7 Einleitung

Der vorliegende Band vereinigt alle Orgelkompositionen Bachs, die mit dem Titel Pieterszoon Sweelincks.3 Das Formschema ist in der Regel das einer klassischen, drei- „Fantasia“ überliefert sind,1 die (wenigen) zu einzelnen Fantasien gehörigen Fugen teiligen Rede, die aus Exordium, Medium und Finis besteht, und dies unter genau sowie alle einzeln überlieferte Fugen. Bei näherer Betrachtung gibt es kein einziges durchdachter Proportionierung. autorisiertes und vollständiges Fantasia-et-Fuga-Paar für Orgel. In der Überlieferung Anders als im Kreis der Sweelinck-Schule, wo die „Fantasia“ zum ,stylus phantasticus‘ von BWV 542 erscheinen Fantasia und Fuga meist getrennt, während bei den beiden der norddeutschen Organisten mutierte, reduzierte sich ihre Bedeutung in den meis- c-moll-Stücken BWV 537 und 562 die Fugen (im Falle von BWV 537 höchstwahr- ten anderen Teilen Europas in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf eine Art scheinlich) unvollendet geblieben sind. Besonders durch diesen Umstand und die Hilfsbegriff für meist kleinere Kompositionen, die nicht etwa als „Fuge“, „Canzone“ Tatsache, dass die Mehrheit der Fantasien als Einzelwerke überliefert sind, bietet es oder ähnliches bezeichnet werden konnten. Das gilt auch für die mitteldeutsche sich an, die Fantasien mit den Einzelfugen in einem Band zu vereinen. Das ermög- Claviermusik am Ende des 17. Jahrhundert, wo „Fantasia“ dann auch gelegentlich als licht auch die beiden Teile des g-moll-Werkes BWV 542 – in der zweiteiligen Gestalt Gattungsbezeichnung auftaucht. Am bedeutendsten sind die sechs erhaltenen eine der berühmtesten Kompositionen Bachs überhaupt – im Zusammenhang zu Beispiele Pachelbels.4 Hier erscheinen als wichtigste Parameter die freie veröffentlichen, obwohl der Quellenbefund eventuell dagegen spricht. Imitation von ein oder mehreren Kurzthemen oder Motiven sowie die Anwendung von ,Ostinato‘ (Fantasien in C und D), der ,figura corta‘ (Rhythmus Achtel – zwei Zum Begriff der Fantasie bei Bach Sechzehntel; Fantasien in d und g) und von ,durezze‘ („harte“ harmonische Um den Begriff der Fantasia bei Bach richtig zu erfassen, ist es notwendig, deren Reibungen; Fantasien in Es und g). Vorgeschichte zu skizzieren. Der Ursprung der Gattung liegt um 1500 und ist eine Es ist dieser freizügige und eher schlichte Fantasientypus, an den der junge Bach Folge der geschichtlich bedeutsamen Berührungsebene zwischen dem Humanismus anknüpft.5 Seine Auseinandersetzung mit der Fantasia bildet kein Kontinuum, son- und der Musik. „Fantasia“ war eine Idee aus dem griechischen Gedankengut, die von dern spielt sich in zwei klar voneinander getrennten Phasen ab: Eine Frühphase (BWV der humanistischen Ästhetik mit den zeitgenössischen Künsten verbunden wurde. 563, 570, 571, 917, 922 und 1121) steht im Zeichen des Suchens nach einer eigenen Der abstrakte Begriff steht für das „Höchste“, das ein Künstler als Individuum errei- Sprache, ausgehend vom Pachelbelschen Vorbild. Nachdem der norddeutsche chen konnte.2 Er wurde dankbar für die neue Instrumentalmusik des 16. Jahrhunderts Einfluss – eine Tradition, die die Fantasia als Gattung bewusst ausklammert – wohl übernommen, die, ohne die traditionelle Stütze des Textes, nach einem schlüssigen unter dem Eindruck der Reise nach Lübeck im Winter 1705/06 – stark zunahm, ver- Konzept und einer passenden Terminologie suchte. Der Aspekt des „Höchsten“ wurde schwindet der Begriff für einige Zeit aus Bachs Werk. Entsprechend sind aus der wie selbstverständlich auf die kunstvollste Art der damals komponierten Musik, näm- Mühlhauser und Weimarer Zeit (1707–1717) keine Fantasien als selbstständige Werke lich die des imitativen Kontrapunkts der franko-flämischen Schule, angewandt. Der bekannt. Bach benützt die Bezeichnung in diesem Jahrzehnt lediglich als Zusatz bei besondere Aspekt der „Fantasia“ erforderte vom Komponisten ein hohes Maß an einigen besonders weitausladenden Choralbearbeitungen (BWV 651a, 654a, 658a, Originalität. Ohne die formelle oder inhaltliche Stütze eines Textes oder etwa der 659a und 713), wobei die norddeutsche Komponente des „fantastischen Stils“ bzw. der Form eines Tanzmusters musste er quasi einen eigenen Fantasia-Typus kreieren. Es ist Choralfantasie unüberhörbar mitschwingt.6 Die Fantasia selbst wurde offenbar als deshalb nicht überraschend, dass diese Individualisierungstendenz vorwiegend in der eine Gattung der Vergangenheit betrachtet – genauso wie die Toccata und die Gattung der Claviermusik stattfand: nicht nur, weil ein einzelner Spieler für die Choralpartita, von denen sich der junge Bach nur wenig später definitiv verabschie- Darstellung der gesamte polyphonen Struktur zuständig war, sondern besonders auch, weil Komponist und Interpret hier in einer Person vereint waren. Den Höhepunkt die- ser „humanistisch“ geprägten Clavierfantasie bilden die entsprechenden Werke Jan 3 Pieter Dirksen, The Keyboard Music of Jan P. Sweelinck – Its Style, Significance and Influence, Muziekhistorische Monografieën 15, Utrecht 1997, S. 327–492. 4 , Sämtliche Werke für Tasteninstrumente, Bd. 6: Fantasien, Ciaconen, Suiten, Variationen, hrsg. von Michael Belotti (in Vorb.). 5 In diesem Zusammenhang ist auch die Definition des aus Jena stammenden Bach-Zeitgenossen 1 Mit zwei Ausnahmen: [a] Das Praeludium d-moll BWV 549a ist in der Hauptquelle (Möllersche Friedrich Erhard Niedt (1674–1717) wichtig: „Fantaisie, ist Frantzösisch / und wird auf Italiänisch Handschrift) als „Praeludium ô Fantasia pedaliter“ bezeichnet. Da sich die c-moll-Fassung BWV 549 Fantasia genannt. Es heißt auf Teutsch ein eingebildetes Ding / eine Phantasey / und wird in musi- aber immer auf den Titel „Praeludium“ beschränkt und in der Möllerschen Handschrift „Fantasia“ nur calischen Sachen solchen Stücken beygeleget / die ein jeder nach seinem Sinn / wie es ihm einkommt als Alternative zu „Praeludium“ verwendet wird, wurde das Werk Band 1 der Neuausgabe (Praeludien / oder gefällig ist / ohne gewisse Schrancken und Maasse verfertiget / oder extemporisiret. Die und Fugen I) zugeordnet. [b] Das dreiteilige singuläre G-dur-Stück BWV 572 war lange Zeit in erster Organisten halten viel davon: Denn / wer ein Organist will heissen / muss sich der Phantasie befleis- Linie als „Fantasia“ bekannt (vor allem durch die Peters-Ausgabe), jedoch überliefern die meisten sen …“ (Friedrich Erhard Niedtens Musicalischer Handleitung Anderer Theil, Hamburg 1721, Reprint Quellen die Bezeichnung „Pièce d’Orgue“; das Stück erscheint deshalb in Band 4 (Toccaten und Fugen, Buren 1976, S. 97). Einzelwerke). 6 Vgl. Werner Breig, Der norddeutsche Orgelchoral und – Gattung, Typus, Werk, in: 2 Vgl. dazu vor allem Arnfried Edler, Fantasia and Choralfantasie: on the Problematic Nature of a Genre of Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens, hrsg. von Heinrich W. Seventeenth-Century Organ Music, The Organ Yearbook 19 (1988), S. 53–66. Schwab und Friedhelm Krummacher, Kassel 1982, S. 79–94. 8

