag ein kurzer glühend heißer Sonnenstrahl den Reflex im Hirn auszulösen, der die ganze rauschhafte Selbstvergessenheit für Momente reproduziert. Fotos: Julia Davila-Lampe/Getty Images (Ausschnitt, o.); Luke & Nik (u.); Illustration: Katrin Guddat für DIE ZEIT nächster Artikel: Göttliche Show Am Strand von Ipanema ist das Leben so hell und leicht

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

RIO DE JANEIRO Die göttliche Show

Am Strand von Ipanema ist das Leben so hell und leicht – man würde am liebsten für immer bleiben

Die Sonne scheint für alle gleich: Der Strand ist wohl der einzige demokratische Ort in Rio de Janeiro

VON VIKTORIA MORASCH

Im Süden der Atlantische Ozean. Im Norden die Lagune. Im Osten der Garten Allahs – ein Park entlang des Kanals, der die Lagune mit dem Meer verbindet. Im Westen der Teufelsstrand mit seinen hohen Wellen und die Felsen des Arpoador, die in den Atlantik hineinragen. Das sind die Umrisse von Ipanema. Ipanema ist ein Stadtteil von Rio de Janeiro – wobei das zu banal klingt, Stadtteil. Ein Stadtteil ist Bornum in Hannover, begrenzt durch die B 65 im Süden, eine Güterumgehungsbahn im Norden, die Straße »Am Tönniesberg« im Osten (der Tönniesberg ist 77 Meter hoch) und die Bahnstrecke Hannover– Altenbeken im Westen. (Altenbeken ist bei Paderborn.)

Mal angenommen, jemand aus Bornum in Hannover macht sich auf den Weg nach Ipanema, steckt seinen Hals in den Kragen, den Kopf in die Kapuze und fährt zum Flughafen.

Fensterplatz: Die Regentropfen schieben sich wie dicke Raupen von oben nach unten.

Das Flugzeug beschleunigt. Die Tropfen schießen waagrecht übers Fenster.

Das Flugzeug hebt ab. Eine Welle Regenwasser fließt von der Flugzeugnase zum Heck, man fliegt, ins Trockene. »O sol nos espera«, sagt dann noch einer, es sind ja viele Brasilianer dabei: Die Sonne wartet auf uns. Angekommen in Ipanema. Man sieht nichts, so hell ist es.

Das Lied über ein Mädchen am Strand von Ipanema eroberte die Welt

In Ipanema scheint das ganze Jahr die Sonne. In Ipanema galoppieren die Wellen. In Ipanema trägt man den Bikini drunter – wer weiß, vielleicht schafft man es zwischendurch an den Strand. In Ipanema sieht man die weichen, grünen Hügel von Rio, die so schön sind, es ist ein Skandal. Auf einem steht Jesus mit geöffneten Armen.

In Ipanema sitzt man in einer Bar und beobachtet ein Mädchen, vielleicht kommt es gerade vom Strand, oder geht es dorthin? Man schreibt ein Lied darüber und erobert die Welt. Olha que coisa mais linda.

Ipanema, das sind drei Quadratkilometer Land. Selten oder nie fährt man hin und will doch eigentlich hier leben.

Frühmorgens reißt die Sonne die Decke aus Wolken und Nebel herunter, die nachts über der Stadt gelegen hat. Sie erhitzt die Straßen, die Körper, den Sand. Sie nimmt keine Rücksicht auf deutsche Winterhaut: Nur die Falten um die Augen herum, vom Zukneifen, lässt sie frei, weiße Linien bleiben im geröteten Gesicht – jemand aus Hannover sieht dann aus wie ein Tiger.

Wer in Rio lebt und Zeit hat, geht vor der Arbeit an den Strand. Ein Mann um die 40 leint den Pudel an eine Palme, macht ein paar Klimmzüge, fädelt sich zwischen die Stangen, die nur dafür da sind, seine Sit-ups zu stützen, kühlt sich im Meer, trocknet sich ab und verschwindet hinein in die Stadt. Denen, die bleiben dürfen, den ganzen Tag, wünscht er »Boa praia!«, einen guten Strand. Vielleicht, weil ein guter Strand ganz von selbst zu einem guten Tag wird.

Wie die Zeit vergeht, Welle für Welle, nicht Minute für Minute

Die Büroarbeiter gehen, andere Arbeiter kommen und bieten an: Caipirinha, Caipivodka, zwei Arten Eis – Picolé (Eis am Stiel) und Sacolé (Eis im Plastikbeutel) – gegrillten Käse, gefüllte Pasteten, Sonnenbrillen, Hüte, Kokosnusswasser, Henna-Tattoos.

Wie die Zeit vergeht, Welle für Welle, nicht Minute für Minute. Die Rufe der Strandverkäufer wiederholen sich, »Caipirinha, Caipivodka, Picolé, Sacolé!« Und dennoch: Es wird nicht langweilig, wenn man aufs Meer blickt. Wetter und Zeit, im Portugiesischen gibt es für beides nur ein Wort: tempo. Eine ununterbrochene und ewige Abfolge von Augenblicken, sagt das Wörterbuch, und so fühlt es sich auch an. Ein schäumendes Jetzt.

Spätestens mittags spannt jemand aus Hannover den Sonnenschirm auf, sonst spannt sie, die Haut.

Nachmittags, Dunst hängt über dem Strand, klebt zwischen den Körpern. Drei aufgepumpte, eingeölte junge Männer mit verspiegelten Sonnenbrillen legen sich lieber nicht hin, sie wollen gleichmäßig braun werden. Die dicken Arme, wie in Schwimmpuffern, stehen vom Körper ab. Am Strand sind alle Körper. Niemand kann hier so tun, als sei er nur Geist

Eine junge Frau sitzt in einem Klappstuhl mit dem Rücken zum Meer. Sie ist nicht die Einzige, die in Richtung Stadt blickt – man richtet sich hier nach der Sonne, nicht nach dem Wasser. Ihre Augen sind geschlossen, die Hände hängen schlaff am Ende der Lehne herab. Ihr Freund versteckt sich abseits im Schatten, klopft den Sand um den Sonnenschirm fest, tut sehr beschäftigt, während sie sich nur bräunt. Und hin und wieder was trinkt. Wenn sie nach Hause kommt, hat sie einen Bikiniabdruck, als wäre die Sonne Farbe, mit der man sich bestreicht, und der Bikini ein Klebestreifen zum Abziehen.

Am Strand sind alle Körper und alle fast nackt. Niemand kann hier so tun, als sei er nur Geist. Der Blick, im Sand sitzend, ist einer von unten nach oben: Beine, Hintern, Hinterköpfe.

Die Wellen synchronisieren die Bewegungen derer, die sich ihnen stellen. Alle sind wach. »Onda, onda!«, ruft einer, da kommt eine Welle! Drei Mädchen kreischen, dann tauchen sie ab. Wer nicht taucht, fällt. Die Wellen geben den Takt vor. Sportlich sein ist angesagt am Strand

Die Sonne ist auf Portugiesisch ein Mann. Der Vater aller Farben, heißt es in einem Lied von Caetano Veloso. Hier am Strand sieht man sie, die Farben dieses Landes, nicht im Fernsehen, wo fast alle weiß sind, in den Nachrichten und in den Telenovelas. Der Strand ist frei, er lindert die Spannung zwischen den Favelas auf den Hügeln und dem wohlhabenden Rio, das man hier den Asphalt nennt. Die Ungerechtigkeit, die Gewalt, den Rassismus, die Armut.

Der Strand ist wohl der einzige demokratische Ort Rios. Die Sonne scheint für alle gleich, sie kostet nichts. Das Meer interessiert sich nicht für Menschen.

Klar, es gibt Hierarchien, aber andere: Wer ist sportlich? Wer gut im Small Talk? Sonnenbrand ist nicht besonders angesehen. Gelästert wird gelegentlich auch über die, die mit der U-Bahn zum Strand gefahren sind, wie diese Gruppe von Freundinnen. Sie sitzen im Halbkreis, der Sonne zugewandt, und haben große Taschen dabei, mit Essen und Trinken für den ganzen Tag. Andere, die hier im teuren Ipanema wohnen, auf dem Asphalt, bringen nur ein Fläschchen Wasser mit und ein Buch. Hier gibt’s Kokosnusswasser direkt aus der Frucht

Das Schöne: Die Leute aus der Vorstadt und den Favelas nehmen den Strand mit in die Stadt und auf die Hügel, in der U-Bahn von Rio knirscht Sand unter den Schuhen. Der Strand strahlt hinein in die Stadt und nimmt dem dortigen Tun sein Gewicht. Vor Kurzem hat der Sicherheitschef von Rio zu einer Pressekonferenz geladen und darauf hingewiesen: »Das Tragen von Badeshorts ist untersagt.«

Ist es nicht unglaublich, dass der Strand frei geblieben ist? Herrenlos? Wo jeder andere schöne Ort bewacht und umzäunt ist, bleibt der schönste von allen offen. Und was wäre hier los, gäbe es ihn nicht, den Strand, um zu trösten und zu entschärfen – würde es dann noch öfter knallen?

Ipanema war immer Opposition, eine Oase der Freiheit

Im 19. Jahrhundert waren die Strände Müllhalden, und die Sklaven warfen das, was in der Küche und im Nachttopf übrig blieb, dorthin und ins Meer. 1916 – der Strand entwickelte sich von einem Ort für therapeutischen Wellengang zu einem, an dem man seine Freizeit verbrachte – erließ die Stadtverwaltung von Rio eine Reihe von Regeln für den Strandbesuch: Badezeiten, Kleidervorschriften, Verhaltensnormen. Niemand hat sich daran gehalten. Der Strand lässt sich bis heute nicht kontrollieren.

Schon gar nicht der von Ipanema. Ipanema war immer Opposition, eine Oase der Freiheit, nicht gewalttätig, sondern intellektuell. Hier entstand der Bossa nova, hier wurden Regeln gebrochen: des Denkens, Schreibens und des An- und Ausziehens, schreibt Ruy Castro, Journalist und wichtigster Chronist des Viertels.

Hinterm Strand ragt der Morro Dois Irmãos empor, zu deutsch der Zwei Brüder-Felsen

Der Bikini zum Beispiel. Heute ist er ein brasilianisches Klischee. Verkäufer laufen mit Sonnenschirmen den Strand ab, an deren Streben sie hunderte Höschen und Oberteile aufgehängt haben. Bei jedem Schritt schaukeln sie hin und her.

Den ersten Bikini Brasiliens hat eine Deutsche getragen, in Ipanema, wo sonst, genauer am Arpoador, der kleinen Halbinsel, die Copacabana (auch so ein »Stadtteil«) von Ipanema trennt.

Miriam Etz, eine Jüdin aus der Nähe von Düsseldorf, floh 1936 vor den Nazis nach Brasilien. Sie war Künstlerin, genau wie ihr Mann, ihr Vater war Arthur Kaufmann, der mit einem Gemälde berühmt wurde, das Albert Einstein, Arnold Schönberg, Kurt Weill, Fritz Lang, ihn selbst und viele andere zeigt. Es heißt: Die geistige Emigration.

Aus dem Italienurlaub kannte Miriam Etz den Bikini. Für den Strand in Ipanema nähte sie sich, damals 22 Jahre alt, selbst einen. Der Präsident der Banco do Brasil soll sich jeden Morgen von seinem Chauffeur zum Arpoador fahren lassen haben, nur um sie zu sehen.

Jetzt steht da ihre Tochter Iracema – ein Name der Guaraní-Indianer, so brasilianisch wie möglich und ein Anagramm von America. Iracema Etz lernte am Strand von Ipanema laufen, auf dem Arpoador verbrachte sie ihre Jugend, wurde zur Ikone, war Model und Bohemienne. Für Ruy Castro ist sie das eigentliche Girl from Ipanema.

Als Treffpunkt hat sie die Statue von Tom Jobim vorgeschlagen, der das Lied zwar für ein anderes Girl komponierte, aber ein guter Freund von ihr war. Die Statue steht unweit des Arpoador. Ein zierlicher Mann, weiße Hose, weißes Hemd. Die Gitarre liegt lässig auf seiner Schulter auf, die linke Hand glänzt golden, abgerieben von den vielen Fans und Touristen. Jobim liegt auf einem Friedhof im Stadtteil Botafogo begraben, dabei wollte er, dass zumindest sein Herz im Sand von Ipanema landet.

Die Statue von Tom Jobim, ein beliebtes Fotomotiv Sah er wirklich so aus? »Ja«, sagt Iracema Etz, mehr erst mal nicht. Sie hat es nicht eilig, das ist einfach ihr Tempo, eine 81-Jährige in Turnschuhen. Sie schlendert auf die Felsen zu, wo sich jetzt am frühen Abend die Ersten schon positionieren für das tägliche Ritual. Später, kurz vor Sonnenuntergang, werden die Steine voller Menschen sein. Iracema Etz klettert hinauf, hält die blonden Locken aus dem Gesicht.

»Das ist mein Zuhause. All die Leute, die hier sitzen, wissen das nicht, aber das ist mein Zuhause«, sagt sie. »Hier haben wir früher Miesmuscheln von den Steinen gekratzt und gegrillt. Jeder Stein hat einen Namen, dieser hier heißt Samarangue – keine Ahnung, was das bedeutet.«

Iracema Etz, das wahre »Girl from Ipanema«

Früher, das war in den Fünfzigern und Sechzigern, als sie und ihre Freunde jeden Tag am Strand verbrachten und den Abend in den Bars von Ipanema, im »Zeppelin« und im »Berlin«, wo es außer Bier auch Sauerkraut, Eisbein und Kartoffelsalat gab. Viele aus ihrem Freundeskreis vom Arpoador sind Stars geworden. Arduíno Colasanti, ihre erste große Liebe, wurde das Gesicht des Cinema Novo. Doch davor war er erst mal Speerfischer, und zwar der beste der Stadt, und außerdem der Erste in ganz Rio, der es geschafft hat, aufrecht auf einem Surfbrett zu stehen. Das war 1951 und das Brett so schwer und groß wie eine Holztür. Iracema wurde Psychologin und dann Künstlerin. Ihre erste Ausstellung hatte sie am Arpoador.

Ohne die europäischen Einwanderer – Deutsche wie die Etz’, Italiener wie die Colasantis, Dänen, Engländer und Polen – wäre Ipanema wohl nicht das, was es heute ist. Der Sport der Deutschen war das Schlagspiel Indiaca, Männer und Frauen spielten gemeinsam, auch das war neu. Ipanema war ein Dorf, in dem die ganze Welt lebte. Heute lässt sich dieses Dorf noch erahnen in den Straßen, in denen man sich schnell zu Hause fühlt, und in den Gesichtern, die einem mehr als einmal begegnen.

Diese goldene Linie: von der Sonne übers Meer direkt ins Herz

»Ich gehe nur noch selten an den Strand«, sagt Iracema Etz. »Ich habe die Haut einer Deutschen, einer Gringa, die verträgt die Sonne nicht.« Iracema sitzt im Sand, unweit der Felsen. Sie macht Fotos von der Sonne, die sich langsam auf ihren Abstieg ins Meer vorbereitet, und postet sie auf Instagram. Wenn ihr Handy in den Sand fliegt, flucht sie wie ein Teenager. »Meine Mutter wollte unbedingt braun werden, so wie die Brasilianerinnen. Wir haben uns mit Kokosöl eingerieben, in dem Jod war, mit Roter Bete, und als die Coca-Cola nach Brasilien kam, auch damit. Den Bikini hat meine Mutter nicht angezogen, um zu provozieren. Sie war das einfach gewohnt aus Europa.« Jetzt ist da dieser Sonnenuntergang. So sieht man ihn nur während des brasilianischen Sommers, von Dezember bis März, ansonsten verdecken die Hügel Dois Irmãos, die Zwei Brüder, die Sonne.

Das Publikum hat seine Plätze auf den Felsen eingenommen. Einen Drink in der einen Hand, das Handy in der anderen – das sanfte Licht ist das beste für Selfies.

Die Show beginnt: Der Himmel wird orange, das Wasser bleibt türkis, aber jetzt schimmert es metallisch. Diese goldene Linie: von der Sonne übers Meer direkt ins Herz. Die Surfer setzen sich auf ihre Bretter, schaukeln und schauen. Die Steine, rostbraun, sind noch warm vom Tag. Ganz oben auf den Felsen: die Silhouette der Angler. Rechts: die Stadt, die sanfte Kurve der Küste, die Häuser, die das Gold reflektieren. Langsam wird es rot, in der Ferne über den Cagarras- Inseln.

Die Lichter der ersten Autos gehen an, es werden immer mehr. Unterbrochen von den Palmen, die den Strand säumen, flackern sie und glitzern.

Das Blau des Meeres wird violett, der Schaum der Wellen leicht rosa. Hinter den weißen Häusern stehen die dunklen Hügel, beschützend, bedrohlich.

Plötzlich geht es ganz schnell. Die Sonne wird Halbkugel, wird Strich, die Ersten im Publikum pfeifen, jubeln. Der Strich zieht sich zusammen von links und von rechts – es ist 19.32 Uhr: Applaus! Applaus! Was für ein Tag!

Das war’s, das Ritual ist gefeiert, das Publikum geht.

Der Segen der Sonne ist weg, Polizeilichter blinken. Nur ein roter Streifen hält sich noch über dem Meer.

INFORMATIONEN Unsere Autorin hat im Hotel Emiliano an der Copacabana und im Windsor- Hotel in Leme übernachtet. Beide Hotels liegen direkt am Strand. Das Emiliano ist klein, sehr persönlich und detailverliebt. Gekocht wird nur bio und gern experimentell mit Zutaten aus dem Amazonasgebiet, DZ ca. 400 €, emiliano.com.br.

Wer günstiger, aber dennoch in der ersten Reihe am Wasser übernachten will, ist im Windsor-Hotel gut aufgehoben, DZ ca. 130 €, windsorhoteis.com.

