Sven Erlacher, Der Trauerspanner – ein Juwel in der Mitte Deutschlands Der Trauerspanner tibiale (Esper, 1804) – ein Juwel in der Mitte Deutschlands (: Geometridae)

●●Sven Erlacher

südliche Sibirien bis nach Korea, Japan, Abstract. Since 2002 Baptria tibiale (Es- Zusammenfassung. Seit 2002 wird der den Kurilen und Sachalin. Isolierte, wahr- per, 1804) has been regularly found in Trauerspanner, Baptria tibiale Esper, scheinlich glacial-reliktische, europäische a side valley of the river Werra in Thur- 1804, in einem Seitental der Werra in Vorkommen außerhalb der Alpen gibt es ingia. In addition to a brief explanation Thüringen wieder regelmäßig beobach- in den Pyrenäen, in Deutschland, im zen- of the overall distribution of B. tibiale, tet. Neben einer Darstellung der Ge- tralen und nordöstlichen Tiefland Polens the population dynamics in Germany as samtverbreitung von B. tibiale, der Be- (Buszko & Nowacki 2000), in den balti- well as the historical records in Lower standssituation in Deutschland sowie schen Ländern, der Slowakei, der Ukraine, Saxony, Hesse, and Thuringia are being der historischen Funde in Niedersach- Bulgarien, Rumänien (Karpaten) und thoroughly discussed. Furthermore, the sen, Hessen und Thüringen wird das Montenegro (Skou 1986, Hausmann & current occurrence in Thuringia is pre- aktuelle Vorkommen in Thüringen aus- Viidalepp 2012). sented in detail. Information on the ver- führlich besprochen. Außerdem werden tical distribution and phenology as well Angaben zur vertikalen Verbreitung und In Deutschland wurde B. tibiale „ziemlich as on the habitat and life history are Phänologie sowie zum Lebensraum, zur verbreitet“ in den Nördlichen Kalkalpen given. The endangered status is de- Lebensweise, Gefährdung und zum und „ganz lokal“ im bayerischen Alpen- scribed including the need for biotope Schutz des Lebensraums dieser Spanne- vorland gefunden (Osthelder 1929: protection of the species. Baptria rart mitgeteilt. Baptria tibiale benötigt 402), aktuell in den Berchtesgadener und tibiale inhabits a combination of warm zum Überleben die Kombination aus Chiemgauer Alpen (A. Haslberger pers. woodland with the caterpillar’s food wärmebegünstigtem Wald mit dem Mitt. 2014, A. Segerer pers. Mitt. 2014). , spicata, and attached open Vorkom ­men der Raupen-Futterpflanze, Neuere Funde in Bayern außerhalb der areas containing flowering as , sowie Offenflächen mit Alpen sind nicht bekannt (R. Bolz pers. nectar sources for the adult specimens. dem entsprechenden Nahrungsangebot Mitt. 2014, W. Wolf pers. Mitt. 2014). Die für die Imagines. Angaben für Baden-Württemberg werden angezweifelt, da sie nicht belegt werden Key words. Baptria tibiale, Thuringia, Lower Saxony, Hesse, Germany, Palaearctic konnten (Ebert 2003). Ebenso gilt die Region, historic records, distribution, phenology, ecology, life history, nature pro- Herkunft eines Exemplars aus dem Saar- tection. land heute als unsicher (Werno 1992, A. Werno pers. Mitt. 2014). Für den Harz in Sachsen-Anhalt gibt es zwei wahr- scheinlich unabhängige Angaben aus dem Einleitung südlichen Randgebiet: „im Unterharz“ Es gibt nur wenig bekanntere Spannerfal- Zeit seiner Entdeckung „eine der vorzüg- (Bergmann 1955: 211) und „bei Stolberg“ ter als den Trauerspanner, Baptria tibiale lichsten Seltenheiten“ (Esper 1804: 568). (Bornemann 1912: 210). Während Berg- (Esper, 1804). Mit seiner kontrastreichen Die Raupen fressen, zumindest in Mittel- mann einerseits die Information aus einer schwarz-weißen Zeichnung gilt er als ein deutschland, an den Blättern des Ährigen handschriftlichen Liste des achtzigjäh­ Juwel der heimischen Fauna. Die Zeit- Christophskrauts (Actaea spicata), ein rigen Otto Wagner aus Artern von 1938 schrift der „Lepidopterological Society of Hahnenfußgewächs (). Es offensichtlich anzweifelte – was in dem Finland“ trägt seinen Namen, eine finni- kommt in krautreichen Laubwäldern vor, Zusatz „will gefangen haben“ nur allzu sche Briefmarke zeigt sein Bild und zahl- besonders in Schlucht- und Hangwäldern deutlich zum Ausdruck kommt – versäumt reiche Publikationen zeugen von einer über frischen, kalk- und nährstoffreichen er es andererseits, das Verzeichnis Borne- fortwährenden Beschäftigung mit diesem Lehmböden (Zünddorf et al. 2006). In manns (1912) überhaupt zu erwähnen. Schmetterling. Dabei soll ihn die für uns Skandinavien wurden die Raupen von Letztlich können aber auch die Angaben auffällige Zeichnung in seiner natürlichen B. tibiale außerdem am Rotfrüchtigen für Sachsen-Anhalt als unsicher betrachtet Umgebung eigentlich unsichtbar machen. Christophskraut (Actaea erythrocarpa) werden, da weder Belege noch weitere Sein wissenschaftlicher Name „tibiale“ gefunden (Skou 1986). Meldungen vorliegen. nimmt Bezug auf das eigenartige Muster der Vorderflügel: ein weißer Strich auf Die Gesamtverbreitung des boreo-konti- Indessen gab es zahlreiche sichere Beob- schwarzem Grund in der Form eines Bei- nentalen Trauerspanners B. tibiale ist pa- achtungen östlich und südöstlich von Göt- nes (Abb. 1). Doch die wenigsten Entomo- läarktisch. Sie reicht von den Alpen über tingen in Südniedersachsen (L. Finke logen haben den „Beinspanner“ (so seine die Karpaten, von Fennoskandien und 1902, 1912, C. Finke 1934, 1938, Berg- deutsche Entsprechung) bereits einmal dem nordwestlichen europäischen Russ- mann 1955) sowie im Werratal in Nord- lebend gesehen, war er doch schon zur land bis zum Ural und von dort über das westthüringen (Keferstein 1871, Preiss

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de Fundorte auf: „im Göttinger Wald im Gosselgrund am Lengder Berg [sic!] und an der Bruck“. Nach den Aufzeichnungen von Otto Rapp im Naturkundemuseum Erfurt erhielt Petry diese Angaben von J. Stock aus Eckartsberga. Seitdem gibt es keine Meldungen mehr über B. tibiale im Göttinger Raum (T. Meineke pers. Mitt. 2014). Brockmann (1990) erwähnt, dass die Sammlung von C. Finke mit ihren fau- nistisch bedeutsamen Belegen vereinzelt wurde.