dete. Im Gegensatz zu diesen beiden Gattungen taucht aber die Fantasia im Spätwerk 2960 als zentrale Quelle für Bachs Frühwerk beseitigt werden.11 Dafür spricht auch, Bachs wieder auf. In dieser zweiten Phase, die wohl erst in der Köthener Zeit einsetz- dass die Quelle jetzt wesentlich früher datiert wird (um 1750 statt Ende des 18. te, wird der Terminus dann sehr gezielt gebraucht, aber offenbar nicht ohne eine Jahrhunderts), und neben BWV 571 nur gesicherte und vor etwa 1712 zu datierende spezifische Problematik. Einerseits wurde er für singuläre, rhetorisch ausgeformte freie Tastenwerke Bachs, darunter alle sieben Cembalotoccaten BWV 910–916 sowie chromatische Kompositionen benützt (Cembalofantasie BWV 903 und Orgelfantasie die Orgelwerke BWV 532/2, 550, 564 und 574b, enthält. Die Quelle basiert damit BWV 542), die unverkennbar Bachs Kenntnis des norddeutschen ,stylus phantasticus‘ wohl insgesamt auf einer geschlossenen frühen Thüringer Sammelhandschrift. Die zeigen, andererseits wurde die Konzeptschrift zur Orgelfantasie in C BWV 573 vor- G-dur-Fantasie zeigt sich zudem als eine überaus logische kompositorische Weiter- zeitig abgebrochen, was bezeichnenderweise auch bei den Fugen zur Cembalofantasie entwicklung von BWV 570 und 563: sie baut die Zweiteiligkeit von BWV 563 weiter BWV 906 und zur Orgelfantasie BWV 562 (und wahrscheinlich auch für die Fuge zur zur dreiteiligen Form aus. Sie vereint dabei unüberhörbar die drei oben festgestellten Orgelfantasie BWV 537) der Fall war. wichtigsten Parameter der Pachelbel’schen Fantasia in einer geschlossenen Komposition: freie Imitation mit Kurzthema (1. Satz), das Gleiche (mit Umkehrung Die frühen Fantasien des Themas vom ersten Satz) in Kombination mit ,durezze‘ (2. Satz), und frei gehand- Die Fantasia in C BWV 570 ist wohl das älteste erhaltene freie Orgelwerk Bachs, wenn habtem ,ostinato‘ (3. Satz). Wie BWV 563 ist BWV 571 der Zeit um 1704 zuzuord- nicht überhaupt eine seiner ersten Kompositionen, und könnte noch in Ohrdruf ent- nen,12 was durch die große Ähnlichkeit der Schlussgestaltung (T. 118–127) mit dem standen sein.7 Es überrascht deshalb nicht, dass es sich direkt dem Vorbild Pachelbels Schluss der Choralbearbeitung Wie schön leuchtet der Morgenstern BWV 739 (T. 65–75), anschließt. Dessen Fantasia in d zeigt eine ähnliche Struktur mit vollstimmiger, die das in einem Autograph aus derselben Zeit erhalten ist, unterstrichen wird. Tonart definierender Einleitung, gefolgt von einem auf der ,figura corta‘ basierenden, frei-imitativen Hauptteil mit ,durezze‘-artigen harmonischen Fortschreitungen. Lange fristete die im ABB anonym und überdies in Tabulaturnotation überlieferte Fantasia in c BWV 1121 ein Schattendasein (obwohl sie bereits von ihrem ersten Der Beginn der Fantasia in h BWV 563 ähnelt stark dem Hauptteil von BWV 570, Herausgeber Max Seiffert als bedeutende Komposition erkannt wurde13), bis die wobei die ,figura corta‘ mit noch mehr Freiheit, vor allem in harmonischer Hinsicht, Handschrift am Anfang der 1980er-Jahre als Autograph identifiziert wurde.14 Seitdem eingesetzt wird. Der zweite Abschnitt (,Imitatio‘) basiert auf einem kurzen, gilt das anonyme Stück zu Recht als ein authentisches Werk Bachs, was durch die Ouvertüren-artigen Fugenthema in fließendem Dreivierteltakt, das gleichfalls frei für ihn charakteristische Schlusskadenzbildung (Kombination von vermindertem gehandhabt wird und auch in der Umkehrung auftritt. Die Aufzeichnung beider Septakkord [auf h] und Tonika-Pedal) bestätigt wird.15 Auch hier werden kurze imita- Werke durch Bachs Ohrdrufer Bruder Johann Christoph im Andreas-Bach-Buch (in torische Themen mit expressiver, ,durezze‘-artige Harmonik kombiniert, jedoch in der Folge ABB abgekürzt) lässt sich nur pauschal mit vor 1715 datieren; das ungleich eher improvisatorischer Form und sich ständig verändernder thematischer Gestalt – reifere Werk BWV 563 muss aber um einiges später entstanden sein und lässt sich ein experimenteller Weg, den Bach offensichtlich schon bald wieder verlassen hat. stilistisch der Arnstädter Frühzeit zuordnen.8 Spätestens seit seinem Aufenthalt in Lüneburg und dem Unterricht bei Georg Böhm war Bach mit der norddeutschen Tabulaturschrift vertraut, wie seine unlängst ent- Im Gegensatz zu diesen beiden zuverlässig in ABB überlieferten Stücken ist die deckten Abschriften von Choralfantasien Reinckens und Buxtehudes unterstreichen.16 Fantasia in G BWV 571 nur in wesentlich späteren Quellen erhalten, was zu Echtheitszweifel geführt hat.9 Jedoch gibt allein schon Johann Peter Kellners 11 Ulrich Leisinger und Peter Wollny, Die Bach-Quellen der Bibliotheken in Brüssel – Katalog, Leipziger Beiträge zur Bachforschung 2, Hildesheim 1997, S. 85–89 und 214f.; Johann Sebastian Bach, Neue 10 Zuschreibung in der Handschrift P 287 keinen Grund zum Zweifel. Letzte Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Unsicherheiten könnten dann durch die Bewertung der Brüsseler Handschrift Fétis Leipzig, Kassel etc. 1954–2007 (=NBA), Band V/9.1, Toccaten – Kritischer Bericht von Peter Wollny, Kassel 1999, S. 16; Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 359f. 12 Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 112f. 13 Anonymi der norddeutschen Schule (Organum, Heft 10), hrsg. von Max Seiffert, Leipzig 1925, Nr. 6. Seiffert bemerkte dazu: „Mit seinem formalen Bau und Gedankeninhalt steht es in der Literatur völlig isoliert da. Es muss einer der ganz großen Meister sein, dem wir dieses wundersame Stück 7 Jean-Claude Zehnder, Die frühen Werke Johann Sebastian Bachs. Stil – Chronologie – Satztechnik, Schola verdanken.“ Cantorum Basiliensis, Scripta 1, Basel 2009, S. 15–18. 14 Dietrich Kilian, Zu einem Bachschen Tabulaturautograph, in: Bachiana et alia musicologica. Festschrift 8 Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 135f. Alfred Dürr zum 65. Geburtstag, hrsg. von Wolfgang Rehm, Kassel 1983, S. 161–167; Hans-Joachim 9 Vgl. Peter Williams, The Organ Music of J.S. Bach, Bd. I, Cambridge 1980, S. 231; Wolfgang Dömling Schulze, Die Bach-Überlieferung im 18. Jahrhundert, Leipzig 1984, S. 49. und Thomas Kohlhase, Kein Bach-Autograph: Die Handschrift Brüssel, Bibliothèque Royale II. 4093 (Fétis 15 Laut Russel Stinson (Some Thoughts on Bach’s Neumeister , The Journal of Musicology 11 2960), Acta Musicologica 43 (1971), S. 108f.; Bach-Werke-Verzeichnis: Kleine Ausgabe (BWV 2a), hrsg. [1993], S. 464–467) typisch speziell für Bachs Frühwerk. von Alfred Dürr, Yoshitake Kobayashi und Kirsten Beisswenger, Wiesbaden 1998, S. 461. 16 Die frühesten Notenhandschriften Johann Sebastian Bachs sowie Abschriften seines Schülers Johann Martin 10 Auch Philipp Spitta war von der Echtheit des Stücks überzeugt; Joh. Seb. Bach, Bd. 1, Leipzig 1873, Schubart, mit Werken von Dietrich Buxtehude, Johann Adam Reinken und Johann Pachelbel, hrsg. von S. 317. Michael Maul und Peter Wollny, Kassel 2007. 9

Die nach 1600 bald überall in Europa aus der Mode gekommene Tabulaturnotation A T. 1–9 ,exordium‘ „Eingang und Anfang“19 – Passagenwerk auf Orgelpunkt I und V für Tastenmusik wurde in der norddeutschen Orgeltradition des 17. Jahrhunderts B T. 9–14 ,propositio‘ „eigentlicher Vortrag“ – Fugato (Kurzthema in abgewandelter als eine Art zunftgebundener Geheimschrift weiterhin gepflegt. Offenbar steht der ,figura corta‘) in mehrfach umkehrbarem Kontrapunkt, ,durezze‘ experimentelle Charakter und die frei ausschweifende Anlage des Satzes in kausalem A’ T. 14–25 ,confutatio‘ „Anführung und Widerlegung fremdscheinender Fälle“ – Zusammenhang mit der singulären Überlieferung in Tabulaturschrift. Jedenfalls Passagenwerk, starke Chromatik, stark gesteigerte ,durezze‘ B’ T. 25–31 ,confirmatio‘ „künstliche Bekräfftigung“ – B transponiert und um einen wurde das Stück offenbar nie weiter tradiert.17 zusätzlichen Takt „bekräftigt“ A” T. 31–49 ,peroratio‘ „Ausgang oder Beschluss“ – Erweiterung und Überhöhung von Die späteren Fantasien A’, genau in der Mitte eine Reminiszenz von B (T. 39–41) Während sich die frühen Fantasien nach heutigem Forschungsstand relativ leicht zeit- lich einordnen lassen, gilt das erstaunlicherweise nicht für die spätere und viel bekann- Die vom Hamburger ,stylus phantasticus‘ geforderte kunstvolle Proportionierung tere Gruppe von Orgelfantasien. Die einzige Ausnahme betrifft die fragmentarisch ist voll und ganz vorhanden, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Das Werk weist erhaltene Fantasia in C BWV 573. Sie befindet sich im ersten Clavierbüchlein für Anna sowohl zwei gleich lange Teile (ABA’ = B’A”) auf, als auch die klassische Proportion Magdalena Bach von 1722, wo Bach sie wohl noch im gleichen Jahr oder kurz danach 2:5 (AB:A’B’A”). Zudem ist A” genau so lang wie A+A’ (jeweils 18 Takte), und dort eintrug. Obwohl erheblich anspruchsvoller und durch das obligate Pedal um eine findet dann auch die dramaturgische „Auflösung“ des Satzes auf dem Schnittpunkt fünfte Stimme bereichert, zeigen die zwölf erhaltenen Takte ein ähnliches 4:1 statt (T. 39), wo nach der enharmonischen Kulmination jene kurze Reminiszenz Kompositionskonzept wie die in derselben Tonart stehende Fantasia in C BWV 570: von B auftritt. Vollstimmige Eröffnung (mit Einbeziehung der ,figura corta‘; entsprechend dem har- Die Kenntnis des besonderen Hintergrunds der g-moll-Fantasie ist sowohl für die monischen Plan der ersten Zeile von BWV 570!), gefolgt von imitativ geführten Interpretation der Quellen als auch zur Bestimmung der Entstehungszeit wesentlich. Sechzehntel-Motiven. Warum Bach diesen vielversprechenden Kompositionsentwurf Anders als die Fuge BWV 542/2 weist die Überlieferung der Fantasie überwiegend unvollendet gelassen hat, ist unbekannt. Eine vergleichbare Unsicherheit in der posthumen Charakter auf. Das Hauptgewicht liegt sogar um 1800 oder später, wäh- Anwendung des Begriffs „Fantasie“ findet sich zu derselben Zeit für den Zyklus streng rend die beiden früheren, aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammenden dreistimmiger imitativer Clavierstücke BWV 787–801: Diese Stücke werden im Quellen (AmB 531 und P 595) von unbekannter Hand sind. Außerdem ist von Clavierbüchlein für von 1720/21 „Fantasien“ genannt, mehreren verlorengegangenen Zwischenquellen zum ebenfalls verlorenen Autograph aber schon bald danach (Autograph P 610, Anfang 1723) als „Sinfonien“ bezeichnet. auszugehen.20 Umso bemerkenswerter ist aber die Tatsache, dass das Werk trotz dieser Andererseits erfährt der Terminus in der gleichen Epoche besondere Bedeutung durch ungünstigen Quellenlage erstaunlich gut und mit nur marginalen Varianten über- zwei Schlüsselwerke in Bachs Œuvre, der Chromatischen Fantasie in d BWV 903 und der liefert ist. Diese außergewöhnliche Überlieferungssituation deutet stark darauf hin, Fantasia in g BWV 542/1. Sie ergänzen sich nicht nur hinsichtlich ihrer Bestimmung dass Bach diese in jeder Hinsicht einmalige Fantasia – und zwar genauso wie das für Cembalo bzw. Orgel: Beide Werke stellen überhöhte Ausprägungen des frühe, ebenso isoliert dastehende Tabulaturstück BWV 1121! – für sich behielt und es Hamburger ,stylus phantasticus‘ dar. Anders als die dreiteilige Form von BWV 903/1 seinen Schülern nie zum Kopieren überließ. ist BWV 542/1 fünfteilig, mit abwechselnd freien (Rahmenteile, Zentralteil) und Während die Quellen also nichts über die Entstehungszeit der g-moll-Fantasie aus- gebundenen, imitatorischen Abschnitten (2. und 4. Teil). Dies entspricht dem sagen, wird das Werk bekanntlich seit Spitta21 mit Bachs Besuch in Hamburg Ende Standardtypus des norddeutschen Pedaliter-Praeludiums:18 November 1720 in Verbindung gebracht, wofür die Indizien tatsächlich reichlich vor- handen sind. Das Schwesterwerk BWV 903/1(a) wird in die Köthener Zeit datiert,22

