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Der junge Auf der Suche nach einer eigenen Bildsprache eig- Das innere Feuer nete sich (1881-1973), systema- In einzigartiger Ausführlichkeit zeigt die tisch gefördert von sei- Fondation Beyeler in Riehen, wie sich der nem Vater, in den 1890er- junge Picasso in sechs Jahren von maleri- Jahren das ganze Spek- schen Konventionen befreite und eine ei- trum der damals gängi- gene Bildsprache erfand. gen malerischen Fertig- keiten an. Obwohl überaus erfolgreich, ver- Der ganz ungewöhnliche und aufgrund sei- liess der junge Künstler um die Jahrhundert- ner stupenden künstlerischen Fähigkeiten wende die vorgespurte Karriere und begann, nicht erwartbare Werdegang ist gut an drei sich malerisch eine eigene Welt zu schafen. Selbstporträts abzulesen: an dem im Früh- Dabei erlebte Picasso seine Entwicklung sommer 1901 gemalten, von Selbstbewusst- durchaus krisenhaft. Der Selbstmord seines sein strotzenden «Yo, Picasso» (Ausschnitt un- Freundes Carles Casagemas, den er auf dem ten links), an dem im folgenden Winter ent- Totenbett porträtierte, setzte ihm schwer zu. standenen «Autoporträt» des bleichen, vom Und als er sich 1901, bleich und im schwar- Selbstmord seines Freundes gebeutelten zen Mantel, vor blauem Hintergrund selbst Zwanzigjährigen (unten Mitte) und das stark darstellte, malte er einen jungen Anarchisten, auf wesentliche Züge reduzierte Selbstbildnis der aussah, als müsse er das ganze Elend der eines Menschen, der weiss, was er will und Welt schultern. In Zusammenarbeit mit den zuversichtlich, mit weit ofenen Augen seiner Musées d’Orsay et de l’Orangerie sowie dem Zukunft entgegenblickt vom Herbst 1906 Musée Nationale Picasso in zelebriert (unten links). die Fondation Beyeler in Riehen vom 3. Fe- bruar bis zum 26. Mai 2019 die melancholi- Die Beschreibung als «maskenhaftes Gesicht», sche «blaue» und die auf den defnitiven Um- die der Kommentatorin des Bildes im Katalog zug nach Paris folgende, mehr Zuversicht als Beleg dafür dient, dass «vom Individuum ausstrahlende «rosa» Periode im Werk des des Künstlers …hier nichts zurückgeblieben» jungen Picasso. In seiner chronologisch ange- sei, können wir nicht nachvollziehen. Fernan- legten Schau zeigt Kurator Raphaël Bouvier de Olivier, seine Freundin und Muse jener in einmaliger Ausführlichkeit 80 grossartige Jahre, erinnerte sich dagegen noch dreissig Zeugnisse aus den sechs entscheidenden Jahre später an Picassos «Magnetismus», den Schafensjahren von 1901 bis 1906. «seltsam eindringlichen Blick» und «das inne- Zur Ausstellung erschienen drei Publikationen. re Feuer, das man in ihm spürte». Hrsg. Raphaël Bouvier (Fondation Beyeler): Picasso – Blaue und Rosa Periode. Riehen/Berlin 2019 (Beye- 1906 entstand auch das «Autoportrait à la pa- ler Museum AG/Hatje-Cantz Verlag), 304 Seiten, lette», das Picassos sorgfältige, ja besessene € 60.00/CHF 68.00. (Der Katalog ist in einer deut- Arbeitsweise noch deutlicher macht: Zur Vor- schen und einer englischen Ausgabe verfügbar. bereitung machte er zahlreiche Bleistiftskiz- zen, die sowohl die Haltung des Kopfes als Raphaël Bouvier: Picasso. Blaue und Rosa Periode. auch den Bildaufbau variierten. Riehen/Berlin 2019 (Beyeler Museum AG/Hatje- Cantz Verlag), 56 Seiten, € 12.00/CHF 9.80. (Der klei- ne Begleitband ist in einer deutschen und einer französischen Ausgabe erhältlich.)