Für ein Bier am Abend empfiehlt sich die Bar Bip Bip an der Copacabana, in der täglich Musiker spielen. Man holt sein Bier aus dem Kühlschrank, Alfredinho, der Wirt, führt eine Strichliste. Allerdings gibt es Regeln zu beachten: Alfredinho mag kein Parfum und keinen Lärm.

Die Reise wurde vom Brasilianischen Fremdenverkehrsamt Embratur unterstützt

Fotos: Evgeny Makarov für DIE ZEIT; Illustration: Katrin Guddat für DIE ZEIT nächster Artikel: 1800 Stunden Ein Sonnenaufgang an Deutschlands sonnereichstem Ort, der Zugspitze

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

ZUGSPITZE 1800 Stunden

An keinem Ort der Republik scheint die Sonne öfter als auf der Zugspitze. Wer eine eisige Nacht auf dem Gipfel übersteht, wird am Morgen ziemlich zuverlässig mit einer Offenbarung belohnt

Kurz nach sieben auf der Zugspitze: Jeden Morgen wiederholt sich im Kleinen die Schöpfungsgeschichte, trennt sich die Nacht vom Tag

VON CHRISTOF SIEMES Wäre ich überhaupt aufgebrochen, wenn ich geahnt hätte, dass ich für einen der besten Momente meines Lebens mit einer meiner schlimmsten Nächte würde bezahlen müssen? Aber vielleicht musste es so kommen, um mir ein bisschen Ehrfurcht einzubimsen vor diesem Augenblick, der im Instagram-Zeitalter nur noch ein Schnappschuss unter Milliarden ist. Alle Menschheitsmythen erzählen von ihm als existenziellem Schlüsselmoment. Die Sonnengötter sind die Superstars aller Kulturen, weil sie dem Dunkel, der Kälte den Garaus machen. Jeden Morgen wiederholt sich im Kleinen die Schöpfungsgeschichte, trennt sich die Nacht vom Tag, siegt Gut über Böse. Was wir allenfalls noch romantisch finden, ist in Wahrheit eigentlich ein tägliches Wunder und eine Machtdemonstration – wir wären nichts, schöbe sich die glühende Kugel nicht immer wieder über den Horizont.

So grundsätzlich wollte ich an die Sache eigentlich gar nicht rangehen. Mich interessierte einfach, wie es aussieht, wenn am sonnigsten Ort Deutschlands die Sonne aufgeht. Aber damit fingen die Schwierigkeiten schon an. Wo ist das überhaupt? Im Kampf um ein positives Image und viele Touristen hat schon mancher Ort den Titel für sich beansprucht. Ist es Scheidegg im Allgäu, wie es gerne von sich selbst behauptet? Die Insel Hiddensee, wo der Ostseewind die Wolken schnell vertreibt? Oder doch das Klippeneck am Rand der Schwäbischen Alb, wo die höchste jährliche Sonnenscheindauer aller Zeiten gemessen wurde, sagenhafte 2329 Stunden im Jahr 1959? Im Schnitt 6,4 Stunden Sonne pro Tag – das mag man als Hamburger (30 Stunden im gesamten Januar 2018) kaum glauben.

Aber ein gutes Jahr macht noch keinen Meister. Für mein Vorhaben kam nur der Ort infrage, an dem auf die Sonne stets Verlass ist. Und da lassen die Mittelwerte, vom Deutschen Wetterdienst seit mehr als einem halben Jahrhundert erhoben, keinen Zweifel: Die meisten Sonnenstunden gibt es auf der Zugspitze, Jahr für Jahr mehr als 1800. Diese Grenze knackt sonst keiner.

Unterm Wolkendeckel liegt Garmisch-Partenkirchen im Wintergrau

Also auf nach Garmisch-Partenkirchen, von jeher Basislager für jede Geschichte über »Top of Germany«, wie der Berg inzwischen im weltweit verstandenen Vermarktersprech heißt. Gleich bei meiner Ankunft scheint alle Statistik zum Teufel. Ein bleigrauer Wolkendeckel hängt so tief über der Loisach, als sei Asterix’ Befürchtung, der Himmel könne ihm auf den Kopf fallen, im Werdenfelser Land wahr geworden. An den Straßenrändern trägt der Schneematsch Trauerränder, es nieselt. Auch der Blick auf die Gipfelwebcam knapp 2300 Meter weiter oben spendet keinen Trost: Zu sehen ist nur weißes Nichts.

Damit nicht genug. Ich will ja nicht nur die Sonne sehen, sondern ihren Aufgang früh am Morgen um acht. Das Problem: Die erste Seilbahn hinauf fährt erst um 8.30 Uhr. Und übernachten am Gipfel im Winter – schwierig. Das Münchner Haus, die 120 Jahre alte Alpenvereinshütte auf dem Westgipfel, öffnet nur im Sommer. Das Schneefernerhaus, das 1932 gebaute Hotel am Ende der Zahnradbahn zum Gipfel? Wurde 1992 geschlossen. Bleibt nur eine Möglichkeit: übernachten im Iglu.

Nicht auf eigene Faust natürlich – zu gefährlich, nicht erlaubt. Sondern als Gast der Iglu-Dorf GmbH. Jedes Jahr errichtet die Firma des Schweizer Snowboard- Freeriders Adrian Günter knapp 300 Meter unterhalb des Zugspitzgipfels, gleich neben dem Kirchlein Maria Heimsuchung, eine temporäre Unterkunft. Von außen sieht sie aus wie eine gewaltige Schneeverwehung; nur die hölzernen Türen deuten an, dass in diesem weißen Haufen mehr stecken muss.

Die neue Gipfelstation der Seilbahn ist eine abenteuerliche Konstruktion aus Glas und Stahl Die Forschungsstation Schneefernerhaus unterhalb des Gipfels war früher ein Hotel

Was genau, werde ich erst nach Einbruch der Dunkelheit erfahren. Zunächst muss ich mal raufkommen. Das immerhin ist noch einfacher geworden, seit drei Tage vor Weihnachten die neue Seilbahn auf die Zugspitze eröffnet wurde. Längst war das Vorläufermodell, Baujahr 1962, dem Ansturm auf den Gipfel nicht mehr gewachsen. Nur 44 Passagiere passten in die alten Gondeln, viel zu wenige, um auch noch all die arabischen und asiatischen Gäste hinaufzubringen, die inzwischen fast ein Drittel aller Gipfelstürmer ausmachen. Die neuen Kabinen, groß wie Linienbusse, fassen 120 Menschen. Rund um den Parkplatz und die neue Talstation am Eibsee sieht es immer noch aus wie auf der Großbaustelle, aber der Betrieb läuft reibungslos. In nur achteinhalb Minuten geht es hinauf; das letzte Drittel gleicht der Fahrt in einem gläsernen Aufzug. Nahezu senkrecht geht es an den vereisten Wänden der Nordflanke empor bis zur neuen Gipfelstation aus Glas und Stahl.

Auch sie wird erst im Sommer vollends fertig sein; im Moment ist zwischen all den Handwerkern, Baucontainern, Gerüsten, Kränen kein unbeschwertes Gipfelglück zu haben. Also schnell noch eine Seilbahn weiter, um vor dem mythischen Moment am nächsten Morgen letzte Sonnenfragen zu klären. Als sei’s die geheime Weltmachtzentrale eines James-Bond-Bösewichts, klebt das silbern schimmernde Gebäudekuddelmuddel des Schneefernerhauses am Südhang unterhalb des Gipfels. Aus dem früheren Hotel ist längst eine Forschungsstation geworden. Zehn der wichtigsten deutschen Wissenschafts- Einrichtungen sind hier Mieter und sammeln Daten, um den Geheimnissen von Wetter, Wolken, Klima auf die Spur zu kommen.

Markus Garhammer, Meteorologe von der Universität München, ist zwar eigentlich ein Experte für UV-Strahlung und Aerosole, also die in der Atmosphäre vorhandenen Teilchen. Aber über die Sonne weiß er auch mehr als genug. Als Wissenschaftler betrachtet er die Frage nach der Sonnenscheindauer nüchtern – und genau: Strahlen tut unser Zentralgestirn immer, »mit exakt 1368 Watt pro Quadratmeter«. Davon kommen aber im Schnitt nur rund 500 Watt auf der Erde an, der Rest bleibt in der Atmosphäre hängen. Mit einem kanonenartigen Himmelsphotometer namens SSARA kann Garhammer feststellen, ob gerade Sand aus der Sahara oder Ruß von einem Waldbrand in Kanada die Sonnenstrahlen bricht. »Und wenn es unter 120 Watt geht, gilt es nicht mehr als Sonnenschein.«

Auf der Terrasse des Schneefernerhauses sammeln verschiedene Forschungsinstitute mit allerlei Geräten Klimadaten

Seit 17 Jahren sammelt Garhammer hier oben Daten. Auch ohne komplizierte Messgeräte hat er gesehen, wie sich alles verändert. Selbst der Permafrost, der den brüchigen Muschelkalk des Gebirgsstocks zusammenhält, zieht sich immer weiter zurück – die Zugspitze wird weich. Und von ihrem Gletscher, dem Letzten seiner Art in Deutschland, sind gerade mal 300 Meter übrig. Für jeden, der die menschengemachte Veränderung des Klimas für Fake-News hält, hat Garhammer nur Verachtung übrig: »Einen wie Donald Trump würde ich nicht mal zur Uni zulassen.«

Im Inneren des Igluhotels

Es dämmert schon, als ich, mit einem Expeditionsschlafsack unterm Arm, den kurzen Weg zum Iglu-Hotel einschlage. Wolken und Nebel haben sich verzogen – die Götter müssen mit mir sein! Der Nachthimmel blaut dunkel, scharf wie mit dem Stechbeitel herauspräpariert zeichnen sich die Grate der Gipfel ab, um die 400 sollen es sein. Zum Nachzählen ist es schon viel zu kalt; selbst die null Grad im Innern meines Nachtquartiers wirken plötzlich wie eine Verheißung.

Die Behausung mit ihren Zwei- und Mehrbettzimmern (jede Schlafstatt besteht aus einem Eissockel mit Schaffellen drauf) und dem großen Speisesaal ist ein wahrer Eisprinzessinnenpalast. In wochenlanger Arbeit hat ein Trupp von Eisskulpteuren aus jedem Raum ein Unikat gemacht. Eisengel lösen sich aus der Wand, ein detailgetreues Zugspitzpanorama im prachtvollen Rankenrahmen füllt eine ganze Wand, und den Weg zum Chemie-Klo markiert ein durchsichtiger Pinkel-Putto aus gefrorenem Wasser. Jedes Jahr steht diese vergängliche Innenarchitektur unter einem neuen Motto, diesmal ist es »Barock«, was von den Künstlern recht frei interpretiert wurde: Hauptwerk ist eine riesige Tiefkühl- Kopie des berühmten Fingerzeigs aus Michelangelos Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle, bekanntlich ein Werk der Hochrenaissance.

Aber wer will schon ins Detail gehen, wenn trotz Skiunterwäsche und Fellmütze die Kälte in jede Ritze zu kriechen beginnt? Dankbar wärme ich mich an Flädlesuppe und Käsefondue, ehe ich aufbreche zu einer kurzen Nachtwanderung, um den Kreislauf noch einmal auf Touren zu bringen und ein paar Anekdoten aus der Zugspitzgeschichte am Originalschauplatz zu hören. Etwa die vom Maibaum, der wie eine gewaltige Lanze nach den Sternen sticht. Selbst in dieser Höhe war er nicht sicher davor, nach altem Brauch geklaut zu werden. Die Räuber nahmen ihn kurzerhand im Hubschrauber mit und flogen ihn erst zurück, als ihnen im Gegenzug ein Jahr freie Kost im Restaurant auf dem Zugspitzplatt versprochen wurde. Der Maibaum vor dem Gasthof Sonnalpin

Als ich zurückstapfe, merke ich, wie mir plötzlich die Kräfte schwinden. Schon mit bellendem Husten angereist, macht mich die dünne, extrem trockene Luft nun vollends fertig. In einem letzten, verzweifelten Versuch, das Zähneklappern samt nun auch noch aufsteigendem Fieber zu bekämpfen, pelle ich mich aus meiner vielschichtigen Kleidung und steige in den Outdoor-Whirlpool. Wie eine Vision sehe ich durch den Dampf des heißen Wassers den bestirnten Himmel über mir. So dicht ist das Gedränge der weißen Punkte, dass für das Nachtdunkel dazwischen kaum noch Platz bleibt. Ich weiß nicht, wovon mir mehr schwindelt: der Unbegreiflichkeit über mir oder den bösen Viren in mir. Mit letzter Kraft wurschtle ich mich in den Schlafsack.

Die Zeit vergeht so langsam, wie ein Tropfstein wächst. Als sich um ein Uhr nachts der letzte meiner Schlafgefährten zur Ruhe begibt, habe ich auf meiner Uhr bereits hundert Mal kontrolliert, ob es nicht schon bald Frühstück gibt. Um zwei vollende ich im Kopf die Sinfonie, die ich aus den Schnarchtönen meiner mir unbekannten Zimmergenossen komponiere. Um drei nimmt der Brustschmerz so zu, dass ich nicht mehr weiß, wie ich liegen soll. Um vier bin ich sicher: Es muss ein Herzinfarkt sein! Um fünf will ich den Rettungshubschrauber rufen, die einzige Möglichkeit, zu dieser Zeit vom Berg hinunterzukommen. Um sechs frage ich mich, ob es das alles wert war.

Der Neumond kurz vor Sonnenaufgang

Um sieben kommt der Tee. O göttlicher Nektar aus Instantzitronenpulver! Unter meinen Sohlen quietscht es, als ich durch den überfrorenen Schnee dem großen Moment entgegenschreite. Rechter Hand, im Westen, stanzt sich noch eine fadenfeine Mondsichel durchs Firmament, während ostwärts bereits ein sattoranges Leuchten die Nacht nach oben aus dem Bild schiebt. Fast könnte ich heulen vor Erschöpfung, Rührung und Erleichterung. Noch immer sind es wenigstens zehn Grad unter null, aber im Glimmen am Horizont spüre ich schon die lebenspendende, lebensrettende Kraft der Sonne. Der entscheidende Moment

Mein Fieber aber senkt auch sie nicht von jetzt auf gleich. Wie auf Drogen fliegt der mythische Moment vorbei. Eben noch umfängt eine glühende Linie die Gipfel, als ergieße sich flüssiger Stahl über die Grate und Schrunden. Dann erscheint die Sonnenscheibe, so schnell, als zögen himmlische Kulissenschieber sie an einem Seil empor. Wenig später schon strahlt sie so hell, dass ich sie nicht mehr direkt in Augenschein nehmen kann. Eine weitere von den mehr als 1800 Sonnenstunden 2018 hat begonnen. Klein, aber fein und von der Sonne verwöhnt: Das Skigebiet unterhalb der Zugspitze

Der Trip endet profan mit einem Weißwurstfrühstück im Bergrestaurant Sonnalpin. Vor den Fenstern mutiert der Schimmer der unberührten Skipisten von Rosenquarzrosa nach Neusilber. Eigentlich hätte ich sie den Rest des Tages befahren wollen, 20 leichte bis mittelschwere Kilometer, nicht viel zwar, aber ich wäre eh alle 100 Meter stehen geblieben, um mich an dem Panorama zu besaufen. Und den inneren Sonnentank bis wenigstens Mitte April aufzufüllen. Ein letzter Blick auf das frisch vergoldete Gipfelkreuz

Doch nun wartet im Garmischer Krankenhaus der Arzt vom Wochenendnotdienst auf mich, um eine schwere Bronchitis mit hohem Fieber zu diagnostizieren. Einmal noch blicke ich zurück auf den Topf voll Gold, in den die Sonne die Senke unterhalb des Gipfels inzwischen verwandelt hat. Das berühmte Kreuz, nach einem Zusammenstoß mit dem Baukran der neuen Seilbahn frisch renoviert, gibt seinerseits noch ein paar Strahlen dazu. Dann durchstößt die Gondel die Wolkendecke. Nach unten, ins Dunkel.

INFORMATIONEN

Anreise: Wissenswertes über alle Berg- und Talfahrten der Bayerischen Zugspitzbahn Bergbahn gibt es unter zugspitze.de. Dort findet man auch Infos über das kleine, aber feine Skigebiet unterhalb des Gipfels. Und mit der Gipfelwebcam kann man sehen, ob sich eine Fahrt nach oben auch bei schlechtem Wetter im Tal lohnt Ausblick von der Zugspitze ins Tal auf den Eibsee

Unterkunft: Im Tal in Garmisch-Partenkirchen zum Beispiel das Traditionshotel Staudacherhof mit großem Wellnessbereich und Außenpool, sogar im Winter, DZ ab 73 €, staudacherhof.de. Das Iglu-Dorf auf der Zugspitze ist noch bis zum 8. April geöffnet, Schlafplätze ab 119 €, iglu-dorf.com/standorte/zugspitze Die Bar im Iglu-Hotel – natürlich aus Eis

Anbieter: Garmisch- Partenkirchen Tourismus informiert im Internet auf der Seite gapa.de über die Region und hat auch die Reise unseres Autors unterstützt

Fotos (v.o.): Jan Eric Euler; Christof Siemes für DIE ZEIT (11); Jan Eric Euler; Christof Siemes für DIE ZEIT (2) nächster Artikel: Tanger Den freien Geist findet man in der marokkanischen Hafenstadt noch immer

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

TANGER Tanger am nächsten Morgen

Früher zog die marokkanische Hafenstadt Exzentriker an, Poeten, Kiffer und Spione. Den freien Geist findet man hier noch immer. Belichtungen eines Mythos

In den Gassen der Medina

VON CHRISTIAN SCHÜLE underline

Am nächsten Morgen steht Belmondo neben mir. Er lacht im Licht der aufsteigenden Sonne. Ich hatte mich an der Place de France ins Gran Café de Paris gesetzt, Café con leche im Glas mit vier großen Würfeln Zucker auf dem Unterteller, da kam dieser mittelgroße Mann mit weißem Haar, großem Mund, breitem Lächeln und einer eleganten Madame an der Seite auf meinen Tischnachbarn zu und parlierte in schnellem, lautem Französisch. Eigentlich kann es nicht Belmondo sein, dachte ich noch, die Stimme ist zu hoch, aber es wäre natürlich keine Überraschung, würde auch Belmondo in Tanger sein. Nichts ist in Tanger eine Überraschung. Alles scheint möglich in dieser Stadt, weil immer schon alles möglich war. Vor 50 Jahren hätte der amerikanische Schriftsteller Paul Bowles hier gesessen, wäre der dauerbekiffte William S. Burroughs auf der Suche nach hübschen Schuhputzerjungen den Boulevard entlanggeschlichen, hätte der melancholische Beat-Beau Jack Kerouac unten im Meer gebadet. Sie alle lebten, lachten und litten in Tanger, Wochen, Jahre, Jahrzehnte.

