Titelei Neu OB 5363 Orgel Quer320x250.Qxp
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7 Einleitung Der vorliegende Band vereinigt alle Orgelkompositionen Bachs, die mit dem Titel Pieterszoon Sweelincks.3 Das Formschema ist in der Regel das einer klassischen, drei- „Fantasia“ überliefert sind,1 die (wenigen) zu einzelnen Fantasien gehörigen Fugen teiligen Rede, die aus Exordium, Medium und Finis besteht, und dies unter genau sowie alle einzeln überlieferte Fugen. Bei näherer Betrachtung gibt es kein einziges durchdachter Proportionierung. autorisiertes und vollständiges Fantasia-et-Fuga-Paar für Orgel. In der Überlieferung Anders als im Kreis der Sweelinck-Schule, wo die „Fantasia“ zum ,stylus phantasticus‘ von BWV 542 erscheinen Fantasia und Fuga meist getrennt, während bei den beiden der norddeutschen Organisten mutierte, reduzierte sich ihre Bedeutung in den meis- c-moll-Stücken BWV 537 und 562 die Fugen (im Falle von BWV 537 höchstwahr- ten anderen Teilen Europas in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf eine Art scheinlich) unvollendet geblieben sind. Besonders durch diesen Umstand und die Hilfsbegriff für meist kleinere Kompositionen, die nicht etwa als „Fuge“, „Canzone“ Tatsache, dass die Mehrheit der Fantasien als Einzelwerke überliefert sind, bietet es oder ähnliches bezeichnet werden konnten. Das gilt auch für die mitteldeutsche sich an, die Fantasien mit den Einzelfugen in einem Band zu vereinen. Das ermög- Claviermusik am Ende des 17. Jahrhundert, wo „Fantasia“ dann auch gelegentlich als licht auch die beiden Teile des g-moll-Werkes BWV 542 – in der zweiteiligen Gestalt Gattungsbezeichnung auftaucht. Am bedeutendsten sind die sechs erhaltenen eine der berühmtesten Kompositionen Bachs überhaupt – im Zusammenhang zu Beispiele Johann Pachelbels.4 Hier erscheinen als wichtigste Parameter die freie veröffentlichen, obwohl der Quellenbefund eventuell dagegen spricht. Imitation von ein oder mehreren Kurzthemen oder Motiven sowie die Anwendung von ,Ostinato‘ (Fantasien in C und D), der ,figura corta‘ (Rhythmus Achtel – zwei Zum Begriff der Fantasie bei Bach Sechzehntel; Fantasien in d und g) und von ,durezze‘ („harte“ harmonische Um den Begriff der Fantasia bei Bach richtig zu erfassen, ist es notwendig, deren Reibungen; Fantasien in Es und g). Vorgeschichte zu skizzieren. Der Ursprung der Gattung liegt um 1500 und ist eine Es ist dieser freizügige und eher schlichte Fantasientypus, an den der junge Bach Folge der geschichtlich bedeutsamen Berührungsebene zwischen dem Humanismus anknüpft.5 Seine Auseinandersetzung mit der Fantasia bildet kein Kontinuum, son- und der Musik. „Fantasia“ war eine Idee aus dem griechischen Gedankengut, die von dern spielt sich in zwei klar voneinander getrennten Phasen ab: Eine Frühphase (BWV der humanistischen Ästhetik mit den zeitgenössischen Künsten verbunden wurde. 