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Sendung vom 26.11.2010, 20.15 Uhr

Helen Schneider Sängerin und Schauspielerin im Gespräch mit Roland Spiegel

Spiegel: Herzlich willkommen beim alpha-Forum. Ich freue mich, dass wir heute eine Sängerin zu Gast haben, die zu den aufregendsten gehört, die ich je gehört habe: Helen Schneider. Und sie singt auch gleich ein Stück für Sie. (Helen Schneider singt den Song "L.O.V.E.") Spiegel: "L.O.V.E.", ein Lied über vier magische Buchstaben, die zusammen das Wort "Liebe" ergeben: Helen Schneider und Jo Ambros. Schneider: High, Roland. Spiegel: Herzlich willkommen. Schneider: Danke, ich freue mich. Spiegel: Helen Schneider, es ist sehr ungewöhnlich, dich in diesem ganz intimen Rahmen mit nur einer akustischen Gitarre als Begleitung zu hören: a voice and a guitar. Das ist ein Lied von Bert Kaempfert, einem deutschen Komponisten und Arrangeur, der auch ganz andere Klänge, nämlich orchestrale Klänge geliebt hat. Schneider: Ja, das stimmt. Ich singe seit über acht Jahren zusammen mit einem Trio, mit Jo Ambros an der Gitarre, mit Mini Schulz am Kontrabass und Obi Jenne am Schlagzeug. Wenn man so etwas Intimes wie diese Sendung hier macht, dann dachten wir uns, es wäre doch ganz passend, das nur mit Gitarre und Stimme zu machen. Spiegel: Ja, ich finde das ganz wunderbar – und wir hätten auch schlecht eine Big Band hier in dieses Studio stellen können. Was ist denn für dich der Unterschied, wenn du in dieser Zweierkombination oder mit dem Trio auftrittst oder wenn du dasselbe Lied mit einer Big Band singst? Ist das dann ein ganz anderes Lied? Schneider: Das ist eine interessante Frage, denn in diesem Fall ist das überhaupt nicht so. Chris Walden hat diese neue CD mit den Songs von Bert Kaempfert produziert und arrangiert, die demnächst herauskommt. Chris hat für dieses Lied trotz der Big Band im Hintergrund eine sehr intime Struktur für Jo und mich geschaffen. Spiegel: Bert Kaempfert, der dieses Lied geschrieben hat, hat einmal gesagt, er möchte gerne Musik machen, die niemanden stört. Ist das ein Satz, mit dem du leben kannst? Schneider: Ich höre diesen Satz von Bert Kaempfert immer wieder, alle sprechen mich darauf an. Aber jedes Zitat hat seine Zeit, sein Umfeld und ist mit dem jeweiligen Zeitgeist verbunden. Ich bin ganz sicher: Als Herr Kaempfert das gesagt hat, war das sicherlich völlig in Ordnung. Das war ja auch der Anfang dessen, was man Easy Listening genannt hat. In meiner Generation dann wurde diese Bezeichnung fast zu einem Schimpfwort. Ich versuche nun zurechtzukommen mit diesem Begriff des Easy Listening und den dabei entstehenden Assoziationen. Bert Kaempfert hat jedenfalls schöne Melodien mit angenehmen Themen geschaffen, denen man in der Tat leicht zuhören und mit denen man die eigene Stimmung beruhigen konnte. Heute haben wir jedoch ganz andere Wörter für solche Sachen und solche Musik. Spiegel: Du hast eine ganze CD diesem Komponisten Bert Kaempfert gewidmet. Sie trägt den Titel "The World We Knew" nach einem Stück von ihm. Das heißt, auf dieser CD finden sich ausschließlich Stücke von ihm. Schneider: Ja. Ich bin ein großer Fan davon, richtige Projekte zu machen und sich dafür einen einzigen Komponisten vorzunehmen. Das gibt mir zuerst einmal einen "Schirm": Das hält alles zusammen, die CD bekommt einen ganz bestimmten Klang usw. So etwas liebe ich vor allem auf der Bühne, und diese CD ist nun die erste, bei der ich das auch auf einer CD so gemacht habe – außer der CD damals mit den Songs von Kurt Weill. Spiegel: Kurt Weill, der im Jahr 1900 geboren wurde, ist ja ebenfalls ein deutscher Komponist. Schneider: Ja, das stimmt. Wieso bin ich auf Bert Kaempfert gekommen? Ich hatte davor eine CD mit dem Titel "Dream A Little Dream" gemacht, die so eher dazwischen lag: Die Begleitung war nicht nur eine Gitarre, aber die Besetzung war doch relativ klein, sodass auf der gesamten CD insgesamt eine sehr intime Stimmung rübergekommen ist. Das war der Beginn meiner Untersuchung zur Popmusik meiner Mutter. Denn die Popmusik meiner Mutter damals war auch gleichzeitig