In einer seiner „Entomologischen Plaude- reien“ berichtet Keferstein (1871: 326): „Herr Knappe [gemeint ist Friedrich Knapp aus Gotha] hat vor ein paar Jahren dieses Thier einzeln im Werrathale bei Nazza gefunden“. Dies ist die erste Mittei- lung über ein Vorkommen von B. tibiale in Thüringen. Dagegen ist die Angabe „Eise- nach: In der Drachenschlucht“ bei Berg- mann (1955: 211) unter Bezugnahme auf Abb. 1. Männchen von Baptria tibiale (Esper, 1804) an Giersch (Fundort: Thüringen, Falken/Werra, Hölltal, 300 m, 24.VI.2006) (Dieses und alle folgenden Fotos: S. Erlacher). Keferstein (1871) zu streichen, da sie sich nicht auf B. tibiale, sondern auf die heuti- ge Venusia blomeri (Curtis, 1832) bezieht. 1934, 1936, Zukowsky 1944, Bergmann begrüssen“. Die Suche sei „eine gefährli- Knapp selbst nennt als Fundorte den „Hai- 1955, Rommel 2002). Jahrzehntelang wa- che und saure Arbeit, da Sträucher und nichswalde zwischen Nazza u. [der ca. ren diese hochisolierten mitteldeutschen Stauden keine Wurzelfestigkeit“ besäßen drei Kilometer östlich von Nazza gelege- Vorkommen von B. tibiale die umfang- und man in Gefahr käme, „eine unfreiwil- nen Wüstung] Ihlefeld u. Wintersteiner reichsten und stabilsten in Deutschland lige ‚Bergrutschparthie‘ … zu genießen“ Forst, nach d. Inselsbg. zu“ (Knapp 1887: außerhalb der Alpen (Hausmann & Viida- (Finke 1902: 10). Später hielt er die ge- 387). Bergmann (1955: 211) interpretier- lepp 2012). Später war die Art auch hier nauen Fundorte von B. tibiale geheim. te dies als „Wintersteiner Forst am Insels- verschollen, bis sie nach einem halben Angeblich geschah dies zum Schutz vor berg“, doch gibt es etwa vier Kilometer Jahrhundert im Jahr 2002 bei Falken im Ausrottung, wahrscheinlich aber auch aus nordnordöstlich von Nazza, auf der Höhe thüringischen Werratal wiederentdeckt kommerziellen Gründen, wie seine zahl- von Hallungen, ein Felsgebiet namens wurde. reichen Anzeigen in der Entomologischen Winterstein (gegenüber dem Sommer- Zeitschrift jener Jahre zum Verkauf von stein), dessen Südabdachung (nach dem „Freilandmaterial“ erahnen lassen. Wei- Inselsberg zu) wahrscheinlich gemeint ist. Historische und aktuelle tere Orte, an denen er die Raupen zumin- Nach dieser Lesart wäre auch die zweite Beobachtungen in Nieder­ dest gesucht hat, sind „Hainberg“ und von drei Fundangaben aus dem nordwest- sachsen, Hessen und Thüringen „Lengder Burg“ (Finke 1912: 219). Zwei lichen Thüringer Wald zu streichen. Die Jahrzehnte später schrieb sein Sohn Carl Mitteilungen „Tabarz“ (1 Exemplar, leg. In der geografischen Mitte Deutschlands Finke (1934) nur noch von einer „einzigen G. Jenner) und „Mühlhausen am Spittel- wurde Baptria tibiale erstmals im Juli 1850 hier bekannten Fundstelle“ (S. 138) sowie brunnen“ (1 Exemplar, leg. F. Ochs) in vom Bibliothekar Strohmeier aus Göttin- einem „an und für sich eng begrenzte[n] Bergmann (1955: 211) erhielt dieser noch gen nachgewiesen. Über einem Zeitraum Fundort“, der „nicht allgemein bekannt- von Petry, der zumindest das Mühlhäuser von fast 30 Jahren soll dieser nur wenige gegeben“ werden sollte (S. 140). Die Exemplar nach den oben genannten Auf- Falter gefunden haben, was Finke (1912) „Nachforschungen an den von Stroh­ zeichnungen von Rapp im Jahr 1910 selbst dem heute nicht mehr vorhandenen Zet- meier [in dessen Zettelkatalog] angege- gesehen haben soll. Überdies fing H. Popp telkatalog Strohmeiers am Zoologischen benen Fundorten im Göttinger Walde“ vor 1934 ein Exemplar von B. tibiale im Museum der Universität Göttingen ent- seien erfolglos geblieben (Finke 1934: Gebiet der Fahner Höhe, das sich heute im nahm (G. Tröster pers. Mitt. 2014). Die 140). Schließlich heißt es in seinem Werk Naturkundemuseum Erfurt befindet. Raupen wurden im Jahr 1894 von Ludwig über die Großschmetterlinge Göttingens Schließlich gelang dem Eschweger Julius Finke durch gezielte Suche nach geeigne- zu B. tibiale: „Charaktertier des Göttinger Preiss im Jahr 1933 „nach jahrzehnte­ ten Standorten entdeckt (Finke 1912). In Hochwaldes und engbegrenzter, lokaler langem, vergeblichen Bemühen“ die Auf- seinem ersten Artikel über B. tibiale nennt Fundort. Über diese, durch F. [L. Finke] findung einer größeren Anzahl Raupen Finke folgende Göttinger Fundorte: „die und mich gemeinsam aufgefundene Art (Preiss 1934: 175). Als Fundort nennt er hohen Kalkberge, wie hier die ‚Gleichen‘, wird seit der Wiederauffindung still- „Falken a. d. Werra“, womit „aus früheren ‚Bocksbühl‘ und ‚Bruck‘, ..., wo auf felsigen schweigend Naturschutz ausgeübt“ (Finke Jahren stammende, aber seit langem nicht Klippen und Steinblöcken die Trauben der 1938: 80). Bergmann (1955: 211) listet wieder bestätigte Angaben über gelegent- Futterpflanze den nahenden Kletterer unter Berufung auf Arthur Petry folgen- liche Funde bei Mühlhausen, vom Hainich,

