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Plenarprotokoll 17/15

Deutscher

Stenografischer Bericht

15. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Reiner Deutschmann (FDP) ...... 1291 A Erste Beratung des von der Bundesregierung (BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über DIE GRÜNEN) ...... 1292 B die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2010 (Haushaltsge- setz 2010) Einzelplan 05 (Drucksache 17/200) ...... 1249 A Auswärtiges Amt ...... 1293 B Dr. , Bundesminister Einzelplan 04 AA ...... 1293 B Bundeskanzleramt ...... 1249 B Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 1296 D Anton Schaaf (SPD) ...... 1249 B Dr. (CDU/CSU) . . . . 1299 B Dr. , Bundeskanzlerin ...... 1250 D (DIE LINKE) ...... 1301 C Dr. (DIE LINKE) ...... 1259 D Dr. (BÜNDNIS 90/ Birgit Homburger (FDP) ...... 1264 B DIE GRÜNEN) ...... 1302 C (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 1303 D DIE GRÜNEN) ...... 1267 D Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 1305 D (Peine) (SPD) ...... 1268 C (CDU/CSU) ...... 1307 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1270 B (DIE LINKE) ...... 1309000 AC (CDU/CSU) ...... 1273 D (CDU/CSU) ...... 1311 A

Stefan Liebich (DIE LINKE) ...... 1277 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1312 A Volker Kauder (CDU/CSU) ...... 1277 C (BÜNDNIS 90/ Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) ...... 1278 A DIE GRÜNEN) ...... 1313 B Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) 1284 B (DIE LINKE) ...... 1314 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) ...... 1287 B Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) 1287 C Einzelplan 14 (SPD) ...... 1287 D Bundesministerium der Verteidigung . . . . 1315 A , Staatsminister bei der Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundeskanzlerin ...... 1289 A Bundesminister BMVg ...... 1315 A Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 1290 A Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) ...... 1317 D II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. , Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) ...... 1319 A Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 1338 A Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 1320 C Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1339 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 1322 C Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) ...... 1341 B Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) ...... 1323 C Dr. (SPD) ...... 1342 C

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) () (SPD) ...... 1343 D (CDU/CSU) ...... 1324 D Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) ...... 1345 B (Hildesheim) (SPD) . . . 1326 D (FDP) ...... 1328 A Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) ...... 1346 A Ullrich Meßmer (SPD) ...... 1329 C Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 1346 B Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 1330 D (DIE LINKE) ...... 1348 B (CDU/CSU) ...... 1349 C Einzelplan 23 Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 1351 B Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ...... 1332 A Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 1352 A , Bundesminister BMZ ...... 1332 A Nächste Sitzung ...... 1352 D Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 1333 C Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) 1334 B Anlage Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 1335 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1351 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1249

(A) (C) Redetext

15. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : vereinbart. Sie sind immer noch dabei, Koalitionsver- Die Sitzung ist eröffnet. handlungen zu führen. Ich befürchte, bei der Zerstritten- heit dieser Koalition wird es noch 100, 200 oder Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir 300 Tage dauern, bis Sie endlich einen Koalitionsvertrag setzen unsere Haushaltsberatungen – Tagesordnungs- unterschrieben haben. punkt 2 – fort: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die GRÜNEN) Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das