Die Erscheinung, die nicht Belmondo ist, trägt eine weiß gepunktete blaue Hose, einen lilafarbenen Schal und heißt Robert. Mein Belmondo ist das Ergebnis eines Tagtraums in der maghrebinischen Sonne. 19 Grad im Winter erhitzen die Fantasie in einer Stadt, in der es bis heute Dämonen und Geister geben soll. Wer das nicht glaubt, wird trotzdem selig und macht sich wie ich auf die Suche nach dem doppelten Licht Tangers, seinem inneren und äußeren Leuchten. Die Mittagssonne fällt jetzt schräg in die Rue de la Liberté und belichtet eine Stadt, deren inneres Sonnensystem nur in Fragmenten zu ermessen ist. underline

Am nächsten Morgen stehen plötzlich Pferde an der Corniche, eine Frau trabt den Strand entlang, und in den ersten Stunden wird klar: In Tanger gibt es keine Esel mehr. In meiner Vorstellung laufen sie mit Gewürzsäcken beladen durch die Altstadt, klick, klack, klick, klack, getrieben von Jungs mit Gerten, manchmal ein Blöken oder Quietschen.

Klack, klack macht es hier nur, wenn ein Schuhputzer sein Glück an den Tischen der Cafés versucht und mit der Bürste gegen den Holzkasten schlägt. Nach abschwingender Biegung mündet die Rue de la Liberté in den palmengesäumten Grand Socco, von dort aus geht es durchs hufförmige Alstadttor hinunter zum Petit Socco, dem Zoco Chico, dem »kleinen Marktplatz« inmitten der Medina, wo einst das Forum der römischen Stadt Tingis zu finden war.

In Tanger gibt es keine Esel mehr – nur Pferde am Strand

Lederhändler, Schuhmacher, Topfverkäufer sind da, die Häuser ockerfarben verputzt oder weiß getüncht mit blauem, rotem oder grünem Sockel, manche Wände gekachelt, manche mit Blumentöpfen in gusseiserner Halterung. Die Läden der Juweliere, von tausendfachem Glitzern erleuchtet, sind nicht größer als eine Besenkammer und die Shops der Allesverkäufer randvoll bis unters Dach. Erker schlucken das Licht, und irgendwo fegt immer ein Besen. Zwei fauchende, sich fast zu Tode beißende Katzen rutschen die blank gewischten Gassenplatten direkt über meine Schuhe hinweg, ein blutendes Knäuel Kreatur, das sich um einen deutschen Sonnensucher kein bisschen schert. Fliegende Händler preisen Mandelkuchen in Schubkarren oder Sockenpaare, und die unerbetene Kontaktfreudigkeit eines lokalen Drogenhändlers gipfelt im geflüsterten »Amigo, Cocaine?«.

Im Café Central sitzende junge Männer schweigen und rauchen und lassen die Zeit fließen, bis irgendwo einer ruft: der Mofafahrer, der Gebäckhändler oder jener Spaßvogel, der, von allen ignoriert, mit vier Keulen vor sich hin jongliert. Ein Junge trägt Süßgebäck auf diskusgleichen Blechen, der blonde Hippie in Birkenstocks schlurft wieder umher, Bettler betteln mittels Augenaufschlag, die Alten trinken Minztee und verfolgen auf kleinen Bildschirmen die Pleite des FC Barcelona, und dann gellt ein Schrei. Obwohl Tanger eine muslimische Stadt ist, gibt es noch immer viele Kirchen

Und ein zweiter. Hände greifen, schlagen, drücken, es geht um Ehre, und kurzerhand sind es nicht acht Hände, sondern 20, schwer zu sagen, wer da wen greift und schlägt, nicht einmal die Polizisten vermögen eine offenbar verletzte Ehre zu sühnen. Da ruft der Muezzin zum letzten Mal an diesem Tag, ohne großen Eifer, eher geschäftsmäßig als missionarisch, und für einen Moment verstummen alle Schreihälse in Ehrfurcht, inschallah, so Gott will, als gäbe es hier eine von allen eingehaltene Verabredung, die niemals von jemandem geschlossen wurde. underline

Am nächsten Morgen wird mir klar, was der Tanger-Mythos ist. Er geht so: Nach Tanger kommt man, um zu bleiben, obwohl man es verlassen will. Man bleibt hängen und weiß nicht, warum. Tanger verspricht Transit und lässt einen nicht mehr los. Paul Bowles entschied ja nicht, dauerhaft in Tanger zu leben. Es passierte. Er kam 1947, weil das Nachkriegs-Amerika nicht mehr interessant war, schrieb mit Himmel über der Wüste Weltliteratur und starb nach 50 Jahren in seinem Apartment auf Tangers »Kleinem Hügel«. Der junge Schriftsteller Simon-Pierre Hamelin aus Paris besuchte vor 20 Jahren einen Freund in Tanger und leitet heute die immer schon weltbekannte Buchhandlung Librairie des Colonnes. Und eine, die tatsächlich fortging, nach Casablanca, nach Paris, nach New York, kam zurück: Die Regisseurin Farida Benlyazid, eine elegante Dame um die 70, die regelmäßig eine neue Zigarette aus dem Etui zieht und zu all meinen Fragen nach dem Licht, dem Strahlen, der inneren Sonne ihrer Stadt nur sagt: »Toleranz.«

Von Faridas Wohnung in der Kasbah, dem alten Festungsviertel auf dem Gipfel der Medina, aus gesehen ist Andalusien zum Greifen nah. Linker Hand Cádiz, rechter Hand Tarifa, Algeciras und der Berg von Gibraltar. Am Kap Spartel ist das atlantische Wasser silbrig, am Kap Malabata das mittelmeerische herzhaft blau, dazwischen spannt sich eine von Sandstrand gesäumte, sichelförmige Bucht in großzügigem Schwung, und die beiden Tanger umspülenden Meere verschmelzen ineinander. Herkules hat antiken Dichtern zufolge an dieser Stelle mit der schieren Kraft seiner Muskeln Europa und Afrika auseinandergestemmt. Er wohnte wohl in der Grotte hinter einem der sieben Hügel Tangers, in der in den 1960er Jahren die Beatniks Kostümpartys feierten und, so geht die Legende, der zimperliche Truman Capote sich von Allen Ginsberg, Kerouac und Bowles aus Angst vor Skorpionen auf einer Sänfte aus Holzlatten den steinigen Abhang hinuntertragen ließ. Die Grottenöffnung hat ein wenig die Form des afrikanischen Kontinents, und wer lange genug wartet, sieht die rote Sonne versinken, als wäre der Atlantik da hinten die Kinoleinwand. Der Sage nach wohnte Herkules in dieser Grotte

Auf den Dachterrassen der Altstadthäuser flattert akkurat gehängte Wäsche im unaufhörlichen Wind, und während die weiße Stadt sich rosé und violett verfärbt, sagt Farida, die selten zu viel redet, mit sanfter, zarter Stimme ein weiteres Wort: Neugier. »Neugier und Toleranz sind der Geist dieser Stadt. Das gibt es so kein zweites Mal.«

Im üblich hohen Bogen schenkt sie Minztee nach, und wenig später trifft der letzte Sonnenstrahl des Tages in irgendeiner Fensterscheibe in Tarifa ein, man sieht ihn von hier oben, er glüht und klingt aus, als wäre es das Zeichen, sich von dort, von Europa nicht mehr locken zu lassen, da doch der König mit großem Aufwand versucht, die marokkanische Jugend im Land zu halten.

Rasant breitet sich die Nacht über Tanger, der Viertelmond ist schon lange da, und die Lichter der neuen Laternen an Boulevards und Avenues springen mit einer verstörenden Plötzlichkeit an. underline Manche Städte sind eitel und inszenieren sich. Manche Städte überwältigen und überfordern einen. Manche stressen, manche bedrücken, manche langweilen. Tanger ist anders. Es verweigert Charme und Liebreiz. Es lebt die raue und banale Energie des Lebens und lässt zugleich leben: die unzeitgemäße Distinguiertheit des globalen Adels, diese auf diverse Hügel verstreuten weltfernen Habitate der Prinzen, Fürsten und Grafen in ihren Villen und feinen Gärten. Armut ist unübersehbar, sie versteckt sich nicht, weil man das Leben nicht verstecken kann. Immer wieder kommt ein Obdachloser an einen gerade verlassenen Café-Tisch heran und trinkt aus einem vom Kellner womöglich bewusst nicht abgeräumten Glas den letzten Schluck abgestandenen Tee. In Tanger sind Gassen zu finden, die ohne Sinn und Verstand an einer Betonmauer enden. Hier und dort stehen verfallene und verkommene Häuser mit Flechtenbewuchs und glaslosen Fenstern auf Plätzen mit Brennnesselkraut, und alle Seitengassen hügelabwärts führen auf die vor Kurzem fertiggestellte neue, umstrittene Uferpromenade.

Von den Dächern der Häuser in der Altstadt kann man das Kap Malabata sehen Erst wurden die alten Bars und Clubs am Strand unter die Straße verlegt, weil man vor lauter Beton das Meer nicht mehr sah, dann wurden sie gänzlich rasiert, um eine sechs Kilometer lange Corniche mit tentakelgleichen Laternen und Glasaufzügen zu bauen. Jeder sieht nun das Meer wieder, aber wo in dieser Hafenstadt sind die Prostituierten und Trinker, die Gaukler und Lebemenschen geblieben?

In den vergangenen 19 Jahren, seit König Mohammed VI. (kurz: M6) Marokkos Geschäfte führt und die Stadt zum Tor Afrikas zur Welt (und umgekehrt) ausbaut, ist Tanger über alle Täler und Hügel hinweg zu einer Großstadt gewuchert. Malls und Supermärkte sind entstanden, Avenues und Hotels, eine Jacht-Marina und stadtauswärts sechs bis zehnstöckige Apartment-Anlagen für die wohlhabend werdende Mittelschicht.

Früher lebten der von Opulenz berauschte Verlegermilliardär Malcolm Forbes und die verschwendungssüchtige Woolworth-Erbin Barbara Hutton in palastartigen Villen auf den alten Hügeln, vor einiger Zeit hat der französische Populär-Philosoph Bernard-Henri Lévy eine Villa gekauft. Einst tummelten sich Spione und Verbrecher zwischen Rue Kadi und Rue de la Marine, heute sind es Kreuzfahrttouristen.

Energien wandeln sich, verloren gehen sie selten. underline

Am nächsten Morgen geht eine ganz andere Sonne auf, der zweite Tanger- Mythos ist höchst lebendig. Er geht so: In Paris haben sie den Eiffelturm, in Berlin das Brandenburger Tor; in Tanger haben sie Rachel Muyal. Diese Frau, heißt es, sei die Verkörperung, mehr noch: das offene Buch dieser Stadt, und das nicht nur, weil sie die Librairie des Colonnes auf dem Boulevard Pasteur zur Legende machte. Die Jüdin Rachel ist 85 Jahre alt und hat Tanger nie verlassen. Alle sind zu ihr gekommen und geblieben, Bowles, Burroughs, Capote, Gysin, Mohamed Choukri.

Am nächsten Morgen flaniere ich in die Librairie, um Madame Muyal zu treffen, deren Lachen ich mich zu keiner Zeit mehr werde entziehen können. Die Präzision ihrer Sätze und Erinnerungen ist bestechend, und wie in Tanger üblich, fängt ein Satz oft französisch an, geht spanisch weiter und endet englisch. Später, als Rachel mich ins Casino einlädt und der Rabbi unsere Speisen aussucht und den Rotwein öffnet und Rachel kurz davor ist, zur Livemusik zu tanzen, wünsche ich mir eine geistige Romanze mit dieser Frau.

In den Gassen der Medina schlucken Erker das Licht 11 Uhr. Sie kommt pünktlich, selbstverständlich, und die anderen sind schon da. Bachir Attar, Meister der mystischen Jajouka-Musik, und Simon-Pierre Hamelin, in Paris geborener Schriftsteller. Zu viert ziehen wir in die Casa de España zu einem denkwürdigen Lunch. Aufgetischt werden unter anderem Calamares, Fische, Gemüse, mehrere Flaschen Rotwein werden entkorkt, und je tiefer die Sonne sinkt, umso mehr blühen die Anekdoten. Rachel sagt, ihr Freund Bowles sei sehr höflich gewesen. Bachir sagt, sein Freund Bowles habe sehr wohl kommerziell gedacht, Simon-Pierre, der Einzige neben mir, der nicht mit Bowles befreundet war, weist ebendas zurück. »Ich war fast jeden Tag bei Paul«, sagt Bachir, »ich weiß das.« So geht es fort. Wein, Fisch, Likör, Kuchen. Rachels Lachen und das mürrische Schweigen dicker spanischer Kerle am Nebentisch im Stakkato von Bachirs anschwellendem Anekdoteneifer. Übrigens, er hat die Rolling Stones empfangen, die wilden Briten flogen 1989 in Tanger ein, und Mick und Keith und er nahmen hier den Song Continental Drift auf. Natürlich brachte er Jagger zu seinem Freund Bowles, die beiden saßen auf einer Matratze und sprachen über Musik, weil Bowles ja auch Komponist war.

»Tanger ist ein Ort, an dem die Menschen sich immer schon frei fühlten, das ist bis heute so«, sagt Rachel. Die anderen nicken. Truman habe das auch immer gesagt. Alle nicken. Capote, Bowles und Burroughs, die Transsexuellen, die Hippies, die Exzentriker, Egozentriker, Experimenteure – in Tanger, höre ich, ließ und lässt man einen Menschen den sein, der er sein will. Ignoranz sei das nicht, entgegnet Simon-Pierre: »Wenn du in Tanger Maler sein willst, sagst du: Ich bin Maler, und dann bist du es. In Paris fragen sie dich hingegen sofort: In welcher Ausstellung hängst du? Wie viele Bilder hast du verkauft?«

Rachel: »Oh ja, es war immer dieser bestimmte Geist hier. Es ist mehr als Toleranz, es ist Respekt.« Vor ein paar Jahren, da war Rachel ein Mädchen, sei auf der Straße ein muslimischer Marokkaner auf sie zugekommen und habe ihren Kopf geküsst, einfach so, den Kopf einer Jüdin. »Größer geht Respekt nicht«, sagt Rachel. Die anderen nicken.

Alle wissen hier alles. Der moralische Verstoß besteht allein darin, darüber zu reden

Gegen 18 Uhr endet das Mittagessen. Simon-Pierre und ich ziehen weiter in die Seitenstraßen am Boulevard. Fast logisch stranden wir irgendwann im verqualmten Rubis, wo der marokkanische Eric Clapton mit E-Gitarre und Playback-Monitor I Shot the Sheriff singt. Wer am Tresen sitzend ein Bier bestellt, erhält Tapas, wer Hunger hat, wird rasch blau sein. Irgendwann, man spürt es kaum, liegt die Hand einer der vier anwesenden Frauen an meinem Rücken. »Wenn du ihr gefällst, wird es billiger«, sagt Simon-Pierre.

Draußen sitzt zu später Stunde der legendäre Haschhändler Sultan im Rollstuhl und wartet auf Kunden. Jeder kennt ihn. Auch die Polizisten nebenan. Das ist der dritte Tanger-Mythos. Er geht so: Alle wissen alles. Der moralische Verstoß besteht allein darin, offen darüber zu reden. underline

Am nächsten Morgen überwindet die Sonne den Hügel des Kap Malabata, obwohl ihr Licht längst da ist. Im Café de Paris fasse ich die letzten Tage und Abende mit dem Satz zusammen: Libertinage kommt nicht aus dem Nichts.

Beim nüchternen Blick ins Geschichtsbuch sieht man Tanger im Jahr 1923 weltgeschichtlich aufsteigen, als die Stadt zu einer selbstverwalteten »internationalen Zone« erklärt wurde und das große »leben und leben lassen« begann. Damals gab es ein Kontrollkomitee, einen Verwaltungsrat und einen obersten Administrator, der mal Franzose, mal Belgier, mal Niederländer, mal Portugiese war. Es gab französische, jüdische, arabische Gerichtshöfe, aber weder Einkommensteuer- noch Zollpflicht und keine Sozialabgaben. Innerhalb der Medina existierten fast so viele Synagogen und Kirchen wie Moscheen. Man erzählt von Straßen, die nur aus Wechselstuben bestanden; bis 1956 residierten im Zentrum der Altstadt über 400 Banken. Es florierten Sex, Drugs und Knabenbordelle. Seit 20 Jahren ist der Großraum Tanger eine Freihandelszone

Am Café Hafa rollten die Schmuggler Haschischpakete den Medina-Hügel hinab in wartende Boote, und während der großen Krise in Europa brachten Vertriebene, Verfolgte und Verstoßene ihr Elend, ihre Geschichten und ihre Hoffnungen nach Tanger, das ungenanntes Vorbild für den Film Casablanca war. Allerlei diplomatische Vertretungen gab es in der Zone, Radiostationen, Agenten, Unterhändler, Nazis und Kommunisten. Während des Spanischen Bürgerkriegs, so erzählt man, saßen im Café Central spanische Franco- Faschisten und ihnen gegenüber im Café Fuentes die sozialistischen Republikaner und bewarfen einander mit Flaschen. Später schrieb Tennessee Williams irgendwo im Zoco Die Katze auf dem heißen Blechdach, verzweifelt, dass die marokkanischen Burschen sich nicht in ihn verliebten. Als Tanger 1956 in das von Frankreich und Spanien gerade unabhängig gewordene Marokko eingegliedert wurde und ein paar Jahre später die Banken schlossen, war es vorbei mit der Freizone. Tanger verblasste und verfiel.

