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Nicolas Berg

Kulturwirtschaftslehrengegen den Antisemitismus der Zeit: Die jüdischen Nationalökonomen RichardEhrenberg, Hermann Levy und JuliusHirsch

1. Einleitung:Das 19. Jahrhundert –ein „jüdisches Zeitalter“?

Der deutschbaltische Kulturhistoriker Viktor Hehn (1813–1890) hat in seinen Werken zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts mehrfach den TodGoethes 1832 zum Beginn des „jüdischen Zeitalters“ erklärt.1 Die so verknüpfte Zäsur grenzte die vergangene Größeder idealistischen Epoche in Deutschland gegen eine vermeintlich nurnochinökonomischen Kategorien denkende Gegenwart ab:Dem reinen Geist vonWeimar,der noch ganz dem Wahren, Guten und Schönen gehuldigthabe, sei mit dem Ableben des Nationaldichters die wich- tigste Instanz seiner Wirksamkeit abhandengekommen;der deutsche Idealis- mussei mehr und mehr voneinem Denken in Zweck- und Nutzen-Kategorien verdrängtworden.2 Dieser Gedankewar es auch, der im Verlauf des Berliner Antisemitismusstreits von1879/80zum Ausgangspunkt des Hauptangriffs gegen die Juden wurde, als Heinrich vonTreitschkeihnen „eine schwere Mit- schuld am schnöden Materialismus unserer Tage“ vorwarfund insgesamt eine „jüdische Haltung der Gegenwart“ ausmachte, „die jede Arbeit nurnochals Geschäft betrachtet und die alte gemütlicheArbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht“.3 Die folgenden Ausführungen gehen vondieser nachgerade klassischen Überzeugung des wirtschaftlichen Antisemitismus aus, ohne ihreEntste-

1Etwain: Victor Hehn, Goethe und das Publikum.Eine Literaturgeschichte im Kleinen,in: derselbe, Gedanken über Goethe, 1887, S. 40;vgl.hierzu die Bemerkung von: Norbert Oellers, Goethe und Schiller in ihrem Verhältnis zum Judentum, in:Otto Horch/Horst Denkler (Hg.), Conditio Judaica, Bd. 1, Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundertbis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1988, S. 108–130, hier S. 112. 2Vgl.die Historisierung dieser Denkfigur beiMoritz Kronenberg,Geschichte des Deutschen Idealismus, 2Bde.,München 1909/1912;hierzu:Matthias Neumann, Der deutscheIdealismus im Spiegel seiner Historiker.Genese und Protagonisten,Würzburg 2008. 3Heinrich vonTreitschke, UnsereAussichten (1879), in:Karsten Krieger (Hg.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, Bd. 1, München 2003,S.6–16, hier S. 12.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 60 Nicolas Berg hungsgeschichtenachzuzeichnen. Der wissenschaftlicheund intellektuelle Aufwand, der um 1900 ein solches dichotomes Denken verfestigthat, stehtim Weiteren nichtimZentrum. Exemplarisch könnte man hierfüretwa die direkte Anknüpfung an die Formulierung vonHehn 1899 und an dessen Affirmation durch Houston StewartChamberlain in Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts weiterverfolgen, wodurch die Denkfigur noch einmalneu ideolo- gisiertwurde.4 Noch einschlägiger ist die Fortführung der ökonomischen Kritik Treitschkes an den Juden im Werk des Nationalökonomen (1863–1941), dessen Begriffsprägungen generell in Bezug aufden jüdischen Anteil am modernen Wirtschaftsleben besonders wirkmächtigwaren.5 Sein Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben von1911 und dessen Wirkungsge- schichte können fürdas Thema gar nicht überschätzt werden;die zeitgenössi- sche (und auch die spätere wissenschaftshistorische) Diskussion gehörenohne Zweifel zu den grundlegenden Debatten der deutsch-jüdischen Ideengeschichte. Sombarts Studie erhielt mehrereAuflagen, wurde in andere Sprachen übersetzt und erfuhr eine rasche Rezeption im In- und Ausland;insgesamt waren bis in die 1930er-Jahre hinein Zehntausende vonExemplaren verkauftworden. Der Ber- liner Nationalökonom hatte hier den Anteil vonJuden an wichtigen Entwick- lungsschritten des modernen Kapitalismus aufgezählt, die spezifisch histori- schen Gründe hierfürdargelegt, sowie–amEndedes zweiten und vorallem dann im dritten Teil des Buches, dem er die Überschrift„Wiejüdisches Wesen ent- stand“ gab –gemutmaßte religiöse und völkerpsychologische Ursachen über diesen Zusammenhang vor dem Leser ausgebreitet. Das Werk fand dabei eine auffällig begeisterte Leserschaftimassimilierten jüdischen Bürgertum, die vor allem dem ersten und zweiten Teil galt;der Tenor dieser Rezeption war eine Art vonDankbarkeit darüber, dass hier eine nichtjüdische Stimme und zudem eine anerkannte wissenschaftliche Autoritätden Anteil der Juden an der modernen Welt insZentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt hatte:„Sombarts Arbeiten zeigen die Bedeutung der Juden“, so drückte es etwa der jüdische Arzt und Demograph Felix Theilhaber 1916 aus; es sei gleichgültig,„ob die Juden

4Houston StewartChamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. 1. Hälfte (Volksausgabe), München 1907 [zuerst:1899],S.381. Das Zitatfindet sich am Beginn des umfangreichen fünftenKapitels „Der Eintritt der Juden in die Abendländische Geschichte“ (ebd.,S.378–546). 5Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911;zudiesem Buch:Nicolas Berg, Juden und Kapitalismus in der Nationalökonomie um 1900. Zu Ideologie und Ressen- timentinder Wissenschaft, in:Fritz Backhaus/Liliane Weissberg (Hg.), Juden. Geld. Eine Vorstellung. Katalog zur Ausstellung am Jüdischen Museum in Frankfurta.M.,Frankfurta.M. 2013, S. 284–307;Friedrich Lenger,Werner Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911). Inhalt, Kontext und zeitgenössische Rezeption,in: Nicolas Berg (Hg.), Kapitalis- musdebatten um 1900. Überantisemitisierende Semantikendes Jüdischen (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur,6), Leipzig 2011, S. 239–253.

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Handel und Wandel in die Orte bringen, wohin sie kommen, oder ob sie ihn mit zur Blüte bringen. Jedenfalls ist dortEntwicklung, wo sie unbedrückt leben können“.6 Aufder anderen Seite konnte das Sombart-Buch als eine besonders ausführlichewissenschaftliche Beweisführung fürdie alte These und die Über- zeugung aller Antisemiten herangezogen werden, nach der die alte, ständische Welt ausden Fugen geraten war,weil –verkürzt gesprochen –der spekulierende ,Geist des Judentums‘ die Börse und das Warenhaus erfunden hatte.7 Dervorliegende BeitragsollzudieserVorgeschichte einenKontrapunkt setzen: Mitden in der heutigen Forschung kaum noch bekannten GelehrtenRichard Ehrenberg(1857–1921),HermannLevy(1881–1949) undJuliusHirsch(1882– 1961)werdenWerkund Wirken von drei zeitgenössischen jüdischenNational- ökonomen vorgestellt,die sich denselben Fragen und Phänomenender modernen Wirtschaft zuwandtenwie SombartoderTreitschke, dieaberalledreigänzlich andere Antwortenfanden. Keiner derGenannten formulierte eine analogeVöl- kerpsychologieoderKapitalismuskritik. Stattdesseninteressiertensie sich fürdie Vorteile dermodernen Wirtschaftsorganisation,fürPhänomene der ökonomi- schenBeschleunigung,fürInternationalisierung,Verflechtungund Arbeitsmi- gration,fürdie Chancendes freien Unternehmertumsund fürdie Zukunftder Weltwirtschaft.Füralledreiwar dieamerikanischeKonsumgesellschaft einVor- bild,keinSchreckensszenario, undalledreilasen dieGrundschriften des schot- tisch-englischen Wirtschaftsliberalismusals eininDeutschland noch nichtein- gelöstes Zivilisationsversprechen. DiesedreiWissenschaftler,someine These, arbeitetenanmehrals nuranfunktionalen Fragen der Ökonomie, sieformulierten ganzeKulturwirtschaftslehren,die von einemanderen Produktivitätsbegriff ausgingen, denn beiihnen wardas vermeintlicheProblem,wer als,produktiv‘ und werals ,unproduktiv‘zugeltenhabe, dasnoch fürSombart undfürdie meisten seiner Lesererkenntnisleitend war, nichtmehrzentralesArgumentationskriteri- um.Ehrenberg, Levy und Hirsch schrieben gegenden Wirtschaftsantisemitismus derZeitan. Sieverband,dassihnen auch praktische unternehmerischeErfahrung

6Felix A. Theilhaber,Die Juden im Weltkriege mit besonderer Berücksichtigung der Verhält- nisse in Deutschland, Berlin 1916, S. 27;zur innerjüdischen Rezeption Sombarts:Thomas Meyer, Zur jüdischen Rezeption vonWerner Sombart–Julius GuttmannsAntwort, in:Berg (Hg.), Kapitalismusdebatten (wie Anm. 4), S. 293–317. 7Zum Gesamtzusammenhang v. a.:Adam Sutcliffe,Anxieties of Distinctiveness. Werner Sombart’s The and ModernCapitalism and the Politics of Jewish Economic History, in: RebeccaKobrin/Adam Teller (Hg.), Purchasing Power.The Economics of ModernJewish History(Jewish Cultureand Contexts), Philadelphia 2015, S. 238–257;Georg Kamphausen, Nationalökonomie –Denkstil und FachgeschichteimFin de Si›cle, in:Berg(Hg.), Kapita- lismusdebatten (wie Anm. 5), S. 95–114;Jerry Z. Muller,Capitalism and the Jews, Princeton N. J. 2010;Hartmann Tyrell, Kapitalismus,Zins und Religion beiWerner Sombartund , in:Johannes Heil (Hg.), Shylock?Zinsverbotund Geldverleih in jüdischer und christlicherTradition, München 1997, S. 193–217.

