Fair Play in der digitalen Welt Wie Europa für Plattformen den richtigen Rahmen setzt Der Weg zu mehr Wettbewerb und Wachstum Agenda für eine eigenständige europäische Digitalwirtschaft

Zielbild Wir brauchen eine Internetökonomie, die gekenn zeichnet ist durch Innovationsstärke, hohe Wertschöpfung, fairen Wettbewerb, ver trauens - vollen Umgang mit Daten und verantwortlich handelnde Unternehmen – mit eigenständigen digitalen Plattformen als wichtigen Trägern einer neuen Wirtschaftsdynamik in Europa.

Ordnungsrahmen

Wettbewerbsförderung durch neue Spielregeln: Die verschiedenen Plattformtypen erfordern unterschiedliche Herangehensweisen bei Rechtsanwendung und -setzung

Handlungsbedarf Markt- System- Rechts- Rechts- macht relevanz anwendung setzung

I. Bottle- necks

II. Gatekeepers

III. Open Aggregators

Quelle: Roland Berger Handlungsprogramm 1. Echter digitaler Binnenmarkt statt Flickenteppich in Europa 2. Gleiches Recht für alle Anbieter, die in einem Markt tätig sind 3. Schnellere Reaktion von Kartellbehörden auf Missbräuche 4. Bewertung von Fusionen auch nach Kaufpreis, nicht nur nach Umsätzen 5. Einfachere Übertragung von Daten auf andere Plattformen 6. Mehr Auswahl bei zentralen Internetanwendungen 7. Verbesserter Zugang für Unternehmen zu digitalen Infrastrukturen 8. Sinnvolle Bündelung von Zuständigkeiten für digitale Märkte 9. Schulterschluss bei Standards und Innovationen 10. Mehr Wachstumskapital für innovative Gründerunternehmen

3 Die neue Dynamik der Internetökonomie

Seit Erscheinen der von IE.F und Roland Berger gemeinsam erstellten Studie „Deutsch- land digital. Sieben Schritte in die Zukunft“ im April 2016 hat die Internetökonomie noch einmal deutlich an Dynamik gewonnen. Digitale Plattformen gelten als ihre mächtigsten Exponenten. Obwohl unter diesem Schlagwort jeder etwas anderes zu verstehen scheint (wir nähern uns einer Definition auf den Seiten 30 ff. dieser Studie), hat die politische Debatte über die Marktstellung digitaler Plattformen und die Not- wendigkeit einer Anpassung von Wettbewerbsregeln jüngst weiter an Fahrt aufge- nommen. Einige Schlaglichter:

Google, Facebook und Amazon haben im Juli 2016 nacheinander Rekordergebnisse Friedbert Pfüger verkündet. Apple ist trotz Umsatzrückgangs unverändert der wertvollste Konzern der Vorsitzender Welt. Unter Ökonomen ist bereits von GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) oder Internet Economy von Superstar Economics die Rede. Foundation

In Europa laufen Missbrauchsverfahren der Europäischen Kommission und meh- rerer nationaler Kartellbehörden gegen die Wettbewerbspraktiken von Google und Facebook. Die Maßnahmen gegen Google hat die Kommission mit „Statements of Objections“ und der Eröffnung eines weiteren Verfahrens vorangetrieben.

Auch in den USA wird Kritik am Wettbewerbsverhalten einiger digitaler Plattformen laut: Die nationale Verbraucherschutz- und Wettbewerbsbehörde FTC ermittelt seit Herbst 2015 gegen Google wegen der Lizenzierungspolitik bei seinem mobilen Be- triebssystem Android. Und die einflussreiche demokratische Senatorin Elizabeth Warren hat die marktbeherrschende Stellung von Google, Apple und Amazon kürzlich sogar als „Gefahr für die Demo kratie“ bezeichnet. Clark Parsons Die Europäische Kommission hat im September 2015 einen Konsultationsprozess Geschäftsführer zum regulatorischen Umfeld von Online-Plattformen gestartet und dazu im Mai 2016 Internet Economy einen vorläufigen Abschlussbericht vorgelegt. Auf dessen Basis sollen bis zum Früh- Foundation jahr 2017 legislative Optionen insbesondere für das Verhalten von Plattformen im B2B-Verhältnis ausgearbeitet werden. Zeitgleich wurde der Leitfaden zur Unfair Com- mercial Practices Directive (UCPD) nicht zuletzt mit Blick auf neue Geschäftsmodel- le in der digitalen Welt umfassend aktualisiert; eine Überarbeitung der Richtlinie

4 selbst ist aktuell Gegenstand des sogenannten REFIT-Programms zur Verbesserung der EU-Rechtsvorschriften.

Gleichzeitig will Europa sehr viel stärker als bisher von den Innovations- und Wachstums potenzialen der Internetökonomie profitieren. Die Strategie der Euro- päischen Kommission für einen digitalen Binnenmarkt (Digital Single Market) soll ein zusätzliches Bruttoinlandsprodukt von jährlich 415 Mrd. EUR generieren. Zum Aufbau einer europäischen Datenwirtschaft werden Maßnahmen auf den Weg gebracht wie die Initiative „Freier Datenfluss“ oder ein aktualisierter „Europäischer Inter operabilitätsrahmen“.

In Deutschland hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie im Mai 2016 das Grünbuch Digitale Plattformen publiziert und damit einen öffentlichen On- -Beteiligungsprozess gestartet, in den sich Bürger, Unternehmen, Verbände und Experten bis zum 30. September einbringen konnten. Auf Basis dessen soll Anfang 2017 ein Weißbuch mit konkreten Regelungsvorschlägen vorliegen.

Vom Bundeskartellamt und seinem französischen Pendant, der Autorité de la con- currence, wurden im Frühsommer 2016 umfassende Papiere zur Marktmacht von Plattformen und Netzwerken und zur wettbewerbsrechtlichen Bewertung von Daten vorgelegt. Sie fußen u.a. auf einem Sondergutachten zur Wettbewerbspolitik in digi talen Märkten, das die deutsche Monopolkommission ein Jahr zuvor veröf- fentlicht hatte.

Einige der darin erarbeiteten Vorschläge finden sich im Referentenentwurf zur 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), die das deutsche Kartellrecht nicht zuletzt an die Besonderheiten digitaler Märkte anpassen soll. We- sentliche Neuerungen: Ein Markt soll künftig auch bei unentgeltlichen Leistungs- beziehungen vorliegen. Bei der Fusionskontrolle ist geplant, die Höhe des Transak- tionswerts als neues Aufgreifkriterium (neben der Umsatzschwelle) einzuführen. Schließlich sieht der Entwurf vor, private Schadenersatzklagen bei Kartellverstößen zu erleichtern, u.a. durch Anspruch auf Herausgabe von Beweismitteln und Umkehr der Beweislast (Schadenvermutung bei Kartellverstößen).

5 Deutschland will das in unserer ersten Studie thematisierte Finanzierungsproblem von Start-ups in der Wachstumsphase angehen. Das Bundesministerium der Finan- zen erarbeitet derzeit die Eckdaten für einen mit insgesamt 20 Mrd. EUR ausgestat- teten, vom Bund und Wagniskapitalgebern kofinanzierten Tech Growth Fund. Die Förderung digitaler Start-ups erscheint umso dringlicher, als die Gründungstätigkeit in Deutschland auf ein Rekordtief gesunken ist.

Dagegen bleibt ein weiteres strukturelles Problem auf absehbare Zeit ungelöst: Zum Auf- und Ausbau einer wettbewerbsstarken europäischen Internetökonomie bedarf es eines flächendeckenden Glasfaser-Breitbandnetzes. Nur auf seiner Basis werden neue Dienste wie autonomes Fahren überhaupt möglich und nur unter dieser Vor- aussetzung finden sich Investoren, die Geld in derart kapitalintensive und risikobe- haftete Zukunftsprojekte stecken. Obwohl die Bedeutung der Glasfaser nicht zuletzt für leistungsfähige Mobilfunknetze längst erkannt ist, bewegen sich Deutschland und viele andere europäische Staaten immer noch zu langsam. Die Bundesregierung schreibt mit starrem Blick auf 2018 ihr wenig ambitioniertes Ziel eines flächen- deckenden 50 Mbit/s-Netzes fort. Dabei ist klar: Wegen des anhaltenden Investiti- onsstaus beim schnellen Internet und der künstlichen Lebenszeitverlängerung von Übergangstechnologien wie Vectoring fehlt es speziell Deutschland an elementaren Voraussetzungen für eine wettbewerbsfähige und leistungsstarke Plattformökonomie. Einige Länder Asiens (Korea, Japan, Singapur), aber auch europäische Volkswirtschaf- ten (Schweden, Norwegen, Niederlande) sind beim Ausbau der Netzinfrastruktur etliche Jahre voraus. Um den Rückstand beim schnellen Internet aufzuholen, bedarf es nicht zuletzt eines wettbewerbsfördernden rechtlichen Rahmens, wie die IE.F- Studie „Europe’s Next Generation Networks: The Essential Role of Pro-Competitive Access Regulation“ jüngst gezeigt hat.

Die aktuelle Entwicklung wirft wirtschafts- und ordnungspolitische Fragen auf, die vor dem Hintergrund des rasanten Wachstums führender Plattformen speziell in den USA und Asien rasch zu beantworten sind: Welcher Stellenwert kommt digitalen Plattformen für die Dynamisierung einer Volkswirtschaft zu? Sind sie Heilsbringer, die das Problem einer anhaltenden Wachstumsschwäche lösen können? Oder sind sie potenzielle Gefährder unserer wettbewerblichen Ordnung?

6 Diese Fragen rühren an Grundüberzeugungen, denn Plattformen sind – auch von kritischen Stimmen unbestritten – starke und nachhaltig wirkende Impulsgeber nicht nur für die Internetökonomie, sondern für die Gesellschaft insgesamt: Sie verändern viele Bereiche des täglichen Lebens, von der Anbahnung und Abwicklung von Ge- schäften über Nutzungspräferenzen und Konsumverhalten von Verbrauchern bis hin zu der Art, wie wir als Personen miteinander in Beziehung treten und kommunizie- ren. Es geht um nicht weniger als die Aus- und Umgestaltung unserer sozioökono- mischen Ordnung im digitalen Zeitalter.

Deshalb muss und soll diese Debatte auch politisch geführt werden. Mit der Wahl zum Deutschen Bundestag und der Präsidentschaftswahl in Frankreich stehen in 2017 wichtige Richtungsentscheidungen an. Plattformen sind ein essenzieller Bestand- teil unserer Lebens- und Arbeitswelt – und doch herrscht in weiten Teilen der Bevöl- kerung immer noch Unwissenheit darüber, wie sie funktionieren und was sie leisten. Dabei geht das Thema jeden Bürger an!

Als überparteiliche Denkfabrik und unabhängiger Ratgeber hat die IE.F gemeinsam mit Roland Berger die wichtigsten Argumente und Positionen zum Umgang mit di- gitalen Plattformen gesammelt, konsolidiert und weiterentwickelt. Die vorliegende Studie liefert eine fundierte Faktenbasis für einen aufgeklärten Diskurs und plädiert im Ergebnis für eine differenzierte Betrachtung: Ja, digitale Plattformen sind Wachs- tumsmotoren; sie können entscheidend zur Innovationsfähigkeit unserer europäi- schen Volkswirtschaften beitragen und hohe Wohlfahrtseffekte generieren, die jedem Verbraucher zugutekommen. Sie bedürfen aber, um dieses Potenzial vollumfänglich nutzen zu können, eines ordnungspolitischen Rahmens, der für fairen Wettbewerb und echte Wahlfreiheit in digitalen Märkten sorgt und neuen, innovativen Anbietern einen ungehinderten Markteintritt ermöglicht. Dieses Ziel einer innovativen, wett- bewerbsfreundlichen und wachstumsstarken Internetökonomie, das wir in zehn konkrete Handlungsempfehlungen übersetzt haben, sollte zum Leitgedanken unse- rer deutschen und europäischen Wettbewerbspolitik werden.

Wir freuen uns auf die konstruktive Zusammenarbeit und auch kritische Auseinan- dersetzung mit allen, die an diesem Ziel mitwirken wollen.

7 „ Den Rahmen für Inno vation, Wachstum, Wettbewerb, Sicherheit, Verbraucher- und Datenschutz in der digitalen Wirtschaft können wir in maß geblichen Teilen nur gemeinsam auf der europäischen Ebene setzen.“

Die Bundesminister Sigmar Gabriel (Wirtschaft und Energie), Thomas de Maizière (Inneres), Heiko Maas (Justiz und Verbraucherschutz) sowie Alexander Dobrindt (Verkehr und digitale Infrastruktur) in einem gemeinsamen Brief an die EU-Kommission

8 Inhalt

SIEGESZUG: DIE MARKTSTELLUNG DIGITALER PLATTFORMEN 11 Schlüsselspieler der Internetökonomie 15 Innovations- und Wertschöpfungspotenzial 19 Die europäische Agenda 23

GENCODE: WIE DIGITALE PLATTFORMEN FUNKTIONIEREN 29 Charakteristika 31 Wettbewerbsmuster 38 Marktmacht und Systemrelevanz 49

SPIELREGELN: WIE MEHR WETT BEWERB GESCHAFFEN WERDEN KANN 61 Aktueller Rechtsrahmen 62 Handlungsbedarfe 66 Handlungskonzept 74

WACHSTUMSAGENDA: POLITISCHE HANDLUNGS EMPFEHLUNGEN 83

ZIELBILD: SUPERSTARS MADE IN EUROPE 90

9 10 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

SIEGESZUG: DIE MARKT- STELLUNG DIGI TALER PLATTFORMEN

Als Wertschöpfer und Innovatoren sind digitale Plattformen heute zentrale Akteure der Weltwirtschaft. Doch Europa proftiert zu wenig von ihrem Wachstumspotenzial.

11 Digitale Plattformen sind die ökonomischen Superstars Top 10 befinden sich mit Facebook und Tencent noch unserer Zeit, die weltweit nahezu unbegrenzte Wachs- zwei weitere Unternehmen, die vollständig auf netz- tumsfantasien auslösen. Mit ihrem Wertschöpfungs- werkbasierte Geschäftsmodelle setzen. →A und Innovationspotenzial dominieren sie nicht nur das • Vier der fünf aktuell wertvollsten Marken der Welt sind Internet und seine Ökosysteme, sondern zunehmend digitale Plattformen. Schon seit Längerem zählen die globale Wirtschaft insgesamt. Zur Illustration: Apple, Google und Microsoft zur Spitzengruppe im all- jährlichen Forbes-Ranking. Dieses Jahr schaffte mit • Die vier größten Unternehmen der Welt (gemessen am Face book eine weitere Plattform den Sprung in die Börsenwert) sind derzeit digitale Plattformen (Apple, Top 5 – Coca-Cola ist nun letzter Vertreter der „Old Eco- Alphabet/Google ¹, Microsoft, Amazon). Unter den nomy“ darin. →B

1 Alphabet Inc. wurde am 2. Oktober 2015 als Dachgesellschaft von Google Inc. gegründet. Das Kerngeschäft frmiert weiter unter dem ehemaligen Namen.

A Hoch im Kurs: 6 der 10 wertvollsten Unternehmen der Welt sind digitale Plattformen – im Technologiesektor sogar alle Top 5

Top 10 globale Unternehmen Top 10 globale Technologieunternehmen

Marktkapitalisierung Veränderung Marktkapitalisierung Veränderung 06.09.2016 [Mrd. EUR] 2015–2016 [%] 06.09.2016 [Mrd. EUR] 2015–2016 [%]

Apple 517 –10 Apple 517 –10

Alphabet /Google 483 25 Alphabet /Google 483 25

Microsoft 398 27 Microsoft 398 27 Amazon 329 52 Facebook 326 45

Berkshire Hathaway 329 12 Tencent 233 66

Facebook 326 45 Intel 153 4

ExxonMobil 324 18 Oracle 151 20 Johnson & Johnson 291 25 Cisco Systems 142 19

General Electric 246 9 IBM 136 5

Tencent 233 66 TSMC* 132 51

digitale Plattformen andere Quelle: Bloomberg; Roland Berger * Taiwan Semiconductor Manufacturing Co

12 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

• Manche digitale Plattformen sind so groß wie ganze für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, sich Volkswirtschaften. Facebook zählte nach eigenen An- mit dem Phänomen der „Ökonomie der Superstars“ in- gaben im zweiten Quartal 2016 über 1,7 Mrd. „monthly tensiv auseinanderzusetzen: Worauf gründet der Sieges- active users“ – das sind rund 300 Mio. Menschen mehr zug digitaler Plattformen? Wie können Volkswirtschaf- als China Einwohner hat. Apple erwirtschaftete in 2015 ten von ihrer ökonomischen Dynamik profitieren? Wie mit 233 Mrd. USD ein Umsatzvolumen, das dem Brut- lässt sich der ordnungspolitische Rahmen so gestalten, toinlandsprodukt einer mittelgroßen Nation wie Finn- dass Wohlfahrtseffekte maximiert und mögliche nega- land entspricht. tive Begleiterscheinungen begrenzt werden? Diese Fra- gen beantwortet die vorliegende Studie und entwickelt Digitale Plattformen entwickeln neue, hochskalierbare damit einen Leitfaden zur Forcierung eines innovati- Geschäftsmodelle und erobern damit Branche um Bran- onsfördernden Wettbewerbs mit fairen Chancen für alle che, Region um Region, Markt um Markt. Grund genug Marktteilnehmer.

B Starke Marken: Die mächtigsten Brands kommen heute aus der Internetökonomie

Markenwert nach Forbes, 2015 und 2016 [Mrd. USD]

2015: Plattformen = 280 Mrd. USD (73%) 2016: Plattformen = 364 Mrd. USD (86%)

50 53 IBM Facebook

50 145 59 154 Coca-Cola Apple Coca-Cola Apple

66 83 Google Google 69 75 Microsoft Microsoft

Quelle: Forbes.com; Roland Berger

13 „ Es erscheint ziemlich wahrscheinlich, dass Google, Facebook und Co. irgendwann die grund- legenden Infrastrukturen kontrollieren werden, auf denen unsere Welt basiert.“

Evgeny Morozov Publizist und Internetforscher, Harvard University

14 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

1. Schlüsselspieler der Kurzum: Ohne Plattformen läuft im Internet nichts mehr und auch andere Märkte und Industrien stehen zu ihnen Internetökonomie in engen Austauschbeziehungen. Privatnutzer brauchen Ein Blick auf die Marktstellung digitaler Plattformen sie, um Informationen abzurufen, Inhalte zu beziehen innerhalb der Internetökonomie zeigt, dass sie sich zu oder miteinander zu kommunizieren. Kommerzielle Anlauf- und Kristallisationspunkten im Netz entwickelt Nutzer benötigen sie als Intermediär zu ihren Kunden. haben. Sämtliche der zehn meistbesuchten Websites der Die gesamte Konnektivität und Intelligenz des Internets, Welt sind heute Plattformen – mit YouTube, Google und ja der vernetzten Gesellschaft schlechthin, ist heute in Facebook als den unangefochtenen Spitzenreitern. Acht Plattformen gebündelt. der Top-Ten-Platzierten stammen aus den USA, die an- deren beiden aus China. →C Diese Zusammenhänge sind umso beachtenswerter, da einige digitale Plattformen in ihrem Segment eine be- Das Datenvolumen, das über diese Plattformen abgewi- herrschende Wettbewerbsposition einnehmen mit ckelt wird, und die dafür benötigte Bandbreite wachsen Marktanteilen häufig weit jenseits der kartellrechtlich exponentiell. Allein YouTube und Facebook verursachen kritischen Schwellenwerte von 40% (Marktbeherr- weltweit rund ein Drittel des mobilen Datenverkehrs. schungsvermutung gemäß GWB) bzw. 50% (Rechtspre- Plattformen entwickeln sich zu Drehscheiben des In- chung des Europäischen Gerichtshofs). Nur ein Beispiel: ternets, die alle zentralen Knotenpunkte koordinieren Mit seiner Suchmaschine Google und seinem mobilen und kontrollieren. Alphabet/Google, Microsoft und Betriebssystem Android hält Alphabet gleich in zwei Amazon betreiben Schätzungen zufolge jeweils mehr sensiblen Marktsegmenten eine monopolähnliche Wett- als 1 Mio. Server. bewerbsposition. →D

Auch für Unternehmen der „Old Economy“ gewinnen Vor dem Hintergrund ihrer strategischen Schlüsselstel- Plattformen an Bedeutung – als Vertriebskanal, als Wer- lung an der Schnittstelle zum Kunden erleben digitale beträger, als Geschäftspartner. Mit einer Reichweite von Plattformen derzeit einen Gründungsboom: Je nach de- knapp einem Drittel der Weltbevölkerung (29%) sind finitorischer Abgrenzung betreiben heute zwischen 50 Social Media ein unverzichtbares Marketingtool – vier und 70% aller Unicorns (also Start-ups mit einer Bewer- von fünf „Fortune Global 100 Companies“ nutzen heute tung von mehr als 1 Mrd. USD) ein Plattformmodell. Zu- mindestens einen SoMe-Kanal für ihre Kundenkommu- gute kommt ihnen auch, dass VC-Gesellschaften mit nikation. Die chinesische Handelsplattform Alibaba ihrem Fokus auf Wachstum und Kapitalrendite heute vermittelt Transaktionen zwischen 30 Mio. Händlern bevorzugt in digitale Start-ups investieren. So erhielten und 350 Mio. Konsumenten und kontrolliert damit 80% Uber oder Airbnb bislang das 15- bis 20-Fache ihres Um- des E-Commerce im Land. satzes an Venture Capital, Dropbox sogar das 40-Fache.

15 Die realwirtschaftliche Entwicklung bestätigt die Attrak- • Sowohl Marktkapitalisierung als auch Enterprise Value tivität digitaler Geschäftsmodelle. Plattformen sind die der führenden Plattformen Alphabet/Google, Apple, dynamischsten Akteure der Internetökonomie. Sie haben Face book und Amazon haben sich über die vergange- andere Unternehmen bei den wichtigsten Kennzahlen nen zehn Jahre hinweg verfünffacht. überflügelt. Auch hierfür einige exemplarische Belege: Wie kommt es zu diesen Wertsteigerungen? Handelt es • Digitale Plattformen werden aktuell an der Börse deut- sich um eine Blase vergleichbar der Finanzökonomie lich höher bewertet als vergleichbare Industrieunter- vor 2008 – oder sind die Bewertungen der Marktteilneh- nehmen aus der „Old Economy“, auch wenn sich eine mer fundamental gerechtfertigt? Eine Analyse der Trei- leichte Kurskorrektur abzeichnet. →E ber der Internetökonomie macht deutlich, worin die • Die Rentabilität (gemessen an der EBIT-Marge) von Wettbewerbsvorteile digitaler Plattformen bestehen und Facebook, Apple oder Alphabet/Google übertraf in 2015 was ihre Sonderstellung ausmacht. jeweils die 25%-Marke. Spitzenreiter Facebook schaff- te 35%. Zum Vergleich: BMW kam auf 10%.