Haushaltsjahr 2010 Was sind die strittigen Punkte? Das Einzige, was im (Haushaltsgesetz 2010) Moment wirklich absehbar ist, ist, dass Sie an Steuer- – Drucksache 17/200 – senkungen festhalten wollen. Da wäre es ja nun wenigs- (B) tens redlich oder ehrlich, den Menschen zu sagen, wie (D) Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Sie diese Steuersenkungen finanzieren wollen. Das, was Sie jetzt an Geschenken an die Reichen verteilt haben, Für die heutigen Beratungen haben wir gestern eine haben Sie durch Schulden finanziert, in der falschen An- Redezeit von achteinhalb Stunden beschlossen. nahme, sie würden sich refinanzieren. Jeder Ökonom sagt Ihnen, dass das nicht funktioniert. Aber Sie wollen Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes- diese verfehlte Politik der Entlastung der Reichen zulas- kanzleramtes, Einzelplan 04. ten der Armen weitermachen, weil Sie sich davon Wirt- Ich darf als erstem Redner dem Kollegen Anton schaftsimpulse erwarten. Sie haben jedoch überhaupt Schaaf für die SPD das Wort erteilen. keine Ahnung davon, wie Sie das Ganze gegenfinanzie- ren wollen. Das lässt der Haushalt auch nicht zu, weder (Beifall bei der SPD) jetzt noch in den nächsten Jahren. Sie halten aber trotz- dem daran fest. Anton Schaaf (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Wir sind in der schwersten Krise unseres Landes in Kolleginnen und Kollegen! Gut 100 Tage ist die Bundes- der Nachkriegszeit. Eigentlich erwartet man, dass da Im- tagswahl her, knapp 100 Tage, meine Damen und Herren pulse für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft gesetzt von der Regierungskoalition, sind Sie im Amt. Für die- werden. Der Wirtschaftsminister aber setzt keine Im- ses Land, um das ganz vorneweg zu sagen, sind die pulse, sondern kann nur noch zwei Worte. Auf jede 100 Tage, die Sie im Amt agieren bzw. nicht agieren, Frage, die man ihm stellt, lautet die immer gleiche Ant- 100 verlorene Tage. wort: Steuern senken! Arbeitslosigkeit? – Steuern sen- ken! Wirtschaftswachstum? – Steuern senken! Ich be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fürchte, dass er auch, wenn man ihn nach Afghanistan der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE fragt, sagt: Steuern senken. Er kann nichts anderes, als GRÜNEN) sich selbst auf Steuersenkungen zu begrenzen. Meine Damen und Herren, Sie haben gesagt, Sie hät- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Koalitionsverhandlungen geführt. Na ja, am Ende des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von Koalitionsverhandlungen steht ja ein Ergebnis, wird eine Perspektive aufgezeigt, die den Menschen Hoff- Das ist keine Wirtschaftspolitik; vielmehr macht es deut- nung und Zuversicht gibt. Ich sage Ihnen etwas: Sie ha- lich, dass in dieser Regierungskoalition gnadenlose Per- ben nur einen Fahrplan für Koalitionsverhandlungen spektivlosigkeit herrscht. 1250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Anton Schaaf (A) Der Wahlkampf der Union war völlig inhaltsleer. Er GRÜNEN – [SPD]: Dass sie (C) beschränkte sich auf eine Person: auf die Bundeskanzle- billig sind, wussten wir schon länger!) rin. Sie haben keine Idee entwickelt, kein Thema besetzt. Sie sind auch ziemlich skrupellos, was die entspre- So gingen Sie in vermeintliche Koalitionsverhandlungen chende Benennung angeht. und wurden von der FDP marktliberal über den Tisch gezogen. Genau das ist passiert, meine Damen und Her- Herr Koppelin, Sie waren jahrelang dafür zuständig, ren. In Ihrem sogenannten Koalitionsvertrag stehen nur hier Sparbücher vorzulegen. Dieses Sparbuch der FDP Forderungen der FDP, sonst steht dort nichts. habe ich in diesem Jahr vermisst. Das ist ja auch kein (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Wunder. Sie hätten es nur dann vorlegen können, wenn [SPD]: Da freuen sie Sie zumindest die Seiten herausgerissen hätten, auf de- sich!) nen es um das Entwicklungshilfeministerium und die Einsparung von Parlamentarischen Staatssekretären und – In der Tat, so ist es. Staatssekretären geht. Aber Sie wollten nicht mehr ein- sparen, weil Sie jetzt selbst an der