Bis zu Beginn des dritten Jahrtausends, als König Mohammed VI. den Kurs seines Vaters änderte. Als »M6« sein Augenmerk auf die nördlichste Region seines Landes legte und Tanger und Umgebung aufs Neue zu einer Zone der Freiheit machte, einer etwas anderen, aber mit ähnlichen Vergünstigungen. War die Stadt einst Zone der Freigeistigkeit, ist der Großraum Tanger seit 20 Jahren die Freihandelszone für eine Unternehmen aus aller Welt anwerbende Hightech- Industrie. Mit Geld aus Saudi-Arabien, den Emiraten und China hat »M6« in den vergangenen Jahren Straßen, Spielplätze und Brücken bauen lassen, eine Hochgeschwindigkeitszugverbindung von Tanger nach Rabat und vor allem den Containerhafen Tanger-MED 1, der schon jetzt der umsatzstärkste Afrikas ist.

Ein König, der investiert, bietet Perspektiven und Zufriedenheit. Deshalb, so sagt man, habe es im Gegensatz zu Tunesien, Libyen und Algerien hier keinen Arabischen Frühling gegeben. underline

Am nächsten Morgen ab sieben inszeniert sich das Kammerspiel einer sensationellen Pastellpalette zwischen Sunrise-Rot und Bougainvillea-Violett. Das Meer zwischen Afrika und Europa, das in der Nacht eine unerhörte Weite war, scheint jetzt geschrumpft, 14 Kilometer an der engsten Stelle zwischen Tarifa und Tanger übers mare nostrum, auf dem Frachter und Tanker treiben, während in der sichelförmigen Bucht die Möwen mit irrem Gelächter ein heimkehrendes Fischerboot bejubeln. Dann wird die Morgensonne von einer Wolkenwand erstickt, was dem Meer einerlei ist; es gibt ja nichts Unbeeindruckbareres als ein Meer.

Mit einem Fingerschnippen ist Spätnachmittag, und in den neuen, spiegelverglasten Bürogebäuden sucht sich die untergehende Sonne auf rapsgelbe Art ein Geviert. Um 17.48 Uhr ruft der erste Muezzin zum Abendgebet, dem maghreb. Der Lautsprecher knackt, ein tiefer Atemzug, dann nimmt die Stimme Anlauf und schwingt sich eine Oktave hinauf, während mindestens vier andere einzustimmen beginnen und sich über die Stadt ein anschwellender Chorgesang ergießt: Allah ist groß.

Um 18.30 Uhr ist das Kunstlicht am Petit Socco goldgelb. Neon braucht es nicht, wozu Reklame, da doch alles für sich selbst wirbt? Im Café Central nehme ich einen der vorderen Plätze ein und erwarte – unbemerkt tangerisch geworden – die Heraufkunft der Dämonen, Geister und magischen Mächte. Wer, denke ich, könnte unter denen sein, die gerade hier sind? Prostituierte, Männer wie Frauen, denen man ihre Motive nicht ansähe; Poeten, die bei Minztee sitzend nichts weiter tun, als bei Minztee hier zu sitzen; Geheimdienstspitzel, die so tun, als wären sie keine, und aufmerksam lauschen, ob jemand eine Rebellion ankündigt, während doch jeder weiß, dass sie Spitzel sind; Tagelöhner aus Casablanca oder Fès, die nach Norden gekommen sind und auf den nächsten Job warten; Dandys, Schuhputzer, Schnellgeher, rauchende Ladys, kiffende Twens, vollverschleierte Mütter und immer wieder Katzen, die mitten im Trubel ihre Pfoten putzen.

Und kein Belmondo.

Aber es liegt eine Hand auf meinem Arm, ganz zart. Wird es billig? Ich drehe mich um.

»Amigo, Hasch Hasch?« underline

Am nächsten Morgen, dem letzten, ist es derart diesig, dass nichts die Illusion widerlegen könnte, am Saum eines unendlichen Ozeans zu stehen. Andalusien ist verschwunden. Weit davon entfernt, die Abwesenheit des köstlichen Lichts, das den Maler Henri Matisse während zweier Winter in Tanger verzückte, als Signal zum Aufbruch zu deuten, zupft der Mythos an mir. Ich fange an, Tanger zu riechen, und vielleicht rieche ich selbst schon nach Tanger. Der Geruch von Tanger, sagt man, sei besonders, die Luft von zwei Meeren, das verdunstete Salz in der Atmosphäre, die Schwaden frischen Fischs aus der zentralen Markthalle.

Auf der Suche nach einem Vorbild für Neugier, Toleranz und Respekt in einer Welt voller Hass und Beschränkung strahlt das von sich unbeeindruckte Tanger wie eine Verheißung. Und die geht so: Es wird immer einen nächsten Morgen geben, und am nächsten Tag kommt immer eine Sonne, fast immer, und ich denke, das ist all right.

INFORMATIONEN Das Hilton Tanger City Center hat vor Kurzem eröffnet und liegt direkt am neuen Bahnhof, wenige Schritte vom Strand entfernt. Edles Ambiente, sehr gute Betten und ein wunderbarer Blick über Stadt und Meer aus dem Frühstücksraum im 15. Stock. DZ ab ca. 100 €, Homepage. Ebenso ansprechend, aber etwas günstiger ist das Hilton Garden Inn, direkt neben dem großen Bruder gelegen. DZ ab ca. 80 € .

Im Gran Café de Paris am großen Boulevard Pasteur Richtung Altstadt sitzt man im Parkett mit Blick auf das Theater der Stadt. Das Café Central im Zentrum des Zoco Chico ist der ideale Ort, um bei Café au Laitoder Minztee ungestört den Trubel in der Medina zu beobachten.

Mehr Informationen zu Tanger gibt es beim Marokkanischen Fremdenverkehrsamt, das auch die Reise unseres Autors unterstützt hat, visitmorocco.com/de

Fotos (v.o.): Getty Images; Christian Schüle; Getty Images; Christian Schüle; Mazodier/Le Figaro Magazine/laif (2); Getty Images; Christian Schüle; Illustration: Katrin Guddat für DIE ZEIT nächster Artikel: Lichtblicke 16 Orte zum Warmwerden, direkt um die Ecke

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

TIPPS Lichtblicke

16 Orte zum Warmwerden, direkt um die Ecke 1 underline Wenn ich Ihnen erzähle, dass die Besitzer das ganze Jahr über Schwarz tragen, im weitesten Sinne also irgendeiner Kategorie des Genres »Goth« angehören, blass und schmal sind, aus Norditalien nicht zuletzt wegen ihrer Liebe zu der Berliner Band Einstürzende Neubauten in die deutsche Kapitale gezogen sind, wenn ich Ihnen sage, dass ihr Laden nach einem Film von Werner Herzog benannt ist und die Eissorten nach Songs von David Bowie oder Nick Cave, dann werden Sie vielleicht denken, aha, das ist mal wieder so ein schickes Berliner Ding, prätentiös, da gehe ich nicht hin, ich will nämlich bloß ein Eis essen und keine experience experiencen. Und vielleicht wäre mir das fast recht, denn die besten Dinge will man ja eigentlich am liebsten für sich behalten, und bislang ist die Schlange vor dem Cuore di Vetro sogar an den heißesten Sommertagen noch halbwegs erträglich, dann steht man bloß fünf Minuten an, das ist in einer Stadt, in der alle immer nach dem tollsten Ding für unter drei Euro suchen, gar nix. Dann würden Sie aber trotzdem einen Fehler machen, denn das Eis in diesem kleinen Laden in der Max-Beer-Straße ist das beste Eis überhaupt oder jedenfalls bestimmt so gut wie in Ihrer liebsten Gelateria in Italien. Essen Sie: Pistazie, den wahren Lackmustest einer jeden Eisdiele, und sagen Sie mir dann, dass diese kühle Crème mit Nüssen aus dem sizilianischen Bronte Ihnen nicht Tränen des Glückes in die Augen treibt. Oder nehmen Sie eine der fantastischen Eigenkreationen des Etablissements, zum Beispiel Black Star (#bowie), Maronencrème und Tabak. Wenn Sie kein Eis mögen: Die Kuchen, sogar die Käse- und Wurstplatten, die man Ihnen serviert, sind auch fabelhaft. Die Besitzer sind die nettesten Menschen der Welt, und wenn man, wie ich, im Sommer täglich erscheint, fragen sie nett nach Frau und Familie und so. Der Laden hat übrigens auch im Winter auf, und ich gestehe, dass ich erst kürzlich wieder dort gewesen bin und meine Waffel in der behandschuhten Hand hielt. Es war natürlich köstlich. Aber ich gestehe: Es war sehr kalt. In der Sonne schmeckt es besser.

Alard von Kittlitz

2 underline

Auf der blauen Mauer, wie die Schwäbische Alb bei Mörike heißt, steht eine Burg aus dem Mittelalter, der Hohenneuffen. Der beste Ort in Württemberg, um die Sonne zu begrüßen: An einem Kiosk holt man sich Bier und Maultaschen und sitzt dann, bei herrschaftlichem Ritterblick, auf Holzbänken und sieht die Frühlingsvögel ins Tal gleiten. Für die Faulen: Man kann mit dem Auto bis zur Burg fahren. Wer sich die Maultaschen erlaufen will, hält auf einem nahe gelegenen Wanderparkplatz: Eine gute Stunde am Albtrauf entlang, genau an der Kante, wo der bewaldete Berg ins Tal hinabfällt, läuft man an Felsen vorbei, Drachenflieger starten dort, und man sieht diese milchige Diesigkeit über dem Tal, nebliges Flimmern, ganz hinten Stuttgart. Und der Himmel: blau, weiß, lila, grau.

Felix Dachsel

3 underline Ein Spaziergänger braucht Mut zum Kitsch und zur Spießigkeit, denn nichts anderes als kitschig und ein bisschen spießig ist ja der Spaziergang, wenn er gut ist: Flanieren zum Lustgewinn, am besten sonntags in der Frühlingssonne. Mein Lieblingsort sind die Saale-Unstrut-Weinhänge, auf halber Strecke zwischen Leipzig und Weimar, eine der romantischsten Weinbergswanderrouten überhaupt. Man läuft unten an der Saale entlang oder oben auf den Hügeln, sieht Steilterrassen und Weinbergshäuschen, bewaldete Kuppen und grüne Felder, dazwischen Reben und Reben, und irgendwo in der Ferne steht immer noch ein hochmittelalterliches Schloss, tuckert ein Boot, öffnet sich noch ein Blick, der so schön ist, als wolle eine höhere Macht sagen: Glückwunsch, du hast dich zum Kitsch bekannt, du darfst den Ehrentitel tragen – Spaziergänger.

Martin Machowecz

4 underline Die Sonne ist aus Neon und hängt über einem Berg von viereinhalb Meter Höhe. Es ist nicht schlimm, wenn man abrutscht. Der weiche Mattenboden und die geringe Höhe verhindern einen tiefen Sturz.

Bouldern: Freiklettern in Absprunghöhe, ohne Seil oder Sicherung.

Bouldern, das ist meine liebste Wintersportart. Boulder heißt »Brocken«, und ursprünglich hieß Bouldern, irgendwo bei gutem Wetter an einem Findling herumzuhampeln. Ein Zeitvertreib für Kletterer zwischen den eigentlichen Klettergängen. Längst ist das Bouldern aber domestiziert worden (Halle! Neonsonne!) und von den Beschränkungen der Natur (Gutes Wetter! Findling!) befreit. In vielen großen Städten haben Boulderhallen eröffnet. Nicht weit von meinem Zuhause in Hamburg entfernt gibt es seit dreieinhalb Jahren das FLASHH, außen eine alte Gewerbehalle, innen ein Erwachsenenspielplatz für sonnenarme Tage. An weißen Wänden von unterschiedlicher Neigung führen kunterbunte Griffe seit- und aufwärts. Jede Route hat ihre eigene Farbe, für jeden Geschmack gibt es Schwierigkeitsstufen: von einsteigerleicht bis aufstiegunmöglich.

Kreide an die Hände, den Kunstberg hoch, zur Neonsonne. Here it comes.

Stefan Schmitt

5 underline Die Wetter-App zeigt Wolke, Sonne, Westwind und den geschlossenen Regenschirm – perfekt für einen Märztag an der Nordsee. Nimm den winddichten Anorak, zieh feste Schuhe an, und pack Stirnband, heißen Tee und Schokolade in den Rucksack. Und für jeden muss ein weiches, breites Wolltuch mit, das nicht nur Schal, sondern auch Decke sein kann. Kalte Knie sind ungemütlich dort, wo wir die nächsten zwei Stunden verbringen wollen: in einem der Strandkörbe, mitten in der Wattwüste vor St. Peter-Ording.

Da stehen sie auf Holzpodesten sicher vor der Flut und wenden in Reih und Glied ihr Gesicht vom Wind ab und der Sonne zu. So früh im Jahr sind es noch wenige. Zum Glück kommt hier keiner auf die dumme Idee, die Körbe mit Gittern zu verschließen, vor welchem Unbefug auch immer.

Wir sitzen. Kniebänke quietschend rausgezogen, Wolltücher über die Knie drapiert und gern auch noch die Watteweste übergestreift.

Wir kucken. Wenig Möwen heute, oder?

Wir schweigen. Kommt ein Wärter zum Kassieren? Nö, das lohnt noch nicht bei den paar Piepeln weit und breit. Ganz schön grau das Meer, heute. Hol mal den Tee raus – ach, schade, den Rum haben wir diesmal vergessen.

Na, zum Herbst dann wieder!

Iris Mainka

6 underline

Natürlich könnte man sich einfach am nördlichen Ende des Frankfurter Günthersburgparks auf eine der Bänke setzen, das Gesicht in die Sonne, die Augen geschlossen. Man könnte das Flackern genießen, das durch die Schatten der Spaziergänger auf die Netzhaut springt, und sich aus Gesprächsfetzen sein eigenes Hörspiel zusammenstellen.

Doch warum Hörspiel, wenn man durch unzählige Kanäle im Cinemascope- Format zappen kann? Also ein paar Schritte weiter. Ein Polizistentrio sucht in den Büschen nach Drogen, der Qi-Gong-Mann betreibt seine Kunst etwas abseits hinter den Apfelbäumen, Jugendliche üben sich auf der Slackline.

Dann wieder eine Bank. Meditieren über die Muster, welche die noch kahlen Äste der Kastanien auf die Wiese zaubern.

Sandra Danicke

7 underline Wenn die Zeit es zulässt und das Wetter auch, dann es geht nach Hause an die Küste. Nach Fedderwardersiel an der Wesermündung. Das Land ist in dieser Gegend so flach, dass Fahrschüler Anfahren am Berg an den Deichauffahrten üben. Diese paar Meter gilt es zu erklimmen, und dann liegt einem die Welt zu Füßen. Bei gutem Wetter schaut man rüber zum Containerterminal nach Bremerhaven, das gut 15 Kilometer entfernt liegt. Wind weht hier so verlässlich, wie die Ebbe die Flut ablöst. Meist kommt er einem entgegen. Schafe blöken, grasen, treten den Deich fest. Wenn die Sonne rauskommt, wärmt sie das Gesicht, und wer mag, geht direkt ans Wasser und schaut den Gezeiten bei ihrer Arbeit zu. Am Ende steht die Fischbude in Burhave. Eine geräucherte Makrele und ein Jever aus der Flasche.

Claas Tatje

8 underline »An besonders schönen Tagen / ist der Himmel sozusagen / wie aus blauem Porzellan.«

Ein solches Wetter erlaubt keinen Aufschub. Also macht man es wie Erich Kästner und fährt Im Auto über Land, so heißt sein Gedicht, über die A 5. Runter bei Auerbach, und hinein in dieses Seitental vom Odenwald. Das Ziel ist ein versteckter – nein, ein wunderbarer Park. Genauer, ein englischer Landschaftspark, von der fürstlichen Familie der Hessen-Darmstädter vor mehr als 200 Jahren angelegt. Für den Sommer, da wollten sie ihre Ruhe. Daher »Fürstenlager«.

Zum Auftakt geht es durch die Lindenallee, über den Köpfen schweben Misteln, groß wie Medizinbälle, Entengeschnatter empfängt den Besucher auf dem Weiher, dann das »Dörfchen«. Mit Kavaliersbau, Konditoreibau, Wachen und Remisen im Puppenstuben-Format. Ringsum wandert das Auge über Wiesen, terrassierte Hänge und, wie es sich für einen ordentlichen englischen Park gehört, kleine Tempel, Aussichtsplätze, botanische Attraktionen, damit wir uns fühlen können wie halb in Italien. Die Buchen hüllen sich in hellgrüne Schleier, Magnolien strecken ihre Blüten aus, Mandelbäume, wie in Badeschaum getaucht, dazu das Pink-pink-pink der Kohlmeisen, die keine Ruhe geben.

Wie jede historische Gartenanlage lebt auch diese von ihren Fenstern, von der Aussicht in die Ferne, hinein in die Streuobstwiesen des Odenwalds. Noch ist es früh im Jahr, zu früh für die Schafe, die sonst auf halber Höhe weiden. Stattdessen gibt sich der Taschentuchbaum Mühe, jeden Flaneur herbeizuwinken – sein Trick sind weiße Hochblätter, die zwischen den Zweigen flattern wie frische Tempos.

Wohin als Nächstes? Zum Freundschaftstempel von »Ludwig und Emil«, Baujahr 1824? Zum Mammutbaum, einem imposanten Riesen, gepflanzt 1826, dem ältesten im ganzen Land? Zur Dämmerstunde jedenfalls geht es bei der »Funzelführung« mit Fackeln hügelauf, hügelab zwischen Weinbergpfirsichbäumen. Der Frühling ist da.