C Publikumsmagneten: Die weltweit am häufgsten besuchten Websites sind ausnahmslos Plattformen

Seitenbesucher pro Tag [Mio.]*

YouTube.com 1.500 Google.com 1.400 Facebook.com 960 .com 460 Yahoo.com 390 Wikipedia.org 360 Qq.com 240 Amazon.com 230 Live.com 220 Twitter.com 200

0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1.000 1.100 1.200 1.300 1.400 1.500

Quelle: Alexa * Stand 11.09.2016

16 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

D Herrscha ft der Wenigen: Die führenden digitalen Plattformen haben in ihrem jeweiligen Segment eine dominante Marktposition aufgebaut

Suchmaschinen 1) Smartphone OS 2) Apps 3) Social Media (USA) 4)

14,8% iOS (Apple) 35,9% Play Store 43,2% (Google) 63,1% Facebook App Store (Apple) 89,4% 84,1% Google Android (Google) 22,7% YouTube

Messenger 5) Desktop OS 6) E-Commerce 7) Online-Werbung (USA) 8)

22,4% WhatsApp 14,5% iOS (Apple) 50,1% 20,2% Google 77,5% 89,8% Windows (Microsoft) Amazon 15,5% Facebook

1) Globaler Marktanteil bei Suchmaschinen, April 2016, Statista 2) Marktanteil Betriebssysteme auf verkauften Smartphones weltweit, Q1 2016, Statista 3) Globaler Umsatzanteil bei App-Verkäufen, 2015, Statista, App Annie 4) Social-Media-Seiten in den USA nach Anteil an Besuchen, Mai 2016, Statista 5) Globaler Anteil aktiver Nutzer der 10 beliebtesten Messenger, April 2016, Statista 6) Globaler Marktanteil stationärer Betriebssysteme, Dezember 2015, Statista 7) Umsatzanteil unter den 3 weltgrößten E-Commerce-Unternehmen, 2014, Statista 8) Online-Werbeumsätze in den USA, 2015, KPCB

17 E Börsenstars: Die führenden digitalen Plattformen werden deutlich höher bewertet als die weltweit größten Industrieunternehmen

Bewertungen Plattformen vs. Industrie, globale Top 8 [Mrd. EUR]*

Marktkapitalisierung Enterprise Value

2.572 2.288

Alphabet/ Apple Google

Apple Alphabet/ Google

Microsoft Microsoft

Amazon 953 Amazon

801 General Electric

Facebook Facebook General Electric Siemens

3M 3M Tencent Tencent Siemens United Technologies United Technologies Honeywell Honeywell Union Pacifc Alibaba Boeing Alibaba Union Pacifc Lockheed Martin Baidu Lockheed Martin Baidu Boeing

Plattformen Industrie Plattformen Industrie

Quelle: Bloomberg; Roland Berger * Stand 06.09.2016

18 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

2. Innovations- und Damit gelingt es beiden, neue Märkte zu erschließen bzw. bestehende zu vergrößern. Individuelle Fahrdienstleis- Wertschöpfungspotenzial tungen oder eine komfortable Großstadtunterkunft wer- Digitale Plattformen sind wichtige Innovations-, Pro- den auch für weniger betuchte Kunden erschwinglich. duktivitäts- und Wachstumstreiber, von deren Wert- schöpfung zahlreiche Marktteilnehmer und Volkswirt- Verbraucher profitieren von diesen Angeboten auf viel- schaften insgesamt profitieren. Einige ihrer ökonomi- fache Weise. Allein die Preisreduktionen, die mit On- schen Leistungen und Wirkungen sind bekannt, andere line-Plattformen infolge höherer Markttransparenz und müssen erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerufen intensiveren Wettbewerbs einhergehen, beziffert eine werden. →F eher konservative Studie von Copenhagen Economics auf europaweit jährlich mindestens 1 Mrd. EUR bzw. Am offensichtlichsten ist, dass Plattformen radikal in- 50 EUR pro Konsument. Hinzu kommen ein breiteres novieren. Sie fördern den ökonomischen Strukturwan- Angebot, Annehmlichkeiten wie Heimlieferung oder del, indem sie neue, häufig maßgeschneiderte Produkte auch Zeitersparnis und -unabhängigkeit im Kaufpro- und Services in einer nie dagewesenen Vielfalt und zess. Zudem ergeben sich durch Verkauf, Vermietung Schlagzahl anbieten – regelmäßig auch in neuartiger oder nebenberuflich erbrachte Dienstleistungen nicht Kombination bzw. Bündelung. So lassen sich auf Tou- unerhebliche Zuverdienstmöglichkeiten. ristikportalen wie TripAdvisor nicht nur Erfahrungsbe- richte abgeben und einsehen, sondern Nutzer bekom- Im selben Maße wie die Nachfrageseite gewinnt auch men auch komplette Reisen samt Flug, Unterkunft, die Angebotsseite: Gerade kleinen oder mittleren Un- Restaurantbesuch, Mietwagen oder sogar Charterboot ternehmen (KMU) mit oft überschaubarem Marketing- vermittelt – alles über eine Kundenschnittstelle. Ande- budget erleichtern Plattformen den Markteintritt. Sie re Leistungen wie Online-Auktionen für Gebrauchtgüter werden in die Lage versetzt, ihre Produkte und Dienst- und Werbeplätze, Audio-/Video streaming oder auch das leistungen breiter, großräumiger und mit weniger Streu- globale, jederzeitige Teilen von selbst erstellten Inhalten verlusten zu vermarkten, sie verbessern ihre Exportmög- wurden durch Plattformen überhaupt erst erfunden. lichkeiten und können z.B. durch Direktvertrieb erheb- liche Kosten sparen. Etwas weniger offensichtlich als radikale Produkt- und Service-Innovationen sind die mit Plattformen verbun- Innovation, Kundennutzen und Markterschließung sind denen Geschäftsmodell-Innovationen. So haben Uber wichtige Hebel, mit denen Plattformen die Effizienz ei- oder Airbnb mit ihrem Sharing-Ansatz eine bessere ner Volkswirtschaft steigern. Doch es gibt noch mehr: Ressourcennutzung bei günstigeren Preisen ermög- Plattformen reduzieren massiv die Transaktionskosten. licht – die einen im Taxi-, die anderen im Gastgewerbe. Dies gilt sowohl ex ante, also vor Geschäftsabschluss, in-

19 F Wachstumsturbo: Digitale Plattformen haben ein breit wirkendes Innovations-, Wertschöpfungs- und Produktivitätspotenzial

Volkswirtschaftlicher Nutzen

Rolle digitaler Plattformen

Reduzierer von Garant von Innovations- Generator von Markt- Transaktions- Wohlfahrts- treiber Kunden nutzen erschließer kosten efekten

→ Maßgeschneiderte → Verbreitertes → Angebots-/Nach- → Minderung von → Überwindung von Produkte & Services Angebot frageaggregation Informations-, Marktfriktionen Kommunikations-, → Neuartige Produkt- → Convenience → Verbesserter → Gesteigerte Verhandlungs- und kombis/-bündel Markteintritt KMU allokative Efzienz → Größere Preis-/ Logistikkosten → Geschäftsmodell- Markttransparenz → Globale Export- → Standardisierung → Eingrenzung von Innovationen möglichkeiten → Teilen von Risiken → Vertrauensaufbau/ → Flexible Ressourcen/ → Vertriebs- -stärkung → Flexibilisierung der Organisations- Vermögenswerten optimierung Produktion → Nutzbarmachung modelle von Technologie

Quelle: Roland Berger

20 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

dem sie Informations-, Kommunikations- und Verhand- befürchten sind. Zugleich vereinfacht ihr netzwerkba- lungskosten verringern – das „Matching“ zwischen Käu- siertes Organisationsdesign die Kollaboration mit Ex- fer und Verkäufer wird durch klar definierte und standar- ternen. Plattformen können sehr viel mehr Ressourcen disierte Geschäftsprozeduren wesentlich vereinfacht. koordinieren als Pipelines mit ihrer linear strukturierten Dies gilt aber ebenso und in noch höherem Maße ex post: Wertschöpfungskette. Sie werden dadurch nicht nur Plattformen minimieren die Logistikkosten bei der Ge- effizienter, sondern erschließen sich auch neue Quellen schäftsabwicklung und nicht zuletzt die oft prohibitiv der Innovation. wirkenden Risikokosten beim Erwerb besonders wertvol- ler Güter. Durch Ratings zum Geschäftsverhalten des Ver- Mit ihren Geschäftsmodellen avancieren Plattformen tragspartners sinkt die Gefahr eines Teil- oder Totalver- ebenso zur globalen Erfolgsstory von Unternehmen wie lusts, z.B. in Form von Minderleistung oder gar Betrug. zum Garanten von Wohlfahrtseffekten für Bürger und Konsumenten. Sie erhöhen die Markt- und Preistrans- Die Reduzierung von Transaktionskosten ermöglicht parenz, vergrößern die Auswahl und vereinfachen das Plattformen zugleich eine maximale Skalierung: Bereits Matching, sie steigern die Kundenorientierung, schaffen mit minimalem Kapital- und Ressourceneinsatz lassen effizientere Strukturen und standardisieren Abläufe. sich zusätzliche Werteinheiten generieren – die Grenz- Darüber hinaus öffnen sie verschlossene oder erfinden kosten tendieren gegen null, weshalb auch von einer ganz neue Märkte, indem sie Friktionen wie mangelndes „zero marginal cost society“ (Jeremy Rifkin) bzw. „supe- Vertrauen und/oder prohibitive Kosten (eBay-Auktio- rior marginal economics of production and distribution“ nen, Airbnb-Vermietungen, Uber-Fahrdienstleistungen) (Parker/Van Alstyne/Choudary) gesprochen wird. Pro- beseitigen und so Transaktionen zustande bringen, die duktion und Distribution nahezu zum Nulltarif markie- ohne ihr Zutun niemals stattgefunden hätten. ren einen Kernpunkt der Überlegenheit des netzwerk- basierten Plattformmodells gegenüber der kosteninten- Nicht zuletzt beruht das Plattformmodell auf dem über- siv zu befüllenden „Pipeline“ eines klassischen Indus- legenen Einsatz von Technologie – nicht als Selbst- trieunternehmens. zweck, sondern zur Erreichung maximaler Effizienz und Kundenzentrierung. Möglich wird der strategische Ein- Diese „schlanke“ Aufstellung bietet weitere entschei- satz von Technologie durch die Vernetzung von immer dende Vorteile: Weniger Vermögenswerte bedeuten eine mehr Menschen und Maschinen, durch die exponenti- geringere Pfadabhängigkeit – Plattformen können fle- elle Steigerung von Rechenleistung und Übertragungs- xibler am Markt agieren und schneller auf Veränderun- kapazität, durch Verbesserungen in der Fertigungstech- gen im Umfeld reagieren, weil nicht bei jeder Umstel- nik (Miniaturisierung) und aktuell durch die Verlage- lung oder Anpassung des Geschäftsmodells „sunk costs“ rung von Infrastrukturen in die Cloud, die den Traum z.B. in Form abzuschreibender Anlageninvestitionen zu von einer „assetless company“, einem Unternehmen

21 ohne größere eigene materielle Vermögenswerte, in eine einzigartige Marktposition mit nachhaltigen Wett- greifbare Nähe rücken lässt. bewerbsvorteilen, die ihnen Spitzenwerte bei Marktan- teilen, Wachstum, Gewinnen und anderen Kennzahlen Mit all diesen Hebeln steigern Plattformen die allokati- sichern und auf Partnerunternehmen in ihrem Netzwerk ve Effizienz einer Volkswirtschaft, d.h., sie sorgen für abstrahlen. eine vorteilhafte Zuordnung von Ressourcen und Pro- duktionsfaktoren. Mit ihrer Innovationsstärke geben sie Wie hoch Effizienzsteigerungen durch die genannten wirtschaftliche Impulse und eröffnen neue Geschäfts- Faktoren sein können, demonstriert der voranschrei- felder. Ihre Wertschöpfungsdynamik verschafft ihnen tende Strukturwandel vieler Branchen: In den USA sank

G Netzrevolution: Das Plattform-Business erzeugt eine wirtschaftliche Dynamik, die traditionellen Geschäftsmodellen weit überlegen ist

Wachstumsdynamik 2013-2015 [CAGR]

Umsatzwachstum Börsenwertzuwachs 31

22

18

13 12

6 6

–4 Bereitstellung Design Erbringung Koordination Bereitstellung Design Erbringung Koordination physischer techno logischer von Dienst - von Netz werken physischer techno logischer von Dienst - von Netz werken Güter Lösungen leistungen Güter Lösungen leistungen

Quelle: Bloomberg; Roland Berger

22 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

z.B. die Zahl der (stationären) Reisebüros zwischen 2000 3. Die europäische Agenda und 2014 um gut die Hälfte und in Deutschland um fast ein Drittel. Nach dem linearen Wertschöpfungsmodell Digitale Plattformen bergen ökonomische Potenziale, produzierte und mit hohem Werbeaufwand in den Markt an denen Europa derzeit zu wenig partizipiert. Die Grün- gedrückte Standard-Vermittlungsdienstleistungen sind de dafür sind vielfältig. heute kaum mehr konkurrenzfähig. Zunächst eine kurze Bestandsaufnahme. Nur 27 von 176 Auch wenn die Etablierung digitaler Plattformen in ei- digitalen Plattformen, die das Centre for Global Enter- nigen Branchen mit Jobverlusten verbunden sein kann prise (CGE) in einer globalen Studie Ende 2015 unter- (aber nicht muss), so ist unstrittig, dass ihre Geschäfts- sucht hat, haben ihre Heimat in Europa; immerhin 82 modelle die wirtschaftliche Dynamik und die Innovati- sind der Region Asien zuzuordnen und jede vierte digi- onskraft einer Volkswirtschaft nachhaltig stärken und tale Plattform (44 an der Zahl) ist in der Bay Area an der so unterm Strich zu Wohlfahrtsgewinnen und einer US-Westküste beheimatet. Schwerer noch als die geo- besseren Wettbewerbsfähigkeit führen. grafische Ballung wiegt die Konzentration der Finanz- kraft: Die Betreiber aus dem Silicon Valley und seiner Wie groß diese Dynamik zuletzt gewesen ist, zeigt ein Umgebung vereinen über 50% des kumulierten Börsen- Vergleich des Wachstums von Umsatz und Börsenwert werts aller Plattformen auf sich. →H verschiedener Geschäftsmodelle über die vergangenen drei Jahre: Demnach hat die Koordination von Netzwer- Europa spielt in der Plattformökonomie derzeit fast nur ken im Vergleich zur Bereitstellung physischer Güter, als Absatzmarkt und Entwicklungsstandort für die zum Design technologischer Lösungen oder zur Erbrin- US-dominierten App Stores und Softwareschmieden gung von Dienstleistungen in beiden Dimensionen die eine Rolle. Bei den Downloads von Consumer Apps liegt mit Abstand höchsten Zuwächse verzeichnet. →G Europa nach Angaben der EU hinter China, aber vor den USA. Immerhin 42% des weltweiten Umsatzes mit Aufgrund ihrer überlegenen Allokationseffizienz und Consumer Apps in 2013 wurden durch europäische Ent- ihres schlanken Organisationsdesigns sind digitale Platt- wickler generiert, mit weiterhin viel Wachstums- und formen keine vorübergehende Erscheinung – sondern Beschäftigungspotenzial. Doch von dieser Wertschöp- gekommen, um zu bleiben. fung kommt zu wenig in Europa an, denn die meisten Consumer Apps werden in Auftragsarbeit entwickelt.

Die Wertschöpfungslücke hat – neben der weltweit ein- zigartigen Ballung von Technologie und Wissen im Si- licon Valley – auch mit den ungleichen Voraussetzungen

23 „ Die Langsamkeit der Regierung ist ein Grund, warum Silicon Valley so gut funktioniert.“

Sebastian Thrun Gründer und Pionier der künstlichen Intelligenz

24 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

zu tun, unter denen digitale Start-ups global operieren. entscheidungen setzen oder auf prinzipienbasierte Dazu zählen schlechtere Finanzierungsbedingungen Richtlinien, harte Sanktionsmechanismen und schnel- und insbesondere das Fehlen von Wachstumskapital in le Rechtsdurchsetzung? Reichen bestehende Bestim- Europa. Als Standortfaktor relevant ist ferner ein deut- mungen aus oder braucht man ganz neue? liches Regulierungsgefälle, z.B. gibt es erhebliche Un- • Schließlich, als größte Herausforderung: Wie lassen terschiede in den Datenschutzniveaus. Dagegen sind sich Markteintrittsbarrieren senken? Soll man den Probleme der behördlichen Reaktionszeit und der strin- Konzentrationstendenzen netzwerkbasierter Märkte genten Rechtsdurchsetzung auch in den USA gegenwär- entgegenwirken („winner takes all“)? Oder bietet am tig – was im Ergebnis den führenden Plattformbetrei- Ende sogar die Dominanz einer Plattform ein Maxi- bern nutzt, die ihre Marktstellung festigen können. Der mum an ökonomischer Effizienz? deutsch-amerikanische Gründer und ehemalige Stan- ford-Professor Sebastian Thrun stellt fest: „Die Langsam- Gerade zur letzten Frage, ob Monopole markteffizient keit der Regierung ist ein Grund, warum Silicon Valley sein können, scheint sich zunehmend ein transatlanti- so gut funktioniert.“ scher Konsens abzuzeichnen. Noch vor zwei Jahren schrieb der deutsch-amerikanische Venture Capitalist Es bleiben viele offene Fragen, die geklärt werden müs- Peter Thiel unter dem provokanten Titel „Competition sen, damit sich junge Wettbewerber aus Europa positiv is for losers“, dass Monopolgewinne innovationsför- entwickeln und ihr kreatives Potenzial entfalten können: dernd seien, weil nur Unternehmen ohne direkten Wett- bewerb die notwendige Kapitalakkumulation für • Wie lässt sich die Fragmentierung der europäischen Moonshot-Projekte aufbringen könnten („Monopolists Internetökonomie überwinden? Was braucht es, um can afford to think about things other than making den digitalen Binnenmarkt zu realisieren? Unter wel- money; non-monopolists can’t“). chen Bedingungen können global wettbewerbsfähige Plattformen auch in Deutschland und Europa entste- Entgegen diesem libertären Grundverständnis setzt sich hen und ihre wirtschaftliche Dynamik entfalten? heute auch in den USA die Erkenntnis durch, dass es • Wie lässt sich die Einheitlichkeit des ordnungspoliti- ohne einen klaren Ordnungsrahmen nicht geht. So schen Rahmens sowohl über Landes- als auch über meinte die einflussreiche demokratische US-Senatorin Branchengrenzen hinweg sicherstellen? Sind z.B. Sub- Elizabeth Warren Ende Juni 2016: „Google, Apple und stitutdienste wie oder WhatsApp genauso zu Amazon verdienen es, hochprofitabel und erfolgreich behandeln wie ihre Pendants aus der Welt der Tele- zu sein. Aber die Möglichkeit, sich mit den Besten zu kommunikation (Telefon, SMS)? messen, muss offen bleiben für neue Marktteilnehmer • Was ist das richtige Regulierungsniveau? Soll man pri- und kleinere Wettbewerber, die auf ihre Chance pochen, mär auf Selbstkontrolle, Freiwilligkeit und Einzelfall- die Welt erneut zu verändern.“

25 Vor allem in Deutschland und Frankreich hält man die prozesses erste Leitideen zur Wettbewerbsförderung bei Ballung von Marktmacht stärker noch als in den USA digitalen Plattformen entwickelt. Dazu zählen: oder in Asien für einen ordnungspolitischen Sündenfall, weil Monopole imstande seien, Innovationen zu blo- • Rechtskonsistenz (einheitliche Vorschriften für ver- ckieren und die allokative Effizienz zu reduzieren – also gleichbare Dienste bei tendenziell weniger Regularien) einer dynamischen, wachstumsorientierten Internet- • Verpflichtung zu verantwortlichem Handeln und zum ökonomie entgegenstünden. Schutz von Kernwerten (z.B. Verhaltenskodex zum Um- gang mit Hassreden) Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Kommis- • Stärkung der Vertrauensbasis (z.B. Bekämpfung irre- sion u.a. im Rahmen eines öffentlichen Konsultations- führender Ratings, Erhöhung von Transparenz und

H Globale Schiefage: Nordamerikanische Unternehmen stellen fast drei Viertel des Börsenwerts digitaler Plattformen

Zahl und Wert von Plattformen im geografschen Vergleich [2015]

Anzahl an Plattformen Marktkapitalisierung [Mrd. USD]

Anteil [%] Anteil [%]

Silicon Valley Silicon Valley 44 25 2.229 52 Bay Area Bay Area

restl. restl. 20 11 894 21 Nordamerika Nordamerika

Asien 82 47 Asien 930 21

Europa 27 15 Europa 181 4

Afrika und 3 2 Afrika und 69 2 Lateinamerika Lateinamerika

0 25 50 75 100 0 500 1.000 1.500 2.000 2.500

Nordamerika andere Quelle: CGE Global Platform Survey

26 Siegeszug: Die Markt stellung digitaler Plattformen

Fairness der Geschäftspraktiken) Wettbewerbsregeln notwendig. Darüber hinaus gilt es, • Offene Märkte für eine datengetriebene Wirtschaft bestehende Bestimmungen zu erweitern und z.B. im (z.B. durch Verbesserung der Datenportabilität) Rahmen der GWB-Novelle an die besonderen Heraus- • Innovationsfreundliches Umfeld (z.B. durch Feedback forderungen durch die Plattformökonomie anzupassen. der mit Plattformanbietern interagierenden Unterneh- Wo spezifische Maßnahmen zur Wettbewerbsförderung men und Dienstleister) sinnvoll sind und wie sich diese praktikabel umsetzen lassen, werden wir im Folgenden erörtern. Dafür ist zu- Der aktuelle Stand der Diskussion in Europa und den nächst ein tieferes Verständnis der Geschäftsmodelle USA lässt sich zu folgendem Zielbild verdichten: digitaler Plattformen erforderlich.

→ Wir brauchen eine Internetökonomie, die gekenn- zeichnet ist durch Innovationsstärke, hohe Wertschöp- fung, fairen Wettbewerb, vertrauensvollen Umgang mit Daten und verantwortlich handelnde Unternehmen.

Zentral ist dabei die Forderung nach einem Offenhalten der Märkte. Denn nur eine offene, wettbewerbsintensi- ve Internetökonomie ist innovativ und erzeugt eine hohe wirtschaftliche Dynamik, von der breite Gesell- schaftsschichten profitieren.

Es geht darum, für wohlfahrtssteigernde Innovation den richtigen Rahmen zu setzen. Plattformen sollen entste- hen und wachsen können – möglichst frei von Markt- eintrittsbarrieren. Unternehmen und anderen Organi- sationen soll ermöglicht werden, anonymisierte Daten aus Interaktionen im Netz umfassend zu nutzen und daraus wettbewerbsfähige Geschäftsmodelle oder Ideen zur Steigerung des Gemeinwohls (z.B. im Gesundheits- sektor) zu entwickeln.

Zur Hebung dieses Potenzials ist zunächst eine konse- quente Anwendung und Durchsetzung bestehender

27 28 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

GENCODE: WIE DIGITALE PLATTFORMEN FUNKTIONIEREN

Was digitale Plattformen im Kern ausmacht, welche Strategien sie verfolgen und wie sie auf andere Akteure wirken, ist noch nicht hinreichend verstanden. Analyse und Entschlüsselung eines Phänomens

29 Der Siegeszug digitaler Plattformen ist unbestreitbar – • Eine wissenschaftliche Definition von Parker/Van Als- die zugrunde liegenden Wirkungsfaktoren aber sind tyne/Choudary lautet: „A platform is fundamentally Gegenstand einer lebhaften wissenschaftlichen und an infrastructure designed to facilitate interactions politischen Debatte. among producers and consumers of value.“

Klar ist: Im Unterschied beispielsweise zu Produktfami- In der Praxis zeichnen sich digitale Plattformen durch lien oder technischen Systemen, die ebenfalls häufig als eine extreme Vielgestaltigkeit aus. Zu ihnen zählen u.a. „Plattformen“ bezeichnet werden, weisen digitale Platt- Umgebungen für Softwareentwicklung und -distributi- formen charakteristische Merkmale auf, die ihren spezi- on (insbesondere App Stores), Suchmaschinen, Karten- fischen Wert ausmachen. Doch welche genau sind dies? dienste, Markt- und Handelsplätze (insbesondere Ag- gregatoren und Makler), Kataloge und Verzeichnisse, Schon eine definitorische Abgrenzung ist nicht trivial. Auktions- und Bezahlsysteme, Vergleichs- und Bewer- Beispielhaft seien hier fünf Definitionen genannt, die tungsportale, Medien- und Inhaltsdienste, Online-Spie- sich in Stoßrichtung und Bandbreite klar unterscheiden: le, soziale Netzwerke, Kontaktbörsen, Kommunikations- dienste, Tools für Kollaboration (insbesondere Wikis) • Das Grünbuch des Bundeswirtschaftsministeriums und Teilen („sharing economy“) oder zur Bündelung von definiert Plattformen als internetbasierte Dienste, die Nachfrage („collective buying“) sowie im weiteren Sin- durch Aggregation, Selektion und Präsentation Auf- ne auch Betriebssysteme und Browser. merksamkeit für Inhalte erzeugen. • Die deutsche Monopolkommission spricht von Inter- Digitale Plattformen sind ein flexibles Konzept, das sich mediären, die verschiedene Nutzergruppen zusam- nicht zuletzt wegen der Dynamik von Märkten und Tech- menbringen, sodass diese wirtschaftlich oder sozial nologien ständig weiterentwickelt. Das macht eine de- interagieren können. finitorische und rechtliche Annäherung so schwierig. • Das Bundeskartellamt sieht Plattformen als Unterneh- Letztlich sind für die Betrachtung ihrer ökonomischen men an, die als Intermediäre die direkte Interaktion Wirkung jedoch weniger ihr abstrakter Status als ihre von zwei oder mehr Nutzerseiten ermöglichen, zwi- konkreten Aktivitäten relevant. Deshalb seien im Fol- schen denen indirekte Netzwerkeffekte bestehen. genden sieben Gemeinsamkeiten aufgezeigt, die den • Die Europäische Kommission bezeichnet (Online-)Platt- Kern des Plattformphänomens beschreiben. formen als Unternehmungen, die in zwei- oder mehr- seitigen Märkten operieren und das Internet nutzen, um Interaktionen zwischen unterscheidbaren, miteinander verbundenen Nutzergruppen zu ermöglichen, und so Wert für mindestens eine dieser Gruppen generieren.