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2. Richard Ehrenberg und die Produktivität des tertiären Sektors

Richard Ehrenberg war ein scharfer Kritiker des Kathedersozialismus;inwirt- schaftlichen Debatten zu Zeitfragen scheute er keine Auseinandersetzung.Er war in einer gläubigen jüdischen Familie aufgewachsen, ließ sich aber später protestantisch taufen.9 Schon als junger Mann hatte er Interesse an der wis- senschaftlichen Beschäftigung mit Wirtschaftsfragen, lerntedann zuerst das Bankgeschäft,später das Buchhändlermetier,war also selbst Kaufmann, ehe er sich in theoretischen Kontroversen äußerte. Nach der Berufsausbildung arbei- tete er ein Jahrzehntals SekretäramKöniglichen Kommerz-Kollegium in Altona, der Vorgängerin der heutigen Industrie- und Handelskammer.Seine Publika- tionstätigkeit zu wirtschaftlichen Themenbegann noch vorseinem Studium, das er in Göttingen, München und Tübingen absolvierte, und das er als Doktor der Staatswissenschaften mit Auszeichnung abschloss.Seine erste Schriftvon 1883 trug den Titel Die Fondsspekulation und die Gesetzgebung;eine weitere Ab- handlung widmete Ehrenberg1888 der Hamburger Handelsgeschichte.10 In dieser Zeit, so berichtete er im Rückblick, habeersich noch „im Sinne des Vereins fürSozialpolitik“ betätigt.11 1896 war er Augenzeuge des Streiks der Hafenarbeiter,der ihm aber nichtnur deren offenkundige Not, sondern auch den Blick „fürdie schwierige Lage der Unternehmer“ schärfte.12 Ein Jahr später

8Die folgenden Ausführungen präsentieren Forschungsergebnisse, die am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur –Simon DubnowinLeipzig,amDeutschen Historischen Institut in London, am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der UniversitätKonstanz und während einer Gastprofessur am Fritz Bauer Institut an der Goethe-UniversitätinFrankfurt am Mainentstanden sind. Ichdankeallen Institutionen fürdie großzügige Förderung, die sie diesem Unternehmen geboten haben. Ein besondererDank fürden intensiven Austausch überdie Ideengeschichte der Ökonomie gilt JanEikeDunkhase (Berlin/Marbach/N.) und TimMeier (Leipzig). 9ZuBiographie und Werk Ehrenbergs:MartinBuchsteiner,„Ichstehe in der Wissenschaft allein“. Eine kritische Biographie, in:derselbe/Gunter Viereck (Hg.), Richard Ehrenberg (1857–1921), Rostock2008, S. 11–52;MartinHeilmann, RichardEhrenberg und die „Ka- thedersozialisten“, in:Ibidem, S. 53–86;Ralf Stremmel, RichardEhrenberg als Pionierder Unternehmensgeschichtsschreibung. Oder:Wie unabhängig kannUnternehmensgeschichte sein?, in:Ibidem, S. 143–188. 10 RichardEhrenberg,Die Fondsspekulation und die Gesetzgebung, Berlin 1883;derselbe, Wie wurde Hamburggroß.Die Anfänge des Hamburger Freihafens, Hamburg, Leipzig 1888. 11 RichardEhrenberg,Gegen den Katheder-Sozialismus!, H. 2/3, Berlin 1910, S. 42. 12 Ehrenberg, Gegen den Katheder-Sozialismus (wie Anm. 11),S.42; vgl. auch:derselbe, Der Aufstand der Hamburger Hafenarbeiter 1897, in:Jahrbücher fürNationalökonomie und

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Statistik 13 (1897), S. 641–658;derselbe, Straftaten im Hamburger Hafenstreik, in:Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 11 (1897), S. 513–520. 13 Ehrenberg, Gegen den Katheder-Sozialismus!(wieAnm. 11), S. 43. 14 RichardEhrenberg,Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahr- hundert, 2Bde.,Jena 1896 (das Zitat überdie Ursprünge seiner Planung Bd. 1, S. X). 15 RichardEhrenberg,Hamburg und England im Zeitalter der Königin Elisabeth, Jena 1896; derselbe, Handelspolitik. Fünf Vorträge, gehalten im Verein fürVolkswirtschaftund Gewerbe zu Frankfurta.M., Jena 1900. 16 Zur wissenschaftspolitischen Ausrichtung des nach dem Landwirt, Ökonomen und Sozial- reformer Johann Heinrich vonThünen (1783–1850)benannten Thünen-Archivs (das dessen Nachlass enthält) vgl. die Darstellung in:Richard Ehrenberg,Sozialreformer und Unter- nehmer.Unparteiische etrachtungen, Jena 1904, S. 51–55;aus der Forschung:Angela Hartwig,Die Geschichte des RostockerThünen-Archivs, in:Buchsteiner/Viereck(Hg.), RichardEhrenberg (wie Anm. 9), S. 189–201;sehr kritisch war etwa der Leipziger Staats- wissenschaftler und Ökonom Karl Bücher,der den aufBefragungen basierenden methodi- schen Ansatz Ehrenbergs als „rohesVorstadium der eigentlich wissenschaftlichen Betäti- gung des Nationalökonomen“ bezeichnete, vgl.:Karl Bücher, Eine Schicksalsstunde der akademischen Nationalökonomie, in:Zeitschrift fürdie gesamte Staatswissenschaft 73 (1917), S. 255–292, hier S. 258.

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„Offenbar ist jene Knappheit der Natur an unmittelbar brauchbarenGüternkein so einfacher Begriff, wieesbeim ersten Anblick scheinen könnte;vielmehr handelt es sich dabei um eine vierfache Artvon Güterknappheit:die zur unmittelbaren Bedürfnis- befriedigung geeigneten Güter sind nichtingenügender Menge vorhanden;sie sind nichtinder fürdie Bedürfnisbefriedigung erforderlichen Beschaffenheit vorhanden; sie sind nichtamOrt ihres Bedarfs und endlich sind sie auch nichtzur Zeit ihres Bedarfs verfügbar“.19 Produktionund Distribution antworten beide aufein und dieselbeKnappheit, aufeinen gemeinsam zu beantwortenden Bedarf; sie sind, so das hier vorge- tragene Argument, in einem erweiterten Sinne das Zurverfügungstellen von zuvor überhaupt erst handhabbargemachten Gütern. Pointierter formuliert: Jede Antwortauf Güterknappheit ist Teil der „Produktion“, eine Unterscheidung zwischen dieser und einem Handel „an sich“ sei ein rein theoretisches Kon- strukt, das die Wirklichkeit gar nichtabbildet. Sein Credo lautete deshalb:

17 RichardEhrenberg,Der Handel. Seine wirtschaftlicheBedeutung, seine nationalen Pflichten und sein Verhältnis zum Staate, Jena 1897;die Schrift basierte aufeinem Vortrag,dessen Duktus sie in gedruckter Form beibehalten hat;sowendet sich der Autor etwa mehrereMale direkt an seine Zuhörer. 18 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 3. 19 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 24f.