meine erste Möglichkeit, meine Seele auszudrücken. Wenn meine Mutter in unserem Haus herumlief, hat sie ständig diese Lieder gesungen. Und manchmal saß sie auch am Klavier und hat sich selbst mit dem Klavier begleitet, wenn sie diese Lieder gesungen hat. Ich habe das einfach nur nachgemacht. Und deswegen waren das wirklich meine ersten Erfahrungen mit Liedern, mit denen ich meine eigenen Gefühle ausdrücken konnte. Ich hatte dann so viel Spaß beim Produzieren dieser CD "Dream A Little Dream", dass ich mir gedacht habe, das noch ein wenig ausbauen zu können. Als ich das meiner Plattenfirma "edel music" erzählte, sagte man mir dort: "Was hältst du von Bert Kaempfert? Bert Kaempfert hat nämlich erstens sehr viel mit dieser Zeit zu tun, als deine Mutter und dein Vater jung waren. Zweitens ist es so, dass demnächst für Bert Kaempfert ein großer Geburtstag kommen wird." Hinzu kam, dass ich schon lange den Wunsch hatte, eine CD mit der SWR Big Band zu machen. Das kam also alles zusammen und dann kam eben auch noch Chris Walden ins Spiel. Spiegel: Chris Walden hat auf dieser CD mit den Songs von Bert Kaempfert alle Stücke arrangiert. Schneider: Genau. Ich hatte schon einmal mit Chris gearbeitet, aber das war mindestens 15 Jahre her. Wir hatten damals sehr viel Spaß zusammen. Chris wohnt heute in Los Angeles, und deswegen sind wir uns seit damals nicht mehr begegnet. Als dann im Zusammenhang mit diesem Projekt der Name von Chris erwähnt wurde, bin ich vor Freude in die Luft gesprungen. Das hat dann auch wirklich geklappt und es war super. Spiegel: Chris Walden ist ebenfalls ein deutscher Musiker, der in die USA gegangen ist. Schneider: Ja, er machte genau das Gegenteil von mir: Er wohnt heute in Los Angeles und ich wohne nun in . Aber Bert Kaempfert war jetzt das verbindende Element zwischen uns beiden. Ich weiß nicht, ob das so viele Deutsche wissen, aber Bert Kaempfert war auch in den USA sehr, sehr bekannt. Spiegel: Er war der einzige Arrangeur überhaupt, der sowohl für Elvis Presley wie auch für Frank Sinatra gearbeitet hat. Schneider: Genau. Er hatte aber auch eine eigene Big Band, die Bert Kaempfert Big Band, mit der er oft im amerikanischen Fernsehen aufgetreten ist. Er war daher in den USA wirklich ein populärer Musiker. Bei dieser CD nun sind all diese musikalischen Brücken und Verbindungsstücke zwischen den USA und Deutschland zusammengekommen. Und genau das hat mir dabei sehr gut gefallen. Spiegel: Ich würde nun ganz gerne zu den frühesten "Brücken" in deinem Leben kommen. Du bist ja, als du 17 Jahre alt warst, von zu Hause ausgerissen. Schneider: Ja, das stimmt. Spiegel: Etliche Jahre später bist du dann auch das erste Mal in Deutschland aufgetreten, aber darauf kommen wir später zu sprechen. Warum bist du damals von zu Hause weg? Schneider: Manchmal schaue ich mir heute meinen Vater an und frage mich, warum es damals für mich so wichtig gewesen ist, von ihm wegzulaufen. Aber ich wollte einfach unbedingt die Musik zu meinem Beruf machen – ich war damals wirklich sehr wild –, was jedoch für meinen Vater eine unerträgliche Vorstellung bedeutete. Er stammt aus einer Generation, die den Krieg und die Depression miterlebt hat: Aus diesem Grund wollte er für mich einfach mehr Sicherheit haben. Er wollte unbedingt, dass ich mein reguläres Musikstudium weitermache – eine Sache, die ich ihm nun wirklich nicht zum Vorwurf machen kann. Spiegel: Du hast vorher Klavier gelernt. Schneider: Ja, ich war Pianistin und klassisch ausgebildet und hatte sogar ein Stipendium für die Juilliard School gewonnen. Für meinen Vater war meine Idee, mit einer Band zu spielen, mit ihr durch die Welt zu tingeln und aufzutreten, ein entsetzlicher Gedanke. Heute, da ich selbst die 50 überschritten habe, ist mir ganz klar, wie er sich damals gefühlt hat. Für mich war das Weitermachen meiner klassischen Ausbildung jedoch überhaupt kein Thema. Ich habe das aber nicht auf den Tisch gebracht, d. h. ich wollte nicht kämpfen und streiten, sondern ich bin einfach weggegangen. Spiegel: Du hast dann diese klassische Klavierausbildung, die wohl am besten