140 Sven Erlacher, Der Trauerspanner – ein Juwel in der Mitte Deutschlands von der Fahrener Höhe und aus dem nord- bekannten Lokalfaunisten Rolf-Peter Die Flugzeit von B. tibiale beginnt in man- westlichen Thüringer Wald erneutes Inte- Rommel aus Ammern bei Mühlhausen. chen Jahren schon in der ersten Juni-Hälf- resse“ erlangt hätten (Preiss 1936: 244). Dieser Nachweis wurde von Gelbrecht te (früheste Beobachtung 7. Juni) und Eines der Beleg-Exemplare aus Falken in & Müller (1986: 105) als Wiederfund für endet etwa Anfang Juli (späteste Beobach- der Hockemeyer-Sammlung im Museum „Nordost[sic!]-Thüringen“ publiziert tung 11. Juli). Hauptflugzeit ist am Beginn der Natur Gotha weist den 4.VIII.1933 als und von Ebert (2003) so übernommen. der dritten Juni-Dekade (Tab. 1, Abb. 4). Raupen-Funddatum aus. Im Jahr 1934 Ein weiterer Falter ging O. Pätzold am Am 11.VII. fand ich einmal zahlreiche Eier. schlüpften „1 Dutzend Falter“ (Preiss 26.VI.1993 auf dem Wisch bei Creuz- Nach Finke (1934) beträgt die Eiruhe etwa 1934: 175). Unter Bezug auf Preiss („in burg ins Netz. Es war das Verdienst von acht bis zehn Tage. Bei je einer Zucht im litt.“) nennt Reuhl (1975: 337) neben R.-P. Rommel, mit seinem Artikel über Jahr 2002 und 2003 schlüpften die Rau- Falken auch „Frankenroda/Werra“ als si- den Trauerspanner (Rommel 2002) den pen bereits am fünften Tag nach der Eiab- cheren Raupen-Fundort „seit 1931“ [ge- ­Eisenacher Entomologen Michael Hof- lage. Auch wenn Finke (1912: 219) mein- meint ist wahrscheinlich 1933 oder 1934, mann zur intensiven Nachsuche ange- te, dass „Eier, Raupen und Puppen […] siehe oben]. Ein undatierter Beleg von regt zu haben. Dies führte schließlich von Strohmeyer nicht gefunden, auch diesem Fundort befand sich in der Kollek- am 19.VI.2002 um 16.50 Uhr am Eingang nicht erwähnt worden“ seien und sein tion M. Trapp in den naturkundlichen des Hölltals bei Falken zur Wiederentde- Sohn dies später wiederholte (Finke Sammlungen der Mühlhäuser Museen (W. ckung von B. tibiale. Im selben Jahr wur- 1934), dürfte es sich beim Datum „3. Au- Schäfer pers. Mitt. 2014), ist heute aber den vom Verfasser neben weiteren Faltern gust 1858“ entweder um einen Schreib- verschwunden. Preiss verließ die Region auch die ersten Raupen am Christophs- fehler oder die Auffindung von Raupen im Jahr 1937, seine Sammlung im Natur- kraut gefunden. Seitdem wird der Trau- handeln. Diese werden von Mitte Juli bis kundemuseum Kassel enthält ebenfalls erspanner hier regelmäßig beobachtet Mitte August gefunden (frühste Beobach- keine Belege mehr von B. tibiale (Rommel (Tab. 1, Abb. 2). tung 11. Juni, späteste Beobachtung 10. 2002). Offenbar haben sich die neuen In- August). Beinahe fantastisch klingt die formationen schnell herumgesprochen, Höhenverbreitung und Behauptung, einmal die Raupen von B. denn bereits im selben Jahr (am 9. tibiale am „21. Mai“ gefunden zu haben VI.1937) wies E. Lotze den Falter am Hel- Phänologie (Finke 1934: 139), hier liegt sicher eine drastein nach, wovon zwei Weibchen in Die vertikale Verbreitung von Baptria ti- Verwechslung vor. Die meisten erwachse- der Sammlung R. Fiebig erhalten geblie- biale in Mitteldeutschland reicht von nen Raupen lassen sich Ende Juli auffin- ben sind. Ob die Angabe „1941 auf dem 260 Meter im unteren Hölltal bis ca. den. Etwa drei bis vier Wochen nach dem Heldrastein, wo sie an Licht geflogen wa- 490 Meter am Heldrastein. Die meisten Schlupf sind die Raupen erwachsen. Die ren“ bei Bergmann (1955: 211) vollstän- Fundstellen liegen in einer Höhe von ca. Puppe überwintert, unter Zuchtbedingun- dig den Tatsachen entspricht, scheint 300 Meter (Tab. 1, Abb. 3). gen nur einmal. fraglich. Belegt ist, dass O. Günther am 7.VII.1942 ebendort drei Falter fangen konnte, einen davon zur Mittagszeit an einem Fenster der Berggaststätte (W. Schäfer pers. Mitt. 2014). Möglicherwei- se hat sich ein Exemplar während der Vor- mittagsstunden in die Gaststätte verirrt und wollte später wieder hinaus in den Sonnenschein.

Im selben Jahr wurde B. tibiale auch auf hessischer Seite zwischen der Plesse und dem Konstein bei Wanfried mehrfach von den thüringischen Entomologen B. Zu- kowsky, O. Günther, L. Rummel und M. Trapp nachgewiesen. Die letzte dokumen- tierte Beobachtung stammt vom 29. VII.1944 (Tab. 1). Danach bricht die Serie der Funde ab, fast 40 Jahre lang gab es keine Meldung mehr. Als weitere Stand- orte des Christophskrauts und damit po- tentielle Vorkommen für B. tibiale nannte Preiss (1929: 80): „Keudelkuppe, … Gra- bung, nördliche Abhänge der Goburg und der Meißner“.

Während einer Tagestour am 11.VII.1982 fing F. Berndt im Hölltal nordöstlich von Abb. 2. Historische und aktuelle Verbreitung von B. tibiale in Niedersachsen, Hessen und Thüringen Falken, auch Höllgraben genannt, ein Ex- (Weiß: Funde bis 1900, Hellgrau: 1901–1955, Dunkelgrau: 1956–2000, Schwarz: ab 2001) (Karten­ emplar von B. tibiale und übergab es dem vorlage: G. Seiger).

