WALTER BAUM

MARINE, NATIONALSOZIALISMUS UND WIDERSTAND

Fritz Hartung zum 80. Geburtstag

I Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, zu der die deut­ sche Marine ebensowenig unmittelbar beigetragen hatte wie das Heer1, wurde von ihr nicht nur ohne erkennbaren Widerspruch hingenommen, sondern großenteils begrüßt2. Warnende oder ablehnende Stimmen waren jedenfalls nicht zu hören. Daß ein älterer Seeoffizier als „Preuße" dem „Österreicher" Hitler gegenüber ge­ wisse Vorbehalte empfand3, war innerhalb der Marine, die sich etwas darauf zu­ gutehielt, der „Schmelztiegel der Nation" zu sein und von landsmannschaftlichen Ressentiments nichts zu wissen4, eine Ausnahme, die noch weniger politisches Gewicht besaß als vereinzelte skeptische Worte bei Messegesprächen in jener Zeit5. Was indes in der Heimat immerhin möglich gewesen wäre, war „draußen" so gut wie undenkbar. Die „einwandfreie Haltung" des Kreuzers „Köln" z. B., der im Dezember 1932 mit Kadetten zu einer Schulschiffreise ausgelaufen war und den 30. Januar 1933 in Übersee erlebte6, verstand sich daher von selbst. Verwirrende, auf Sensationsmeldungen der Auslandspresse beruhende Vorstellungen von den neuen Zuständen in der Heimat konnten sich allenfalls vorübergehend auf die „Stimmung", aber nicht auf die „Haltung" der Offiziersanwärter auswirken; nach ihrer Berichtigung noch unterwegs durch die jüngeren Kameraden auf der „Karls­ ruhe", die bei ihrer Ausfahrt der heimkehrenden „Köln" begegnete, war das Un­ behagen rasch verflogen7.

1 Vgl. H. Krausnick, Vorgeschichte und Beginn des militärischen Widerstandes gegen Hitler, in: Die Vollmacht des Gewissens, hrsg. von der Europäischen Publikation e. V., München 1956, S. 193ff., 200; W. Sauer, bei Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik . . ., 2. Aufl., Stuttgart-Düsseldorf 1957, S. 283f. 2 Institut für Zeitgeschichte, Archiv, Zeugenschrifttum (zit.: IfZ, Zs.) Nr. 1483 (Admiral a. D. Bastian); Nr. 41 (Adm. a. D. Fuchs); Nr. 1799; Nr. 364. - Karl Dönitz, Zehn Jahre und zwanzig Tage, Bonn 1958, S. 300. 3 IfZ, Zs. Nr. 1483 (Adm. a. D. Bastian). 4 Vgl. , Mein Leben, Tübingen 1956/57, Bd. II, S. 14f. - „Palladium der in der deutschen Einheit liegenden Kraft": Adm. Scheer an Seeckt im April 1920 (Fr. v. Rabenau, Seeckt, Aus seinem Leben 1918-1936, 18.- 37. Tsd., Leipzig [1940], S. 494). 5 IfZ, Zs. Nr. 41 (Admiral a. D. Fuchs); Nr. 1739. - Der Flottenchef Vizeadmiral Gladisch etwa war wohl persönlich kein Freund der „Braunen", andererseits aber für das scheinbar Positive des Nationalsozialismus aufgeschlossen und viel zu vorsichtig, um seine ungünstige Beurteilung der höheren Funktionäre der Partei in größerem Kreise laut werden zu lassen. So ergab sich seine vorzeitige und brüske Ablösung im Herbst 1933 auch nicht aus einem spürbaren Widerstand politischer Natur, sondern aus einer persönlichen Initiative Raeders, die sich auf gewisse sachliche Differenzen berief. - (IfZ, Zs. Nr. 1781; 339; 1479; 667; 1481; Nr. 41 [Adm. a. D. Fuchs]; 1796; 1774.) 6 Raeder a. a. O., I, S. 280. 7 Mitteilungen von kompetenter Seite an den Verfasser. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 17

Weil Hitler wohl wußte, was er der Nichteinmischung der verdankte, mußte er versuchen, sie mindestens auf dieser Linie zu halten, oder besser noch, sie zu gewinnen. Deshalb beeilte er sich, mit ihrer Führung Kontakt zu bekommen. Er stellte sich ihr schon am 3. Februar bei einem Empfang im Hause Hammersteins mit einer längeren Rede als Kanzler vor8. Offenbar hatte er damit bei der Admirali­ tät größeren Erfolg als bei der Generalität9 und konnte ihn beim ersten Vortrag Raeders kurz darauf noch festigen10. Womit er die Marine gewann, war — neben dem allgemeinen Versprechen, die aus der Innenpolitik herauszuhal­ ten - die ausdrückliche Zusage, sie großzügig auszubauen, ohne es zu einem Wett­ rüsten, geschweige denn einem Konflikt mit England kommen zu lassen. Dem Werben Hitlers um die Marine diente auch sein Erscheinen bei deren Übungen im Mai 193311 sowie eine entsprechende Presse-Propaganda12, die das noch schwelende Mißtrauen wegen seiner scharfen Kritik an Tirpitz und der deutschen Flottenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg13 auslöschen sollte14. Ebenso aufrichtig - „auf Abruf" - wie seine Versicherung, die Armee aus der Politik herauszuhalten, meinte Hitler damals seine Auslassungen zur Englandpolitik. Rein kontinental eingestellt, hat er - um mit Tirpitz zu sprechen - „die See nicht verstanden". Sie war und blieb ihm „unheimlich"15, wozu seine starke Anfälligkeit für die Seekrankheit beigetragen haben mag16. Andererseits „schwärmte" er für die Marine17 und begeisterte sich mit seinem unleugbaren Sinn für Technik vor­ nehmlich für die großen Schiffe als Höchstleistungen technischer Präzision18. So förderte er den Ausbau der Marine19, wünschte jedoch keinen Gegensatz zu Eng-

8 Vgl. die Dokumentation (hrsg. v. Th. Vogelsang) in dieser Zeitschrift Bd. 2 (1954) S. 434ff. 9 Vgl. Raeder a. a. O. I, S. 280f.; II, S. 106f.; IMT, Bd. XIV, S. 30; IfZ, Zs. Nr. 54. - Für das Heer: vgl. Anm, 8; H. Krausnick a. a. O. (vgl. Anm. 1), S. 203 und H. Foertsch, Schuld und Verhängnis, Stuttgart 1951, S. 33. 10 Raeder a. a. O. I, S. 281 f; II, S. 108ff. 11 VB (Berliner Ausg.) vom 24. 5. 1933. 12 Ebenda, 25./26. 5. 33 (Dr. Dietrich über die „Flotte im Zeichen des jungen Deutsch­ lands") ; allgemein: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941—42 (hrsg. von Gerh. Ritter), Bonn 1951, S. 146. 13 Vgl. Mein Kampf, 534-537. Aufl., München 1940, S. 299f. 14 Vgl. Raeder a. a. O., II, S. 107. 15 Vgl. Karl Jesko v. Puttkamer, Die unheimliche See, Wien/München 1952, S. 11 f.; dazu IfZ, Zs. Nr. 1482; 1799; 1800; 1788 u. a. m. 16 Als der erfolgreiche Kommandant des Hilfskreuzers „Orion", der damalige Kapitän z. S. Weyher, sich nach langer Fahrt im FHQ zurückmeldete, hatte Hitler dem enttäuschten Seeoffizier wenig mehr zu sagen als: „Für mich, Herr Kapitän, hätte das 14 Monate lang jeden Tag Seekrankheit bedeutet." IfZ, Zs. Nr. 1788. 17 Gelegentlich erklärte er einmal im Kreis von Marineoffizieren, daß er selber gern Seeoffizier geworden wäre! IfZ, Zs. Nr. 41 (Adm. a. D. Fuchs). — Für seine Begeisterung, als ihm von der Marine ein Modell des Panzerschiffs „Deutschland" geschenkt wurde: IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen). 18 Raeder a. a. O., II, S. 157; IfZ, Zs. Nr. 41 (Adm. a. D. Fuchs); Puttkamer a. a. O., S. 11; Otto Dietrich, 12 Jahre mit Hitler, München 1955, S. 115. 19 Zum ganzen vgl. Rolf Bensei, Die deutsche Flottenpolitik von 1933 bis 1939. Beiheft 3

Vierteljahrshefte 2/1 18 Walter Baum

land, sei es wegen seiner wesentlich kontinentalen Ziele, sei es wegen seiner Be­ wunderung für die politische Leistung des Empire, sei es auf Grund seiner Rassen- Ideologie. Mit dem von ihm angeregten Flottenabkommen - abgeschlossen am 18. Juni 1955 - schien Hitler dann das Fundament einer dauernden Verständigung gelegt20. Daß dennoch ein Konflikt nicht ausbleiben konnte, wenn er, weit über eine Revision des Versailler Vertrages hinausgehend, die gewaltsame Vorherr­ schaft auf dem Kontinent erstrebte, erkannte er ebensowenig, wie er die britische Mentalität überhaupt begriff. Über jene drohenden Konsequenzen täuschte sich auch die Marine selbst hinweg, obwohl Hitler seine Expansionsabsichten früh offenbart hatte und obwohl Raeder selbst schon von dem bloßen Versuch einer Ände­ rung der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrags eine Kriegsgefahr befürchtete21. Jedenfalls hielt Raeder einen Krieg, schon wegen der materiellen Schwäche der Marine, auf lange Zeit für undenkbar22. Die scheinbare „Über­ einstimmung" zwischen ihm und Hitler in den „für die Zukunft der Marine ent­ scheidenden Fragen" machte ihn und damit die ganze Marine23 zu vertrauens­ vollen Gefolgsleuten des innen- und außenpolitisch erfolgreichen „Führers"24, der ihnen für die Terrorakte der Organe des Regimes seltsamerweise nicht per­ sönlich verantwortlich erschien25. Freilich gab es für die Marine auch weniger — oder doch weniger ernsthafte — Reibungen mit der Partei als für das Heer. Von Hause aus hatte sie kaum Berüh­ rung mit den örtlichen Dienststellen der NSDAP, oder sie dominierte in den Kü­ stenstandorten derart, daß die dortigen Instanzen der Partei sich nicht an sie heran­ der Marine Rundschau, Berlin-Frankfurt/M. 1958. — Der Schiffbau-Ersatzplan für 1933 wurde im März aufgestellt und schon im April/Mai in Kraft gesetzt. So begann bald der Bau an diesen Schiffen, darunter der späteren „Scharnhorst", und eines Schwimmdocks. Wolfg. Sauer, Die Mobilmachung der Gewalt, in: K. D. Bracher, W. Sauer, G. Schulz, Die NS-Machter- greifung, Köln und Opladen 1960, S. 798. — Geld für den Bau dieses Docks wurde vom ost­ preußischen Gauleiter Koch aus der „Spende zur Förderung der nationalen Arbeit" überwiesen: ebda, S. 800. 20 Vgl. insbes. Raeder a. a. O., I, S. 300ff.; II, S. 24ff., 333. Ferner W. Malanowski, Das dtsch.-engl. Flottenahkommen v. 18. 6. 1935 als Ausgangspunkt für Hitlers doktrinäre Bünd­ nispolitik, in: Wehrwiss. Rundschau 5 (1955), S. 408 ff.; D.C.Watt, The Anglo-German Naval Agreement of 1935, in: Journal of Intern. Hist. 1956, S. 155ff. 21 Raeder a. a. O., II, S. 167. — Im übrigen brach Hitler den Flottenvertrag rasch, indem die beiden späteren Schlachtschiffe „Bismarck" und „Tirpitz" größer als angegeben gebaut wurden: 52 000 t statt offiziell 35 000 t, — was nach sachkundigem Urteil von Marineseite „dem Ziel dieses Abkommens mit England, eine nochmalige Gegnerschaft der beiden Länder zu vermeiden", widersprach. Der Bruch des Vertrages in dieser Hinsicht war von den Eng­ ländern schon bald nach der Kiellegung der Schiffe, spätestens 1937, erkannt. - Vgl. dafür Paul W. Zieh, Logistik-Probleme der Marine, in: Die Wehrmacht im Kampf, Bd. 31, Neckargemünd 1961, S. 141. — Hitler am 3. 2. 33 über seine Expansionsabsichten: s. oben mit Anm. 8 und 9. 22 Raeder a. a. O., II, S. 34, 152ff. 23 Raeder a. a. O., II, S. 333. 24 Raeder a. a. O., II, S. 110. 25 Raeder a. a. O., II, S. 114, 134. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 19

trauten26. Zwischenfälle, die in „Zusammenstößen" von Marineangehörigen mit Parteiorganen bestanden oder auf Amtsanmaßung von Parteifunktionären beruh­ ten, wurden zum Teil mit Nachdruck von Raeder selbst geregelt27; sie verursachten jedenfalls keine Animosität gegen die Nationalsozialisten, wie sie von der Marine in der Zeit vorher der „Linken" gegenüber empfunden worden war28. Die Nieder­ schlagung des sogenannten Röhm-Putsches stärkte sogar im Ganzen das Vertrauen in Hitler29, obwohl die illegalen und brutalen Methoden der Aktion rasch bekannt wurden und bei einem Teil des Offizierkorps Empörung und Erschütterung hervor­ riefen30. Ein Versuch des damaligen Korvettenkapitäns Heye, Raeder gemeinsam mit dem Heer zu einer wirkungsvollen Stellungnahme bei Hitler zu veranlassen, schlug aber fehl, — und zwar kaum deshalb, weil Raeder persönlich zu ängstlich dafür gewesen wäre, sondern weil er „nicht zuständig" zu sein glaubte und über­ dies von einem solchen Schritt Nachteile für die Marine befürchtete31. Trotz dieser eben erst gemachten Erfahrungen leistete er darum ohne Bedenken den neuen „persönlichen" Eid32, und ihm folgend die Marine, wobei sie die an sich ja ganz unmotivierte erneute Vereidigung einerseits als „Routine-Angelegenheit" auf­ faßte33, andererseits aber auch als ersehnte Herstellung eines persönlichen Loyali­ tätsverhältnisses begrüßte34. Seinen eigenen Worten nach wurde für Raeder die Grenze, an der seine Gefolg­ schaft für Hitler endete, lediglich von seinem Fachgebiet bestimmt35. Nicht das Terrorsystem konnte ihn dazu bewegen, aus Protest seinen Abschied einzureichen, geschweige denn Widerstand zu leisten, sondern erst und allein die Tatsache, daß Hitlers Maßnahmen schließlich seinem fachlichen Gewissen zuwiderliefen. Wohl hat die Bekämpfung der Kirche dem überzeugten Christen Raeder manches Miß­ behagen bereitet; doch sicherte er nur die Marine-Seelsorge energisch und erfolg­ reich gegen die Angriffe der Partei und trat für seine Marinepfarrer bei der Ge­ stapo ein36. Desgleichen schützte er aktive Seeoffiziere, die nach der Rassen-Ideologie der NSDAP „nicht einwandfrei" waren, vor Verfolgungen, behielt sie entweder im Dienst — und zwar ohne Nachteile für ihre Laufbahn - oder sorgte für ihr

26 Raeder a. a. O., II, S. 116; Dönitz a. a. O., S. 302. 27 Raeder a. a. O., II, S. 117. Für die Zwischenfälle selbst siehe: Geheimakte über NSDAP- Zwischenfälle vom Januar 1933-30. 6. 34 (Sammelgr. 1, Sachgr. n, Untergr. 53) in Akten des OKW (Alexandria, Va.), Archiv-Nr. OKW/879. 28 Raeder a. a. O., II, S. 15; Dönitz a. a. O., S. 302. 29 Raeder a. a. O., I, S. 289; Dönitz a. a. O., S. 300f.; IfZ, Zs. Nr. 54. 30 IfZ, Zs. Nr. 246 (Vizeadm. a. D. Heye). 31 Raeder a. a. O., II, S. 22f. 32 Raeder a. a. O., I, S. 290. 33 IfZ, Zs. Nr. 1788 sowie weitere Zeugenbefragungen. 34 IfZ, Zs. Nr. 979, 1630 u. a. — Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang daß es einem Seeoffizier unter der Weimarer Republik gelang, den ihm nicht zusagenden Eid auf die Ver­ fassung zu umgehen und doch im Dienst zu bleiben. (Mitteilungen an den Verfasser.) 35 Raeder a. a. O., II, S. 294. 36 Ebenda, S. 131f., 135ff.; IfZ, Zs. Nr. 1808 (ehem. Marinedekan Ronneberger). 20 Walter Baum ehrenvolles Ausscheiden und weiteres Fortkommen37. Wenn er darüber hinaus in wenigen Einzelfällen alter Bekanntschaft helfend eingriff, obwohl die betreffenden Personen nicht „in sein Ressort" fielen38, so ändert das nichts an seiner prinzipiellen „Selbstbeschränkung"39, d. h. an dem Verzicht, seine amtliche Autorität für die Kirche und die verfolgten Juden überhaupt einzusetzen. Da Hitler ihm in den ersten Jahren innerhalb der Marine freie Hand ließ40 - weil er mit dem Ausbau seiner eigenen Position genug zu tun hatte und inzwischen die Marine bei einem hervorragenden Fachmann gut aufgehoben wußte -, sah Raeder keine Veranlassung, sich einzuschalten, wenn das Recht mit Füßen ge- treten wurde. Nach dem Prinzip der „unpolitischen" Haltung des Soldaten und seiner „unbedingten Korrektheit gegen die bestehende Regierung" gab es für die Marine „keinen Zweifel" - und Raeder ließ keinen daran aufkommen -, „daß eine unbedingte Disziplin in den eigenen Reihen selbst bei größten Belastungen aufrechterhalten werden müsse"41. Ob wirklich noch niemand in jenen Tagen in die Zukunft sehen und wissen konnte, „was sich Jahre später ereignen würde", wie Raeder dazu hilfsweise argumentiert hat, blieb bei solchen Vorsätzen ohnehin eine akademische Frage.