Tasnim Baghdadi und Iris Brugger (Beyeler Museum AG): Der junge Picasso. Blaue und Rosa Periode - interaktiv. Das Kinderheft führt mit zehn unterhalt- samen Aufgaben und Spielanleitungen durch die Ausstellung. Das Heft ist kostenlos bei der Informa- Yo, Picasso: Selbstbildnisse 1901(links und Mitte), 1906 tion im Eingangsbereich erhältlich. Der junge Picasso 2

Seltsam eindringlicher Blick: Bleistiftskizzen zum «Autoportrait à la palette» (1906)

Beim Malen seines reduktionistischen Por- Kumpane aus – oft den Handels- träts nutzte Picasso sein virtuoses Zeichenta- kaufmann und Wohngenossen Àngel lent, das er als Illustrator für Zeitungen geübt Fernández de Soto Llassat (1882-1937), der hatte. Auch in dieser Rolle standen ihm jeder- sich erfolgreich als Dandy inszenierte – und zeit alle möglichen Stilmittel zur Verfügung – er nahm Auftragsarbeiten an, wenn sich, sel- vom Naturalismus bis zur Karikatur. ten genug, dafür Gelegenheit bot. Kompro- misse machte er keine, wie Gertrude Stein Es lohnt sich, in der Ausstellung speziell auf erleben musste, die den jungen Spanier ab dieses reiche Formen-Repertoire zu achten, 1905 als eine der ersten förderte. Er zwang auf das der junge Künstler jederzeit Zugrif sie, ihm 1905 und 1906 mehr als 90 Mal Mo- nahm. So, wie er schon früher alle Stile der dell zu sitzen, und es entstand ein Bildnis, in um 1850 einsetzenden «modernen Kunst» dem «die später zur Reife entwickelten Prin- ausprobiert hatte, so nutzte er auch auf dem zipien schon im Kern zutage» traten. Weg zur eigenen Bildsprache das ganze Re- gister der künstlerischen Möglichkeiten: Er «Im Bildnis der amerikanischen Dichterin wird karikierte seine Freunde aus dem Pariser die massige Gestalt zum Anlass, frei mit den Künstlermilieu und sich selbst, er porträtierte Formen zu spielen. Picasso vernachlässigt die Perspektive und die Verhältnisse der Körper- teile zueinander», schreibt Carsten Peter Warnke im ersten Band seiner monumentalen Werkschau1. «Der Kopf wird zum unregelmäs- sigen Block, in denen Nase und Augen wie selbständige Formen eingefügt sind. Wäh- rend hier die Stilmittel immerhin noch mit dem Charakter von Körper und Geist der Dar- gestellten übereinstimmen, ja ihn durch die Verzerrungen um so trefender bezeichnen, geht das Selbstbildnis über solch expressive Sinngebung hinaus», ist Warnke überzeugt. Umrisse, Linien und Farbfächen seien «völlig roh gegeneinander gesetzt, und jeglicher An- schein der Abbildung eines tatsächlich le- benden Menschen» sei «vermieden».

Wir halten auch diese Interpretation nicht für überzeugend und sind der Meinung, dass der dargestellte Mensch Picasso sehr wohl ähn- lich sieht. Die Gesichtszüge sind auf das We- Charakter von Körper und Geist: Gertrude Stein (1906) sentliche reduziert und – wie die Vorstudien

1 zit. nach Warnke, Carsten-Peter: Pablo Picasso 1881-1973. Köln 1993 (Benedikt Taschen Verlag), Band I, S. 144f. Der junge Picasso 3 zeigen – die Eigenheiten sorgfältig herausge- arbeitet. Auch der muskulöse Oberkörper ist stark betont. Folgen können wir Warnkes Be- schreibung, was die Darstellung der Arme und der Palette betrift. Diese ist so stark re- duziert, dass sie nur noch als Hinweis darauf zu lesen ist, dass es sich beim abgebildeten Menschen um einen Kunstmaler handelt.