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Tab. 1. Historische und aktuelle Nachweise von Baptria tibiale in Niedersachsen, Hessen und Thüringen in chronologischer Reihenfolge. Es bedeuten: MTB,Q = Messtischblatt, Quadrant; Höhe = ungefähre Fundorthöhe (in Meter); Bm = Beobachtungsmethode: E = Suche von Eiern, LF = Licht­fang, NF = Nachtfang, R = Raupensuche, TF = Tagfang; DQ = Literatur- und/oder Sammlungsquelle: Ke. = Keferstein (1871), Kn. = Knapp (1887), Fi.1902 = Finke (1902), Fi.1912 = Finke (1912), Pr. = Preiss (1936) Be. = Bergmann (1955), Re. = Reuhl (1975), Ro. = Rommel (2002), MNG = Museum der Natur Gotha,­ MNM = Museum für Naturkunde Münster, NME = Naturkundemuseum Erfurt (coll. W. Apfel, Tagebuch W. Schäfer), FRR = Sammlung Ralf Fiebig (Roßleben); St. = Stadium (Im = Imago, La = Larve); Anz. = Anzahl der beobachteten Individuen; ? = unbekannt oder unsicher. Ort, Ortslage MTB,Q Höhe Funddatum Bm Beobachter/DQ St. Anz. Niedersachsen Göttingen, ohne Angabe ?? 23.VI.1850 ? Strohmeier/Fi.1912 Im 1 Göttingen, ohne Angabe ?? 3.VIII.1858 ? Strohmeier/Fi.1912 ? ? Göttingen, ohne Angabe ?? 1859–1878 ? Strohmeier/Fi.1912 Im 3 Göttingen, ohne Angabe ?? 1880–1934 ? Finke/Fi.1912/NME Im ? Göttingen, ohne Angabe ?? 20.VII.1892 TF Finke/Fi.1912 Im 1 Göttingen, Die Gleichen 4526,1 400 1894–1902 R Finke/Fi.1902 La ? Göttingen, Bocksbühl 4525,4 400 1894–1902 R Finke/Fi.1902 La ? Göttingen, Bruck 4426,3 380 1894–1902 R Finke/Fi.1902/Be. La ? Göttingen, Gosselgrund 4426,3 370 vor 1932 R Finke/Be. La ? Göttingen, Lengder Burg 4426,3 350 vor 1932 R Finke/Be. La ? Hessen Wanfried, Plesse-Konstein 4827,1 400 7.VI.1942 ? Zukowsky/Be./MNM Im 3 Wanfried, Plesse-Konstein 4827,1 400 9.VI.1942 TF Rummel/Trapp/Ro. Im 8 Wanfried, Plesse-Konstein 4827,1 400 14.VI.1942 ? Zukowsky/Be./MNM Im 5 Wanfried, Plesse-Konstein 4827,1 400 21.VI.1942 ? Zukowsky/Be./MNM Im 9 Wanfried, Plesse 4827,1 400 1943 TF Günther/NME Im 1 Wanfried, Plesse 4827,1 400 13.VI.1943 ? Zukowsky/MNM Im 1 Wanfried, Plesse 4827,1 400 21.VI.1944 ? Zukowsky/MNM Im 1 Wanfried, Plesse 4827,1 400 29.VII.1944 ? Zukowsky/MNM La 1 Thüringen Zwischen Nazza und Ihlefeld 4828,3 ? vor 1871 ? Knapp/Ke./Kn./Be. Im ? Hallungen, Wintersteiner Forst 4828,3 467 vor 1887 ? Knapp/Be. Im ? Mühlhausen, am Spittelbrunnen 4828,1 300 vor 1910 ? Ochs/Be./NME Im 1 Tabarz, ohne Angabe 5129,1 ? vor 1932 ? Jenner/Be./NME Im 1 Falken, ohne Angabe 4827,4 ? 4.VIII.1933 R Preiss/Pr./MNG La 12 Falken, ohne Angabe 4827,4 ? 1934 ? Preiss/Pr. La ? Frankenroda, ohne Angabe 4927,2 ? 1933/1934(?) R Preiss/Re. La ? Gotha, Fahner Höhe 4930,4 ? vor 1934 ? Popp/Be./NME Im 1 Großburschla, Heldrastein 4827,3 490 9.VI.1937 ? Lotze/FRR Im 2 Großburschla, Heldrastein 4827,3 490 1942(?) ? Günther/Be. Im ? Großburschla, Heldrastein 4827,3 490 7.VII.1942 TF Günther/Ro. Im 3 Falken, Hölltal 4827,4 315 11.VII.1982 TF Berndt/Ro./NME Im 1 Creuzburg, Wisch, Hetschberg 4927,1 360 26.VI.1993 TF Pätzold Im 1 Falken, Hölltal 4827,4 260 19.VI.2002 TF Hofmann Im 3 Falken, Hölltal 4827,4 315 20.VI.2002 TF Erlacher/Friedrich Im 4 Falken, Hölltal 4827,4 315 22.VI.2002 TF Friedrich Im 4 Falken, Hölltal 4827,4 315 16.VII.2002 R Erlacher La 4 Falken, Hölltal 4827,4 315 21.VI.2003 TF Müller, R. Im 7 Falken, Hölltal 4827,4 315 22.VI.2003 TF Erlacher Im 8 Falken, Hölltal 4827,4 315 24.VI.2005 TF Erlacher Im 4 Falken, Hölltal 4827,4 315 24.VI.2006 TF Erlacher Im 22 Falken, Hölltal 4827,4 315 28.VII.2006 R Erlacher La 8 Falken, Hölltal 4827,4 315 30.VII.2006 R Erlacher La 10 Falken, Hölltal 4827,4 315 1.VIII.2006 R Erlacher La 1 Falken, Hölltal 4827,4 315 4.VIII.2006 R Erlacher La 2 Falken, Hölltal 4827,4 315 18.VI.2008 TF Friedrich Im 10 Falken, Hölltal 4827,4 315 24.VI.2009 TF Thate/Wolter Im 15 Falken, Hölltal 4827,4 315 11.VII.2009 E/R Erlacher Ei/La 20 Falken, Hölltal 4827,4 315 18.VII.2009 R Erlacher La 5 Falken, Hölltal 4827,4 315 28.VII.2009 R Erlacher La 30 Falken, Hölltal 4827,4 260–350 10.VIII.2010 R Erlacher La 6

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Abb. 3. Höhendiagramm von B. tibiale für Niedersachsen, Hessen und Abb. 4. Phänologiediagramm der Imagines (schwarz) und der Raupen (rot) ­Thüringen (y–Achse: Anzahl der Fundorte, x–Achse: Fundorthöhe in Meter; von B. tibiale für Niedersachsen, Hessen und Thüringen (y–Achse: Anzahl Daten aus Tab. 1). der beobachteten Exemplare, x–Achse: Monate; Daten aus Tab. 1).