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„Bleibt auch nureine vonihnen [gemeintsind die Aufgaben, die sich ausder Güterknappheit ergeben, N. B.] ungelöst“, so Ehrenberg,„so ist die Produktion nichtvollendet“.20 Während die herkömmliche Lehre Produktionals ,Schaffung vonWerten‘ definierte, dachte Ehrenberg Produktion vonder anderen Seite, von einem Bedürfnis her.Erwerbsarbeit wird in dieser Sichtweise immer dann produktiv,wenn sie „die Knappheit der Naturanunmittelbar brauchbaren wirtschaftlichen Gütern“ überwindet. Voneinem solchen Verständnis vonAr- beit ausgehend formulierte Ehrenberg dann seinen Produktionsbegriff, den er folgendermaßen erweitertdefinierte:„Produktion ist Überwindung vonna- türlicher Güterknappheit“,eine Definition, die den Handel in den Produktivi- tätsbegriff mit einschloss.21 Dieser Ansatz unterschied also nichtmehr kategorial zwischen Produktion und Zirkulation, sondernnur noch graduell zwischen verschiedenen Formen der Produktion, zu denen der Handel konstitutiv gehörte, weil auch er Teil der ökonomischen Antwortauf Güterknappheit darstellte.Mit dieser Position knüpfte Ehrenbergexplizit an die Konzepte des „Stoffwerts“, des „Formwerts“ und des „Ortswerts“ vonGüternan, die der Heidelberger ÖkonomKarl Knies bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführthatte. Ehrenberg überführte des- sen Grundgedanken in die moderne Diskussionumdie Frage nach der Han- delsproduktivität:Wenn der Handel am „Ortswert“ des Produkts teilhatte, dann war er auch an dessen Wertschöpfung insgesamt beteiligt.22 Ehrenberg argu- mentierttypologisch wenn er Knies weiterdachte und feststellte,dass man in der Wirtschaftgewöhnlich vier Berufsgruppen ausmachen könne, die in alltäglich gewordener Arbeitsteilung aufjeeine der verschiedenen Antworten aufGüter- knappheit spezialisiertseien:Urproduktion, Gewerbe, Handel und Spekulation. Die letzte der vier Berufsgruppen nannte Ehrenberg dabei pointiert„die eben- bürtige Schwester vonUrproduktion, Gewerbeund Handel“, führte sie beisei- nen Hörern, bzw.Lesernabermit der allergrößten Vorsichtein, ganz so,als verkünde er etwas Gefährliches oder gar Unstatthaftes:

20 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17),S.25. 21 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17),S.23f. 22 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 39f.:„Nurein Nationalökonomist mir bekannt, der in der Wertlehre bereits ähnliche Begriffe eingeführthat,wie sie mir als nötigerscheinen;das ist der alte Knies.“ Doch auch dieser,soEhrenberg weiter, habe seine „beiläufig“ gemachte Unterscheidung gar nichtausgearbeitet, ja selbstunterschätzt, einen kongenialen Nachfolger habeerspäter nie gefunden;auch EugenBöhm-Bawerk, der die Begriffe später aufgegriffen habe, maß ihnen keinen besonderen Wert bei, so Ehrenberg.Der Bezug aufKnies gilt:, Die politische Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode [zuerst 1853],Braunschweig 1883;vgl.zur subjektiven Wertlehreeinführend:Birger P. Priddat (Hg.), Wert,Meinung, Bedeutung. Die Tradition der subjektiven Wertlehre in der deutschen Nationalökonomie vor Menger (Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 3), Marburg1997.

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„Erschrecken Sie nicht überdas, was ich Ihnenjetzt sagen werde;ich möchte es Ihnen am liebsten verschweigen, denn es ist nichts geringeres, als die Legitimierung einer Thätigkeit, die alle Welt jetztzuhassen und zu verachten scheint, eines wahren enfant terrible der bürgerlichen Erwerbsarbeit;aberwas nützte es, wenn ich es Ihnenheute nichtsage? Überkurz oder lang müßte es ja doch ans Tageslichtkommen:die vierte Produktionsart, die ebenbürtige Schwester vonUrproduktion, Gewerbeund Handel ist die Spekulation.[…] Mein Gewissen gebietetmir dabei, Ihnen anzuvertrauen, daß dasjenige, was ich Ihnenhier überdie Spekulation sage, noch weniger zum gesicherten Bestande der Wissenschaft gehört,wie die Ihnenvorgetragene Lehre vonder Pro- duktivitätdes Handels.Wenn das, was ich Ihnen heute sage, in der Welt der deutschen Wissenschaftbekanntwird, so wird sich wohl zunächsthier und da einiges Schütteln der Köpfe ereignen, und namentlichwird man mir vorwerfen,daßich Ihnen […] solche noch nichtallgemein anerkannte Lehren vorgetragen habe“.23

Es waren die alten Begriffe, aber Ehrenberg interpretierte sie –nichtohne Skrupel –völlig anders. Denn in seiner Betrachtung unterteilten sich die vier Konzepte gerade nichtinjedoppelt antinomisch gegenüberstehende Prinzipien- Paare, vondenen das eine –Produktionund Gewerbe–die ,eigentlich‘ ökono- mischen Wertehervorbrachte, während das anderePrinzip –Handel und Spe- kulation –als lediglich verteuernder Zwischenschritt des Verteilens vonver- meintlich natürlich vorhandenen Wirtschaftsgüternden direkten Zugang zu diesen verhindereund stattdessen willkürliche Bedingungen fürVerkauf und Erwerb diktiere. Dass er mit seiner These vom produktiven Ortswertdes Han- dels eine Außenseiterposition vertrat, hatte Ehrenberg richtiggesehen. Den Handel eine „Produktionsart“ zu nennen und aufdiese Weise zu einer integralen Stufe der Wertschöpfungskette zu zählen, war in der Wissenschaftum1900 nicht Schulmeinung. Ehrenbergerntete vehementen Widerspruch. Zustimmung er- hielt er dagegen vonnur wenigen Kollegen, zu ihnen zählten –neben Julius Hirsch, vondem gleich die Rede sein wird –,Lujo Brentano,der ebenfalls vom Bedürfnis der Käufer her dachte, Heinrich Edgar Landauer und der Hamburger Handelsforscher Heinrich Sieveking.24

23 Ehrenberg, Der Handel (wie Anm. 17), S. 31f. 24 Lujo Brentano,Versuch einer Theorie der Bedürfnisse, München 1908;derselbe, Überden Wahnsinn der Handelsfeindlichkeit, München 1916;derselbe,Handel und Kapitalismus, in: RichardBräu/HansG.Nutzinger (Hg.), Lujo Brentano.Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte [zuerst 1923],(Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 32), Marburg2008, S. 231–270;Lujo Brentano,Ist der Handel an sich Parasit?[zuerst 1905],in: RichardBräu/HansG.Nutzinger (Hg.), Lujo Brentano.Der tätige Mensch und die Wissen- schaftvon der Wirtschaft. Schriften zur Volkswirtschaftslehreund Sozialpolitik (1877–1924) (Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 24), Marburg 2006, S. 339–344; Lujo Brentano,Die Produktivitätdes Handels noch einmal [zuerst 1905],in: ebenda, S. 345–348;Edgar Landauer,Ueber die Stellungdes Handels in der modernen industriellen Entwicklung,in: Archiv fürSozialwissenschaft und Sozialpolitik 35 (1912), S. 879–892; Heinrich Sieveking, Entwicklung,Wesen und Bedeutung des Handels, in:Grundriß der

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Das war also die Positionvon Richard Ehrenberg:Erwollte die theoretische Grundidee des Handels verteidigtwissen, nichtnur seine Funktion. Seine Wirtschaftsgeschichtsschreibung kann heute als ein Versuch gedeutet werden, Erkenntnis überWirtschaftebennicht in völkerpsychologischen Kategorien zu gewinnen. Seine Erfahrungen als Jude waren hierfürkeineswegs irrelevant: Um den jüdischen Anteil an allgemeinen Entwicklungen anders als der Zeitgeist zu würdigen, musste er ihn jenseits der herkömmlichen ökonomischen Begriff- lichkeit formulieren. Er bemühtesich um einen neuen Empirismus, um ein neues Produktivitätskonzept und um die Erneuerung des Leistungsgedankens, der die Trennung in verschiedene Glaubens- oder Volksgruppen unterlief. Au- ßerdem zeigte er den unternehmerischen Kapitalismus auch dortamWerke, wo Juden überhaupt nichtbeteiligtwaren. Händler und Unternehmer beschrieb er als Gruppe sui generis, weder (marxistisch) als Klasse, noch (bürgerlich) als religiösgeprägtes Ausnahmekollektiv, vorallem aber betrachtete er Juden nicht als lediglich unproduktiveSpekulanten. Er zeichnete ihreBedeutung fürdie Allgemeinheit positiv, überihren Beitrag zum Zugewinn an Wohlstand. Unter- nehmertum war fürihn generell –darin näherte er sich ihrem gesellschaftlich- beruflichen Selbstverständnis an –eine Haltung zur modernen Welt, die es nicht zuließ,Unterschiedezwischen jüdischen und christlichen Protagonisten zu ziehen. Er richtete sich so diametral gegenWerner Sombarts aufJuden bezogene Thesen, denen zufolge der „kapitalistische Geist“ in erster Linie durch einen ungezügelten Erwerbstrieb der jüdischen Unternehmerzudefinieren sei und dies den Grund darstelle, warum gerade Juden eine besondereBegabungfürihn mitbrachten;eine solche Auffassung sei nichtmehr als „ein Hirngespinst“, so die Kritik vonEhrenberg.25 Sombarts einflussreiche Darstellung des vermeintlich spezifischen „jüdischen Reichtums“, der Voraussetzung fürdie Entstehung des Kapitalismus sei, erweise sich als reine Fiktion. Ihr Realitätsgehalt sei gering,da beiihm –wie es der Schriftsteller JakobWassermann aufden Punkt brachte –nur das „übliche Dutzend Namen […],einige europäische und einige ausder Wallstreet“, genanntwerde.26 Ehrenberg botlange vordem Ansinnen Sombarts, auseinigen wiederkehrenden jüdischen Namen ein ganzes Erklärungsmodell für