in eine Karriere als Konzertpianistin hätte münden sollen, an den Nagel gehängt. Schneider: Ja, für meinen Vater war das die bessere Möglichkeit. Hinzu kam für ihn, dass ich aufgrund einer solchen Ausbildung dann auch die Möglichkeit gehabt hätte, irgendwo eine Musikprofessur zu bekommen, was natürlich eine ziemliche finanzielle Sicherheit bedeutet hätte. Sicherheit war jedenfalls das, was sich mein Vater für mich als Erstes vorstellte. Und er war eben selbst Wissenschaftler. Spiegel: Welcher Art? Schneider: Er hatte mit Textilien zu tun. Für meinen Vater war es dann so, dass ich mit dieser Flucht quasi intellektuellen Selbstmord verübt habe. Heute, als erwachsener Mensch, kann ich das alles sehr gut verstehen. Er ist, wie ich sagen muss, heute mein bester Freund, mein bester Berater. Wir sehen uns auch sehr oft und telefonieren ständig miteinander. Er hat mir inzwischen alles verziehen – und ich ihm natürlich auch. Das heißt, wir haben mit der Zeit eine große Brücke zwischen uns beiden bauen können. Spiegel: Du hast also damals wirklich alles stehen und liegen lassen und bist von einem Tag auf den anderen von zu Hause weg? Schneider: Ich war ein bisschen tricky, als ich das gemacht habe. Ich war eingeladen in ein Music Summer Camp und ich tat so, als würde ich dorthin gehen und dann auch wieder nach Hause kommen. Aber in Wirklichkeit war es so, dass ich nie mehr zurückgekommen bin. Ich habe das also durchaus mit Bewusstsein gemacht: Ich wusste, ich werde nie wiederkommen, ich war endlich draußen – also "good bye"! Spiegel: Wie hat dann dein Leben ausgesehen nach diesem Summer Camp? Schneider: Ich ging bereits mit einer Bluesband zu diesem Summer Camp: Das waren Kollegen aus meiner Schule und wir fingen dann an, uns eine Karriere aufzubauen. Wir wohnten auf verlassenen Farmen und spielten abends in irgendwelchen miesen Spelunken zwischen und Maine in Neuengland. Wir hatten viele Hunde, viele Katzen und viele andere Tiere, wir lebten wirklich ein alternatives Leben. Ich habe ganz viel gelernt in dieser Zeit. Wir hatten sozusagen immer eine offene Tür, eine offene Tür für ganz viele Menschen: Ich habe in dieser Zeit wahnsinnig viele interessante Menschen kennengelernt. Wir haben von morgens bis abends nur Musik gespielt, unser Wohnzimmer war also auch gleichzeitig unser Probenraum. Spiegel: Es gibt ja auch Lieder aus dieser Zeit über solche Situationen wie z. B. von Albert Hammond: "But I gave it up for music and the free electric band". Schneider: Für mich ist die Auseinandersetzung mit diesem Lebensabschnitt von mir heute sehr, sehr interessant. Manchmal ist es für mich schwierig zu verstehen, wie ich heute hier sitzen und über diese Zeit damals diskutieren kann: Ich kann irgendwie kaum noch nachvollziehen, dass ich da wirklich durchgekommen bin. Denn da hat es schon auch Momente gegeben, die absolut furchtbar und gefährlich waren. Spiegel: Was waren das für Momente? Schneider: Ich habe ständig in Hangouts der Hells Angels gespielt, und diese Leute sind nun einmal meistens unangenehm. Da gab es immer Streit, es gab ständig Körperverletzungen aller Art. Und ich war da mittendrin als kleine Frau. Aufgrund unserer erwähnten offenen Tür kamen auch manchmal Menschen zu uns und wohnten mit uns, die ich heute im Rückblick als sehr gefährlich einschätze. Aber damals war das einfach so. Wir haben, selbstverständlich, auch viele Experimente mit Drogen gemacht: Wir experimentierten eben nicht nur mit der Musik herum, sondern auch mit anderen Lebensstilen. Ja, aber nun sitze ich doch hier und kann im Rückblick sagen, dass das doch irgendwie eine gute Zeit gewesen ist. Das heißt, ich bereue es nicht. Ich bereue es nur manchmal, dass ich keinen formalen Bildungsabschluss habe. Ich habe bis heute das Gefühl, dass ich dem, was ich wissen möchte, irgendwie ständig hinterherlaufen muss. Ich hatte, nachdem ich abgehauen war, nie richtig Zeit, um mich einfach nur hinsetzen und studieren zu können. Ich habe dann später Leselisten bekommen von Freunden oder Bekannten: Ich habe immer probiert und probiert, mich selbst aus- und