Aktueller Lebensraum Die offenen Bereiche werden von einem Meter stehenden Fichten sind im Osten meist steil ansteigenden felsigen Laub- und Norden von Rotbuchen eingefasst Das Hölltal bei Falken ist der einzige ak- mischwald flankiert. Er ist der Lebens- (Abb. 10). Im lockeren Fichtenbestand tuell bekannte Lebensraum von Baptria raum der Raupen. Nach der Nomenklatur findet man vereinzelt Spitzahorn (Acer tibiale in Mitteldeutschland. Es beginnt von Schubert et al. (1995: 78) handelt es platanoides), Berg-Ahorn und kümmerlich von Nazza kommend ca. einen Kilometer sich um die Assoziation des „Waldgersten- gewachsene Waldkiefern (Pinus sylvest- vor Falken, zieht sich zunächst einen Ki- Rotbuchenwaldes“ (Hordelymo-Fage- ris). Die Strauchschicht setzt sich aus Ro- lometer in nordöstliche und anschließend tum), das sind ursprünglich straucharme, ter Heckenkirsche, vereinzelt Roter Ho- weitere 600 Meter in nördliche Richtung zum Teil hallenartige Rotbuchenwälder lunder (Sambucus racemosa), Hasel (Co- aufwärts. Im unteren Talbereich erstreckt auf kalk- und basenreichen Lehmböden rylus avellana) sowie Jungwuchs von sich über eine Distanz von ca. 600 Meter mit einer artenreichen Krautschicht. Rotbuche und Esche zusammen. Wald- ein schmaler Grünlandstreifen in das Tal Bingelkraut (Mercurialis perennis), Him- hinein, in dessen Mitte ein Bach fließt. Der naturnahe Wald im unteren Teil des beere (Rubus spec.), Wald-Labkraut und Dieser wird beidseitig von Eschen (Fraxi- Hölltals südöstlich des schmalen Weges Sauerklee (Oxalis acetosella) dominieren nus excelsior) sowie einem Streifen aus ist dieser Assoziation noch am ähnlichsten die Feldschicht. Vom Christophskraut Weißdorn (Crataegus spec.) und Hoch- (Abb. 8). Hier dominiert die Rotbuche kommen hier sowohl gut entwickelte, stauden begrenzt (Abb. 5). Während das (Fagus sylvatica), daneben kommen ver- hochwüchsige als auch kleinere Pflanzen Tal in seinem mittleren Abschnitt auf bei- einzelt Hainbuche (Carpinus betulus), vor, die nie zur Blüte gelangen. Weniger den Seiten des Weges dicht bewaldet ist, Feldahorn (Acer campestre) und Berg- häufig sind Leberblümchen, Waldrebe zeigt es im oberen wieder offene Struktu- Ahorn vor. Die Strauchschicht wird haupt- (Clematis vitalba), Wald-Ziest (Stachys ren. In diesem Bereich wurde der Talbo- sächlich aus Rotbuchen- und Eschen-Jung- sylvatica), Waldmeister, Veilchen (Viola den bis zur Jahrtausendwende mit Rin- wuchs sowie aus Roter Heckenkirsche spec.), Türkenbundlilie (Lilium marta- dern beweidet. In der Folge bildete sich (Lonicera xylosteum) gebildet. Für die gon), Haselwurz (Asarum europaeum), auch hier ein wiesenartiges Gelände mit Feldschicht mit einem Bedeckungsgrad Wurmfarn (Dryopteris spec.) und Efeu. Im einer ausgeprägten Hochstaudenflur her- von ca. 30 % sind unter anderem charak- Saumbereich wachsen Roter Hartriegel aus (Abb. 6, 7). Charakteristische Pflan- teristisch: Leberblümchen (Hepatica nobi- (Cornus sanguinea), Weißdorn, Stachel- zenarten sind Kohl-Kratzdistel (Cirsium lis), Frühlings-Platterbse (Lathyrus ver- beere (Ribes uva-crispa) und Wald-Erdbee- oleraceum), Große Brennnessel (Urtica nus), Jungwuchs des Berg-Ahorns, Wald- re (Fragaria vesca). Naturnaher Rotbu- dioica), Großer Sauerampfer (Rumex ace- Labkraut (Galium sylvaticum), Waldmeis- chenwald befindet sich auch auf der West- tosa), Wiesenkerbel (Anthriscus sylvestris) ter (Galium odoratum), Efeu (Hedera he- seite des hinteren Hölltals, doch ist das und Giersch (Aegopodium podagraria). lix) und das in kleinen Gruppen wachsen- Christophskraut hier etwas seltener. Dazwischen wachsen vereinzelt Obstbäu- de, selten blüten- und früchtetragende me, junge Eschen, Berg-Ahorn (Acer pseu- Christophskraut. doplatanus) und Holunderbüsche (Sam- Lebensweise bucus nigra). Obwohl – oder gerade weil – die ursprüng- Imago liche Pflanzengesellschaft im oberen Höll- Die Falter von Baptria tibiale sind aus- An jene offenen Blütenfluren sind die Fal- tal östlich des Hauptweges vor ca. 70 Jah- schließlich tagaktiv und extrem heliophil. ter von B. tibiale zwecks Nektaraufnahme ren durch die Anpflanzung von Fichten Mit den Methoden des Lichtfangs wird gebunden, das Vorkommen der Raupen- (Picea abies) in 300 Meter Länge und 30 man diese Art wahrscheinlich niemals ent- Futterpflanze allein reicht nicht aus. Wohl Meter Breite stark verändert wurde (Abb. decken. Der Flug beginnt, sobald die ers- aus diesem Grund wurde die Art bisher 9), sind das Christophskraut und die Rau- ten Sonnenstrahlen den Talboden erreicht nur im unteren und oberen Talabschnitt pen von B. tibiale hier besonders häufig. haben, im thüringischen Hölltal erst am gefunden. Die in einem Abstand von ca. vier bis sechs Vormittag gegen zehn Uhr. Er endet, so-