19 Stichwörter nach , Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 236; vgl. 17 Nicht aufgenommen wurden hier die frühen Fantasien in g BWV 917 und in a BWV 922, die keine auch Dirksen 2006 (wie Anm. 18), S. 121–126. orgel-idiomatischen Züge aufweisen und wohl eher dem Cembalo zuzuordnen sind. Die gleichfalls 20 Vgl. NBA IV/5, Präludien, Toccaten, Fantasien und Fugen – Kritischer Bericht von Dietrich Kilian, rein manualiter konzipierten Fantasien BWV 570 und 1121 weisen dagegen klar auf die Orgel, wie Kassel 1978/79, S. 455–457; William H. Bates, J. S. Bach’s Fantasy and in G Minor, BWV 542: die langen Orgelpunkte gegen Satzende in BWV 570 sowie die Notation in Orgeltabulatur von A Source Study for Organists, BACH: Journal of the Riemenschneider Bach Institute 39/2 (2008), BWV 1121 (eine Notationsweise, die Bach nur für Orgelmusik nützte, wie auch die Beispiele im S. 1–89 (hier S. 2–13). Orgelbüchlein zeigen). – Die viel späteren Fantasien (mit Fugen) in a BWV 904 und in c BWV 906 21 Spitta Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 635. sind reine Cembalowerke. 22 Philipp Spitta, Joh. Seb. Bach, Bd. 2, Leipzig 1880, S. 661f. und 842; George Stauffer, “This fantasia 18 Zur rhetorischen Analyse im Sinne des ,stylus phantasticus‘ vgl. Pieter Dirksen, The Enigma of the … never had its like”: on the enigma and chronology of Bach’s Chromatic Fantasia and Fugue in D Minor, stylus phantasticus and ’s Praeludium in G Minor (BuxWV 163), in: Orphei Organi BWV 903, in: Bach Studies, hrsg. von Don O. Franklin, Cambridge 1989, S. 160–182 (hier S. 175– Antiqui: Essays in Honor of , hrsg. von Cleveland Johnson, Seattle 2006, S. 107–132. 181). 10

und wenn Wolfgang Wiemers Theorie zutrifft,23, dass dieses ein Tombeau auf den Tod Fassungsgeschichte,28 dass dieser Niederschrift noch eine andere, in einer Abschrift Maria Barbara Bachs (gestorben Juli 1720) darstellt, so gäbe es einen festen Bezug zu aus der Zeit um 1750 (P 1104) erhaltene Fassung vorausgegangen sein muss. Dort ist jenem Jahr. Die „moderne“ Notation von BWV 542/1 mit zwei j deutet jedenfalls auf die Fantasie an die Fuge BWV 546/2 gekoppelt, wobei offen bleiben muss, ob dies auf eine Entstehung nach der Weimarer Zeit,24 und die Wiederaufnahme des Begriffs Bach zurückgeht oder nicht. Die beiden Sätze in der Einzelhandschrift P 490 sind zu „Fantasia“ fällt wie oben ausgeführt in die Jahre 1720–22. Zwei kompositionstechni- unterschiedlichen Zeiten geschrieben: die Niederschrift der Fantasia entstand wohl sche Einzelheiten weisen ebenfalls in diese Richtung: Eine auffallende Parallele einer zwischen 1742 und 1745, während die der unvollendeten Fuge BWV 562/2 auf „um enharmonischen Verwechslung (vgl. T. 20 und besonders T. 38f.) findet sich (abgese- 1747 bis August 1748“ datierbar ist.29 Jedenfalls hat Bach die Fantasie zumindest eini- hen von BWV 903/1[a]) in einem weiteren Köthener Werk, nämlich der ge Jahre als Einzelsatz betrachtet. Davon unabhängig ist die Frage, ob er vor der erneu- aus der Dritten Englischen Suite in g-moll (!) BWV 808, während die „unendlich“ fal- ten Niederschrift in P 490 die Fantasie jemals mit der Fuge BWV 546/2 gekoppelt hat lende Tonleiter mit überraschenden Modulationen (T. 31–35) eine klare Parallele im oder nicht. (Aus diesem Grund ist das Fugenfragment, das höchstwahrscheinlich von 1. Satz des Dritten Brandenburgischen Konzerts BWV 1048 (T. 87–91) aufweist, das spä- Bach bewusst abgebrochen wurde,30 in der vorliegenden Neuausgabe [NA] von der testens 1721 vorlag. Somit kommt, auch unabhängig von der möglichen Assoziation Fantasie getrennt im Anhang abgedruckt.) Bedeutsam könnte aber die Tatsache sein, mit der g-moll-Fuge (vgl. dazu S. 16), der Besuch in Hamburg im November 1720 in dass der neue (?) „Partner“ dieser Fuge, das Praeludium BWV 546, aus stilistischen den Blick, was auch die Konzeption im Hamburger ,stylus phantasticus‘ bestätigt. Erwägungen auf um 1740 datiert werden kann und deshalb vielleicht zu diesem Höchstwahrscheinlich wurde das Werk eigens für diesen Besuch komponiert. Zeitpunkt die Fantasie abgelöst hat. Zugleich ist es auch ein Beispiel einer modernen, wohltemperierten Stimmung. Die Frage nach der Entstehungszeit von BWV 562/1 lässt sich wegen des Fehlens der Deshalb und wegen des geforderten Tonumfangs war die Fantasie auf den beiden Erstniederschrift lediglich pauschal auf vor etwa 1742 ansetzen. Es gibt jedoch einige sicherlich mit Bachs Besuch zu assoziierenden Orgeln, jene der Jakobi- und Indizien für eine nähere Präzisierung. So wird bei der Datierungsfrage der Fantasie Katharinenkirche, nicht spielbar, da beide im Manual noch die kurze Oktave (ohne gerne der thematische Hintergrund ins Spiel gebracht. Das Thema ist unverkennbar Es, Fis und As) aufwiesen und im Pedal nicht über das tiefe Es verfügten und dazu von Nicolas de Grigny’s Livre d’Orgue von 1699 angeregt.31 Bachs Soggetto erscheint noch (weitgehend?) in mitteltöniger Stimmung gestanden haben müssen.25 Nicht fast wie die Summe zweier Fugenthemen von de Grigny: erwogen wurde aber bisher die Möglichkeit, dass Bach das Werk auf der damals größ- Fugue Fugue à 5 ten und modernsten Orgel Hamburgs gespielt hat, nämlich auf dem 1687 von Arp Schnitger fertiggestellten viermanualigen Meisterwerk in der Nikolaikirche, das über den „Bach-Umfang“ CD–c3 (Manual) und CD–d1 (Pedal) verfügte und in einer modernen, wohltemperierten Stimmung gestanden haben muss.26 Dieses berühmte Außerdem übernimmt Bach die typische Fünfstimmigkeit von de Grigny’s Pedaliter- Instrument, „welches alle [anderen] in Teutschland übertreffen soll“,27 hat gewiss Fugen und offensichtlich auch zunächst noch dessen Anlage „à 2 tailles [de Bachs besonderes Interesse hervorgerufen und war zweifellos am geeignetsten, um cromorne] et 2 dessus [de cornet]“; bis T. 56 (also Zweidrittel des Stücks) sind die vier der Hamburger Zuhörerschaft seine virtuose Weiterentwicklung der norddeutschen Manualstimmen so auf zwei Manualen spielbar, danach wurde dieser Ansatz offenbar Orgelkunst vorzuführen. Rätselhaft bleibt dann allerdings, warum diese Orgel fallengelassen. Die sorgfältige, komplette Abschrift, die Bach von de Grigny’s Livre nirgendwo in Bachs Biographie auftaucht. Zu Fragen der Registrierung siehe weiter unten; zur Fuge BWV 542/2 siehe S. 16f. 28 Vgl. Dietrich Kilian, Studie über Bachs Fantasie und Fuge c-Moll (BWV 562), in: Hans Albrecht in Wie BWV 573 liegt die Fantasia [et Fuga] in c BWV 562 in einer autographen Memoriam, hrsg. von Wilfried Brennecke und Hans Haase, Kassel 1962, S. 127–135; Kilian 1978/79 Reinschrift (P 490) vor, die in der Leipziger Zeit entstanden ist. Allerdings zeigt die (wie Anm. 20), S. 333–340. 29 Yoshitake Kobayashi, Zur Chronologie der Spätwerke Johann Sebastian Bachs. Kompositions- und Aufführungstätigkeit von 1736 bis 1750, Bach-Jahrbuch 1988, S. 59. Die Angaben von Kobayashi sind hinsichtlich BWV 562/1 in P 490 dahin zu präzisieren, dass von der abwärts kaudierte Form drei Formen durcheinander und gleichrangig auftreten; neben den von Kobayashi (dort S. 18, 35 und 59) angeführten Formen 5a („bis etwa 1738 vorherrschende Form“) und 5d („ab etwa 1742 gebräuch- 23 Wolfgang Wiemer, Carl Philipp Emanuel Bachs Fantasie in c-Moll – ein Lamento auf den Tod des Vaters?, lich“) findet sich aber auch noch 2c („gegen Mitte der 1740er Jahre“; vgl. Kobayashi, S. 17). Zudem Bach-Jahrbuch 1988, S. 163–177 (hier S. 166). fehlt die Form 5c („von etwa 1739 bis 1742“) ganz. Dies erlaubt insgesamt eine chronologische 24 Vgl. George Stauffer, The Organ Preludes of Johann Sebastian Bach, Ann Arbor 1980, S. 27. Einengung der Niederschrift auf „etwa 1742–1745“. 25 und Markus Zepf, Die Orgeln J. S. Bachs – Ein Handbuch, Leipzig 2008, S. 52–55. 30 Werner Breig, Freie Orgelwerke, in: Bach-Handbuch, hrsg. von Konrad Küster, Kassel 1999, S. 704. 26 Gustav Fock, Arp Schnitger und seine Schule, Kassel 1974, S. 46–50. Das vereinzelte d3 von BWV 542/1 31 Hermann Keller, Die Orgelwerke Bachs, Leipzig 1948, S. 98; Norbert Dufourcq, Jean-Sébastien Bach – (T. 24) ist aber nicht maßgeblich; vgl. den Kommentar, S. 148. Le maitre de l’orgue, Paris 1973, S. 223. Wenig überzeugend ist dagegen der Versuch von Hans 27 Laut der bemerkenswerten Orgelbeschreibung in Caspar Friedrich Neickelius, Museographia, Leipzig Steinhaus (Themen anderer Komponisten in drei Orgelwerken Bachs, Ars Organi 59 [2011], S. 100), das und Breslau 1727, S. 45. Themenmodell einem Stück Jacques Boyvins zuzuordnen. 11