Anna von Münchhausen

9 underline

Wenn die Boote noch auf dem Bauch liegen, am Ufer der Dahme, wenn die Bäume dort noch nackt im Herbstgerippe stehen und in ihnen erst langsam die Gedanken an Fotosynthese reifen, während die ersten Knospen sprießen, dann hat es die Sonne ganz leicht, weil kaum ein Blatt ihren Strahlen den Weg versperrt. Dann fallen sie einem warm ins Gesicht, und je länger man da sitzt, auf einer Bank beispielsweise, auf einem Steg, und den seichten Wellen des schmalen Stroms beim Sich-Kräuseln zusieht, desto mehr verwandelt diese wohlige Wärme auf der Stirn sich in eine wirklich exzellente Laune, da draußen, sagen wir in Prieros, nur eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von Berlin- Neukölln, sodass man irgendwann nicht mehr anders kann, als eines der Boote auf den Rücken zu drehen und ins Wasser zu lassen und zu hoffen, dass der Außenborder knatternd aus dem Winterschlaf erwacht. Und dann sind es über die Dahme nur ein paar Minuten zu einem dieser vielen Seen, nehmen wir gleich den Streganzer, auf dem man den Anker werfen kann und in den Himmel schauen, sodass der Sonne wirklich überhaupt nichts mehr im Wege steht. Und sollte einem die Sache dann irgendwann, wovon eigentlich nicht auszugehen ist, entweder zu warm oder gar zu langweilig werden, dann kann man am Hotel Waldhaus anlegen und beispielsweise einen der Fische essen, die sich irgendwo in all diesen Brandenburger Seen und Flüssen verstecken.

Johannes Gernert

10 underline

Dass die meisten mit Magdeburg nur Grau und Leere verbinden, liegt vor allem an dessen Bahnhofsvorplatz. Zugegeben, der ist wirklich nicht schön, das kann auch eine Sonne nicht ändern. Aber Magdeburgs Charme entdeckt man eben erst auf den zweiten Kaffee, und für den entfernt man sich dann am besten von der Deutschen Bahn, aber gar nicht viel: nur 850 Meter weiter, elf Minuten oder zwei Zigaretten, hin zum Domplatz. Wenn man Glück hat, sieht man auf dem Weg dahin schon die Sonne Sterne werfen in die Fenster des Hundertwasserhauses. Ja, ein Hundertwasserhaus, in Rosa sogar. Und dann steht man schon auf dem Domplatz, und hier setzt man sich ins Il Capitello. Es muss vormittags sein, dann kann man in der Sonne sitzend ostdeutsche Schönheit genießen: auf der einen Seite das Gebäude des Landtags, ursprünglich mal im 18. Jahrhundert erbaut, im Zweiten Weltkrieg zerstört (wie das meiste in Magdeburg), aber später wieder aufgebaut. Und auf der anderen Seite der Dom, das Wahrzeichen der Stadt. 800 Meter hoch, der älteste gotische Kathedralenbau Deutschlands, was wegen des Kölner Doms nur immer alle vergessen. Und wenn die Sonne dann hinter den Häusern verschwunden ist, geht man einfach noch 200 Meter weiter, vier Minuten oder eine Zigarette, und steht auf dem Fürstenwall. Die Promenade ist das Herz der Altstadt, irgendwo hier ist immer Sonne. Kein Grau weit und breit.

Valerie Schönian

11 underline Drachenfels. Kann ein Wort düsterer dräuen? Verhängnisvoller, schattenhafter? Existiert er überhaupt, dieser Ort, an dem im Nibelungenlied Siegfried den Drachen tötet? Ja, es gibt ihn. So wie die Ausfahrt Siebengebirge auf der A 3. Die nimmt man und sitzt kurz darauf in einer Zahnradbahn. Seit 1883 führt sie auf den Berg mit seiner Burgruine hoch über dem Rhein.

Dass hier ausgedunkelte Winterseelen ein Rendezvous mit der Sonne haben können, glaubt zunächst keiner. Kahles, trauriges Geäst wischt über die Zugfenster. Draußen zieht die Weinstube »Bei Onkel Hakki« vorbei, dann kriecht der Triebwagen zwischen Erdwällen bergan. Die nasse Kälte der vergangenen Monate hat sie in ein schmutziges Grünbraungrau verwandelt.

Es folgt ein steiler Wald, eine epische Rechtskurve – und plötzlich explodiert das Licht, als führe man in den Himmel auf. Der Blick wird weit, die Brust auch. Am Horizont die Hügel der Eifel im Sonnenglast. Tief drunten tanzen Dunstfetzen über den Ausläufern des Siebengebirges, gleißt der Rhein in seinem Tal wie Silberbesteck in einer aufgerissenen Schublade. Nach der Ankunft nimmt man fast Haltung an. Steht über der Welt und wird das Gefühl nicht los, Caspar David Friedrich male einen gerade von hinten.

Das Restaurant auf dem Gipfelplateau war lange Inbegriff deutscher »Draußen nur Kännchen«-Spießigkeit. Doch seit hier renoviert wurde, hat lichter Stil den Kaffeefahrt-Muff vertrieben. Im Glaskubus des Restaurants holt man sich einen Riesling von den Weinbergen ringsum. Setzt sich auf die schon warme Mauer vor der Abbruchkante. Trinkt und seufzt und hält sein Gesicht in die Sonne. Ab jetzt wird alles gut.

Wolf Alexander Hanisch

12 underline

Wanderungen haben das Potenzial, ganze Familien zu entzweien – da gibt es nichts schönzureden. Die einen wollen wenigstens am Wochenende raus an die frische Luft. Die anderen können sich nichts Langweiligeres vorstellen. Für dieses Problem hat Leipzig eine Lösung parat: den Fockeberg. Das ist ein im Grunde lächerlich winziges Bergchen, das nur existiert, weil hier 1947 Trümmerteile zusammengetragen wurden – und inzwischen eines der beliebtesten Spazierziele der Stadt. Um dorthin zu gelangen, muss man nicht einmal zu irgendeiner Straßenbahn-Endhaltestelle fahren, nein: Man begibt sich einfach in die Südvorstadt, wo vor allem Studenten und junge Familien leben. Ganz im Westen dieses Viertels liegt besagter Fockeberg, 153 Meter hoch. Wenn man den im ansonsten flachen Leipzig erklimmt (es dauert ungefähr zehn Minuten), dann kommt es einem tatsächlich so vor, als besteige man, regelrecht, einen Berg. An den Hängen stehen dicht die Bäume, die einem vorgaukeln, man befinde sich mitten in der Natur. Ganz oben, auf den Bänken, sitzt man dann in der Sonne und guckt über die Stadt. Da kommt Wanderlust sogar bei denen auf, die nicht gerne wandern.

Anne Hähnig

13 underline

Fliegen können, das wär’s. Den Kopf über die Hausdächer strecken. Von oben auf die Bürogebäude blicken. Durchatmen. Im Winter, wenn die Baumwipfel kahl sind und der Beton noch grauer scheint als sonst, geht mir dieser Gedanke häufig durch den Kopf. Bin ich in so einem Moment gerade zufällig in Köln, dann steige ich in die U-Bahn 3 oder 4 und fahre zum Hans-Böckler-Platz. Ein kurzer Halt im Café Stadtgarten, eine heiße Schokolade zum Mitnehmen, bitte. Mit dem Pappbecher in der Hand biege ich nun in den kleinen Park – ein bisschen schneller natürlich, damit die Schokolade nicht kalt wird. Bis ich zu meiner Linken den schmalen Weg wiederfinde, der versteckt hinter ein paar Büschen liegt und mit jedem Meter weiter ansteigt. Über eine kleine Brücke, die über Bahngleise führt. Bis zu der kleinen Steintreppe mit den bunten Graffiti. Hier mache ich halt, setze mich auf eine Stufe und blicke mich um. Auf einmal liegt alles vor mir: die Brücke, die Bahngleise, der kleine Park, die Dächer der Cafés. Am Horizont der Dom und bei schönem Wetter die Sonne. Dann nehme ich einen Schluck Schokolade und atme durch. Fühlt sich fast ein bisschen an wie fliegen.

Laura Cwiertnia 14 underline

Dunkeldeutschland leuchtet. Ausgerechnet hier, in der Stadt von Pegida und Richard Wagner und August dem Starken, wo Traditionen die Zukunft verschatten. Du musst nur weg von den Dresdner Sehenswürdigkeiten, auf die andere Seite der Elbe, über die Brücke, die »Blaues Wunder« heißt und aussieht wie ein gestürztes Stück Eiffelturm. Dort, im Stadtteil Loschwitz, läufst du den Berg hinauf. Erst auf dem Veilchenweg, später auf dem Steinweg, beide steil. Unter dir geflickter Asphalt und Kopfsteinpflaster. Über dir Baumkronen und die Schienen der Schwebebahn. Neben dir Hecken, Mäuerchen und Büsche voll zirpender Insekten. Und irgendwann auch der Blick über die Stadt. Je weiter oben, desto besser die Sicht. Am besten ganz am Ende des Weges, bei der Schwebebahn-Endstation, auf dem Plateau mit dem Baum und den Bänken. Dort sitzt du und siehst alles. Die Elbe, glitzernd. Die Elbwiesen, grün. Dahinter Häuser, die eher Anwesen sind. Noch weiter entfernt die Kuppeln der Altstadt, schimmernd. Am Horizont die Sächsische Schweiz, sonnenbefleckt. Alles ist erleuchtet. Und wenn die Dunkelheit hereinbricht, schwebst du in einer Gondel davon.

Rudi Novotny

15 underline

Die Qualität der gebotenen Fußballkunst ist meist überschaubar. Da es in Hamburg aber keine ernst zu nehmende Alternative zum FC St. Pauli gibt, geht man trotzdem ans Millerntor und gibt die Hoffnung nicht auf.

Und obwohl sie selten eingelöst wird, muss man sich den Fan des Kiezclubs nicht als permanent Enttäuschten vorstellen, erst recht nicht den Fan auf der Gegengeraden. Dort nämlich löst sich der vermeintliche Widerspruch Hamburg – Sonne auf, wenn bei einem spätwinterlichen Nachmittagsspiel in der zweiten Liga (es beginnt um eins oder halb zwei) zur zweiten Halbzeit das Zentralgestirn hinter der Stadiondachkonstruktion hervortritt, als glühender Ball über der Südtribüne durch den Himmel zieht und insbesondere den Block E im Stehplatzbereich der Gegengeraden in güldenes Licht taucht.

In solchen Augenblicken kann ein Mensch (im grellen Gegenschein nach den fast unsichtbar gewordenen Spielern und dem Spielgerät spähend) erfahren, dass er die Ray-Ban-Sonnenbrille nicht vergebens gekauft hat. Er bekommt eine Vorahnung vom Sommer, von der Riviera, dem Cuba Libre, dem Sand auf der Haut, auch wenn das Bier im Becher noch gefroren ist. Selten wird das Glück vollkommener: Es fällt ein Tor.

Urs Willmann

16 underline Nein, nein, Sie wollen im März nicht auf Parkbänken sitzen und die Sonne anlächeln, weil diese Sonne im März so gut wie nie erscheint und, wenn sie es doch tut, völlig lächerlich ist und somit Sie, die Sie tapfer versuchen, positiv zu denken und aktiv zu sein, mit lächerlich macht. Das wäre traurig und würde nicht nur Sie, sondern auch Menschen, die Ihnen dabei zusehen müssen, noch trauriger machen, denn alle Beteiligten würden einander daran erinnern, dass sie weder die Zeit noch das Geld haben, irgendwohin zu fahren, wo es warme Sonne gibt, eine Gesamtlage also, die man nur als traurig bezeichnen kann, und deswegen ist im Grunde alles klar: Sie bleiben im Bett. Denn dort können Sie viele sinnvolle Dinge tun (schlafen, essen, lesen, Serien gucken), ganz ohne zu frieren und dabei irgendwie auszusehen, denn es sieht Sie ja niemand. Wenn Sie nun mit Gewissensbissen kämpfen, weil Sie im Internet so oft gelesen haben, dass Sie ein aktiver, sportlicher Mensch sein sollten, ist es sogar möglich, Ihr Verbleiben im Bett als Akt des Widerstands zu überhöhen, mit dessen Hilfe Sie sich gegen das sogenannte #System richten. Nonkonformistisch liegen Sie im Bett herum, schlafen, kaufen keine überteuerten Zimtschnecken mit Strassapplikationen, twittern keine Fotos von sich, wie Sie an der frischen Luft Gebäck zu sich nehmen (#lifeisgood) und wie vorbildlich Sie Ihr Leben genießen, und helfen somit anderen Menschen, ihr Leben ebenfalls etwas weniger vorbildlich zu genießen.

Antonia Baum

Fotos (v.o.): Stephen Shepherd/plainpicture; Getty Images; Peter Hirth/laif; Anna Stubbe; Roy Jankowski/plainpicture; F1online/Getty Images; akg-images; Getty Images; Dagmar Schwelle/laif; ballyscanlon/plainpicture nächster Artikel: Kanalküste Es gibt einen Ort, an dem das ganze Jahr über die Sonne scheint. Man muss sie nur anknipsen

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

DYMCHURCH England, Regen, 34 °C

Die Kanalküste ist bekannt für miserables Wetter. Aber es gibt einen Ort, an dem das ganze Jahr über die Sonne scheint. Man muss sie nur anmachen

Links: Dymchurch am späten Abend, die Sonne brennt Rechts: Dymchurch am frühen Morgen, Sonne nicht im Bild

VON KARIN CEBALLOS BETANCUR

Es war einer dieser Tage im Januar, wenn die Euphorie über den Beginn von etwas Neuem längst verflogen ist. Der Winter schwappte grau und graupelnd gegen die Scheiben, auf dem Schreibtisch trotzte eine Lichtpfütze der endlosen Dämmerung, und am Telefon erzählte Simone, dass sie es satthat, in der Kälte zu sitzen. Dass ihre Glieder schmerzen. Dass sie an einem Ort sein will, an dem die Sonne scheint, verdammt.

Ich sagte: Komm, wir fahren nach England!

Und sie: What?

Und ich: Vertrau mir.

Das Ferienhaus habe ich vor ein paar Jahren im Internet gefunden, als ich beim Rumgoogeln über den Namen stolperte. Es heißt Beach Sun Retreat, steht aber in Dymchurch an der britischen Kanalküste, etwa eine halbe Autostunde südwestlich von Dover. Als Eigentümer eines eine halbe Autostunde südwestlich von Dover gelegenen Ferienhauses hat man natürlich erst mal ein Problem, wenn man seine Immobilie nicht nur im August vermieten will. Es sei denn, man lässt die Sonne rein und macht die Tür zu. Wir buchten für drei Nächte.

Laut einer Umfrage des Reiseportals lastminute.de ist Deutschen im Urlaub am wichtigsten: gutes Wetter (47 Prozent), gutes Essen (32 Prozent), Zeit mit den Liebsten zu verbringen (27 Prozent). Für unseren Aufenthalt in England waren im Schnitt acht Grad Celsius und Sturmböen vorhergesagt, aber meine Freundin Simone immerhin mag ich sehr. Man kann mit ihr über vieles reden, im Grunde über alles, nur Schweigen ist schwierig. Wir hatten beschlossen, einen Mietwagen zu nehmen, und uns dabei vom Linksverkehr ein bisschen Abenteuer versprochen – ein wichtiger Urlaubsaspekt, den die Deutschen in besagter Umfrage leider unterschlagen. Ich fuhr, Simone beifuhr und fütterte mich unterwegs mit Ingwerkeksen. Wir erreichten das Beach Sun Retreat am Nachmittag.

Das Beach Sun Retreat, in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert

Das Haus, taubenblau und weiß gestrichen, liegt am Ende einer Straße, direkt hinter dem Deich. Es stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde ursprünglich von Pfarrern der örtlichen Kirche genutzt. Mehr als 100 Jahre lang war es ein Hotel, in dessen Garten zuletzt ein russischer Panzer gestanden haben soll, warum auch immer. 2010 übernahmen die heutigen Besitzer den Betrieb und vermieten es seitdem als Ferienhaus. »Strand, Meer und heilende Sonne garantiert«, heißt es auf ihrer Website, »all year round«. Ausschlafen, Sonne tanken

Wir betreten das Beach Sun Retreat durch die schmale, doppelflügelige Eingangstür und stellen das Gepäck an der alten Rezeption ab. Wir inspizieren die Küche mit dem zehnflammigen Gasherd, die gediegenen Schlafzimmer mit ihren Kissenbergen und aufwendig geschnitzten Betten, die geräumigen Badezimmer. Dann öffnen wir die Tür zum Strand.

Ich: Na?

Und Simone: Ein Traum!

In der hinteren Ecke des riesigen Wohnzimmers stehen drei Sonnenliegen vor einer Leinwand, die mit einem mutmaßlich karibischen Strandmotiv bedruckt ist. Daneben sprießen Plastikpalmen und Plastikfarne zwischen Muscheln auf Vogelsand. Die Sonne geht im Norden auf, knapp unterhalb der Zimmerdecke, und zwar wann und sooft man will: drei rechteckige Strahler, die natürliches Sonnenlicht imitieren – Real Sunlight, das Produkt eines schwedischen Herstellers, der »moderates Bräunen bei 100 Prozent sicherem Sonnenbaden« verspricht. Die Strahlen sollen auch alle möglichen Gebrechen lindern, von schlechter Laune bis zu schmerzenden Muskeln und Arthritis. Fototapete, Plastikpalmen, Sonnenliegen

Auf dem Touchscreen stehen drei Programme zur Auswahl: Miami, Bali und Mauritius. Jedes Programm dauert jeweils eine Stunde. Wir starten mit Florida. Auf Knopfdruck beginnen die Scheinwerfer träge zu blinzeln, dann schalten sie auf gleißend weißes Mittagslicht, so hell, dass wir die Augen schließen müssen. Florida surrt, was die Künstlichkeit des Arrangements vergegenwärtigt, aber trotzdem nicht weiter stört, weil Simone bald anfängt, laut darüber nachzudenken, wie es wäre, die Anlage zu Hause in ihrem Wohnzimmer zu installieren. Sie würde das gerne mit ihrem Smartphone im Internet recherchieren, aber die Spots strahlen zu doll, und Sonnenschirme gibt es nicht. Dafür wird es langsam warm. Das Gäste-Handbuch legt nahe, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen, während das Programm läuft, um so viel Licht wie möglich an die Haut zu lassen. Laut Touchscreen-Anzeige sollten es jetzt 34 Grad sein, Miami am Mittag halt, stattdessen fühlt es sich an wie Nizza im April. Kein Bikiniwetter, aber immerhin gemütlich. Wir lassen Pullis, lange Hosen und Socken an, draußen heult der Wind. Ich überrede Simone, uns Sekt aus der Küche (England) zu holen. Für mehr als Alkohol mit einem Schuss Vitamin D reicht unsere Energie am ersten Abend nicht. Es nieselt und nebelt und januart

»Bestimmt können wir heute Nacht gut schlafen, wegen der Kanalluft«, sagt Simone. »Kanalluft – das klingt gar nicht so frisch, wie ich wollte, dass es klingt.« Wir schlafen hervorragend.