Obwohl die beiden erwähnten Bilder – das Porträt von Gertrude Stein und das Selbst- bildnis mit Palette – in der aktuellen Präsenta- Abrupter Stilwechsel: Halbweltdame und Trinkerin tion der Fondation Beyeler nicht zu sehen sind, so ist die beschriebene künstlerische Wahl des Motivs überraschend: auf die selbst- Entwicklung in der Ausstellung jederzeit bewusst auftrumpfende Halbwelt-Dame folg- nachvollziehbar. te eine der grünen Fee verfallene Alkoholike- rin. Besonders anschaulich macht dies in der Aus- stellung das Doppelbild von «Femme dans la Das Motiv ist, betrachtet man andere Bilder loge» und «La buveuse d’absinthe». Picasso aus dem Herbst 1901, weniger entscheidend malte sie im Herbst 1901 auf Vorder- und als der Malstil. Die gleichmässigen Farbfä- Rückseite derselben Leinwand: Auf der Vor- chen, die schwarz umrandeten klaren Kontu- derseite sehen wir eine Dame mit Hut, gemalt ren sind ein halbes Jahr später für die Gemäl- im spätimpressionistischen Stil der 65 Bilder, de der blauen Periode charakteristisch. Sie die Picasso für seiner ersten Ausstellung in entstehen zunächst in Paris und sind wohl zu der Pariser Galerie Vollard vorbereitet hatte. Recht als Reaktion auf den Selbstmord seines Freundes Casagemas, der fast ein halbes Jahr Seine Präsentation, die sein Impresario und zurücklag. Wohngenosse Pere Mañach im Sommer 1901 organisiert hatte, erregte zwar Aufsehen, Als er im Sommer das erste Porträt des Toten stellte sich aber geschäftlich als ziemliches malte, geschah dies noch in der vollen Far- Fiasko heraus. Da er knapp bei Kasse war und bigkeit seiner übrigen Werke. Carles Casage- die «Dame in der Loge» ofenbar nicht zu ver- mas, seit Monaten depressiv und alkoholab- kaufen war, nutzte Picasso die kostbare Lein- hängig, hatte am 17. Februar im Pariser Lokal wand auf der Rückseite für das Porträt der «L’Hippodrome» am Boulevard de Clichy 128 anonymen Trinkerin. einige Freunde vor seiner Abreise nach Bar- celona zu einem Abschiedsessen eingeladen Auch wenn beide Frauen aus demselben Mi- und dabei mit einem Revolver auf Germaine lieu stammten, in der sich auch die Künstler- Pichot geschossen. Die Tänzerin aus dem freunde vom Montmartre bewegten, so ist Moulin Rouge sollte dafür büssen, dass sie der abrupte Stilwechsel nicht bloss in der sich ihm hartnäckig verweigerte. Sicher, dass Malweise, sondern scheinbar auch in der er Germaine getötet hatte, hielt sich Casage- mas sofort die Pistole an die Schläfe und drückte ab.

Als es geschah, hielt sich Picasso noch in Ma- drid auf. Erst im Sommer war er bereit, seine Trauer abzubilden. Er malte den toten Freund neben einer in allen Sommerfarben leuch- tenden Kerze auf den hölzernen Deckel eines Malkastens. Das grössere Bild, das er im Früh- Casagemas auf dem Totenbett: Tod im «Hippodrome» herbst fertig stellte, gehört zu den ersten, in Der junge Picasso 4 denen dunkle Blau- und Grüntöne dominier- ten.

Diese kalte Farbpalette beherrschte Picassos Malerei ungefähr ein Jahr lang. Zusammen mit den Elendsgestalten, die uns auf den in Paris und, ab Januar 1902, in Barcelona ent- standenen Bildern begegnen, werden ge- wöhnlich als Ausdruck einer existentiellen Krise gedeutet.

Das ist sicher nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn in der Zeit wurde dem jungen Künstler, der in Paris selbst das Leben eines armen Schluckers führte, nicht bloss das Elend der Armen bewusst, er nahm auch in Kauf, dass mit diesen Bildern kein Geschäft zu machen war.