II

Die ersten Zweifel an Hitler wollen Raeder im Frühjahr 1938 anläßlich der Blomberg-Fritsch-Krise gekommen sein42. Die Vorstellungen eines — damals noch „jüngeren" — Seeoffiziers wie Heye, gemeinsam mit dem Heer energische Schritte bei Hitler zu unternehmen, lehnte er jedoch ab43, während er ein halbes Jahr spä­ ter, nach der „Kristallnacht" vom 9./10. November 1938, auf die empörten Mel­ dungen einer Reihe führender Offizieren der Marine44 wenigstens über „die Un­ moral der Handlungen und die eingetretene Schädigung des deutschen Ansehens" Klage beim Staatsoberhaupt führte45. Obwohl von der lahmen - in der Diktion auf Raeder berechneten — Ausrede Hitlers46 „innerlich nicht befriedigt", ließ er

37 IfZ, Zs. Nr. 1479 und Mitteilungen von kompetenter Seite an den Verfasser; Raeder a. a. O., II, S. 132. 38 Vgl. Raeder a. a. O., II, S. 133 und die eidesstattl. Erklärungen betroffener Personen: ebda., S. 338ff. - Für Niemöller trat R. nur vorsichtig ein: II, S. 141ff. 39 Raeder a. a. O., II, S. 132f. - Äußerungen Hitlers über das in seinen Augen „etwas bigotte Christentum" Raeders: Dr. Goebbels' Tagebücher, hrsg. von L. P. Lochner, Zürich 1948, Eintragung v. 9. 3. 1943, S. 261. 40 Ebenda, S. 115f. 41 Ebenda, S. 22f., auch für das Folgende. 42 Raeder, a. a. O. I, S. 111 f., 119ff. 43 IfZ, Zs. Nr. 246 (Vizeadm. a. D. Heye). 44 Raeder a. a. O., II, S. 133f.; Dönitz a. a. O., S. 302f. 45 Raeder a. a. O., II, S. 133f. 46 Nach Raeder erklärte Hitler ihm, der (bzw. die) Gauleiter sei (bzw. seien) „ihm aus dem Ruder gelaufen". — Vgl. bereits Krausnick (a. a. O., S. 370 mit Fußnote 532), der sich auf das übereinstimmende Zeugnis Adm. a. D. Patzigs berufen kann. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 21

sich damit abspeisen und sah seinen Grundsätzen entsprechend keine weiteren „Möglichkeiten des Eingreifens". Sehr anders reagierte Raeder aber schon wenige Tage danach, als Hitler während eines Vortrages vor ihm plötzlich heftig die bisherige Baupolitik der Marine, und zwar namentlich die Pläne der beiden — später „Bismarck" und „Tirpitz" getauften - Schlachtschiffe kritisierte47. In diesem Augenblick ersuchte der Oberbefehlshaber der Marine in relativ scharfer Form um seine Entlassung. Von da an häuften sich die Auseinandersetzungen - die jedesmal Raeders Ressort betrafen — so daß er, der von seinem ersten Abschiedsgesuch auf Drängen Hitlers Abstand genommen hatte, trotz äußerer Ehrungen sein Amt zum 1. Oktober 1939 erneut zur Verfü­ gung stellte48. Der inzwischen ausbrechende Krieg machte Raeder freilich sofort anderen Sinnes 49, obwohl er gerade in diesem Augenblick allen Grund zur Enttäuschung und zum Zweifel an Hitler gehabt hätte50. Jetzt auszuscheiden, erschien seinem rein „solda­ tischen" Denken als Desertion. Wenn die Marine schon, unfertig wie sie war, nicht mehr tun konnte als „kämpfend und in Ehren unterzugehen"51, so wollte Raeder ebenso selbstverständlich auf seinem Posten bleiben, wie dies von jedem Kommandanten eines Schiffes verlangt wurde. Wie wenig er bedachte, daß we­ sentlich mehr auf dem Spiel stand als seine persönliche Ehre oder selbst die der Marine52, zeigt auch seine Verständnislosigkeit für das Verhalten von Beck, das er nicht einmal als Möglichkeit in Erwägung zog53. Um was es wirklich ging, er­ kannte mit aller Klarheit fast allein der Abwehrchef Canaris64, der mit Raeder

47 Raeder a. a. O., II, S. 126f. 48 Ebenda, S. 128 f. (Am 1. April 1939, anläßlich des Stapellaufs des Schlachtschiffs „Tirpitz" in Wilhelmshaven, war Raeder zum Großadmiral befördert worden: S. 129.) 49 Ebenda, S. 131. 50 Ebenda, S. 166 ff. — Noch kurz vor Ausbruch des Krieges sagte Raeder in einer Ansprache in Stettin: „Glaubt doch nicht, daß der Führer mit England Krieg führt; er wird doch nicht leichtfertig das bisher Erreichte aufs Spiel setzen!" IfZ, Zs. Nr. 1630 (Kpt. z. S. a. D. Kupfer). 51 Raeder a. a. O., II, S. 171 und „Gedanken des Ob. d. M. zum Kriegsausbruch", 3. 9. 1939, persönl. Akten Raeders (ungedruckt), Akten der . Hierin sagt R., daß „nicht vor 1944 mit dem Krieg zu rechnen" gewesen sei, daß Hitler „bis zum Schluß" (22. 8. auf dem Obersalzberg) an die „Vermeidung des Krieges " geglaubt habe; und über die Marine, daß die U-Boote viel zu schwach seien, um „ihrerseits kriegsentscheidend zu wirken", die Überwasserstreitkräfte aber nur zeigen könnten, „daß sie mit Anstand zu sterben verstehen und damit die Grundlagen für einen späteren Wiederaufbau zu schaffen bereit sind". 52 Für Raeders persönlichen Ehrbegriff bezeichnend erscheint es, daß er nach Hitlers schwerem Angriff auf den „Geist" der Marine nach dem wenig glücklichen Kampf gegen einen britischen Geleitzug im Nordmeer Ende Dezember 1942 bereit war, vor dessen Augen Gift zu nehmen, wenn er seine Vorwürfe nicht zurückzog (IfZ, Zs. Nr. 1481). 53 Raeder a. a. O., II, S. 130, 293f. 54 Vgl. besonders sein Wort bei Kriegsausbruch: „Das ist das Ende Deutschlands": Kraus­ nick a. a. O., S. 380 (mit den Belegen). Über Canaris: ders., in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, S. 116ff.; die Dokumentation „Aus den Personalakten von Canaris" in dieser Zeit­ schrift 10 (1962), S. 280ff. sowie bereits K. J. Abshagen, Canaris, Patriot und Weltbürger, Stuttgart 1949. 22 Walter Baum selbst wie mit der Marine im ganzen zu wenig unmittelbaren Kontakt mehr be­ saß55, als daß sein Anteil am Widerstand gegen Hitler seiner Waffengattung zu­ zurechnen wäre. Vielmehr distanziert sich „die Marine" noch heute weitgehend von ihm, wie sie denn — von wenigen Ausnahmen abgesehen — überhaupt „den Widerstand" ablehnt66. Dennoch fehlte es - neben Canaris — nicht an einigen einsichtigen Männern innerhalb der Marine, die sich an dem ersten, noch „legalen" Akt der deutschen militärischen Opposition während der Sudeten-Krise im Hochsommer 1938 beteilig­ ten. Bis dahin waren, wie gesagt, Raeder und die Marineführung von Hitlers Rü­ stungen nicht beunruhigt worden. Sogar die Ankündigungen vom 5. November 1937, bekannt durch das Hoßbachdokument, will Raeder nicht ernst genommen, sondern Görings beruhigenden Versicherungen geglaubt haben, Hitler wolle das Heer nur bei seiner Aufrüstung anspornen57. Daran änderte selbst die neue Wei­ sung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht vom 7. bzw. 21. Dezember 193758 nichts, weil der Ernstfall an die Voraussetzung „voller Kriegsbereitschaft auf allen Gebieten" oder einer sicheren Neutralität der Westmächte geknüpft war, — was dem ganzen Plan scheinbar theoretischen Charakter gab. Nun zeigte der Aufmarsch­ plan „Grün" gegen die Tschechoslowakei zwar ein Nahziel, das Raeders schwerste Bedenken hätte hervorrufen müssen, weil es über eine Revision der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages hinausging59. Doch reagierte er immer noch nicht, obwohl er jetzt auch „fachlich" betroffen war und die schon länger spürbare Feindseligkeit Hitlers gegen England das Schlimmste befürchten lassen mußte60. Stark beeindruckt von den vorangegangenen außenpolitischen Erfolgen Hitlers, vertraute er noch immer auf ihn und sein „Glück"61. Dafür hegten im zwei Männer die gleichen Sorgen wie Beck: der Chef des Stabes der Seekriegsleitung, Vizeadmiral Guse, und sein erster Operationsoffizier, Fregattenkapitän Heye, — bezeichnenderweise Offiziere in Stellungen, die denen des Chefs des Generalstabes und seines Ia entsprachen. Heye, Sohn des ehemaligen Chefs der Heeresleitung und ein Offizier, der schon vor der „Machtübernahme" durch politisches Denken „unangenehm aufgefallen" 55 Raeder a. a. O., II, S. 134, 193f.; IfZ, Zs. Nr. 54 u. a.; Dönitz a. a. O., S. 298f. 56 Kurt Assmann, Deutsche Schicksalsjahre, Wiesbaden 1950, S. 483. - Protokoll Vize- adm. a. D. Arps (ungedr.); Denkschrift Adm. a. D. Kleikamp (ungedr.; Abschriften im In­ stitut für Zeitgeschichte). — Befragungen überlebender Zeugen. 57 IMT, Bd. XIV, S. 44f.; Raeder a. a. O., II, S. 149f. - Dagegen vertrat Dönitz seit 1937 „sehr bestimmt" die Auffassung, daß es bald zum Krieg mit England kommen werde: Zieh a. a. O. (vgl. Anm. 21), S. 143. 58 IMT, Bd. XXXIV, S. 745ff.; Akten z. Dt. Ausw. Politik 1918-1945, Serie D, Bd. 7, Baden-Baden 1956, S. 547ff. 59 Dazu Raeder a. a. O., II, S. 167. 60 Da in der Marine inzwischen die Meinung stark vertreten worden war, daß England in einen bewaffneten Konflikt Deutschlands mit der Tschechoslowakei eingreifen würde, wurden Gespräche darüber „von oben" verboten (IfZ, Zs. Nr. 1809). 61 Raeder a. a. 0., II, S. 131; dazu die Tagebücher von Ulrich von Hassell, „Vom anderen Deutschland", Zürich/Freiburg 1946, S. 17 (Eintr. v. 14. 9. 38). Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 23 war62, verfaßte im Juli (1938) eine „Lagebetrachtung" im Falle eines deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei63. Wie Beck sah er das Eingreifen Englands und Frankreichs voraus, möglicherweise später auch Amerikas und Rußlands, weil der deutsche Überfall „wie ein Fanal" wirken werde und die anderen sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würden, „die deutsche Gefahr ein für alle­ mal zu bannen". Schon ein Krieg gegen die Westmächte aber bedeute „den Ver­ lust des Krieges für Deutschland mit allen Folgen". In geschickter Taktik geißelte Heye an dieser Stelle zugleich den Terror im eigenen Lande, indem er ihn als Grund für die gefährliche Antipathie des „feindlichen und neutralen Auslands" gegen Deutschland hinstellte, der durch Stärkung der „Staatsautorität . . . gegen­ über den Befugnissen und Rechten der Partei . . . weitgehend der Boden entzogen" werden sollte64. Die abschließende Feststellung der Aufgabe des Soldaten dem Politiker gegenüber: „der politischen Führung die militärische Beurteilung, auch der ungünstigsten Lage darzulegen, damit die politische Führung die Größe ihrer Verantwortung kennt und ihre Entschlüsse nicht auf unvollständige Unterrichtung aufbaut", war wohl an Clausewitz orientiert, wurde von Heye indes der besseren „Wirkung" halber Heber mit einem angeblichen „Führerwort" begründet. Ihm schloß sich Guse an mit der - für den zurückhaltenden und von Natur nicht „kämpferischen" Chef der Skl sehr beachtlichen — Forderung gemeinsamer Vor­ stellungen der drei Oberbefehlshaber der Wehrmacht bei Hitler, bzw. wenigstens der beiden Oberbefehlshaber des Heeres und der , da Göring wahr­ scheinlich „nicht dazu zu bewegen sein" werde. Doch auch ein gemeinsamer Schritt von Brauchitsch und Raeder unterblieb, weil soldatische Gehorsamspflicht und die Hoffnung, es werde wieder gut gehen, beide davon abhielten65.

62 Insbesondere bei einer Diskussion in einem Führergehilfenlehrgang für Heer und Marine anläßlich eines Besuches Schleichers i. J. 1929: HZ, Zs. Nr. 246 (Vizeadm. a. D. Heye). 63 Weisungen des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht für den Fall „Grün", Akten des OKM, 1. Abt. Skl Ia; Heft 2, Befehle für Geheimhaltung, Anlaufen der Maßnahmen, Stellungnahmen usw. (ungedr., Bundesarchiv Koblenz); dazu IfZ, Zs. Nr. 246 (Vizeadm. a. D. Heye). - Vgl. Krausnick a. a. O., S. 312ff. 64 „Die Stimmung in den maßgebenden Staaten ist ausgesprochen deutschfeindlich. Diese Stimmung beruht nicht so sehr auf Sympathie mit den Tschechen als auf Antipathie gegen Deutschland. Sie wird dauernd genährt durch die Ansichten des Auslandes über die Zustände in Deutschland, die bei dem einzelnen Ausländer beinahe eine Kreuzzugsstimmung aufkom­ men lassen. Die Methoden der geistigen und politischen Gleichschaltung des deutschen Volkes, die Art und Weise, wie die Kirchen- und die Judenfrage nach den zahlreichen ins Ausland gelangenden Nachrichten gelöst wird, lassen für den denkenden Ausländer Deutsch­ land als Sowjetrußland sinnverwandten Staat erscheinen . . . Das bisherige System der Ge­ stapo, die Behandlung der Kirchen- und Judenfrage müssen in festere, gesetzliche Formen gegossen werden. Die Staatsautorität muß gegenüber den Befugnissen und Rechten der Partei gestärkt werden." („Beurteilung der Lage Deutschland-Tschechei — Juli 1938" -vgl. Anm. 63.) 65 Immerhin behauptet Assmann a. a. O., S. 45 (vgl. auch Marine Rundschau 58 [1961], S. 9), ohne näheren Nachweis, das OKM habe im Sommer 1938 Hitler „eine eindrucksvolle Denk­ schrift" vorgelegt, in welcher der Besorgnis vor einem Krieg mit England Ausdruck gegeben worden sei. Wenn dies zutrifft, so könnten die erwähnten Denkschriften dazu den Anstoß gegeben und dabei teilweise Verwendung gefunden haben. 24 Walter Baum

Bei dem darauf folgenden ersten Akt „illegaler" Opposition, dem Versuch, Hitler in dem Augenblick mattzusetzen, in dem er den „Fall Grün" verwirklichen wollte, war von der Marine niemand beteiligt. Wohl stand Canaris leitend und schützend hinter Oster, der im Verschwörerkreis um Halder und Witzleben als der „Motor" erschien, doch kann er eben nicht als Vertreter „der Marine" betrachtet werden. Dasselbe gilt von dem damaligen Kapitänleutnant Liedig, der ebenfalls zur gehörte und bei einer Heeresdienststelle eingesetzt war. Er hatte sich mit für den Stoßtrupp zur Verfügung gestellt, der unter der Führung seines ehemaligen Kame­ raden aus der Brigade Ehrhardt, Oberstleutnant Heinz, in die Reichskanzlei ein­ dringen und Hitler verhaften sollte66. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der weiter tätigen, wenn auch sich wandelnden Oppositionsgruppe um Halder und Witzleben und dem späteren Widerstandskreis in der Marine ist nicht zu erkennen. Verschiedene Versuche des Generalstabschefs, auch Marineoffiziere heranzuziehen, waren nicht nur erfolglos, sondern sogar gefährlich67. Verhältnismäßig offen konnte Halder wohl mit dem damaligen Chef der Seekriegsleitung, Admiral Schniewind, reden. Doch bei allem Verständnis für Kritik am Regime verstand dieser weitergehende Andeutungen, wie: daß man die kritische Einstellung in Taten umsetzen müsse, nicht oder wollte sie nicht verstehen. Ihre gegenseitige Sympathie schloß hier wohl eine Gefähr­ dung Halders aus, während dieser bei den wenigen anderen Seeoffizieren, die er ansprach, froh sein mußte, daß sie keinen Alarm schlugen. Die „völlige Unbrauch- barkeit" der Marine „für Zwecke des Widerstandes" bestätigte sich für den General­ stabschef so kraß, daß er sie danach bewußt nicht weiter umwarb68, zumal sie „technisch" nur wenig nutzen konnte. Wenn sie später dennoch - obschon nur mit einer kleinen Zelle und nur teilweise aktiv — an der militärischen Opposition beteiligt war, scheint das auf „zufälligen" persönlichen Umständen zu beruhen: nämlich darauf, daß es Claus von Stauffenberg war, der im Herbst 1943 die aktive Leitung des Widerstandes in der Armee übernahm und er einen Bruder (Berthold) in der Seekriegsleitung hatte, der im Völkerrechts-Referat der Operationsabteilung — zuletzt als sogenannter Marine-Oberstabsrichter - tätig war. Eine „autochthone" Opposition entstand in der Marine also nicht, sondern es bedurfte dazu des An­ stoßes von außen.