Das Gute daran, den Strand im Wohnzimmer zu haben, ist, dass man keinen Parkplatz suchen, noch nicht mal eine Tasche packen muss. Zum Wachwerden gibt es eine Stunde Licht. Für den Nachmittag habe ich einen Ausflug vorgesehen: Kreidefelsen, Dover Castle, die Klassiker. Mit Sonne satt in der Hinterhand wagt man so was auch unter widrigen meteorologischen Umständen. Es nieselt und nebelt und januart. Simone wirkt unwillig. Sie sagt: »Es gibt da eine ziemlich gute BBC-Doku über Dover Castle.« Ich sage: »Nichts da.« Und: »Mauritius kann warten.« Eigentlich wollte ich vor allem das Letzte sagen. Es fühlt sich irgendwie verschwenderisch an. Beim Aufbruch reißt uns der Wind die Eingangstür aus der Hand.

Wir beginnen die Fahrt auf der rechten Fahrbahn, als uns ein Wagen entgegenkommt, ziehe ich das Lenkrad nach links. Abenteuer! Simone kaut sehr laut Kaugummi. Auf der kurvigen Landstraße breitet sich vor uns eine graugrüne Idylle aus, saftige Wiesen, Schafe, umgeben von Hecken und braunen Astfingern. Hinter uns bildet sich eine Schlange von etwa 30 Fahrzeugen, die nicht überholen können, aber gerne würden. Immerhin schwitze ich jetzt. 15 Kilometer vor Dover hüllt weißer Nebel das Auto in Watte. So bleibt es für den Rest des Tages.

Am Strand hinterm Deich

Wir fahren an den Strand von Saint Margaret’s Bay und sehen: nichts. Wir fahren zum Nationalpark White Cliffs of Dover und erkennen die Umrisse des Hafenbeckens unter uns. In einem Loch in der Nebelwand taucht für Augenblicke ein weißer Felsen auf, vielleicht. Wir fahren zur Burg. Sie hat geschlossen. Simone sagt: »Es gibt da eine ziemlich gute BBC-Doku über Dover Castle.« Wir essen Fish and Chips, weil sich das so gehört, und fahren nach Hause, wo wir als Erstes mal gepflegt die Sonne in Bali untergehen lassen. Das Licht ist weniger grell als in Miami, es dämmert goldgelb hinter den Lidern und umhüllt uns wie eine warme Decke. Die Temperaturen sind weiterhin mehr freundlich als hoch, außerdem ist der Sekt alle. Wir streifen uns die Socken von den Füßen, weil wir finden, dass es irgendwie eine Entwicklung geben muss.

Nach dem Sonnenuntergang ziehen wir ein Zimmer weiter. Das Beach Sun Retreat verfügt nämlich auch über einen Kinoraum mit alten Polsterklappstühlen, Netflix und DVDs. In der Küche steht eine Popcorn- Maschine. Wir legen die Füße hoch und schauen eine Doku über Dover Castle. Sie ist ziemlich gut. Am Tag darauf versuchen wir es noch einmal mit Kultur. Simone verlässt das Haus deutlich bereitwilliger, seit sie die Fahrten nutzt, um unterwegs auf dem Smartphone nach Bezugsquellen für Wärmelampen und technische Voraussetzungen für die Heiminstallation zu suchen. Auf dem Weg nach Canterbury trägt sie ihre Zwischenergebnisse vor, was mir insofern gelegen kommt, als sie dadurch abgelenkt ist und ihr weniger auffällt, wenn ich den Wagen zu nah an den linken Straßenrand lenke. Simone ist eine resolute, aber auch schreckhafte Beifahrerin.

In Canterbury sind sämtliche Gebäude immerhin gut zu erkennen und hinreißend englisch. Schülerinnen in Uniformen der King’s School laufen neben uns durch den Regen. In einer Kathedrale zünden wir eine Kerze an, wir besichtigen den Kräutergarten, und weil es mittlerweile nicht mehr regnet, sondern schüttet, flüchten wir in ein Café. Ich betrachte Simone, die mit beschlagenen Brillengläsern hinter einem Becher Milchkaffee sitzt. Ehrlicherweise muss man zugeben, dass wir nicht braun geworden sind, nicht mal ansatzweise. Womöglich ist Real-Sunlight-Farbe auch einfach nicht wasserfest.

Für den letzten Morgen verheißt die Wettervorhersage neben Wolken auch ein bisschen Sonnenschein. In Nachthemd und Daunenmantel lasse ich Miami, Bali und Mauritius rechts liegen und gehe die Stufen hinterm Haus zum Deich hinauf. Am Himmel regnen graue, schwere Wolken Sekundenschauer und geben dazwischen zarte hellblaue Flächen frei. Möwen schreien. Das Meer hat sich zur Ebbe zurückgezogen, Hunde springen über den feuchten, tiefen Sand. Ich setze mich auf die Stufen, die die Küste säumen wie die Sitzreihen eines Amphitheaters, betrachte die bewegten Silhouetten und warte auf den Beginn der Vorstellung. Warte. Warte. Bis die Sonne ein Loch in die Wolken geschmolzen hat und die Küste mit Licht flutet. Es ist nicht warm, aber es fühlt sich großartig an. Ein wenig so, als hätten wir es uns verdient.

INFORMATIONEN

Das Beach Sun Retreatin Dymchurch hat vier Schlafzimmer im Boutique-Hotel- Stil und ist hervorragend ausgestattet. Im Wohnzimmer, einer Art postmodernem Partykeller, gibt es neben der Strandecke unzählige Lichtquellen, deren Farbe sich per Fernbedienung verändern lässt, und ein DJ-Pult – Lautstärke ist bei dem frei stehenden Haus kein Problem. Im Kinozimmer liegen jede Menge DVDs bereit (auch 3-D-Editionen samt zugehörigen Brillen). Das gesamte Ferienhaus kostet pro Woche ca. 1370 €, beachsunretreat.com

Fotos: Karin Ceballos Betancurt für DIE ZEIT nächster Artikel: Bondi Beach Lernt unser Autor an diesem legendären Strand in Australien endlich das Surfen?

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

SYDNEY Den Beach trifft keine Schuld

Am legendären Strand in Bondi rekeln sich durchtrainierte Männer und Frauen – mittendrin unser sehr dünner, bleicher Autor. Lernt er hier endlich das Surfen?

VON LEIF RANDT

Im April 2011 habe ich einmal einen Neoprenanzug getragen. Ich fand, dass ich darin wie ein leicht untersetztes Action-Toy aussah, was mich eher positiv überraschte. Juan-Pablo, den ich seinerzeit in Lissabon besuchte, hatte mir den Gummianzug und ein übergroßes Surfboard für Anfänger geliehen. Weil er ein höflicher Mensch ist, meinte er, dass mir das Surfen sicher leichtfallen werde, wegen meiner Skate- und Snowboard-Erfahrung, aber ich ahnte schon, dass er sich irrte. Ich legte mich auf dem Brett ins Wasser und ruderte mit den Armen. Es war anstrengend und zäh. Nur einmal, als Juan-Pablo mich im exakt richtigen Moment angestoßen hatte, konnte ich für einige Sekunden über das Wasser gleiten. Eine kleine Welle schob mich in Richtung Strand, ich fühlte mich schwerelos und frei.

Das und manches mehr erzählte ich der freundlichen Redakteurin der ZEIT, als sie mir den Auftrag gab, eine teilnehmende Beobachtung über die Surfkultur am berühmtesten Strand Sydneys zu schreiben, dem Bondi Beach in New South Wales, Australien. Ich erklärte, dass ich sozusagen prädestiniert dafür sei, nun tatsächlich einmal das Surfen zu lernen, auch weil ich ja gerade diesen ideellen Turn hin zu einer stärkeren Bejahung des Moments durchlaufe.

In den Tagen vor der Abreise abonniere ich auf Instagram den Hashtag #bondibeach, was sich als wenig motivierend herausstellt. Immer wieder ist ein banaler Stadtstrand mit angrenzender Wiese zu sehen, ein Schwimmbad, das ins Meer eingelassen ist, Restauranttische, auf denen rosa Schaumwein steht, und ein kleiner Sportplatz, an dem Männer Klimmzüge machen. Ich befürchte, dass ich das Surfen am vielleicht langweiligsten Ort der Welt lernen werde. Und die einzige Frage ist, ob es mir gelingen wird, wenigstens ein Mal aufzustehen, um für drei bis zehn Sekunden das Gefühl zu haben, auf dem Wasser zu schweben, ein Gefühl, über das Juan-Pablo sagt, dass es sich auch nach Jahren noch surreal anfühlt. Drei bis zehn Sekunden, die man mit in den Schlaf nimmt und am nächsten Tag unbedingt wiederholen möchte.

Nach nur einem Tag Sonne beginne ich in den Kategorien des Sommers zu denken

Am Ankunftsmorgen bezeichnet meine Uber-Fahrerin Debby das diesig-schwüle Wetter als muggy. Mir gefällt das Wort gut. Wir reden eine ganze Menge auf der Fahrt vom Sydney Airport in den wohlhabenden Suburb Bondi, verabschieden uns auf der Curlewis Street mit einem Shakehands und bewerten uns gegenseitig mit fünf Sternen. Am Horizont kann ich bereits das Meer sehen und davor – das ist wirklich wahr – einen hageren blonden Mann, der in einem Neoprenanzug darauf zugeht. Alles kommt, wie es kommen muss, denke ich, während ich mein Airbnb-Apartment aufschließe.

»Ich habe gewiss schon breitere Strände gesehen, aber selten vollere« Dort führe ich zunächst ein Telefonat mit Thomas Jeppe, einem australischen Künstler, der ein Freund eines Freundes ist und sich bereit erklärt hat, mir Tipps zu geben. Thomas beschreibt Bondi Beach als einen stark geschichteten Ort voller Oberflächen. Das Thema Surfen spiele dort keine Rolle. Er selbst sei Surfer und würde immer viel eher an einen anderen Strand gehen, Bondi habe nicht die richtige Form für gute Wellen, man begegne dort höchstens Anfängern. Nach dem Gespräch bleibe ich noch eine Weile im Apartment sitzen und blättere im australischen Magazin Surfing Life, das ich mir am Flughafen gekauft habe. Ich hatte die Wahl zwischen drei Surfmagazinen, jedes kostete dreizehn Dollar, und ich habe mich für Surfing Life entschieden, weil das noch am wenigsten hässlich aussah und die längsten Texte hatte. Ich erinnere mich nun, da mich eine tiefe Reisemüdigkeit übermannt, dass ich als skatender Teenager vom Surfen nichts wissen wollte, auch weil mir die Surfmode überhaupt nicht gefiel. Außerdem hatte ich als Zwölfjähriger an der Ostsee einmal Mallorca-Akne gehabt, und das hat mir das Strandleben generell verleidet.

Am frühen Nachmittag spaziere ich am Bondi Beach entlang. Ich habe gewiss schon breitere Strände gesehen, aber selten vollere. Mittlerweile ist es auch überhaupt nicht mehr muggy, mir gefällt meine Sonnenbrille nur noch bedingt, aber sie nicht zu tragen ist ausgeschlossen, denn es ist viel, viel heller, als man es sich im deutschen Januar auch nur ausmalen kann. Ich spüre weder einen großen Widerstand gegen den Sommer, noch breche ich in Euphorie aus. Da sind sie also wieder, diese Dinge, von denen man sehr früh gelernt hat, dass sie einem gefallen müssen – hellblauer Himmel, Eiscreme, kühle Brandung. Ich fotografiere einen Flagshipstore der Marke Birkenstock, trage eine kurze Hose und habe den Geruch von 50-plus-Sonnenmilch in der Nase. An der Südspitze Bondis finde ich die »Let’s Go Surfing«-Surfschule, dort will ich mich eigentlich für einen Kurs anmelden. An einem Wagen werden Eisriegel verkauft

Aber erst mal laufe ich weiter bis zur Nordspitze, wo der berühmte Trainingsplatz liegen soll, von dem Thomas Jeppe mir am Telefon erzählt hat und auch, dass sich dort eine beinharte Machokultur neuerdings mit den Aufritten weiblicher Bodybuilderinnen durchmischt. Heute trainieren hier allerdings nur Männer. Der Impuls, ihre Klimmzüge und Crunches im superhellen Sonnenlicht abzufilmen, ist durchaus präsent, also stehe ich vor dem Sportplatz, als die wohl bleichste Person des gesamten Strandes, und halte mein Handy in die Luft. Ein Leben als Bodybuilder ist ein Leben für die Kamera, denke ich und gehe hastig weiter. Hinter einem Wagen, der Eisriegel für acht australische Dollar verkauft, beginnt der vielleicht verwunschenste Bereich von Bondi, ein Areal, das aus begehbaren Felsformationen besteht, mit windgeschützten Ecken, in die sich laut Thomas Jeppe vor allem die Allerjüngsten zurückziehen, um erste Male zu erleben. An einigen Stellen könne man hier von den Steinen ins Wasser springen und werde mit dem richtigen Timing von der nächsten Welle direkt wieder auf die Steine zurückgespült. Das klang am Telefon viel gefährlicher, als es vor Ort aussieht. Die Kids vom Bondi Beach wissen, wann sie zu springen haben. Um die letzte Ecke des Steinareals zu erreichen, muss ich an einigen Stellen durchs Wasser waten und überblicke nun den gesamten Strand vom Norden her: An beiden Enden liegen einige Surfer im Wasser, in der Mitte wird gebadet, dahinter beginnt die Stadt. Unser Autor, eingeschmiert mit 50-plus-Sonnencreme, auf dem Steinareal des Bondi Beach

Als am nächsten Morgen die australische Sonne in mein Zimmer fällt, spüre ich, dass sich etwas verändert hat. Konnte ich gestern nur äußerlich feststellen, dass es warm ist, beginne ich nun in den Kategorien des Sommers zu denken. Alles wird leichter und weniger bedeutsam. Ich packe eine Strandtasche mit Gummisandalen und einem Handtuch und bestelle im Frühstückscafé Swell eine crunchy Tortilla mit Avocado, Ei und Bacon. Weil im Swell viele braun gebrannte Menschen an Laptops sitzen, muss ich meinen Tisch teilen.

»How is it going?« Ich erzähle von meinem Auftrag. Als Tyson, der sich als einheimischer Grafikdesigner herausstellt, fragt, was ich als Deutscher über Bondi denke, führe ich aus, dass ich Strände für meditative Orte halte, zugleich aber das Gefühl habe, dass am Bondi Beach auch andere Kräfte wirken, womöglich kompetitive. Tyson gibt mir recht, so entschlossen freundlich, dass ich unsicher bin, ob er nicht vielleicht nur Konflikte vermeiden will. An sonnigen Orten ist es ja oft so, dass positive Vibes wichtiger sind als Inhalte, und eigentlich finde ich das gut. In seiner Kindheit sei Bondi ein normaler Vorort gewesen, meint Tyson, doch mittlerweile gebe es YouTube-Comedians, die sich hauptberuflich über den Strand lustig machten, ein wenig ermüden würde ihn das schon. »It was more fun to live the cliché before everyone knew about the cliché, right?« Tyson lacht. Zwei doppelte Espressi dampfen jetzt vor uns, und ich bitte Tyson, der auch joggt, das Runner’s High mit dem Surfer’s High zu vergleichen, und dann sagt er tatsächlich, dass er das Runner’s High mittlerweile schöner finde, da es verlässlicher eintrete, unabhängig von Gezeiten und Tagesform.

An sonnigen Orten ist es ja oft so, dass positive Vibes wichtiger sind als Inhalte

Später finde ich einen freien Sonnenschirm in der Mitte von Bondi, auf Höhe der McDonald’s-Filiale, und lese in meinem Surfing Life-Magazin ein Porträt der Profi-Surferin Keely Andrew. Diese hätte auch Tennisprofi werden können, ließ jedoch ihr Herz entscheiden. Ich lese den Text nur zur Hälfte, dann verlege ich mich ganz aufs Herumschauen. Es liest auch sonst niemand an diesem Strand, dafür ist die Dichte an pedantisch durchtrainierten und perfekt gebräunten Körpern so hoch wie vielleicht an keinem anderen Ort. Sie sitzen, liegen und posieren, oft im Paarmodus, nicht selten werden Fotos gemacht, und spürbar ist eine große Routine im Durchführen jeder Strandhandlung. Ich selbst weiß derweil nicht, wie ich mir das Handtuch an der Hüfte festbinde, ohne dass es fällt. Und obwohl ich einen Schattenplatz habe, behalte ich das T-Shirt an. Um hier wirklich anzukommen, bräuchte ich Monate, vielleicht Jahre, und das Surfen wäre gar nicht entscheidend, denke ich, Kraftsport wäre wichtiger.