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9 10 Abb. 5–10. Falterfluggebiet und Larvalhabitat von B. tibiale im unteren Hölltal. – 5–7. Falterfluggebiet. 5. Blick nach Nordwesten, Grünlandstreifen mit Hochstaudenflur (260 m, 10.VIII.2010). 6. Blick nach Norden, Hochstaudenflur mit beginnender Gehölzsukzession. Wiesenkerbel und Giersch dienen als Nektarspender für die Falter. Rechts: angrenzender Laubmischwald mit Beständen von Actaea spicata (300 m, 24.VI.2006). 7. Blick nach Süden, Hochstaudenflur mit beginnender Gehölzsukzession. Links: angrenzender Laubmischwald mit Beständen von Actaea spicata (300 m, 24.VI.2006). – 8–10. Larvalhabitat. 8. Blick nach Osten, Naturnaher Rotbuchenwald mit kleinwüchsigen Beständen von A. spicata (270 m, 10.VIII.2010). 9. Blick nach Norden, Locker stehende Fichten mit gut entwickelter Feldschicht und reichlichem Vorkommen von Christophskraut (335 m, 28.VII.2009). 10. Blick nach Osten, Naturnaher Rotbuchenwald mit reichlich Vorkommen von Christophskraut (340 m, 28.VII.2006). bald die Sonne hinter den Bäumen unter- kennen lässt. Verdecken zwischenzeitlich um Sonnenlicht zu absorbieren. Bei Stö- geht, im oberen Hölltal zeitiger (gegen 16 Wolken die Sonne, wird er meist unter- rungen lassen sie sich manchmal fallen Uhr) als im unteren (dort gegen 18 Uhr). brochen. Am frühen Vormittag sitzen die und stellen sich kurze Zeit tot (Burmann Der Flug ist ein unruhiger Schwirrflug, der Falter oft mit ausgebreiteten Flügeln am 1957). Die für die Imagines wichtige Nah- den kontrastreichen Falter nur schwer er- Waldrand auf Blättern niedriger Stauden, rungsaufnahme findet über den ganzen

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Abb. 11–17. Entwicklung von B. tibiale im Hölltal. 11. Typische Eiablage am Rande der Blattunterseite von A. spicata (315 m, ­ 11.VII.2009). 12. Jungraupe (lateral) unter einem Blatt von A. spicata (315 m, 30.VII.2006). 13. Jungraupe (dorsal) (315 m, 28.VII.2006). 14. Erwachsene Raupe­ (lateral) auf einem Blatt von A. spicata (315 m, 28.VII.2006). 15. Erwachsene Raupe (dorsal) (315 m, 4.VIII.2006). 16. Erwachsene Raupe (dorsal) (Eizucht; Daten des Weibchens: Höll­ tal, 315 m, 24.VI.2005). 17. ­Christophskraut mit zwei erwachsenen Raupen auf der Oberseite der Blätter (Mitte links und unten links, originale Freilandaufnahme;­ 315 m, 28.VII.2006).