III

Ohne Zweifel hat Claus von Stauffenberg diesen Anstoß zum aktiven Widerstand in der Marine gegeben. Obwohl Beck ihr dafür ebensowenig Bedeutung beimaß

66 E. Zeller, Geist der Freiheit, München, 3. Aufl. 1956, S. 36; G. Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, 3. Aufl., Stuttgart 1956, S. 195; Krausnick a. a. O., S. 344f. 67 Mitteilung von Gen. Oberst a. D. Halder an Verf. (5. 9. 56); auch für das Folgende (IfZ, Zs. Nr. 240). 68 Auch auf Grund von Mitteilungen von Gen. Adm. a. D. Schniewind an Verf. (3. 10. 56). Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 25 wie zuvor Halder69, sollte wenigstens soviel erreicht werden, daß sie nach dem er­ hofften Erfolg des Anschlages auf den neuen Kurs einschwenkte70. Die Erfahrung vom März 1943 — daß nämlich damals selbst bei geglücktem Attentat der anschließen­ de Umsturz nicht „glatt" verlaufen wäre71 - Heß dies ratsam erscheinen. Trotz ihres Temperaments-Unterschiedes - Claus: stürmisch-drängend, Berthold72: ruhig und gelassen - war Berthold seinem einundeinhalb Jahre jüngeren Bruder von jeher eng verbunden. Daß er sich indes von diesem hätte hinreißen lassen, sofern er nicht von sich aus zu denselben Anschauungen oder Entschlüssen kam, ist nach dem Urteil eines Freundes nicht anzunehmen73. Ja, es scheint unmöglich, einen von beiden als Inaugurator anzusprechen: bei der Art ihrer brüderlichen Verbundenheit hätte Claus nicht ohne Berthold gehandelt, und dieser wäre ohne des Bruders Begabung und Feuer nicht zum Handeln gekommen74. Sein sittlich fundiertes Gerechtigkeitsgefühl Heß ihn, der anfänglich im Nationalsozialismus positive Ansätze zu erkennen geglaubt hatte, bald zum überzeugten Gegner wer­ den. Stets bereit, das Recht und die Menschlichkeit zu vertreten, verhinderte er in seiner Kriegs-Dienststellung unauffällig, oder doch ohne daß es den Betroffenen im­ mer klar wurde, manches Unrecht75. Wenn sich die deutsche Seekriegsführung an die Regeln des Völkerrechts hielt, so war das auch sein Verdienst76. Über die Lage des Reiches war er teils durch seine offizielle Position, mehr aber noch durch seine persönlichen Beziehungen zu Trott zu Solz, den er seit 1938/39 kannte, gut und laufend informiert. Die Einsicht, daß der Untergang drohte, trieb auch ihn zum Handeln. Dabei kam es gerade ihm wesentlich darauf an, daß die Sühne für die Verbrechen des Nationalsozialismus eine deutsche Sache blieb, die noch vor Kriegsende erfolgen müsse. Nicht durch Maßnahmen der Gegner - wie es später geschah —, sondern durch deutsche Gerichte sollten die Schuldigen bestraft werden, und erst danach Verhandlungen — wie er hoffte, für einen Kompromißfrieden — folgen77.

69 Kaltenbrunner-Bericht vom 1. 8. 44, in: Spiegelbild einer Verschwörung. Die Kalten- brunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944, hrsg. vom Archiv Peter, Stuttgart 1961, S. 115. 70 Ebenda, S. 115f. 71 Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler. (Fischer-Bücherei) Frankfurt/M. und Hamburg 1959, S. 100. 72 Vgl. über ihn allgemein: Eberh. Zeller, Geist der Freiheit. Der Zwanzigste Juli, 3. Aufl., München 1956, S. 166ff.; Annedore Leber, Das Gewissen steht auf, Berlin-Frankfurt/M. 1956, S. 126f.; A. Strebel, In memoriam B. Schenk Graf v. Stauffenberg (1905-1944), in: Ztschr. für ausl. öfftl. Recht u. Völkerrecht, Bd. XIII, Stuttgart u. Köln 1950/51, S. 14ff.; Th. Pfizer, Die Brüder Stauffenberg, in: Rob. Boehringer, Eine Freundesgabe, hrsg. v. Erich Boehringer u. Wilh. Hoffmann, Tübingen 1957, S. 487ff. 73 IfZ, Zs. Nr. 1797 (Werner Traber, Vorstandsmitgl. der Hamburg-Amerika-Linie, da­ mals „Hilfsarbeiter" in der Seekriegsleitung). 74 Mitteilung von Prof. Dr. R. Fahrner an Verf. (5. 7. 62). IfZ, Zs. Nr. 1790. 75 Zeller a. a. O., S. 167; IfZ, Zs. Nr. 1797 (W. Traber). 76 Vgl. auch Raeder a. a. O., II, S. 316ff. 77 IfZ, Zs. Nr. 1797 (W. Traber); Kaltenbrunner-Berichte a. a. O., S. 19, 189. 26 Walter Baum

So trat Berthold von Stauffenberg im Herbst 1943 an den damaligen Korvetten­ kapitän Alfred Kranzfelder heran, dem er zuerst dienstlich, dann aber auch mensch­ lich eng verbunden war78 und der schließlich mit ihm das Martyrium teilen sollte. Kranzfelder, aus einer bayrischen Juristenfamilie stammend, war eher aus romanti­ scher Veranlagung denn aus Neigung für den Soldatenberuf Seeoffizier geworden. Er wollte einfach hinaus in die Welt, die er dann zu einem Teil auf einer Schulschiff­ reise des Kreuzers „Berlin" kennenlernte. Hätten nicht materielle Umstände ihn daran gehindert - sein Vater starb früh und hinterließ die Familie in recht be­ schränkten Verhältnissen —, so wäre er wohl Wissenschaftler geworden, um der „Wahrheit" nachzuspüren. Bemerkenswert ist, daß ihn im Fernen Osten der Buddhismus, „die große Ruhe in sich selbst", besonders anrührte79. Geistig und körperlich sehr begabt, auf guter Schule vorgebildet (Jesuitenschule), wurde er „Crew-Ältester", d. h. Jahrgangsbester, von 1927. Erkannte man seine Leistungen wie seine Kameradschaftlichkeit wohl allerseits an, so fand er doch nur wenig en­ gere Freundschaft. Ein gewisser beruflicher und gesellschaftlicher Ehrgeiz, ver­ bunden mit einiger Verschlossenheit, soweit er nicht auf geistige Verwandtschaft stieß, ließen ihn manchem fremd erscheinen. Seine zum guten Teil andersartige Laufbahn — er wurde „Dickschiffs- und Stabsmann", während die Kameraden mehr bei kleineren Einheiten und „an der Front" eingesetzt wurden - hat wohl den Ab­ stand vergrößert80. Nachdem ein Anfall von Lungenbluten seine Zeit als Wach­ offizier auf dem Panzerschiff „Admiral Scheer" vorzeitig beendet und auch eine Kur in der Schweiz ihn nicht wieder borddienstfähig gemacht hatte, wurde er in die Seekriegsleitung kommandiert, um nun im Kriege im „Politischen Referat" der Operationsabteilung verwendet zu werden81. Hier war er mit Berthold von Stauf­ fenberg in dienstliche Berührung gekommen, aus der sich, bei allem Unterschied des Temperaments, auf Grund einer geistigen, seelischen und sittlichen Überein­ stimmung enge Freundschaft entwickelte. Voller Abscheu gegen die Unrechts­ natur des Systems und verzweifelt über die politische und militärische Lage, be­ jahte er - nach längerem Ringen mit sich selbst — seit Februar 1943 grundsätzlich den Umsturz82, so daß Berthold von Stauffenberg in ihm rasch einen Helfer für seine Ziele fand. Vorsichtig gingen die beiden nun daran, den Kreis zu erweitern. Sie wandten sich im Herbst 1943 an den Korvettenkapitän z. V. Dr. Sydney Jessen, der als Feind­ lage-Bearbeiter in der Nachrichtenabteilung der Skl (3/Skl) Dienst tat83. Es war zu erwarten, daß nach dem geplanten Attentat und Hitlers Tod eine Phase der Direktionslosigkeit eintreten werde; also kam es darauf an, daß die Verschworenen 78 Über ihn allgemein: Zeller a. a. O., S. 179f.; Aufzeichnungen von Frau Ruth Graf, geb. Kläger (K's ehem. Verlobten): IfZ, Zs. Nr. 1803. 79 Zeller a.a.O., S. 179; IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen); Zs. Nr. 1803 (Frau Graf). 80 IfZ, Zs. Nr. 1783 (Kkpt. a. D. Oehrn); Zs. Nr. 1775. 81 IfZ, Zs. Nr. 1774 u. 1800. 82 IfZ, Zs. Nr. 1803 (Frau Graf). 83 IfZ, Us. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Jessen). Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 27 sich der Macht vergewisserten und verhinderten, daß ein Nachfolger aus der NS- „Elite" die Gelegenheit für sich nützte. Dabei galt es vor allem, die Nachrichten­ mittel der Marine in die Hand zu bekommen oder wenigstens für die Gegner zu blockieren. Daher der Weg zu Jessen, den Kranzfelder zufällig auf einer Privat­ gesellschaft kennengelernt hatte, wobei sich beide rasch politisch völlig verstanden84. Jessen, der sich persönlich wohl sofort zur Verfügung stellte, aber „technisch" im gewünschten Sinne nicht helfen konnte, wies die beiden weiter an den ihm vertrauten Kapitän z. S. Kupfer, damals Chef der Abteilung Nachrichtenübermitt­ lungsdienst85. Sie besuchten ihn und begannen ein „eindeutiges politisches Ge­ spräch", das jedoch zu keinen konkreten Vereinbarungen führte. Kupfer, der Berthold von Stauffenberg zum ersten Mal sah, war erklärlicherweise sehr über­ rascht und fragte bei Jessen nach, wieso die Herren zu ihm gekommen seien und was es damit auf sich habe. Die Antwort, daß Jessen sie zu ihm geschickt habe, zerstreute den Verdacht einer „Bespitzelung". Der bald darauf folgende zweite Besuch Stauffenbergs und Kranzfelders bei Kup­ fer verlief daher in voller Offenheit untereinander. Die beiden gestanden frei­ mütig ein, daß sie Verbindung mit Widerstandskreisen im Generalstab d. H. hätten und daß dort die Beseitigung des Regimes geplant sei. Es sollten im gegebenen Augenblick Fernschreiben auf allen möglichen Kanälen ergehen, und es komme darauf an, diese Nachrichtenmittel zu besitzen und für Gegenbefehle zu lähmen. An eine Zerstörung des Netzes sei nicht gedacht. Ihre klare Frage war, ob Kupfer als Abteilungschef des Nachrichtendienstes in der Seekriegsleitung die Durchgabe der Aufrufe gewährleisten und anschließend den Apparat stillegen könne. Kupfer seinerseits sagte daraufhin nicht sofort zu, sondern schlug eine dritte Zusammen­ kunft vor. Er mußte sich überlegen, ob er überhaupt mitmachen wollte und ob die an ihn gestellten Forderungen technisch durchführbar waren, — auch, ob noch jemand hinzugezogen werden sollte. All das besprach er mit Jessen und kam zu einem vollen „Ja", das er den Verschworenen mitteilte. Es folgten einige weitere Besprechungen, die darum gingen, ob die Marine als solche nicht doch aktiv an dem Widerstand beteiligt werden könne. Aber schnell waren Kranzfelder, Kupfer und Jessen sich darüber einig, daß die Gefahr, verraten zu werden, in keinem Verhältnis zu dem möglichen Nutzen stehen würde: es waren einfach nicht genügend Truppenteile zum Einsatz für die Zwecke der Opposition vorhanden. Die Frage, ob die Marine überhaupt „ansprechbar" sei, wurde in die­ sem Augenblick nicht weiter geprüft, da Jessen von dem Mißerfolg eines Ver­ suchs überzeugt war. Bemühungen, den Kreis wesentlich zu erweitern, wurden daher nicht unternommen, und die einzige Verbindung der Marine zur militäri­ schen Opposition im Heer war und blieb Berthold von Stauffenberg. Die Marine geriet darum in der nächsten Zeit an den Rand der Entwicklung bzw. in die Rolle eines bloßen „Mithörers", der soweit informiert wurde, wie es für die Erfüllung der ihm zugedachten Aufgabe nötig war. Insbesondere fand keinerlei Schrift- 84 Ebenda. 85 IfZ, Zs. Nr. 1630 (Kpt. z. S. a. D. Kupfer); auch für das Folgende. 28 Walter Baum

Wechsel statt, was die meisten der Beteiligten später vor dem Schlimmsten bewahrte, zumal sie von den weiteren Zusammenhängen und Verbindungen innerhalb des Widerstandes, zum Kreisauer Kreis oder zum zivilen Widerstand um Goerdeler, nichts erfuhren86. Ursprünglich war die Nachrichtenzentrale der Marine in der Bendlerstraße bzw. am Tirpitzufer in Berlin konzentriert. Die verstärkten Angriffe alliierter Bomber auf die Hauptstadt veranlaßten aber den Chef der Seekriegsleitung, Meisel, vor­ sorglich Ausweichlager im Norden der Stadt bei Bernau und Eberswalde vorzu­ bereiten87, wohin auch gegen Ende November 1943 Teile des OKM umzogen88. Das ehemalige Berliner Amt wurde dezentralisiert, denn Kapitän Kupfer hatte seine eigene Dienststelle jetzt in Eberswalde, andere Führungsstäbe saßen in Ber­ nau, und die Waffenämter waren verstreut untergebracht89. Die damit auftretende Frage, ob die rasche Durchgabe der Befehle nach einem Anschlag noch garantiert sei und das Netz blockiert werden könne, mußte Kupfer mit „Nein" beantworten. Damit fiel die Marine, ohnehin auf eine Nebenrolle beschränkt, faktisch aus. Gleichwohl wurde noch manches kritische Gespräch geführt, doch weihte man die betreffenden Offiziere schließlich nicht ein, weil man sie nicht belasten wollte, zumal man von ihnen keine wirksame Hilfe erwarten konnte. Ferner wurde die Suche nach einem Admiral nicht aufgegeben, der sich vielleicht zur Verfügung stellen würde, was bei der Befehlsstruktur und Mentalität der Ma­ rine sehr wichtig gewesen wäre. Hierauf abzielende Gespräche wurden von Jessen mit Vizeadmiral Weichold geführt, der im März 1943 von seinem Posten als „Deutscher Admiral beim italienischen Admiralstab" abgelöst worden war90. Ur­ sprünglich mit Dönitz befreundet, hatte er später dessen stärkstes Mißfallen er­ regt, weil er ihm nach der Ernennung zum Oberbefehlshaber der Marine offen erklärt hatte, der Krieg im Mittelmeer sei verloren. Er war daher mit fadenscheini­ gen Begründungen91 „in die Wüste geschickt" worden und konnte noch froh sein, daß er mit der bloßen Versetzung in die Reserve davongekommen war. Als Jessen sich an Weichold — einen Crew-Kameraden — wandte, war er, ohne es zu ahnen, an einen Eingeweihten geraten. Für ihn war Weichold einfach der be­ währte92 und vertrauenswürdige93 Admiral, der mit seinem persönlichen und