weiterzubilden. Aber die Wahrheit ist: Wenn man als junger Mensch diese vier, sechs oder auch acht Jahre nicht hatte, in denen man sich hinsetzt und sich ganz konzentriert der eigenen Ausbildung widmet, dann hat man eine ganz andere Beziehung diesem Lernprozess gegenüber. Andererseits würde mir dann aber auch die Lebenserfahrung fehlen, die ich in diesen Jahren gewonnen habe. Meine liebste Freundin im Leben sagt immer: "Das ist der Readyness-Faktor!" Das heißt, dass man auch bereit sein muss für eine Sache. Spiegel: Wie kam es dann, dass du es geschafft hast, ins Rockmusik-Geschäft einzusteigen damals? Denn nach dieser … Schneider: … Bluesband. Das war wirklich eine Bluesband! Nach einer Jugendzeit, die eher von Intellektualismus geprägt war, habe ich am Ende dieser Woodstockgeneration zufällig den Blues kennengelernt. Oh, ich merke gerade, dass ich dieses Bonbon aus meinem Mund nehmen muss, weil es mich jetzt doch beim Sprechen stört. Leute, entschuldigt mich, dass ich das jetzt mache, aber das muss jetzt sein. O.k, jetzt kann ich wieder ganz normal sprechen. Spiegel: Hattest du dieses Bonbon beim Singen auch schon drin? Schneider: Ja. Ich hatte das Bonbon unter meiner Zunge und normalerweise ist das auch kein Problem. Aber wenn ich reden muss, dann ist es mir doch im Weg. Spiegel: Eine spannende Technik! Schneider: Wie jede Person in meinem Alter habe ich mich damals natürlich auch mit Rock- und Bluesmusik beschäftigt. Vor allem vom Blues waren wir unglaublich begeistert. Als ich dann als Sängerin ein bisschen mit dem Blues experimentiert habe, wurde mir klar: "Wow! Hier ist pure Seele! Das ist Ur-Musik! Reine Emotion!" Damit hatte ich auch die Möglichkeit, einen klareren Weg im Leben zu finden. Diese Musik war für mich genau das richtige Mittel, um Bodenhaftung zu bekommen: nicht nur in der Musik, sondern auch in Bezug auf den Lebensstil. Aber es blieb natürlich nicht beim Blues. Denn aus dem Blues entstand quasi ganz normal die Rockmusik, das ist ja klar. Wir haben dann auch Lieder selbst komponiert und getextet. Diese Blues-Geschichte bei mir ist wirklich sehr interessant. Denn in ein paar Tagen werde ich für eine Woche an der Popakademie in Mannheim sein und dort unterrichten. Ich habe lange nachgedacht in den letzten Tagen, was ich dort eigentlich sagen und vermitteln soll: Wie soll ich erklären, was ich denke? Worauf sollen sich die jungen Menschen bei ihrer Ausbildung – sei sie formal oder informell – konzentrieren? Mir wurde dann klar, dass es für den Popmusikbereich in der Ausbildung gar keine bessere Stilrichtung gibt als den Blues. Der Blues eignet sich hervorragend, um mit so einer Ausbildung zu beginnen, denn vom Blues stammt – zumindest in der westlich Popmusik – alles ab. Von dieser Wurzel stammt der Rhythm & Blues ab, der Jazz, die Rockmusik usw. Das heißt, von dieser Grundlage aus kann man überall hingehen in der Musik. Wenn man also eine Beziehung zu dieser Wurzel hat, dann ist einem als Musiker mehr oder weniger alles möglich: Man hat einen festen Boden unter sich, von dem aus man sich aufmachen kann bei der eigenen Suche nach anderen Ausdrucksweisen. Spiegel: Für dich war es also der Blues, der ja in der Rockmusik wirklich sehr, sehr vieles befördert hat. Viele Rock 'n' Roll-Stücke der 50er Jahre und Beat- Stücke der 60er Jahre basieren auf dem Blues-Schema und auch auf der Blues-Intonation. Wie kam es dann, dass du zum ersten Mal nach Deutschland gekommen bist? Das war … Schneider: … reiner Zufall. Es war wirklich reiner Zufall. Ich hatte meine erste LP gemacht, also meine erste Langspielplatte. Es gab damals in Saarbrücken einen Produzenten mit dem Namen Richard Kröger. Er hörte meine erste LP mit dem Namen "So Close", die dann gar nichts mehr mit dem Blues zu tun hatte. Ich hatte nach diesen sieben Jahren, in denen ich immer nur von der Hand in den Mund gelebt habe, dann doch mit einem ganz mächtigen Manager einer sehr großen Plattenfirma, der Firma RCA, einen Vertrag abgeschlossen. Die Platte, die dabei herausgekommen ist, war so eine Mischung aus Easy Listening und Softrock. Anyway, ich hatte