30 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

1. Charakteristika nen. In der Praxis gibt es allerdings zahlreiche Hybrid- modelle. So betreibt Amazon parallel einen Eigenhandel, Aus unserer Sicht sind es sieben charakteristische Merk- bei dem es selbst als Vertragspartner auftritt, sowie ei- male, die das Wesen digitaler Plattformen ausmachen: nen „Marketplace“, bei dem es eine Transaktion im Auf- Sie fungieren als Netzknoten, Interessensabgleicher, trag Dritter vermittelt. Marktmacher, Wertschöpfer, Regelsetzer, Risikomanager und Datenverarbeiter. Im Einzelnen: Für das Verständnis ihrer Geschäftsmodelle entschei- dend ist die Existenz indirekter Netzwerkeffekte, die mit Netzknoten dem Matching einhergehen. Derartige indirekte Netz- Das erste Wesensmerkmal ist weniger trivial, als es er- werkeffekte liegen vor, wenn der Wert einer Leistung oder scheinen mag: Digitale Plattformen sind Internetakteu- eines Produkts für eine Nutzergruppe durch ein Wachs- re und fungieren als zentrale Knotenpunkte im offenen tum der anderen Nutzergruppe steigt (positive Netzwerk- Netz („internet hubs“). Das unterscheidet sie z.B. von effekte) bzw. sinkt (negative Netzwerkeffekte). Indirekte Warenbörsen und Umschlagplätzen, wie es sie seit der Netzwerke lösen damit einen Ping-Pong-Effekt aus. Zieht Antike gibt, oder auch von geschlossenen Systemen wie z.B. ein Marktplatz viele potenzielle Käufer an, so wird Kredit-/Tankkarten oder Online-Trading. Plattformen er auch für die Verkäufer attraktiver (und umgekehrt). sind in hohem Maße technolgieaffin und betreiben häu- Im Extremfall führen diese indirekten Netzwerkeffekte fig auch Cloud Services. an einen „tipping point“, also zum Kippen und schluss- endlich zur Monopolisierung eines Marktes – kein an- Interessensabgleicher derer Mitbewerber erreicht dann mehr die nötige kriti- Zweites Charakteristikum und die zentrale Funktion sche Größe, um als Matchmaker agieren zu können. digitaler Plattformen schlechthin ist der Abgleich von Passgenauigkeit und Interessensidentität („matchma- Indirekte Netzwerkeffekte können auch asymmetrisch king“), denn im Unterschied zu klassischen Netzwerken, wirken. Zu viel Werbung auf einer Content-Plattform die nur eine Nutzergruppe bedienen, sind sie in zwei- beispielsweise schreckt Leser ab. Diese Interdependenz oder mehrseitigen Märkten aktiv: Digitale Plattformen führt dazu, dass Plattformen insbesondere bei der vernetzen Nutzergruppen mit dem Ziel, ihnen eine di- Preisbildung immer beide Seiten im Auge behalten rekte, wertschöpfende und reibungslose Interaktion zu müssen. Es kann durchaus marktrational sein, die eine ermöglichen. Diese Interaktion kann, muss aber nicht Seite zu subventionieren (z.B. durch Gratisprodukte), in eine Transaktion münden. Wenn sie es tut, dann hat um damit indirekt auch die Attraktivität für die andere die Plattform i.d.R. keine Kontrolle über zentrale Trans- Marktseite zu erhöhen. In jedem Fall gilt es, die Inte- aktionsvariablen, namentlich die Preishoheit über ein ressen aller relevanten Nutzergruppen optimal auszu- Produkt oder die Ausgestaltung der Vertragskonditio- balancieren.

31 Um ihre Funktion als Intermediär zwischen unter- • Facebook hat einen globalen Marktplatz für soziale In- scheidbaren, miteinander verbundenen Nutzergruppen teraktion geschaffen. Darüber können Nutzer schnell, ausfüllen zu können, müssen Plattformen auf beiden unkompliziert und authentisch interagieren, die sonst Marktseiten sowohl Aufmerksamkeit als auch einen nie miteinander in Berührung gekommen wären. konkreten Nutzen generieren. Andernfalls wären weder • Gleichzeitig ist es Facebook gelungen, seinem Ge- Anbieter noch Nachfrager bereit, die nötigen Startinves- schäftsmodell neue Marktseiten hinzuzufügen (u.a. titionen zur Teilnahme an der Plattform zu tätigen. Dies Werbung, Entwicklung) und so immer mehr Nutzer- führt zu hohem Marketingaufwand gerade in der Hoch- gruppen erfolgreich zu verknüpfen. laufphase („audience building“). Zugleich muss der Nut- • Uber verringert durch seinen dynamischen Vermitt- zen groß genug sein, um die Wertgenerierungserwar- lungsalgorithmus nicht nur die Wartezeit für Fahr- tungen aller Teilnehmer und auch die der Plattform gäste, sondern auch den Leerlauf für Fahrer – eine selbst befriedigen zu können. Werden diese Erwartun- Win-win-Situation. gen nicht (mehr) erfüllt, wirken Netzwerkeffekte auch • eBay scheint für jedes noch so ungewöhnliche Produkt in umgekehrter Richtung – es setzt eine Negativspirale einen Käufer zu finden – darunter manches Gut aus der Nutzerabwanderung ein, die kaum zu stoppen ist. zweiter Hand, das sonst trotz voller Funktionsfähigkeit oder Gebrauchsfertigkeit im Müll gelandet wäre. Marktbegründer • Händler mit Online-Schwerpunkt wie Amazon haben Digitale Plattformen sind drittens Marktbegründer („mar- sehr niedrige Transaktionskosten bzw. müssen Pro- ket makers“). Sie aggregieren Informationen in großem dukte als Intermediäre gar nicht selbst vorhalten. Das Maßstab (Big Data) und schaffen für ihren Geschäfts- verschafft ihnen die Möglichkeit, ein sehr viel breiteres zweck einen zentralen Markt, oft jenseits tradierter Bran- Sortiment anzubieten als Wettbewerber mit (überwie- chengrenzen. Manchmal ermöglichen sie sogar „side gend) stationärem Vertrieb. switching“, d.h. Anbieter und Nachfrager können die • Dieser Vorteil niedriger Transaktionskosten und großer Seiten tauschen, wie dies z.B. bei Etsy oder eBay der Fall Angebotsbreite gilt erst recht für rein digitale Produk- ist. Von der Marktbildung durch Informationsaggregati- te, z.B. aus den App Stores von Apple oder Google. Hier on profitieren insbesondere kleinere und mittlere Un- können auch Nischensortimente über sogenannte ternehmen (KMU) sowie weniger gut informierte Markt- „long tails“ (Verteilung der Umsätze auf mehr Produk- teilnehmer, deren überdurchschnittlich hohe Transak- te) wesentlich zum Geschäftserfolg beitragen. tionskosten (ex ante wie ex post) durch die Teilnahme an einem zentralen Handelsplatz dramatisch sinken. Häufig schaffen digitale Plattformen dort Märkte, wo vorher keine waren. Ja, sie sind ein notwendiges Kor- Einige Beispiele für die hohe Effizienz durch Plattformen rektiv für Marktversagen oder zumindest für Markt- geschaffener (mehrseitiger) Märkte: hemmnisse, indem sie Friktionen überwinden wie die

32 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

mangelnde Fluidität eines Nischenmarktes, die Zusam- an die Gratiskultur gewöhnt hat. Sogenannte Freemi- menführung weit verstreuter Marktteilnehmer oder das um-Modelle, die ein kostenpflichtiges Upgrade einer in sogenannte Problem kollektiven Handelns, das immer der Basisversion kostenlosen Dienstleistung anbieten, dann auftritt, wenn sich beide Seiten auf keinen ver- funktionieren nicht in jedem Markt. bindlichen Transaktionsstandard einigen können. Ist die kritische Masse erreicht und wirken die indirek- Um einen fluiden Markt zu schaffen, müssen Plattfor- ten Netzwerkeffekte in Form sich selbst verstärkender men allerdings das Henne-Ei-Problem lösen: Ohne An- Rückkopplungen weiter, dann besteht die Gefahr einer bieter auf einer Seite, keine Nachfrager auf der anderen Monopolisierung: Die größte Plattform vereint schluss- – und umgekehrt. Zur Lösung dieses Problems empfeh- endlich (fast) alle Marktteilnehmer auf sich. Dieses Kip- len sich bis zu acht verschiedene Markteintrittsstrategi- pen kann wohlfahrtssteigernd wirken, weil es effizien- en, die von „seeding“ bis „big bang“ reichen. →I Ein un- ter ist, eine Plattform zu nutzen als fünf verschiedene. komplizierter, reibungsloser und barrierefreier Zugang Aus wettbewerbsrechtlicher Sicht ist eine derartige Ent- für Interessenten schafft die Grundvoraussetzung dafür, wicklung allerdings bedenklich: Es entstehen „compe- dass diese Strategien erfolgreich sein können. Dabei wird titive bottlenecks“ mit der Gefahr des Missbrauchs von der Zulauf neuer Marktteilnehmer eher über Pull-Effek- Marktmacht. Im schlimmsten Fall wird ein Markt ver- te erzielt statt über Push-Strategien wie im klassischen schlossen, weil die Eintrittsbarrieren zu hoch sind. Da- Marketing. Die Nutzer kommen wegen des attraktiven mit können nachfolgende Plattformen kaum noch die Wertversprechens und dessen viraler Verbreitung von Funktion eines Marktmachers ausüben – selbst wenn selbst, sobald eine Plattform hinreichend bekannt ist. sie über ein hohes Innovationspotenzial verfügen.

Eine weitere Hürde neben der Fluidität ist die Moneta- Zwar erleben digitale Plattformen viel „churn“: Temporä- risierung des geschaffenen Marktes. Um einen initialen re Monopole werden durch neue abgelöst. Mit zuneh- Impuls zu setzen und die nötige kritische Masse zu er- mender Datenkonzentration infolge von Vertikalisierung reichen, verkaufen Plattformen ihre Produkte und Leis- und Plattformintegration (siehe nachfolgende Abschnit- tungen häufig unterhalb der Grenzkosten; bisweilen te) ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich dauerhafte verschenken sie sie sogar – manchmal vorübergehend, Monopole bilden. Im Hinblick auf die stark wohlfahrts- oft auch dauerhaft, um die preissensiblere oder kriti- steigernde Wirkung des Marktbegründens ist dieser Ver- schere Marktseite zu subventionieren. Das Produkt, das schließung von Märkten unbedingt Einhalt zu gebieten. Plattformen anzubieten haben, ist im Kern der Zugang zu einer Zielgruppe – die Monetarisierungsmöglichkei- Wertschöpfer ten jenseits einer reinen Werbefinanzierung sind ins- Digitale Plattformen befähigen ihre Nutzer zu wert- besondere dann begrenzt, wenn sich eine Seite bereits schöpfenden Handlungen, die ohne sie nicht oder nicht

33 Die acht Markteintrittsstrategien digitaler Plattformen I

Um sich erfolgreich am Markt zu etablieren, müssen digitale Platt- formen das Henne-Ei-Problem lösen: ohne Anbieter keine Nachfrager – und umgekehrt. Acht Strategien haben sich dabei bewährt.

1. Follow the rabbit 5. Single-side Nachweis der Funktionsfähigkeit des Geschäftsmo- Akquise zunächst auf eine Marktseite/Nutzergruppe dells zunächst auf einem einseitigen Markt erbringen konzentrieren (Reservierungssystem bei OpenTable). (Amazon Marketplace). 6. Producer evangelism 2. Piggybacking Der Angebotsseite das Einbringen der eigenen Kunden- Nutzerbasis einer anderen Plattform übernehmen basis ermöglichen (Auktionsprozess bei Mercateo). (PayPal-Bezahllösung für eBay). 7. Big bang 3. Seeding Durch Push-Marketing maximale Aufmerksamkeit für Vorab relevante Werteinheiten schafen, die Nutzer den Starttag bzw. Hochlauf generieren (Twitter-Party überzeugen und den Markt anheizen (Pionieranwen- auf SXSW-Festival). dungen im Google Play Store). 8. Micromarket 4. Marquee Sich zunächst in einer bestehenden Community eta- Partizipation von besonders wichtigen Nutzern incen- blieren (Facebook in Harvard). tivieren (Infuencers auf LinkedIn).

Quelle: Geofrey Parker/Marshall Van Alstyne/Sangeet Choudary: Platform revolution, New York 2016

34 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

in dieser Effizienz und Qualität stattfinden würden. Sie Regelsetzer betreiben zunächst eine straff organisierte Kerninterak- Digitale Plattformen sind fünftens Regelsetzer. Netzwer- tion – perfektioniert z.B. bei Tinder, wo das Matching ke müssen permanent gepflegt werden, denn die Platt- auf eine einfache Wischbewegung reduziert wird. Die- formattraktivität resultiert vor allem aus der Struktur sem Prozess stellen sie alle zentralen Ressourcen vor- ihrer Nutzergruppen und der Relevanz ihrer Inhalte. Es rangig zur Verfügung. Teilweise wird dieser Kern um gilt das Gesetz der abnehmenden Qualität: Bei ungesteu- neue Formen der Wertschöpfung ergänzt und generiert ertem Wachstum setzt ein degenerativer Effekt ein, d.h., so zusätzliche Werteinheiten. So bietet Uber inzwischen das Niveau sinkt und die Werthaltigkeit der Interaktio- neben der reinen Fahrtenvermittlung auch ein „ride nen nimmt ab. Auch hier wirkt eine (diesmal negative) sharing“ zur weiteren Kostensenkung an. Und Handels- Rückkoppelung, denn bei schlechten Erfahrungen ver- plattformen wie Amazon oder Zalando stellen ihren Ge- abschieden sich die qualitätssensiblen Nutzer als Erste. schäftspartnern zahlreiche zusätzliche Dienstleistungen Es braucht also einen Governance-Mechanismus, um zur Verfügung, vom Targeting bis zum Lieferservice. die Werthaltigkeit der Interaktionen zu sichern und die Qualität des Netzwerks zu schützen. Zu dieser Rolle als Wertschöpfer und Prozesskatalysator im B2C- ebenso wie im B2B-Segment gehört, dass Platt- In manchen Fällen muss eine Plattform sogar den Zugang formen oft ihr Angebot um weitergehende Services, beschränken, um ihren Wert für alle Nutzergruppen Tools und Infrastrukturleistungen ergänzen. Diese sol- hochzuhalten. So wird ein deutlicher Männerüberhang len ihren Nutzern und Partnern eine möglichst reich- bei einer Kontaktbörse dazu führen, dass gerade attrak- haltige und komfortable Interaktion ermöglichen (und tive Frauen wegen nicht lohnenden Matchings die Platt- natürlich auch zusätzliche Daten generieren). Zu diesen form verlassen – und damit eine Negativspirale in Gang „Nebenprodukten“ zählen Bezahlsysteme und Clea- setzen. Eine Plattform, die dies verhindern will, muss ring-Prozesse oder Collaboration Tools für „user-gene- also Zugangsrechte definieren und Verhaltensregeln, rated content“ (also Werkzeuge zum gemeinsamen Er- Konfliktlösungsmechanismen sowie Sanktionsmaßnah- stellen von Inhalten durch Nutzer), teilweise sogar gan- men bei Verstößen gegen die Spielregeln festlegen. ze Entwicklungsumgebungen für „crowd-based inno- vation“ (d.h. Produktentwicklungen oder -verbesserun- Die wichtigste Gegenmaßnahme, um negative Externa- gen durch Konsumenten). Ziel ist es, Nutzer und Partner litäten durch unangemessenes Verhalten zu verhin- nicht nur zu gewinnen, sondern auch zu aktivieren und dern, ist die aktive Filterung oder Kuratierung. Dabei zu einer wertschöpfenden Interaktion zu befähigen bzw. findet eine regelbasierte Steuerung des Informations- anzuregen. Und somit einen maximal effizienten und flusses statt, die algorithmisch (durch Software), edito- zugleich reichhaltigen Prozess in Gang zu setzen, der risch (von Hand), durch die Nutzer selbst oder durch für alle Seiten vorteilhaft und bereichernd ist. mehrere Systeme gleichzeitig vorgenommen wird. Zur

35 Verstärkung der Normenkontrolle setzen viele Plattfor- Risikomanager men bei ihren Interaktionen nichtmonetäre Währungen Sechstes Charakteristikum: Digitale Plattformen agie- ein: Aufmerksamkeit, Popularität, Einfluss und Reputa- ren als Risikomanager. Die genannten Reviews und tion sind für Teilnehmer oft stärkere Triebkräfte als Ratings bilden auf der einen Seite einen wichtigen finanzielle Motive und bilden einen mächtigen Anreiz Anreiz, sich sozialkonform zu verhalten. Auf der an- für sozial erwünschtes Verhalten. deren Seite sind sie ein mächtiger Mechanismus der Risikoreduktion. Viele Geschäfte – z.B. das Mitfahren Zwar steht diese Form der Kontrolle in einem Span- bei einem Fremden oder der Kauf eines Gutes bei ei- nungsverhältnis zur Offenheit als einem konstituieren- nem unbekannten Händler – würden ohne solche Sys- den digitaler Plattformen. Allerdings ist nicht teme nicht zustande kommen. Eine wirksame Risiko- jede Verbindung in einem Netzwerk relevant. Ein effek- reduktion – ggf. sogar durch teure Absicherungen wie tiver Governance-Mechanismus, der als eine Art Ge- Verlustdeckelung bei Betrug – kann einen Markt so meindevorsteher die Soziabilität der Teilnehmer fördert, dynamisieren, dass sie die damit verbundenen Kosten steht der Offenheit einer Plattform prinzipiell nicht weit überkompensiert. entgegen. Als wichtigste Spielregeln digitaler Plattfor- men haben sich erwiesen: Transparenz, Partizipation, Für Plattformen wie Amazon, eBay, Airbnb oder Uber Fairness. Werden sie eingehalten, ist auch keine schlei- ist die Lösung des Vertrauensproblems essenziell. Be- chende Degeneration der Netzwerk- und Interaktions- ginnen die Nutzergruppen – z.B. aufgrund manipulier- qualität zu befürchten. ter Bewertungen – einander zu misstrauen, geht der Marktplatz zugrunde. Jeder Teilnehmer will wissen: Je nach Bedeutung der jeweiligen Nutzer für die Platt- Wer ist mein Gegenüber (Identität)? Und was ist von form können unterschiedlich starke Normierungen ihm zu halten (Reputation)? Nur wenn beide Fragen zielführend sein. Als besonders effektiv hat sich die schlüssig beantwortet werden, sind die Transaktions- „crowd curation“ erwiesen, weil sie zum einen die Nut- risiken hinreichend überschaubar. Dabei ist eine Be- zer selbst in die Governance einbindet und weil sie zum wertung durch die Marktteilnehmer selbst nicht nur anderen maximal skalierbar ist. Eine „crowd curation“ extrem kostengünstig, sondern häufig auch zuverläs- findet häufig in Form von Review-, Rating- oder Reputa- siger als die durch professionelle Dienstleister wie z.B. tionssystemen statt, mit denen sich eine Mindestqua- Auskunfteien. lität von Interaktionen mit hoher Zuverlässigkeit sicher- stellen lässt. Sie erzeugen allerdings – das ist der nega- Ein weiterer Mechanismus zur Risikoreduktion auf di- tive Effekt aus wettbewerblicher Sicht – einen erhebli- gitalen Plattformen sind Kaufempfehlungen aufgrund chen Lock-in-Effekt, weil Nutzer ihre Bewertungen nicht der Kundenhistorie („collaborative filtering“), die häufig auf eine andere Plattform mitnehmen können. in Form von „Andere Kunden kauften auch …“ oder „Das

36 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

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Datenverarbeiter → Digitale Plattformen sind also zusammengefasst ein Schließlich sind digitale Plattformen Datenverarbeiter. transformatives Konzept, das die Geschäftswelt und Sie werten Informationen aus zahlreichen Quellen aus unsere Gesellschaft verändert. Ihre Geschäftsmodelle und setzen diese zueinander in Beziehung, um daraus beruhen auf den Fähigkeiten, Technologie kundenzen- per Datenanalyse neue Erkenntnisse z.B. über Nutzer- triert und wertstiftend einzusetzen, Nutzergruppen mit verhalten und Kundenpräferenzen abzuleiten. Daraus gegenseitigem Interesse zu matchen, neue Märkte mit resultieren ein besserer Service, eine stärkere Persona- hinreichender Fluidität zu schaffen, ihre Nutzer zu ak- lisierung und ein relevanteres Angebot. Zu den häufig tiver Teilnahme zu befähigen und zu motivieren, wirk- gesammelten Daten zählen soziodemografische Merk- same Regeln für positive Interaktionen zu etablieren, male, IP-Adresse, Clickstream (also die Abfolge der Sei- Risiken ihrer Nutzer zu managen und zu begrenzen so- tenaufrufe), Reaktions- und Verhaltensmuster sowie wie Daten so zu analysieren, dass sich Matching und Aufenthaltsorte und Bewegungsprofile (Geotracking). Transaktionen laufend verbessern. Auch wenn i.d.R. Diese Daten werden zumindest als „Nebenprodukt“ ver- nicht alle Charakteristika in gleich starker Ausprägung arbeitet und sind bei primär werbefinanzierten Plattfor- vorhanden sind, so machen sie in ihrer Gesamtheit den men der eigentliche Geschäftszweck. Wesenskern digitaler Plattformen aus.

Für das Erfassen, Strukturieren und Auswerten benöti- Ihre Geschäftsmodelle weisen damit einige Besonder- gen digitale Plattformen enorme Datenaggregations- heiten auf, die es im Hinblick auf mögliche neue Wett- und Informationsverarbeitungskapazitäten. Je ausge- bewerbsregeln zu berücksichtigen gilt. prägter die Fähigkeiten zur Datenanalyse, desto relevan- ter der Informationsaustausch auf der Plattform und • Digitale Plattformen brauchen eine kritische Größe, desto lohnender das Matching für die Nutzer. Ein großer um am Markt agieren zu können („minimum scale of Datenpool, kombiniert mit ausgeprägten Analysefähig- entry“). keiten, schafft eine doppelte Informationsasymmetrie: • Um wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben, benötigen Plattformen wissen mehr als ihre Kunden (sogar über sie als Werkstoff einen hinreichend großen Datenpool. deren persönliche Präferenzen). Und Plattformen mit • Plattformen sind auf die Nutzung von Netztechnolo- reichhaltigeren Daten können besser filtern. Sie sind gien angewiesen.

37 • Alle Marktseiten sind interdependent und gemeinsam 2. Wettbewerbsmuster zu betrachten, insbesondere im Hinblick auf die Preis- bildung. Digitale Plattformen zeigen wiederkehrende Wettbe- • Digitale Plattformen müssen ihren Kernprozess anrei- werbsmuster mit teilweise umstrittenen Geschäftsprak- chern, um wertschöpfend tätig sein zu können. tiken. Zu diesen zählen: Crowdsourcing, Dekonstrukti- • Sie brauchen Regeln, die mit dem Prinzip maximaler on, Preisasymmetrie, Marktverengung, Vertikalisierung, Offenheit in Konflikt geraten können. Bildung eines Ökosystems. →J • Für eine erfolgreiche Risikoreduktion müssen sie ihre Nutzer gut kennen. Crowdsourcing als Innovationsmethode Der Kern der Managementrevolution, die digitale Platt- Wichtigster Vermögenswert digitaler Plattformen ist ihr formen ausgelöst haben, liegt in der Umorientierung Netzwerk. All ihr ökonomisches Handeln ist darauf ge- von der Steuerung interner Ressourcen auf die Koordi- richtet, ihr Netzwerk zu schützen – vor Degeneration, nation externer Netzwerke. Man hat diese Wendung vor Relevanzverlust, aber auch vor feindlicher Übernah- nach außen mit dem Schlagwort „inverting the firm“ me durch die Konkurrenz. Vor diesem Hintergrund wen- (Parker/Van Alstyne/Choudary) umschrieben. den wir uns nun der Frage zu, welche konkreten Ge- schäftspraktiken digitaler Plattformen wettbewerblich Die Folgen dieser Fokusverschiebung organisationalen relevant sind. Handelns sind kaum zu überschätzen, denn sie begrün- det einen zentralen Wettbewerbsvorteil: Digitale Platt- formen können sich einen nahezu beliebig skalierbaren Pool an Beitragenden und Ideengebern aufbauen und verfügen damit über praktisch unbegrenzte Ressourcen. Jeder Nutzer – Stichwort „side switching“ – ein poten- zieller Produzent, Reviewer und Innovator! Diese Re- konfiguration der Wertschöpfung durch Crowdsourcing verleiht Plattformen eine ungeheure Dynamik – kein Lexikonverlag konnte mit der Produktivität von Wiki- pedia mithalten und kein Reiseführer ist so aktuell wie TripAdvisor.