86 IfZ, Zs. Nr. 1484 (Jessen); umgekehrt wußten auch die zivilen Kreise nicht von der Opposition in der Kriegsmarine: Mitt. von Dr. v. Schlabrendorff vom 14.2. 61 u. Dr. Stroelin vom 3. 12. 56; vgl. auch H. B. Gisevius, Bis zum bittern Ende, Zürich 1946, 2. Aufl. 87 IfZ, Zs. Nr. 1739. 88 Walter Lohmann u. Hans H. Hillebrand, Die deutsche Kriegsmarine 1939-45, Bad Nauheim 1956ff., Bd. I, Abt. 31, S. 1 („Bismarck" bei Eberswalde, „Koralle" bei Bernau). 89 IfZ, Zs. Nr. 1630 (Kpt. z. S. a. D. Kupfer); Nr. 1772. 90IfZ, Zs. Nr. 667 (Vizeadm. a. D. Weichold); Lohmann-Hillebrand a.a.O., Bd. III, Abt. 291, S. 422. 91 Vgl. Dönitz a. a. O., S. 367f. 92 Weichold war Chef des Stabes der Hochseeflotte unter Admiral Boehm gewesen, Leiter der Marine-Akademie und Deutscher Admiral beim Ital. Marine-OK (Supramarina). 93 Beide waren, wie gesagt, Crew-Kameraden, Weichhold war Crew-Ältester gewesen. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 29 fachlichen Ansehen vielleicht größere Teile der Marine im Sinne der Opposition zu beeinflussen vermochte. Von den Verbindungen Weicholds zu Moltke konnte er nichts wissen. Diese beiden hatten in Berlin und in Rom manches sorgenvolle und heikle politische Gespräch geführt; aber Weichold lehnte, wie Moltke, ein Attentat ab94, wenn auch teilweise aus anderen Gründen: nicht so sehr aus ethi­ schen Motiven als aus der politischen Erwägung, daß ein gelungener Anschlag eine neue Dolchstoßlegende heraufbeschwören könne und daß es deshalb besser sei, wenn Hitler sich selbst ad absurdum führe. Obwohl dies weitere Opfer forderte, war Weichold gegen ein Attentat und Heß daher keine Bereitschaft erkennen, sich dem aktiven Widerstand anzuschließen. Noch weniger weit gediehen bzw. als noch problematischer erwiesen sich die Überlegungen Kupfers, einen anderen Admiral zu gewinnen. Er mußte schließlich auf jeden direkten Versuch verzichten, weil nach seinem Eindruck die für ein ent­ scheidendes Gespräch erforderliche Vertrauensbasis nicht gewährleistet war95. An Gladisch — seit Kriegsbeginn Reichskommissar am Oberprisenhof — dachte anscheinend niemand. Wohl hatte er für seinen engeren Stab Persönlichkeiten ge­ wählt, die nicht mit der Partei sympathisierten: an der Spitze, als seinen Vertreter, Admiral von Gagern96, weiter Prof. Dr. Wiedmann, den Mitschöpfer der deutschen Prisenordnung97, mit dem er befreundet war und mit dem man offen reden konnte98; dazu den nachmaligen Staatssekretär Dr. Lenz99 oder den Korvettenkapitän von Tirpitz, den Sohn des einstigen Großadmirals100. Daß Gladisch sich selbst im Sinne des Widerstandes exponieren werde, war nach den bisherigen Erfahrungen aber kaum anzunehmen101, und so wurde er offenbar nicht ernsthaft in Erwägung ge­ zogen. Als er dann doch erfuhr, daß man Hitler und seine Clique mit Gewalt be­ seitigen wolle, hat er darüber strengstes Stillschweigen gewahrt102. — Auch Vize­ admiral Ruge, damals im Stabe Rommels in Frankreich, wurde nicht herangezogen, obwohl er eher in Frage gekommen wäre als Gladisch. Mehr als einmal hatte der Marschall offen und vertraulich mit dem Admiral über seine Sorgen gesprochen103 und Widerhall gefunden104; auch machte Speidel ihm gegenüber Andeutungen,

94 IfZ, Zs. Nr. 667 (Vizeadm. a. D. Weichold). 95 IfZ, Zs. Nr. 1630 (Kpt. z. S. a. D. Kupfer). 96 IfZ, Zs. Nr. 1794 (Dr. Lenz); Zs. Nr. 1796 (Dr. v. Tirpitz); Zs. Nr. 1793 (Frl. Lang­ held, ehem. Sekretärin von Gladisch). - Über die Amtseinführung des Oberprisenhofs am 24. 9. 39 vgl. Karl Schwarz, Der Krieg, seine Vorgeschichte und seine Entwicklung bis zum 1. Februar 1940, Berlin 1940, S. 333. 97 Prisenordnung vom 28. 8. 39; RGBl 1939/I, S. 1585 u. Schwarz a. a. O., S. 316ff. 98 IfZ, Zs. Nr. 1794 (Dr. Lenz). 99 Ebenda. 100 IFZ, Zs. Nr. 1796 (Dr. v. Tirpitz). 101 IfZ, Zs. Nr. 1781, 1479, 1635. 102 IfZ, Zs. Nr. 339, 1479, vgl. auch Nr. 1793 (Frl. Langheld). 103 Friedrich Ruge, Rommel und die Invasion. Erinnerungen, Stuttgart 1959, S. 178 f. u. ö. 104 Bei einer solchen vertraulichen Besprechung Ende Juni 1944 äußerte Ruge, Hitler müsse durch Tod freiwillig abtreten, worauf Rommel ihm nur antwortete: „Sie sind ja ein rauher Krieger", aber nicht weiterging. - Ebd., S. 191. 30 Walter Baum ohne indes Ruge ein „vollständiges Bild des Geplanten" zu geben105. So war dieser noch am 20. Juli ahnungslos, bis ihn Speidel, in der Meinung, der Umsturz sei gelungen, über alles unterrichtete106. Sicherlich wäre Ruge danach eindeutig mit den Verschworenen gegangen, kam aber zu seinem Glück nicht mehr dazu, weil inzwischen auch in Paris der Umschwung eingesetzt hatte. Seine mögliche Bereit­ schaft für die Sache der Opposition war in der kleinen „Zelle" in der Seekriegs­ leitung nicht bekannt, und so ist sie an ihn nie mit konkreten Fragen oder Wünschen herangetreten. Für die Opposition bedeutete das alles, daß die Marine für einen aktiven Einsatz nicht zu haben war, und Kupfer teilte Berthold von Stauffenberg dies als abschließen­ des Ergebnis mit. Der kleinen Gruppe von Seeoffizieren, zu welcher — ohne deren Wissen - noch die zwei „Zivilisten" aus Stauffenbergs Umgebung: der Freiburger Ordinarius für Kunstgeschichte Kurt Bauch107 und der Hapag-Direktor Werner Traber108, hinzukamen, blieb nichts anderes übrig, als stillzuhalten und auf die Initialzündung von Seiten der Armee zu warten. Daß Berthold von Stauffenberg und Kranzfelder auf einer Dienstreise nach Schweden im Winter 1943/44 im Interesse des Widerstandes tätig wurden109 und daß Berthold von Stauffenberg, als juristischer Berater der Opposition110, an den Aufrufen maßgeblich mitarbeitete111,

105 Vgl. Anm. 103. 106 Ebd., S. 224. 107 Bauch war aktiver Seeoffizier des 1. Weltkrieges, als Ltn. entlassen, als ObLtn. d. Res. 1939 wieder eingezogen, seit 1942-43 im OKM (1/Skl) enge Zusammenarbeit mit B. v. Stauffenberg u. Kranzfelder, 1944 als Kkpt. d. Res. entlassen (Angaben von Prof. Bauch, IfZ, Zs. Nr. 1789). 108 Der Hapag-Direktor Werner Traber, im Kriege „Hilfsarbeiter I" in der Op. Abt. der Skl (1/Skl), wurde zuerst im Herbst 1943 von dem Adjutanten Claus v. St.'s, Obltn. Werner v. Haeften, mit den „Ideen des 20. Juli" bekannt gemacht, nicht von Berthold v. St., aber wohl mit dessen Wissen (Mitt. Trabers an den Verfasser, IfZ, Zs. Nr. 1797). 109 IfZ, Zs. Nr. 1789 (Prof. Bauch); Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen, wörtl. Wieder­ gabe von Mitteilungen von Frau Graf, der ehem. Verlobten Kranzfelders). Danach handelte es sich um den Versuch, über die Wallenbergs Verbindung zu Churchill herzustellen. 110 Kaltenbrunner-Berichte a. a. O., S. 20. 111 B. v. St. hat alle Punkte der (zunächst drei) Aufrufe (einen an die Deutschen allgemein, einen an das kämpfende Heer und einen besonderen an die deutschen Frauen, der später fortfiel) mit Prof. Bauch und dem Germanisten Prof. Rudolf Fahrner, der mit B. v. St. be­ freundet war, durchgesprochen. Fahrner, seinerzeit Ordinarius in Athen, hatte schon im Oktober 1943 in Berlin gemeinsam mit den Brüdern Stauffenberg die Aufrufe entworfen. Er war dann Ende Juni 1944 von Claus v. St. erneut dringend nach Berlin gerufen worden, wo er sich vom 28. 6.-5. 7. in Claus v. St's Wohnung aufhielt und diesen mehrfach auch in der Bendlerstraße sprach. Für zwei Tage kam er zu Besuch in die „Koralle", wo er im Zim­ mer des gerade auf Urlaub weilenden Kranzfelder in der Baracke Berthold Stauffenbergs wohnte, angeblich wegen der gemeinsamen Arbeit an einer Odyssee-Übersetzung (an der sie auch arbeiteten!), in Wahrheit, um gewünschte bzw. nötig gewordene Änderungen an den Aufrufen vorzunehmen (Prof. Bauch, Frau Appel, jetzt Frau Pfohl, und Fahrner an den Ver­ fasser; IfZ, Zs. Nr. 1789, 1634, 1790; vgl. auch Fahrners Leserbrief an die FAZ vom 17. 11. 1961). Die neuen Fassungen der (nur mehr zwei) Aufrufe wurden Claus St. und von ihm wieder anderen Beteiligten (Fahrner nimmt an: vor allem Beck) vorgelegt und schließlich von allen genehmigt (IfZ, Zs. Nr. 1790). Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 31

änderte nichts an der beengten Aktionsmöglichkeit des kleinen Kreises innerhalb der Marine selbst. Dennoch sollte die Entwicklung schließlich aus seiner Mitte heraus, was das Datum der Auslösung betrifft, entscheidend, und zwar verhängnisvoll beeinflußt werden. Nachdem Claus von Stauffenberg mehrfach vergeblich geplant hatte, die Bombe zu zünden, war er entschlossen, die nächste Gelegenheit zu ergreifen. Ein neuer Termin lag noch nicht fest112, klar war indes, daß die Zeit drängte113. Ob Stauffenberg aber auf jeden Fall am 20. Juli, für den er ins FHQu bestellt wurde, gehandelt hätte, ist doch wohl fraglich114, hätte er nicht scheinbar ausweglos vor der Notwendigkeit gestanden. Vielleicht hätte der Umstand, daß die Sitzung wegen der großen Sommerhitze statt im Bunker in der leichten Baracke stattfand, ihn sonst noch einmal davon abgehalten. Denn sollte der erfahrene Frontoffizier - trotz verständlicher Nervosität - nicht bemerkt haben, daß die Wirkung der Sprengladung erheblich gemindert war, wenn die „Dämmung" durch die festen Wände entfiel? Gerade weil die Pläne darauf basierten, daß Hitler selber beseitigt war, mußte er das Risiko scheuen, daß der Tyrann am Leben blieb. Er handelte je­ doch, weil er meinte, keine andere Wahl zu haben. Und dies ging auf Mitteilungen Jessens zurück. Korvettenkapitän Dr. Jessen gehörte seit Jahren zum Freundeskreis der Familie der Frau von Bredow, geb. Gräfin von Bismarck, in Potsdam, der Schwester des dortigen Regierungspräsidenten115. Er stand dem Hause so nahe, daß ihm ein Zimmer überlassen wurde, als er seine eigene Berliner Wohnung durch Luftan­ griff verloren hatte. Dort verbrachte er, soweit der Dienst es zuließ, sein Wochen­ ende, und so auch den Sonntag, den 16. Juli 1944. Liebenswürdig, hilfsbereit und großzügig, wie die Gräfin war, lud sie gewöhnlich noch eine Anzahl jüngerer und älterer Gäste ein, darunter Ausländer, die in der wohltuenden Atmosphäre des Hauses geistige und körperliche Erholung fanden. Dazu gehörte an diesem Tage auch ein junger Adeliger ungarischer Staatsangehörigkeit, der als Bankangestellter in Berlin tätig war. Dieser erzählte Jessen nachmittags im Gespräch, in Berlin gehe das Gerücht um, das FHQu werde in der kommenden Woche in die Luft gesprengt. Jessen erschrak. 112 Wohl fand am 16. 7. eine „entscheidende" Besprechung in der Wohnung Cl. v. St's statt, aber ein neuer Termin war einfach nicht festzulegen: Kaltenbrunner-Berichte a. a. O., S. 101 f., 91. — Die Behauptung von Gisevius a. a. O., II, S. 302, Claus habe an diesem Tage Beck das „Ehrenwort gegeben, kommenden Donnerstag die Bombe, so oder so, zur Auslösung zu bringen", geht zu weit. Claus v. St. konnte gar nicht bestimmen, wann er wieder ins FHQu fuhr, höchstens sich entschließen, grundsätzlich die nächste Gelegenheit nicht wieder verstrei­ chen zu lassen (Oberst a. D. von Scheliha, Mitgl. d. Oppos., ehem. Mitarbeiter von Gen. Olbricht. Im Wesentlichen übereinstimmend: IfZ, Zs. Nr. 1484, Fregkpt. a. D. Dr. Jessen). 113 Leber und Reichwein waren schon verhaftet worden (Gisevius a. a. O., II, S. 242f.), Goerdelers Verhaftung stand bevor (ebda., S. 299ff., auch Kaltenbrunner-Berichte a. a. O., S. 524). - Daß Claus v. St., um Leber zu retten, das Attentat überstürzte, wird von Frau Leber selbst keineswegs voll bestätigt (Mitt. von Frau Leber v. 6. 4. 57 an d. Verf.). 114 Zeller a. a. O., S. 237. 115 IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen), auch für das Folgende. 32 Walter Baum

Er war ja grundsätzlich über die Pläne der Verschworenen im Bilde und mußte die grobe Indiskretion eines Eingeweihten vermuten. Der Quelle auf den Grund zu gehen, schien ihm nicht angängig, weil er den jungen Grafen nur flüchtig kannte. Obwohl die Dame des Hauses den Nationalsozialismus schärfstens ablehnte, konnte der Gast gefährlich sein, so daß eine Demaskierung ihm gegenüber nicht ratsam schien. Möglicherweise hätte der Ungar, wenn er die Verbindung Jessens mit dem Widerstand erfahren hätte, freimütig seine Informationsquelle genannt: eine Tochter des Hauses, die diese Nachricht wieder von dem Adjutanten des Obersten von Stauffenberg, Werner von Haeften, hatte. Die Indiskretion war wohl fahrlässig genug, jedoch bis dahin nicht über das Haus hinausgedrungen, wie der junge Mann übertreibend behauptet hatte. Zum Unglück für die Opposition kam dieser echte Tatbestand aber erst nach dem Fehlschlag vom 20. Juli durch die Untersuchungen der Gestapo ans Licht116, und das Schicksal nahm inzwischen seinen Lauf. Jessen, der sich bemühte, weiter kein Aufsehen zu erregen, meldete nämlich sein Erlebnis tags darauf in der „Koralle" Stauffenberg und Kranzfelder, als er sie am Abend erreichte. Da alle drei von der Gefährlichkeit der Indiskretion völlig überzeugt waren, fuhr Kranzfelder am 18. Juli in die Bendlerstraße zu Claus von Stauffenberg und kam gegen 17 Uhr zurück mit der Nachricht, daß dieser sich daraufhin zu einem sofortigen neuen Versuch entschlossen habe, auch wenn er nur Hitler allein und nicht zugleich auch Himmler und Göring treffen könne. Er habe hinzugefügt, dies werde sein letzter Versuch sein117. Darauf fuhr Berthold zu sei­ nem Bruder, und der Schlag wurde vorbereitet118. Die Mitverschworenen wurden unterrichtet119. Den letzten Abend verbrachten die Brüder zusammen ohne die Freunde120. Am Nachmittag hatten Jessen und Berthold von Stauffenberg noch einen langen Spaziergang gemacht, wobei ersterer die Frage stellte, ob etwas für den Fall des Scheiterns des Attentats vorgesehen sei121. Berthold verneinte entschieden, es sei alles auf das Gelingen aufgebaut. Seiner Frau jedoch hatte er am 14. Juli, dem Tage vor einem der mißglückten Versuche, anvertraut: „Das Furchtbare ist, zu wissen, daß es nicht gelingen kann und daß man es dennoch für unser Land und unsere Kinder tun muß122." Nach menschlicher Voraussicht konnte alles gelingen. War es das Bewußtsein für das jeder menschlichen Berechnung sich entziehende Ausmaß des Unternehmens, was die Verschworenen bescheiden machte, dazu das Gefühl der persönlichen Verantwortung gegenüber den nächsten Angehörigen, weshalb sie für den schlimmsten Fall ein Trostwort hinterlassen wollten? Für sie

116 Kaltenbrunner-Berichte a. a. O., S. 116f.; ebenso IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt a. D. Dr. Jessen). 117 Jessen a. a. O., Kaltenbrunner-Berichte a. a. O., S. 55. 118 Ebda; Zeller a. a. O. (vgl. Anm. 66), S. 237ff. 119 Yorck und Schwerin schon am 18.7. (?): Kaltenbrunner-Berichte a.a.O., S. 110; Witzleben und Stieff am 19. 7.: ebda, S. 45, 100. 120 Das Gewissen steht auf, a. a. O. (vgl. Anm. 72), S. 126; auch Zeller a. a. O., S. 240. 121 IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen). 122 Das Gewissen steht auf, a. a. O., S. 126. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 33

alle galt wohl, was Kranzfelder einmal schrieb: „Machen wir ruhig Pläne, denn die Hoffnung ist die unversiegliche Kraftquelle, aus der wir schöpfen können und sol­ len. Denken wir im Glück ein wenig ans Unglück und im Unglück ein wenig an kommendes Glück, beim Zusammenbruch an den Aufbau, der da kommt, an das neue Grün, das aus den Ruinen sprießt123." In diesem Geiste waren sie zum Han­ deln und auch zum Opfer bereit.