Zum Glück fand sein Freund, der malende Dichter Max Jacob (1876-1944), im Oktober 1902 ein Zimmer am Boulevard Voltaire, und Picasso konnte seine Bleibe im armseligen Hôtel Maroc verlassen, wo er die Miete schul- dig blieb. Nicht ungewöhnlich in jener Zeit, teilten sich die Wohngenossen das Bett Allegorie des Lebenszyklus: «» (1903) schichtweise: Jacob schlief nachts, Picasso tagsüber. «La Vie» zeigt auf der linken Seite ein fast Mitte Januar 1903 beendete Picasso die Mise- nacktes Paar und rechts eine ofensichtlich re. Nachdem ihm die Frau seines Farbenhänd- arme, mit einem langen blauen Mantel be- lers Besnard ein Pastell abgekauft hatte, be- kleidete Frau mit einem Säugling. Im Hinter- sorgt er sich mit dem Erlös ein Zugbillett nach grund des als Atelier erkennbaren Raums sind Barcelona und reiste nach Hause. Zuerst bei zwei Bilder zu erkennen, oben eine Frau und den Eltern, wenig später, im Atelier des einen sie schützend umarmenden Mann, un- Freundes Àngel Fernández de Soto, machte ten eine weibliche, kauernde Gestalt. er sich wieder an die Arbeit. Er malte weiter von Schwermut geprägte Bilder von Elends- Wie Vorstudien zeigen, hatte Picasso zunächst gestalten. Gleichzeitig nahm er am feucht- beabsichtigt, sich selbst darzustellen. Dann fröhlichen Nachtleben seiner Künstler-Clique verwarf er die Idee, gab dem jungen Mann teil, die sich im «» traf. Auf der des Aussehen seines toten Freundes Carles Rückseite von Reklamekarten zeichnete er Casagemas und bedeckte seine Blösse mit erotische Szenen und Karikaturen seiner einem Lendenschurz. Die Frau an seiner Seite Freunde. trägt die Züge von Germaine Florentin (geb. Laure Gargallo, verh. Germaine Pichot), der Im Mai vollendete er nach eingehenden Vor- unglücklichen Liebe von Casagemas und studien sein bisher bedeutendstes (und mit zeitweiligen Freundin Picassos. fast zwei Meter Höhe und 130 cm Breite sel- ten grosses) Gemälde. Er übermalte dafür sein Indem er Germaine nicht sich selbst, sondern Werk «Derniers Moments», das er 1900 im Casagemas an die Seite stellte, trat er sie ihm spanischen Pavillon der Weltausstellung prä- gleichsam ab. Und indem er dem Freund ei- sentiert hatte. nen Lendenschurz malte, deutete er gleich- Der junge Picasso 5 zeitig an, dass die Liebe wegen Casagemas’ Impotenz nicht zur Blüte kommen konnte. Schwieriger – und beliebiger – ist die weitere Interpretation des Gemäldes. «Oft wird das Bild als Allegorie des Lebenszyklus wahrge- nommen», schreibt Stéphanie Molins im Ka- talog, «die an die metaphysische Fragestel- lung in Gauguins Gemälde ‹D’où venons- nous? Que sommes-nous? Où allons-nous?› erinnert.» Picassos Bewunderung für Gaugu- in, der am 8. Mai 1903 starb, könnte diese In- terpretation stützen. Der eminente Picasso- Biograf John Richardson, glaubt, das Bild bringe das durch Max Jacob geweckte Inter- esse für die Chiromantie (Handlesen) und Ta- rot zum Ausdruck. Gleichzeitig empfehlt er aber, «dieses Geheimnis (zu) respektieren, statt es aufklären zu wollen».