Das Modell externer Produktion und Innovation ist auch mit Nachteilen verbunden. Qualitätsprobleme lassen sich durch Filterung oder Kuratierung eingrenzen, die

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Herausforderung einer Anbindung Externer über offene tegie- und Entwicklungsprozesse sind nur noch bedingt Schnittstellen ist eher technischer Natur. Jedoch sind planbar, es entsteht „emergente“ Innovation. Zugleich Einbußen bei der Steuerbarkeit unvermeidbar in Kauf droht die Wertschöpfung zu fragmentieren und es kom- zu nehmen, weil zentrale Ressourcen digitaler Plattfor- men Fragen nach dem „fair share“ auf, also der Vergü- men außerhalb der Unternehmensgrenzen liegen. Stra- tung für den Wertbeitrag der Externen.

J Gewinnerstrategien: Plattformen nutzen typischerweise 6 Hebel, um sich eine vorteilhafte Marktposition zu erarbeiten

Wettbewerbsmuster digitaler Spieler

1 Crowdsourcing 2 Dekonstruktion 3 Preisasymmetrie • Rekonfiguration der Wert- • Disruption linearer Wert- • Subventionierung einer Marktseite schöpfung schöpfungs ketten durch flexible • Gratisprodukte als Wachstums- • Hochskalierbarer Pool an externen Wertschöpfungs netzwerke stimulus Produzenten und Innovatoren • Ablösung des effizienzgetriebenen • Monetarisierung über Werbung • Qualitätssicherung durch Filterung Pipeline-Modells oder geldwerten Zusatznutzen bzw. Kuratierung • Überwindung zentralisiert- hierarchischer Organisation

Wettbewerb

4 Marktverengung 5 Vertikalisierung 6 Ökosystem • Nutzung u.a. von Netzwerk- • Vordringen in vor- und nach- • Integration heterogener und Skaleneffekten gelagerte Wertschöpfungsstufen An wendungen und Aufstieg zur • Absicherung der Wettbewerbs- • Leveraging von Marktmacht integrierten Plattform position durch Zutrittsbarrieren • Vergrößerung Profitpool/ • Einbezug von „third-party und Lock-ins Anreicherung Datenpool suppliers“ mittels kontrollierter • Bewusste Inkompatibilität Schnittstellen • Generierung von Verbundvorteilen

Quelle: Roland Berger

39 „ Google, Apple und Amazon verdienen es, hochprofitabel und erfolgreich zu sein. Aber die Möglichkeit, sich mit den Besten zu messen, muss offen bleiben für neue Marktteilnehmer und kleinere Wettbewerber, die auf ihre Chance pochen, die Welt erneut zu verändern.“

Elizabeth Warren US-Senatorin

40 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

Dem Kontrollverlust versuchen digitale Plattformen bare, hochgradig technisierte und weniger kapitalinten- entgegenzuwirken, indem sie sich den Zugriff auf es- sive Plattformen ersetzen sie. senzielle Werte wie Gebühren, Lizenzen, Patente oder auch Daten sichern. Der Wunsch nach Hoheit über Kern- Diese übernehmen die Rolle eines neuen Intermediärs prozesse erklärt u.a. den erbitterten Streit, den Apple und binden insbesondere kleine, wendige Produzenten mit Spotify um die Rechtmäßigkeit von Provisionen auf und Dienstleister in ihre Wertschöpfung ein. Aus der „in-app purchases“ führt. →K linearen, vergleichsweise starren und nur graduell op- timierbaren Wertschöpfungskette wird ein flexibles Dekonstruktion und Re-Intermediation Wertschöpfungsnetzwerk. Digitale Plattformen ermög- als Strategiekonzept lichen damit schon heute innovative Geschäftsmodel- Vertikal integrierte Unternehmen zeichnen sich durch le in Branchen wie Medien, Handel oder Reise und eine lineare Wertschöpfungskette aus. Durch Internali- künftig auch bei Autos, Energie, Finanzen, Bildung sierung vor- und nachgelagerter Fertigungsstufen ver- oder Gesundheit. →L suchen sie, den Zugang zu Ressourcen zu sichern, Trans- aktionskosten zu minimieren und Skaleneffekte zu er- Zugleich erschüttert die Dekonstruktion der linearen zielen. Allerdings verschwinden mit der Digitalisierung Wertschöpfungskette das Paradigma der zentral-hierar- von immer mehr Prozessen einige der Berechtigungs- chischen Organisation und ihrer funktionalen Struktur. gründe für eine lineare vertikale Integration: z.B., weil Netzwerkdenken und Kundenzentrierung lassen Abtei- die Abhängigkeit von Ressourcen abnimmt oder weil lungssilos verschwinden, Unternehmensgrenzen wer- durch sinkende Grenzkosten die Bedeutung von Skalen- den durchlässig, physische Assets verlieren an Bedeu- effekten auf Angebotsseite rückläufig ist (während sie tung – und gleichzeitig auch klassische strategische auf Nachfrageseite hoch bleibt). Konzepte, die vor allem darauf setzen, unverzichtbare Ressourcen und unnachahmliche Kompetenzen zu si- Digitale Plattformen machen sich diesen Umstand zu- chern („resource-based view“) oder eine nachhaltige nutze, indem sie lineare Wertschöpfungsketten frag- Wettbewerbsposition zu erobern und zu verteidigen mentieren und disruptieren. Sie lösen das effizienzge- („market-based view“). triebene Pipeline-Modell durch flexible und adaptive Netzwerke ab. Dieser Dekonstruktionsprozess stellt Das Wettbewerbsmuster der Dekonstruktion wirft Branchengrenzen, Preisgefüge oder bisherige Kunden- ebenfalls wettbewerbliche Fragen auf, u.a. die nach der und Lieferantenbeziehungen infrage. Er mindert zu- Abgrenzung des relevanten Marktes oder die nach ei- gleich die Transaktionskosten und wirkt so wohlfahrts- nem fairen Zugang zu Infrastrukturen, Informationen steigernd. Ineffiziente „gatekeepers“ ökonomischer oder Ressourcen, die für einen Geschäftsprozess un- Prozesse verschwinden vom Markt. Maximal skalier- verzichtbar sind.

41 Was ist der „fair share“ im Handel auf digitalen Plattformen? K

Verteilungskämpfe: der anhaltende Streit um Wertschöpfungs- und Gewinnanteile am Beispiel Apple vs. Spotify und Amazon

Das Geschäftsmodell Der Fall Amazon Apple kassiert bei allen Verkäufen in seinem hauseige- Bei Buchbestellungen über iPhones oder iPads ver- nen App Store eine Provision von i.d.R. 30%. Gleich- sucht Amazon, ebenfalls das Geschäftsmodell von zeitig verbietet das Unternehmen allen App-Entwick- Apple mit seiner 30%igen Umsatzbeteiligung zu um- lern, ihre Kunden auf alternative Vertriebswege für gehen. iOS-Nutzer können über die Kindle-App zwar weitergehende Angebote zu verweisen, die direkt aus Bücher lesen und Leseproben erhalten, aber nicht aus dem Programm heraus gekauft werden können. Apple der App heraus Bücher kaufen (sondern nur über die verdient u.U. mehrfach: zum einen durch den Verkauf App des Apple-Konkurrenzangebots iBooks). der App selbst (sofern diese kostenpfichtig ist); zum anderen durch die Umsatzbeteiligung in Höhe von Die grundsätzliche Bedeutung ebenfalls 30% an allen darüber veranlassten Bestel- Sowohl Spotify als auch Amazon werfen Apple Wett- lungen („in-app purchases“). bewerbsverzerrung vor. Apple als Betreiber eigener Dienste (Apple Music bzw. iBooks) kassiere bei der Der Fall Spotify Konkurrenz mit – und behindere damit einen freien, Bislang kostete ein Abo des schwedischen Musik- fairen Wettbewerb. Befürworter der Apple-Position streaming-Dienstes über die entsprechende iOS-App verweisen darauf, dass es im Of line-Handel gang und exakt um jene 30% mehr als auf der Spotify-Website, gäbe sei, Eigenmarken zu vertreiben, die mit anderen die Apple als Provision nimmt. Nutzer der jüngsten Marken und Produkten im direkten Wettbewerb ste- Version seiner iOS-App ruft Spotify dazu auf, direkt auf hen. Die Gegner dieser Politik argumentieren, dass der eigenen Website zu kaufen, um den Preisaufschlag Apple digitale Produkte zu Grenzkosten nahe null ver- zu umgehen. Zuletzt haben die Schweden sogar die treibe und dafür eine unverhältnismäßig hohe Provi- Bezahlfunktion ihrer iOS-App abgeschaltet. Apple blo- sion einstreiche, die es nur aufgrund eines globalen ckiert die Spotify-App seither mit dem Argument, sie Duopols verlangen könne. würde gegen die Store-Richtlinien verstoßen. Spotify wirft Apple im Gegenzug vor, seinen App Store als „Wafe“ zu gebrauchen, um konkurrierende Angebote zu behindern (Apple betreibt mit Apple Music einen eigenen Musikstreaming-Dienst).

42 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

Asymmetrische Bepreisung als Beurteilung der Preisgestaltung zu berücksichtigen. Wachstums stimulus Gleichzeitig bleibt aber die Frage nach der Zulässigkeit Für digitale Plattformen ist schnelles Wachstum Pflicht. von Lockvogelangeboten oder auch von umstrittenen Wer keine kritische Größe erreicht, verschwindet wieder Methoden der Kundengewinnung (wie Facebooks au- vom Markt – auch wenn sein Geschäftsmodell hohes tomatisch versendeter Einladung an Freunde). Innovationspotenzial hat. Um dieses schnelle Wachstum erzielen zu können, konzentrieren sich manche Plattfor- Marktverengung zur Absicherung der men zunächst auf eine Marktseite. Bei Transaktionsplatt- Wettbewerbs position formen ist dies häufig die Nachfrageseite, weil auf An- Nach Strategie-Doyen Michael Porter ist es das Bestreben gebotsseite zumindest in Teilen ein kommerzielles In- jedes Unternehmens, sich durch Einnahme einer schwer teresse an einer Teilnahme vorausgesetzt werden darf. angreifbaren Wettbewerbsposition dem Auf und Ab wirt- schaftlicher Dynamik weitgehend zu entziehen (soge- Um für möglichst viele Nutzer auf der Nachfrageseite nannte generische Wettbewerbsstrategien). Dieses Vor- attraktiv zu sein, bepreisen digitale Plattformen ihre gehen ist legitim, solange es nicht zur Marktverschlie- Produkte und Leistungen oft unterhalb der Grenzkosten. ßung führt, also ein Monopolist durch Schaffung extrem In zweiseitigen Märkten kann dieses Verhalten durchaus hoher Eintrittsbarrieren den Innovationswettbewerb in marktrational sein, sofern die Monetarisierung auf der einem Markt unterbindet. anderen Seite stattfindet, z.B. durch den Verkauf von Werbeplätzen. Die eine Seite des Marktes wird quasi zu- Digitale Plattformen profitieren bei ihren generischen lasten der anderen subventioniert. Wettbewerbsstrategien davon, dass indirekte Netzwerk- effekte in hohem Maße selbstverstärkend wirken: Mehr Allerdings sind diesem kontraintiutiven und dennoch Nutzer auf der einen ziehen mehr Nutzer auf der anderen marktrationalen Verhalten natürliche Grenzen gesetzt: Seite an. Gleichzeitig lässt ein stetig wachsender Daten- Die Interessen beider Nutzergruppen sind so auszuba- pool die Lernkurve stark ansteigen (Skaleneffekt) und lancieren, dass keine negativen Externalitäten auftreten. erhöht damit die Chancen zur Verbesserung des Produkt- Dies wäre etwa dann der Fall, wenn sich eine Nutzer- und Leistungsangebots. Im Extremfall droht die rasch gruppe übervorteilt fühlt. fortschreitende Monopolisierung eines Marktes mit am Ende nur noch einem Wettbewerber von kritischer Größe. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Preisbildung in mehrseitigen Märkten sehr viel komplexer ist als in Diese wettbewerblich kritische Marktverengung wird einseitigen Märkten und dass es insbesondere in der durch (in manchen EU-Ländern teilweise bereits verbo- Startphase sinnvoll sein kann, Nutzergruppen zu sub- tene) Geschäftspraktiken einiger digitaler Plattformen ventionieren. Dies gilt es, bei der wettbewerblichen gefördert. Dazu zählen:

43 • „Shoot-out acquisitions“, also Unternehmenskäufe mit Wettbewerbsposition wäre im Grunde nur durch eine dem Ziel, potenzielle Wettbewerber frühzeitig aus dem Marktverschließung z.B. aufgrund extrem hoher Wech- Markt zu nehmen. selkosten zu erreichen. • Preisparitäten und Meistbegünstigungsklauseln, die einer Plattform den besten Preis oder die günstigsten Auch hier sind die Zusammenhänge komplex: Digitale Konditionen sichern (und damit den Wettbewerb Plattformen folgen zur Festigung ihres Geschäftsmo- schlechter stellen). dells einer Wachstumslogik, die sie jedoch durch miss- • Exklusivitätsvereinbarungen, die Partnerunternehmen bräuchliche Geschäftspraktiken wettbewerbsschädlich davon abhalten, mit Wettbewerbern ins Geschäft zu verstärken können. kommen. • Strategien bewusster Inkompatibilität, die dazu führen, Vertikalisierung zur Vergrößerung der Proftpools dass Nutzer nicht auf Alternativprodukte ausweichen Haben sich digitale Plattformen als neuer Intermediär können und technologieinduziert in einem geschlos- in einem Wertschöpfungsprozess etabliert und eine kri- senen System gefangen sind. tische Größe erreicht, so versuchen sie regelmäßig, in vor- und nachgelagerte Wertschöpfungsstufen vorzu- Neben Netzwerk- und Skaleneffekten sowie den genann- dringen, sprich: vertikal zu diversifizieren (und häufig ten Geschäftspraktiken gibt es aber auch gegenläufige auch horizontal, also auf derselben Wertschöpfungsstu- Wirkungsfaktoren. Zu nennen sind insbesondere eine fe). Als Musterbeispiel dieser Vertikalisierungsstrategie vom Plattformbetreiber selbst auferlegte Beschränkung gilt Alphabet/Google, das nach seinem Start als Such- der Nutzerzahl (um negative Externalitäten zu vermei- maschinenanbieter ein ganzes Universum an Plattform- den), die Möglichkeit des Multi-Homing (also der paral- anwendungen entwickelte (Betriebssystem, Browser, lelen Nutzung alternativer Plattformen zu geringen Kos- Mapping, Messaging, Videostreaming, App Store etc.) ten) sowie eine Ausdifferenzierung von Plattformen (z.B. und mehr als 200 Firmen zukaufte. durch Bildung von Angebotsnischen) aufgrund der gro- ßen Heterogenität zumindest einer Nutzergruppe. Alphabet/Google steht damit aber keineswegs alleine da, sondern folgt einem Muster: Da das Geschäftsmodell Neben diesen Faktoren gilt es, bei der Beurteilung des digitaler Plattformen permanent selbst von Disruption Wettbewerbsverhaltens digitaler Plattformen auch die bedroht ist, erweist sich vertikale Diversifikation als hohe Dynamik ihrer Geschäftsmodelle zu berücksich- probates Mittel, nicht nur die aktuelle Wettbewerbspo- tigen. Wegen der Flüchtigkeit von Preis- und Markenef- sition zumindest zeitweise zu schützen, sondern sich fekten im Netz haben sie kaum eine andere Möglichkeit auch neue Profitpools anzueignen. Von der westlichen der Kundenbindung, als über Netzwerkeffekte einen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hat der chinesi- Lock-in zu schaffen. Die Absicherung einer nachhaltigen sche Plattformbetreiber Tencent ein Maß an Integration

44 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

Who’s next? Die sukzessive Disruption der „Old Economy“ L

Welche Sektoren die Plattformrevolution als Nächstes erfassen könnte

Status Nächste Kandidaten Voll erfasst hat die „Plattformisierung“ bereits die Sek- Als heißester Kandidat für eine globale Plattform gilt der toren Medien und Werbung, Handel sowie Reise und Transport- und Logistiksektor, bei dem Uber (bislang Gastgewerbe. Die Automobilindustrie steht gerade vor nur Fahrtenvermittler) in der Pole Position steht. Auch einem großen Umbruch. Dagegen sind die Auswirkun- das Internet of Things wird netzbasierte Global Players gen der Plattformrevolution auf die Sektoren Bildung, hervorbringen – sofern sich die Industrie auf Standards Gesundheit, Finanzen, Energie, produzierendes Gewer- einigt oder es einem marktmächtigen Spieler gelingt, be, Transport und Landwirtschaft (bislang) begrenzt. diese durchzusetzen. Der höchste Druck auf Nachfra- geseite dürfte im Gesundheitssektor bestehen – hier ist Pro Disruption die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich zeitnah eine Zu den Faktoren, die eine Plattformisierung begüns- Plattform zum Thema Fitness/Vitalfunktionen etablie- tigen, zählen die Bedeutung von Information und ren wird (ggf. mit Anbindung an die Leistungserbringer). Wissen, die Existenz nicht oder kaum skalierbarer Die Ausbildung digitaler Plattformen im Energiesektor „gatekeepers“ und ein hoher Fragmentierungsgrad. wird durch die Dezentralisierung der Versorgung und intelligente Netze („smart grids“) vorangetrieben. Die Contra Disruption bisherigen Erfahrungen im Bildungsbereich dagegen Als resilienzsteigernd erweisen sich die Faktoren sind (noch) ernüchternd: Bildungsplattformen werden Regulierungsstärke, Misserfolgskosten oder Ressour- eher opportunistisch genutzt. Perspektivisch können cenintensität. Einige Beispiele: Bildungs- und Gesund- digitale Plattformen hier aber zu einer weiteren Ange- heitssektor sind stark reguliert. Im Gesundheitssektor botsdiferenzierung führen. Die Etablierung von Platt- kommen immense Risiken im Falle unzureichenden formen in der Finanzwelt wird seit Langem prognosti- Matchings (z.B. bei der Arztsuche) hinzu. Der Energie- ziert, jedoch ist es noch keinem Anbieter gelungen, die sektor und das produzierende Gewerbe sind sehr res- potenziell disruptive Blockchain-Technologie in gro- sourcenintensiv. ßem Stil nutzbar zu machen. Auch der Open-Data- Trend im öfentlichen Sektor könnte die Ausbildung neuer Plattformen begünstigen.

45 geschaffen, das selbst Alphabet/Google in den Schatten onen dazu führen, dass Unternehmen auf anderen Wert- stellt. Mit der Weiterentwicklung seines Angebots von schöpfungsstufen in Abhängigkeit von einer vor- oder Kommunikation und Unterhaltung bis hin zu Gesund- nachgelagerten Plattform geraten. heit und eGovernment und der geplanten Anbindung des Off line-Handels und möglicherweise sogar der Ein- Schafung eines Ökosystems als Durchgrifshebel führung eines eigenen Betriebssystems ist Tencent auf Ziel der vertikalen Diversifikation digitaler Plattformen dem besten Wege, eine Komplettinfrastruktur für die ist es, eine infrastrukturähnliche Wettbewerbsposition digitale Welt zu bauen. →M zu erreichen, bei der populäre und/oder zentrale Anwen- dungen unter einem Dach integriert sind. Um den Ver- Die Übertragung von Marktmacht in einen vertikal oder bund herum gruppieren sich dann häufig ergänzende horizontal benachbarten Bereich geschieht i.d.R. über Dienstleistungen Dritter, die auf dieser integrierten Platt- die Einführung einer neuen Werteinheit, die zusätzlich form aufsetzen. zur bisherigen auf der Plattform gehandelt wird. Eine große Nutzerbasis kann dafür hilfreich sein – ist aber In einer vernetzten Welt ist die Etablierung eines kein Erfolgsgarant. Digitale Plattformen können auch Ökosystems, das große Nutzergruppen vereint, der ein- an „dilution“ leiden, also an einer Verwässerung und zige kurzfristig unangreifbare Wettbewerbsvorteil. Ein Aufweichung ihrer Kerninteraktion, die ihre Nutzerak- solches Ökosystem vereint Hardware, Software, Services zeptanz insgesamt infrage stellt. und Content. Zu ihm gehören aber ebenso Nutzergrup- pen und ihre Interaktionen, insbesondere die „third-par- Oft steht hinter der Vertikalisierung auch die Idee, den ty developers“. Erst die Summe mehrerer Faktoren macht eigenen Datenpool zu erweitern und durch Informati- ein Ökosystem einzigartig und unnachahmlich. onen aus verschiedenen Wertschöpfungsstufen anzu- reichern. Dabei sind – sofern dies die Datenschutzge- Der entscheidende Unterschied zu den vorgenannten setze überhaupt zulassen – allerdings große Hindernis- Strategien der Marktverengung und Vertikalisierung, die se zu überwinden, weil die erhöhte Komplexität beson- eher auf Abschottung zielen, liegt in der (Teil-)Öffnung dere Analysefähigkeiten erfordert, um die zusätzlichen von Ökosystemen für Drittparteien. Über APIs – Schnitt- Daten tatsächlich nutzen zu können. stellen, die einen standardisierten Zugang zu Kern- ressourcen ermöglichen, aber unter der Kontrolle der Die wettbewerblichen Wirkungen sind wiederum am- Plattformbetreiber bleiben – werden Externe in den bivalent: Einerseits sind Diversifikationen geeignet, die Produktions- und Innovationsprozess eingebunden. Effizienz von Marktteilnehmern zu erhöhen und so dem Ökosysteme ohne eine derartige Schnittstelle entwi- Innovationswettbewerb neue Impulse zu verleihen. An- ckeln nicht die nötige Dynamik. dererseits können insbesondere vertikale Diversifikati-

46 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

Ja, es lässt sich mit Recht behaupten, dass sich digitale Öffnung für „third-party developers“ und Schaffung ei- Plattformen überhaupt nur als Ökosystem richtig ent- ner interoperablen Entwicklungsumgebung hob die falten können, weil dann der Wettbewerbsvorteil exter- Plattform richtig ab. Heute lassen sich über den App ner Innovation voll zum Tragen kommt. Ein Beispiel: Store von Apple über 1,5 Mio. verschiedene Anwendun- Apple betrieb seine Macintosh-Plattform, den Vorläufer gen herunterladen (der Play Store von Google führt sogar von iOS, zunächst als geschlossenes System. Erst nach 1,8 Mio. Apps).

M Alles unter einem Dach: Die Ökosysteme digitaler Plattformen greifen immer weiter in benachbarte Segmente aus

Horizontale und vertikale Diversifkation am Beispiel Tencent

2013: Unterhaltung 2013: Finanzen → Games spielen → Bargeldlos bezahlen → Kinokarten bestellen → Überweisungen und → Bilder und Videos verschicken Geldgeschenke tätigen

2011: Kommunikation 2014: Reise → Chatten → Flug, Bahn, ÖPNV und Hotel buchen → Telefonieren WeChat → Taxi bestellen → Kontakte pfegen (Tencent)

201_: Betriebssystem 2015: Gesundheit → Nahtlose Integration ermöglichen → Arzttermine vereinbaren

2016: Verwaltung → Visa beantragen → Strafzettel, Wasser und Strom 2017: O2O Commerce bezahlen → Online- und Of line-Welt verknüpfen

Quelle: Roland Berger

47 Plattformbetreiber, die diesen Entwicklungssprung nicht schaffen und auch nicht von den damit einherge- Wettbewerbs- henden Verbundvorteilen profitieren können, gehen dagegen regelmäßig zugrunde. So wurde der einstige verhalten dominanter Marktführer MySpace im Jahr 2008 sang- und klanglos von Facebook überholt und fristet heute ein Nischen- Plattformen: Auch dasein als Musikportal. legitime Anliegen Bei vielen digitalen Plattformen ist eine (Teil-)Öffnung über Zeit zu beobachten – dann nämlich, wenn sie über können auf unfaire kontrollierte Schnittstellen ihr Ökosystem ausweiten wollen. Allerdings birgt diese Offenheit prinzipiell die Weise verfolgt Gefahr, dass sich neue Intermediäre zwischenschalten und Teile der Wertschöpfung aneignen. Dies erklärt auch werden. die Härte, mit der Betreiber z.B. von App Stores auf einer Kontrolle der Kernprozesse bestehen. Die Kunst besteht darin, die Balance zwischen der Ermöglichung von In- novation und der Verhinderung von Fragmentierung zu wahren. Aus wettbewerblicher Sicht besteht die Gefahr, dass sich die Waage in Richtung Kontrolle neigt und die Offenheit des Zugangs nicht gewährleistet ist. Plattfor- men behalten sich regelmäßig ein Durchgriffsrecht vor wie im aktuellen Fall Apple vs. Spotify.