d’Orgue angefertigt hat (Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., Mus. Ms. 1538) lässt Bachs Tod vorgenommenen Vollendung weiterhin voll aufrecht, weshalb das Werk sich etwa auf 1712 ansetzen.32 Jedoch passt BWV 562/1 stilistisch weniger gut in die in den Hauptteil der vorliegenden NA aufgenommen wurde.37Auf den Beginn der Weimarer Epoche, aus der ja offenbar auch keine weiteren Fantasien überliefert sind. Ergänzung wird durch eine Fußnote hingewiesen. Die erwähnte Abschrift der Frühfassung (P 1104) weist eindeutig nach Köthen,33 was Überlieferung, Notation (c-moll in „moderner“ Notation mit drei j) und Stil von ein Indiz dafür ist, dass das Werk zumindest Anfang der 1720er-Jahre vorlag. Es wäre BWV 537 weisen klar auf die Leipziger Periode, wenn nicht sogar auf eine aus- aber auch durchaus plausibel, die Fantasie genau jener Epoche zuzuordnen, in der gesprochen späte Entstehungszeit. Ein Vergleich mit den Präludien für Orgel der dieser Gattungsbegriff in Ausnahmefällen wieder herangezogen wurde. Dann wäre Leipziger Periode (BWV 544, 546, 547, 548, 552) verdeutlicht, warum Bach noch BWV 562/1 neben anderen Köthener Werken dieser Stilausrichtung, wie die Ouvertüre einmal zur besonderen Gattung „Fantasia“ gegriffen hat: Im Gegensatz zum späten in C BWV 1066 oder die Englischen und Französischen Suiten BWV 806–815, als Praeludientypus handelt es sich bei BWV 537/1 eindeutig nicht um eine Organo- Studie im französischen Stil einzustufen. pleno-Komposition (vgl. dazu weiter unten). In diesen Zusammenhang gehört auch die sonatenartige Überleitung zur Dominante am Schluss sowie die Vermeidung der Die Primärquelle für die Fantasia et Fuga in c BWV 537 ist eine Abschrift (P 803), die Ritornellform und die dazu gehörenden akkordischen „konzertanten“ Stellen, die in von Vater und Sohn Johann Tobias und Johann Ludwig Krebs gemeinschaftlich und allen genannten Präludien auftreten. BWV 531/1 ersetzt dies durch freie Imitation von offenbar in einem Zuge angefertigt wurde. Letzterer datiert die Kopie am Schluss auf zwei relativ kurzen Themen, wobei auch wiederum die ,figura corta‘ auftritt, und die 1751. John O’Donnel wies als Erster darauf hin, dass das Werk höchstwahrscheinlich reiche Harmonik hat Züge von ,durezze‘. Die Anlage mit Tonika- und Dominant- von einem Autograph kopiert wurde, in dem die Fuge unvollendet war.34 Johann Orgelpunkten mit Einsatz des Soprans bzw. des Tenors auf einer leeren Quinte Tobias‘ Anteil reicht nur bis T. 89 der Fuge, was offenbar seiner Vorlage entsprach. entspricht der älteren c-moll-Fantasie BWV 562/1. Die seltene Taktart 6$begegnet in Danach übergab er möglicherweise die Abschrift zur Fertigstellung seinem mit dem auffallender Weise auch in der frühen Fantasie in der gleichen Tonart BWV 1121 und Bachstil vertrauten Sohn. Darauf deuten verschiedene Merkmale von dessen innerhalb von Bachs Orgelwerk sonst nur noch in zwei Spätwerken: der unvollende- Schreiberanteil. Obwohl er sich wohlweislich für ein Da capo des Fugenbeginns ten c-moll-Fuge BWV 562/2 sowie Dies sind die heilgen zehn Gebot BWV 678 entschied und so wesentlich zum Erfolg seiner Arbeit beitrug, zeigen die möglicher- (Clavierübung III).38 Auf eine Entstehung nach 1739 weist schließlich das Fugenhema, weise neu komponierten Teile sowie Einzelheiten Züge einer fremden Hand: die das möglicherweise auf eine Anregung von Johann Mattheson zurückzuführen ist:39 harmonische Unentschlossenheit der Takte 90–103, die abweichende Themenform mit Durchgangsnote (T. 105), sowie der Schluss mit dreifachem Vorhalt in aus- geschriebenen Halben.35 Auf eine über bloßes Kopieren hinausgehende Tätigkeit deutet auch die Ausführlichkeit von Johann Ludwig Krebs’ Endsignierung, nur ein Mattheson, Thema 1739 (von g-moll nach c-moll transponiert) halbes Jahr nach Bachs Tod: „Soli Deo Gloria d. 10 Januarij 1751“.36 Diese Art der Signatur kommt tatsächlich wiederholt in den Autographen von Krebs’ eigenen Es stellt sich an dieser Stelle die Frage nach der angemessenen Registrierung von Bachs Kompositionen vor und findet sich sonst nach Einschätzung des Herausgebers nie Fantasien, besonders im Hinblick auf eine Organo-pleno-Realisierung, was besonders in den – überaus zahlreichen – Abschriften von Werken seines Lehrers. Belegbar ist bei den späteren Fantasien von Bedeutung ist. Organo pleno heißt bekanntlich in der diese Interpretation des Quellenbefundes nicht. Selbst wenn sie zutrifft und nicht Regel Prinzipalchor einschließlich Mixturen, unter Hinzufügung von einer oder meh- Bach, sondern der jüngere Krebs für die Zusammenstellung der letzten 41 Takte rerer Zungen im Pedal. Hier hat sich der Blick vor allem auf am nächsten verwandte verantwortlich wäre, so bleibt die Qualität und Singularität dieser offenbar kurz nach

37 Der Spieler könnte aber eine Angleichung von T. 114–122 an die Lesart von T. 14–22 vorziehen, wie 32 Yoshitake Kobayashi, Quellenkundliche Überlegungen zur Chronologie der Weimarer Vokalwerke Bachs, in: auch in T. 104 im Alt, Zz 4 ein Viertel f 1 anstelle der beiden Achteln „Bachischer“ klingen dürfte. Das Frühwerk Johann Sebastian Bachs, hrsg. von Karl Heller und Hans-Joachim Schulze, Köln 1995, 38 BWV 678 erscheint mit BWV 537/1 besonders eng verwandt: auch hier kontrastiert ein ruhiger, S. 294. kanonisch einsetzender Eröffnungsgedanke über einem Orgelpunkt mit einem Seufzer-Motiv, und 33 Vgl. Andrew Talle, Nürnberg, Darmstadt, Köthen. Neuerkenntnisse zur Bach-Überlieferung in der ersten beide Werke zeigen ein ähnliches, äußerst flexibles rhythmisches Bild; man könnte deshalb mit Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bach-Jahrbuch 2003, S. 162–165. gutem Grund behaupten, BWV 678 sei im ,Fantasia‘-Stil geschrieben. Meredith Little und Natalie 34 John O’Donnell, Mattheson, Bach, Krebs and the Fantasie & Fugue in c Minor BWV 537, The Organ Jenne (Dance and the Music of J.S. Bach, Bloomington 2/2001, S. 255–257) weisen darauf hin, dass Yearbook 20 (1989), S. 88–105. BWV 537/1 (und somit auch BWV 678) dem Tanztypus des Loure zuzuordnen ist. Auffallender- 35 Dass im Da capo der erste Themenansatz im Alt entfällt (und somit an T. 5 statt an T. 1 anknüpft), weise liegt auch der Fuge von BWV 537 ein Tanzmuster zugrunde, und zwar das der Bourrée (eben- wurde kritisiert (vgl. Breig 1999 [wie Anm. 30], S. 691), jedoch ist der additionale zusätzliche da, S. 207). Insgesamt bestätigt dieser Befund, welcher nicht zuletzt auch für die Aufführungspraxis Alteinsatz (der die 1. Stufe vom Satzanfang wiederholt) noch einbezogen (T. 25 bzw. 125) und wird von Bedeutung ist, die chronologische Nähe dieses Werkpaars zum zweiten Teil des Wohltemperierten besonders effektiv sowohl als Komplettierung der vierstimmigen Themendurchführung als auch als Claviers (um 1739–1742), wo auffallend viele stilisierte Tanztypen auftreten. Schlussthema umgedeutet. 39 Der vollkommene Capellmeister (wie Anm. 19), S. 210. Vgl. dazu Williams 1980 (wie Anm. 9), S. 86; 36 O’Donnell 1989 (wie Anm. 34), S. 90. O’Donnell 1989 (wie Anm. 34), S. 92. 12