Sozialökonomik, V. Abteilung:Handel, Transportwesen, Bankwesen, Tübingen 21925;die damalige ,Produktivitäts-Debatte‘ reflektiertinsgesamt:Adolf Kamer,Beiträge zur Ge- schichte des Problems der Produktivitätdes Handels, Inaug.Diss.,Zürich1909;Joseph Burri, Die Stellungdes Handels in der nationalökonomischen Theorie seit Adam Smith, in: Zeitschrift fürdie gesamte Staatswissenschaft 69/4 (1913), S. 574–646; vgl. auch die Kom- mentare zu Ehrenberg bei:Georg Otto Schudrowitz, Die Entwicklung der Lehre vom Handel und Absatzund ihr Einfluß aufdie Betriebswirtschaftslehre, Inaug.-Diss. der Wirtsch.- und Sozialwissenschaftlichen Fakultätder Univ.Erlangen-Nürnberg 1968, S. 82–85. 25 RichardEhrenberg,Krupp-Studien, III, 1911, S. 156. 26 JakobWassermann, Die psychologische Situationdes Judentums, in:BernhardHarms (Hg.), Volk und Reich der Deutschen, Bd. 1, Berlin 1929, S. 441–455, hierS.444.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 68 Nicolas Berg die moderne Marktwirtschaftzuziehen, ein anderes Prinzip fürdie Deutung des modernen Handels an, eines, das aufeinem anderen Produktivitätsbegriff ba- sierte, das jedoch nichtdie Wirkmächtigkeit erlangte, die Debatte um den ver- meintlich jüdischen Kapitalismus zu entideologisieren.

3. Hermann Levy und die ökonomische Bedeutung von Immigranten

In Begriff und Konzept der vermeintlich fehlenden jüdischen Produktivitätwar inzwischen eine doppelte Ökonomisierungeingegangen. Eine solche Sichtweise basierte keineswegs ausschließlich aufder sozialen Lage jüdischer Arbeiter,also etwa aufder verbreiteten Armut osteuropäischer Einwanderer,sonderndiese Sichtbezog sich generellauf ihr wirtschaftliches Handeln, das im Lichte einer völkerpsychologischen Theoriebildung die Wahrnehmung jüdischer Existenz durch die gesellschaftliche Mehrheit insgesamt mehr und mehr prägte. Für Sombarts ökonomische Theorie hatte nurdas „Volumen vonUrstoffen“ Geltung, womit er Bergbauerzeugnisse und Landwirtschaftmeinte:Die Ökonomie eines Landes basierte aufder „Produktivitätder Urproduktion“, aufder „Produkti- vitätder Landwirtschaftund des Bergbaues“.27 Als ,jüdisch‘ wahrgenommene Berufe waren derartneophysiokratisch betrachtet also deshalb ,unproduktiv‘, weil sie gerade nichtauf dem Acker, in der Silbermine oder in der Kohlengrube stattfanden, sondernals Dienstleistung und Vermittlung, in Handelund Kom- munikation, in Presse und freien Berufen. Theorie und Terminologie von Sombartrückten Wirtschaftsformund Zugehörigkeit zu einem Volk eng zu- einander,wenn er der „ideenhaften“ Volksgemeinschaftden „interessenhaften Verband“ gegenüberstellte, der in seiner Deutungbereits den „Volkszerfall“ dokumentiere.28 Denn fürSombartbestand kein Zweifel daran, dass eine solche „interessenhafte Gesellschaft“ auch „unfruchtbar“, also unproduktiv sei, da in seinem System nurinder Gemeinschaft„echte Kultur“ möglich war;Interes- sengemeinschaften, so sein apodiktisches Urteil, seienapriori„kalt“.29 Folgt

27 Werner Sombart,Emporkommen,Entfaltungund Auswirkung desKapitalismusinDeutsch- land,in: Harms(Hg.),Volkund Reichder Deutschen, Bd.1(wie Anm.26),S.199–219,hier S. 212f. 28 Werner Sombart,Kapitalismus und kapitalistischer Geist in ihrer Bedeutung fürVolksge- meinschaft und Volkszersetzung, in:Harms (Hg.), Volk und Reich der Deutschen, Bd. 1(wie Anm. 26), 280–292, hier S. 280. 29 Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 28), S. 291;diese Dichotomie des Werturteils basierte auf der Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) vonFerdinand Tönnies, deren Erstausgabe den Untertitel Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Cultur- formen trug;berühmt wurde sie dann mit der zweiten Auflage von1912 mit dem Untertitel Grundbegriffe der reinen Soziologie.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Die jüdischen Nationalökonomen Ehrenberg, Levy und Hirsch 69 man dieser politisch hochaufgeladenen ökonomischen Pseudologik, die sich mit den Axiomen des Antisemitismus der Zeit immer stärker verschränkte, so er- schien aufeinmal die Differenzjüdischer Lebenswelten als das Ergebnis einer im Ganzen aufeiner „kalten“, also falschen Wirtschaftsgrundlagebasierenden und somit generell fehlgegangenen Entwicklung in Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur.30 Vordiesem Hintergrund ist der ökonomietheoretische Ansatz vonHermann Levy spektakulär. Denn er stelltesehr bewusst gerade nichtdie neophysiokra- tische Urproduktion in dasZentrum seiner Arbeiten, sondernverteidigte um- gekehrtdie Idee der ökonomischen Produktivitätvon Migranten. Anstatt den mobilen, nichtauf der Scholle ansässigen Teil der berufssuchenden Menschen zu kritisieren, verteidigte Levy ihn, und zwar mit ökonomischen Argumenten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegswarb er ebenso füreinen anderen Blick auf England und um Verständnis und Respekt fürden englischen Wirtschaftslibe- ralismus, in einer Zeit also, als dieser inner-und außerhalb der deutschen WirtschaftswissenschaftSynonym füreine verachtete und heftigbefehdete ka- pitalistische Händlermentalitätgeworden war.Levy wurde 1902 in München bei Lujo Brentano überdie Geschichte der altenglischen Landwirtschaftpromoviert und blieb Zeit seines Lebens der englischen Kulturpersönlich und intellektuell verbunden.31 Fast gleichzeitig mit Sombarts Buch überdie Ökonomie der Juden erschien seine Monographie Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismusin der Geschichte der englischen Volkswirtschaft,ein Werk, das er Ende der 1920er-

30 Solche Thesenwiederum zogen dann auch die vielen innerjüdischen Appelle zur ,Rückkehr‘ zu einer vermeintlich natürlichen Arbeit nach sich, die ausheutigerSichteine eher irritie- rende Selbstpathologisierung darstellen, mit der innerjüdische Zeitdiagnosen die an sie herangetragenen Produktivitätsforderungen im Sinne Sombarts zu beantworten suchten: Diese Reaktion affirmierte das Axiom der „falschen“jüdischen Ökonomisierung als „In- teressengemeinschaft“, die nur durch eine Forcierung vonHandarbeit, Landbauund Bo- denbewirtschaftung wieder in eine „richtige Wirtschaftsform“ zurückverwandeltwerden könne, so dass auseiner „kranken“ wieder eine „gesunde“ Lebensgrundlagewerdenkönne; vgl. hierzu:Nicolas Berg, „Weg vom Kaufmannsstande!Zurück zur Urproduktion!“ Pro- duktivitätsforderungen an Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in:Nicole Colin/ Franziska Schößler (Hg.), Das nennen Sie Arbeit?Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse (Amsterdam German Studies), Heidelberg 2013,S.29–53. 31 Hermann Levy,Die Notder englischen Landwirte zur Zeit der hohen Getreidezölle, Stuttgart, Berlin 1902;derselbe, Soziologische Studien über das englische Volk, Jena 1920;derselbe, Die englische Wirtschaft. Handbuch der englisch-amerikanischen Kultur, Leipzig 1922. Im Ersten Weltkrieg veröffentlichte Levy auch mehrerenationalistische Kampfschriften, in denen der Kriegsgegner und seine Wirtschaftsambitionen attackiertund die deutschen Herrschaftsansprüche verteidigt werden, vgl.:Hermann Levy,Die neue Kontinentalsperre – Ist Grossbritannien wirtschaftlich bedroht?,Berlin 1915;derselbe, Unser Wirtschaftskrieg gegen England, Berlin 1916;derselbe, Die englische Gefahr fürdie weltwirtschaftliche Zu- kunftdes Deutschen Reiches, Berlin 1916.