Unsere Übersicht über die Wettbewerbsmuster digitaler Plattformen macht deutlich: Viele Verhaltensweisen wer- den aus ihren Geschäftsmodellen heraus verständlich. Allerdings können auch legitime Anliegen auf unfaire Weise verfolgt werden. Wie sich normale Wettbewerbs- strategien sowie system- und umfeldbedingte Hand- lungsweisen von unlauteren Geschäftspraktiken und Missbräuchen einer marktbeherrschenden Stellung un- terscheiden lassen, dieser Frage wenden wir uns nun zu.

48 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

3. Marktmacht und System- ken muss deshalb – zumindest in Teilen – an eigenen relevanz Maßstäben gemessen werden. Die Analyse von Marktstellung und Funktionsweise di- Bei der Entwicklung dieser Maßstäbe kommen wir auf gitaler Plattformen hat deutlich gemacht, dass konven- unsere Analyse des Kundeninformations- und Entschei- tionelle Betrachtungen bei der Beurteilung ihres wett- dungsprozesses in 1 „Deutschland digital“ zurück. bewerblichen Verhaltens nur bedingt hilfreich sind. Die Ihr zufolge lassen sich in digitalen Industrien drei we- Geschäftsmodelle von Plattformen unterscheiden sich sentliche Prozessstufen unterscheiden: die Wahl eines in wesentlichen Punkten von denen traditioneller Un- Zugangswegs und damit einer Infrastruktur, die Erledi- ternehmen und das Vorliegen missbräuchlicher Prakti- gung essenzieller Dinge und die Lösung spezifischer

N Ordnungsrahmen: Mit Marktmacht und Systemrelevanz von Plattformen steigt der Handlungsbedarf bei den Wettbewerbsregeln

Handlungs- Digital competition framework bedarf

Markt- System- Ausprägungen Anforderung Rechts- Rechts- macht relevanz (2016) Marktverhalten anwendung setzung Beobachtungs- + intensität I. Plattformen mit Bottle- Infrastruktur- Neutralität necks charakter

Systemrelevante Plattformen in Ofenheit Hochlaufphase II. Gatekeepers

Plattformen mit Objektivität Portalfunktion

Plattformen mit Vermittlungs- III. Open Aggregators Compliance oder Dienstleis- – tungscharakter

Quelle: Roland Berger

49 Aufgaben. Die Möglichkeit einer B2B- oder auch B2C-In- builders“), Nachfragekoordinatoren („demand coordi- teraktion über das „Internet of Things“ kommt perspek- nators“). Sie zielt darauf, ökonomische Bedeutung und tivisch als vierte Stufe dazu. Art der Wertkreation hervorzuheben. • Die Differenzierung nach Form des Austauschs: Wendet man dieselbe Logik auf digitale Plattformen an, Matching plattformen bringen Nutzergruppen für eine ergibt sich daraus eine hierarchische Typologie mit einer direkte Interaktion zusammen. Transaktionsplattfor- Indikation von Marktmacht und Systemrelevanz: →N men sind Matchingplattformen, die einer spezifischen An der Spitze stehen Plattformen mit Infrastrukturcha- Trans aktion dienen. Aufmerksamkeitsplattformen rakter wie z.B. App Stores, welche die Grundlage für vie- wiederum verfolgen als primäres Ziel die Generierung le aktuelle Ausprägungen des Internets bilden. Danach von Reich weite. folgen Plattformen mit Portalfunktion, die eine breite • Die zweckorientierte Klassifizierung in Austausch- Vielfalt von Informationen und Diensten nebeneinander plattformen, die auf ein 1:1-Matching zielen (z.B. Pro- anbieten – zum Teil in Eigenleistung, zum Teil von Part- dukt- und Serviceplattformen, soziale Netzwerke), und nerunternehmen erbracht (beispielsweise durch eine in Macherplattformen, die auf einer Marktseite eine Bündelungsfunktion wie in sozialen Netzwerken). Am sehr große Zielgruppe ansprechen (z.B. Content- und Ende der Skala sind Plattformen zu verorten, die als of- Streaming-Plattformen). Hier steht der Nutzungs- fene Aggregatoren, d.h. angebots- und oft auch bran- aspekt im Vordergrund. chenübergreifend, am Markt agieren. Sie erbringen u.a. • Die Unterscheidung nach Geschäftsmodell: „subscrip- Vermittlungsdienstleistungen vergleichbar einem Ma- tion models“ finanzieren sich über Teilnahme- oder kler bzw. Broker oder werben um Aufmerksamkeit, z.B. Mitgliedsgebühren; „access models“ monetarisieren durch Nachrichten, Blogs oder Videos. den Zugang zu Zielgruppen; „advertisement models“ schließlich sind werbefinanziert. Das IoT hat im Moment noch keine größere wettbewerbs- rechtliche Bedeutung – perspektivisch aber das Potenzi- Diese Unterscheidungen helfen allerdings wenig bei der al (z.B. im Falle einer hochgradigen Standardisierung), Beantwortung der zentralen Frage, wann digitale Platt- zur Kategorie „Infrastruktur“ gezählt zu werden. formen eine Gatekeeping-Funktion besitzen, die mit großer Marktmacht und ihrem potenziellen Missbrauch In der Literatur finden sich eine Reihe andersartiger Ty- korreliert, und ob sie aufgrund ihrer Systemrelevanz pologisierungen als die hier vorgenommene. Genannt zum Flaschenhals („competitive bottleneck“) einer Bran- seien an dieser Stelle: che oder eines Wirtschaftssystems werden können. Dabei birgt eine hohe Systemrelevanz die Gefahr, dass • Die funktionale Unterscheidung von Marktbegründern aufstrebenden Wettbewerbern der Markteintritt er- („market makers“), Zielgruppenträgern („audience schwert oder gar vollständig verweigert wird.

50 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

Als Bereiche, in denen diese Sonderstellung von beson- derer Bedeutung sein kann, gelten vor allem: integrier- Digitale Platt formen te Plattformen, Universalplattformen, App Stores und Social Logins (Ebene 1) sowie Suchmaschinen, Werbe- mit Infrastruktur- allokatoren und hybride Marktplätze (Ebene 2). Bei ih- nen ist die Gefahr von wirtschaftlichen Abhängigkeiten charakter sind sehr groß – Unternehmen vor- und nachgelagerter Wert- schöpfungsprozesse brauchen Zugang zu diesen Platt- besonders anfällig formen und sind beispielsweise auf sie angewiesen, um Kunden zu erreichen. für den Missbrauch Bottlenecks von Marktmacht. Als „gefahrgeneigte“, sprich machtmissbrauchsanfällige Akteure der Internetökonomie sind an erster Stelle di- gitale Plattformen mit Infrastrukturcharakter zu nen- nen. Dies gilt erst recht dann, wenn sie weitere vertika- le Dienste aus demselben Hause integrieren und über ihre Marktmacht und Systemrelevanz das Verhalten von Dritten steuern und kontrollieren.

Integrierte Plattformen | Die höchste Systemrelevanz haben Plattformen, die mit einem Betriebssystem, Brow- ser oder anderen für den täglichen Gebrauch relevanten Diensten verbunden sind (i.d.R. auf dem jeweiligen End- gerät vorinstalliert). Sie haben sich an die Spitze der Wertschöpfung gesetzt – mit jedem Einschaltvorgang des Nutzers generieren sie Daten und insbesondere wenn sie ein Dienstportfolio auch auf anderen Ebenen anbieten, sind diese Daten zudem besonders reichhaltig. Dank großer und vielfältiger Datenpools in Verbindung mit weitreichenden Analysemöglichkeiten (Kreuzrefe- renzierung) und ausgeprägten Lerneffekten verfügen sie über einen stetig wachsenden Informations- und Inno-

51 vationsvorsprung gegenüber Wettbewerbern ohne die- se Bestände. Integrierte Plattformen haben zudem die Vor- und nach- Möglichkeit, die Zustimmung zur Auswertung perso- nenbezogener Daten durch Globaleinwilligungen zu gelagerte Unterneh- erwirken, die für alle angeschlossenen Dienste gelten. men müssen mit den Universalplattformen | Eine Sonderform von Integra- tion stellen Universalplattformen wie WeChat von Ten- eigenen Angeboten cent oder Alibaba mit ihrem umfassenden Dienstport- folio dar. Sie sind zwar (noch) auf fremde Betriebssys- und Diensten gleich- teme und Browser angewiesen, haben aber gleichwohl einen Angebotskosmos erschaffen, der sie zur De-fac- behandelt werden, to-Infrastruktur macht. So sind in China insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) auf Tencent damit für den Nutzer als Vertriebsplattform angewiesen – es werden dort täg- lich mehr WeChat-Profile angelegt als Websites regis- triert. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass ähnliche eine echte Wahlfrei- Plattformen, die Kommunikationsströme zwischen Un- ternehmen und ihren Kunden bündeln und sich auf heit besteht. diese Weise ein eigenes Datenuniversum schaffen, auch in Europa oder den USA Fuß fassen.

App Stores | Die Funktion eines kommerziellen Inter- mediärs für digitalisierbare Produkte übernehmen in der westlichen Hemisphäre die App Stores von Apple und Google. Ihre Plattformen, gekoppelt an das jeweilige Be- triebssystem (iOS bzw. Android), bilden ein De-facto-Duo- pol. Alle weiteren Wettbewerber (BlackBerry, Microsoft, Amazon) spielen auf dem Markt für mobile Anwendungs- software keine relevante Rolle. Infolge dieser unum- schränkten Wettbewerbsposition können es sich Apple und Google leisten, für den Vertrieb digitaler Produkte auf ihrer Plattform jeweils rund 30% Provision und sons-

52 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

tige Gebühren zu berechnen. Denn wer als Entwickler → Die Anforderung an faire Wettbewerbs bedingungen nicht auf einer der beiden führenden Plattformen gelistet auf Stufe der „competitive bottlenecks“ lautet, die un- ist, bleibt für den Verbraucher praktisch unauf findbar. eingeschränkte Plattformneutralität sicherzustellen, d.h., vor- und nach gelagerte Unternehmen müssen mit Social Logins | Eine andere Art von Infrastruktur haben den eigenen Angeboten und Diensten gleichbehandelt soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Google+ oder werden, damit für den Nutzer eine echte Wahlfreiheit QQ kreiert. Über ein Social Login können sich deren besteht. Aus dieser Anforderung ergibt sich wettbewerb- Nutzer nach einmaliger Anmeldung („single sign-on“) licher Handlungsbedarf sowohl auf Ebene der Rechts- auch außerhalb der eigenen Website oder App frei be- setzung als auch auf dem Gebiet der Rechtsanwendung. wegen. Die Anmeldedaten („credentials“) des Logins dienen der automatischen Authentifizierung und Au- Gatekeepers torisierung auf anderen Netzwerken und Plattformen. Ebene zwei umfasst zum einen systemrelevante Platt- Für Nutzer ist diese Art des Navigierens ohne weitere formen in ihrer Start- und Hochlaufphase. Hierzu gehö- Zwischenschritte höchst bequem – sie können dann z.B. ren z.B. Betreiber von IoT-Plattformen, die heute zwar sehr einfach Transaktionen tätigen. Andererseits führt noch wenig Marktmacht haben, aber möglicherweise diese Praxis dazu, dass alle Bewegungen des Nutzers in die Standards von morgen setzen, oder auch Spieler wie diesem „Netz im Netz“ nachvollzogen werden können. Uber, die aufgrund ihrer strategischen Positionierung Facebook als typische Heimatadresse beispielsweise hat – hier im Bereich Transport und Logistik – eine poten- über dieses Tracking die Möglichkeit, umfassende Nut- ziell systemrelevante Rolle einnehmen. zerprofile zu erstellen und die Nutzung von Fremdan- geboten zu beobachten oder sogar zu kontrollieren. → Wegen ihrer Schlüsselstellung gilt für Plattform- betreiber von künftiger oder möglicher Systemrelevanz Wettbewerbsschädliches Verhalten wird auf Stufe infra- auch bei geringer Marktmacht die Anforderung größt- struktur ähn licher Plattformen vor allem über Zugangs- möglicher Offenheit – d.h., Schnittstellen zu anderen verweigerung, unverhältnismäßige Datenerhebung und Systemen sind so zu definieren, dass sie einen sich aus- -nutzung sowie kontinuierliche Adjustierung der Spiel- bildenden Markt nicht willkürlich verengen oder gar für regeln z.B. für App Stores oder Lizenzierungen betrieben. potenzielle Teilnehmer ver schließen. Ein Beispiel: Die unter dem Deckmantel der Antifrag- mentierung praktizierte obligatorische Vorinstallation Sehr viel größer ist jedoch die zweite Subgruppe von von unverzichtbaren Programmen insbesondere auf „gatekeepers“: digitale Plattformen mit Portalfunktion. mobilen Endgeräten ist innovationsfeindlich und soll- Dazu gehören insbesondere solche Dienste, die täglich te unterbunden werden, damit der Nutzer eine echte oder zumindest in hoher Frequenz genutzt werden und Wahlfreiheit hat. die aufgrund ihrer nahezu vollständigen Erfassung einer

53 „ Die Kommission sollte (…) nicht nur immer neue Verfahren eröffnen, sondern offene Verfahren auch irgendwann einmal zu Ende führen.“

Markus Ferber Vorsitzender der Arbeitsgruppe Wettbewerbspolitik im Europäischen Parlament

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Nutzergruppe oder eines Sortiments ihre Marktmacht das sorgfältiger Beobachtung und zumindest einer sehr gut hebeln und damit ausweiten können. schnellen und konsequenten Rechtsanwendung bedarf.

Suchmaschinen | Eine Referenz dafür, wie komplex Werbeallokatoren | Werbeplattformen sind heute die die wettbewerblichen Wirkungen auf dieser Stufe sind, marktbeherrschenden Allokatoren von Marketingbud- liefert Google mit seiner in Europa marktbeherrschen- gets. Als Spielarten haben sich suchbasierte Werbung den Suchmaschine. So wird dem Stammunternehmen und Display-Werbung etabliert – mit zunehmender Kon- von Alphabet immer wieder vorgeworfen, Such ergeb- vergenz. Beide Geschäftsmodelle versteigern Werbeplät- nisse zu manipulieren – entweder durch den Algorith- ze häufig im Rahmen von Auktionen („real-time adver- mus selbst oder durch willkürliche Besser- oder Schlech- tising“) – die einen aufgrund von Schlüsselbegriffen in terplatzierung von eigenen bzw. Konkurrenzprodukten. den Suchergebnissen auf der eigenen Website/App (z.B. Konkret hat die Europäische Kommission dies Google Google AdWords), die anderen entweder kontextabhän- beispielsweise bei Anzeigen von Suchergebnissen im gig oder zugeschnitten auf das jeweilige Nutzerprofil Bereich Shopping angekreidet. →O Und die europäische auf fremden Websites/Apps (z.B. Google AdSense). Verbraucherschutzorganisation BEUC hält Google vor, seine Suchergebnisse nicht nach Meriten oder Relevanz, Dabei nimmt die Personalisierung von Werbung in bei- sondern nach kommerziellen Interessen zu sortieren den Modellen stetig zu – teilweise werden Nutzerdaten und damit die Verbraucher zu schädigen. über verschiedene Endgeräte, Browser und Apps hinweg zusammengeführt. Der Nutzer profitiert davon (sofern Trotz dieser Evidenz gibt es gute Argumente gegen gewünscht) in Form relevanterer Werbung. Allerdings grundlegend neue Wettbewerbsregeln für Suchmaschi- kann eine sehr hohe Reichweite einer Werbeplattform nen. Zum einen muss Google die Trefferliste gar nicht bedeuten, dass sie für die annoncierenden Unterneh- manipulieren – schon die Kenntnis des Algorithmus men unverzichtbar wird (Verengung des Werbemarkts). reicht, um die natürlichen Treffer zu verändern und ggf. die eigenen Dienste und Produkte zu bevorzugen. Hybride Marktplätze | Ebenfalls besondere Aufmerk- Zum anderen würde die allzu offensichtliche Manipu- samkeit verdient der Bereich E-Commerce. Vergleichs- lation von Trefferlisten einen erheblichen Reputations- portale und Handelsplattformen sind wichtige Naviga- verlust verbunden mit rascher Nutzerabwanderung toren durch die Warenwelt und haben einen sehr großen bedeuten. Dies dämpft die Missbrauchsneigung. volkswirtschaftlichen Nutzen, u.a. durch Steigerung von Markttransparenz und Produktauswahl sowie Verringe- Dennoch stellen gerade Suchmaschinen als „Eingangs- rung des Transaktionsrisikos (Vertrauensproblem) für pforte“ zum Internet unter Wettbewerbsaspekten ein Kunden. Zwar erscheinen Markteintritte durch Ange- ebenso zentrales wie sensibles Plattformsegment dar, botsdifferenzierung weiterhin problemlos möglich und

55 Clever oder unfair? Google unter verschärfter Beobachtung O

Fünf Jahre und kein Ende: Chronologie der Ermittlungen der Europäischen Kommission und anderer Wettbewerbshüter gegen den Marktführer

30. November 2010 Regelbrüche vor: die Vorinstallation von Search und Die Europäische Kommission beschließt, ein kartell- Chrome auf End geräten als Vorbedingung für die Zu- rechliches Verfahren gegen Google einzuleiten wegen lassung zum App Store; die Behinderung von konkur- des Verdachts, dass dessen Suchmaschine eigene rierenden Betriebssystemen (insbesondere Android Dienste bevorzugt. Forks); die Incentivierung der exklusiven Vorinstal- lation von Google Search auf Endgeräten durch Her- 15. April 2015 steller und Netz betreiber. Die Kommission gelangt zu der vorläufgen Aufas- sung, dass Google den eigenen Preisvergleichsdienst 14. Juli 2016 auf seinen allgemeinen Suchergebnisseiten systema- Die Kommission kommt zur vorläufgen Schluss- tisch bevorzugt. Sie äußert zudem die Befürchtung, folgerung, dass Google seine marktbeherrschende dass die Nutzer bei ihrer Suche nicht notwendiger- Stellung missbraucht, indem es den eigenen Preisver- weise die für sie relevantesten Ergebnisse zu sehen gleichsdienst auf seinen allgemeinen Suchergebnis- bekommen. Ferner ermittelt die Kommission in Bezug seiten systematisch bevorzugt. Zudem gelangt sie zu auf drei weitere Bedenken: Kopieren von Webinhalten der vorläufgen Auf fassung, dass das Unternehmen konkurrierender Unternehmen (auch als „Scraping“ seine marktbeherrschende Stellung auch dadurch bezeichnet); Exklusivwerbung; übermäßige Beschrän- missbraucht, dass es die Möglichkeiten Dritter, Such- kungen für werbende Unternehmen. Zudem leitet sie maschinenwerbung von Wettbewerbern Googles an- ein Verfahren wegen der im Betriebssystem Android zuzeigen, künstlich beschränkt. vorgenommenen Vorinstallationen ein. Weltweite Verfahren 20. April 2016 Weitere Untersuchungen gegen Google waren oder Die Kommission gelangt zu der vorläufgen Auffas - sind u.a. in Südkorea, Indien, Russland, Kanada, den sung, dass Google seine marktbeherrschende Stel- USA und Brasilien anhängig – mit wechselhaftem Aus- lung missbräuchlich ausnutzt, indem es Herstellern gang. Von den bisher sechs abgeschlossenen wett- von Android-Geräten und Mobilfunknetzbetreibern bewerbsrechtlichen Verfahren wurden vier (teils ge- Beschränkungen auferlegt. Im Einzelnen wirft die Eu- gen Auf lagen) eingestellt; in zwei Verfahren erfolgte ropäische Kommission dem Unternehmen folgende eine Intervention oder ein Schuldspruch.

56 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

auch Multi-Homing als wettbewerbsstärkender Faktor line-Märkten auch – zu einem Machtgefälle zwischen ist jederzeit gegeben. Dennoch können sich durch ihre Vermittler/Lieferant und Händler/Partner führen. Dies häufig anzutreffende Doppelrolle als Aggregator/Makler gilt in besonderem Maße für Amazon Prime, ein Ange- bzw. Händler/Intermediär wettbewerbliche Herausfor- bot, mit dem Amazon sich zunehmend in die Wert- derungen ergeben. schöpfungskette seiner Partner einklinkt und die Verti- kalisierung durch Verknüpfung beispielsweise von Dies gilt zum einen für Portale, die Produkte und Dienst- Premium-Lieferservice und Audio-/Videostreaming auf leistungen aller Art vergleichen oder bewerten. Auch sie die Spitze treibt. fungieren im Netz als zentrale Anlaufstelle; auch sie neigen zu hoher Marktkonzentration; auch sie haben → Ein echtes Fair Play erfordert auf Stufe der markt- die Möglichkeit, personenbezogene Daten umfassend starken Plattformen mit Portalfunktion die Einhaltung einzufordern und zu nutzen. Dabei spielen sie i.d.R. eine des Grundsatzes der Objektivität: Wettbewerber dürfen Doppelrolle als Aggregator und Makler. Sie bündeln also nicht willkürlich schlechter gestellt und damit diskrimi- nicht nur Angebot und Nachfrage, sondern treten auch niert werden. Diese Anforderung geht einher mit hohen als Transaktionsvermittler in Erscheinung – nach Auf- Maßstäben an Verhaltenstransparenz und -konsistenz. fassung mancher Verbraucherschützer jedoch, ohne Konkret heißt dies, ihre Kriterien z.B. bei Informations- über ihre Tätigkeit als Makler und die damit verbunde- filterung oder Kuratierung offenzulegen und einheitlich nen Provisionen hinreichend zu informieren. zu handhaben. Diskriminierungsfreiheit bedeutet auch, den Zugang zur Plattform nicht ohne sachlichen Grund Zum anderen kommt ein vergleichbares Hybridmodell (z.B. illegale Inhalte) zu blockieren. Im Wesentlichen bei Handelsplattformen zum Tragen, die selbst als Händ- lassen sich diese Herausforderungen aber auf Basis einer ler auftreten, aber auch als Intermediär tätig werden. konsequenten Anwendung geltender Wettbewerbsregeln Aufgrund dieser Doppelrolle besteht die Möglichkeit, meistern, ohne neues Recht setzen zu müssen. dass sie eigene Angebote gegenüber dem Wettbewerb besser stellen. Indem sie Produkte und Dienstleistungen Open Aggregators für Dritte vermitteln, besitzen sie gleichzeitig die Gele- Wettbewerblich vergleichsweise unbedenklich erschei- genheit zur Marktbeobachtung bei Partnern (Umsätze, nen demgegenüber Plattformen mit reinem Vermitt- Nutzerpräferenzen). Dies verschafft Hybridmodellen lungs- oder Dienstleistungscharakter. Unter ihnen be- einen Wettbewerbsvorteil, der bei der Ausgestaltung des finden sich Intermediäre, die Angebot und Nachfrage rechtlichen Rahmens zu berücksichtigen ist. auf einem Marktplatz bündeln, ohne dabei ein hybrides Geschäftsmodell zu verfolgen, und somit weniger an- Unabhängig davon kann eine sehr hohe Marktkonzen- fällig für Interessenskonflikte sind, sowie Aufmerksam- tration und damit Nachfrageaggregation – wie in Off- keitsplattformen bzw. Zielgruppenträger, die vorrangig

57 auf Reichweite zielen. Dazu zählen die meisten Cont- Netzwelt. Man stelle sich vor, die Systeme von Alphabet/ ent-, Messaging- oder Sharing-Plattformen. Google oder Apple fielen tagelang aus – weltweit würden die netzbasierte Kommunikation und damit das wirt- → Die Anforderung an das Marktverhalten offener Ag- schaftliche und soziale Leben weit über die digitale gregatoren lautet lediglich, sich gesetzeskonform zu Sphäre hinaus zum Erliegen kommen. Auch deshalb ist verhalten. es so wichtig, für reibungslose, faire und sichere Prozes- se im Netz zu sorgen. Zusammenfassende Bewertung Allen drei Ebenen gemeinsam ist, dass hohe Markt kon- Die höchste Gefährdung für das Fair Play in der Internet- zentrationen kurzfristig durchaus im Sinne der Nutzer ökonomie und damit für die Realisierung des mit ihr sein können: Es ist sowohl komfortabler als auch effizi- verbundenen Innovationspotenzials geht von Ökosyste- enter, nur eine Plattform zu nutzen als fünf verschiedene. men aus – also Kombinationen aus Hardware, Software, Services, Content und Interaktionen von Nutzergruppen, Diese Konzentration führt dazu, dass bereits Plattformen die wie eine Spinne im Zentrum eines Wertschöpfungs- der Stufe zwei eine hohe Marktmacht haben: Als Porta- netzes sitzen und Anwendungen und Technologien ver- le mit nahezu vollständiger Abdeckung mindestens ei- schiedener Ebenen nahtlos integrieren. An derartigen ner Marktseite fungieren sie häufig als vertikale Such- Ökosystemen existieren im Moment weltweit sieben: maschine. So werden Bücher heute i.d.R. direkt über die interne Suchfunktion bei Amazon abgerufen, weil sich • Alphabet/Google (Android, Play Store, Chrome, Search, der Nutzer davon die geringsten Suchkosten und die Ads, Maps, YouTube, Android Pay/Google Wallet, Waze, besten Suchergebnisse verspricht. Ähnliches gilt für Hangouts, Gmail, Google+, Fiber, Nest etc.) einige Formen sozialer Interaktion: Die Reichweite man- • Apple (MacOS, iOS, App Store, Safari, iCloud, iTunes, cher sozialer Netzwerke ist so hoch und ihre Strukturie- Apple Music, Apple TV, tvOS, Apple Pay, iMessage etc.) rung so gut, dass sie bestimmte Zielgruppen und Inter- • Facebook (Facebook/Facebook Pages, Connect, Insta- essensgebiete beinahe vollständig abdecken. Folge: Wer gram, Messenger/WhatsApp, Oculus, Moves etc.) heute nicht bei Facebook angemeldet ist, bleibt von • Amazon (Marketplace, Fulfillment, Payments, Web zahlreichen Aktivitäten des sozialen Lebens ausge- Services, Fire TV, Kindle, Alexa, Prime etc.) schlossen. • Microsoft (Windows/Windows 10 Mobile, Explorer, Lin- kedIn, Skype, Xbox, Exchange, SQL, SharePoint, Visual Noch höher sind die wettbewerblichen Anforderungen Studio, .Net Framework, Office-Anwendungen etc.) naturgemäß an Plattformen mit Infrastrukturcharakter, • Tencent (WeChat, QQ, QQ.com, QQmail, QQ Games, die zusätzlich ein hohes Maß an Systemrelevanz besit- QQmusic, Qzone, Traveler, Weibo, SOSO, PaiPai etc.) zen. Sie bilden das unumgängliche Eingangstor zur • Alibaba (Alibaba.com, AliExpress, Taobao, AliPay etc.)