also diese Platte gemacht und Herr Kröger in Saarbrücken war sehr begeistert davon. Er hat mich dann wirklich wie ein Bluthund aufgestöbert in den USA und mich eingeladen, in einer Fernsehshow in Deutschland aufzutreten. Diese Sendung hieß "Session". Richard Kröger ist mittlerweile leider schon tot. In der Sendung, die er damals gemacht hat, traten auf: Gerry Mulligan, Deodato, Lou Rawls und ich. Das war meine allererste Reise nach Deutschland! Ich bin in der vierten Generation New Yorkerin, habe jedoch einen deutschen Großvater, den ich nie kennengelernt habe. Spiegel: Er war Geiger in gewesen. Schneider: Oh, ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß auch gar nicht, wie diese Geschichte überhaupt in die Welt gesetzt worden ist, aber es kann gut sein, dass ich das irgendwann einmal in irgendeinem Interview so gesagt habe. Spiegel: Das heißt, das stimmt gar nicht. Schneider: Es stimmt nicht. Es kam aus der Gegend um Frankfurt, war aber in der Tat Geiger. Zuerst einmal ging er freilich nach Odessa und war dort in einem Orchester Erster Geiger. Als dann aber der Erste Weltkrieg ausbrach und dort die Hölle los war, wurde er von seinem Vater, meinen Urgroßvater, nach New York geschickt. Denn mein Urgroßvater hatte damals wohl eine sehr gute Position inne und war daher – für seine Zeit – auch ein bisschen reich. Also hat er seinen begabten Sohn in diese amerikanische Metropole geschickt, in der Hoffnung, dass er dort als Musiker reüssieren könnte. Diese Geschichte endete dann aber leider so, dass das nicht klappte und mein Großvater bereits mit 39 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist. In den Jahren davor hatte er sich mit dem Verkauf von Krawatten über Wasser gehalten. Das war wirklich eine Tragödie. Anyway, ich selbst bin jedenfalls im Grunde in der vierten Generation New Yorkerin: Alle meine anderen Vorfahren waren Russen, die bereits im beginnenden 19. Jahrhundert nach New York gekommen waren, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Spiegel: Das heißt, dein deutsch klingender Name kam quasi zufällig zustande, denn das war nur eine Seitenlinie in deiner Familiengeschichte. Schneider: Purer Zufall, aber Gott sei Dank, dass ich vielleicht auch deswegen hierher nach Deutschland gekommen bin. Spiegel: Im Jahr 1978, als du nach Deutschland gekommen bist, bist du dann auch in Hamburg im "Onkel Pö" aufgetreten. Schneider: War das 1978? Ich weiß das nicht mehr so genau. Spiegel: Jedenfalls steht dieses Jahr überall so in den Beschreibungen deiner Person. Nach einiger Zeit gab es dann einen ganz wichtigen Moment deiner Karriere hier in Deutschland: 1980 kam ein Mann mit Hut in deine Garderobe in New York. Schneider: Du hast also auch diese Geschichte schon gehört. Dieser crazy guy! Er war so abgefahren! Spiegel: Das war . Schneider: Genau. Aber ich hatte damals keine Ahnung, wer er war. Er saß also neben mir in der Garderobe und fragte mich, ob ich Interesse hätte, mit ihm auf Tour zu gehen. Das Ganze in seinem typischen Genuschel – und natürlich auf Englisch. Aber es war einfach irgendetwas an ihm, was mich interessiert hat. Er ist einfach zauberhaft, dieser Mann ist wirklich zauberhaft. Also habe ich sofort Ja gesagt und dann kam eine unglaubliche Zeit. Ich habe sehr, sehr viel gelernt von Udo. Er schleppte mich mitsamt seinem berühmten "Panikorchester" in etwa 60 Tagen durch 50 Städte! Der Impressario des Ganzen war Fritz Rau und ich kam bei dieser Tour in solche Städte und Winkel in Deutschland, wie seit dem Krieg sonst kein Amerikaner mehr. Ja, es war fantastisch. Spiegel: Es war also so, dass dich Udo Lindenberg in New York gehört hatte und dann einfach in deine Garderobe gekommen ist. Schneider: So habe ich zumindest das damals erlebt. Aber bei so jemandem wie bei Udo Lindenberg – und vielleicht auch bei mir – baut sich nach einiger Zeit sowieso ein gewisser Mythos auf. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, war es so: Er kam zufällig in den Club, in dem ich gesungen habe. So, ich glaube das einfach: Das war so. Spiegel: Dann bist du also mit deiner Gruppe als Vorgruppe von Udo Lindenbergs "Panikorchester" getourt? Schneider: Nein, eigentlich nicht, und das war das, was so zauberhaft gewesen ist an ihm. Er hat das mit Leuten wie mir immer so gemacht, dass er uns in seine Show mit eingebaut hat, und dabei hatte ich auch noch eine halbe Stunde alleine für mich. Das heißt, er brachte mich mitten in seiner eigenen Show auf die Bühne und ich sang mit ihm ein Duett "Baby, wenn ich down bin". Nach diesem Duett hat er die Bühne verlassen und ich machte eine halbe Stunde lang alleine weiter. Das war zwar wie ein Vorprogramm, was wir da gemacht haben, aber es war eben mitten in seiner Show. Dann kam er wieder zurück und wir sangen noch ein zweites Duett. Nach diesem Duett habe dann ich die Bühne verlassen. Das, was er da mit mir gemacht hat, war wirklich von großer Grazie und Anmut. Das war wunderschön. Ich glaube, die Zuschauer bekommen durch so etwas eine ganz andere Beziehung zur sogenannten Vorgruppe. Denn auf diese Weise kommt man wirklich als Kollege rüber, sodass die Zuschauer eine ganz andere Meinung von einem haben. Ich schulde Udo eigentlich teilweise den Erfolg, den ich danach dann mit "Rock 'n' Roll Gypsy" hatte. Denn er hat mir beim Publikum auf wunderbare Art den Boden bereitet. Ich glaube, ich hätte das ohne ihn nicht so geschafft. Spiegel: "Rock 'n' Roll Gypsy", das war dann ein Jahr später deine Platte mit der Band "The Kick". Damals wurdest du von der Presse als Entdeckung des Jahres gefeiert. Aber schon wenige Jahre später hast du dann zunächst einmal der Rockmusik Adieu gesagt und hast Schauspielunterricht genommen. Warum? Schneider: Ja, das stimmt. Ich war einfach ausgebrannt. In der Zwischenzeit hatte ich sogar einen kleinen Kinofilm gemacht mit dem Titel "Eddie and the Cruisers". In gewisser Hinsicht ist das kein guter Film geworden, aber das Team, das da mit dabei war, war wahnsinnig gut. Die wunderbaren Darsteller waren Ellen Barkin, Tom Berenger, Joe Pantoliano und Michael Paré. Und ich durfte auch mitspielen. Dabei habe ich so eine intensive Beziehung zur Schauspielerei aufgebaut, dass ich das unbedingt weitermachen wollte. Ich habe dann versucht, bei meinen Auftritten als Sängerin mehr und mehr Schauspiel unterzubringen. Aber die Band "The Kick" war sehr unglücklich damit. Es kamen dann noch mehrere Sachen zusammen, aber die will ich hier gar nicht alle ausbreiten. Es war jedenfalls so, dass die Band und ich uns sehr weit voneinander entfernt hatten. Hinzu kam dann noch, dass mein Vertrag mit meiner damaligen Plattenfirma WEA auslief. Also dachte ich: Gut, das ist doch ein perfekter Moment für mich, damit komplett aufzuhören und in New York zu bleiben und Schauspielunterricht zu nehmen. Ich habe dann in der Tat richtig ernsthaft drei Jahre lang Schauspielunterricht genommen. Aber ich war eben auch ein bisschen arrogant, denn ich hatte mir gedacht, die Schauspielausbildung abzuschließen und dann wieder aus der Versenkung aufzutauchen: und zwar als große Schauspielerin! Aber das Leben läuft nicht so. Spiegel: Aber im Jahr 1987 bist du dann sogar sehr groß wieder aufgetaucht in Berlin: im Theater des Westens in der Rolle der Sally Bowles im Musical "". Damals haben sich die Kritiker überschlagen ob deiner Leistung. Schneider: Ja, das war sehr schön. Gott sei Dank ist es so gekommen. Ich war davor mit einer One Woman Show in Kalifornien gewesen, die eine Frau für mich geschrieben hatte, die heute eine sehr bekannte Regisseurin ist, die damals jedoch gerade frisch aus Yale gekommen ist. Sie hat für mich einen Weg gefunden, wie ich Musik und Schauspielerei doch zusammenbringen konnte. Und das, obwohl ich damals kein großer Fan von Musicals gewesen bin. Aber sie stellte mir ein Programm zusammen, in dem der Blues dominierte. Wir haben nämlich eine Musik gefunden, die mit dem Blues zu tun hat: Das war die amerikanische Popmusik der 20er Jahre. Sie hat für mich eine Geschichte geschrieben, in der einige sogenannte einseitige Dialoge und auch Monologe vorkamen. Unterbrochen wurden diese Sachen dann immer durch Lieder aus den 20er Jahren. Ich war also gerade in