Formen zu richten, nämlich Praeludium und Toccata. In den wenigen Original- etwas besser gelang.42 Die A-dur-Fuge, die in einer Kopie von Bachs Bruder Johann quellen findet sich die Angabe organo pleno bei BWV 544/1 (Autograph) und 552 Christoph erhalten ist (ABB), basiert offenbar ebenfalls auf einem Thema italienischer (Originaldruck Clavierübung III 1739), aber nicht bei BWV 548 (P 274) und der Provenienz, jedoch ist eine eindeutige Identifizierung bisher noch nicht gelungen. c-moll-Fantasie BWV 562. Innerhalb der als zuverlässig einzustufenden Sekundär- Sehr wahrscheinlich könnte es sich um das Thema einer Fuge von Bernardo Pasquini überlieferung findet sich organo pleno bei BWV 535, 538, 540, 543, 545, 546, 547, (1637–1712) handeln, dessen Musik Bach vielleicht durch einen Sammeldruck von 548, 569, 582 und 589. Es fällt auf, dass sich darunter keine Fantasien finden und dass etwa 1698 kennengelernt hat:43 Bach auch in seinem Autograph von BWV 562 auf einen solchen Hinweis verzichtet (das gleiche gilt für die autographe Überschrift zu BWV 573). Für BWV 537/1 ist aufgrund der rhythmisch und polyphon fein ziselierten Gestalt eine Organo-pleno- Registrierung auszuschließen. Auch die frühen Fantasien BWV 563, 570, 571 und Thema Pasquini (von C-dur nach A-dur transponiert) 1121 zeigen durch ihren ,durezze‘-artigen Stil, dass für sie in erster Linie wohl eine traditionelle Registrierung mit Solo-Labialen in Betracht kommt. Schwieriger ist die Eine weitere Fuga in A BWV 950, ebenfalls über ein Thema aus Albinoni’s op. 1, Registrierungsfrage bei der g-moll-Fantasie BWV 542/1. Zweifellos ist die Fuge entstand wohl einige Jahre später und kann der frühen Arnstadter Zeit zugeordnet BWV 542/2 organo pleno zu registrieren, wie die Primärquellen P 288/5 (Kellner) und werden.44 Sie bleibt in ihrer Dreistimmigkeit näher an der italienischen Vorlage P 1100 (Oley) explizit vorschreiben. Für die Fantasia fehlt dagegen ein derartiger als BWV 946, was sich nicht nur in dem beweglicheren, von durchgehenden Beleg; nur in der um 1800 entstandenen Handschrift P 288/9 ist für BWV 542 als Sechzehnteln bestimmten Satz, sondern auch in der Übernahme einiger Ganzes organo pleno angegeben. Die Titelei („Fantasia e Fuga Gm: Per l’Organo (Zwischenspiel-)Motive des Vorbilds ausdrückt. Eine Weiterentwicklung zeigt sich pieno col pedale“) entpuppt sich allerdings als Nachtrag von etwa 1830.40 Da die darüber hinaus durch die Durchführung des Themas auch auf den Mollstufen III und g-moll-Fantasie in besonderer Weise den ,durezze‘-Stil widerspiegelt, sollte die VI sowie die bedeutenderen Zwischenspiele. Die Quellenlage ist schwierig, denn die moderne Tradition, Teile oder die ganze g-moll-Fantasia mit Organo-pleno- einzige zeitgenössische Quelle (eine vor 1725 anzusetzende Kopie von Johann Peter Registrierung zu spielen, vielleicht neu überdacht werden. Kellner) entpuppt sich als eine nach G-dur transponierte Vereinfachung des Originals, während Johann Ringks Abschrift zwar die A-dur-Fassung wiedergibt, wenn auch in Frühe Fugen nach italienischen Vorlagen einer eher verderbten Fassung. Die NA basiert deshalb in erster Linie auf einer erst Das Komponieren von Fugen über italienische Themen und Vorlagen war offenbar viel später entstandenen Kopie unbekannter Hand. wichtiger Bestandteil des (autodidaktischen) Lernprozesses des jungen Bach. Neben den hier aufgenommenen Kompositionen BWV 574, 579, 946, 949 und 950 finden Das Prinzip eines weit ausladenden, toccatenhaften Schlusses, das sich schon in BWV sich weitere Beispiele in den Cembalofugen BWV 914/4 (letzter Teil der Toccata e-moll) 950 andeutet, gewinnt noch weiter an Bedeutung in der Fuga in c BWV 574(b), die und BWV 951(a). Diejenigen Fugen, die auch für Orgel in Betracht kommen und zudem einen wichtigen Schritt von punktueller zu obligater Pedalanwendung deshalb in die NA aufgenommen wurden, weisen lange Orgelpunkte gegen Ende vollzieht. Das Thema dieses vor allem durch die Abschrift von Johann Christoph (BWV 946, 949, 950) oder obligaten Pedalgebrauch (BWV 574, 579) auf – Merkmale, Bach in ABB gut überlieferten Werks konnte trotz der scheinbar eindeutigen Angabe die in BWV 914 und 951(a) fehlen. dort („Thema legrenzianum elaboratum per Joan. Seb. Bach cum subjectum“) lange nicht identifiziert werden. In Legrenzis Werk fand sich keine eindeutige Entsprech- Frühestes Beispiel ist zweifellos die Fuga in C (nach Albinoni) BWV 946. Die ung, sondern nur Imitationsgebilde mit eher vagen Anklängen.45 Erst kürzlich fand Identifizierung der Themenvorlage durch Michael Talbot41 belegt wohl Bachs Rodolfo Zitellini die Vorlage des ersten Themas in der Triosonata in c-moll (!) op. 3 Autorschaft dieses nur in posthumen Abschriften greifbaren Stücks. Das Thema Nr. 4 von Giovanni Maria Bononcini (1642–1678). Da auch weitere Anklänge von entstammt demselben Druck – Tomaso Albinonis Triosonaten op. 1 von 1694 – wie die Vorlagen zu BWV 950 und 951(a). Der junge Bach wagt sich hier, wie auch in der etwa zeitgleich einzuordnenden Fuga in A BWV 949 an die Konstruktion einer 42 Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 13–18; er datiert die beiden Werke auf „um 1699“. 43 In der Drucksammlung Sonate da Organo di varii autori (hrsg. von Guilio Cesare Arresti, Bologna, vierstimmigen Fuge, was ihm im letzteren, wesentlich umfangreicheren Werk wohl um 1698) ist die Fuge anonym als „Sonata 14.a di N. N. di Roma“ abgedruckt (vgl. Zehnder 2009 [wie Anm. 7], S. 18f.), jedoch enthält die Handschrift Bologna, Civico Museo Bibliografico, Ms. DD.53, das gleiche Stück mit einer Zuschreibung an den bekannten römischen Komponisten Bernardo Pasquini; vgl. die Ausgabe in der Reihe Frutti Musicali, Bd. 7, hrsg. von Jolando Scarpa, Magdeburg 2009, Vorwort und S. 32. 40 Vgl. dazu Bates 2008 (wie Anm. 20), S. 10–12 (note 14). 44 Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 119f. 41 Michael Talbot, A further Borrowing from Albinoni: The C Major Fugue BWV 946, in: Das Frühwerk 45 Vgl. David Swale, Bach’s Fugue after Legrenzi, Musical Times 126 (1985), S. 687–689; Robert Hill, Die Johann Sebastian Bachs (wie Anm. 32), S. 142–161. Herkunft von Bachs ,Thema Legrenzianum‘, Bach-Jahrbuch 1986, S. 105–107. 13

Bononcinis Satz im ersten Teil von BWV 574 festzustellen sind, scheint tatsächlich das Johann Nikolaus Mempells Kopie aus den 1730er-Jahren ist ausgesprochen proble- lange gesuchte Vorbild gefunden zu sein:46 matisch. Eine vermutlich über Wilhelm Friedemann Bach überlieferte und erst in Allegro Quellen aus dem 19. Jahrhundert greifbare Abschrift bietet eine gute Alternative. Eine mögliche Erklärung für die bemerkenswerte Tatsache, dass Bachs lange Fuge (er dehnt Corelli’s 36 Takte auf 102 Takte aus51) sich – im Gegensatz nicht nur zu BWV 574(b) Wie der offenbar auf Bach selbst zurückgehende irreführende Titel zustande kam, lässt sondern auch zu wesentlich früher anzusetzenden Fugen wie BWV 535a/2 und 950 – sich nicht nachvollziehen, ebensowenig, ob das „subjectum“ des Titels (das zweite ganz auf Tonika- und Dominantthemen beschränkt, bietet der analytische Ansatz Thema) von Bach selbst stammt oder auf eine sekundäre, unbekannte Quellenlinie Robert Hills,52 der BWV 579 als eine Art Permutationsfuge betrachtet. Eine direkte dieser Sonate zurückzuführen ist. Das Doppelthema zeigt als Ganzes jedenfalls Züge Anregung zur Komposition kam vielleicht durch den Besuch bei Dieterich Buxtehude eines standardisierten italienischen kontrapunktischen Modells.47 Das Werk spielt in im Winter 1705/06, der das weitgehend gleiche Doppelthema (in Dur!) in seinem spä- der Entwicklung der Doppelfuge (mit der klaren dreiteiligen Form A, B, A+B) eine ten Pedaliter-Praeludium in A-dur BuxWV 151 benützte, das auf 1696 datierbar ist Schlüsselrolle.48 (Beispiel a). Offenbar hat Bach eine Abschrift des Stücks aus Lübeck mitgenommen, Im Gegensatz zu den Fugen BWV 535(a), 532(a) und 951(a) sind die Unterschiede wie die vor 1707 anzusetzende Kopie seines Bruders Johann Christoph in der zwischen der Frühfassung BWV 574b und der Revisionsfassung BWV 574 weniger Möllerschen Handschrift nahelegt. Ein weiterer Überlieferungszusammenhang bietet tiefgreifend und die Überlieferung zeigt eher ein Kontinuum an kleineren Ver- sich durch ein Fugenthema von Buxtehudes Schüler Nikolaus Bruhns an (Beispiel b), besserungen und Bereicherungen (wie etwa bei BWV 542/2). Die NA versucht, die der auch Corellis Tempoangabe „Vivace“ übernimmt.53 beiden Fassungen klar zu trennen. BWV 574b lässt sich ziemlich genau datieren, da a. nicht nur die Kopie in ABB vor 1715 anzusetzen ist, sondern auch, weil die Abschrift Johann Gottfried Walthers (P 805) nicht lange nach Bachs Ankunft in entstand. Die bisher eher problematische Quellenlage von BWV 574 hat sich durch Buxtehude, Praeludium in A Bux WV 151, T. 23–25 die Auffindung einer anonymen Kopie in der Forschungsbibliothek Gotha (Mus. 40 b. 43/1) erheblich verbessert; diese Quelle wird hier zum ersten Male ausgewertet. Vivace Die Fassung BWV 574a, die sich nur in dem Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen 49 Sammelband P 207 befindet, stammt wohl nicht von Bach. Der (unbekannte) Bruhns, Praeludium in e, T. 47–50 Schreiber wollte hier offenbar diese und andere Fugen Bachs sowie Händels durch Ausmerzung allzu „barocker“ Floskeln „verbessern“. Dabei entfiel natürlich auch die toccatenhafte Coda – das wohl extremste Beispiel des norddeutschen rezitativischen Weitere frühe Einzelfugen Stils bei Bach. Die Fuga in B („Erselius“) BWV 955(a) wurde lange Zeit als Arbeit des Freiberger Organisten Johann Christoph Erselius (1703–1772) aufgefasst, wobei er im Wohl als eine Art Pendant zu BWV 574(b) ist die Fuga in h (nach Corelli) BWV 579 Wesentlichen als Urheber der Fassung BWV 955a, Bach dagegen – wenn seine anzusehen. Beide Werke können der Entstehungszeit um 1706 zugeordnet werden,50 Beteiligung überhaupt in Erwägung gezogen wurde – lediglich für die (nur leicht über- und auch BWV 579 basiert auf einem „Thema con Suggetto“ (so der Titel in P 804) arbeitete) Fassung BWV 955 in Betracht kam. Erst Karl Heller konnte die Verhältnisse italienischer Provenienz. Im Gegensatz zu BWV 574 werden hier entsprechend der richtigstellen und nicht nur beide Fassungen Bach zuschreiben, sondern diesen auch Vorlage (, 2. Satz aus der Triosonate op. 3 Nr. 4) die Themen von Anfang an miteinander kombiniert. Die Quellenlage ist wesentlich ungünstiger. 51 Vgl. dazu Hartmut Braun, Eine Gegenüberstellung von Original und Bearbeitung, dargestellt an der Entlehnung eines Corellischen Fugenthemas durch J. S. Bach, Bach-Jahrbuch 1972, S. 5–11; Williams 1980 (wie Anm. 9), S. 249–252; Gwylim Beechey, Bach’s B-minor Fugue, BWV 579 – Corelli’s B-minor 46 Rodolfo Zitellini, Das „Thema Legrenzianum“ der Fuge BWV 574 – eine Fehlzuschreibung?, Bach- Sonata, Op. 3 No. 4, The American Organist 19 (1985), S. 126f.; Luca Tutino, La fuga per organo in si Jahrbuch 2013, S. 243–259. minore „über ein Thema von Corelli“. Modalità di lettura di un modello italiano, in: Bach und die italieni- 47 Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 199f. sche Musik. Bach e la Musica Italiana, hrsg. von Wolfgang Osthoff und Reinhard Wiesend, Venedig 48 Werner Breig, Das ,Thema legrenzianum elaboratum per Joan. Seb. Bach‘ und die Frühgeschichte der 1987, S. 61–87. Doppelfuge, Bach-Jahrbuch 2001, S. 141–150. 52 Robert Hill, „Streng“ versus „Frei“. Ein Beitrag zur Analyse der frühen Tastenfugen von Johann Sebastian 49 James A. Brokaw II, The Perfectability of J.S. Bach, or Did Bach compose the Fugue on a Theme by Bach, in: Bach, Lübeck und die norddeutsche Tradition. Bericht über das Internationale Symposion der Legrenzi, BWV 574a?, in: Bach Perspectives I, hrsg. von Russel Stinson, Lincoln und London 1995, Musikhochschule Lübeck April 2000, hrsg. von Wolfgang Sandberger, Kassel etc. 2002, S. 178–184. S. 163–180. 53 Geoffrey Webber, Buxtehude’s Praeludia and the sonata publications of Corelli, Early Music 38 (2010), 50 Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 198 und 212. S. 252f. 14