58 Gencode: Wie digitale Plattformen funktionieren

Andere Unternehmen sind auf dem besten Wege, in die- se Liga vorzustoßen. Als Aufstiegskandidat gilt u.a. Marktmacht ver- Uber – wenn es dem Unternehmen gelingt, den Sprung vom Fahrtenvermittler zum Netzknoten des autonomen pfichtet: Die Gebote Fahrens zu schaffen. des Fair Play in Diese Ökosysteme sind untereinander weitgehend in- kompatibel. Ihre Betreiber sichern sich damit nicht nur Gestalt von Neutra- eine große Wertschöpfungstiefe, sondern auch eine schwer zu überwindende Schlüsselstellung als „System- lität, Ofenheit, kopf“ – d.h., sie sind es, die den Zugang zum Netz kon- trollieren und damit auch die Daten der Nutzer; sie sind Objektivität und es, die Informationen filtern und aufbereiten und damit bestimmen, was sichtbar wird und was nicht; sie sind Compliance sind es, die den Markt definieren und grundlegende Ent- scheidungen (z.B. zu Standards) treffen. Diese Position ist strategisch so vorteilhaft, dass auch immer mehr un bedingt einzuhal- Pipeline-Unternehmen versuchen, eigene Plattformen aufzubauen (z.B. BMW ConnectedDrive). Jedoch tun sie ten, soll das Internet sich damit in aller Regel schwer, weil ihre Skalen- und Ressourcenvorteile im Netz weniger ins Gewicht fallen nicht zu einem Club als ihre geringere strategische und organisationale Fle- xibilität. mit beschränktem

Eine systemrelevante Machtposition in der digitalen Zutritt werden. Welt ist mit hoher Verantwortung verbunden. Die Ge- bote des Fair Play in Gestalt von Neutralität, Offenheit, Objektivität und Compliance sind unbedingt einzuhal- ten, soll das Internet nicht zu einem Club mit beschränk- tem Zutritt werden. Besonders kritisch zu hinterfragen ist dabei ein hohes Maß an Vertikalität mit Besetzung der Spitzenposition und vielen weiteren Plattformen bzw. Diensten auf jeder der drei Ebenen.

59 60 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

SPIELREGELN: WIE MEHR WETT BEWERB GESCHAFFEN WERDEN KANN

Einige Besonderheiten von Platt formen sprengen den aktuellen Gesetzesrahmen. Für echtes Fair Play in der digitalen Welt braucht es eine efektivere Anwendung bestehenden Rechts, aber auch neue Spielregeln und Prüf verfahren.

61 Digitale Plattformen brauchen beides: einerseits einen 1. Aktueller Rechtsrahmen fruchtbaren Boden, auf dem sie entstehen, wachsen und gedeihen können; andererseits klare, faire und durch- Der Rechtsrahmen, in dem sich digitale Plattformen der- setzbare Spielregeln, die dafür sorgen, dass sich die in- zeit bewegen, wird auf supranationaler Ebene im Wesent- novativsten Anbieter am Markt etablieren und ihr Wert- lichen definiert durch den Vertrag über die Arbeitsweise schöpfungspotenzial entfalten können. der Europäischen Union (AEUV), die EU-Richtlinie über den Elektronischen Geschäftsverkehr, die Daten schutz- Im Folgenden entwickeln wir ein Handlungsprogramm, Grundverordnung (DSGVO, in Kraft ab Mai 2018) der EU, das beiden Anforderungen gerecht wird. Nicht immer die EG-Fusionskontrollverordnung (FKVO) und die Unfair lässt sich dieses Handlungsprogramm auf dem Boden Commercial Practices Directive (UCPD) der Europäischen geltenden Rechts umsetzen. Speziell in den Fällen von Kommission. Auf nationaler Ebene ist in Deutschland an Plattformen mit Infrastrukturcharakter bedarf es neben erster Stelle das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkun- effektiver Rechtsanwendung auch neuer Rechtssetzung, gen (GWB) zu nennen, daneben u.a. das Gesetz gegen den um absehbaren Schaden für das Wettbewerbsgefüge ab- unlauteren Wettbewerb (UWG), das Bundesdatenschutz- zuwenden. Bei der Einführung neuer Wettbewerbsregeln gesetz (BDSG) und das Urheberrechtsgesetz (UrhG). Hin- gilt es, all jene Besonderheiten der Geschäftsmodelle zu kommen, abhängig vom jeweiligen Geschäftsmodell, digitaler Plattformen zu berücksichtigen, die klassische auf beiden Ebenen einschlägige Rechtsnormen u.a. zum wettbewerbsökonomische Konzepte ins Leere laufen Verbraucherschutz oder zur sektorspezifischen Regulie- lassen und sie daher auf den Prüfstand für eine zeitge- rung (insbesondere Telekommunikationsdienste). mäße Anpassung stellen. Auf diese Besonderheiten wie den Zwang zu großen Skalen („minimum scale of entry“) Alle Wettbewerbsregeln, die für das Funktionieren des und die Notwendigkeit schnellen Wachstums („go big Binnenmarkts erforderlich sind, liegen in der aus- or go home“) werden wir vor dem Hintergrund des heu- schließlichen Zuständigkeit der Europäischen Union. te geltenden Rechtsrahmens eingehen. Im Unterschied beispielsweise zum US-Recht, das mehr auf Einzelfallentscheidungen setzt, ist das EU-Recht sehr stark von Prinzipien geprägt. Allerdings kommen zuneh- mend Elemente aus dem US-Recht auch in der EU zur Anwendung, aktuell etwa das Recht auf Akteneinsicht für Kartellgeschädigte. Noch einmal anders ist die recht- liche Situation in China, wo Spieler wie Alibaba oder Tencent von einer protektionistischen Regulierung pro- fitieren, aber zugleich dem Einfluss der kommunisti- schen Partei ausgesetzt sind.

62 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

Das europäische und das deutsche Rechtssystem kennen • die jeweilige nationale Kartellgerichtsbarkeit (in drei Instrumente zum Schutze des Wettbewerbs: das Deutschland: OLG Düsseldorf, BGH). Kartellverbot, das Missbrauchsverbot und die Zusam- menschlusskontrolle. Das Referenzsystem des Kartell- Das Kartellrecht, das gemeinsam mit dem Lauterkeits- rechts ist der freie Wettbewerb – jeder Verfälschung oder recht das Wettbewerbsrecht bildet, ist ein atmendes Beeinträchtigung dieses Sollzustands soll Einhalt gebo- Recht – d.h., es wird durch unbestimmte Rechtsbegriffe ten werden. Insbesondere marktbeherrschende und erst geprägt, die es ermöglichen, einen konstanten ordnungs- recht systemrelevante Unternehmen müssen beaufsich- politischen Rahmen zu setzen und zugleich dynamischen tigt werden, da von ihnen eine Gefährdung des freien Entwicklungen und Innovationen Rechnung zu tragen. Wettbewerbs ausgehen kann. Als solche zu konkretisierenden Begriffe sind zu nennen:

Institutionell wird das Rechtssystem abgesichert durch Relevanter Markt | Ist in sachlicher Abgrenzung (wel- europäische und nationale Aufsichtsbehörden – im Fal- ches Produkt?) und in räumlicher Ausdehnung (welches le Deutschlands sind dies Gebiet?) zu definieren. Als Kriterien gelten die funktio- nelle Austauschbarkeit bzw. die Existenz objektiv glei- • die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen cher Wettbewerbsbedingungen. Die Fusionskontrolle Kommission, die gemeinsam mit den Wettbewerbs- nach diesen Maßstäben wendet die Europäische Kom- behörden der Mitgliedsstaaten die europäischen Wett- mission inzwischen auch auf Märkte an, auf denen eine bewerbsvorschriften (Art. 101–109 AEUV) durchsetzt; unentgeltliche Leistung angeboten wird („Drittmarkt- • das Bundeskartellamt als nationale Wettbewerbsbe- konstruktion“). In jüngster Vergangenheit wurde auch hörde mitsamt dem beaufsichtigenden Bundeswirt- in der nationalen kartellrechtlichen Praxis die Existenz schaftsministerium und der Möglichkeit der Minister- von Märkten mit unentgeltlichen Leistungsbeziehungen erlaubnis; berücksichtigt. Die derzeit in Abstimmung befindliche • die Monopolkommission, die Bundesregierung und 9. GWB-Novelle umfasst ebenfalls entsprechende An- gesetzgebende Körperschaften ohne direkte Eingriffs- satzpunkte. möglichkeit in Wettbewerbs-/Regulierungsfragen berät. Marktbeherrschende Stellung | Liegt laut EuGH dann Hinzu kommen als rechtsprechende Instanzen vor, wenn ein Unternehmen aufgrund seiner wirtschaft- lichen Stärke in der Lage ist, sich auf einem Markt weit- • das Europäische Gericht (EuG) bzw. der Europäische gehend unabhängig von Wettbewerbern, Kunden und Gerichtshof (EuGH), die als Justizorgane die einheitli- Verbrauchern zu verhalten. Sie wird auf europäischer che Auslegung und Anwendung der Wettbewerbsvor- Ebene regelmäßig ab einem Marktanteil von 50% ange- schriften in der EU sicherstellen; nommen, auf deutscher Ebene schon ab 40%. Diese

63 „Wir begegnen in der Internetwirtschaft einer Reihe neuer ökonomischer und rechtlicher Fragen.“

Andreas Mundt Präsident des Bundeskartellamts

64 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

Schwellen sind aber unerheblich, wenn ein Markt grund- eines normalen Produkt- und Dienstleistungswettbe- sätzlich angreifbar bleibt (potenzieller Wettbewerb). werbs regelmäßig abweichen, machen sich demnach des Missbrauchs schuldig. In diesem Kontext ist ein Essential Facility | Dieses Konzept besagt, dass ein Un- Handlungsfeld aus dem Lauterkeitsrecht zu ergänzen, ternehmen, das eine wesentliche Einrichtung kontrol- und zwar das der ... liert, seine Position nicht ausnutzen darf, indem es ei- nen möglichen Zugang verweigert und dadurch wirksa- Geschäftspraktiken | Sie umfassen laut UCPD alle men Wettbewerb auf der nachgelagerten Ebene aus- Handlungen, Unterlassungen, Verhaltensweisen oder schließt. In einer datengetriebenen Internetwirtschaft auch jegliche Form von Kommunikation eines Händlers spricht einiges dafür, dass infrastrukturrelevante Daten mit dem Ziel, Produkte für Endverbraucher zu verkaufen, und der Zugang zu diesen eine Art „essential facility“ zu bewerben oder zu liefern. An derartige Geschäftsprak- darstellen können, denn aus exklusiven Datenpools z.B. tiken ist grundsätzlich der Maßstab kaufmännischer in den Bereichen Verkehr und Gesundheit folgen poten- Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit („professional diligen- zielle Markteintrittsbarrieren. ce“) anzulegen. Die Bestimmungen der UCPD gelten ver- bindlich nur für den Austausch zwischen Händlern und Behinderungsmissbrauch | Liegt vor, wenn Wett- Endkunden (B2C). Eine Anwendung auf das B2B-Segment bewerbsmöglichkeiten beschränkt werden, z.B. durch ist den EU-Mitgliedsstaaten aber freigestellt. Preisabsprachen, Zugangsverweigerung oder Hebelung von Marktmacht. Dies könnte insbesondere der Fall sein, Das übliche analytische Vorgehen in kartellrechtlichen wenn digitale Plattformen ihren Wettbewerbern wich- Verfahren beginnt mit der Beschreibung der Marktgren- tige Zugänge z.B. zu Infrastrukturen, Informationen oder zen zur Definition des relevanten Marktes, setzt sich fort Ressourcen vorenthalten oder ihre beherrschende Stel- mit der Analyse der Marktmacht zum Nachweis einer lung von einem in einen anderen Markt zu übertragen beherrschenden Position und endet mit der Beurteilung versuchen. des konkreten Verhaltens, um den Tatbestand des Miss- brauchs feststellen zu können. Kartellrechtsverstöße Ausbeutungsmissbrauch | Besteht in der Unausgewo- können mit Geldbußen in Höhe von bis zu einem Zehn- genheit von Leistung und Gegenleistung. Ausbeutungs- tel des weltweiten Umsatzes geahndet werden. missbrauch ist in unserem Zusammenhang u.a. vorstell- bar in Form von exzessivem Datenzugriff.

Der Missbrauchsbegriff knüpft an die Marktstruktur und das „normale“ Wettbewerbsverhalten an: Unternehmen in marktbeherrschender Stellung, die von den Mitteln

65 2. Handlungsbedarfe rung entziehen. Dazu zählt insbesondere das Thema Steuergerechtigkeit: Es lässt sich keinesfalls auf digita- Vor dem Hintergrund des aktuellen, sich speziell in der le Plattformen eingrenzen. Steueroptimierungs- bzw. Rechtsanwendung stetig weiterentwickelnden ord- -vermeidungsstrategien werden heute von vielen inter- nungspolitischen Rahmens ist zu fragen, ob die genann- nationalen Konzernen verfolgt. Ihre (legale) Anwendung ten Regelungen im Einzelnen oder sogar insgesamt an- lässt sich nur durch Eingrenzung des internationalen gepasst werden müssen, um mit der Dynamik der Inter- Steuerwettbewerbs und eine konsequente Schließung netökonomie sowie digitaler Plattformen Schritt zu von Steuerschlupflöchern vermeiden. halten und den Besonderheiten ihrer Geschäftsmodelle gerecht zu werden. Denn nur in einem zeitgemäßen Bei der Benennung konkreter Herausforderungen be- Rechtsrahmen kann sich die europäische Internetwirt- ginnen wir zunächst mit den Themenkreisen, bei denen schaft so entwickeln, dass leistungsfähige Plattform- bestehendes Recht vor allem effektiviert werden muss unternehmen und zugleich eine starke Wettbewerbs- und eher inkrementelle Anpassungen (z.B. Konkreti- intensität mit hohem Innovationspotenzial entstehen. sierungen) erforderlich sind. Im Sinne einer Klimax enden wir mit jenen Handlungsfeldern, bei denen gro- Für die Sicherstellung von fairem Wettbewerb bleibt das ßer und oft auch sehr grundsätzlicher Anpassungsbedarf Kartellrecht weiterhin das naheliegende Werkzeug. Das herrscht. entsprechende Instrumentarium sollte konsequent zur Anwendung kommen, denn nur mit hoher Rechtseffek- Fortführung bestehender Regelungen tivität lässt sich auch im Kontext neuer Marktsitua- Folgende Handlungsfelder bedürfen keiner grundlegen- tionen der Wettbewerb absichern. Um eine effektive den Neugestaltung, weil sich bestehende Regelungen Rechtsanwendung zu ermöglichen, ist jedoch eine Fort- im Wesentlichen sinnvoll fortführen und ggf. weiter- entwicklung und gesetzliche Konkretisierung des Kar- entwickeln lassen. tellrechts erforderlich. Darüber hinaus muss auch wei- tergehende Rechtssetzung geprüft werden, denn bislang Datenschutz | Der Zugang zu Nutzergruppen und deren fehlt es an Rahmenbedingungen, die eine Neutralität Datensets ist der wichtigste Vermögenswert digitaler von infrastrukturähnlichen Plattformen und Ökosyste- Plattformen (und letztlich der nichtmonetäre Gegenwert men sicherstellen. für oft kostenlose Services). Dies sollte jede rechtliche Würdigung der Nutzungspraxis berücksichtigen. Schon In der Plattformökonomie mit ihren mehrseitigen Märk- die gegenwärtige Rechtslage stellt sicher, dass Daten nur ten und komplexen Zusammenhängen gibt es allerdings zu einem hinreichend bestimmten Zweck („specific, auch Handlungsfelder, die sich einer ebenso zielgenau- explicit and legitimate purposes“) gesammelt werden en wie praktikablen wettbewerbsrechtlichen Normie- dürfen und dass dabei die berechtigten Interessen der

66 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

Betroffenen zu wahren sind. Eventuell kann bei exzes- sivem Sammeln von Daten sogar Konditionenmiss- Nur in einem zeit- brauch vorliegen. All dies ist aktuell bereits gesetzlich abgedeckt, bedarf aber der Präzisierung in der kartell- gemäßen Rechts- rechtlichen Praxis. Darüber hinaus sind die Bemühun- gen um Verbraucheraufklärung zu intensivieren, damit rahmen kann sich mehr Menschen von ihren Rechten auch tatsächlich Gebrauch machen. Außerdem gilt es sicherzustellen, die europäische dass die bestehenden und in der Praxis zu konkretisie- renden Regelungen auch europaweit einheitlich ausge- Internetwirtschaft legt und durchgesetzt werden, damit kein innereuropä- isches Regulierungsgefälle mit entsprechenden Wett- so entwickeln, dass bewerbsnachteilen entsteht. leistungs fähige Platt- Illegale Inhalte | Die gegenwärtige Regelung, der zu- folge Plattformen gegen illegale Inhalte einschreiten müssen, sobald sie davon Kenntnis erhalten („notice & formunternehmen take down“), hat sich bewährt und sollte nicht weiter verschärft werden. Jedwedes permanente Monitoring und zugleich eine oder die proaktive Filterung illegaler Inhalte würde Platt- formbetreiber angesichts der unüberschaubaren Masse starke Wettbewerbs- an eingestellten Beiträgen überfordern (täglich mehr als 1 Mrd. Nutzer bei Facebook und 21 Mio. Tweets bei Twit- intensität mit hohem ter!). Schon heute beschäftigen Content-Plattformen weltweit mindestens 100 Millionen „Moderatoren“ zur Innovationspotenzial Beseitigung illegaler Inhalte, die als Verstoß gegen Richt- linien von anderen Nutzern gemeldet wurden. entstehen.

Netzwerkeffekte | Sie sind Kern der Geschäftsmodelle digitaler Plattformen und die jüngste kartellrechtliche Praxis anerkennt ihre Bedeutung für das Wettbewerbs- gefüge. In Deutschland hat das Bundeskartellamt durch das Verbot von Preisparitäten („Bestpreis-Klauseln“) bei

67 Hotelportalen erstmals die wettbewerbsrechtliche Be- deutung von Netzwerkeffekten unterstrichen. Diese Über gesetzliche Sichtweise hat das OLG Düsseldorf im Januar 2015 ge- richtlich bestätigt und sie fand auch Eingang in den Klarstellungen Prüfkatalog der GWB-Novelle. Es ist festzuhalten, dass Netzwerkeffekte einer von mehreren Indikatoren für lässt sich die not- Marktbeherrschung sein können. Gesetzlicher Anpas- sungsbedarf besteht bei der europaweiten Klarstellung wendige Verfahrens- und Vereinheitlichung der Rechtslage. beschleunigung in Zusammenschlusskontrolle | In der EU und in Deutsch land ist die Frage, ob der Vollzug eines Unter- der kartellrecht- nehmenszusammenschlusses formal an eine behördli- che Fusionskontrolle geknüpft ist, strikt an das Errei- lichen Prüf praxis chen bestimmter Mindestumsätze auf beiden Seiten gekoppelt. Diese Praxis generiert eine Schutzlücke im Kontext digitaler Märkte: Erfolgreich gegründete und erreichen. schnell wachsende Internetdienste weisen üblicherwei- se nur geringe Umsätze, aber wertvolle Datenbestände auf, die durch Marktführer bislang ohne behördliche Kontrolle aufgekauft werden dürfen (selbst wenn diese Umsätze im Milliardenbereich tätigen). Es ist deshalb dringend nötig, die kartellrechtliche Praxis anzupassen an die Besonderheiten einer digitalen Wirtschaft, die durch Nutzerzahlen und -daten als wichtigste Währung sowie einen hohen Konzentrationsgrad geprägt wird. Nur so lassen sich fatale Entwicklungen für die Wettbe- werbssituation europäischer Internetanbieter abwen- den. Insoweit sind die mit der 9. GWB-Novelle geplanten Änderungen in Bezug auf die Einbeziehung von Trans- aktionswerten als Aufgreifkriterium begrüßenswert und sollten europaweit Anwendung finden.