»Ich bräuchte Monate, vielleicht Jahre, um hier wirklich anzukommen«

Tyson hat gemeint, dass Bondi Beach gar nicht shallow sein könne, den Beach treffe keine Schuld, wenn, dann seien es die Menschen, die hier lebten. Ich habe nicht widersprochen, aber dachte insgeheim, dass Tyson den Einfluss von Orten unterschätzt. Am Anfang designen Menschen Orte, und später designen Menschen sich auf Orte hin. Zwar gibt es am Bondi Beach keine Türsteher, die den weniger sportlichen Badegästen den Zutritt verweigern, doch es gibt die Bouncer in den Köpfen. Jeder entscheidet für sich allein, ob er an einem Ort aus der Norm fallen möchte oder nicht. In einem Moment düsterer Stimmung glaube ich, dass ich den Bondi Beach gerne unterwandern würde, mit einer Gruppe blasser, stark untersetzter Freunde, aber dann fällt mir ein, dass ich gar keine molligen Freunde habe, und ich frage mich, warum man einen Ort, an dem das Publikum braun gebrannt und durchtrainiert ist, überhaupt unterwandern sollte. Bondi ist eben ein Strand, an dem sich Menschen begegnen, die ein Interesse an perfektionierten Körpern teilen, so wie Galerien Orte sind, an denen sich Menschen mit Interesse an Kunst begegnen. Möglich ist außerdem, dass diese Leute, die über gute Gene verfügen und viel Zeit in Fitness und Bräunung investieren, moralisch integer und glücklich sind. Ich gönne ihnen ihr Glück.

Bondi Beach mit Promenade und Strandbar Vielleicht reicht es für meine teilnehmende Beobachtung auch, wenn ich einfach mehr Zeit mit Surfern verbringe, überlege ich sonnenmatt gegen Abend und nehme mir vor, betont aufgeschlossen in die gut besuchte Strandbar Bucket List zu gehen, um dort insbesondere ältere Surfer anzusprechen, die seit Dekaden mit ihrem Sport verwachsen sind. Doch vor der Bar, die mit dem Hashtag #livelovebondi für sich wirbt, kommt es zu einer Schlägerei. Neben der voll besetzten Terrasse gehen zwei Trauben aus muskulösen Kerlen aufeinander los und jagen sich gegenseitig über den Platz. Das Barpublikum bricht in helle Freude aus, reißt Biergläser in die Luft, jubelt. Die Begeisterung für die Schlägerei ist so groß, dass ich sie kurz für einen Showact halte. Dann fährt die Polizei vor.

Am südlichen Ende von Bondi befindet sich das berühmte Icebergs- Schwimmbad, das auf erstaunliche Weise verschiedene Welten unter einem Dach vereint. Im Salzwasserpool wird den Allerjüngsten das Schwimmen beigebracht, rundherum finden Fitnesstrainings statt, es gibt eine Sauna, die einen überragenden Blick aufs Meer bietet, und eine Bar, in der Touristen overdressed einkehren und Locals in Badeshorts Campari Spritz trinken. Ich schwimme drei lächerliche Bahnen, setze mich dann in den Schatten und sehe bei einem erstaunlichen Training zu. Zwei hochgewachsene Männer in schwarzen Unterhemden, eher fünfzig als vierzig und sehr wahrscheinlich schwul, lassen sich von einer ultramuskulösen Blondine kommandieren, deren Silhouette enorme Kurven mit definierten Muskeln vereint, eine comichaft übersteigerte Variation von Kim Kardashian. Hatte ich am Strand noch eine Abneigung gegen all die Fitness empfunden, bin ich von diesem Trio merkwürdig angetan. Vielleicht weil das muskulöse Herumsitzen im Sand noch eine Entspanntheit behauptet, während hier auf der Terrasse ehrlich und hart an der eigenen Überhöhung gearbeitet wird. Die Gay-Männer heben schwere Kugeln vom Boden auf und lassen sie dann wieder fallen, die blonde Trainerin steht daneben und zählt streng mit.

Der Coastal Walk führt unseren Autor von Strand zu Strand

An der Sauna hängt ein Schild, auf dem steht, dass man ohne Handtuch gar nicht erst eintreten darf, aber ich bin der Einzige, der dann wirklich auf einem Handtuch sitzt. Dass man sich im Icebergs nicht an jede Regel hält, gefällt mir, und in der Dusche begegnet mir tatsächlich ein dicker, komplett behaarter Mann, der fröhlich singt, während er sich einseift. Als ich im Spiegel meinen hellrot verbrannten Hals sehe und meinen trotz guter Laune grimmigen Blick, lache ich auf. Das Icebergs ist ein wirklich gutes Schwimmbad.

Am dritten Tag ist der Andrang vor der Surfschule groß, und die wenigsten Kunden sind schon ausgewachsen, weshalb ich unverrichteter Dinge umkehre und spontan den berühmten Coastal Walk absolviere. Die Wetterlage ist nahezu muggy, Sonnenbrandgefahr besteht dennoch. Der Spaziergang führt an mehreren Stränden südlich von Bondi entlang. Auffällig ist, dass an diesen kleineren Stränden die weit besseren Surfer im Wasser liegen, am Tamarama Beach scheinen sie jede Welle zu kriegen und dynamische Turns surfen zu können. Ich blicke eine Weile auf eine Felsformation und ertappe mich dabei, wie ich das Geräusch der brechenden Wellen mit einem laut ausgesprochenen »Baaaam« untermale – die pure Kraft des Wassers und darunter ein sich über Jahrtausende transformierender Fels. Auf einer Klippe sitzt ein Mädchen und hält eine anspruchsvolle Yogaposition erstaunlich lange, bis sie irgendwann nach ihrem Handy greift. In einer Art Vereinsheim für die australische Form von Boule trinke ich schließlich ein sämiges Cooper’s für zehn Dollar und denke, dass Beschreibungen von Orten und Situationen immer weniger notwendig sind, seit man sie jederzeit abfilmen kann. Beschreiben muss man vielleicht nur noch das eigene Befinden. Und zwar so: Mir geht es sehr gut.

Zurück an der Südspitze von Bondi, wird es gerade dunkel. Die Abendstimmung versetzt mich in eine Art sentimentale Euphorie, so als würde ich mich auf die Vergangenheit freuen. Ich blicke auf die Surfer hinab. Ein weißer Porsche fährt an mir vorbei, die Notts Avenue hinauf, am Steuer sitzt ein junger Mann, oberkörperfrei, und verlangsamt die Fahrt, um aus dem Fenster den Strand zu fotografieren, der nun, halb im Schatten liegend, gar nicht mal so besonders gut aussieht. Ich versuche den halb nackten Porschefahrer bei seinem Fotografierversuch zu filmen, weil es mir so scheint, als erzähle diese Szene etwas über Bondi, aber die Aufnahme misslingt, man sieht darauf nur einen Sportwagen auf einer Straße am Meer.

Den Termin mit dem australischen Fotografen Lynden Foss habe ich am fünften und letzten Tag. Die Redaktion hat ihm aufgetragen, dass er mich beim Surfen aufnehmen soll. In einer E-Mail erkläre ich, dass daraus nichts wird: »The story I write will deal a lot with awkwardness and the sense of being in the wrong place. Me – pale and non-muscular – in front of the musclebeach-training-spot could somehow be a motive.« Lynden ist sehr entspannt und offen für alles. Er hat vor wenigen Monaten geheiratet und ist ebenfalls am Bondi aufgewachsen. Wir essen Fischtacos, dann gehen wir fotografierend den gesamten Beach ab. Lynden erzählt, dass er jeden Tag surfe, meist direkt vor seiner Haustür. Er fragt nach meinen eigenen Surfversuchen, und ich erzähle ihm von Portugal im April 2011. Als wir das Shooting im Sonnenuntergang beenden, trifft Lynden mehrere alte Freunde, ausnahmslos Surfer. Einer arbeitet für die »Let’s Go Surfing«- Surfschule, ein charismatischer, dunkelhaariger Mann im Neoprenanzug, der sich über die Wellen des Tages beklagt und mich mit einem warmen Händedruck in Australien willkommen heißt. Er lächelt nicht, als er mich begrüßt, was ihn sofort interessant macht. Ich frage ihn nicht, ob er mir Unterricht gibt.

Bevor es gänzlich dunkel ist, ziehe ich noch einmal die Schuhe aus und spaziere zum Wasser. Früher wusste ich manchmal nicht, wohin mit meinen Armen, wenn ich mit nackten Füßen im Sand stand und aufs Meer blickte. Heute lasse ich sie einfach hängen, denn ich glaube sogar, dass eine gewisse Eleganz entsteht, wenn man auf bewusste Weise nichts tut. Für einige Minuten versuche ich mich ganz auf das Geräusch des Wellengangs zu konzentrieren, dann gehe ich ins Icebergs.

INFORMATIONEN

Das Icebergs-Schwimmbad ist Freitag bis Mittwoch von 6 bis 18.30 Uhr geöffnet; donnerstags wird geputzt. Der Eintritt (inklusive Sauna) kostet ca. 4,50 € Der Clovelly Bowling Club ist ein Vereinsheim mit spektakulärer Aussicht. Bei Nachmittagssonne erinnert die Stimmung an ein Hopper-Gemälde, clovellybowlingclub.com.au

Die Reise unseres Autors wurde von Singapore Airlines unterstützt. Die Fluggesellschaft fliegt zweimal täglich von Frankfurt nach Singapur; dort gibt es Anschlussverbindungen in verschiedene australische Städte. Tickets Frankfurt–Sydney ab 1295 €. Nähere Infos unter singaporeair.com

Fotos: Lynden Foss für DIE ZEIT; Illustration: Katrin Guddat für DIE ZEIT nächster Artikel: Die Beatles und ich Unser Autor pilgert zum Beatles-Aschram in Indien, um Frieden mit der Band zu schließen

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

RISHIKESH Frau Rieger, die Beatles und ich

Seine Englischlehrerin quälte ihn mit Beatles- Interpretationen, seine Mutter tanzte peinlich zu ihren Songs. Jetzt pilgert BJØRN ERIK SASS zum Beatles-Aschram in Indien, um Frieden mit der Band zu schließen

Gruppenbild mit Guru: Vor 50 Jahren, im Februar 1968, reisten Ringo Starr, Paul McCartney, George Harrison und John Lennon mit großer Entourage nach Indien

Wenige Bands sind mir je so auf die Nerven gegangen wie die Beatles. Daran wirkten zwei Frauen mit. Meine Mutter war ein Fan dieser Musikgruppe, sie rangierte bei ihr noch vor dem Don Kosaken Chor und Boney M. Es konnte passieren, dass sie, wähnte sie sich allein, eine ihrer Platten auflegte und dazu vor sich hin hoppelte. Kam man unvermutet dazu, benahm sie sich fürchterlich ertappt. So reifte in mir früh die Erkenntnis, dass man diese Band allenfalls heimlich hören durfte.

Frau Rieger war meine Englischlehrerin in der Mittelstufe. Sie war Ende der sechziger Jahre jung. Also nötigte sie uns, sie zu duzen, und ließ uns Beatles- Songs interpretieren. Nie war ihr eine Deutung tiefgründig genug, immer gab es noch eine unentdeckte Metaebene, und sie ließ uns graben und graben, bis die Stücke keine Lieder mehr waren, sondern hässlicher Schutt. John Lennon weigerte sich, im Ganges zu baden – das Wasser war ihm zu kalt

Fürderhin konnte ich die Beatles nicht mehr hören, ohne schlechte Laune zu bekommen. Weil es aber heißt, dass gelassener lebt, wer Hass überwindet, habe ich beschlossen, den Engländern noch eine Chance zu geben. Das passt auch zeitlich tipptopp, denn vor genau 50 Jahren, im Februar 1968, reisten die Beatles nach Nordindien, um im Aschram von Maharishi Mahesh Yogi zu meditieren und Yoga zu machen. Bei einem seiner Vorträge auf ihrer Insel hatten sie den Guru und seine Transzendentale Meditation kennengelernt. Die versprach unter anderem, man könne lernen, aus dem Schneidersitz heraus zu fliegen, allein aus Geisteskraft. Keine Ahnung, ob die Beatles das glaubten. Aber Ende der sechziger Jahre hatten sie längst genug Platten verkauft, um die Kursgebühren zu bezahlen und es zu versuchen. Alle vier reisten damals nach Rishikesh, John, Paul, George und Ringo samt Ehefrauen, auf der Suche nach innerer Erleuchtung. Ich reise ihnen hinterher, weil tief in mir die Hoffnung schlummert, unsere Beziehung doch noch in gesündere Bahnen lenken zu können. We can work it out. Als Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band sammelten die Beatles 1967 erste Erfahrungen mit sehr bunter Kleidung

Von Delhi aus fahre ich viele Stunden mit dem Zug über brettflaches Land. Felder wechseln sich ab mit kleinen Städten, Zuckerrohrplantagen mit Bahnhöfen, an denen Menschen aus Körben Gebackenes an die Fahrenden verkaufen. Mein Ziel ist ein Vorort von Rishikesh im Bundesstaat Uttarakhand.

Nach meiner Ankunft trete ich auf den Hotelbalkon und sehe: Berge ringsumher, und unter mir fließt schäumend der Ganges über die Kiesbänke einer Flusskehre. Bis nach Nepal ist es nur ein Stückchen nach Osten, kaum weiter nach Tibet im Norden. Das Tal ist eng, überall weiß und rot und golden bemalte Tempel. Nach rechts, nach Süden, laufen die Berge aus. Dort hinaus strömt der Fluss in die Ebene, die seinen Namen trägt. Am Horizont sehe ich, wohin das führt, und es fühlt sich an, als beginne hier etwas Großes. Lichtzeremonie am Ufer des Ganges

Der Ganges bei Rishikesh

Zeit für eine erste Konfrontation. Ich starte die Musik auf meinem Mobiltelefon per Zufallsgenerator. Dazu muss man wissen, dass ich vor meiner Abreise ausschließlich Beatles-Songs in meine -Liste geladen habe, um ganz bei meiner Mission zu bleiben. Ob-La-Di, Ob-La-Da klingt an. Ich empfand das Lied immer als unfassbar schepperig und anstrengend. Geht mir immer noch so, selbst mit Himalaya im Blick. Langsam wird mir das Ausmaß dieser Herausforderung bewusst.

Tea-Time in Rishikesh mit heiliger Kuh

Den Hindus ist Rishikesh eine heilige Stadt, im Tal der Heiligen gelegen, am heiligen Fluss Ganges, ebenso heilig sind die Kühe in den Straßen. Und jeder Mann, der ärmlich aussieht und leider nicht arbeiten kann, weil er den Göttern nah sein will, und der dafür Spenden anzunehmen bereit ist, der ist ein Sadhu und, logisch, auch heilig. Und weil so viel Heiligkeit in der Luft liegt, versuchten sie hier schon immer, dem Göttlichen näherzukommen. Es heißt, Yoga sei in diesem Tal entstanden. Die Stadt hat 70 000 Einwohner. George Harrison hatte Indien schon vor den anderen Beatles für sich entdeckt (hier ein frühes Selfie, 1966 vor dem Tadsch Mahal)

Bei meinem ersten Rundgang gehe ich vorbei an Läden mit Schmuck, mit Yoga- Literatur, mit Klamotten mit Sanskrit-Om darauf, vorbei an Garküchen, an Chai- Schänken, an propangasbetriebenen Popcorn-Pfannen. Immer wieder nickt man mir einladend zu, zu kaufen, zu essen, zu spenden, aber immer gelassen, nie aufdringlich. Ich kann in meinem eigenen Tempo in diesem Strom schwimmen. Doch nirgends eine Spur der Beatles. Ich hatte mit Devotionalien-Verkäufern sonder Zahl gerechnet, mit T-Shirts, Büchern, bunten Gemälden, Bronze- Erinnerungsplaketten und verkaufsfördernden Namensaneignungen von Cafés, Hostels, Rikscha-Verdecken. Stattdessen: nichts. Paul McCartney sagte später, die langweilige Meditationsroutine im Aschram habe ihn sehr an seine Schulzeit erinnert

Ein Herr spricht mich an. Er trägt ein silbernes Glitzer-Jackett, das auch John Travolta mal gestanden hätte. Aber sein Turban, sein Schnurrbart, die ganze Haltung sind durch und durch würdevoll. Ich sei sicher gerade eingetroffen, er möchte mich gern aus vollem Herzen – er legt dazu die Hand auf die Brust und deutet eine Verbeugung an – willkommen heißen. Er könne sehen, dass mich sehr persönliche Gründe bewegt hätten, an diesen Ort zu kommen, fährt der Mann fort, und vielleicht sei auch Schmerz damit verbunden, dann sei dies ein guter Platz, den Schmerz in Freude zu verwandeln. Ob ich auch suche und Yoga üben und meine spirituellen Fenster öffnen will? Eigentlich möchte ich sagen, nee, ich bin hier, weil die Beatles scheiße sind und das Wetter in Deutschland erbärmlich ist, aber der Mann hat etwas an sich, das Albernheiten verbietet. Er sei Seher und Yoga-Meister, ein echter. »Sir, ich versuche hier nicht, Ihnen etwas zu verkaufen.« So einnehmend ist der Mann, sein Blick gleichzeitig sanft und zwingend, dass ich mich bestimmt zu ihm gesetzt hätte. Doch jemand zieht mich am Arm fort. »Geh weiter, wenn du kein Horoskop kaufen willst«, sagt man mir. Blick auf Lakshman Jhula am Ostufer

Eine Hängebrücke verbindet die Dörfer Tapovan und Lakshman Jhula

Ich laufe runter zum Fluss und überquere ihn auf einer stählernen Hängebrücke. Inder, westliche Besucher, alle drängen sich hier hin und her zwischen den beiden Dörfern Tapovan und Lakshman Jhula. Die Brücke ist so schmal, dass ich mit ausgestreckten Armen beide Seitengeländer berühren kann. Trotzdem nehmen auch Motorräder diesen Weg. Sie arbeiten sich hupend durch die Fußgänger, die gleichmütig Platz machen und weitergehen.