einen festen Platz in dessen Frühwerk zuweisen.54 Auch die erst kürzlich durch einen siedelnden Gruppe stark von Buxtehude beeinflusster Werke mit neuer Pedalvirtuo- neuen Quellenfund (Berlin Mus.ms. 9172/3) hinzugekommene Zuschreibung an sität (BWV 532a, 550, 577), was sich hier besonders durch die Pedaliter-Coda zeigt. Georg Friedrich Händel ist nicht haltbar. Doch liefert gerade diese Quelle den ent- scheidenden Hinweis auf das Verhältnis der beiden Fassungen. Die Pedalanweisung Die Fuga in g BWV 131a ist singulär in Bachs Orgelwerk. Es handelt sich um den am Anfang von BWV 955a in Mus.ms. 9172/3 zeigt, dass die Basslinie wohl durchge- Schlusssatz „Und er wird Israel erlösen aus allen Sünden“ der Kantate Aus der Tiefen hend auf dem Pedal zu spielen ist und löst somit das Problem einiger manualiter rufe ich, Herr, zu dir BWV 131 von 1707. Die Bearbeitung vermeidet gekonnt eine unspielbarer Stellen (T. 45–48, 74, 77–79 und 81). Es handelt sich hier also nicht um schematische Übernahme des Materials, trotzdem bleibt der Eindruck zwiespältig.57 einen Satz mit punktueller Pedalbeteiligung (zur Aushilfe jener Stellen), sondern um Einerseits gibt es durchaus „Bachische“ Elemente, wie die Bereicherung der Harmonie ein Werk mit obligatem Pedal.55 Interessant sind in dieser Hinsicht die Takte 65–68. in T. 17 (auf der zweiten Zählzeit hat der Tenor hier als erste Note c1 statt d1 wie in der Die tiefste Stimme wurde bisher immer als Basslinie ediert; die Quellen lassen aber Kantate), die sehr pedalgerechte Passage T. 36f., die Altstimme in T. 41 sowie vor allem auch eine Deutung einer von der linken Hand zu spielenden Tenorlinie zu (in der NA der Einfall, den Kantatenschluss durch jene Dialogtakte zu ersetzen, die in BWV 131 realisiert), die in typischen virtuosen Manualiter-Figurationen während des unmittelbar der Chorfuge vorangehen; der ursprüngliche, stark plagale Schluss wurde Schweigens des Pedals das tiefe C berührt. In der revidierten Fassung BWV 955 wurde dabei zurecht als zu dramatisch und textgebunden verworfen. Andererseits ist die diese Passage umgeschrieben, wobei jetzt nicht mehr der Bass, sondern der Sopran Textur durch Weglassen von Stimmen an einigen Stellen dünn und fragmentarisch schweigt. Bachs Versuch, eine reine Manualiter-Ausführung zu ermöglichen, wurde geraten und gibt es harmonisch und melodisch problematische Stellen (z. B. in der aber nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt; während der Dezimgriff in T. 48 Harmonik in T. 22, der Stimmführung im Alt in T. 26, oder der Querstand zwischen noch einigermaßen spielbar ist, rechnet der Schluss ab T. 79 offenbar doch noch mit Bass und Alt in T. 44). Die Eröffnung mit einem schlichten Akkord deutet eher auf Pedalbeteiligung. Darüberhinaus wurden nach der Exposition die Gegenstimmen einen Bearbeiter der jüngeren Generation. Die späte und eher periphere Überlieferung durch Hinzufügung von Sechzehnteln fließender gestaltet und es wurde der toccaten- kann nichts zur Frage der Autorschaft beitragen. Da das Stück aber in seiner hafte Schluss um einem Takt erweitert. Grundsubstanz selbstverständlich von Bach stammt, wurde es in den Anhang aufgenommen. Eine ganz andere Stilrichtung als diese eher auf vokale Kantabilität ausgerichtete Komposition zeigt die Fuga in c BWV 575. Das Thema und dessen Verarbeitung Spätere Einzelfugen tragen Züge des phantastischen Stils; die rhetorischen Pausen des spielerischen, Wegen der eher peripheren Überlieferung ist die Echtheit der Fuga in G BWV 577 ausgesprochen originellen Themas werden durch ein Kontrasubjekt gefüllt. Wie in wiederholt angezweifelt worden,58 jedoch passt das Werk mit seiner ausgesprochen BWV 579 gibt es kompositionstechnisch einen „Ersatz“ für das Beharren auf Tonika virtuosen Pedalstimme stilistisch völlig in das Bild von Bachs Orgelmusik aus der Zeit und Dominante bei allen Themeneinsätzen: in Gestalt freier Stimmeneinsätze und unmittelbar nach dem Besuch bei Buxtehude in Lübeck. In allen drei offenbar Themenelemente (nach der vierstimmigen Exposition),56 wobei die vier Oktaven des unabhängigen Überlieferungssträngen (Esser 2, Rara Ib, 31 und die verschollene Manuals virtuos ausgenützt werden. BWV 575 bildet in thematischer und komposito- Vergleichsquelle für Peters IX) wird das Werk J. S. Bach zugeschrieben. Zudem rischer Hinsicht das Moll-Pendant zur Pedaliter-Fuge in D BWV 532/2. Direktes entstand die zuverlässige Handschrift Esser 2 offenbar noch zu Bachs Lebzeiten (wenn Modell für die freizügige, spielerische Fugentechnik beider Werke war wohl die auch der Schreiber bislang noch nicht identifiziert ist). Das Thema scheint von Fuge in Buxtehudes Praeludium in F BuxWV 145 (T. 40–123), wohl nicht zufällig Buxtehude beeinflusst; schon Spitta wies auf die Verwandtschaft zur Fuga in C Buxtehudes längste Pedalfuge und auch in dieser Hinsicht vergleichbar mit den BuxWV 174 und zur Schlussfuge des Praeludiums in e BuxWV 142 hin.59 Die erste beiden Werken Bachs (wie so viele freie Tastenwerke Buxtehudes überlebte BuxWV 145 Hälfte des Themas kann als Paraphrase zweier Elemente aus BuxWV 174 betrachtet dank Abschriften aus dem Bachkreis). BWV 575 ist Bestandteil einer um 1708 anzu- werden (Beispiel a). Buxtehudes Fuge, die nur in ABB erhalten ist, also wohl über Bach selbst überliefert wurde, ist ein manualiter konzipiertes Werk. BuxWV 142 stellt dagegen mit BWV 577 vergleichbare Ansprüche an das Pedalspiel. Es ist nicht so sehr

54 Karl Heller, Die Klavierfuge BWV 955. Zur Frage ihres Autors und ihrer verschiedenen Fassungen, in: Das Frühwerk Johann Sebastian Bachs (wie Anm. 32), S. 130–141. Vgl auch Zehnder 2009 (wie 57 Ablehnend gegenüber Bachs Autorschaft verhalten sich Spitta Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 451 und Anm. 7), S. 129f. Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 528. Zu einer eher positiven Sicht neigen Hermann Keller, Unechte 55 Das hat vielleicht auch Konsequenzen für das BWV 955(a) am nächsten verwandte Stück, nämlich Orgelwerke Bachs, Bach-Jahrbuch 1937, S. 63; Hermann Keller, Die Orgelwerke Bachs, Leipzig 1948, die in d BWV 588. Auch hier erscheint auf dem ersten Blick und von den Quellen aus S. 70; NBA IV/8, Freie Orgelwerke und Choralpartiten aus unterschiedlicher Überlieferung – Kritischer betrachtet „punktuelle“ Pedalanwendung angesagt (vgl. Jean-Claude Zehnder in NA Bd. 4, S. 13 Bericht von Ulrich Bartels und Peter Wollny, Kassel etc. 2003; S. 27; Bernhard Billeter, Bachs und 179), aber vielleicht war trotzdem in beiden mit der Bassstimme beginnenden Stücken eine Klavier- und Orgelmusik, Winterthur 2010, S. 446f. durchgehende Pedaliter-Ausführung beabsichtigt. 58 So noch in BWV 2a (wie Anm. 9), wo es unter „Werke zweifelhafter Echtheit“ geführt wird (S. 461). 56 Vgl. dazu ausführlich Breig 1999 (wie Anm. 30), S. 639–642. 59 Spitta Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 320. 15

das Eröffnungsthema des Schlussteils von BuxWV 142, ein eher locker geschriebenes Seit dem Umbau der Weimarer Schlosskirchenorgel durch Johann Conrad Fugato, das hier von Relevanz ist, sondern vor allem eine bestimmte Passage im Weisshaupt (1707/08) wies diese das hohe Pedal-e1 auf.60 Bach war im Juni 1708 Verlauf des Satzes (Beispiel b). eingeladen worden, die Arbeit zu prüfen und das Einweihungskonzert zu spielen. Bei a. diesem Anlass erklang wohl eines (oder gar beide?) der möglicherweise speziell auf die erneuerte Orgel zugeschnittenen Demonstrationswerke BWV 550 oder 577, die 61 BWV stilistisch allerdings noch eher der Mühlhausener Periode zuzurechnen sind. 577: Die Fuga in g BWV 578 lässt sich aufgrund der Aufzeichnung im ABB vor 1713/14 einordnen und passt stilistisch gut ins Bild der frühen Weimarer Jahre.62 Der Bach- Sammler Franz Hauser (1794–1870) erwähnt ein Praeludium zu dieser Fuge, worüber BuxWV 174, Thema aber nichts weiteres bekannt ist.63 Dass das liedhafte Thema, geigerisch aufgebaut auf b. der Tonika und der darunter liegenden leeren D-Saite, tatsächlich auf einem Volkslied beruht, wurde jüngst von Russel Stinson bestätigt:64 Auf dem Titelblatt einer verkürz- ten Manualiter-Bearbeitung von der Hand des Bach-Schülers Johann Georg Schüblers (geb. um 1725) wird das Textincipit „Lass mich gehn, denn dort kommt meine Mutter her“ angeführt, das sich auf die ersten zwei Takte des Themas beziehen lässt:

Lass mich gehn, denn dort kommt mei ne Mut ter her Vielleicht erklärt sich vor diesem Hintergrund die eher lockere Polyphonie dieser BuxWV 142 T. 140–143 Fuge. Das Thema wird zwar von zwei Kontrasubjekten begleitet, wovon aber eines lediglich ein dominantischer Liegeton ist, der die schon starke Präsenz dieser Stufe Diese Stelle zeigt, dass die „kurze“ Notation mit Achtel statt Viertel auf den Takt- im Thema noch weiter betont. Ähnlich klanglich unbefriedigend stellt sich das schwerpunkten (Esser 2) in den sehr ähnlichen Parallelstellen in BWV 577 (T. 29–32 Aufeinandertreffen der beiden Manualstimmen in T. 27f. dar, die Akzentoktaven (mit und 71–74) wohl Bachs Intention entspricht, weshalb diese Lesart in der NA über- zwei Oktaven Distanz!) zwischen Sopran und Tenor in T. 46–48 (jeweils 3. Zählzeit) nommen wurde. und die eher „schwankende“ Harmonik in T. 49–51. Obwohl grundsätzlich als vier- Die Quellen lassen das Pedal nach dem langen Manualiter-Binnenteil erst in T. 63 stimmige Pedaliter-Fuge konzipiert, ist das Stück überwiegend dreistimmig – sogar in unthematisch einsetzen (zusammen mit der thematischen Wiederkehr des Soprans), der Exposition. Trotz der wohlproportionierten Form65 ist insgesamt eine gewisse der Basseinsatz des Themas T. 57 wäre dann also noch manualiter zu spielen. Dies Naivität feststellbar. Damit in Zusammenhang stehen auch einige möglicherweise geschah offensichtlich nur, um das (auf vielen Orgeln fehlende) hohe e1 (T. 57) im sogar auf Bach zurückgehende Ungenauigkeiten im überlieferten Notentext, ein- Pedal zu vermeiden. Eine solche Aufteilung des Basses über Manual und Pedal ist bei schließlich der als Primärquelle bewerteten Abschrift von Johann Christoph Bach in Bach undenkbar, auch ist der dreistimmige Satz T. 57–62 manualiter sehr unbequem ABB (vgl. den Kommentar auf S. 155 zu T. 11, 19, 27, 51, 58 und 62). Hatte Bachs zu spielen – im Gegensatz zum Rest der Manualpartien dieser Fuge. Zudem tritt Autograph vielleicht einen skizzenhaften, etwa für eine besondere Gelegenheit im vierten Thementakt (hier T. 60, wie schon in T. 28) die modifizierte Fassung für schnell hingeworfenen Charakter? alternierende Füße auf, die manualiter gespielt sinnlos wäre. (Das dritte Pedalthema am Ende der Fuge hat diese abgewandelte Form aber auffälligerweise nicht [T. 80f.], was wohl mit seiner Eigenschaft als letztem Themeneinsatz zusammenhängt; sollte hier das Tempo etwa ein wenig zurückgehalten werden?) Das somit gesicherte Pedal-e1 vereint BWV 577 mit einer Reihe anderer (früher) Weimarer Orgelwerke (BWV 528/2 [Frühfassungen], 536, 550, 593, 653a und b). 60 Wolff/Zepf, Die Orgeln J. S. Bachs (wie Anm. 25), S. 105. Besonders die in derselben Tonart stehende Fuge BWV 550/2 steht stilistisch 61 Zehnder 2009 (wie Anm. 7), S. 292f. BWV 577 nahe, sowohl in der etwas „mechanisch“ anmutenden Gestaltung des 62 Jean-Claude Zehnder, Zu Bachs Stilentwicklung in der Mühlhäuser und Weimarer Zeit, in: Das Frühwerk Themas als auch in den komplexen Figurationen und den daraus resultierenden Johann Sebastian Bachs (wie Anm. 32), S. 335. 63 Yoshitake Kobayashi, Franz Hauser und seine Bach-Handschriftensammlung, Göttingen 1973, S. 331. schnellen Harmoniewechseln und der virtuos geführten Pedalstimme. In der sehr 64 Russel Stinson, J.S. Bach at his Royal Instrument. Essays on his Organ Works, New York 2012, S. 20–27. bewegten Schlussgestaltung beider Werke zeigt sich die besondere Übereinstimmung. 65 Breig 1999 (wie Anm. 30). 16

Auch bei der Fuga in g BWV 542/2 gibt es einen Volkslied-Bezug, denn bekanntlich Compositions-Wissenschaft innerhalb zweer Tage nach gespielter Probe schrifftlich basiert BWV 542/2 auf einem niederländischen Lied (Beispiel a). Auch führt eine ausgearbeitet aufzuweisen“ hatten; vielleicht traf dies auch bei Bachs Auftritt im Spur zu einem Capriccio des Hallenser Organisten Friedrich Wilhelm Zachow November 1720 zu. Zweifellos steht der Topos „g-moll-Fuge“ bei Bach mit dem seit (Beispiel b),66 sowie – bisher unbeachtet – zu einem „Thema Legrenzianum“ (Beispiel seiner Jugend verehrten Reincken in Beziehung: die frühe Orgelfuge BWV 535a/2 c).67 Johann Mattheson zitiert 1731 im Zusammenhang mit einer Organistenprobe am basiert auf einem „Thema Reinckenianum“,69 und der Fuge aus der Cembalo-Toccata Hamburger Dom im Jahr 1725 eine Variante des Themas (Beispiel d) und bemerkt BWV 915 liegt ein Giguenthema aus Reinckens Hortus Musicus zugrunde.70 Überdies dazu: „Ich wuste wohl, wo dieses Thema zu Hause gehörte und wer es vormahls weist die Manualiter-Fuge Reinckens in derselben Tonart in ihrer Treppenfiguration künstlich zu Papier gebracht hatte“.68 Verwandtschaft zu BWV 542 auf,71 so wie auch ein weiteres Thema aus Hortus Musicus a. (Beispiel e). Vielleicht gehört auch BWV 578 in diesen Hamburger Kontext.72 Das „Nachfolgewerk“ BWV 542/2 korrigiert dabei einige Inkonsequenzen des früheren Werkes: die Vierstimmigkeit wird strenger gehandhabt und das Thema wird nicht – wie in BWV 578 – für das Pedalspiel vereinfacht. Die breit gestreute Überlieferung dokumentiert verschiedene Entwicklungsphasen der „Ik ben gegroet van“ (1700), 1. Hälfte Fuge, die höchstwahrscheinlich auf zwei (verlorengegangene) Autographe zurück - 73 b. zuführen sind; das erste Autograph wurde offenbar mehrfach revidiert. Keine der Abschriften basiert aber nachweislich direkt auf einem Autograph. Wichtigster Zeuge der zweiten autographen Fassung ist die Abschrift von Johann Tobias Krebs in P 803. Friedrich Wilhelm Zachow, Capriccio in d Sie wird traditionell mit Bachs letzten Weimarer Jahren in Verbindung gebracht,74 c. doch hat Krebs, der in Weimar auch Bachs Unterricht genoss, noch bis nach Bachs Tod Werke von ihm kopiert, wie die offensichtlich erst posthum angefertigte Kopie von BWV 537 belegt (vgl. oben, S. 11). Im Gegensatz zu dem gemeinsam mit Johann , Thema aus Sonata La Frangipana Gottfried Walther angelegten Konvolut P 801 und der Sammelhandschrift P 802 ent- d. hält das Konvolut P 803 einige nach-Weimarer Bachwerke von der Hand von Tobias Krebs (vor allem BWV 807, 811, 903 und 537).75 So beantwortet sich die Frage nach der angeblichen „Weimarer“ Quelle und Überlieferung der späteren Version. Diese Johann Mattheson 1731: „Fugen-Thema“, „dabey folgenden Gegensatz zugleich ein- Fassung wird weitgehend auch durch die Abschrift Johann Friedrich Agricolas (1720– zuführen“ 1774) bestätigt, die aus dessen Lehrzeit bei Bach 1738–41 stammt; jedoch weist diese e. Kopie Varianten auf (z. B. T. 68–71) die möglicherweise nicht authentisch sind.76 Obwohl die Abweichungen nicht so tiefgreifend sind wie in anderen Fugen und nur Einzelheiten in den Stimmführungen betreffen, hält es der Herausgeber wegen des Johann Adam Reincken, Hortus Musicus, Sonata V Fehlens einer von Bach autorisierten Fassung einerseits und der Tatsache, dass es sich

Matthesons Themenfassung, dessen Kontrasubjekt und sein Kommentar stehen zweifellos in Beziehung zu Bachs Fuge und deuten auf den Hamburger Besuch von 69 Piete r Dirksen, Zur Frage des Autors der A-Dur-Toccata BW V Anh. 178, Bach-Jahrbuch 1998, S. 121–135 (hier S. 133). 1720. Der niederländische Hintergrund des Themas wird mit dem aus Deventer 70 Pe te r Wollny, Traditionen des phantastischen Stils in Johann Sebastian Bachs Toccaten BW V 910–916, in: stammenden Hamburger Katharinen-Organisten Johann Adam Reincken (1643–1722) Sandberger 2002 (wie Anm. 52), S. 252f. in Verbindung gebracht. Möglicherweise fungierte aber die Melodie schon länger 71 Williams 1980 (wie Anm. 9), S. 124. 72 Vgl. dazu umfassend Ulf Grapenthin, Bach und sein „Hamburgischer Lehrmeister“ Johann Adam als Improvisationsthema bei Hamburger Organistenproben. Mattheson fügt noch Reincken, in: Bachs Musik für Ta steninstrumente. Bericht über das 4. Dortmunder Bach-Symposion 2002, hinzu, dass die Kandidaten die improvisierte Fuge „zum sichtbaren Zeugnis ihrer hrsg. von Martin Geck, Dortmund 2003, S. 9–50. 73 Vgl. Kilian 1978/79 (wie Anm. 20), S. 458–468 und 725; Bates 2008 (wie Anm. 20), S. 5 und 13–33. 66 Max Seiffert in Friedrich Wilhelm Zachow: Gesammelte Werke (Denkmäler Deutscher Tonkunst, 1. 74 Hermann Zietz, Quellenkritische Untersuchungen an den Bach-Handschriften P 801, P 802 und P 803, Folge, Bd. 21/22, Leipzig 1905), S. X und 335f. Zachows Capriccio könnte darüber hinaus auch das Hamburg 1969, S. 98 und 100; Kilian 1978/79 (wie Anm. 20), S. 458; Breig 1999 (wie Anm. 30), Modell für die Cembalofantasie BWV 906 abgegeben haben. S. 614; Siegbert Rampe (Hg.), Bach-Handbuch IV: Klavier- und Orgelwerke, Laaber 2007, S. 774. 67 Giovanni Legrenzi, Sonate a due e tre, Libro I, Venedig 1655. 75 Vgl. auch Stephen Daw, Copies of J.S. Bach by Walther and Krebs: a Study of the Mss P 801, P 802, P 803, 68 Johann Mattheson, Grosse Generalbass-Schule. Oder: Der exemplarischen Organisten-Probe, 2. Auflage The Organ Yearbook 7 (1976), S. 31–58. Hamburg 1731, S. 34f. 76 Vgl. Kilian 1978/79 (wie Anm. 20), S. 459 und 463f. 17