68 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

Preise | Digitale Plattformen haben systembedingt ei- werbsrechtlich sicher fassen zu können. Anpassungen nen asymmetrischen Preisbildungsmechanismus. Die- in der Rechtsanwendung wurden beispielsweise im se Praxis ist, sofern zur Nutzergewinnung oder zur Ad- Rahmen der kartellrechtlichen Prüfpraxis teilweise ressierung individueller Marktgegebenheiten nötig, in mühsam hergeleitet und bedürfen gesetzlicher Klarstel- der Kartellrechtspraxis zu berücksichtigen. Dennoch lung, um in Zukunft die notwendige Verfahrensbe- muss gelten: Marktbeherrschende Unternehmen dürfen schleunigung zu erreichen. ihre Stellung gegenüber Privat- wie Geschäftskunden nicht missbrauchen, indem sie überhöhte Preise auf- Geschäftspraktiken | Als Hauptkritikpunkt am Ge- rufen. Im B2B-Segment lautet die Anforderung, Preise schäftsgebaren digitaler Plattformen werden Kunden- so zu gestalten, dass der Zugang zu einer Plattform zu und Lieferantenbeziehungen sowie das darin zum Aus- angemessenen Konditionen möglich ist und bleibt. Im druck kommende Machtgefälle genannt. Es gibt zwar B2C-Segment besteht zudem die Gefahr von Preisdis- Rechtsnormen zur Transparenz über Preise, Konditionen kriminierungen aufgrund soziodemografischer Merk- und Vertragspartner für Endkunden; diese müssen jedoch male oder persönlicher Präferenzen. Sie sind technisch ggf. verfahrensrechtlich effektiviert und vereinheitlicht heute bereits möglich. Handlungsbedarf gäbe es darü- werden, um kein Hindernis im transnationalen Handel ber hinaus, sobald z.B. Versicherungen am Markt ange- darzustellen. Eine Regelung dieser Problemfelder könn- boten würden, bei denen Tarife aufgrund hoher indivi- te erfolgen, indem die UCPD, deren Bestimmungen bisher dueller Gesundheitsrisiken für einige Menschen nicht nur im B2C-Segment gelten, im Rahmen einer Novellie- mehr bezahlbar wären. Grundsätzlich sind beide For- rung stringent auch auf B2B-Beziehungen angewendet men der missbräuchlichen Preisgestaltung – gegenüber und konsequent in nationales Recht umgesetzt wird. Geschäfts- ebenso wie gegenüber Privatkunden – auf Basis geltenden Rechts sanktionierbar, wenngleich es Mit Blick auf Geschäftspraktiken bedürfen drei Punkte in der Praxis oft an der nötigen Umsetzungskonsequenz einer grundlegenden Weiterentwicklung aktuellen mangelt. Rechts: Bei Suchdiensten ist sicherzustellen, dass diese den Verbraucher nicht bewusst täuschen oder ihm aus Anpassungen und Neugestaltungen kommerziellem Interesse irrelevante „Treffer“ präsen- In vielen Bereichen sind die Veränderungen, die mit der tieren – bezahlte Suchergebnisse sind deshalb eindeutig Markttätigkeit digitaler Plattformen einhergehen, so zu kennzeichnen. Treten Vergleichsplattformen auch groß, dass eine grundlegende Überarbeitung bis hin zur als Händler auf, sollten sie Auskunft geben über Marktab- Neugestaltung von Rechtsnormen und Wettbewerbsre- grenzung, Auswahlkriterien und Aktualität der geliefer- geln angebracht erscheint. Derartige Novellierungen ten Information. Und im Falle von Lizenzierungen ist sind insbesondere im Kartellrecht notwendig, um die stärker darauf zu achten, dass Rechteinhaber nicht zu Marktrealitäten mehrseitiger Plattformmärkte wettbe- „competitive bottlenecks“ werden. Hier sind ggf. als Ul-

69 „Angesichts der Ent wicklungen auf digitalen Märkten sind Anpassungen des Rechtsrahmens und der Behördenpraxis nötig.“

Professor Daniel Zimmer Ehemaliger Vorsitzender der Monopolkommission

70 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

tima Ratio strategisch bedeutsame und für einen Ge- hörden Deutschlands und Frankreichs. Eine aktuelle schäftsprozess unverzichtbare Patente im Sinne einer Entscheidung des Bundeskartellamts zur obligatori- „essential facility“ zu bewerten. schen Bereitstellung von Anmeldeinformationen (PIN und TAN) für alternative, bankenunabhängige Bezahl- Umgang mit Daten | Hohe Datenfülle und -dichte kann verfahren zeigt zudem, dass eine gemeinsame Nutzung nicht nur die marktbeherrschende Stellung eines Platt- von infrastrukturrelevanten Daten durch Wettbewerber formbetreibers begründen, sondern sogar Märkte ganz möglich ist und sein muss. verschließen. Ziel eines jeden Unternehmens ist es, möglichst viele Informationen über seine Kunden zu Interoperabilität | Eng mit der Nutzung von Daten erlangen, um das eigene Angebot zu verbessern, Kunden durch Dritte in Zusammenhang steht die Interoperabi- zielgenauer anzusprechen oder neue Geschäftsfelder zu lität. Gemeint ist die Fähigkeit, Nutzerinformationen erschließen. Daten sind deshalb ein wichtiger Inputfak- auszutauschen und weiterzuverarbeiten. Dies wird häu- tor, ihre Verfügbarkeit kann für ein Geschäftsmodell fig durch bewusste Inkompatibilität verhindert – einige essenziell sein. Dies gilt insbesondere für infrastruktur- digitale Plattformen stellen keine offenen Schnittstellen relevante Informationen von hohem öffentlichen Inte- zur Verfügung, über die externe Entwickler sich mit ihren resse (z.B. Geodaten zur Abbildung von Verkehrsflüssen Ideen und Produkten einbringen können. Als wettbe- oder Krankheitswellen). werblich bedenklich einzustufen ist fehlende Interope- rabilität insbesondere, wenn dadurch der Zugang z.B. zu Da heute angesichts der Datenfülle und -dichte z.B. bei nicht substituierbaren Datenpools eingeschränkt wird. Alphabet/Google die Suche nach alternativen, gleich- Weiterhin kann Interoperabilität dabei helfen, das Ent- wertigen Datenpools immer schwieriger wird (Kriterium stehen von Lock-in-Effekten zu verhindern, und damit der Substituierbarkeit), ist zu überlegen, derartige infra- echten Wettbewerb zwischen Plattformen ermöglichen. strukturrelevante Daten über offene Schnittstellen allen interessierten Parteien zu angemessenen Konditionen Vertikalisierung | Die wohl größte Herausforderung für zur Verfügung zu stellen. Für die Verweigerung sollte das Wettbewerbsrecht stellt die vertikale Diversifikation ein klarer, einheitlicher Prüfprozess geschaffen werden. digitaler Plattformen dar. Zwar bietet die Integration von Ohne einen solchen Zugang entstehen hohe Marktein- Diensten unter einem Dach dem Nutzer auch Vorteile trittsbarrieren – zumal, wenn die Nutzung infrastruk- – einfachere Bedienbarkeit, mehr Komfort, nahtlose Ein- turrelevanter Daten durch Lizenzierungen oder andere bindung von Anwendungen. Gleichzeitig sind aber die Kontrollmittel eingeschränkt oder verhindert wird. Ent- wettbewerblichen Wirkungen insbesondere von Vorin- sprechende Bewertungsansätze finden sich in der aktu- stallationen oder Bündelangeboten bedenklich. Nutzer ellen Novellierung des deutschen Wettbewerbsrechts entscheiden sich dann nicht für Produkte, weil sie be- sowie in verschiedenen Arbeitspapieren der Kartellbe- sonders gut sind, sondern schlicht aus Bequemlichkeit

71 bzw. Notwendigkeit. Zudem leistet die Vertikalisierung Die kommenden Regelungen beschränken sich aus- der Verengung oder sogar dem Kippen von Märkten wei- schließlich auf den Bereich personenbezogener Daten. ter Vorschub. Deshalb ist über entsprechende Entflech- Nicht erfasst sind andere Arten von Daten, deren feh- tungsmaßnahmen nachzudenken, z.B. ein konsequentes lende Portabilität in vielen Fällen ebenfalls wettbe- Vorinstallationsverbot für vertikale Dienste, welche die werbshinderlich ist (Reviews, Kaufhistorie, in der Cloud Ausbildung geschlossener Systeme begünstigen. gespeicherte Fotos o.Ä.). In der Tat lohnt ein Wechsel zu einem neuen Anbieter nur, wenn der Nutzen einer neu- Plattformneutralität | Um fairen Wettbewerb zwischen en Plattform die Wechselkosten übersteigt. Sie fallen Plattformen und um ihre Ökosysteme herum zu ermög- umso höher aus, je umfangreicher ein Dienst bislang lichen, ist es zwingend erforderlich, dass Plattformen genutzt wurde und je restriktiver die Möglichkeiten sich gegenüber vor- und nachgelagerten Wertschöp- sind, gespeicherte Daten zu konkurrierenden Plattfor- fungsstufen neutral verhalten. Besondere Sorge ist dafür men zu transferieren. Hier ist ein rechtliches Gegenge- zu tragen, dass eine marktbeherrschende Stellung nicht wicht zu den bestehenden Lock-in-Effekten erforderlich, ausgenutzt und missbraucht wird bzw. werden kann. um den Wettbewerb zu dynamisieren. Im Rahmen der Eine gesetzliche Klarstellung, dass sich gerade marktbe- Initiative „Freier Datenfluss“ der Europäischen Kommis- herrschende Plattformen mit Systemrelevanz (insbeson- sion gilt es, entsprechende Rahmenbedingungen zu dere infrastrukturähnliche Plattformen) neutral gegen- verankern. über vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen verhalten müssen und z.B. eigene vertikale Dienste nicht Alle genannten Maßnahmen und Neuregelungen sollten besser platzieren dürfen, ist dringend erforderlich. folgenden Grundsätzen folgen:

Wahlfreiheit | Die Entscheidung für eine Plattform soll- • Subsidiarität. Neue Regeln braucht es überall dort, wo te aufgrund deren Angebotsqualität, Nutzerorientierung bisheriges Wettbewerbsrecht versagt und die Gefahr und Kostenstruktur fallen und nicht mangels Alternati- nachhaltiger Wettbewerbsschädigung durch markt- ven oder wegen zu hoher Wechselkosten. De facto haben mächtige Akteure zu befürchten ist. alle Maßnahmen, die Datenportabilität zu verbessern, • Dynamisierung. Maßnahmen sollen nicht Unterneh- bislang wenig Fortschritt gebracht: Noch immer machen men mit unterlegenem Geschäftsmodell schützen, kaum Nutzer davon Gebrauch, ihre personenbezogenen sondern Innovationspotenzial freisetzen. Daten auf eine neue Plattform umzuziehen. Jedoch kann • Verhältnismäßigkeit. Die Kur darf nicht schlimmer sich dies ggf. mit Inkrafttreten der DSGVO im Mai 2018 sein als die Krankheit. Vor jeder Maßnahme ist eine ändern. Denn dann ist die Datenportabilität gesetzlich sorgfältige Kosten-Nutzen-Abwägung zu treffen. festgeschrieben und Unternehmen werden diese in grö- • 360-Grad-Perspektive. Neuregelungen müssen immer ßerem Umfang als bisher leisten (müssen). alle Marktseiten und Nutzergruppen im Blick behalten.

72 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

Die Interdependenz mehrseitiger Märkte gilt es zu be- rücksichtigen. Grundsätzlich sollte • Leistungsprinzip. Markterfolg muss belohnt werden, Innovation muss sich auszahlen. Dies darf jedoch kein gelten: So viel Markt Argument für das Ausnutzen von Marktmacht zulasten des Wettbewerbs sein. wie möglich, so viel

Grundsätzlich sollte gelten: So viel Markt wie möglich, Regeln wie nötig. so viel Regeln wie nötig. Nur dieser Leitgedanke ermög- licht maximale Wohlfahrtsgewinne für alle europäi- schen Bürger. Gerade die Internetökonomie mit ihren besonders kundenzentrierten Geschäftsmodellen ver- fügt über starke Selbstheilungskräfte, die es zu stimu- lieren gilt. Dies alles kann im Großen und Ganzen in- nerhalb des bestehenden Rechtsrahmens erfolgen – ein Systemwechsel und eine horizontale Plattformregulie- rung oder Per-se-Verbote sind nicht erforderlich. Viel- mehr muss mittels einer angepassten Rechtssetzung sichergestellt werden, dass Neutralitätsverpflichtungen für systemrelevante Plattformen einen fairen Wettbe- werb ermöglichen.

Zugleich muss das Wettbewerbsrecht dringend grundle- gend weiterentwickelt werden, um missbräuchlichem Verhalten marktmächtiger Plattformen begegnen zu kön- nen. Mit der zurzeit in Diskussion befindlichen Novel- lierung des deutschen Wettbewerbsrechts wurden erste legislative Schritte eingeleitet. Nicht zuletzt ist seine Effektivierung z.B. durch Verfahrensbeschleunigung er- forderlich. Mittelfristiges Ziel sollte eine abgestimmte europäische Herangehensweise sein. Geschieht dies al- les nicht, werden die führenden Plattformnationen der Welt – die USA und China – weiterhin Fakten schaffen.

73 3. Handlungskonzept ßen unmittelbar an die auf den Seiten 49 ff. entwickelte Pyramidenstruktur an, wonach Plattformen höherer Nach Herausarbeitung der wesentlichen Handlungsbe- Ordnung wettbewerblich differenziert zu behandeln darfe wenden wir uns nun der Frage zu, wie sich diese sind und für infrastrukturähnliche Systeme besonders Erkenntnisse konzeptionell umsetzen lassen. Wir ent- hohe Anforderungen zu gelten haben. wickeln im Folgenden Vorschläge für einen neuen kar- tellrechtlichen Prüfprozess, anhand dessen sich Markt- Prüfprozess macht und Systemrelevanz in mehrseitigen Märkten Voraussetzung für die Einleitung eines kartellrechtli- identifizieren lassen. Die einzelnen Prüfpunkte schlie- chen Verfahrens ist die Existenz eines nicht hinreichend

P Kra ftprobe: Eine ausgewogene Analyse von Marktmacht und Systemrelevanz digitaler Plattformen sollte 9 Schritte umfassen

Wettbewerblicher Prüfprozess

Zugang zu Reichweite Internetdiensten → Erfolgreiche Interaktionen → Betriebssysteme und Browser → Anteil am Online-Werbemarkt → App Stores und Social Logins

Nutzerdurchdringung Technologieinduzierter Lock-in → Verbundvorteile → Nutzungsfrequenz → Vorinstallationen und Bündelungen → Installierte Basis Marktmacht und Nutzungsform Systemrelevanz Informationsflterung → Single-Homing → Suchneutralität → Angebotsdiferenzierung → Kriterien von Rankings und Ratings

Dateninduzierter Lock-in Vertikalität → Portabilität personenbezogener Daten → Tiefe der Wertschöpfung → Wechselkosten aufgrund anderer → Wirtschaftliche Abhängigkeiten Daten von persönlichem Wert Innovationspotenzial → Überwindung von Marktfriktionen → Verbesserte allokative Efzienz

Quelle: Roland Berger

74 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

kontrollierten Verhaltensspielraums. Wann ist dieser Für die Reichweite einer digitalen Plattform und damit gegeben? Bei der Einschätzung der Marktmacht digitaler ihren Markterfolg primär relevant sind erfolgreiche In- Plattformen und ihres etwaigen Missbrauchs tun sich teraktionen. Als zentraler Indikator hierfür eignen sich Wettbewerbsökonomen schwer, weil die gängigen die „unique visitors“. Diese i.d.R. routinemäßig erhobe- Benchmark-Tests wie SSNIP (Small but Significant ne Kennziffer misst die Zugriffshäufigkeit eines Diens- Non-transitory Increase in Price) bei mehrseitigen Märk- tes. Sie bringt am deutlichsten den Wettbewerbsvor- ten versagen. Das Merkmal der Systemrelevanz ist vom sprung gegenüber der nächstplatzierten Plattform aus bisherigen Verfahren gar nicht abgedeckt. Deshalb skiz- demselben Segment zum Ausdruck. Nur ein Beispiel: zieren wir im Anschluss einen neuen wettbewerblichen Bei den Accounts bzw. Gelegenheitsnutzern liegt Face- Prüfprozess. Als seine Kernparameter sehen wir: Reich- book hinter Google+, dessen hohe Nutzerzahl vor allem weite, Nutzerdurchdringung, Nutzungsform und daten- der Verknüpfung des Netzwerks mit anderen Diensten induzierter Lock-in als Primärindikatoren zur Bestim- aus demselben Haus geschuldet ist. Bei den regelmäßi- mung von Marktmacht; Netzzugang, technologie- gen Nutzern hat Facebook jedoch einen gewaltigen Vor- induzierter Lock-in, Informationsfilterung und Vertika- sprung – klares Indiz, dass es mehr und werthaltigere lität zur Beurteilung vor allem der Systemrelevanz; Interaktionen generiert und damit über eine höhere schließlich Innovationspotenzial als übergreifenden Reichweite verfügt. →Q und entlastenden Faktor. →P Als weiteres Kriterium für die Reichweite digitaler Platt- Dieser Prüfprozess macht die „contestability“ zum zen- formen dienen kann beispielsweise ihr Anteil am On- tralen Maßstab, also die Bestreitbarkeit eines Marktes. line-Werbemarkt. Damit stehen Fragen nach Marktdominanz und funkti- onellen Alternativen im Mittelpunkt der Analyse. Schritt 2 — Nutzerdurchdringung | Neben der Größe der Nutzergruppen spielt auch ihre Durchdringung mit Schritt 1 — Reichweite | Als erster Filter für die Evalu- Angeboten zu Interaktionen und Transaktionen unter- ierung von Marktmacht wird im traditionellen Prüfpro- schiedlichster Art eine wichtige Rolle, um Qualität und zess der Anteil eines Unternehmens am relevanten Marktmacht eines Netzwerks beurteilen zu können. Ein Markt verwendet. Bei digitalen Plattformen springt die- zentraler Indikator hierfür sind Verbundvorteile, denn se Betrachtung zu kurz: So sagt die Zahl der Nutzer (von sie ermöglichen eine Hebelung von Marktmacht. Ins- denen möglicherweise nur wenige regelmäßig aktiv besondere Betreiber eigener Ökosysteme kommen in sind) als Maß für den Marktanteil bei unentgeltlichen den Vorteil von „windfall profits“, weil sie z.B. durch Leistungsbeziehungen wenig über die Qualität und den Vorinstallationen, Produktkoppelungen und Bündelan- Wert eines Netzwerks aus. gebote einfach die Nutzerbasis eines Marktes auf einen anderen (zumindest teilweise) übertragen können.

75 Als Näherungswert für diese Verbundvorteile kann die Daneben kann die Nutzungshäufigkeit als weiteres Kri- Reichweite von Diensten verschiedener Ebenen dienen terium hinzugezogen werden. Von einer starken Durch- (also z.B. die akkumulierte Zahl von regelmäßigen Nut- dringung ist insbesondere dann auszugehen, wenn sich zern eines Betriebssystems, einer Suchmaschine, eines Nutzer mit hoher Frequenz in einen Dienst einloggen, Content-Portals oder eines Messengers auf einer integ- dieser also zum (vielleicht nicht unverzichtbaren, aber rierten Plattform). Diese Quersynergien zu berücksich- doch wesentlichen) Bestandteil ihres täglichen Lebens tigen ist auch deshalb so wichtig, weil daraus die reich- geworden ist. haltigsten Datenpools resultieren und weil sie den „Su- perstar-Effekt“ weiter befeuern (Popularität generiert Schritt 3 — Nutzungsform | Als dritter Prüfpunkt eig- mehr Popularität). net sich die vorherrschende Nutzungsform, denn diese

Q Digitaltre fs: Facebook zeichnet sich durch hohe Nutzeraktivität aus, während Google+ einer Geisterstadt gleicht

Anzahl an Konten/Nutzern [Mio.]

Facebook Google+ 2.500

1.710

1.130

300

Aktive Nutzer pro Monat Täglich aktive Nutzer Konten insgesamt Aktive Nutzer

Quelle: Facebook; Google; TechTimes.com; Roland Berger

76 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

entscheidet wesentlich über die Wechselkosten und rie (besseres Matching) und durch Nutzerbewertungen damit darüber, ob funktionelle Alternativen überhaupt (bei denen man im Wechselfall wieder bei null anfängt). in Erwägung gezogen werden. An Nutzungsformen un- Hinzu kommt eine natürliche Trägheit der Anwender, terscheiden lassen sich Single-Homing (es wird in ei- die eine erneute Anmeldeprozedur vermeiden möchten. nem Segment nur eine einzige Plattform genutzt) und Multi-Homing (parallele Nutzung mehrerer Dienste). Wettbewerblich besonders kritisch ist aber der datenin- Wo Single-Homing vorherrscht, wächst auch die Gefahr duzierte Lock-in: Fehlt es an Datenportabilität, d.h., eines Kippens von Märkten. Bereits die Marktbeherr- können Nutzer nicht ihre personenbezogenen (und ggf. schung auf nur einer Seite kann diesen Prozess einlei- weitere) Daten umziehen, sinkt die Wechselbereitschaft ten, weil die betreffende Plattform für eine Nutzerseite dramatisch – mit der Folge, dass sich auch innovative nahezu unverzichtbar wird. Dieser Effekt verstärkt sich, Angebote kaum etablieren können. Ein Markt ver- wenn wenige Möglichkeiten der Angebotsdifferenzie- schließt sich und seine Nutzer werden in ihrer Wahl- rung existieren, z.B. in Form von Nischenprodukten. freiheit beschränkt.

Es gibt Plattformen und Dienste, bei denen Single-Ho- Hohe Wechselkosten in Form von dateninduzierten ming quasi die natürliche Nutzungsform darstellt. So Lock-ins (und Single-Homing) sind Innovationsblocka- hat sich eBay u.a. deshalb als führende Auktionsplatt- den. Das Interesse von Plattformbetreibern, in Eigenin- form etablieren können, weil Single-Homing hier zu itiave technische Standards zu entwickeln, um ihren maximaler Marktaggregation führt – mit Vorteilen für Nutzern jederzeit Einsicht in ihre personenbezogenen beide Nutzerseiten. Geradezu unausweichlich ist diese (und ggf. weitere) Daten zu gewähren und diese auch Nutzungsform bei Betriebssystemen. Dagegen gibt es downloadfähig und übertragbar zu machen, ist ver- zunächst keinen offensichtlichen Grund für Single-Ho- ständlicherweise gering und muss durch nachfragesei- ming z.B. bei Suchmaschinen. In diesem Fall ist die tige Impulse gestärkt werden. Deshalb ist auch vonseiten Festlegung auf eine Alternative vor allem der vorgefun- des Verbraucherschutzes noch viel Aufklärungsarbeit denen Installationsbasis und der Bequemlichkeit und zu leisten, um den Wert von Daten verständlich und ggf. Risikoscheu der Nutzer geschuldet, daran Änderun- greifbar zu machen. gen vorzunehmen. Darüber hinaus ist das Prinzip der Datenportabilität auf Schritt 4 — Dateninduzierter Lock-in | Ein weiteres weitere Datenpools auszuweiten. Denn es sind nicht die Indiz für hohe Wechselkosten sind ausgeprägte personenbezogenen Daten allein, die Nutzer von einem Lock-in-Effekte. Jede Plattform generiert eine gewisse Umzug abhalten. Hohe Wechselkosten verursachen ins- Kundenbindung durch ihre Netzwerke (die man verliert, besondere die bereits genannten Datenarten wie Kauf- wenn man die Plattform verlässt), durch die Kaufhisto- historien, Chroniken, Alben oder Listen, die einen ho-

77 hen persönlichen Wert darstellen und ohne Portabilität es für Benutzer eines Android-Smartphones heute prak- schlagartig verloren gingen. Für sie sollten die Bestim- tisch unmöglich, die proprietären Dienste von Google mungen der DSGVO entsprechend gelten und sie sollten zu umgehen. Diese sind erstens wegen Googles Lizen- im Prüfprozess ebenfalls berücksichtigt werden. zierungspolitik ab Werk auf dem Gerät vorhanden und lassen sich auch nicht ohne Weiteres löschen; dazu → Bezogen sich Schritt 1 bis 4 vor allem auf die Ermitt- zählen zwingend Search und Chrome sowie i.d.R. auch lung der Marktmacht, so dienen Schritt 5 bis 8 primär Play Store, Gmail, Google+, Google Maps oder YouTube. der Beurteilung der Systemrelevanz. Darüber hinaus werden sie im Bündel angeboten, sodass sich einzelne Applikationen nur schwer austauschen Schritt 5 — Zugang zu Internetdiensten | An erster lassen bzw. Wettbewerber selbst mit gleich- oder höher- Stelle steht hierbei die Frage des Zugangs zu Internet- wertigen Diensten nicht zum Zug kommen. Mehr noch: diensten. Plattformen mit Infrastrukturcharakter schaf- Wegen der Größe der installierten Basis ist ein Wechsel fen überhaupt erst die technische Möglichkeit, diese zu unattraktiv, da potenziell z.B. mit Kompatibilitätspro- erreichen. Sie können damit die Rolle einer essenziellen blemen verbunden (ein Punkt, der Desktop-Produkten Schnittstelle einnehmen, die den Zugang zu einer we- von Microsoft über Jahre hinweg hohe Marktanteile ge- sentlichen Einrichtung kontrolliert. Eine solche Qualität sichert hat). ist vor allem Betriebssystemen und Browsern (erst recht in Kombination) zuzuschreiben, aber auch App Stores, Vorinstallationen, Produktbündelungen und die Größe die als „competitive bottleneck“ für mobile Anwendungs- der installierten Basis schaffen einen technologieindu- software fungieren, sowie Social Logins, die in Verbin- zierten Lock-in, der im Ergebnis wettbewerbsschwä- dung mit Single-Homing ein geschlossenes System bil- chend und innovationsfeindlich wirkt, wegen der Sys- den können: Im Extremfall bewegt sich der Nutzer dann temrelevanz der einzelnen Komponenten und der Höhe nur noch in diesem „Netz im Netz“ und hinterlässt seine der Wechselkosten aber kaum umgangen werden kann. Datenspur bei einem einzigen Betreiber. Schritt 7 — Informationsfilterung | Als weiterer Prüf- Schritt 6 — Technologieinduzierter Lock-in | Sys- punkt für Systemrelevanz (und auch Marktmacht) ist die temrelevanz kann zweitens auch dadurch entstehen, Art der Informationsfilterung zu analysieren. Von der dass bestimmte technische Einrichtungen einen De- riesigen Informationsfülle, die im Internet selbst bei facto-Standard bilden, den Nutzer nur zu hohen Kosten Nischenthemen zur Verfügung steht, bekommen Nutzer umgehen können. immer nur winzige Ausschnitte zu sehen. Es sind Algo- rithmen, also Rechenroutinen, die darüber bestimmen, Dies ist insbesondere dann gegeben, wenn Dienste vor- was eine Plattform für ihre Nutzer als relevant erachtet installiert sind und im Bündel angeboten werden. So ist (Phänomen der „filter bubble“). Die zugrunde liegenden