IV

Am 20. Juli 1944 gegen 13,20 Uhr, während einer Besprechung in der See­ kriegsleitung, erhielt Dönitz einen Anruf, er möge sogleich ins „Führerhaupt­ quartier" kommen124. Gründe für die dringende Forderung waren nicht ange­ geben worden, so daß der ObdM ungehalten rückfragen ließ125. In der Meinung, Probleme der Seekriegsführung sollten erörtert werden, wollte er nicht unvor­ bereitet fahren und gab den Befehl, in Zukunft stets sofort festzustellen, um was es sich handle. Da aber auch die Rückfrage keinen weiteren Aufschluß gab, machte sich Dönitz gegen 14,15 Uhr, zusammen mit seinem persönlichen Berater, Konter­ admiral Wagner, noch immer ahnungslos auf die Reise. Erst beim Empfang auf dem Flugplatz Rastenburg - gegen 16,45 Uhr - erhielt er von dem damals ins FHQu kommandierten Korvettenkapitän Mejer Kenntnis vom Attentat. Die Bombe Stauffenbergs, die für Hitlers Umgebung verderblicher war als für den Tyrannen, hatte alle drei Seeoffiziere, die bei der Lagebesprechung anwesend waren, verwundet. Hitlers Marineadjutant, Konteradmiral von Puttkamer, und der zum Wehrmachtführungsstab kommandierte Kapitän z. S. Assmann erlitten schwere, der Vertreter des ObdM im „Führerhauptquartier", Vizeadmiral Voss, relativ leichtere Verletzungen126. Sie mußten sofort ins Lazarett überführt wer­ den127; doch hatte Voss zuvor noch den nur leicht verletzten Luftwaffen-Oberst von Below gebeten, den Oberbefehlshaber anzurufen128. Den wahren Sachverhalt durfte Below nicht angeben, weil man die Ereignisse vorerst geheim hielt, um die Fahndung nach dem - bereits hinreichend verdächtigen - Täter nicht zu gefährden. Allerdings waren die Gegenaktionen des Regimes in den ersten Stunden nach dem

123 Mitt. von Frau Graf (IfZ, Zs. Nr. 1803). l24 Niederschr. üb. d. Bespr. des ObdM beim Führer am 20./21. 7. 44: Skl B.Nr. 1. Skl Ib 2226/44 gKChefs. vom 25.7.44 (ungedruckt, Akten der Skl.); K.TB der 1. Skl vom 20. Juli 1944, S. 433ff. (ungedr., Akten der Skl); IfZ, Zs. Nr. 1576, 1772; Dönitz a. a. O., S. 399. 125 „Führerbesprechung" vom 20./21. 7. 44 (Akten der Skl); IfZ, Zs. Nr. 1576; Nr. 1786, auch für das Folgende. 126 Dönitz selbst entging durch einen Zufall einem ähnlichen oder schlimmeren Schicksal: Ursprünglich hatte er geplant, am 20. und 21. Juli zu einem Routinebesuch ins FHQu zu fahren, dann aber auf die Meldung, Mussolini werde erwartet, davon Abstand genommen und seine Reise auf den 21. verschoben bzw. beschränkt. Das bewahrte ihn vor der Bombe („Füh­ rerbesprechungen", a. a. O., Akten der Skl; ferner IfZ, Zs. Nr. 1576 u. a.). 127 Assmann a. a. O. (vgl. Anm. 56), S. 453 ff. (Schilderung der Vorgänge durch Kpt. z. S. a. D. Heinz Assmann). IfZ, Zs. Nr. 285; 1786. 128 IfZ, Zs. Nr. 1786; Dönitz a. a. O., S. 399 irrt sich in diesem Punkt.

Vierteljahrshefte 3/1 34 Walter Baum

Anschlag weder schnell noch zielsicher. Hitler selber „hielt Hof", statt zu handeln129, und mehr der Umstand, daß auch die Opposition kostbare Zeit verlor, verhinderte eine Krise auf Grund der ungewissen Lage, als daß sie durch Energie und klare Anweisungen aus der Zentrale des Systems im Keim erstickt worden wäre130. Bei der Seekriegsleitung ging das bekannte Fernschreiben Witzlebens um 20.05 Uhr abends ein131. Weil an diesem Tage in der „Koralle", dem Ausweich­ quartier der Skl nahe Bernau, die neue Kinobaracke eingeweiht wurde, war der Chef der Skl, Admiral Meisel, zusammen mit seinem Adjutanten, Dr. jur. Raudszus, zur Vorführung gegangen132. Da erschien ein „Läufer" (Ordonnanz) mit einer Meldung, die Meisel öffnete und beim Schein der Projektors las. Das Schreiben, das mit den Worten begann: „Der Führer Adolf Hitler ist tot", überraschte ihn derart, daß er es zunächst wortlos an Raudszus weiterreichte. Seine erste gedank­ liche Reaktion, die Nachricht sofort bekanntzugeben, verwarf er gleich wieder. Die Rundfunkmeldung des Nachmittags über das gescheiterte Attentat war ihm im Augenblick offenbar noch nicht bekannt133, doch nahm er mit Recht an, daß die plötzliche dringende Berufung des Oberbefehlshabers ins FHQu mit diesen Ereig­ nissen zusammenhänge. Er rechnete sich aus, daß Dönitz inzwischen dort einge­ troffen sein mußte, und beschloß, bei ihm sicherheitshalber nachzufragen. Bevor noch die Verbindung zur „Wolfsschanze" zustandekam, wurde jedoch von dort aus angerufen (20,50 Uhr). Dönitz selbst war am Apparat, erklärte kurz, daß Hitler lebe, und befahl, daß die Kriegsmarine nur seinen oder Anordnungen des „Reichs­ führers SS" folgen dürfe134. Damit war, nachdem Meisel den Befehl zum Teil schon telefonisch voraus135 und zwischen 22,40 und 22,58 Uhr noch durch Fern­ schreiben an alle Befehlshaber und Marine-Oberkommandos durchgegeben hatte136, die Lage für die Marine eindeutig geklärt und ihre Loyalität gegenüber dem Regime gesichert. Von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des Umsturzes — vielleicht von gleichem Rang wie die Beseitigung Hitlers selbst -, wäre gewesen, daß die Oppo­ sition den Nachrichten-Apparat des Systems in ihre Hand bekam oder wenigstens

129 Mussolini war zu Besuch gekommen; dann erschienen Bormann, Göring, Ribbentrop usw.: Zeller a. a. O., S. 275ff. 130 Nach dem Fehlschlag vom 15. Juli konnten es die Verschwörer nicht noch einmal wagen, den „Walküre-Alarm" rechtzeitig auszulösen, sondern mußten diesmal erst den Erfolg des Attentats abwarten. 131 KTB der 1. Skl (Akten der Skl). 132 IfZ, Zs. Nr. 1739; Nr. 1795 (Dr. Helmut Raudszus), auch für das Folgende. 133 Im KTB aufgezeichnet: 18,28 Rundfunk-Sondermeldung . . .; Text (Zeitangabe dabei unrichtig bzw. sehr ungenau) in: 20. Juli 1944, 3. Aufl., hrsg. von Erich Zimmermann und Hans-Adolf Jacobsen, Bonn 1960, S. 157. 134 „Führerbesprechung" vom 20./21. Juli 44; dazu Anlagen des KTB der 1. Skl (Akten der Skl). 135 KTB des MOK Norwegen vom 20. 7. 44, S. 154ff.; handschriftl. Randbem. des Chefs der Skl im KTB des Marinegruppenkommandos West unter dem 20. 7. 44. Dazu IfZ, Zs. Nr. 1739, 1800. 136 KTB der 1. Skl. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 35 das FHQu von der Außenwelt abschnitt137. Anfangs gewann der Aufstand tatsäch­ lich an Boden, weil die Verschwörer ihre Befehle absetzen konnten138. Auch der Marine-Nachrichtenoffizier (MNO) Berlin hatte das Fernschreiben Witzlebens ge­ gen 19,00 Uhr an alle höheren Dienststellen der Marine durchgegeben139, die es - außer dem Flottenchef140 - innerhalb der nächsten Stunden richtig empfingen141. Inzwischen hatte jedoch schon die rückläufige Bewegung eingesetzt, wobei es er­ staunlich bleibt, wie der Befehl des Feldmarschalls von Witzleben an vielen Stellen immer noch wirkte. Zum Teil war zwar die Rundfunk-Sondermeldung des Nach­ mittags nicht gehört worden, wie im Bereich des weit entfernten Marine-Gruppen- kommandos Süd (in Sofia)142, zum andern bewährte sich wohl jene geschickte Ein­ leitung des Fernschreibens, die ja den Putsch einer „gewissenlosen Clique frontfrem­ der Parteiführer" behauptete und insofern nicht im Widerspruch zur Rundfunk­ meldung stand143. Bei den Marine-Oberkommandos Norwegen (in Oslo), Ostsee (in Kiel) und Nordsee (in Wilhelmshaven) wurde, obwohl die Nachricht vom Scheitern des Attentats über den Äther bekanntgeworden war, befehlsgemäß Alarm ausgelöst, bis durch die Gegenanweisungen des ObdM bzw. der Skl die Peripetie kam144.

137 Hierzu u. zum Folgenden das neue Zeugnis über die Vorgänge in der Nachrichtenzen­ trale des FHQu von dem damaligen Wehrmachtsnachrichtenoffz. Obstltn. i. G. Sander, in: Annedore Leber — Freya Gräfin von Moltke, Für und Wider, Entscheidungen in Deutschland 1918-1945, Berlin-Frankfurt a. M. 1961, S. 205f. 138 Zeller a. a. O., S. 278if.; über die Vorgänge in der Nachrichtenzentrale des OKW: ebda., S. 288ff. 139 Er wird deshalb im KTB der 1. Skl kameradschaftlich abgedeckt durch den Eintrag, er habe, nachdem er das Fernschreiben vom Nachrichtenoffizier des OKW zur Weitergabe erhalten habe, „mit Recht Bedenken" gehabt, es sofort weiterzugeben, und es daher lediglich dem Chef der Skl zugeschrieben, dabei gleichzeitig beim MNO Koralle fernmündlich wei­ tere Weisungen betr. die Behandlung des FS eingeholt. Dazu steht die Tatsache im. Wider­ spruch, daß ungefähr zur gleichen Zeit, wie der Chef der Skl das FS erhielt, auch andere höhere Kommandostellen der Marine den Spruch mit ungefähr der gleichen Abgangszeit bekamen. Der Eintrag ist also retuschiert. 140 Der Flottenchef, Generaladmiral Schniewind, war auf dem Flottentender „Hela" ein­ geschifft und lag in Kiel. Er erhielt die erste Kenntnis von dem Geschehen des Tages durch den Chef der Marinestation Ostsee: KTB des Flottenkommandos (ungedr., Akten der Skl). 141 Marine-Gruppenkommando West um 21.20 Uhr; KTB; MOK Nordsee um 20,30 Uhr, nachdem zuvor schon ein Alarmbefehl vom X. AK eingelaufen war: KTB; MOK Ostsee um 20,30 Uhr, ebenfalls vorher dort Alarmbefehl vom X. AK: KTB; MOK Norwegen um 21,10 Uhr: KTB; Marine-Gruppenkommando Süd nach 21,00 Uhr: KTB; am spätesten MOK Italien nach 22,00 Uhr über den Umweg des Luftwaffen-Netzes: KTB und Akten-Notiz von Dr. Raudszus bei KTB der 1. Skl. 142 KTB. — Deshalb erhielt z. B. der auf Kreta stationierte Konteradmiral Weyher erst mitten in der Nacht von dem Attentat Kenntnis, als ihm der Gegenbefehl von Dönitz über­ bracht wurde: Mitteilung von K. Adm. a. D. Weyher an den Verf. 143 Text des Fernschreibens — ohne die Einleitung, wie sie bei den an die Marine gerich­ teten Fernschreiben lautete: „Der Führer Adolf Hitler ist tot" -: Publikation „20. Juli 1944" (vgl. Anm. 133), S. 124ff., Text der Sondermeldung ebda., S. 157. - FS im Original bei den Akten des OKM. 144 KTBs. 36 Walter Baum

Ob Paris „das Erbe Berlins übernehmen"145 und den Staatsstreich noch hätte vollenden können, nachdem er in der Reichshauptstadt zusammengebrochen war, ist zweifelhaft. Jedenfalls stemmte sich in Paris die Marine aktiv dagegen: der Befehlshaber des Marine-Gruppenkommandos West, Admiral Krancke, war bereit, seine Truppen zur Befreiung des verhafteten SD einzusetzen und auf das Heer schießen zu lassen146. Der dortige SD-Chef Oberg dankte ihm denn auch am näch­ sten Morgen „für das tatkräftige Verhalten ... in der vergangenen Nacht"147. Die Seekriegsleitung sah die Rolle, die Krancke sich selbst zuschrieb, allerdings als weniger bedeutend an, zumal er sich auf ihre Kosten herausstrich und sie da­ durch geradezu gefährdete. Auf ihren Einspruch mußte Krancke deshalb das zu seinen Gunsten retuschierte Kriegstagebuch einen Monat später durch einen Zu­ satz berichtigen, der den eigenen Anteil der Skl, d. h. den klärenden Anruf ihres Chefs gegen 10 Uhr abends, ausdrücklich festhielt148. Der Chef der Seekriegsleitung war es auch, der die Festnahme Berthold von Stauffenbergs anordnete und sie deshalb ausdrücklich gegen seinen Oberbefehls­ haber reklamierte149, der sich dieses „Verdienst" gern selber zugeschrieben hätte150. Zwar wurde Berthold von Stauffenberg, der sich in die Bendlerstraße begeben hatte, dort in der Nacht ohnehin von Skorzeny verhaftet151, der wieder auf Befehl von Kaltenbrunner bzw. Himmler handelte; aber in der Periode der Verfolgungen nach dem 20. Juli war keiner hochgestellt und bewährt genug, als daß es nicht ratsam für ihn gewesen wäre, seine Treue zum „Führer" zu dokumentieren. Deshalb der Wettstreit zwischen Dönitz und Meisel; Raeder, der in Ungnaden entlassene ehe­ malige ObdM, beeilte sich sogar, seine Loyalität persönlich „in der Höhle des Lö­ wen" zu versichern, — wobei er freilich seiner Sache so wenig gewiß war, daß er vorsichtshalber eine geladene Pistole mit sich nahm152. Bedauern darüber, daß es „nicht geklappt" habe, sprach man damals höchstens in ganz vertrautem Kreise aus, - wie es sogar Kranckes Stabschef, Admiral Hoffmann, tat153. Ein Wort der Zustimmung oder Bewunderung für die Opposition verlauten zu lassen, war toll­ kühn und grenzte an Selbstmord, wurde aber dennoch von jüngeren Offizieren ge-