Sicher scheint, dass «La Vie» als Teil eines nicht weiter verfolgten Werk-Zyklus gedacht war. Und sicher ist, dass das Werk Picassos Karriere entscheidend förderte. Besonders engagiert tragen die Brüder Carles und Se- Trotzig selbstbewusst: «Femme au casque de cheveux» bastià Junyer Vidal zu seinem Erfolg bei: Der Kunstkritiker Carles lobt in der Zeitung El Li- beral «La Vie» als Meisterwerk und behauptet, Ursprünglich eine Klavierfabrik und dann das Gemälde sei von einem Sammler aus Pa- eine Schlosserwerkstatt, diente das verwahr- ris gekauft worden, und der Maler Sebastià loste Anwesen seit 1889 als Atelierhaus «Mai- porträtiert den Künstler-Freund vor seinem son de trappeur». Vermutlich war es ein Geis- Bild. tesblitz von Max Jacob, das langgezogene Gebäude «Bateau Lavoir» zu nennen. Die Mie- Die Bemühungen bringen Picasso einige Auf- te für die grosszügig bemessene Atelierwoh- träge ein, darunter ein dreiteiliges Familien- nung im Erdgeschoss des Hinterhauses von bild des Schneiders Benet Soler. Trotzdem monatlich 15 Francs übernimmt der wohlha- beklagt er sich am 6. August in einem Brief bende Junyer Vidal, der aber im Sommer bei Max Jacob: «Ich arbeite, soweit möglich, nach Barcelona zurückkehrt. habe aber nicht genügend Knete (galette), um das zu machen, was ich möchte.» Den Gleichwohl schien klar zu sein, dass der vierte Brief illustriert Picasso mit einer Skizze von Einzug in Paris auf Dauer angelegt war. Picas- «Le Repas de l’aveugle». so hatte nicht nur mehrere in Barcelona fer- tiggestellte Gemälde im Gepäck, er nahm Erst mit dem Umzug nach Paris, Mitte April auch seinen Hund mit und besorgte sich bald 1904, begann Picasso anscheinend seine me- zwei weitere Tiere. Und alsbald hatte er auch lancholische Phase zu überwinden. Begleitet ein bevorzugtes Modell. Die junge Frau, die von Sebastià Junyer Vidal, logierte er zu- nur mit ihrem Vornamen Madeleine bekannt nächst kurz in einer Unterkunft für Bedürfti- ist, gilt als seine erste Gefährtin. Die Bilder ge. Nach einer zweiten kurzen Zwischenstati- und Papierarbeiten, auf denen sie zu sehen ist on konnte er im Mai, zusammen mit Sebastià, – besonders eindrücklich ihr trotziges Selbst- das Atelier des spanischen Bildhauers Paco bewusstsein auf der Gouache «Femme au Durrio an der Rue Ravignan 13 auf dem casque de cheveux» – markieren die Abkehr Montmartre. von der Blauen Periode. Der junge Picasso 6 Fasziniert von list Tom Schilperoort nach Schoorl, in der Gauklern, Clowns Nähe von Alkmaar, ein, wo er sich dank einer und Zirkusartisten, Erbschaft ein Haus gemietet hatte. Dank ei- die er in den Bars nem Darlehen Max Jacobs konnte Picasso im rund um den Cir- Juni den Zug nach Amsterdam besteigen. Da que Médrano, ihm sein Budget keinen Aufenthalt erlaubte, ganz in der Nähe ging die Reise gleich weiter nach Alkmaar seines Ateliers und per Boot nach Schoorl. skizzierte, ent- standen nach und Leider ist es typisch für die Oberfächlichkeit nach Bilder in und Widersprüchlichkeit der zudem oft feh- neuartiger Farbig- lerhaft übersetzten Katalog-Texte, dass wir keit und mit neuer nicht erfahren, ob Picasso die Reise allein Thematik. Um die machte und, vor allem, wie er es sich leisten Jahreswende konnte, sich kurz nach seiner Ankunft im 1904/05 malte Pi- Nachbardorf Schoorldam in einer Pension casso «L’acteur» einzumieten. Hat Schilperoort für ihn bezahlt, ein Grossformat – «L’acteur»: Neue Farben damit er konzentriert arbeiten konnte? Streit nach Ansicht von Fachleuten das erste Werk hatten sie wohl keinen, da der Holländer nach der Rosa Periode. Picassos Rückkehr am 10. Juli per Postkarte darum bat, ihm in der Rue d’Orchamps ein Als Madeleine im Hochsommer feststellte, Atelier zu besorgen. dass sie schwanger war und eine Abtreibung vornehmen liess, war Picasso gerade daran, In Schoorldam malte Picasso sein Schlüssel- mit anzubändeln. Die werk «Les trois Hollandaises». Er erweiterte «schöne Fernande», 1881 in Paris unehelich dabei sein Repertoire an Motiven und kom- geboren als Amélie Lang, wuchs bei Ver- ponierte das Bild aus Skizzen, die er in Hol- wandten auf, wurde Mutter und heiratete ein land und Paris gemacht hatte. Zudem erprob- erstes Mal. Als der Mann mit dem Kind das Weite suchte, lebte sie mit dem Bildhauer Gaston Labaume im Bateau Lavoir, wo sie, wie ihre Freundin, Picassos Nachbarin Benedetta Canals, als Modell arbeitete.