um eines der zentralen Werke der Orgelliteratur handelt andererseits, für notwendig, Fantasie), AmB 531, von einem anonymen Kopisten und die beiden Sätze stehen alle bis etwa 1800 überlieferten Varianten dem Spieler zur Verfügung zu stellen. Statt nicht hintereinander, sondern wurden ursprünglich durch drei (jetzt entfernten) aufwändiger Beschreibungen im Kritischen Bericht werden diese in synoptischer Folien voneinander getrennt.82 Eine Berliner Überlieferung scheint vorzuliegen, Ansicht auf der CD-ROM dargestellt. Dies geschieht auf der Basis der mutmaßlich denn ein weiteres Werk in dieser kleinen Sammelhandschrift (BWV 907) zeigt durch ältesten greifbaren Fassung nach Johann Peter Kellner (P 288/5 in der Fassung ante die Autorangabe die korrigierende Hand des Berliner Bachschülers Johann Philipp correcturam), die dadurch zugleich zur Gegenüberstellung der im Notenband edier- Kirnbergers (1721–1783). Ein ähnliches Problem stellt sich in der um 1800 von ten „Spätfassung“ nach P 803 dienen kann. Die sicherlich nicht von Bach stammen- Ambrosius Kühnel (1770–1813) geschriebenen Quelle (P 1071), wo die Fantasia de Transposition dieser Fuge nach f-moll,77 die aber in verschiedenen zuverlässigen merkwürdigerweise nach der Fuge erscheint. Eine AmB 531 nah verwandte Quelle, Quellen aus der zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts auftaucht, wird ebenfalls auf der die ebenfalls anonyme Sammelhandschrift P 595/1, ist wohl das älteste Zeugnis des CD-ROM angeboten. Alle Quellen vor 1800 (also auch diejenigen, die auf das zusammenhängenden Satzpaars mitsamt dem korrespondierenden Titel „Fantasia con zweifellos in Leipzig entstandene zweite Autograph zurückgehen) notieren das Werk Fuga con pedale Gj“. Des Weiteren gibt es jene verlorene Quelle, die zu Griepenkerls „dorisch“ mit nur einem j, was auf eine Entstehung vor etwa 1717 hindeutet.78 Werner Erstausgabe von BWV 542 als Werkpaar führte: „Zu dieser Verbindung hat uns Breig hat gezeigt, dass sich die singuläre, äußerst differenzierte Struktur der Fuge eine alte Abschrift der Fantasia aus meiner Sammlung bewogen, nach deren Schluss BWV 542/2 nicht den zwei Hauptformen der Bach’schen Orgelfugen zuordnen lässt, sich das Thema der Fuge, als zu ihr gehörig, angedeutet findet“. Die Beziehnung sondern offenbar (auch chronologisch) zwischen der vierteiligen (Weimar und beider Stücke zum Hamburger Besuch des Jahres 1720 bilden ein weiteres früher) und dreiteiligen Form (Leipzig) anzusetzen ist; in ihr sind überdies auf wichtiges Argument zugunsten ihrer Zusammengehörigkeit. Jedenfalls steht es einzigartige Weise „Volkstümlichkeit, stupende Pedalvirtuosität und komplizierte dem heutigen Spieler frei, BWV 542 sowohl als Ganzes als auch die beide Sätzen Fugenarchitektur zusammengeführt“.79 getrennt zu musizieren. Eine zentrale Frage bleibt nach wie vor die Zusammengehörigkeit von Fantasie und Da es in der Literatur unterschiedliche Darstellungen betreffend den Schlussakkord Fuge. Das stärkste Argument dagegen ist die Tatsache, dass alle Quellen der Fuge aus sowohl von Fantasia als auch der Fuga gibt, sei hier eine Quellenübersicht gegeben:83 Bachs direktem Umfeld sowie lange danach keine Hinweise auf die Fantasie aufweisen Dur Moll und das Werkpaar auch in Forkels Verzeichnis der „Grossen Praeludien und Fugen für Fantasia P 595, AmB 531, III.8.20, P 288/9 Orgel“ fehlt.80 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wurde die Fuge als Einzelstück Rara II 134, P 1071 kopiert, und auch so in der Erstausgabe von BWV 542 bei Breitkopf & Härtel von Adolf Bernard Marx um 1833 ediert. Dort erscheinen die beiden Stücke getrennt Fuga P 290, P 598, P 288/9, P 287, P 288/5, P 320, Ms. 4/2, und in unterschiedlichen Bänden. Außerdem gibt es Unterschiede in der Notation P 803, P 1100, AmB 531, ND VI 3327e, Peters IIb („dorische“ Notation für die Fuge, „moderne“ Notation für die Fantasia) und beim Hahn 1, P 595, P 1071, Tastenumfang (das d3 der Fantasia wurde in der Fuge offenbar vermieden: der Rara II 134, Le 21081 Comes-Einsatz auf d2 in T. 44 wird nach einem halben Takt zur Vermeidung von d3 Daraus ist ersichtlich, dass die Fantasie in allen maßgeblichen Quellen auf Dur endet. nach unten oktaviert). Die beiden Stücke wurden zweifellos nicht zur gleichen Zeit Nur eine einzelne, ziemlich späte Quelle gibt Moll an, was wohl als ein Versehen konzipiert. gedeutet werden muss. Grundlegend anders liegen aber die Verhältnisse bei der Fuge. Aber auch für die Zusammengehörigkeit gibt es schwerwiegende Argumente. Obwohl auch hier der Dur-Schluss in den Quellen dominiert, gibt es eine wichtige Obwohl Griepenkerl 1845 meinte: „Beide sind hier zum ersten Male miteinander in Quellengruppe, die eine Moll-Endung überliefert. Darunter befinden sich verschiede- Verbindung gebracht, da sie sonst nur einzeln vorkommen“,81 begegnet uns das ne für die früheren Fassungen wichtige Quellen, einschließlich P 288/5 (Kellner), wie Werkpaar schon in einigen Quellen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. auch die vom zweiten Autograph abhängige f-moll-Tradition (hier repräsentiert von Allerdings stammt die wohl älteste dieser Quellen (zugleich auch die älteste für die P 287 und P 320). Agricola (P 598) und Krebs (P 803) lesen jedoch Dur. Dass aber

82 In diesem Zusammenhang sei an die These von Hans Klotz erinnert (Bachs Orgeln und seine 77 Zur Problematik und Authentizitätsfrage der f-moll-Fassung, vgl. Kilian 1978/79 (wie Anm. 20), Orgelmusik, Die Musikforschung 3, 1950, S. 202), das einzeln stehende Trio in d-moll BWV 583 sei S. 459–461. aufgrund der thematischen Verwandschaft mit der g-moll-Fuge als Mittelsatz zu BWV 542 be- 78 Stauffer 1980 (wie Anm. 24), S. 27. absichtigt. Obwohl schon längst widerlegt (vgl. Dietrich Kilian, Dreisätzige Fassungen Bachscher 79 Breig 1999 (wie Anm. 30), S. 675f. Orgelwerke, in: Bach-Interpretationen, hrsg. von Martin Geck, Göttingen 1969, S. 14), besteht die 80 Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, Möglichkeit, dass ein Mittelsatz in AmB 531 vorhanden war. (Die aus der gleichen Sammlung her- S. 60 und Fig. 16. rührende Abschrift von BWV 583, AmB 501,4, entspricht jedenfalls nicht den entfernten Seiten.) 81 Johann Sebastian Bach’s Compositionen für die Orgel, Band II, hrsg. von Friedrich Conrad Griepenkerl 83 Vgl. zu diesem Thema auch Hans Musch, Dur- oder Mollterz? Zum Schlussakkord der Fantasia g-Moll und Ferdinand Roitzsch, Leipzig: C. F. Peters, 1844, S. II. BWV 542, Ars Organi 30 (1982), S. 160–162. 18

nicht nur für die Fantasie, sondern auch für die Fuge ein Schluss in Dur wohl authen- in ihrem Charakter einmalige, dynamische Orgelfuge, die neue Klangmöglichkeiten tisch ist, wird von der Tatsache unterstrichen, dass in den zwei Schlusstakten beider der Orgel erforscht. Werke offenbar jeweils die BACH-Signatur erscheint (wobei das „H“ natürlich Dur Wahrscheinlich Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Fuge durch ein kurzes bewirkt) – in der Fantasie verborgen in der drittobersten Stimme (b1-a1, c2/h1), in der Manualiter-Praeludium (BWV 539/1) ergänzt. Diese Gestalt kennen wir nur aus Fuge im Schlusstakt und dessen Auftakt (Alt), wobei a1 und c2 zusammenfallen. Quellen des 19. Jahrhunderts. Merkwürdigerweise aber wurde dieses Werkpaar in Forkels thematisches Verzeichnis großer zweiteiliger Orgelwerke aufgenommen, Die Fuge aus der Sonate in g-moll für Violine solo BWV 1001 ist in zwei zeitgenössi- obwohl einige andere Werke mit obligatem Pedal wie BWV 532, 536, 550 und schen Bearbeitungen erhalten, für Laute (BWV 1000) und für Orgel (BWV 539/2). Die BWV 542 darin fehlen. Es scheint aber ausgeschlossen, dass dieses Werkpaar auf ausschließlich posthume Quellenlage der Fuga in d BWV 539/2 stellt sich aufgrund Bach selbst zurückgeht, denn die Kombination Manualiter–Pedaliter wäre bei Bach der Identifizierung des Schreibers der beiden wichtigsten Quellen (AmB 606 und singulär, und auch die Proportionen wären sehr ungewöhnlich (die Fuge ist fast P 213) wesentlich besser dar. Der Kopist, Carl August Hartung (1723–1800) – 1752 bis fünfmal so lang wie das Praeludium) für Bach. Aufgrund der Quellenlage ist die Fuge 1760 Organist in Köthen, danach bis zu seinem Tod in Braunschweig – war offenbar deshalb als Einzelwerk ediert, während das Praeludium im Anhang erscheint. ein eifriger Sammler von Bachs Musik und stand in Köthen in engem Kontakt zum Bach-Schüler Bernhard Christian Kayser.84 Aber auch ohne diese neue Erkenntnis erweisen sich die mehrmals geäußerten Echtheitszweifel85 angesichts der hohen CD-ROM Qualität dieser Bearbeitung der geigerischen Vorlage als wenig stichhaltig. Die Sie bietet zum einen Fassungen von drei Werken des Hauptteils: die Variantensynopse Identität von Komponist und Bearbeiter des mit Hinblick auf die höchste Note der der Fuga in g BWV 542/2, deren (bisher nur schwer erreichbare) f-moll-Fassung Violinfassung (f 3) in die Unterquarte transponierten Satzes erschließt sich sogleich am nach P 287 sowie die ,Erselius‘-Fuge in B (BWV 955) in der verzierten Fassung Anfang: Für einen thematischen Pedaleinsatz wurde die Exposition um einen Takt nach P 425. Zum anderen finden sich vier Werke – BWV 561, 576, 580 und erweitert. Dieser Eingriff in die Originalsubstanz und dessen makellose Ausführung BWV Anh. 90 –, die zwar in Quellen aus dem 18. Jahrhundert mit Zuschreibung ist wohl niemand anderem als Bach selbst zuzutrauen. Die Bearbeitung weist auch an J. S. Bach vorhanden sind, bei denen aber erhebliche Echtheitszweifel bestehen. sonst in zahllosen Einzelheiten und harmonischen Anreicherungen durchgehend Die einzelnen Werkkommentare dazu finden sich ebenfalls auf der CD-ROM. hohen Einfallsreichtum auf,86 wobei keinesfalls eine strenge Weiterführung der Fünfstimmigkeit der Exposition angestrebt, sondern vielmehr der freipolyphone Für wertvolle Hinweise und hilfreiche Auskünfte sei den Herren Jean Claude Zehnder, Duktus des Originals noch weiter gesteigert wird. Dabei behält Bach die kurz Werner Breig, Russel Stinson, Rodolfo Zitellini und Peter Wollny herzlich gedankt. angerissenen Begleitstimmen der Violinvorlage weitgehend bei. Das Ergebnis ist eine Culemborg, Frühjahr 2016 Pieter Dirksen

84 Vgl. Andrew Talle, Die „kleine Wirthschafft Rechnung“ von Carl August Hartung, Bach-Jahrbuch 2011, S. 51–80; Peter Wollny, Carl August Hartung als Kopist und Sammler Bachscher Werke, Bach-Jahrbuch 2011, S. 81–101. 85 Ulrich Siegele, Kompositionsweise und Bearbeitungstechnik in der Instrumentalmusik Johann Sebastian Bachs, Neuhausen-Stuttgart 1975, S. 86f.; Dietrich Kilian, Präludium und Fuge d-moll, BWV 539. Ein Arrangement aus dem 19. Jahrhundert?, Die Musikforschung 14 (1961), S. 323–328. 86 Vgl. dazu vor allem Williams 1980 (wie Anm. 9), S. 99–103.