145 vgl. Walter Bargatzky, Die letzte Runde - in Paris, in: 20. Juli 1944, S. 153ff., das Zitat: S. 155. - Ferner: Wilh. Ritter v. Schramm, Der 20. Juli in Paris, Bad Wörishofen 1953. 146 Am 21. 7. 44 um 0,45 Uhr befiehlt Admiral Krancke, daß seine Truppen zum Einsatz klarzumachen seien: KTB. 147 Eintrag im KTB, S. 6675. 148 Nachtrag von Admiral Krancke im KTB mit Datum vom 21. 8. 44. 149 Handschriftl. Aktennotiz von Adm. Meisel für das KTB (ungedr.). 150 „Führerbesprechungen" vom 20./21. 7. 44, Zeit 21,40 Uhr. 151 Otto Skorzeny, Geheimkommando Skorzeny, Hamburg 1950, S. 205ff.; Eugen Gersten- maier, Das andere Deutschland, und: Tag des geheimen Deutschland, in: Reden und Auf­ sätze, Stuttgart 1956, S. 264ff. und 273ff. 152 Raeder a. a. O., II, S. 292f. - Als sich die Verlobte des verhafteten KKpts Kranzfelder an Raeder mit der Bitte um Hilfe wandte, lehnte er brüsk ab, er wolle mit den Verbrechern nichts zu tun haben: IfZ, Zs. Nr. 1803 (Frau Graf). 153 IfZ, Zs. Nr. 1799. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 37 wagt154, von denen einige — ohne zum Widerstand zu gehören - offenbar den Sinn des Geschehens besser erfaßten, als die maßgebliche höhere Führung es tat oder wollte. Besonders vorsichtig mußten die Mitwisser der Verschwörung sein, die fast alle von vornherein verdächtig waren, weil sie zu Berthold von Stauffenberg in dienst­ lichen oder persönlichen Beziehungen gestanden hatten. Am meisten litt Kranz­ felder unter der Furcht der Entdeckung. Als der hochsensible Mann bei einer Be­ sprechung in der Operationsabteilung der Skl das Mißlingen des Anschlages erfuhr, war er so betroffen, daß er kreideweiß wurde und unter dem Vorwand, sich krank zu fühlen, den Raum verließ158. Er wollte „nicht auf dem Sandhaufen sterben"156 und war die nächsten Tage so bedrückt, daß er dadurch der Sekretärin Stauffen- bergs, die noch nichts von seiner Verbindung zur Opposition gewußt hatte, auf­ fiel157. Obwohl selbst in höchster Gefahr, quälte ihn doch noch mehr die Sorge um den Freund, der schon in den Händen der Gestapo war. Wenige Tage darauf wurde auch er verhaftet. Wie er verraten wurde, ist nicht voll geklärt158. Berhold Stauf­ fenberg jedenfalls hat niemanden preisgegeben159. Vorwürfe machte sich im Ge­ fängnis bei einem flüchtigen Gespräch mit Jessen Hauptmahn d. R. Kaiser: er habe — wenn auch nur mit den Anfangsbuchstaben — Namen von Angehörigen des Widerstandes in seinem Notizbuch aufgezeichnet160. Am 24. Juli wurde Kranzfelder von Offizieren im Beisein des Geschwaderrichters Nischling durch den Chef der Skl befehlsgemäß verhaftet und in Handschellen nach Berlin zur Gestapo überführt161. Vom sogenannten Volksgerichtshof wurde er am 10. August, zusammen mit Berthold von Stauffenberg, verurteilt und danach hingerichtet162. Voller Verzweiflung über das fernere Schicksal seines Volkes, ging er selbst gefaßt in den Tod163. Alle anderen kamen glücklicher davon. Wohl wurde auch Jessen eine Woche nach dem Anschlag verhaftet164, ein unbedachtes Wort Kranzfelders — die Aus­ sage, daß Jessen ihm das Gerücht von einem bevorstehenden Sprengstoffanschlag 154 IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Jessen); Nr. 1634 (Frau Pfohl, Sekretärin Berthold von Stauffenbergs). - Kpt. z. S. Weniger wagte sogar dem Adlatus Dönitz', Kpt. z. S. v. David­ son, gegenüber zu äußern, als dieser auf die „Verräter" schimpfte, er werde noch einmal froh sein, wenn sein Sohn auf einem Schulschiff mit dem Namen „Alfred Kranzfelder" Dienst tun dürfe. Der Gerechtigkeit halber muß dabei erwähnt werden, daß Dönitz Weniger trotzdem deckte; IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen). 155 IfZ, Zs. Nr. 1807 (Kpt. z. S. a. D. Viehweger). 156 IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen). 157 IfZ, Zs. Nr. 1634 (Frau Pfohl). 158 Zeller schreibt a. a. O., S. 180, ein an sich belangloses Ferngespräch, das von Görings „Forschungsamt" abgehört worden sei (Titel so, nicht „Forschungsstelle"!), habe Kranz­ felder verraten. An die Quelle dieser Nachricht, die er nicht genannt hat, kann er sich aber nicht recht erinnern (Brief vom 25. 8. 57). 159 Vgl. Frau Pfohls Bericht über Fahrners und ihr eigenes Entkommen (trotz Gestapo- Verhören im letzteren Fall): IfZ, Zs. Nr. 1806. 160 IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen). 161 IfZ, Zs. Nr. 1739; Nr. 1634 (Frau Pfohl). 162 „Mordregister": gedruckt in: „20. Juli 1944", S. 202f. 163 IfZ, Zs. Nr. 1634 (Frau Pfohl); Nr. 1803 (Frau Graf). 164 IfZ, Zs. Nr. 1484 (Fregkpt a. D. Dr. Jessen); auch für das Folgende. 38 Walter Baum auf das FHQu mitgeteilt habe - wurde ihm zum Verhängnis165. Weil ihm aber trotz eifriger Nachforschungen der Gestapo nicht mehr nachgewiesen werden konnte als diese - von Jessen als pflichtgemäße Meldung bezeichnete - Mitteilung, wurde er bald aus dem „Komplex 20. Juli" herausgenommen. Statt dessen sollte ihm in Bregenz wegen einiger „defartistischer" und „wehrzersetzender" Äußerungen gegenüber einem ehemaligen Kameraden der Prozeß gemacht werden. Er wurde im August aus der Wehrmacht ausgestoßen, doch bevor ihm das Urteil gesprochen werden konnte, rettete ihn der allgemeine Zusammenbruch166. Weil die Gestapo, die auf bloßen Verdacht hin sofort viele Heeresoffiziere aus ihren Wohnungen geholt hatte, in dem geschlossenen Lager der Skl nicht gleicher­ maßen zupacken durfte, wurden die übrigen Mitwisser der Verschwörung vor einem schlimmen Ende bewahrt. Am meisten gefährdet waren die Sekretärin Bertholds von Stauffenberg und Professor Bauch. Beide hatten aber am Tage nach dem Fehl­ schlag noch Zeit, alles belastende Material - die für den Fall des Gelingens vorberei­ teten Aufrufe — zu beseitigen167. Zudem waren ihre nächsten Vorgesetzten, Konter­ admiral Meyer als Chef der Operationsabteilung der Skl und Dr. Eckhardt als Leiter des Völkerrechtsreferats, bemüht, unauffällig, aber wirksam zu helfen. Das Verhör von Fräulein Appel durch Eckhardt wurde so menschlich und behutsam durch­ geführt, daß diese auch Professor Fahrner schützen konnte. Der Versuch der Ge­ stapo, sie durch Überrumpelung doch noch zu fangen, mißlang am Tage darauf nicht zuletzt durch einen glücklichen Zufall168, so daß ihr schließlich mit der Ver­ leihung einer Kriegsauszeichnung durch Meyer sofort demonstrativ das Vertrauen ausgesprochen wurde. Bauch andererseits, der das Mißtrauen vieler gegen ihn nahezu körperlich fühlte, konnte nach Rücksprache mit dem Admiral bei der Per­ sonalabteilung des OKM in Eberswalde selbst dafür sorgen, daß der schon öfter von der Freiburger Universität gestellte, ihm bis dahin aber immer unerwünschte Antrag auf „u. k.-Stellung" jetzt bearbeitet wurde. Um nicht noch in letzter Minute in die Nachforschungen der Gestapo verwickelt zu werden, konnte er schon geraume Zeit vor der offiziellen Entlassung (1. Sept.) „auf Urlaub" fahren und aus dem Blickfeld verschwinden. Weiter geriet keiner der Mitwisser mehr in unmittelbare Gefahr; weder Traber noch Kupfer wurden auch nur einmal verhört169. Letzterer, der durch einen langen Lazarett-Aufenthalt nach einem Sportunfall die unmittelbare tägliche Verbindung mit der Gruppe um Stauffenberg verloren hatte und vor dem 20. Juli gerade wie­ der dienstfähig geworden war, befand sich an diesem Tage — mit Einverständnis der Verschwörer — auf einer Besichtigungsreise bei Swinemünde. Auf der Durch- 165 Kaltenbrunner-Bericht vom 1. 8. 44: Spiegelbild (vgl. Anm. 69), S. 116f. 166 Vgl. auch Frankf. Allg. Ztg. Nr. 164 v. 18. 7. 62, S. 11. 167 IfZ, Zs. Nr. 1789 (Prof. Bauch); Nr. 1634 (Frau Pfohl), auch für das Folgende. 168 Prof. Fahrner hatte ihr bei seiner Abreise von der „Koralle" einige bereits fertige Teile der „Odysee"-Übersetzung (vgl. Anm. 111) überlassen, die sie in ihre Schreibtischlade legte. Sie wurden ihr und F. später bei der Durchsuchung des Zimmers ein ungeahntes Entlastungs- material: IfZ, Zs. Nr. 1634 (Frau Pfohl). 169 IfZ, Zs. Nr. 1707 (Werner Traber); Nr. 1630 (Kpt. z. S. a. D. Kupfer). Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 39

fahrt zum Genesungsurlaub von Kranzfelder noch kurz und unverblümt gewarnt, erhob sich für ihn in seinem Kurort am Bodensee die bange Frage, ob er einer mög­ lichen Verhaftung durch Flucht in die Schweiz zuvorkommen solle. Weil er damit sich und seine Freunde belastet hätte, unterließ er dies, ohne es bereuen zu müssen. Dafür geriet der Kriegstagebuchführer der Skl, Korvettenkapitän Mejer, noch in arge Bedrängnis, als man schon glauben konnte, daß sich die Verfolgungswelle nach dem 20. Juli gelegt habe. Mejer, der tatsächlich nichts mit dem Umsturz­ versuch zu tun hatte, obwohl er dem Regime nicht freundlich gesonnen war, wurde plötzlich mittelbar durch Goerdeler „belastet", weil er in seiner Eigenschaft als Leiter des „Deutschen Nachrichten-Büros" zu ihm und anderen Beteiligten früher ge­ wisse, aber nicht tiefere Beziehungen unterhalten hatte170. In seinem Falle be­ währte sich die „Geschlossenheit" der Marine nach innen und außen noch einmal. Der Chef der Skl glaubte ihm die ehrenwörtliche Versicherung seiner Unschuld und setzte sich so energisch für ihn ein, daß die Gestapo ihn unverzüglich wieder freigab und nicht weiter behelligte171. Der politische Kredit, den Dönitz persön­ lich und die Marine insgesamt besaßen, rettete, paradox genug, alle Angehörigen und Mitwisser der Opposition in ihren Reihen außer denen, die sich so weit kom­ promittiert hatten, daß sie den Schergen Himmlers nicht mehr entzogen werden konnten. Ohne daß er es wollte, kam die scharfe Reaktion des ObdM den Gefährde­ ten zugute. Hitler durfte überzeugt sein, daß Dönitz nichts unterlassen werde, „jeden zu vernichten, der sich als Verräter entpuppt"172, - und so gedeckt, konnten einige höhere Führer ihre Untergebenen unauffällig, aber wirksam schützen173. Indem so verhindert wurde, daß der wahre Umfang des Anteils der Marine am Widerstand bekannt wurde, stieg ihr politisches Ansehen weiter, bis Hitler sich am Ende allein von ihr nicht „verraten" fühlte174 und ihren Oberbefehlshaber zu seinem Nachfolger bestimmte. 170 IfZ, Zs. Nr. 1791 (Otto Mejer, früherer Direktor des DNB). 171 Ebda; ferner IfZ, Zs. Nr. 1738 u. 1795. 172 Rundfunkanspr. des ObdM in der Nacht zum 21. 7. (gedr. bei Zeller a. a. O., S. 283), ferner sein Tagesbefehl an die Kriegsmarine: ungedr., Anl. zum KTB der 1. Skl (Ib 2226/44 gKChefs.). 173 Der Versuch des damaligen Inspekteurs des Bildungswesens der Marine, Vizeadmiral Rogge, den Sohn von General Lindemann vor der „Sippenhaftung" zu retten, scheiterte aller­ dings durch einen unglücklichen Zufall. Er verabredete mit Admiral von Friedeburg, damals II. Admiral der U-Boote, daß der zum Bereich der B. I. gehörende Oberfähnrich Georg L. zur U-Flottille in Bergen „in Marsch gesetzt" wurde. Von da aus sollte er einen neuen Marsch­ befehl erhalten usf., so daß er - dauernd unterwegs - dem Zugriff der Gestapo entzogen würde. Leider wurde er auf einer Eisenbahnfahrt von einer Feldpolizeistreife erkannt und verhaftet (Mitt. and. Verf.). -Er wurde am 14.11.44 unter fadenscheinigen Begründungen vom „Volks­ gerichtshof" zu 5 Jahren Zuchthaus und weiteren 5 Jahren Ehrverlust verurteilt: Spiegelbild (vgl. Anm. 69), S. 557 u. 560 ff. - Auch war der Geschwaderrichter Nischling, der bei Kranz- felders Verhaftung und bei den anderen Verhören in der Skl tätig wurde, um Fairneß bemüht: IfZ, Zs. Nr. 1634 (Frau Pfohl) u. 1484 (Fregkpt. a. D. Dr. Jessen). 174 Sogar seiner „Leibstandarte" traute er kurz vor dem Zusammenbruch nicht mehr: , Erinnerungen eines Soldaten, Heidelberg 1951, S. 381. Vgl. auch Hitlers „politisches Testament": Walter Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz. Die letzten Tage des Dritten Reiches, Göttingen 1951, S. 128-132. 40 Walter Baum

V

In der Abschiedsansprache vor seinen engeren Mitarbeitern am 1. Februar 1943 hatte Raeder erklärt: „Ich glaube, Sie werden mir darin zustimmen, daß es mir gelungen ist, im Jahre 1933 die Marine geschlossen und reibungslos dem Führer in das Dritte Reich zuzuführen. Das war zwanglos dadurch gegeben, daß die ge­ samte Erziehung der Marine in der Systemzeit trotz aller Einflüsse von außen her auf eine innere Haltung hinzielte, die von selbst eine wahrhaft nationalsozialistische Einstellung ergab. Aus diesem Grunde hatten wir uns nicht zu ändern, sondern konn­ ten von vornherein aufrichtigen Herzens wahre Anhänger des Führers werden175." Selbst wenn man berücksichtigt, daß Raeder sich selbst und die Marine aus Sorge um die eigene Sicherheit176 wie um die Zukunft seines Lebenswerkes177 für ältere und „bessere" Nationalsozialisten ausgab, als es der Wirklichkeit entsprach, waren seine Ausführungen im Kern richtig. Das oft kolportierte Schlagwort Hitlers von der angeblich „kaiserlichen" Marine178 ist jedenfalls kein Gegenargument179. Denn fühlte die Marine tatsächlich „kaiserlich", so bedeutete das noch keineswegs ein entschiedenes Eintreten für die Person des letzten Kaisers - so viel sie ihm auch verdankte - oder auch nur für eine Restauration der Monarchie180. Der Operations­ befehl für die Flotte bei Kriegsbeginn 1914, der die Marine lahmlegte, hatte das Vertrauen in die „allerhöchste Führung" erschüttert181, und der Übertritt Wil­ helms II. nach Holland den Rest zerstört. So war die „kaiserliche Einstellung" vor allem eine Sehnsucht nach einer starken, verantwortlichen Führung. Je weniger das ohnehin ungeliebte parlamentarisch-demokratische System hier bot, desto mehr wuchs das Verlangen nach einer starken Hand; und wenn beim Heer die Gleichsetzung von straffer Befehlsführung und starkem Staat aus preußisch­ monarchischer Tradition herrührte, so bei der Marine aus noch älteren, sozusagen