Olivier war ihrer bewegten Vergangenheit zum Trotz weit mehr als eine füchtige Gelieb- te oder ein fatterhaftes Groupie. Ihre Memoi- ren, die sie 1933 über ihre Jahre an der Seite des genialen Gefährten veröfentlichte, zeichnen sich durch Klugheit und eine schar- fe Beobachtungsgabe aus. Es verging über ein Jahr bis Fernande am 3. September 1905 in das nach wie vor armselige Atelier einzog, und der wachsende Freundeskreis des Malers zur Kenntnis nahm, dass Picasso nicht länger ein Junggesellenleben führte. Auf seinem ei- gensinnigen Weg zum Erfolg war sie ihm bis 1911 eine uneigennützige und verlässliche Partnerin.

Davor, im Sommer 1905, lud ihn der holländi- sche Conférencier und Gelegenheits-Journa- Fernande Olivier, Picasso, Hunde: Verlässliche Partnerin Der junge Picasso 7 ihrer Wohnung an der Rue de Fleurus 27 im vornehmen 6. Arrondissement, unweit des Boulevard Raspail und des Jardin de Luxem- bourg, mit Werken Gauguins, Toulouse- Lautrecs, Renoirs und Cézannes hingen. (Ne- benbei: Picassos Kubismus, beginnend mit «Les demoiselles d’Avignon», war 1913 – ne- ben dem Einzug von Gertrudes Freundin Ali- ce B. Toklas in die gemeinsame Wohnung – der Grund, dass sich die Geschwister Stein trennten. Leo zog nach Florenz, die Bilder- sammlung wurde geteilt. Gertrude verwei- gerte fortan jeden Kontakt. Die Geschwister blieben zeitlebens unversöhnt.)

Die Zuwendung der Steins, in deren Salon sich regelmässig die Crème der Pariser Avantgarde zusammenfand, muss sich schnell herumgesprochen haben. Am 6. Mai besuchte der Kunsthändler Ambroise Vollard «Les trois Hollandaises» (1905): Gesunde Bauerntöchter Picasso im Atelier und kaufte für 2000 Francs te er seinen Umgang mit Gouache-Farben. 20 neuste Arbeiten. Die Summe, zusammen Aufallend ist ferner das gesunde, wohlge- mit dem Geld der Steins, ermöglichte Picasso nährte Aussehen der abgebildeten Bauern- nach zwei Jahren wieder eine Reise nach töchter. Welch ein Kontrast zu den Elendsge- Spanien. Selbstverständlich begleitete ihn stalten der Blauen Periode und zu den mage- Fernande Olivier, die er seinen Eltern als seine ren Akrobaten, die Picasso im ersten Halbjahr Verlobte vorstellte. Dass sie nach wie vor ver- 1905 vor allem beschäftigt hatten! heiratet war, blieb unerwähnt.