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Jahre in erweiterter Form neu auflegen ließ.32 Hierin pries Levy den „weltge- schichtlich bedeutsamen Gesamtliberalismus“, den er vom weitläufig verun- glimpften „manchesterlichen Parteiliberalismus“ unterschieden wissen wollte.33 Bereits die erste Auflage der Schriftenthielt ein eigenes Kapitel überImmi- granten und ihren besonderen Beitrag zum englischen Wirtschaftsaufschwung, ein Argument, das im Kontext vonLevysGesamtwerk vonausschlaggebender Bedeutung wurde. Kurze Zeit später legte er den Aufsatz Der Ausländer –Ein Beitrag zur Soziologie des internationalen Menschenaustauschs vor, der eine Zusammenfassung seiner soziologischen Thesen zum ökonomischen Habitus vonEinzelnen, Gruppen und Nationalitäten in der Fremde darstellte.34 Denn Levy war beialler Hochachtung vor dem englischen Wegindie Moderne kei- neswegs der Meinung,dass der ökonomische Fortschritt vonEngländernalleine ins Werk gesetzt worden sei. Vielmehrerinnerte er häufig an die eigenständigen Beiträge vonHolländern, Italienernund Deutschen oder aber an die ökonomi- sche Kreativitätreligiöser Gruppen wieHugenotten, Protestanten oder Juden. Alle vonihm dabei beachtetenKollektive, ob national oder religiösdefiniert, hatten immer dann eine besonders auffällige und nachhaltige ökonomische Bedeutung,wenn sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit nichtzuhause, am Ortder Geburt, sondern in der Fremde entfaltet hatten. So formulierte Levy mit seiner Verneigung vor der neuzeitlichen englischen ToleranzinreligiösenDingen und ihrer Fähigkeit zur Integration vonZuwandererneine weit ausgreifende Theorie ökonomischer Modernisierung,inder er den vorbildhaften Beitrag vonEin- wanderern füralle Volkswirtschaften zu allen Zeiten herausstellte. Nebender in seinen Schriften immer wiederkehrenden Beschäftigung mit der Entstehung und der Bedeutung der Ökonomie in England und Amerika interessierten ihn die Frage, „welche spezifischen KräfteproduktiverArt“35 ein Ausländer (oder eben auch eine Gruppe vonAuswanderern auseinem bestimmten Staat oder einer Region) in das Wirtschaftsleben des gewählten Ziellands neu einzuspeisen wusste. Als drittes großes Thema schließlich finden sich beiLevy Ansätze einer ideellen Begründung der Einheit der Weltwirtschaft, denn er war davon über-

32 Hermann Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Geschichte der englischen Volkswirtschaft, Jena 1912;derselbe, Der Wirtschaftsliberalismus in England, Jena 1928. 33 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 4. 34 Hermann Levy,Der Ausländer.Ein Beitrag zur Soziologie des internationalen Menschen- austauschs, in:Weltwirtschaftliches Archiv 2(1913), S. 273–298;die Nähe zu Georg Simmels Reflexionen überdie Figur des „Fremden“ ist evident, vgl.:Klaus Christian Köhnke, ,Der Fremde‘ als Typus und als historische Kategorie.Zueinem soziologischen Grundbegriff bei , Alfred Schütz und RobertMichels, in:Berg(Hg.), Kapitalismusdebatten um 1900 (wie Anm. 5), S. 219–238. 35 Levy,Der Ausländer (wie Anm. 34), S. 274.

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36 Hermann Levy,Die Grundlagen der Weltwirtschaft. Eine Einführung in das internationale Wirtschaftsleben, Leipzig, Berlin 1924, S. 9. 37 Vgl. als Einführung in diese Grundlagendebatte der Soziologie:Wolfgang Schluchter/ Friedrich Wilhelm Graf (Hgg.), Asketischer Protestantismusund der „Geist“ des modernen Kapitalismus. MaxWeberund Ernst Troeltsch, Tübingen 2005. 38 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München, Leipzig 1915. 39 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. VI. 40 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 144f. 41 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 13. 42 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 38. 43 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 15, 40.

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ergießen im Begriffe ist, weil keines vonihnen gegen die andringende Gefahr gepanzert ist durch die heldische Weltanschauung,die allein […] Rettung und Schutz verheißt“.44 Zudem hatte er in seinem Anti-Englandbuch auch vor der „Ausländerei“ in Deutschland gewarnt und sicheinen „Sturmwind“ herbeigewünscht, „der unser Land durchbraust“ und mit dem „Snobismus“ und „Geistreichelei“ „fortgefegt“ würden.45 Der genaugegenteilige Aufruf zu einer intellektuellen wie ökonomischen Verflechtung der Beziehungen zwischen beiden Ländern, wieLevy ihn vorund nach dem Ersten Weltkrieg äußerte, enthielt im Kontrast hierzu keine Denkfigur der wieimmer imaginierten „Reinheit“eines deutschen „Wesens“ oder deut- scher „Sinnesart“. Stattdessen findetsich beiihm aufrichtigempfundene Be- wunderung fürdie englische Toleranz und fürdas angelsächsische Elementdes common sense in Wirtschaftund Gesellschaft. England war fürLevy,lange bevor es fürihn persönlich zum rettenden Hafenwurde –1933 wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunftins Exil getrieben und konnte sich nach London retten,woerimJanuar 1949 starb –, ein Ortder Verheißung,ein Land, dessen Vorzüge in höchstem Maßeerstrebenswertwaren. Sein Interesse an den Grundlagendes Wirtschaftsliberalismusließ ihn die wirtschaftliche Vernunft der Engländer preisen, in der er eine unerschütterliche Kraftsah, die auch durch die Krisen der Gegenwartnichtinfrage gestellt werden konnte. „Liberalismus“ – das war fürihn das Gegenteil eines Schimpfworts und kein analog zur konti- nentalen Ablehnung gegen „Freihandel“ verwendeter Begriff. Der Begriff hatte fürihn mit der affektgeladenen Polemik gegendas „Manchestertum“ Englands nichts zu tun. Ehrenberg pries vielmehr das Geistesleben Englands im 17. Jahrhundert, eines Zeitalters, so die Pointe des Arguments, dessen geistige Bewegungen gar nichtauf das Wirtschaftsleben abzielten, sondern gerade „ab- seits“ davongeschahen und die somit die Ökonomie „nur indirekt beeinfluß- ten“.46 So war in London ein „eherner Bestand liberaler Gesinnung“47 fürLevy auch in der Gegenwartzuerkennen, denn dieser hatte sich überalle Konjunk- turen der Geschichte hinweg erhalten und war „tief in dem Bewußtsein der alten Kulturvölker verankert“.48 Seine Schriftendet mit den Worten: „DerGlaubeandie Rechte der Persönlichkeit, an die Notwendigkeit möglichsterEnt- faltung des Einzelnen, an seinebürgerliche Gleichberechtigung, die Toleranz gegen- überden Meinungen anderer,sei es politisch andersdenkender Gegner,sei es An-

44 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 14, 140, 145. 45 Sombart, Händler und Helden (wie Anm. 38), S. 125. 46 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. VII;weiter heißtes hier:„Das 17. Jahrhundertist das Zeitalter der großen prinzipiellen Vorbereitung und Er- ziehung des englischenVolkes zur wirtschaftlichen Führerschaftspäterer Zeiten gewesen.“ 47 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 5. 48 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 5.