175 Ungedruckt (benutztes Expl. befindet sich in Privatbesitz). — Zu diesem Abschnitt vgl. jetzt auch den allerdings recht allgemein gehaltenen Aufsatz von Wahrhold Drascher, Zur Soziologie des deutschen Seeoffizierkorps, Wehrwiss. Rundschau 12, 1962, S. 555—569. 176 Raeder hatte lange Schwierigkeiten mit Heydrich — der indessen schon am 4. 6. 42 an den Folgen des Attentats auf ihn gestorben war — und mit Göring gehabt: Raeder a. a. O. II, S. 117ff. - Vgl. auch seine Bedrohung nach dem 20. Juli 44: a. a. O. II, S. 292. - Wie schwer das Zerwürfnis zwischen Hitler und Raeder war — obwohl bei dessen Verabschiedung die Form gewahrt wurde —, zeigt auch die Tatsache, daß der scheidende Ob. d. M. nicht mit dem Eichenlaub ausgezeichnet wurde. 177 Bei Niederlegung seines Oberkommandos sagte Raeder zu Hitler: „Bitte schützen Sie die Marine und meinen Nachfolger vor Göring!" — Für sein Mißtrauen gegenüber Dönitz: vgl. Raeders Aussagen in Moskau, in Nazi Conspiration and Aggression Bd. VIII, S. 713. 730 ff. 178 Hitler zu Halder am 19. Dez. 1941: Peter Bor, Gespräche mit Halder, Wiesbaden 1950, S. 112; das Wort benutzt z. B. bei Foertsch a. a. O. (vgl. Anm. 9), S. 71; Hans Herzfeld, Das Problem des deutschen Heeres 1919-1945, Laupheim 1952, S. 8; Erich von Manstein, Aus einem Soldatenleben 1887-1939, Bonn 1958, S. 270. 179 So eine Reihe ehem. hoher Marineoffiziere: Befragungen. 180 IfZ, Zs. Nr. 12 u. 979. 181 Vgl. Alfred von Tirpitz, Erinnerungen, Leipzig 1919, S. 324; Raeder a. a. O. I, S. 103f.; Admiral (Albert) Hopman, Das Kriegstagebuch eines deutschen Seeoffiziers, Berlin 1925, S. 18. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 41 natürlichen Bedingungen des Bordlebens und der Seefahrt182. Daher zunächst die Hingabe an Hindenburg, der auch für die Marine der „Ersatzkaiser" war183, - dann die Hoffnungen auf Hitler184. Daneben war die Marine von jeher relativ „liberal"185. Verhältnismäßig jung, nicht aus feudalistisch-aristokratischen Wurzeln entsprungen, personell weitgehend „bürgerlich" zusammengesetzt186, nicht landsmannschaftlich gebunden in ihren Einheiten, durch Auslandsdienst weltoffen187, war sie schon zur Zeit der Monarchie ihrem eigentlichen Gründer und Förderer gegenüber freier und unbefangener als die Armee188 - wie umgekehrt der Kaiser sich an Bord zumeist ungezwungener, „menschlicher" gab als gewöhnlich und sich von Seeoffizieren auch Kritik und offene Worte gefallen ließ189. Die Revolution von 1918 — so schmerzlich die Er­ innerung daran auch brannte, und so wenig es je wieder dahin kommen sollte190 - hinterließ weiterhin ihre Spuren: die Marine war seitdem verhältnismäßig „so­ zial" eingestellt, ohne „sozialistisch" zu werden191. Es herrschte, nicht nur im inneren Dienst, ein besonderes Gefühl für soziale Belange des „Volkes", so daß der Nationalsozialismus, der, eklektisch wie er war, auch solche Töne anschlug, hierin bei der Marine Widerhall fand192. 182 Über die harte Disziplin vgl. L. Persius, Menschen und Schiffe in der kaiserlichen Flotte, Berlin 1925, S. 130 ff. - Ferner Bernhard Ramcke, Vom Schiffsjungen zum Fallschirmjäger- General, Berlin 1943, S. 23f., und Ernst von Salomon, Der Fragebogen, Hamburg 1951, S. 397. — Wegen der besonderen Verhältnisse an Bord wurde der Kriegsmarine sogar - im Gegensatz zum Heer — die Kriegsgerichtsbarkeit (an Bord) im Versailler Vertrag gestattet: Raeder a. a. O., I, S. 174; II, S. 229. 183 Hatte Admiral von Trotha am 12. März 1919 über den „Offizier in seinem Beruf" ge­ schrieben: „In der Vergangenheit gab sich der Offizier mit seiner ganzen Person in die Hand des Monarchen als der Verkörperung des Staates, seines Vaterlandes . . . Heute haben diese Verhältnisse sich ganz verschoben. Der ideelle Mittelpunkt liegt jetzt im völkischen Staat, im Vaterland selbst. Die Person des Präsidenten, die von den Stimmen des Volkes selbst an­ hängig ist, kann die Bedeutung wie früher nicht haben . . .", so galt das damals gegenüber Ebert, der am 11. Februar 1919 gewählt worden war. Mit Hindenburgs Wahl hatten sich die „Verhältnisse" erneut „verschoben" in Richtung der unvergessenen Tradition. Jeden­ falls spielte die Persönlichkeit des Generalfeldmarschalls für Raeder und die Marine eine entscheidende Rolle. Hindenburgs Entschlüsse, auch die politischen, waren „dienstliche Be­ fehle", deren Richtigkeit und Notwendigkeit nicht diskutiert wurden. — Vgl. „Volkstum und Staatsführung". Briefe und Aufzeichnungen aus den Jahren 1915-1920, Berlin 1928, S. 197f. -Ferner: Raeder a. a. O., I, S. 213f., 279f., 289f. 184 Bezeichnend dafür auch die Denkschrift (im ganzen ungedruckt) von Adm. Gerlach „Über die ethischen Grundlagen einer neuen deutschen Wehrmacht", verfaßt Mai 1951. 185 IfZ, Zs. Nr. 1739 u. 1780. 186 Vgl. auch Tirpitz a. a. O., S. 2. - Ferner Hans Rothfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Frankfurt a. M. 1958, S. 71. 187 Vgl. für scharfe Kritik daran, daß in der kaiserlichen Marine der Auslandsdienst später zu kurz kam: Persius a. a. O., S. 124f. — Sonst Raeder a. a. O., I, S. 277ff. 188 IfZ, Zs. Nr. 1739. 189 Tirpitz, a. a. O., S. 40, 132ff.; Raeder a. a. O., I, S. 62ff. 190 Raeder a. a. O., I, S. 240. 191 Raeder a. a. O., I, S. 240ff.; IfZ, Zs. Nr. 1635, 1629, 1774. 192 Gerlach a. a. O. (vgl. Anm. 184). 42 Walter Baum

Als Schrittmacher des Nationalsozialismus gelten ferner wohl die ehemaligen Freikorpsleute193, - eine Ansicht, die von der traditionslosen „Bewegung" selbst bisweilen propagiert wurde194, um sich mit konstruierten „Ahnenreihen" eine gewisse Legitimität zu schaffen. Tatsächlich entstammte eine Anzahl prominenter nationalsozialistischer Funktionäre den Freikorps195. Was aber die Marine angeht, so rekrutierte sie sich ihrerseits keineswegs so ausschließlich aus den Freikorps, wie es nationalsozialistische Propaganda — sei es aus Unwissenheit, sei es in tendenziöser Absicht - behauptet hat196. Die im Jahre 1933 maßgebliche höhere Führung hatte nicht erst den Umweg über die Freikorps gemacht, sondern war kontinuierlich im Dienst geblieben oder nach einer mehr oder minder langen Pause in die neue Marine eingetreten197. Weiter sind die Angehörigen der verschiedenen ehemaligen Freikorps in der nicht einander gleichzusetzen: diejenigen, die nur vorübergehend in Freiwilligenverbänden innerhalb oder außerhalb des Reiches (Baltikum) gekämpft und sich schon vor dem Kapp-Putsch der neuen Wehrmacht der Republik zur Verfügung gestellt hatten, wurden von den später Gekommenen mit Mißtrauen, ja fast als Überläufer betrachtet198. Ein Unterschied bestand sogar zwischen den Angehörigen der beiden ehemaligen Brigaden Ehrhardt und Loewen- feld, die in diesem Zusammenhang die wichtigsten sind199. Die letzteren standen dem neuen Staat zwar zunächst reserviert gegenüber, söhnten sich jedoch - beson­ ders nachdem ihrem alten Führer Mitte 1922 das Kommando über den Schul­ kreuzer „Berlin" anvertraut worden war200 - mit den neuen Verhältnissen weit eher aus als die Ehrhardtleute201. Von einer festen Einheitsfront dieser anti- republikanischen Elemente kann also keine Rede sein — abgesehen davon, daß ge­ rade einige ehemalige Ehrhardtleute später zum „Widerstand" stießen202. Immer­ hin war, im ganzen gesehen, eine gewisse gefühlsmäßige Aufnahmebereitschaft für

193 Vgl. dafür allgemein Robert G. L. Waite, Vanguard of Nazism. The Free Corps Mo­ vement in Postwar Germany 1918-1923. Cambridge, Mss. 1952; ferner John W. Wheeler- Bennett, Die Nemesis der Macht, Düsseldorf 1954, S. 316f. 194 Hitler in einer Lagebesprechung (vermutlich vom 2.) März 1945: Hitlers Lagebespre­ chungen, Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942-1945, hrsg. v. Helmut Heiber, Stuttgart 1962, S. 899; Himmler in seiner Rede vor den Gauleitern am 3. August 1944: in dieser Zeitschrift Bd. 1 (1953), S. 365. 195 Vgl. die Listen bei Waite a. a. O., S. 285ff. 196 Siehe Anm. 194; ferner E. v. Schmidt-Pauli, Geschichte der deutschen Freikorps 1918-1924, Stuttgart 1936, S. 351. 197 Befragungen. 198 IfZ, Zs. Nr. 1481. 199 Es ist bezeichnend, daß bei den Zwischenfällen 1920 auf der Marineschule Mürwik sich Loewenfelder und Ehrhardt-Leute gegenüberstanden. IfZ, Zs. Nr. 12, 1785, 285, 1481. 200 IfZ, Zs. Nr. 1785, 54; Raeder a. a. O., I, S. 188. 201 Allerdings waren die schärfsten Gegner der Republik, wie Manfred von Killinger, schon wieder ausgeschieden, und es gelang dem Kommandeur der Marineschule Mürwik, dem späteren Vizeadmiral Tillessen, nach einem „Aufstand" durch ein geschicktes psychologisches Manöver Ehrhardts „Bann" bei seinen ehem. Anhängern weitgehend zu brechen: IfZ, Zs. Nr. 12. 202 Oberstleutnant Friedrich Wilhelm Heinz und Korvettenkapitän Liedig: vgl. Kraus­ nick a. a. O. (vgl. Anm. 1), S. 344. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 43

die Parolen des Nationalsozialismus bei den Freikorpsleuten vorhanden; zumindest sträubten sie sich später nicht, Hitler als Kanzler und „Führer" anzuerkennen203. Spürbar wurde die Neigung für den Nationalsozialismus in der Marine gegen Ende der zwanziger bzw. Anfang der dreißiger Jahre. Bis dahin hatte er in den nörd­ lichen Teilen des Reiches und an der Küste allgemein eine geringere Rolle gespielt als im Süden. Mit seinem Anwachsen und seiner Ausbreitung nordwärts (14. Sept. 1930!) erregte er natürlich auch in der Marine zunehmend Aufmerksamkeit, und zwar hauptsächlich unter den jüngeren Offizieren sowie den Unteroffizieren und Mannschaften. Nachdem sie schon vorher gelegentlich heimlich und in Zivil Ver­ sammlungen und Kundgebungen der NSDAP besucht hatten, zum Teil aus reiner Freude am „Klamauk", wurden sie je länger, desto mehr von den „nationalen" und „sozialen" Tönen sowie dem angeblichen unbedingten Gegensatz zum Kom­ munismus beeindruckt204, bis die „Idee" bei ihnen ziemlich offene und entschiedene Bekenner fand205. Die älteren und höheren Offiziere allerdings hielten sich - auf jeden Fall äußerlich - mehr zurück206. Kapitän z. S. von Schröder, der Sohn des „Löwen von Flandern", war eine auffallende Ausnahme: Wohl war seine Einla­ dung Hitlers auf den Kreuzer „Köln", der zufällig in Wilhelmshaven lag, als auch Hitler die Stadt besuchte, keine geplante Aktion207, aber doch eine politische De­ monstration. Sie wurde als solche, obwohl der Kommandant formal im Recht war, von älteren Seeoffizieren mißbilligt208; immerhin verfehlte die bei dieser Gelegen­ heit abgegebene Versicherung Hitlers, für einen Auf- und Ausbau der Marine ar­ beiten zu wollen 209, nicht ihre Wirkung auf die Marineführung210, die ihre Hoff­ nungen um so mehr auf eine Regierung Hitlers setzte, als sie mit ihren Forderungen bei den vorhergehenden Kabinetten, nicht nur bei den Sozialdemokraten, oft auf Gegnerschaft gestoßen war211. Raeder, seit dem 1. Oktober 1928 Chef der Marineleitung, wußte nicht nur, daß der Nationalsozialismus in der Marine Fuß gefaßt hatte212, sondern sogar, daß er 203 Seeckt schrieb an Adm. Scheer 1920 (Fr. v. Rabenau a. a. O., S. 495): „In den beiden Marinebrigaden [gemeint waren: Ehrhardt und Loewenfeld] steckt ohne Zweifel ausgezeichne­ tes Material, aber auch die große Gefahr der Überspannung der Führergeltung. Es muß die richtige Mitte gefunden werden zwischen engem Vertrauensverhältnis vom Vorgesetzten zum Untergebenen und sachlicher und persönlicher Unterordnung." 204 IfZ, Zs. Nr. 54; Dönitz a. a. O., S. 299f. 205 IfZ, Zs. Nr. 364, 1628. 206 Auch der „Befehlshaber der Aufklärungsstreitkräfte", KAdm. Kolbe, und der spätere Gen. Adm. Saalwächter sympathisierten mit dem NS, hielten sich aber äußerlich zurück. 207 IfZ, Zs. Nr. 54, 1482, 246. 208 IfZ, Zs. Nr. 1479. 209 Eintragung ins Gästebuch des Kreuzers „Köln"; vgl. auch K. J. Puttkamer a. a. O. (vgl. Anm. 15), S. 9. 210 Puttkamer a. a. O., S. 9; Raeder a. a. O., II, S. 107. 211 Raeder a. a. O., I, S. 228ff. - Ferner: Gustav Adolf Caspar, Die sozialdemokratische Partei und das deutsche Wehrproblem in den Jahren der Weimarer Republik. Beiheft 11 der Wehrwiss. Rundschau, Frankfurt/M. 1959, und Wolfgang Wacker, Der Bau des Panzer­ schiffes „A" und der Reichstag, Tübingen 1959. 212 IfZ, Zs. Nr. 364, 1628. 44 Walter Baum für sie gefährlich geworden war. Seine Erinnerungen verschleiern dies21*, bezeugen indessen seinen „Attentismus", der Hitler zugute kam. Denn auf die alarmierende Meldung des damaligen Chefs des Stabes der Ostsee-Station, Admiral Marschall, im Herbst 1932214, die überwiegende Mehrzahl der Kommandeure in seinem Be­ fehlsbereich glaube ihrer Leute im Falle eines Einsatzes bei einem nationalsoziali­ stischen Putsch nicht sicher zu sein, gab ihm Raeder nichts weiter zur Antwort, als die vage Versicherung, er werde die Marine schon so führen, daß sie keinen Schaden nehme. Obwohl selber kein „Politiker", also auch kein Nationalsozialist215, sondern reiner „Soldat", beobachtete Raeder aufmerksam den politischen Horizont und hatte eine gute Witterung für die Wirkung politischer Entwicklungen auf sein Ressort216. Für sein Lebenswerk, den bestmöglichen Auf- und Ausbau der Marine, war er be­ reit, unter allen Flaggen zu segeln. „Woher ich meine Panzerschiffe kriege, ist mir egal!" war seine Maxime217 — und Hitler versprach ihm welche! So wartete er ab - in der Zwischenzeit mit Hilfe seiner persönlichen Autorität bemüht, der Marine eine Zerreißprobe zu ersparen und Provokationen zu verhindern218 - bis ihm Hindenburgs Entschluß ermöglichte, die neue Flagge zu setzen219. Hierin traf er sich auf halbem Wege mit der Marine — die aus ersichtlichen Gründen von vorn­ herein für den Nationalsozialismus viel anfälliger war als das Heer220.