Im Herbst 1905 besuchten Leo (1872-1947) «Ich habe ihn in Spanien gesehen», heisst es und Gertrude Stein (1874-1946) das Bateau- in Oliviers Erinnerungen, «so anders als er Lavoire. Leo hatte für die gemeinsame Samm- sonst war, oder vielmehr so anders als der Pa- lung soeben «Famille de saltimbanques avec riser Picasso: fröhlich, weniger menschen- un singe» erworben und seiner Schwester scheu, strahlender, lebhaft und sich sicher beim Kunsthändler (und früheren Clown) und ruhig für die Dinge interessierend – es Clovis Sagot (gest. 1913) die Gouache «Fillette war ihm einfach wohl.» au panier de feurs» gezeigt. Gertrude fand das Bild abscheulich; Leo kaufte es trotzdem. Von Barcelona aus reisten Picasso und seine Fernande Olivier beschrieb den überraschen- Gefährtin Ende Mai ins abgeschiedene Berg- den Besuch der beiden unkonventionellen dorf Gósol, wo sie bis im September bleiben Intellektuellen: «Beide trugen Manchester- wollten. Auch wenn der Aufenthalt in dem kleider und Sandalen … Sie waren zu intelli- Schmugglernest wegen einer Typhus-Epide- gent, sich darum zu sorgen, ob sie lächerlich mie kürzer ausfel, war er für Picasso und sei- wirkten, und ihrer selbst zu sicher, als dass sie ne künstlerische Entwicklung das zentrale sich gekümmert hätten, was andere Leute Ereignis des Jahres 1906. Mit grossem Eifer dachten.…» malt und zeichnet er die Menschen und die ockerfarbene Landschaft der Umgebung. Un- Von da an förderten die amerikanischen Ge- ter den Werken, die damals entstanden sind schwister, die sich 1903 in Paris niedergelas- auch «Les deux frères» (die 1967 von Basels sen hatten, den jungen Spanier. Beide liessen Einwohnern aus der Sammlung Rudolph sich von ihm porträtieren, und sie kauften mit Staechelin freigekauft wurden und gewöhn- schöner Regelmässigkeit seine Bilder, die in lich dort im Kunstmuseum hängen). Der junge Picasso 8

Kunstrevolution: «Nu assis (Madeleine)», «Femme nue assise, les jambes croisées», «Femme aux mains jointes»

Nach der Rückkehr aus den Pyrenäen zehrte war tief verletzt und zog im September 1907 Picasso von seinen Skizzenbüchern. Beson- aus dem Atelier im Bateau-Lavoir aus, kehrte ders fasziniert ihn das Motiv der sich käm- jedoch kurz vor Weihnachten zurück. menden Frau. Er setzte zudem seine Versuche als Bildhauer fort, die er in Gósol mit gele- Wenn man sich nur schon den Weg verge- gentlichen Holzschnitzereien begonnen hat- genwärtigt, auf dem Picasso zwischen den te. Unter anderem modellierte eine Büste sei- Bildern «Nu assis (Madeleine)» von Anfang nes Gastwirts, des greisen Schmugglers Josep 1905 bis zu «Femme nue assise, les jambes Fondevila, die er im Atelier des befreundeten croisées» im Herbst 1906 in weniger als zwei Keramikers Paco Durrio brannte und später in Jahren die Kunst revolutionierte, ist jede Er- Bronze giessen liess. schütterung verständlich. Und anschliessend der radikale Sprung zu den «Demoiselles Unter dem Eindruck einer Retrospektive auf d’Avignon» und ihren Vorstufen! das Werk Paul Gauguins im Salon d’Automne und der Faszination anderer Künstler, beson- ders Henri Matisse und André Derain, für afri- kanische «primitivistische» Skulpturen, ent- stehen im Herbst 1906 die ersten Bilder mit «gleichsam geometrischen Körperdeforma- tionen» (so Kurator Raphäel Bouvier im Kata- log). Von diesen Gemälden (zu denen auch die oben zitierten Selbstporträts mit und ohne Palette gehören) führt eine direkte Linie zum epochemachenden Werk der «Demoisel- les d’Avignon», das Picasso aufgrund von © Jürg Bürgi 2018 (Text) Zeichnungen in nicht weniger als 16 Skizzen- © Illustrationen sind Scans aus dem Katalog büchern in mehreren Zwischenschritten Ende Bouvier, R. (Hrsg.): Picasso. Blaue und Rosa Juli 1907 fertigstellt. Es bleibt unsigniert, was Periode. Fotonachweise a.a.O., Seite 298. Picassos Kunsthändler Daniel-Henry Kahnwei- ler (1884-1979) behaupten liess, das Bild sei unvollendet geblieben. http://www.juerg-buergi.ch Wenn Sie unsere Arbeit fördern wollen, freu- en wir uns über jeden Beitrag: PC-Konto Das Bild befeuerte nicht nur das Zerwürfnis 40-32963-0; Jürg Bürgi, Basel. IBAN CH75 der Geschwister Stein, auch Fernande Olivier 0900 0000 4003 2963-0