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derskonfessioneller,die soziale Gleichbewertung der Berufe, die Duldsamkeit gegen- überden Heiligtümernanderer Völker und Rassenund vieles in jener Richtung des Kulturliberalismus, was anderen Nationen heute noch nichtinFleisch und Blut über- gegangenist, wird selbst unter einer neuen sozialenVerfassung dem Engländer ver- bleiben. Denn es ist Bestandteil des Volkscharakters geworden“.49

Sein fester Glaubeandie Kraftdieses Erbes ließen ihn denn auch im englischen Alltag seiner Zeit Beispiele hierfürfinden:Imkulturliberalen Geist erkannte er den „Charakter indelebilis“ der Kultur Englands, eine Unzerstörbarkeit, die auch keine ökonomische Erschütterung je beenden könnte.50 Levy fasste unter „Kul- turliberalismus“ das zusammen, was aufdie geistigen Grundschriften des 17. Jahrhunderts zurückzuführen war und was nun„allgemeines Kulturgut des englischen Volkes“ geworden sei.51 Die Aufklärungsschriften Englands (Locke, Hume, Smith) seien alles andere als bloße„papierne Kulturgüter“, sondern „aus der Tiefe des sozialen Gefüges“ hervorgewachsen und zur Struktur der Gesell- schaftgeworden.52 Zu dieser Kultur zählte er die Selbstverantwortung,die Ab- neigung gegen Zentralismus und vorallem die Absenz politischer und ökono- mischer Doktrinen;injedweder Ideologie und in allen politischen Gesetzen mit überzeitlichen Ansprüchen sah Levy etwas „unliberales“ und dieser Ausdruck war fürihn identisch mit „unenglisch“. Als ein besonders aussagekräftiges Beispiel fürden Nachweis einer aufrichtigen englischen Liberalitätund Leis- tungsgerechtigkeit galtihm die Tatsache, dass in der britischen Kultur fürJuden der Aufstieg in die allerhöchsten Ämter möglich war,dass etwa –wie Levy hier mit doppeltem Stolz fürEngland und die Juden anmerkte –ein Isaac Rufus (1860–1935) als Sohn eines jüdischen Obsthändlers ausWhitechapel, dem im Osten der LondonerInnenstadt gelegenen Armenviertel, zunächst Jurist und Mitglied der Liberalen, dann Botschafter in Washington und Generalgouverneur und später sogar Vizekönig Indiens werden konnte.53 Gerade das die Mitglieder einzelner Nationen „am stärkstendifferenzierende Moment“, so Levy,nämlich

49 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 128;nochpoin- tierter lautet diese Passageinder 2. Aufl.,S.185:„Dazu [gemeintsind die englischen „All- gemeineigenschaften, um die es in vielen Ländernbis vor kurzem sehr zu Rechtbeneidet wurde“,N.B.] gehört immer noch der Glaubeandie Persönlichkeit, an die Notwendigkeit der Entfaltung des Einzelnen, an seine unbedingte bürgerliche Gleichberechtigung, die Toleranz gegenüberMeinungen anderer,sei es politischer Gegner,sei es anders-konfessioneller,die soziale Gleichbewertung der Berufe u.a.m.“ 50 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 185. 51 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 183. 52 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 186. 53 Levy,Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, (wie Anm. 32), S. 186. Levy zitiert hier den JournalistenRudolf Kircher,Engländer,Frankfurta.M.1926:„Dieser jüdische Vizekönig stehtals ein Bahnbrecher vor seinem Volk. England […] scheute sich nicht, eine seiner großartigsten nationalen Aufgabenund sein prunkvollstes Amt in die Hände eines Rufus Isaacs zu legen.“

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54 Levy,Die Grundlagen der Weltwirtschaft(wieAnm. 36), S. 21f. 55 Levy,Die Grundlagendes ökonomischen Liberalismus (wie Anm. 32), S. 113;vgl.auch derselbe, Das Immigrantenproblem,in: derselbe, Der Wirtschaftsliberalismus in England, Jena 1928,S.43–54. 56 Levy,Immigrantenproblem (wie Anm. 55), S. 43. 57 Levy,Immigrantenproblem (wie Anm. 55), S. 98f. 58 Levy,Immigrantenproblem (wie Anm. 55), S. 54. 59 Hermann Levy,Werner Sombart–the enigmatic Scholar,in:derselbe, Englandand Germany. Affinity and Contrast, Leigh-on-Sea 1949, S. 119–126; die Auseinandersetzungen mit Som- bartimWerk vonLevy erwähntauch Alexander Schug,Werbung und die Kultur des Kapi- talismus, in:Heinz-GerhardHaupt/Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurta.M./New Yo rk 2009, S. 355–369.

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4. Julius Hirsch und die Verwissenschaftlichung des Handels

Auch Julius Hirsch könnte man, nach einer Formulierung vonRainer Gries, als einen der „Experten der Moderne“ bezeichnen.60 Auch er war zuerst ein Prak- tiker, der sich vom Standpunkt des gelernten Kaufmanns ausdann, ähnlich wie Ehrenbergund Levy,wissenschaftlichen Themen des Handels zuwandte. Ihn interessierte beides:konkrete, tagesaktuelle Detailprobleme der Ökonomie sowieall jene übergreifenden Fragen, die den Einfluss des Kaufmannsstandsauf Wirtschaft, Gesellschaftund Kultur als solche betrafen. Zudem war sein Er- kenntnisinteresse mit einer politischen Beratertätigkeit verknüpft.61 Hirsch vereinte aufdiese Weise Sachkenntnis, theoretisches Wissen und Einsichten in die Funktionsweise wirtschaftspolitischer Steuerungsprozesse. In der Frühzeit der Weimarer Republik war er Staatssekretärimsozialdemokratischen Reichs- wirtschafts- und Ernährungsministerium unter Robert Schmidt, wo er an den Reparationsverhandlungen mit den Alliierten teilnahm, seinen Einfluss gegen die ausdem Krieg beibehaltenen Elemente einer zentral gelenkten Planwirt- schaftspolitik geltend machte und fürprivatwirtschaftliches Unternehmertum eintrat.Als Hochschullehrer arbeitete er zu Fragen, die das Fach in aufgewühlten politischen Zeitläuften vorfand, sprach dabei aber zu den Studenten nie von einer rein ökonomischen Warteaus, sondernversuchte stets gesellschaftliche Antworten aufdie Fragen der Zeit zu geben und wurde so zu einem Vermittler zwischen Wissenschaft, Wirtschaftspraxis und Öffentlichkeit. Hirschs Publikationen und Interventionen entwarfen ebenfalls das Bild eines wohltätigen Handels, denn diesen konzipierte er wieEhrenberg und Levy als eine genuine menschliche Kulturleistung. Dieses Plädoyer geriet ihm zu einer regelrechten Liebeserklärung an alle Formen der Gütervermittlung und des Gütertauschs und an die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten einer allge- meinen Wertschöpfung.Das Ideal seines Kaufmanns waren nichtdie Fugger, sondern –ganz zeitgemäß und aufdie gegenwärtige Wirtschaftbezogen –der akademisch ausgebildete Betriebswirt. Ihn sah er zwar pragmatisch, aber nicht ohne Pathos als einen „Mittler zwischen Wirtschaftslehre und Wirtschaftspra- xis“ und wies ihm so einen die sozialen Spannungen des Gemeinwesensbe-

60 Rainer Gries,Die Geburtdes Werbeexperten ausdem Geist der Psychologie. Der „Motiv- forscher“ Ernest W. Dichter als Experte der Moderne, in:Hartmut Berghoff/JakobVogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwech- sels, Frankfurt a. M./New Yo rk 2004, S. 353–375. 61 Encyclopedia Judaica, Bd. 9, S. 126;zuHirsch:Bruno Rogowsky,Von der Artund dem Erfolg des Lebens und wissenschaftlichen Schaffens Julius Hirsch, in:Karl Christian Behrens(Hg.), Der Handel heute. In Memoriam Julius Hirsch, Tübingen 1962,S.1–29;Walter Le Coutre, Persönliche Erinnerungen an Julius Hirsch, in:Ebenda, S. 31–57.

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62 Die Formulierung ausdem unpaginierten Vorwortvon Julius Hirsch/Joachim Tiburtius, Wirtschaftslehre und Wirtschaftspraxis, Berlin 1931. 63 Julius Hirsch, Das Warenhaus in Westdeutschland, seine Organisation und Wirkungen, Leipzig 1910. 64 Julius Hirsch, Die Filialbetriebe im Detailhandel (unter besonderer Berücksichtigung der kapitalistischen Massenfilialbetriebe in Deutschlandund Belgien), Bonn 1913. 65 Vgl. in diesem Tenor:Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben (wie Anm. 5),

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Kaufhaus und Filialhandel zur Verkörperung eines aufdie Spitze getriebenen „händlerischen“ Geistes stilisierte und harsch kritisierte, zeigte Hirsch schlicht und analytisch die Vor- und Nachteile der beiden neuen Verkaufsformen und -wege aufund verwies dabei nüchternauf die Gefahren, die ein staatliches Verbot des Filialhandels mit sich brächte, da andernfalls ein verschleiertes Filialsystem und somit Scheinselbstständigkeit eintreten würde. Im Ersten Weltkrieg kämpfteHirsch zunächst an der Front. Nach einer Ver- wundung arbeitete er ab 1916 als Sachverständiger an der sogenannten Reichspreisstelle, einer volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährung- samts. Er war hier Fachgutachter fürdie im Krieg drängende Frage der Höchst- und Richtpreise sowiedes Problems gerechter Handelsspannen vonganz ver- schiedenen Branchengütern, vorallem ausdem Bereich der Lebensmittelindu- strie. Zu seinen Aufgaben gehörtees, überhöhtePreise und Preistreiberei zu verhindern, also die strikte Einhaltung vonPreisgesetzenzugewährleistenund somit Wucher zu unterbinden. Als bereits praktisch erfahrener Diplom-Kauf- mann und noch junger Gelehrter wandte Hirsch die Lehre Eugen Schmalenbachs an, beidem er die Preisfestsetzung überdie Kostenkalkulation (die sogenannten „fixen Kosten“) gelernt hatte. Ebenso untersuchte er eine kriegsspezifische Form der Warenbewegung,nämlich den umstrittenen„Kettenhandel“, dessen aufden ersten Blick intrikates Phänomen der vermeintlich gänzlich willkürlichen Preisaufschläge er in einer Publikation ausdem Jahr 1916 darlegte.66 In mehreren Broschüren widmete er sich somit einmal mehr den Kernthemen des ökono- mischen Antisemitismus seiner Zeit. Denn wiezuvor beider Diskussionum Warenhausund Filialhandel galtesweiten Teilen der gebildeten Elite wieder allgemeinen Öffentlichkeit als ausgemacht, dass es hier,imals ,unproduktiv‘ betrachteten Zwischenhandelund unter Ausnutzung der allgemeinen Kriegsnot,