563, 570, 571, 917, 922 und 1121) steht im Zeichen des Suchens nach einer eigenen Der abstrakte Begriff steht für das „Höchste“, das ein Künstler als Individuum errei- Sprache, ausgehend vom Pachelbelschen Vorbild. Nachdem der norddeutsche chen konnte.2 Er wurde dankbar für die neue Instrumentalmusik des 16. Jahrhunderts Einfluss – eine Tradition, die die Fantasia als Gattung bewusst ausklammert – wohl übernommen, die, ohne die traditionelle Stütze des Textes, nach einem schlüssigen unter dem Eindruck der Reise nach Lübeck im Winter 1705/06 – stark zunahm, ver- Konzept und einer passenden Terminologie suchte. Der Aspekt des „Höchsten“ wurde schwindet der Begriff für einige Zeit aus Bachs Werk. Entsprechend sind aus der wie selbstverständlich auf die kunstvollste Art der damals komponierten Musik, näm- Mühlhauser und Weimarer Zeit (1707–1717) keine Fantasien als selbstständige Werke lich die des imitativen Kontrapunkts der franko-flämischen Schule, angewandt. Der bekannt. Bach benützt die Bezeichnung in diesem Jahrzehnt lediglich als Zusatz bei besondere Aspekt der „Fantasia“ erforderte vom Komponisten ein hohes Maß an einigen besonders weitausladenden Choralbearbeitungen (BWV 651a, 654a, 658a, Originalität. Ohne die formelle oder inhaltliche Stütze eines Textes oder etwa der 659a und 713), wobei die norddeutsche Komponente des „fantastischen Stils“ bzw. der Form eines Tanzmusters musste er quasi einen eigenen Fantasia-Typus kreieren. Es ist Choralfantasie unüberhörbar mitschwingt.6 Die Fantasia selbst wurde offenbar als deshalb nicht überraschend, dass diese Individualisierungstendenz vorwiegend in der eine Gattung der Vergangenheit betrachtet – genauso wie die Toccata und die Gattung der Claviermusik stattfand: nicht nur, weil ein einzelner Spieler für die Choralpartita, von denen sich der junge Bach nur wenig später definitiv verabschie- Darstellung der gesamte polyphonen Struktur zuständig war, sondern besonders auch, weil Komponist und Interpret hier in einer Person vereint waren. Den Höhepunkt die- ser „humanistisch“ geprägten Clavierfantasie bilden die entsprechenden Werke Jan 3 Pieter Dirksen, The Keyboard Music of Jan P. Sweelinck – Its Style, Significance and Influence, Muziekhistorische Monografieën 15, Utrecht 1997, S. 327–492. 4 Johann Pachelbel, Sämtliche Werke für Tasteninstrumente, Bd. 6: Fantasien, Ciaconen, Suiten, Variationen, hrsg. von Michael Belotti (in Vorb.). 5 In diesem Zusammenhang ist auch die Definition des aus Jena stammenden Bach-Zeitgenossen 1 Mit zwei Ausnahmen: [a] Das Praeludium d-moll BWV 549a ist in der Hauptquelle (Möllersche Friedrich Erhard Niedt (1674–1717) wichtig: „Fantaisie, ist Frantzösisch / und wird auf Italiänisch Handschrift) als „Praeludium ô Fantasia pedaliter“ bezeichnet. Da sich die c-moll-Fassung BWV 549 Fantasia genannt. Es heißt auf Teutsch ein eingebildetes Ding / eine Phantasey / und wird in musi- aber immer auf den Titel „Praeludium“ beschränkt und in der Möllerschen Handschrift „Fantasia“ nur calischen Sachen solchen Stücken beygeleget / die ein jeder nach seinem Sinn / wie es ihm einkommt als Alternative zu „Praeludium“ verwendet wird, wurde das Werk Band 1 der Neuausgabe (Praeludien / oder gefällig ist / ohne gewisse Schrancken und Maasse verfertiget / oder extemporisiret. Die und Fugen I) zugeordnet. [b] Das dreiteilige singuläre G-dur-Stück BWV 572 war lange Zeit in erster Organisten halten viel davon: Denn / wer ein Organist will heissen / muss sich der Phantasie befleis- Linie als „Fantasia“ bekannt (vor allem durch die Peters-Ausgabe), jedoch überliefern die meisten sen …“ (Friedrich Erhard Niedtens Musicalischer Handleitung Anderer Theil, Hamburg 1721, Reprint Quellen die Bezeichnung „Pièce d’Orgue“; das Stück erscheint deshalb in Band 4 (Toccaten und Fugen, Buren 1976, S. 97). Einzelwerke). 