78 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

Kriterien, nach denen diese Auswahl vorgenommen Schritt 8 — Vertikalität | Als vorletzter Prüfpunkt ist wird, sind jedoch als Betriebsgeheimnisse i.d.R. öffent- zu berücksichtigen, wie groß die Wertschöpfungstiefe lich nicht zugänglich. Insbesondere bei den bereits ge- einer Plattform ist und inwieweit vor- oder nachgela- nannten Interessenskonflikten – eine Plattform agiert gerte Wertschöpfungsprozesse in Abhängigkeit von ei- z.B. zugleich als Händler wie auch als Intermediär – ist ner Plattform gelangen können. die Suchneutralität gefährdet. Diese setzt voraus, dass alle Ergebnisse einem Mindestanspruch an Gleichheit, Ein Beispiel für diese Abhängigkeit bieten die Websites/ Objektivität, Relevanz und Transparenz genügen. Apps von Medien. Sie stellen Inhalte zur Verfügung, die Aufmerksamkeit generieren; die Intermediation – in Dieser Punkt ist deshalb so wichtig, weil Untersuchun- diesem Fall die nutzergerechte Bereitstellung von Wer- gen zufolge bereits der zweite Eintrag einer (natürlichen) bung – übernehmen jedoch Plattformen wie Google, Trefferliste nur halb so oft angeklickt wird wie der Spit- konkret AdSense für die kontextabhängige Display-Wer- zenreiter, der rund ein Drittel aller Klicks auf sich vereint bung und DoubleClick als Analyse-, Management- und („click-through rate“). Je nachdem, wie stark die jeweili- RTB-Auktionstool („real-time bidding“). Von der Wert- ge Marke ist, kann die Differenz zwischen Erst- und schöpfung bleibt den Inhalteanbietern nur ein Bruchteil. Zweitplatziertem sogar noch wesentlich höher ausfallen. Ein weiteres Beispiel liefern Handelsplattformen wie Auch wenn es eine absolute Such- und Informations- Amazon. Sie verkaufen nicht nur die Produkte von Part- neutralität nicht gibt und Plattformbetreibern bei der nern, sondern übernehmen für diese auch Payment- und Frage, was sie jeweils für nutzerrelevant halten, ein Er- Fulfillment-Funktionen und sogar Web Services. Diese messensspielraum zuzubilligen ist: Willkürliche oder Dienste könnten von Partnerunternehmen alleine in ganz überwiegend von kommerziellen Interessen ge- vielen Fällen nicht geleistet werden und ihnen bliebe steuerte Trefferpositionierungen oder auch Rankings der Zugang zu einer großen Kundenbasis größtenteils und Ratings sind schon bei mäßiger Marktmacht als verwehrt. Diese wichtige Schnittstellenfunktion dürfen systemrelevant einzustufen, weil sie dem Leistungsver- Handelsplattformen allerdings nicht missbrauchen, sprechen einer Plattform und den Erwartungen ihrer weil sie mit einer Gatekeeping-Funktion verbunden ist. Nutzer widersprechen. Dies gilt insbesondere für Diens- Im Extremfall – wie bei Googles mobilem Betriebssys- te mit Portalfunktion (z.B. Suchmaschinen, Werbeallo- tem Android – benötigen die Partner sogar eine Lizenz, katoren, hybride Marktplätze), die sich einer Prüfung um auf einem Markt überhaupt geschäftlich tätig wer- ihrer Auswahl- und Vergleichskriterien unterziehen den zu können. müssen, weil mit verzerrter Informationsfilterung eine nachhaltige Diskriminierung des Wettbewerbs verbun- Über diese besonderen wirtschaftlichen Beziehungen den sein kann. sind marktbeherrschende Plattformen in der Lage, ge-

79 „Absolute Verbote sollten ein letztes Mittel bleiben.“

Elżbieta Bieńkowska EU-Kommissarin für den Binnenmarkt, Industrie und Unternehmertum sowie kleine und mittlere Unternehmen

80 Spielregeln: Wie mehr Wettbewerb geschaffen werden kann

genüber ihren Partnern u.U. Preisparitäten, Meistbegüns- fall können auch unternehmensstrukturelle Maßnah- tigungen oder Exklusivitätsvereinbarungen durchzuset- men wie eine Entflechtung von Diensten angezeigt sein, zen. Somit bildet Vertikalität einen wichtigen Indikator falls die Bündelung von Angeboten ohne echte Wahlfrei- für Systemrelevanz und zugleich für Marktbeherrschung: heit den Wettbewerb gefährdet. Ohne Anschluss an eine Plattform keine Geschäftstätig- keit (oder zumindest keine mit Aussicht auf Erfolg)!

Schritt 9 — Innovationspotenzial | Als entlastender Faktor ist abschließend das Innovationspotenzial zu eva- luieren: Gesetzt den Fall, dass die vorhergehenden Prüf- punkte ganz oder überwiegend erfüllt sind, kann ein wettbewerblicher Prüfprozess u.U. dennoch zugunsten eines marktbeherrschenden Unternehmens ausfallen. Dann nämlich, wenn das Unternehmen durch Produkt- neuerungen, Geschäftsmodell-Innovationen, Überwin- dung von Marktfriktionen oder eine verbesserte alloka- tive Effizienz den Markt dynamisiert und wesentlich zur ökonomischen Wohlfahrtssteigerung beiträgt. Dieses relativierende Element darf aber keinesfalls als Freibrief für wettbewerbsschädigendes Verhalten dienen.

Rechtliche Würdigung Bei der abschließenden rechtlichen Beurteilung aller Prüfpunkte sind diese in ihrer Gesamtheit zu würdigen: Ist die aktuelle Konstellation geeignet, einen Markt zu verschließen? Wird selbst potenzieller Wettbewerb weit- gehend verunmöglicht? Und sind ganz konkrete Miss- brauchstatbestände erfüllt, mit denen ein Unternehmen diesen Zustand bewusst herbeigeführt hat?

Nur wenn all diese Fragen uneingeschränkt oder über- wiegend mit Ja zu beantworten sind, darf eine Geldbuße oder eine andere Sanktion verhängt werden. Im Extrem-

81 82 Wachstumsagenda: Politische Handlungs- empfehlungen

WACHSTUMS- AGENDA: POLITISCHE HANDLUNGS- EMPFEHLUNGEN

Veränderte Marktrealitäten erfordern einen neuen Ordnungsrahmen. Das Zehn-Punkte-Programm für eine vitale europäische Digitalwirtschaft

83 Das Erstarken digitaler Plattformen verändert nicht nur Förderung des nachhaltig die Marktrealitäten, sondern schafft auch 1 Digital Single Market (DSM) große Potenziale für die europäische Internetwirtschaft. Europa braucht einen einheitlichen Rechtsrahmen für den digitalen Binnenmarkt. Nur wenn der aktuelle Fli- Ausgangspunkt unserer Überlegungen war das Ziel, wei- ckenteppich an rechtlichen Bestimmungen zu einem tere erfolgreiche Plattformen in Europa entstehen zu stringenten Regelwerk verwoben wird, kann sich die lassen. Grundlage für die Nutzung dieser Potenziale ist Dynamik der Internetökonomie entfalten. Nach Ein- ein fairer Wettbewerb, der auch neuen Wettbewerbern schätzung der Europäischen Kommission vergibt Euro- den Markteintritt ermöglicht. pa jedes Jahr ein ökonomisches Potenzial von 415 Mrd. EUR an Wachstum seines Bruttoinlandsprodukts (BIP), Veränderte Marktrealitäten erfordern Anpassungen an weil wegen Marktbarrieren die Wohlfahrtseffekte eines die bislang bewährten Rahmenbedingungen. Im Folgen- digitalen Binnenmarkts nicht ausgeschöpft werden kön- den machen wir daher zehn konkrete Vorschläge, wie nen. Die in der DSM-Strategie der Kommission vorgese- sich der Rechts- und Ordnungsrahmen für digitale Platt- henen Maßnahmen wie besserer Online-Zugang für formen so gestalten lässt, dass für ganz Europa ein frei- Verbraucher und Unternehmen, günstige Bedingungen er, ungehinderter und innovationsfördernder Wettbe- für florierende digitale Netze und Dienste sowie best- werb in der Internetökonomie und speziell zwischen mögliche Ausschöpfung des Wachstumspotenzials der digitalen Plattformen sichergestellt werden kann. →R europäischen digitalen Wirtschaft müssen deshalb rasch umgesetzt werden. Zusätzlich gilt es, weitere Har- monisierungen z.B. von Urheber- und Steuerrecht sowie Verbraucher- und Datenschutzgesetzen vorzunehmen. Einheitliche Standards für alle in Europa tätigen Inter- netunternehmen erhöhen die Rechtssicherheit und verhindern das derzeitige Rosinenpicken. Es gilt, einen Wettlauf um das niedrigste Regulierungsniveau zu ver- hindern, denn es würde volkswirtschaftlich ähnlich negative Folgen zeitigen wie aktuell beim innereuropä- ischen Steuerwettbewerb zu beobachten.

Aufhebung der 2 Regulierungsasymmetrie Die Wettbewerbsregeln der Internetökonomie müssen marktübergreifend und branchenneutral gelten. Das

84 Wachstumsagenda: Politische Handlungs- empfehlungen

bedeutet eine konsequente Anwendung und Umsetzung des Marktortprinzips, sodass in allen wettbewerblich Einheitliche relevanten Bereichen für sämtliche Anbieter, die in ei- nem Markt tätig sind, die gleichen Regeln gelten – un- Standards für alle in abhängig von ihrer Herkunft – und diese Regeln auch zeitnah umgesetzt werden. Nur so lässt sich verhindern, Europa tätigen Inter- dass Plattformen mit Infrastrukturcharakter („bottle- necks“) Wettbewerbsvorteile aus einem Regulierungs- netunternehmen gefälle ziehen können. Vor dem Hintergrund zunehmen- der Konvergenz verschiedener Märkte sollten darüber erhöhen die Rechts- hinaus überholte Regelungen evaluiert und, wo eine rechtliche Vorschrift noch ihre Berechtigung hat, kon- sicherheit. Es gilt, sequent alle Marktteilnehmer einbezogen werden. einen Wettlauf um Anpassung der kartellrechtlichen 3 Missbrauchsaufsicht Dieses bewährte Instrument der Wettbewerbskontrolle das niedrigste muss an digitale Märkte adaptiert und effektiv angewen- det werden. Insbesondere gilt es, die Marktanalyse (sach- Regulierungs niveau lich relevanter Markt) und die Bestimmung einer markt- beherrschenden Stellung an die Charakteristika digitaler zu verhindern. Plattformmärkte anzupassen (z.B. Einbeziehung unent- geltlicher Märkte). Die gewonnene Rechtsklarheit würde die Aufsichtsbehörden befähigen, künftig schneller auf missbräuchliches Verhalten zu reagieren. Denn nur ra- sches und konsequentes Handeln der Wettbewerbshüter kann die „bottlenecks“ und „gatekeepers“ der Internet- ökonomie wirksam daran hindern, ihre Marktmacht zu missbrauchen. Um die Reaktionszeit zu verringern, ist zudem eine bessere Ressourcenausstattung der Behör- den angezeigt. Denn um die erforderliche Verfahrensbe- schleunigung und -effektivierung in den oft sehr kom- plexen Wettbewerbsverfahren im Bereich der Internet-

85 Eine europäische Agenda für Wachstum, Wettbewerb, Innovation R

1. Förderung des Digital Single Market Europa muss den Flickenteppich an rechtlichen Bestimmungen überwinden, um das ökonomische Potenzial des digitalen Binnenmarkts von 415 Mrd. EUR an zusätzlichem Wachstum pro Jahr zu heben. 2. Aufhebung der Regulierungsasymmetrie Die Wettbewerbsregeln der Internetökonomie müssen marktübergreifend und branchenneutral gelten. Gleiches Recht für alle Anbieter, die in einem Markt tätig sind! 3. Anpassung der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht Die Kartellbehörden sind mit klaren Richtlinien und mehr Ressourcen auszustatten, um schneller auf Missbräuche in digitalen Märkten reagieren zu können. 4. Neufassung der Kriterien für Unternehmenszusammenschlüsse Neben dem Umsatz sollte auch der Transaktionswert (Kaufpreis) als Aufgreif- kriterium der Fusionskontrolle in digitalen Märkten zur Anwendung kommen. 5. Verbesserung der Datenportabilität Verbraucher sollten alle Daten von persönlichem Wert auf andere Plattformen mitnehmen können; Unternehmen sollten infrastrukturrelevante Daten zu angemessenen Konditionen nutzen dürfen. 6. Umsetzung einer konsequenten Entbündelung vertikaler Dienste Die Bildung geschlossener Systeme durch Vorinstallation ist zu erschweren, indem für zentrale Anwendungen eine Auswahlmöglichkeit verpfichtend wird. 7. Sicherstellung einer Plattformneutralität Inhaber von wichtigen Zugängen z.B. zu Infrastrukturen sollten diese diskriminierungsfrei gewähren. Dies ist ggf. europaweit durch Kontrahierungszwang sicherzustellen. 8. Gründung einer Europäischen Digitalagentur Die Zuständigkeiten für digitale Märkte sollten bestenfalls auf EU-Ebene unter einem Dach gebündelt werden, um mit der Dynamik der Internetökonomie Schritt halten zu können. 9. Bildung von Allianzen Das wertschöpfende Plattformgeschäft muss groß und grenzübergreifend gedacht werden. Zur Entwicklung von Standards oder Förderung von Investitionen sind breite transnationale Allianzen zu bilden. 10. Finanzierung und Förderung innovativer Start-ups Wenn Europa stärker von Wertschöpfung und Innovationskraft der digitalen (Plattform-)Wirtschaft proftieren will, brauchen Gründerunternehmen mehr Wachstumskapital.

86 Wachstumsagenda: Politische Handlungs- empfehlungen

ökonomie zu erreichen, sind entsprechend qualifizierte Unternehmen der Zugang zu infrastrukturrelevanten Mitarbeiter in ausreichender Zahl sowie adäquate tech- Daten z.B. in den Bereichen Verkehr oder Gesundheit zu nische Einrichtungen und Instrumente erforderlich. gewähren ist.

Neufassung der Kriterien für Umsetzung einer konsequenten 4 Unternehmenszusammenschlüsse 6 Entbündelung vertikaler Dienste Wie in der GWB-Novelle vorgesehen, sollte bei der Fu- Damit Plattformen mit Infrastrukturcharakter ihre sys- sionskontrolle nicht nur der Umsatz, sondern auch der temrelevante Rolle nicht unbillig auf vor- und nachge- Transaktionswert (Kaufpreis) Berücksichtigung finden. lagerte Märkte ausdehnen und wettbewerbsschädlich Dieses Aufgreifkriterium muss, um seine Wirkung ent- sowie wohlfahrtsmindernd agieren, müssen bislang falten zu können, europaweit und für alle Plattformen geschlossene Systeme besser zugänglich gemacht wer- gelten. Denn nur durch eine Ausweitung der Fusions- den. Die Notwendigkeit einer vertikalen Entbündelung kontrolle kann dieses aktuell in digitalen Märkten weit- gilt insbesondere für integrierte Dienste, die z.B. auf dem gehend wirkungslose Instrument wieder die ihm zuge- Wege der Vorinstallation mit dem Betriebssystem zu ei- dachte Aufgabe erfüllen: einen wohlfahrtssteigernden ner „Plattform-Plattform“ verknüpft sind, sowie für den und innovationsfördernden Wettbewerb mit echter Fall, dass eigene Produkte gegenüber dem Wettbewerb Wahlfreiheit zu gewährleisten. ohne sachlichen Grund bevorzugt werden. Wie bereits 2004 in der kartellrechtlichen Auflage für Microsoft Verbesserung der Windows realisiert, könnte diese Entbündelung auf dem 5 Datenportabilität Wege eines Verbots der Verknüpfung vertikaler Dienste Ergänzend zur in der DSGVO verbürgten Datenportabi- mit dem Betriebssystem erfolgen. Umgekehrt heißt dies, lität für personenbezogene Daten müssen Verbraucher dass für alle Anwendungen, die für die regelmäßige und in die Lage versetzt werden, auch andere Daten bei ei- zweckmäßige Nutzung einer Plattform wesentlich sind, nem Wechsel des Anbieters mitzunehmen. Grundlage eine Auswahlmöglichkeit verpflichtend sein sollte. dafür sind offene Schnittstellen und interoperable For- mate, um dem Entstehen von Lock-in-Effekten aktiv Sicherstellung entgegenzuwirken. Dies gilt sowohl für Plattformen mit 7 einer Plattformneutralität Infrastrukturcharakter als auch für solche mit Portal- Der aktuelle Fall Apple vs. Spotify zeigt: Der Inhaber von funktion („bottlenecks“ und „gatekeepers“). Entspre- wichtigen Zugängen z.B. zu Infrastrukturen muss diese chende Anreize sollten im Rahmen der Initiative „Frei- diskriminierungsfrei gewähren und darf sie nicht mit er Datenfluss“ der Europäischen Kommission gesetzt der Pflicht verknüpfen, weitere Leistungen in Anspruch werden. Darüber hinaus ist zu überlegen, inwieweit zu nehmen – insbesondere im Falle von Eigeninteressen interessierten Parteien seitens marktbeherrschender als Anbieter eines Konkurrenzprodukts. App Stores in

87 „ Europa kann nur als poli- tische Einheit funktionieren, wenn jedes euro päische Land nicht irgendwelche Maß - nahmen ergreift, die anderen Ländern schaden.“

Professor Joseph Stiglitz Ex-Chefökonom der Weltbank und Nobelpreisträger

88 Wachstumsagenda: Politische Handlungs- empfehlungen

der zurzeit duopolistischen Welt der mobilen Betriebs- Außerdem ist es oft sinnvoll, über die bestehenden Un- systeme, aber auch andere marktbeherrschende und ternehmens- und Branchengrenzen hinaus zu denken, systemrelevante Plattformen („bottle necks“) müssen um z.B. von externer Innovation zu profitieren. Erst sich gegenüber Partnern und insbesondere Wettbewer- recht gilt der Aufruf zur grenzüberscheitenden Zusam- bern neutral verhalten – von der Aufnahme neuer Pro- menarbeit den EU-Staaten. Die europäische Internet- dukte bis zu den angebotenen Nutzungsbedingungen ökonomie wird nur an Schlagkraft gewinnen können, und Zahlungssystemen. Dies ist europaweit über ent- wenn z.B. der Ausbau der Breitband-Infrastruktur oder sprechende gesetzliche Regelungen sicherzustellen, u.a. die Förderung von Investitionen koordiniert angegan- durch Verankerung eines Kontrahierungszwangs zu gen werden. angemessenen Bedingungen. Finanzierung und Förderung Gründung einer 10 innovativer Start-ups 8 Europäischen Digitalagentur Mehr Wachstumskapital und attraktive Finanzierungs- Ergänzend zu den bestehenden Wettbewerbs- und Re- modelle für innovative Gründerunternehmen sind der gulierungsbehörden sollte bestenfalls auf europäischer wirkungsvollste Beitrag, damit Europa stärker von der Ebene eine ressortübergreifende Agentur geschaffen Wertschöpfung der digitalen (Plattform-)Wirtschaft pro- werden, die verschiedene Zuständigkeiten für digitale fitiert. Die nationalen Förderinstrumente sind neu aus- Märkte unter einem Dach bündelt. Eine derartige supra- zurichten (siehe Band 1 „Deutschland digital“) und über nationale Behörde würde es auch vereinfachen, die nö- eine gemeinsame europäische Innovationsförderung tige IT-, Markt- und Wettbewerbsexpertise aufzubauen, ist nachzu denken. um mit der Dynamik der Internetökonomie und speziell digitaler Plattformen Schritt halten zu können. Bündelung der Kräfte und Es ist notwendig, 9 Bildung von Allianzen Die Plattformökonomie ist, auch für Europa, wertschöp- fend und zukunftsträchtig. Doch dieses Geschäft muss die Kleinstaaterei „groß“ gedacht werden – mindestens im europäischen, besser im globalen Maßstab. Deshalb ist es notwendig, zu überwinden und die Kleinstaaterei zu überwinden und den Netzwerkge- danken zu leben, d.h. nicht gegen, sondern gemeinsam den Netzwerk- mit Wettbewerbern zu agieren (am besten transnatio- nal), beispielsweise bei der Entwicklung von Standards. gedanken zu leben.

89 ZIELBILD: SUPERSTARS MADE IN EUROPE

Für neues Wachstum braucht Europa eine eigenständige Plattformökonomie. Die Voraussetzungen dafür sind jetzt zu schafen.

90 Die am weitesten entwickelten Volkswirtschaften der Allerdings bedürfen die Superstars der Internetökono- Welt sind seit vielen Jahren auf einem Wachstumsplateau mie der Einrahmung – insbesondere dann, wenn es um angekommen und erreichen nur noch jährliche BIP-Zu- die Nutzung von Infrastrukturen und verbesserte Zu- wachsraten im Bereich von maximal 1,5% (inflationsbe- gänge zu unverzichtbaren Einrichtungen und Daten- reinigtes CAGR für Deutschland, 1995–2015: 1,3%). Die pools geht. Denn hier versagen die Selbstregulierungs- beiden einzigen Ausnahmen von der „säkularen Stagna- mechanismen teilweise und deshalb müssen klare, tion“ (Larry Summers et al.) sind die USA (2,4%) und Chi- einheitliche und konsequent umgesetzte Wettbewerbs- na (9,4%) – zwei Volkswirtschaften mit großem Binnen- regeln für gleiche und faire Bedingungen sorgen. Ehe markt und einer sich dynamisch entwickelnden Inter- der Gesetzgeber diesen Rechtsrahmen setzt, ist eine netökonomie als zwei wichtigen Standortvorteilen. aufgeklärte Debatte nötig über die konkreten ordnungs- politischen Ziele, die es zu erreichen gilt. Als wichtigstes Was kann Europa daraus lernen? Dass es zur Überwin- Ziel erscheint uns, dass Europa die Innovationspoten- dung seiner Wachstumsschwäche einer Dynamisierung ziale und Wohlfahrtseffekte digitaler Plattformen voll- seiner Volkswirtschaften bedarf, die vor allem von einer umfänglich nutzen kann. Dafür ist das Offenhalten von wettbewerbsstarken, innovativen Internetökonomie in Märkten essenziell! einem digitalen Binnenmarkt ausgehen kann und muss. Ihre Schlüsselakteure – die Unternehmen mit den bes- Ein angemessener Rechtsrahmen und dessen konse- ten Kennzahlen, den höchsten Bewertungen und der quente Durchsetzung sind wichtige erste Schritte – dazu günstigsten strategischen Positionierung – sind digita- kommen noch drei weitere Voraussetzungen: günstige le Plattformen. Wenn Europa an ihrem Wertschöpfungs- Finanzierungen für Start-ups speziell in der Wachstums- potenzial partizipieren will, braucht es eine eigenstän- phase, eine bessere Innovations- bzw. Gründungskultur dige Plattformökonomie. sowie eine leistungsfähige Glasfaser-Infrastruktur. Auf dieser Grundlage kann und wird es auch Europa gelin- Es gibt Vorbehalte gegenüber digitalen Plattformen – gen, eine vitale Plattformökonomie aufzubauen. insbesondere hervorgerufen durch die Diskussion um die unterschiedliche Bedeutung des Datenschutzes in verschiedenen Ländern und verstärkt durch NSA-Spio- nage. Doch diese Vorbehalte sind größtenteils unbegrün- det – so sorgt die ab 2018 geltende Datenschutz-Grund- verordnung für eine Harmonisierung und Stärkung des Datenschutzes innerhalb der EU. Letztlich ist klar: Nut- zer haben im Netz eine hohe Wahlfreiheit und entschei- den sich auf Dauer für verbraucherfreundliche Anbieter.

91 „Ich bin der Überzeugung, dass wir die heraus- ragenden Möglichkeiten der digitalen und keine Grenzen kennenden Technologie viel besser nutzen müssen.“

Jean-Claude Juncker Präsident der Europäischen Kommission

92 Impressum

Herausgeber Studienautoren Kontakt Internet Economy Clark Parsons Clark Parsons Foundation (IE.F) [email protected] Geschäftsführer Uhlandstraße 175 Internet Economy Foundation (IE.F) Philipp Leutiger 10719 Berlin [email protected] [email protected] www.ie.foundation +49 30 8877 429-400 Andreas Lang Prof. Dr. Friedbert Pflüger [email protected] Vorsitzender Claudia Russo Dr. David Born Pressereferentin Roland Berger GmbH [email protected] Roland Berger GmbH Sederanger 1 [email protected] 80538 München +49 89 9230-8190 www.rolandberger.com

Stefan Schaible CEO Germany & Central Europe

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