Kalifornien im Roosevelt-Hotel, einem sehr großen Hotel, als auf einmal Désirée Nosbusch zu mir in die Garderobe kam. Ich kannte Désirée von früher, von meiner Zeit als Rocksängerin, als Interviewerin. Sie kam also hinter die Bühne und sagte zu mir: "Oh, Helen, es ist so schade, dass du kein Deutsch sprichst. Denn Helmut Baumann und mein Freund Rolf Kühn planen im Theater des Westens eine Inszenierung von 'Cabaret'. Du würdest eine super Sally Bowles abgeben." Ich habe sofort zu ihr gesagt: "Wann wird das sein?" "Nächstes Jahr!" "Gut, dann habe ich ja noch Zeit. Sag Helmut, er soll mich kennenlernen. Ich würde gerne nach Deutschland fliegen dafür. Vielleicht können wir das ja doch zusammen machen." Ich bin dann tatsächlich nach Deutschland geflogen und habe hier Helmut kennengelernt. Die Chemie zwischen uns beiden hat sofort gestimmt. Er hat dann entschieden, mich in die Berlitz School zu schicken. Ich sollte nach der Schule und dem dortigen Deutschkurs ein bisschen früher den Text bekommen, damit ich schon mal üben konnte. Hilde Knef war ebenfalls mit dabei in dieser Produktion. Mein Gott, sie war so fantastisch und sie hat mir sehr, sehr geholfen und mich unterstützt. Wolfgang Reichmann war mit dabei und viele andere und all diese Leute – die ganze Gesellschaft im Theater des Westens – haben mich wahnsinnig unterstützt. So habe ich das also tatsächlich irgendwie geschafft. Spiegel: Habe ich das soeben richtig verstanden? Du hast damals noch nicht Deutsch gesprochen? Schneider: Kein Wort. Spiegel: Das heißt, du hast dich da einfach reingeschmissen in Berlin und Deutsch gelernt? Schneider: Genau. Aber zu diesem Deutschlernen kann ich eine ganz nette Geschichte erzählen. Ich war sehr brav und habe sehr hart gearbeitet auf der Berlitz School. Das war ein Intensivkurs, der so intensiv war, dass ich ihn noch nicht einmal meinem schlimmsten Feind empfehlen würde. Ich hatte an sechs Tagen pro Woche acht Stunden am Tag Unterricht. Und dann noch jeden Tag zwei Stunden Hausaufgaben. Das war eigentlich schon so etwas wie ein Brainwashing. Ich war komplett fertig danach: Mein Körper war schwach, ich hatte nur noch Albträume und die ganze Nacht über habe ich geschwitzt wie verrückt. In der letzten dieser drei Wochen habe ich dann nur noch mit dem Textbuch gearbeitet. Meine Idee war nämlich: Wenn ich meinen Text auf Deutsch bereits komplett auswendig kann, dann kann ich mich auf meine Arbeit als Schauspielerin konzentrieren, weil ich mich um die Wörter ja nicht mehr kümmern muss. Na ja, die Idee an sich war gut. Ich kam also zur ersten gemeinsamen Lesung mit all den anderen. Ich war zwar wahnsinnig nervös, aber auch stolz auf mich: Ich war wirklich gut vorbereitet, ich konnte meinen Text! Hilde war da und Wolfgang war da und Helmut und Jürgen und der Choreograph und alle anderen. Meine Schauspielerkollegen fingen also an zu lesen – und ich habe kein Wort verstanden! Ich dachte mir: "Oh Mann, was soll ich jetzt machen?" Ich wurde käseweiß, und als mich Helmut Baumann sah, fragte er mich: "Liebchen, was ist los?" "I'm so sorry. Vielleicht liegt es daran, dass ich so nervös bin, aber ich verstehe kein einziges Wort." Er meinte: "Really?", und sah dabei so mit langem Hals auf mein Textbuch. Dann meinte er: "Gib mir doch mal dein Buch!" In Ordnung, ich gab ihm mein Textbuch und er sah es sich an. Und dann brach er in ein großes Gelächter aus: "Irgendjemand hat Helen eine falsche Übersetzung geschickt!" Das heißt, kein einziges Wort von dem, was ich gelernt hatte, war richtig. Meine ganze Arbeit war für die Katz' und ich musste von vorne beginnen. Aber aufgrund meiner damaligen superguten Schauspiellehrerin, meinem Coach Christine Gerlach, habe ich das dann doch irgendwie geschafft. Spiegel: Das heißt, die Aufführungen waren damals in deutscher Sprache. Schneider: Ja, klar. Spiegel: Du hattest also einen falschen Text bereits komplett auswendig gelernt und musstest dann noch einmal von vorne anfangen. Schneider: Ja. Spiegel: Das Lernen spielt für dich, wie du bereits vorhin schon mal erwähnt hast, überhaupt eine große Rolle. Du hast