VI

Den Vorwurf, durch die Meuterei auf der Flotte die Revolution 1918 ausgelöst zu haben, wurde von der Marine schmerzlich empfunden und verursachte ein

213 Raeder a. a. O., I, S. 279f., II, S. 14. 214 Der spätere Flottenchef Admiral (und schließlich Generaladmiral) Marschall war be­ unruhigt durch die bürgerkriegsähnlichen Zustände abends beim „Holstenbummel" in Kiel - Schlägereien zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten — und hatte deshalb die Komman­ deure seines Befehlsbereichs zusammengerufen, um die Lage zu besprechen. 215 Raeder erstrebte kein „politisches" Amt, wollte nicht Reichswehrminister werden: a. a. O., I, S. 271 f. — Mit den Nationalsozialisten hatte er vor der „Machtergreifung" nur unmittelbar Berührung durch den ehem. Konteradmiral von Levetzow: ebda. I, S. 172; II, S. 107. 216 Foertsch a. a. O. (vgl. Anm. 9), S. 33. 217 IfZ, Zs. Nr. 667 (Vizeadm. a. D. Weichold). 218 Raeder a. a. O., I, S. 279f.; II, S. 19, 22. 219 Die Marine war gewohnt, Raeder zu folgen: Befragungen; Raeder a. a, O., I, S. 238ff.; II, S. 15, 21 ff.; Puttkamer a. a. O. (vgl. Anm. 15), S. 10; Admiral a. D. Karlgeorg Schuster in seiner Besprechung der Erinnerungen Raeders: Marine Rundschau 53 (1956), S. 188f. - Für Raeders straffe Führung vgl. auch: Kurt Assmann, Großadmiral Dr. h. c. Raeder und der Zweite Weltkrieg in: Marine Rundschau 58 (1961), S. 5. 220 Vgl. die verallgemeinernde Formulierung eines scharf beobachtenden Offiziers des Heeres: „Die Marine, deren Mannschaft im Jahre 1918 als erste gemeutert und ihrem kaiser­ lichen Gründer die Treue versagt hatte, schloß sich dem System ohne Bedenken an und sonnte sich in der Gunst der Partei und des Führers." (D. v. Choltitz, Soldat unter Soldaten, Konstanz 1951, S. 43). Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 45

Trauma, das sie nie überwand221. Canaris war einer der wenigen, die sich von sol­ chen Befangenheiten freigemacht hatten222. Hier lag ein wesentlicher Grund dafür, daß sich die Marine, selbst nachdem sie erkannt hatte, wohin Hitler steuerte, nicht gegen ihn stellte. Gefördert noch durch die Erlebnisse des Kapp-Putsches, durch welchen sie fast wieder auseinandergebrochen war223, entwickelte sich im Laufe der Zeit ein „Komplex"224 mit der fixen Idee: Nie wieder abweichen von der „Legali­ tät", nie wieder „politisieren", nichts gegen die „Regierung"225! Die ganze Er­ ziehung in der Marine zielte in diese Richtung und wirkte noch fort, als die Grund­ lagen des Rechtsstaates, die ja die Voraussetzung für solche Loyalität sind, vom Hitler-Regime längst verlassen worden waren. Wenn überhaupt, so war eine Revision dieser Haltung nur durch Befehl „von oben" möglich. Raeder, der von der Verworrenheit der Befehlsverhältnisse und Dienststellen während des Ersten Weltkrieges stark beeindruckt worden war, erstrebte vom ersten Tage seiner Leitung an eine energische Zusammenfassung und baute eine so straffe persönliche Führung auf, wie sie bis dahin nicht existiert hatte226. Gegen Offiziere, die ernstlich - und vor allem: nach außen erkennbar - andere Meinungen vertraten als er, konnte er rücksichtslos vorgehen; sie wurden verabschiedet. Der häufige und rasche Wechsel der Flottenchefs ist nur der augen­ fälligste Beweis dafür227. Eben deshalb war Raeder auch entschiedenster Gegner eines neuen Admiralstabes: jede Möglichkeit einer „Nebenregierung" sollte von vornherein ausgeschlossen werden. Seine Antipathie dagegen nahm beinahe gro­ teske Formen an228. Nach außen hin, sowohl nach oben wie nach unten, sollte „sein Wille für die Marine alleiniges Gesetz sein"229. Gleichwohl tolerierte er — aus seiner für „unpolitisch" gehaltenen Einstellung heraus - dabei Offiziere, die dem National­ sozialismus nicht freundlich gesonnen waren, „solange sie ihre Pflicht taten"!230 Das hieß: ebensowenig wie er daran dachte, jemals aktiv gegen Hitler und sein Regime zu opponieren, durfte — und würde — es nach seiner Meinung ein anderer 221 Raeder a. a. O., I, S. 148ff., 240; Dönitz a. a. O., S. 306. 222 IfZ, Zs. Nr. 240 (Gen. Oberst a. D. Halder). 223 Raeder a. a. O., I, S. 180ff. 224 Raeder a. a. O., I, S. 227 ff.; II, S. 22 schreibt auch der sogen. Lohmann -Affäre die Wirkung zu, daß die Marine daraus die Lehre zog, nichts mehr gegen die bestehende Regie­ rung zu unternehmen. 225 Raeder a. a. O., I, S. 240; II, S. 14ff., bes. S. 22. 226 Raeder a. a. O., I, S. 235ff.; Kurt Assmann, Großadmiral Dr. h. c. Raeder usw., a. a. O. (vgl. Anm. 219), S. 5 f. 227 Für die Ablösung der beiden späteren Generaladmirale Boehm und Marschall vgl. Wehrwiss. Rundschau 9 (1959), S. 487ff. 228 Assmann a. a. O., S. 6, 8; die notwendige Neugründung einer analogen Instanz mußte sich „Seekriegsleitung" nennen, nicht „Admiralstab ": IfZ, Zs. Nr. 246; Absolventen der sogen. „Führergehilfenlehrgänge", d. h. die Admiralstabsoffiziere, wurden hinterher in die ver­ schiedensten Stellungen, bloß nicht in Admiralstabsoffizierspositionen versetzt: Admiral a. D. Karlgeorg Schuster in seiner Besprechung von Raeders Memoiren, in: Marine Rundschau 53 (1956), S. 188f. 229 Assmann a. a. O., S. 5. 230 Raeder a. a. O., II, S. 21 f. 46 Walter Baum

Marineoffizier tun231. Versuche, seine Unterstützung zu wirksamen Schritten nach der „Röhm-Revolte" oder der „Kristallnacht" zu erhalten, schlugen daher fehl, und selbständiges Vorgehen ohne bzw. gar gegen den ObdM bedeutete mit Sicherheit schnelle Kassation, wenn auch noch nicht mehr. Schlimmer sollte es in dieser Hinsicht unter Dönitz werden. Nicht nur, daß dieser das bisherige Führungsprinzip übernahm und weiter ausbaute — er war auch, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, bewußt „politisch". Wenn er bald nach seiner Amtsübernahme eine Reihe verdienter und erfahrener hoher Offiziere entließ, so nicht deshalb, weil er den dienstälteren Admiralen aus Taktgründen nicht zu­ muten wollte, unter ihm — dem Jüngeren — zu bleiben232, sondern weil er sie nicht ohne weiteres für „zuverlässig" genug in seinem und des Regimes Sinne hielt233. Wie Goebbels bezeugt, war sein „gründliches Aufräumen" ganz nach dem Herzen des „Führers"234, dessen Vertrauen er rasch gewinnen wollte und gewann235. Daß es ihm dabei - in klarer Erkenntnis der damaligen Führungspraxis - auch darum ging, sachliche Vorteile für die Marine herauszuholen236, ist glaubhaft, war aber gewiß nicht sein eigentliches Motiv. Größeres Verständnis für die Seekriegsführung, Abwehr unberechtigter Angriffe etwa von seiten Görings auf die Marine und bessere Materialzuteilungen sollten schöne Nebenerfolge werden237, waren jedoch nicht tiefster Grund seiner bewußt und öffentlich dokumentierten Einstellung zu Hitler und dem Nationalsozialismus. Überzeugt von Hitlers einmaliger Größe und Be­ deutung für das deutsche Volk, unterwarf er sich ihm bis an die Grenze persön­ licher Würde238, übernahm den Rassenwahn239 und die feindliche Haltung gegen 231 Puttkamer a. a. O., S. 55f. 232 Unter diesem Vorwand verabschiedete er den Generaladmiral Boehm, der ihm aber entsprechend erwiderte (Mitt. an den Verfasser). 233 Dem großen „Robbenschlag" (so ironisch in der Marine genannt) fielen alle Admirale zum Opfer, die nicht mehr unbedingt wegen ihres Fachwissens gebraucht wurden, wie z. B. der „K-Chef" (Kriegsschiffbau) Admiral Fuchs. -Vgl. Dönitz a. a. O., S. 366ff. -Vizeadmiral Weichold wurde z. B. gerade wegen seiner kritischen Einstellung verabschiedet, nicht des­ wegen, weil er keine „genügende praktische Fronterfahrung" hatte. Zum „Abschied" erhielt er das Wort „Gehe nun hin in die Wüste und predige . . .", weil er Dönitz gemeldet hatte, daß der Krieg im Mittelmeer verloren sei: IfZ, Zs. Nr. 667 (Vizeadmiral a. D. Weichold). Daß Dönitz später seine neuen Vertrauten auch wieder kalt stellte und eine neue „zuver­ lässige" Umgebung schuf, unterstreicht das oben Gesagte. Weder Admiral Meisel als Chef der Skl noch Konteradmiral Godt als Leiter der Op.-Abt. der U-Boote hatten später noch sein Ohr wie ursprünglich. 234 Tagebuch vom 9. März 1943 (vgl. Anm. 39), S. 263. 235 Dönitz a. a. O., S. 307; Private Fragen, beantwortet im Nürnberger Gefängnis (Ab­ schrift im IfZ). 236 Vgl. Anm. 235; IfZ, Zs. Nr. 175. 237 Fragebogen; Dönitz a. a. O., S. 309f. 238 In einer berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast nannte er sich im Vergleich zu seinem „Führer" ein „ganz kleines Würstchen"! - Vgl. weiter Dönitz a. a. O., S. 477; Frage­ bogen; Sonderlage vom 11. 4. 45: IMT Bd XXXV, S. 304ff. 239 Rede zum Heldengedenktag 1944; gedruckt in „Das Archiv", Nachschlagwerk für Poli­ tik, Wirtschaft, Kultur, Nr. 120, auch bei Léon Poliakov-Josef Wulf, Das Dritte Reich und die Juden, Berlin, 2. Aufl. 1955, S. 345. - Leserbriefe in der FAZ vom 25. 4. und 4. 5. 1961. Marine, Nationalsozialismus und Widerstand 47 die Kirchen240 aus Hitlers Ideologie und verlangte von seinen Offizieren dasselbe. „Bedingungslos Wächter des nationalsozialistischen Staates" zu sein, war seine Forderung am 15. Februar 1944241. Kein Wunder also, daß bei ihm trotz allem, was schon geschehen und noch zu erwarten war, keine Neigung zum Widerstand gegen das Regime bestand242. Seine haßerfüllten Ausbrüche gegen die „Verbrecher" nach dem 20. Juli243 und seine unerschütterliche Treue zu Hitler und der „Idee" über dessen Ende hinaus244 sind Zeugnis dafür, wie sich Dönitz dem National­ sozialismus verschrieben hatte246. Über allen anders Gesinnten hing seine Drohung, sie zu „zerbrechen"246. Dennoch hatten sich in der Marine, so sehr sie anfangs mit dem Nationalsozialis­ mus sympathisierte, je länger desto mehr Skepsis und Kritik geregt. Waren es teil­ weise nur fachliche Zweifel — Zweifel an der militärischen Führung und am „End­ sieg" -, die laut wurden247, so gab es andererseits doch auch echte moralische Er­ schütterungen, als die Verbrechen des Regimes bekannt wurden248. Das Bild, das die Marine bei näherem Zusehen am 20. Juli und danach bot, war weder so „ge­ schlossen" noch so eindeutig, wie es Dönitz wünschte oder es der Öffentlichkeit seinerzeit erschien. Aber Widerstandszellen gab es in breiterem Maße nicht. Warum? Über alle einmalig-zufälligen sachlichen und persönlichen Momente hinaus war letztlich der besondere Geist prinzipieller Subordination in ihrem Offizierskorps dafür verantwortlich, der anders war als die im Heer übliche Unterordnung. Aus einer ursprünglich „technischen" Notwendigkeit des Bordlebens hatte sich — ge­ fördert durch die soziale Struktur der Marine - eine „Tradition" entwickelt, d. h. eine geistige Grundhaltung, die einen der wesentlichsten Teile des speziellen „Ehr­ begriffs" des Seeoffiziers ausmachte. Die Freiheit der Entscheidung, die sich die moralisch und intellektuell Besten in der Armee stets vorbehalten haben, auch ein- 240 Eingabe von Marinedekan Ronneberger an den ObdM vom 22. Sept. 1944 (ungedruckt). IfZ, Zs. Nr. 1808. 241 IMT, Dok. D 640 (Bd XXXV, S. 237ff.). 242 Dönitz a. a. O., S. 303, 401. 243 Rede in der Nacht vom 20./21. Juli 1944: Zeller a. a. O., S. 283; Tagesbefehl an die Kriegsmarine (ungedruckt) (Akten der Skl: Anlage zu 1. Skl Ib 2226/44 gKChefs.). 244 Rundfunkansprachen an das deutsche Volk und die Wehrmacht vom 1. Mai 1945: Lüdde-Neurath a. a. O. (vgl. Anm. 174), S. 138; Fragebogen Dönitz (vgl. Anm. 235). - Dönitz a. a. O., S. 445 kürzt den Wortlaut. Dönitz weigerte sich noch am 11. Mai 45, als die Sieger Anstoß an den „Führerbildnissen" nahmen, die noch immer zu sehen seien, einen Befehl zu geben, diese zu entfernen: Tagebuch vom 2. 5. 45ff., das sein Adjutant Lüdde-Neurath führte: in: Die Niederlage 1945. Aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, hrsg. v. Percy Ernst Schramm, dtv-Ausg. München 1962, S. 440f. — Erst am 14. 5. 45 erging der Befehl als unumgänglich: ebda. S. 445. 245 Angeblich wußte Dönitz nichts von den Greueln; vgl. aber Lüdde-Neurath a. a. O., S. 94ff.; Fragebogen. 246 Ebenfalls in der Rede vom 15. 2. 44 (vgl. Anm. 239), a. a. O., S. 243. 247 In der „Scharnhorst"-Messe ging z. B. die Rede ungefähr so: „Solange wir von Unter­ offizieren regiert werden, kann die Geschichte ja nicht glatt gehen . . .": IfZ, Zs. Nr. 1776. 248 IfZ, Zs. Nr. 1603 u. 1809. 48 Walter Baum

mal dem Obersten Kriegsherrn den Gehorsam zu verweigern und aktiven Wider­ stand zu leisten, wenn das Gewissen es verlangte: diese Möglichkeit war im all­ gemeinen im Ehrenkodex der Marine nicht enthalten. So versagte sie, indem sie in einer bestimmten — zugegeben: bisher noch nicht dagewesenen — geschichtlichen Situation diese „Ehre" verabsolutierte und damit pervertierte, d. h. durch starre, bloß äußerliche Befolgung des Prinzips der Treue und des Gehorsams zur „Kon­ vention" erstarren ließ249. Die der Marine gemeinhin zugeschriebene besondere hohe geistige Qualifikation hingegen war nicht mehr in solchem Ausmaß vorhanden, daß sie als Korrektiv wirksam werden konnte. Die im Kriege 1939-1945 führende Generation war im Durchschnitt im letzten Jahr vor dem Ersten Weltkrieg oder gar später eingetreten. Sie hatte die frühere umfassende Erziehung nicht mehr erfahren und in der Zeit nach 1918 das Versäumte unter den veränderten Umständen nicht nachholen können. Die so konsequente Ablehnung eines neuen Admiralstabes tat ein übriges250, während in der Armee gerade diese Tradition im höheren Offizierskorps gepflegt wurde251. Schließlich war es kein Zufall, daß der militärische Widerstand gegen Hitler im wesentlichen vom Generalstab getragen wurde. Statt dessen hatte die Marine ein ausgezeichnetes Spezialistenkorps gezüchtet, das sich auf das eigene Ressort verstand, aber auch darauf beschränkte und in der Ausnahme-Situation der NS-Ära moralisch wie politisch indifferent blieb252. In diesem Zusammenhang von moralischer Schuld des Einzelnen zu sprechen, fällt schwer, weil der Einzelne sich weitgehend mit dem „Zeitgeist" und dem seiner Kaste in Übereinstimmung befand. Indes die Marine als Ganzes bewährte sich in dieser Hinsicht nicht: ein hypertrophes Spezialistentum hatte zu wenig Raum gelassen für selbständigen sitt­ lichen Mut und ein immer waches Gewissen, die unteilbar waren und sich nicht kommandieren ließen.

249 Vgl. Dönitz a. a. O., S. 297ff., 475ff.; Raeder a. a. O., II, S. 333ff. 250 Vgl. dafür Walther Hubatsch, Der Admiralstab und die obersten Marinebehörden in Deutschland 1848-1945, Frankfurt a. M. 1958, bes. S. 212ff. 251 Zur Geschichte des Generalstabes vgl. Halder, bei: Bor, a. a. O., S. 42ff. („Seine Ge­ schichte ist . . . die Geschichte einer Geisteshaltung, nicht die einer Organisation oder einer Technik": S. 43). 252 Vgl. auch Raeders Schlußwort in Nürnberg: a. a. O., II, S. 317ff.; Dönitz IMT Bd. XIII, S. 332 ff.