Menschen spielen und baden im eiskalten Wasser des Ganges

Der Ganges ist eine Wucht. An seinem linken, östlichen Ufer reihen sich die Aschrams. Über Stufen steige ich hinab ans Wasser. Aus der Nähe sieht der Fluss noch kraftvoller aus. Ich glaube, selbst wenn man taub wäre, spürte man beim Anblick seiner Bewegung ein machtvolles Rauschen, nicht hektisch, nicht gefährlich, ein tiefes, antreibendes Urzeitrauschen. Der Fluss ist hellgrün, wie fein polierte Jade. Für den Maharishi war der Besuch der Beatles ein Segen – sie beförderten seine Geschäfte

Am nächsten Morgen breche ich früh auf, um das zentrale Ziel meiner Reise zu erkunden. Ich gehe an den Aschrams am Fluss vorbei, den Strand entlang, an dem Männer, nackt bis auf ein Leinentuch, ihr rituelles Morgenbad nehmen. Gesang dringt aus den Tempeln, Räucherstäbchenduft liegt in der Luft, frischer Kuhdung auf den Wegen. Dann stehe ich vor einem Tor in einer Mauer, wo ein Pförtner den erhöhten Eintrittspreis für Besucher aus dem Westen kassiert. Auch hier: keine Werbung, kein Souvenirshop, keine Tafel, die daran erinnert, dass durch dieses Tor einst auch die Beatles geschritten sind. Und dann bin ich drin im Rajaji-Tigerreservat, das einmal der Aschram des Maharishi gewesen ist.

Ein Pfad führt durch die vielefußballfeldergroße Anlage. Bienenkorbförmige Betonhütten stehen im Baum- und Lianengestrüpp. In ihrem Eingang saß man, um zu meditieren, und die Kuppel verstärkte den Klang des Om. In den Neunzigern wurde der Aschram aufgegeben, der Guru starb 2008 in den Niederlanden. Vom Aschram, in dem die Beatles meditierten, sind nur Ruinen geblieben. Unten: Lennon-Graffiti in einer Meditationshütte Obwohl es sich um einen Pilgerort für Beatles-Fans aus aller Welt handeln soll, habe ich die Anlage ganz für mich allein. Also setze ich mich in den Eingang einer Hütte und probiere ein schüchternes Om. Klingt hübsch mit dem Kuppelhall und dem Wildnisgetschirpe um mich herum. Die Beatles haben hier einen Großteil der Lieder für ihr White geschrieben. Das ging mir früher besonders auf den Senkel, weil alle Musikfreunde es so toll und wichtig fanden und weil Frau Rieger sich daran besonders intensiv abarbeitete. Jetzt frage ich mich, wie man in dieser herrlich friedlichen Atmosphäre überhaupt auf so dissonanten Kram kommt. Die alte Meditationshaupthalle. Der Guru thronte auf dem Steinpodest, wo heute »Let it be« zu lesen ist

Hinter einer großen Wiese liegt ein mehrgeschossiges Gebäude, vollkommen nackt, keine Farbe, keine Fensterläden, keine Inneneinrichtung mehr, und in diesem üppigen Wald sieht die Frühe-Sechziger-Architektur immer noch grandios aus. Kleinere ehemalige Wohnhäuser an der Seite. Noch mehr Bienenkorbhütten. Über einem Eingang steht »The Beatles Cave No. 9«. Innen an den weißen Wänden haben frühere Besucher Liedzeilen hinterlassen. Veera und Tamara notierten im vergangenen September »Yesterday, all my troubles seemed so far away«. »While my guitar gently weeps« steht da und »Dear Prudence, why don’t you come out and play?«. Ich weiß noch, wie Frau Rieger damals darauf bestand, die Bedeutung des Wortes prudence, »Besonnenheit«, im soziokulturellen Kontext der Entstehungszeit des Songs zu untersuchen. Gestern Abend auf meinem Balkon las ich, Prudence sei einfach der Name von Mia Farrows Schwester gewesen, die mit nach Rishikesh gekommen war, weil die Beatles noch Platz hatten. Prudence sei aber meistens in ihrer Hütte geblieben, las ich, weil sie so schüchtern war. John Lennon habe sie mit dem Lied aufmuntern wollen. Und da macht Frau Rieger so ein Bohei daraus!

Ich setze mich in den Eingang einer Hütte und probiere ein Om. Klingt hübsch Das alte Hauptwohnhaus (oben) und zwei verfallene Gästehäuser (unten) – seit mehr als 20 Jahren lebt und meditiert hier niemand mehr

Ungefähr 60 Leute sollen damals mit der Band im Aschram gelebt haben, unter ihnen auch der Sänger Mike Love von den Beach Boys. Der Maharishi fand das super, weil er an dem Großauflauf fantastisch verdiente, während außerhalb des Aschrams der Pressetross herumlungerte und auf eine Fotogelegenheit wartete.

Affen springen durch die Bäume. Vögel kreischen und singen und schnattern. Ich streife durch ein großes altes Wohnhaus, steige auf eine Böschung hoch über dem Fluss, eine der letzten Erhebungen, bevor das Land und das Wasser sich endgültig dem Sog der Ebene ergeben. Das ist phänomenal schön. Hier also meditierten die Beatles mit ihren Freunden und kamen total zu sich selbst und ließen die reiche Kultur Indiens mit allen Aspekten auf sich wirken oder so. Von Ringo Starr heißt es allerdings, er sei mit zwei Koffern angereist: einem mit Klamotten und einem mit Baked Beans, um keine Currys essen zu müssen. Angeblich hat er wegen einer Lebensmittelunverträglichkeit nichts anderes als seine Bohnen essen können. Ziemlich modern und urban, beinahe hipsterig, diese Haltung, denke ich. Als der Futterkoffer nach zwei Wochen leer war, fuhr Ringo samt Gattin wieder heim nach England.

Ringo Starr verließ Rishikesh als Erster, sobald seine Baked Beans alle waren

Auf einem Mauervorsprung sonnt sich eine rotärschige Languren-Meerkatze. Ein Artgenosse steigt hinterher, guckt arrogant über mich hinweg, lupft das Hinterteil des Vordertiers und penetriert es. Fünfzehn Sekunden geht das, dann schlendern die beiden entspannt in verschiedene Richtungen. Paul McCartney sagte mal, sie hätten in Rishikesh eine ähnliche Szene beobachtet. Daraus sei das Lied Why Don’t We Do It in the Road entstanden. Bei Frau Rieger klang das anders. Sie fand, dass es in dem Song um Liebe geht und um noch irgendwas Verschwurbeltes. Sie hat auch immer behauptet, sie sei in ihren Zwanzigern selbst durch Indien gereist. Bin inzwischen nicht mehr so sicher, ob das stimmt. Es fühlt sich hier alles gar nicht so kompliziert an, wie sie es immer gemacht hat.

Die Beatles hatten ursprünglich mehrere Monate in Rishikesh bleiben wollen. McCartney reiste nach vier Wochen ab, Harrison und Lennon zwei Wochen später. Ich glaube, ich könnte es an diesem Ort ziemlich lange aushalten. Auf dem Heimweg fällt mir an einer Mauer ein Wandbild auf, das die Beatles zeigt. Ist das ein Zeichen? Kommen wir uns näher?

Rishikesh nennt sich auch Welthauptstadt des Yoga. Das ist schon modisch klar auszumachen

Von nun an bin ich fürchterlich hin- und hergerissen. Ich habe nur noch wenige Tage in Rishikesh. Eigentlich könnte ich jeden Tag zu dieser Aschram-Ruine zurückkehren. Die restliche Zeit über würde ich in Cafés sitzen, auf den Fluss schauen und Westliche-Passanten-Hobbys-Raten spielen. Das ist ein Spiel, das nicht einmal für mich zu kompliziert ist: Sie suchen alle nach Erleuchtung. Rishikesh nennt sich auch Welthauptstadt des Yoga. Das ist schon modisch klar auszumachen. Die jungen Männer tragen grundsätzlich einen Man-Bun auf dem Hinterkopf und einen eklektischen Yoga-Trekking-Backpacker-Klamotten-Mix, die alten Männer des Westens tragen ihr weißes Haar gern offen und lassen ihren Körper von viel Leinen und Wolle soft umspielen, weil sie ja längst auf den weichen Schwingungen der Befreitheit unterwegs sind. Ihre Gesichter eint die Versonnenheit, ernst bei den Jungen, milde wissend bei den Alten, und meist tragen sie Bücher mit sich. Alle sehen zu, dass sie Wasserblick versprechen

Nicht dass ich das mit dem Yoga nicht ernst nehmen würde. Eine Stunde besuche ich bei Anan aus Barcelona. Sie ist Anfang zwanzig, und sie lächelt immerzu hinreißend, aber ich weiß schon, dass es darum bei diesen Körper- und Bewusstseinsübungen überhaupt nicht geht. Andrew aus Colorado nimmt mit an der Stunde teil. Er ist ein junger Mann vorher beschriebenen Typs, nur dass er sein Buch Allowing the Inner Self to Becoming the Grandest You nicht in der Hand hält, sondern zwischen den großen Zehen an den lang ausgestreckten Beinen, den Rücken derweil räucherstäbchengerade. Bei den Übungen im Stehen kann ich hinunter aufs Wasser schauen. Weil der Fluss so heilig ist, vielleicht aber auch nur, weil er so schön ist, sehen alle Hotels, Yogastudios, Aschrams und Restaurants zu, dass sie irgendwie Wasserblick versprechen können. Am Ende der Stunde tobt eine Horde Affen über das Wellblechdach. Es rollt wie Gewitterdonner, nicht unheilvoll, sondern wie eine heitere Äußerung der Kraft der Natur. Ein hinduistischer Pilger beim Reinigungsritual im Ganges

Zum Sonnenuntergang fahre ich ans Flussufer. Jeden Abend wird dort die Arti- Zeremonie gefeiert, mit der sie den Ganges ehren, den sie die Ganga nennen und der für sie eine göttliche Mutter ist, weil er die große Ebene im Süden fruchtbar macht. Diese Inbrunst, mit der sie ihre Öllampen im Gleichtakt schwenken, mit der die Band spielt, die verbrannten Gewürze in der Luft, die großen Augen der Zuschauer, fast nur Inder, die kleinen Schiffchen aus eng verflochtenen Blättern mit Blüten und einer brennenden Kerze darin, die dem Fluss als Opfer gebracht werden: Die Zeremonie dauert eine Stunde, und genauso lange habe ich einen Kloß im Hals.

Im Restaurant, in dem ich zu Abend esse, schlürfen meine Mitgäste gelbliches Zeug aus großen Gläsern. »Ein Special, steht nicht auf unserer Karte«, sagt der Wirt. Bhang Lassi sei das, angereichert mit bestimmten Kräutern. Die Hindus nähmen es gern zu sich, um Shiva näherzukommen. Egal, nehm ich. Während der Wirt meinen Drink bastelt, recherchiere ich im Internet, was ich bestellt habe. Es handelt sich um eine Art Cannabis-Milchshake. Und obwohl ich sonst eher der Kontrollverlustangst-Typ bin, überlege ich: Der Fluss und dieses Rishikesh machen mich vom Gemütszustand her ohnehin so breit, was soll da ein bisschen Gras zusätzlich anrichten? Und die Beatles sollen ja auch Drogen im Aschram genommen haben.

Als ich nach dem zehnten Schluck die Wirkung des ersten Schluckes merke, denke ich ohauaha und lasse das Glas lieber stehen. Die unbeleuchtete Brücke schwankt noch ein bisschen mehr als sonst über dem schwarzen Fluss, und trotz der Schwärze kann ich Strudel im Wasser ausmachen, und fiele ich nun ins eiskalte Wasser, würde ich nicht frieren, weil die Wirbel und der Fluss sich an mir reiben und mich umarmen würden. Ich werde an diesem Abend nicht mehr nüchtern genug, um zu merken, was für einen Schwachsinn ich mir da zurechtfantasiere.

Der heilige Fluss Ganges windet sich durch die Täler des Himalaya

Am nächsten Morgen hängt der Nebel dicht im Tal über dem Fluss. Die Wärme der aufgehenden Sonne vertreibt ihn, der Wind ballt ihn neu zusammen, so geht das eine Weile hin und her. Mit dem Rest Kräutershake im Kopf setze ich mich auf den Balkon, den ersten Kaffee in der Hand, Dear Prudence auf den Kopfhörern. Es klingt nicht vollkommen unhübsch. Ich glaube, ich bin jetzt so weit. In Gedanken sehe ich eine Gruppe junger Leute, Mitte, Ende zwanzig erst, aber längst schon so berühmt, dass sie dem nirgends entkommen können. Wenn die sich hier aus den bunten Stoffen vom Markt Klamotten nähen lassen und die Fotografen das ablichten und die Bilder nach Hause schicken, wird Hippie-Mode der neue Trend. Da sitzen sie mit ihren Freunden, die Sonne scheint, der Guru sagt Kalenderweisheiten auf, wie Gurus es tun, John schaut täglich auf dem Postamt, ob Yoko ihm geschrieben hat, kopulierende Affen mitten im Bild – klar schreibt man da Lieder. Spielkonsolen gab es ja nicht.

An meinem letzten Abend in Rishikesh stehe ich zum Sonnenuntergang am Ostufer. Eine halbe Stunde bevor sie hinter den Horizont sinkt, wird die Sonne orangerot und milchig. Mir kommt das vor wie ein sehr indisches Licht. Als Souvenir fülle ich Wasser aus dem Fluss in kleine Fläschchen, die es mit einem Om-Aufkleber überall für ein paar Cent zu kaufen gibt. Ziehe Stiefel und Socken aus und steige ein paar Schritte hinein. Und dann presst ein Rauschen, das ich viel mehr fühle als höre, ein starkes, aber ruhiges Rauschen, diesen Reim aus mir heraus: »Es strömt der Ganges wie polierte Jade, ich steige hinein, aber erst nur bis zur Wade.« Es ist der Anfang eines Songs, das spüre ich ganz deutlich. Und wenn er erst im Radio läuft, soll Frau Rieger darin so lange nach Metaebenen suchen, wie das Wasser des Ganges von seiner Quelle bis in den Ozean braucht.

INFORMATIONEN

Unterwegs: Die Fahrt von Delhi nach Rishikesh dauert zehn Stunden, WLAN gibt es unterwegs eher nicht, und aus dem Fenster gucken ist irgendwann langweilig – da kann man gut nebenbei was fürs Seelenheil tun und das Mantra Om Tryambakam auswendig lernen. Macht sich hervorragend, wenn man das bei den Yoga-Meditationen sicher mitsingen kann – 3-mal, 9-mal oder idealiter gleich 108-mal rezitieren: Om Tryambakam Yajamahe Sugandhim Pushtivardhanam Urvaarukamiva Bandhanaan Mrityor Mukshiya Maamritat

Anbieter: Die Reise unseres Autors wurde vom Veranstalter Marco Polo unterstützt, der unter anderem die Individual-Tour »Nordindien – Wunderwelt aus Tausendundeiner Nacht« im Programm hat, mit der sich ein Besuch in Rishikesh verbinden lässt, marco-polo-reisen.com

Fotos (v.o.): Hulton Archive/Getty Images; ullstein bild; Agentur Bridgeman; Bjørn Erik Sass für DIE ZEIT (2); Pete Mcbride/National Geographic; courtesy of George Harrison; Paul Saltzman/Contact Press Images/Agentur Focus; Bjørn Erik Sass für DZ; Fautre/Le Figaro Magazine/laif; Pete Mcbride/National Geographic; Ethan Russell; Matthieu Paley/National Geographic; Bjørn Erik Sass für DZ (4); Paul Saltzman/Contact Press Images/Agentur Focus; Bjørn Erik Sass für DZ; Fautre/Le Figaro Magazine/laif; Pete Mcbride/National Geographic nächster Artikel: Bonustrack Here comes the sun: Wie das Frühlingsgefühl seinen eigenen Song bekam

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht] [Übersicht Reisen-spezial] [nächster Artikel]

HERE COMES THE SUN Bonustrack

Wie das Frühlingsgefühl seinen eigenen Song bekam VON KARIN CEBALLOS BETANCUR An einem Tag im März 1969, am Ende eines langen und – dem Vernehmen nach – kalten, einsamen Winters, beschloss George Harrison (Alter: 26, Beatle), die Arbeit zu schwänzen und stattdessen seinen Freund Eric Clapton (Alter: 23, Slowhand) zu besuchen. Vielleicht brach im Laufe dieses Nachmittags irgendwann die Sonne durch die Wolken, vielleicht kehrte infolgedessen das Lächeln zurück in Harrisons Gesicht (in den Wochen zuvor hatte man ihm die Mandeln entfernt und ihn wegen Marihuana-Besitzes kurzzeitig verhaftet). Fest steht, dass Harrison sich an jenem Tag eine Akustikgitarre schnappte, in Claptons Garten auf und ab lief und einen der schönsten Songs komponierte, die je auf einem Beatles-Album erschienen sind. Here Comes the Sun, erstes Stück der B-Seite von Abbey Road, veröffentlicht am 26. September 1969.

Wie viele Popsongs erkennt man nach den ersten drei Noten? Welches andere Lied wickelt sich im Intro so zärtlich von Mono auf Stereo um Kopf und Herz, um dann für drei Minuten und sechs Sekunden den gesamten Gefühlshaushalt auf schwer verknallt zu schalten? Hat es jemals eine schönere Hymne auf den Frühling gegeben?

Little darling, I feel that ice is slowly melting / Little darling, it seems like years since it’s been clear.

Wenn der Song nicht längst von ganz allein in Ihrem Kopf angesprungen ist, dann legen Sie ihn auf. Am besten jetzt. Sofort. Im Original von George Harrison. Oder in der Coverversion von Nina Simone. Oder in der Coverversion von Belle and Sebastian. Von mir aus singen Sie ihn selbst, gerne laut, und dann gehen Sie da raus und nehmen den erstbesten Menschen, der Ihnen über den Weg läuft, sehr fest in den Arm.

Ich sage, das ist in Ordnung.

Foto: Privat; Illustration: Katrin Guddat für DIE ZEIT nächster Artikel: Leserbriefe Meinungen zur ZEIT, Ausgabe 9

[Übersicht Reisen-spezial]

[Ressort-Übersicht]