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Tag verteilt statt. Es wurde mehrfach be- schen und oft beschriebenen Lochfraß. Ab entsprechend mehr Eier ablegen, wenn sie obachtet, wie einzelne Tiere aus dem Wald dem vierten Larvenstadium zeigen die während der Nacht kühl gehalten und und auf die Offenfläche flogen, um dort Raupen dorsal violett-braune Flecken in tagsüber mit Honiglösung gefüttert wer- an den Blüten von Giersch und Wiesen- Form von dünnen Strichen bis breiten den. Bei der Aufzucht der Raupen sollten kerbel zu saugen. Einige Falter saugten Rauten. Farblich entspricht der Grundton möglichst frische Blätter von A. spicata auch an schattig stehenden Giersch-Pflan- exakt den Blattoberseiten und die Muste- angeboten werden. Burmann (1957) zen. Die Behauptung von Finke (1934: rung den welkenden Rändern, die sich um empfahl, die Raupen dunkel zu halten. 139), die Falter würden „nur zwecks Eiab- die Fraßstellen bilden. Die Raupen sitzen Hohe Feuchtigkeit schadet ihnen. Am lage“ am Boden fliegen und sich ansonsten dann frei auf der Blattoberseite, wobei sie schwierigsten erwies sich die Überwinte- in den Baumkronen aufhalten, ist falsch. sich kaum vom Untergrund abzeichnen rung der Puppen. Sie sollten an einem Das Gegenteil ist der Fall, die Falter halten (Abb. 14, 15, 16). Es wurden meist eine, geschützten, aber nicht völlig frostfreien sich die meiste Zeit eines sonnigen Tages mehrfach aber auch zwei Raupen pro Ort untergebracht und regelmäßig leicht in der Bodenregion auf. Hier fliegen sie Pflanze gefunden (Abb. 17). besprüht oder auf mäßig feuchtem Torf- schwirrend im Licht-Schatten-Spiel der mull gelagert werden. Eine Aufbewahrung Rotbuchen und sind aufgrund ihrer Das Fehlen eines lateral hervortretenden im Freien mit sehr niedrigen Temperatu- schwarz-weißen Färbung kaum zu erken- Kiels bei den Raupen von B. tibiale ist ein ren ist nicht zu empfehlen. Überführt man nen. Hin und wieder setzen sie sich auf sicheres Unterscheidungsmerkmal gegen- die Puppen im April in eine wärmere Um- den Boden, um Flüssigkeit aufzunehmen, über denen von Wal- gebung, schlüpfen bereits nach wenigen wobei die Flügel stets auf und ab bewegt derdorff, 1869, die zur gleichen Zeit, Tagen die Falter. Der Schlupf erfolgte werden. Dieses Verhalten scheint das ei- wenn auch seltener, im Lebensraum von ausschließlich in den Morgenstunden. gentliche Geheimnis für die exotische B. tibiale im Hölltal vorkommen, und da- Nach Burmann (1957) überwintern die Schönheit von B. tibiale zu sein. Werden bei häufiger parasitiert sind. In Ruhehal- Puppen oft bis zu drei Jahren. die Falter gestört, fliegen sie meist in ei- tung wird der Kopf der B. tibiale–Raupe nem schnellen Zickzackflug weg und bei nach vorne gestreckt, bei E. actaeata nach weiterer Verfolgung tatsächlich in die unten. Zudem sind die Körpersegmente Gefährdung und Schutz Baumkronen. der B. tibiale–Raupe stärker eingeschnit- In der Roten Liste der gefährdeten Span- ten und die Haut glatter als bei E. actaeata. ner Thüringens ist Baptria tibiale in der Bei den Raupen von B. tibiale sind die vi- Kategorie 1 – „vom Aussterben bedroht“ Ei olett-braunen dorsalen Flecken caudal eingestuft (Erlacher 2011). Für die Arten Burmann (1957) beobachtete die Eiabla- zugespitzt und an den Einschnitten der dieser Kategorie gilt, dass sie „schwerwie- ge der Weibchen in den Nachmittagsstun- Segmente am breitesten, bei denen von E. gend bedroht sind“ und ihr Überleben nur den. actaeata sind sie cranial zugespitzt und in durch „wirksame Schutz- und Hilfsmaß- der Mitte der Segmente am breitesten. Im nahmen für die Restbestände“ gesichert Die weißen, oval geformten und leicht Gegensatz zu B. tibiale halten sich die E. werden kann (Fritzlar & Westhus 2011: abgeplatteten Eier werden am Rande der actaeata-Raupen bis zur Verpuppung 12). Entscheidend für das Vorkommen Blattunterseiten von einzeln oder in Grup- meist an den Stengeln und Unterseiten der und den Erhalt von B. tibiale sind die Kom- pen stehenden A. spicata abgelegt (Abb. Blätter auf. Vergleichende Abbildungen bination aus Beständen der Futterpflanze 11). Im Gegensatz zu Beobachtungen in der Raupen von B. tibiale und E. actaeata im geschlossenen Laubmischwald einer- Skandinavien (Hydén 1990) bevorzugen finden sich bei Hydén (1990). Indessen seits und ein ausreichendes Nahrungsan- die Weibchen im Hölltal zur Eiablage nicht bezieht sich die angeblich erste genaue gebot im angrenzenden Offenbereich die sonnenexponierten, größeren Pflan- Beschreibung einer Raupe von B. tibiale (blütenreiche Lichtungen, Wald- und Tal- zen am Waldrand, sondern im Schatten durch Habich (1889) in allen Punkten auf wiesen) andererseits. Somit darf B. tibiale wachsende, die zum Teil nur selten oder E. actaeata. mit Recht als „der Apollo unter den Span- nie zur Blüte kommen. Die westexponier- nern“ bezeichnet werden, als Pendant zu ten Larvalhabitate im oberen Hölltal sind dem bekannten Ritterfalter, der vielerorts ausgesprochen wärmebegünstigt. Puppe ausgestorben ist, obwohl seine Raupen- Vor der Verpuppung baut sich die Raupe Futterpflanzen an den betreffenden Orten kein festes Gespinst. Die überwinternde noch vorhanden sind. Für das Hölltal als Raupe Puppe dürfte (nach den Erfahrungen in den einzigen aktuellen Fundort von B. ti- Die Jungraupen zeigen eine einfarbig der Zucht) nur leicht eingesponnen zwi- biale in Mitteldeutschland bedeutet das weißlich-hellgrüne Färbung. Die helle Fär- schen Erdkrumen und Falllaub liegen. Sie konkret, die vorhandenen Offenflächen bung wird bis zum dritten (vorletzten) ist braun und hat grünliche Flügelschei- durch entsprechende Pflegemaßnahmen Larvenstadium beibehalten, wobei zu die- den. Kurz vor dem Schlupf der Falter zu erhalten und durch Beseitigung der sem Zeitpunkt oft schon eine grüne Linie scheinen die markanten Vorderflügel Fichtenbestände im ca. 500 Meter langen den Rücken ziert. Während dieser Zeit deutlich durch sie hindurch. mittleren Talabschnitt weitere Offenflä- halten sich die Raupen vorwiegend auf der chen zu schaffen. Forstwirtschaftliche Unterseite der Blätter auf (Abb. 12, 13). Maßnahmen in den oben beschriebenen Bei Berührung schnellen sie weg, wobei Zucht Habitaten der Raupen oder ihrer unmit- der Körper kurzzeitig heftig hin und her Die Eizucht von B. tibiale ist einfach, sie telbaren Umgebung sind unbedingt zu bewegt wird. Die Blätter werden vom wurde von Plenzke (1940) ausführlich unterlassen. Wichtig wäre aber, die Be- Rand aus und zwischen den Blattrippen beschrieben. Eigene Beobachtungen zeig- stände von Actaea spicata regelmäßig zu angefressen. Letzteres ergibt den typi- ten, dass die Weibchen länger leben und kontrollieren, um gegebenenfalls auch