6 Vgl. Werner Breig, Der norddeutsche Orgelchoral und Johann Sebastian Bach – Gattung, Typus, Werk, in: 2 Vgl. dazu vor allem Arnfried Edler, Fantasia and Choralfantasie: on the Problematic Nature of a Genre of Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens, hrsg. von Heinrich W. Seventeenth-Century Organ Music, The Organ Yearbook 19 (1988), S. 53–66. Schwab und Friedhelm Krummacher, Kassel 1982, S. 79–94. 8 dete. Im Gegensatz zu diesen beiden Gattungen taucht aber die Fantasia im Spätwerk 2960 als zentrale Quelle für Bachs Frühwerk beseitigt werden.11 Dafür spricht auch, Bachs wieder auf. In dieser zweiten Phase, die wohl erst in der Köthener Zeit einsetz- dass die Quelle jetzt wesentlich früher datiert wird (um 1750 statt Ende des 18. te, wird der Terminus dann sehr gezielt gebraucht, aber offenbar nicht ohne eine Jahrhunderts), und neben BWV 571 nur gesicherte und vor etwa 1712 zu datierende spezifische Problematik. Einerseits wurde er für singuläre, rhetorisch ausgeformte freie Tastenwerke Bachs, darunter alle sieben Cembalotoccaten BWV 910–916 sowie chromatische Kompositionen benützt (Cembalofantasie BWV 903 und Orgelfantasie die Orgelwerke BWV 532/2, 550, 564 und 574b, enthält. Die Quelle basiert damit BWV 542), die unverkennbar Bachs Kenntnis des norddeutschen ,stylus phantasticus‘ wohl insgesamt auf einer geschlossenen frühen Thüringer Sammelhandschrift. Die zeigen, andererseits wurde die Konzeptschrift zur Orgelfantasie in C BWV 573 vor- G-dur-Fantasie zeigt sich zudem als eine überaus logische kompositorische Weiter- zeitig abgebrochen, was bezeichnenderweise auch bei den Fugen zur Cembalofantasie entwicklung von BWV 570 und 563: sie baut die Zweiteiligkeit von BWV 563 weiter BWV 906 und zur Orgelfantasie BWV 562 (und wahrscheinlich auch für die Fuge zur zur dreiteiligen Form aus. Sie vereint dabei unüberhörbar die drei oben festgestellten Orgelfantasie BWV 537) der Fall war. wichtigsten Parameter der Pachelbel’schen Fantasia in einer geschlossenen Komposition: freie Imitation mit Kurzthema (1. Satz), das Gleiche (mit Umkehrung Die frühen Fantasien des Themas vom ersten Satz) in Kombination mit ,durezze‘ (2. Satz), und frei gehand- Die Fantasia in C BWV 570 ist wohl das älteste erhaltene freie Orgelwerk Bachs, wenn habtem ,ostinato‘ (3. Satz). Wie BWV 563 ist BWV 571 der Zeit um 1704 zuzuord- nicht überhaupt eine seiner ersten Kompositionen, und könnte noch in Ohrdruf ent- nen,12 was durch die große Ähnlichkeit der Schlussgestaltung (T. 118–127) mit dem standen sein.7 Es überrascht deshalb nicht, dass es sich direkt dem Vorbild Pachelbels Schluss der Choralbearbeitung Wie schön leuchtet der Morgenstern BWV 739 (T. 65–75), anschließt. Dessen Fantasia in d zeigt eine ähnliche Struktur mit vollstimmiger, die das in einem Autograph aus derselben Zeit erhalten ist, unterstrichen wird. Tonart definierender Einleitung, gefolgt von einem auf der ,figura corta‘ basierenden, frei-imitativen Hauptteil mit ,durezze‘-artigen