S. 178;derselbe, Das Warenhaus. Ein Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters, in:der- selbe, Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis der Entwicklung des Warenhauses in Deutschland,Berlin 1928, S. 151–162;zum historischen Kontext jetzt: Paul Lerner,The Consuming Temple. Jews, DepartmentStores, and the Consumer Revolution in Germany, 1880–1940,Ithaca 2015;derselbe, Könige des Einzelhandels. JüdischeWaren- hausunternehmer und die Machtdes Konsums, in:Backhaus/Gross/Weissberg (Hg.), Juden. Geld. Eine Vorstellung (wie Anm. 5), S. 204–218;Mikael Hård, Marie-Christin Wede, „Ju- dengeschäfte“. Warenhäuser im urbanen Kontext 1876–1938,in: Andreas Hoppe (Hg.), Raum und Zeit der Städte. Städtische Eigenlogik und jüdische Kultur seit der Antike, Frankfurta.M./New Yo rk 2011 (Interdisziplinäre Stadtforschung, Bd. 12), S. 143–166;Ala- rich Rooch, Warenhäuser:Inszenierungsräume der Konsumkultur. Vonder Jahrhundert- wende bis 1930, in:Werner Plumpe (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiser- reich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 17–30;eine Einführung in das Thema bietet auch:Helmut Frei, Tempel der Kauflust. Eine Geschichte der Warenhauskultur,Leipzig 1997. 66 Julius Hirsch, Der Kettenhandel als Kriegserscheinung [zuerst 1916], 2Berlin 1917;vgl.auch derselbe, Die Preisgebilde des Kriegswirtschaftsrechts, Berlin 1917.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 78 Nicolas Berg

Juden waren, die Preissteigerungen künstlich herbeiführten, ohne jeglichen Mehrwertzwischen Kauf und Verkauf geschaffenzuhaben. Hirsch und seine Schüler führten Methoden zur Berechnung angemessener Gewinnzuschläge überdie Kostenkalkulation ein und gelangten so zu einer neuen betriebswirtschaftlichen Sichtauf die Preisfrage.67 Sein Ansatz stellteeine wirtschaftswissenschaftliche Innovation im Fach dar und lieferte empirische Kriterien fürdie Schlichtung eines ökonomischen Schlüsselkonflikts der Zeit. So konnte er aufeine nachgeradebuchhalterische Weise und lediglich anhand der jeweiligen Kostenaufschlüsselung des unternehmerischen Handelns zeigen, dass die Vergleichszahlen in allen Berechnungen meist Grundlegendes außer Acht ließen, etwa, dass beiden Gesellschaftsunternehmungen die Gehälter der Di- rektoren oder der Geschäftsführer eingerechnet worden waren, nichtaberbeim Einzelkaufmann. Hirsch ging dasThema also kaufmännischan, indem er rechnerische und intellektuelle Folgerungen aufder Basis vonselbst erhobenen Daten und Originalzahlen der Kosten und Erträge durchführte. So etablierte er das Berechnungsmodell der „kostenechten Preise“68,das seither zum gängigen Lehrwissen der Betriebswirtschaftzählt. Auch zur umstrittenen Thematik der sogenannten Handelsspanne äußerte sich Hirsch betriebswirtschaftlich.69 Es sei eine Tendenz der Moderne, so sein Argument, dass mehr und mehr die Rabatt- anstelle der Preisfrage verhandelt werde, dass also ein „Gebührenprinzip fürHandelsleistungen“ Einzug halte, „eine der eigentümlichsten Wandlungen unsererVertriebswirtschaft, die ganz unter der Hand vor sich gegangen ist“ und die er guthieß.70 Mengen-, Umsatz-, Muster-, Barzahlungs-, Treue-, aber auch Saison- oder Stufenrabattwie auch Exportprämien oder Einführungspreise seienallesamt Ausdruck einer ökono- mischen Aufwertung des Handelsprinzips gegenüberder Produktion. Hirschs Forschungenzeigten auf, dass eine solche Entwicklung international und re- gional erstaunlich ähnlich verlief, dass Handelsspannen in der Höhe kaum dif- ferierten und dass der Wettbewerb dafürsorge, alle künstlich hohen Preise umgehend zu regulieren.71 Eine Epoche exponentiell sich vermehrender neuer Waren, Produkte und Dienstleistungen, so sein Argument, benötige eine quantitativeund qualitativeAusweitung der Figur des Vermittlers, der neue

67 Als Beispiel fürdie Arbeit eines seiner Schüler vgl. HerbertKahn, Die neuere Entwicklung des Filialsystems im Lebensmittelhandel.Unter hauptsächlicherBerücksichtigung von Deutschland und Amerika, Inaug.-Diss. Berlin 1931;Kahn dankte Hirsch explizit:„Die Anregung zu dieser Arbeit erhielt ich Anfang 1925 vonHerrn Staatssekretärz.D.Prof. Dr. Julius Hirsch,dem ich fürseine Unterstützung […] zu Dank verpflichtet bin.“ (S. 231). 68 Le Coutre, Persönliche Erinnerungen an Julius Hirsch (wie Anm. 61), S. 35. 69 Julius Hirsch, Die Bestimmungsgründe der Handelsspanne, in:derselbe/Karl Brandt, Die Handelsspanne, Berlin 1931, S. 13–83. 70 Hirsch, Handelsspanne (wie Anm. 69), S. 32. 71 Hirsch, Handelsspanne (wie Anm. 69), S. 37.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 Die jüdischen Nationalökonomen Ehrenberg, Levy und Hirsch 79

Waren in neue Gebietehineintrugund der somit auch neue Vertriebsformen zu erfinden hatte. Der Handel war kein zivilisierter Raub am so mühselig verdienten Einkommen des Einzelnen, sonderneine grundlegende Relaisstation mit räumlicher,zeitlicher,preislicher „Ausgleichsfunktion“ (Preismediation, Lage- rung und auch Kreditvergabe).72 So trat Hirsch nüchterndem Zentralvorwurf des Antisemitismusentgegen, indem er diesen mit den Mitteln der Wissenschaft beantwortete und somit die Zusammensetzung des Preises, die Logik der Han- delsspanne und zuletzt die Funktion der Spekulation ökonomisch rational darstellbar machte und aufdieser neuen Basis verteidigte. Waswar fürHirsch nundie Quintessenz des Handels, dieses so viele Emo- tionen und so großen Verdacht aufrührenden Phänomens?Erentschied sich zur Beantwortung dieser Frage füreinen universalistischen Standpunkt und be- schrieb seiner Funktion der „interpersonellen Übertragung“ als dasprimäre, das alles entscheidende Charakteristikum. Indem er nichtnach landläufiger Mei- nung den Transportoder die Mobilitätals Signumder Idee des Handels her- ausstellte, sondern dessen Vermittlung, also den Besitzerwechsel, abstrahierte er vonden dominierenden ideologischen Fragen der Zeit, die sich aufdie sekun- därenOrganisationsformen des Handels kaprizierten, etwa darauf, ob der ge- gebene Ausgangspunkt Aund der avisierte Zielpunkt Binder Regieeiner Firma oder aber in der Verantwortung verschiedener Personen oder Institutionen standen.73 Doch fürHirsch stand fest:Obdieser Mobilitäts- und Vermittlungs- akt, bzw.dieser Güter-und Warentransfer nuninberuflicherArbeitsteilung zwischen zwei selbstständigen Unternehmungen erfolgte oder aber in organi- satorisch-technischer Arbeitsteilung innerhalb vonTeilbetrieben großer Ge- samtunternehmen, sollte fürdie Definition der Sache selbst nichtausschlagge- bend sein. Mit seiner Definition war zugleich das ceterum censeo der zeitgenössischen Kapitalismus-Debatten unterlaufen worden, da die Entschlackung des Argu- ments aufdie Grundideedes Handels –ebendie Interpersonalitätdes Über- tragungsaktes und die Mobilitätvon Gütern, ihr Transportanden Ortdes Be- darfs, ihre möglichst rascheBewegung aufdie Menschen zu, die nichtzuihnen gelangenkönnen –keine inhaltliche Aussage darübermachte, ob der Handelsakt selbst privat-oder planwirtschaftlich organisiertwar,obermit kapitalistischen Gewinnabsichten verbunden war oder ob er sozialistisch durch Genossen- schaftsbetriebezentral organisiertwurde. ,Handel‘ war fürJulius Hirsch ganz offensichtlich etwasjenseits aller Ideologien, ein werttragender Oberbegriff, ein Wissenskonzept, vergleichbar mit ,Bildung‘ oder ,Demokratie‘. Er sah es auch

72 Hirsch, Handelsspanne (wie Anm. 69), S. 62. 73 Cohen, o. T. ,Rez. von:Heinrich Sieveking, Julius Hirsch, Grundriß der Sozialökonomik,in: Finanzarchiv 35 (1919),S.433.

Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0 © 2019, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847109778 – ISBN E-Lib: 9783737009775 80 Nicolas Berg nichtdurch die etwas schlichte Banalitäteiner Empörung überhohe Preise im Allgemeinen oder durch den verständlichen Ärger überden schlechten Zustand einer Ware im Speziellen widerlegt. Seine Grundintention war,zuzeigen, dass weder die Idee noch die Praxis des Zwischenhandels ,jüdisch‘ waren, selbst wenn zu bestimmtenZeiten und an besonderen Orten Juden in diesem Bereich fak- tisch in hoher Prozentzahl vertreten gewesen waren oder die eine oder andere Branche dominiert haben mochten.74 Das Werk vonJulius Hirsch war das Ergebnis einer Handelswissenschaft, die er selbst ins Lebengerufen hatte und der er stets verpflichtet blieb;sein Hauptinteresse galt der gesteigerten Produktivitätimgesamtwirtschaftlichen Verlauf. ,Produktivität‘ wurde zum Schlüsselkonzept fürseinen Blick aufdie Wirtschaftinsgesamt. Er sah in der kulturellen Verdichtung,ineiner den Wert der Arbeit steigernden Verfeinerung der individuell ausgeführten Einzeltätigkeit den Ausweg ausden allgemeinen ökonomischen Gefahrenszenarien vonInfla- tion und Deflation. Davon überzeugt, dass in der nahen Zukunftder Sektor der Dienstleistungen wachsen und der allgemeine Konsum steigen, die Arbeitszeit insgesamt kürzer und die Freizeit immer wichtiger werden würde, ging es ihm mit Blick aufdie Wirtschaftvon morgen nichtumdie quantitative, sondern um eine qualitative Ausweitung des Arbeitsbegriffs. Er blickte mit ungebremster Begeisterung nach Amerikaund war davon überzeugt, dass eine Vier-oder gar Zweieinhalb-Tage-Arbeitswoche als Fortschritt in naher Zukunft zu erwarten sei.75 So konnte Hirsch mit dem kulturkritischen und antikapitalistischen Psy- chologismus vonErklärungsmustern, wiesie Sombartanbot, nichts anfangen; zu dessen scharfablehnender Wertung der Mentalitätdes Händlers insgesamt stand er ohnehin im diametralen Widerspruch. Es war fürHirsch weitaus evi- denter,den Kapitalismus ganz generell als Phänomen der modernen Zeit zu deuten, statt ihn als Objektivierung einer Völkerpsyche zu beschreiben.

74 Julius Hirschschrieb auch überdie ökonomische Krise der Juden im Osten Europas, vgl. derselbe, Die neuesten Veränderungen der jüdischen Wirtschaftslage in West- und Osteu- ropa, in:Neue jüdische Monatshefte 1(1916/17), 11 (10.03.1916), S. 306–311;12(25.03. 1917), S. 342–347;15/16 (10./25.05.1917), S. 472–482;derselbe, Wirtschaftliche Verwertung der brachliegenden ostjüdischen Arbeitskräfte, in:Neue jüdische Monatshefte, 1(10.10. 1916), S. 8–13. 75 Julius Hirsch, Das amerikanische Wirtschaftswunder,Berlin 1926;der folgende Satz als Beispiel fürden pro-amerikanischen TonHirschs:„Kritische Beobachter betonen gern, daß der Amerikaner keine Probleme sehe. In der Tat, wirtschaftliche Probleme siehteroft des- wegen nicht, weil er sie ebenschnell löst.“ (S. 216);hier auch die Formulierung vom „größten Wohlstand […],den ein Land seinem Volkejegeschenkt hat.“ (S. 256);auch:derselbe, Vorwort, in:PaulM.Mazur,Der Reichtum Amerikas. Seine Ursachen und Folgen, Berlin 1928, S. 9–22.

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5. Zusammenfassung

Dieser Überblick ist als Diskussionsvorschlag gedacht, die wissenschafts-, ideologie- und diskursgeschichtlichen Zusammenhänge vonvölkerpsychologi- schen Kapitalismustheorien in der Nationalökonomie zur Entstehung und Verbreitung des modernen Kapitalismus mit der Geschichte der Rezeption dieser Texte und Theorien in einer jüdischen Öffentlichkeit zusammenzuden- ken. Im Zentrum standen dabei drei jüdische Nationalökonomen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die das Werk vonWerner Sombartnichtnur gut kannten, sondernsichzudessen Oeuvre auch markantpositionierten und es zum Teil scharfablehnten;neben den hier betrachteten Persönlichkeiten von Richard Ehrenberg,Hermann Levy und Julius Hirsch wärenweitere zu nennen gewesen, etwa LevinGoldschmidt, der akademischeLehrer vonMax Weber76, GustavCohn, Moritz J. Bonn, SigbertFeuchtanger –ein Cousin des Schriftstel- lers –, Robert Liefmann oder Frieda Wunderlich. Die übergreifendeThese, die sich an eine solche wissenschaftshistorische Relektüre von ökonomischen Ar- beiten anschließt, lautet deshalb wiefolgt:In der Differenz zwischen den Thesen Sombarts aufder einen Seite, und den hier exemplarisch vorgestellten jüdischen Gelehrten aufder anderen, bilden sich verschiedene Produktivitätsbegriffe ab, die ganz unterschiedliche Gründe und Bewertungen des Anteils vonJuden an der Entwicklung der ökonomischen Moderne nach sich ziehen:Richard Ehrenberg pries die Produktivitätvon Handel und Dienstleistungen, Hermann Levy be- wunderte den englischen Liberalismusund hob die Bedeutung der Migranten fürdie Ökonomie eines Landes hervorund Julius Hirsch theoretisierte und verwissenschaftlichte den Handel und sah im Modell der amerikanischen Konsumwirtschaftdas Vorbild auch fürEuropa und Deutschland. Zu ihrer Zeit war aber die Wirkungsgeschichte vonSombarts Die Juden und das Wirt- schaftsleben zu mächtigund so überlagerte gerade eine antikapitalistische Schriftdie Ansichten Ehrenbergs, Levys und Hirschs, die den Kapitalismus als ,jüdisch‘ und Juden als Kapitalisten zu denunzieren beabsichtigte.77 Der vor- liegende Beitrag will auch deshalb an die vergessenenNationalökonomen er- innern, denn es gilt immer noch, den vonihnen vertretenen Begriff ökonomi- scher Produktivität, der sich vonden seinerzeit geläufigen Vorstellungen und

76 Vgl. Lutz Kaelber,Max Weber’s Dissertation, in:Historyofthe Human Scienc es 16 (2003), H. 2, S. 27–56. 77 Zur ideengeschichtlichen und ideologischenAffinitätder Deutschen zu antikapitalistischen Positionen vgl. etwa:Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen, hrsg.und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015 [zuerst 1938];Ludwig vonMises, Die Wurzeln des Anti- kapitalismus, Frankfurt/Main 1958;WolfgangHock, Deutscher Antikapitalismus. Der ideologische Kampf gegen die freie WirtschaftimZeichender großen Krise. Mit einem Vorwortvon Prof. Dr.Heinrich Rittershausen, Frankfurt a. M. 1960.

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Lehrmeinungen stark unterschied,neu zu würdigen und auch in unserer eigenen Gegenwart, die den Kapitalismus einmal mehr als bedrängendeMachtwahr- nimmt, noch einmal zu bedenken;die genannten Gelehrten haben ökonomische Begriffsklärung betrieben;sie haben den Versuch unternommen, die historische Last der vormodern-ständischen KonzepteimWirtschaftsdenken abzuwerfen und aufdiese Weise eine universalistische Perspektiveinein Fach eingespeist, das seinerzeit noch stolz darauf war,immer nationalistischer,völkischer –und auch antisemitischer –zuwerden.

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