146 Sven Erlacher, Der Trauerspanner – ein Juwel in der Mitte Deutschlands hier geeignete Pflegemaßnahmen, wie die Literatur Osthelder, L. 1929. Die Schmetterlinge Südbay- Beseitigung von Fichtenjungwuchs, erns und der angrenzenden nördlichen Kalkal- durchzuführen. Bergmann, A. 1955. Die Großschmetterlinge Mit- pen. Teil 1. Heft 3. Mitteilungen der Münchner teldeutschlands. Bd. 5/1 u. 5/2: Spanner. 1267 S. Entomologischen Gesellschaft 19: 379–468. Urania, Jena. Plenzke, W. 1940. Die Zucht von Odezia tibiale Ausblick Bornemann, G. 1912. Verzeichnis der Groß- (Hüb.[sic!]). Entomologische Zeitschrift 54 (9): schmetterlinge aus der Umgebung von Magde- 65–66. Es darf als sehr unwahrscheinlich gelten, burg und des Harzgebietes. Abhandlungen und Preiss, J. 1929. Die Schmetterlingsfauna des un- dass Baptria tibiale nur an einer einzigen Berichte aus dem Museum für Natur- und Hei- teren Werratals. [Macrolepidoptera]. Abhand- lungen und Berichte des Vereins für Naturkunde Stelle in der Mitte Deutschlands vor- matkunde Magdeburg 2 (3): 163–251. zu Kassel 57: 20–103. kommt. Viel wahrscheinlicher ist, dass Brockmann, E. 1990. Kommentierte Bibliogra- phie zur Faunistik der hessischen Lepidopteren. Preiss, J. 1934. Zu Odezia tibiale Esp. Internatio- weitere Vorkommen nur noch nicht ent- Nachrichten des Entomologischen Vereins Apollo, nale Entomologische Zeitschrift 28 (14): 175. deckt wurden. Geeignete Lebensräume Suppl. 10: 1–324. Preiss, J. 1936. Bemerkenswerte entomologische gibt es einige, insbesondere im Mittleren Burmann, K. 1957. Ein paar Tagebuchnotizen. Beobachtungen aus dem westthüringischen Werratal, so um Frankenroda und Creuz- Entomologisches Nachrichtenblatt 4 (5): 4–5. Grenzgebiet um Eschwege. In: Lotze, E. (Hrsg.) Buszko, J. & Nowacki, J. (Hrsg.) 2000. The Lepi- Bericht über die Hauptversammlung des Thü- burg. Möglicherweise kann die Art auch ringer Entomologen-Vereins am Sonntag, dem um Göttingen wiederentdeckt werden. doptera of Poland – A Distributional Checklist. Polish Entomological Monographs 1: 1–178. 11. November 1934 in Erfurt. Entomologische Möge der vorliegende Artikel hierzu anre- Ebert, G. 2003. Die Schmetterlinge Baden-Würt- Zeitschrift 50 (21): 242–245. gen! tembergs. Band 9: Nachtfalter VII. 609 S. Eugen Reuhl, H. 1975. Die Großschmetterlinge („Macro­ Ulmer, Stuttgart. lepidoptera“) Nordhessens. VII. „Heterocera“ Danksagung. Besonders herzlich danke Erlacher, S. 2011. Rote Liste der Spanner (Lepi- (Nachtfalter). 3. Geometridae (Spanner). a. Philippia 2 (5): 330–346. ich: Josepha Messenbrink (Chemnitz), doptera: Geometridae) Thüringens. Natur- schutzreport 26: 337–344. Rommel, R.-P. 2002. Zum Verbleib der nachge- Jasmin Dehnen (Köln), Egbert Friedrich Esper, E. J. C. 1804. Die Schmetterlinge in Abbil- wiesenen Trauerspanner (Baptria tibiale) in (Jena), Torill & Vera Laechner (Chem- dungen nach der Natur mit Beschreibungen von Thüringen (Lepidoptera, Geometridae). Mittei- nitz), Rolf-Peter ­Rommel † (Mühlhau- Eugenius Johann Christoph Esper. Vierter Theil. lungen des Thüringer Entomologenverbandes e.V. sen) und Hartmuth Strutzberg (Wei- Zweiter Band. Erster Abschnitt. Europäische 9: 8–9. Schubert, R., Hilbig, W. & Klotz, S. 1995. Be- mar). Allen im Text genannten Kollegen Gattungen. Heft 53. S. 537–632. Leipzig. stimmungsbuch der Pflanzengesellschaften Mit- danke ich für die Mitteilung ihrer Fund­ Finke, L. 1902. Odezia tibiale. Entomologische Zeit- schrift 16: 2, 10. tel- und Nordostdeutschlands. 403 S. Fischer, daten, vor allem Michael Hofmann Finke, L. 1912. Zucht von Odezia tibiale. En­to­mo­ Jena. (Ei­ senach).­ Ich danke Ralf Bolz (Su­ logische Zeitschrift 25: 219–220. Skou, P. 1986. The Geometroid of North genheim-Ullstadt), Alfred Hasl­berger Finke, C. 1934. Odezia tibiale Esp. Internationale Europe (Lepidoptera: Drepanidae and Geometri- (Teisendorf), Dr. Thomas Meineke (Eber- Entomologische Zeitschrift 28 (12): 138–140. dae). 348 S. E. J. Brill / Scandinavian Science Finke, C. 1938. Die Großschmetterlinge Südhanno- Press, Leiden & Copenhagen. götzen), Dr. Andreas Segerer (München), Werno, A. 1992. Neue und wiederentdeckte Arten Werner Schäfer (Mühlhausen), Andreas vers besonders in der Umgebung Göttingens. 120 S. Göttingen. für die saarländische Lepidopterenfauna. Fau- Werno (Nunkirchen) und ­Werner Wolf Fritzlar, F. & Westhus, W. 2011. Die Roten Lis- nistisch-Floristische Notizen aus dem Saarland (Bindlach) für Hinweise zum Vorkommen. ten Thüringens – Gefährdungskategorien und 24 (1): 217–224. Außerdem gilt mein Dank Andreas Heuer Gefährdung der Arten und Biotope. Natur- Zündorf, H.-J., Günther, K.-F., Korsch, H. & (Erfurt) für Recherchen­ im Naturkunde- schutzreport 26: 8–32. Westhus, W. 2006. Flora von Thüringen. 764 S. Weissdorn-Verlag, Jena. museum Erfurt, Gerald Seiger (Kraupa) Gelbrecht, J. & Müller, B. 1986. Kommentiertes Verzeichnis der Spanner der DDR nach dem Zukowsky, B. 1944. Eine auffällige Aberration für die Unterstützung beim Erstellen der Stande von 1986 (Lep., Geometridae). Entomo- von Baptria tibiale Esp. (Lep. Geom.). Entomo- Verbreitungs­karte sowie Laura Marrero logische Nachrichten und Berichte 31: 97–106. logische Zeitschrift 58 (3): 17–18. Palma (Sevilla, Spanien) für die Bearbei- Habich, O. 1889. Odezia tibiale Esp. Stettiner En- tung der Ab­bildungen. Ganz besonders tomologische Zeitung 50: 349–350. danke ich Josepha Messenbrink (Chem- Hausmann, A. & J. Viidalepp 2012. The Geometrid nitz), Jasmin Dehnen, Claudia Junghans Moths of Europe. Volume 3. Subfamily Larentii- nae I. 743 S. Apollo Books, Vester Skerninge. (Leipzig), Dr. Jörg Gelbrecht (Königs Hyden, N. 1990. Baptria tibiale och Eupithecia Wusterhausen), Dr. Thomas Meineke, Dr. actaeata (Lep., Geometridae) i Nordvästeuro- Michael Ochse (Weisenheim am Berg), pa - utbredning, biologi, äggläggning och ha- Rico Spangenberg (Stollberg/Erzg.), Dr. bitatval. Entomologisk Tidskrift 111 (1/2): Sven Wiessner (Dresden) und Werner 1–15. Keferstein, A. 1871. Lepidopterologische Plau- Wolf, die das Manuskript gelesen und mit ●● Dipl.-Biol. Sven Erlacher, dereien. Entomologische Zeitung 32: 326–328. ihren hilfreichen Anmerkungen wesent- Knapp, F. 1887. Verzeichnis der Schmetterlinge Museum für Naturkunde, lich zu dessen Verbesserung beigetragen Thüringens. Entomologische Zeitung 48: 362– Moritzstraße 20, D-09111 Chemnitz; haben. 406. E-Mail: [email protected]

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