ein wenig darüber geklagt, dass du eigentlich keine abgeschlossene formale Ausbildung hast, weil du eben von zu Hause weggegangen bist, als das angestanden hätte. Aber du hast immer wieder Neues gelernt in deinem Leben und hast z. B. eben auch Schauspielunterricht genommen. Du hast Musicals gesungen usw. und dich wirklich in ganz viele verschiedene Bereiche eingearbeitet. Du hast eigentlich ständig dein Leben verändert, um auch deine Musik zu verändern. Welche Rolle spielt dabei dein langjähriger Lebensgefährte? Ihr seid seit 40 Jahren zusammen und ich habe in verschiedenen Berichten über dich gelesen, dass er auch dein erster Lehrer gewesen ist. Schneider: Ich traf George Nassar zum ersten Mal, als ich 12 Jahre alt war. Er sah mich auf einer Bühne bei einer Talentshow. Ich sang das Lied "More" und habe mich selbst auf dem Klavier begleitet. Das Ganze war unglaublich schlecht inszeniert, denn irgendjemand hatte ein Upright-Klavier so hingestellt, dass ich beim Klavierspielen mit dem Rücken zum Publikum gesessen bin: Um die Zuschauer zu sehen beim Singen, musste ich meinen Kopf um 180 Grad drehen – und gleichzeitig Klavier spielen. Anyway, ich habe das gemacht und auch durchgestanden. Er war damals bereits ein regionaler Star und hatte einen Jugendchor bei dieser Talentshow am Start: Die "George Singers", die bereits im Fernsehen in Family-Shows usw. aufgetreten waren. Er kam hinter die Bühne und sah umwerfend aus: Er war dunkel und spicy und gefährlich! Ich hatte noch nie in meinem Leben so einen Mann gesehen. Ich dachte mir: "Oh, wow!" Er sagte mir, dass ich gut gewesen sei, aber dass er mir raten würde, das doch ein bisschen anders zu machen. Und dann meinte er zu mir: "In zwei Jahren, wenn du in deiner Musikschule auf das nächste Niveau kommst, dann komm zu mir, vielleicht können wir etwas zusammen machen." Ich habe die Monate und Wochen und Tage und Stunden wirklich gezählt, bis es endlich soweit war. Als es endlich soweit war, bin ich wirklich gelaufen auf dem Weg zu ihm in seine Musikschule – mit meiner Mutter im Schlepptau. Ich habe zu ihm gesagt: "Ja, hallo, nun bin ich da! Erinnerst du dich an mich?" "Ja, ich erinnere mich!" "Ich würde jetzt gerne vorspielen als Klavierbegleiterin für den Chor." Er aber lächelte mich nur an und meinte: "Komm später noch einmal, dann reden wir darüber." Ich war völlig verliebt in diesen Kerl – obwohl ich so jung war. Ich glaube einfach daran, dass wirklich der Blitz einschlagen kann. Ich kam also später noch einmal zu ihm, spielte ihm auf dem Klavier vor und er sagte zu mir: "Listen, Süße, ich brauche gar keine Begleiterin, ich habe schon einen Superpianisten. Aber kannst du singen?" Ich begann natürlich sofort zu weinen und antwortete ihm dann schluchzend, dass ich gerne ein bisschen die Lieder meiner Mutter singe, um mich zu entspannen. "Gut", meinte er, "lass uns nach oben in die Sopranabteilung gehen und lass uns schauen, was du da machen kannst." Das haben wir gemacht und so begann meine Gesangskarriere. Und so begannen dann auch meine Stunden mit ihm. Er war einer der größten, der besten Stimmlehrer der Welt und so wurde ich tatsächlich eine Sängerin. Spiegel: Und wenige Zeit später wart Ihr dann ein Paar. Schneider: Ich sang für ihn in diesem professionellen Chor, und als ich 18 Jahre alt war, waren wir als Paar zusammen. Gut, ich war noch ziemlich jung damals, aber wir sind bis heute zusammen geblieben. Spiegel: Das ist ein Thema, das hervorragend passt zu dem Stück, das du uns jetzt noch singen wirst und das wir unbedingt noch hören möchten von dir. Dieses Lied heißt "Dream a Little Dream of Me" und das könnte wunderbar zur Lebensgeschichte mit deinem Mann George Nassar passen. Herzlichen Dank, Helen Schneider, dass du hierher gekommen bist. Schneider: Es war mir ein Vergnügen. Thank you, danke, Roland. Spiegel: Ihnen zu Hause herzlichen Dank fürs Zuschauen und jetzt noch viel Vergnügen mit Helen Schneider und Jo Ambros und dem Song "Dream a Little Dream of Me". (Singt den Song "Dream a Little Dream of Me")

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