Macht partizipieren Frau Bundeskanzlerin, an Ihrer Stelle würde ich noch können. Es ist auch kein Wunder, dass das Thomas- einmal sehr gründlich darüber nachdenken, was das zu Dehler-Haus, die FDP-Zentrale, kaum noch besetzt ist; bedeuten hat. Sie haben die Kraft verloren, selber Im- denn alle sind in der Regierung. Darum kommt der Ge- pulse zu setzen. Sie schaffen keine Perspektive für die neralsekretär, den Sie gesucht haben, jetzt aus NRW, Menschen in diesem Land, aber das sehr konsequent. nämlich der Kollege Lindner. Diese Konsequenz sieht so aus: Sie sagen den Menschen in diesem Lande vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl Durch Herrn Lindner wird noch einmal sehr deutlich nicht, wie Sie Ihre Steuerpolitik, Ihre Steuersenkungs- und offenbar, welches Staatsverständnis Sie haben. politik, finanzieren wollen. Erst danach werden die so- Wenn Herr Lindner vom Staat als einem „teuren zialen Ungerechtigkeiten, die sozialen Grausamkeiten Schwächling“ spricht – ausgerechnet Herr Lindner, der von Ihnen formuliert. Sie wollen Rüttgers über den jetzt 31 Jahre alt ist und schon mit 21 Jahren im Parla- Wahltermin im Mai retten. Das ist die Perspektive der ment war, also bereits seit zehn Jahren von den Steuer- Koalition. Das sind weitere 100 verlorene Tage in die- zahlern bezahlt wird, stellt den Staat infrage! –, dann ist sem Land, in denen wir eigentlich Antworten und Per- das schon bezeichnend für das, was dahintersteckt. spektiven brauchten. Aber diese Regierung liefert sie nicht, weil sie Rüttgers vor einer Wahlniederlage schüt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zen will. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen! der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wir haben ein grundsätzlich anderes Staatsverständ- Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Gegen nis, und das ist begründet. Ihre Klientel ist mitverant- wen soll denn der verlieren? Doch nicht gegen wortlich für die Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir die SPD!) jetzt zu bewältigen haben. Wir Sozialdemokraten sind froh, dass wir in den letzten Jahren einen starken, hand- Ich komme ja aus Nordrhein-Westfalen, und ich habe lungsfähigen Staat hatten, der das Schlimmste verhindert bereits die Blaupause dafür, was Schwarz-Gelb bedeutet: hat. Ohne einen starken Staat wäre dies nicht möglich Da wird links geblinkt; da wird der gnadenlose Sozial- gewesen. politiker gegeben, allerdings ohne jede Initiative im Bundesrat, ohne jede selbstgestaltete Initiative. Ganz im Übrigens gilt – das ist bei Ihnen noch nicht angekom- Gegenteil: Wenn es beispielsweise um Arbeitnehmer- men; mit dieser Feststellung werde ich schließen –: rechte geht, ist Rüttgers ein Paradebeispiel. Mit der (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Amtsübernahme von Schwarz-Gelb in Nordrhein-West- falen wurden erst einmal das Landespersonalvertre- Nur die Reichen, also Ihre Klientel, können sich einen tungsgesetz und die Mitbestimmung geschleift. Das ist schwachen Staat leisten. Die allermeisten Menschen in die Realität von Rüttgers und übrigens auch Ihre Reali- diesem Lande brauchen einen handlungsfähigen Staat. tät. Sie werden im Mai dieses Jahres an die Sozialetats Ich danke für die Aufmerksamkeit. herangehen, weil Sie überhaupt keine andere Wahl ha- ben, wenn Sie Ihre Versprechen tatsächlich umsetzen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen. Das ist die Realität dieser Regierung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Westerwelle, Sie haben sich ja gestern bei dem Thema Spenden sehr echauffiert. Es gab die eine oder Präsident Dr. Norbert Lammert: andere Forderung aus unseren Reihen, dass Sie die Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin, Frau Spende zurückgeben. Ich bin allerdings der festen Über- Dr. Angela Merkel. zeugung, dass Sie sich diese Spende aufgrund dessen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) was Sie an Steuersenkungen für Reiche vereinbart ha- ben, redlich verdient haben, meine Damen und Herren Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: von der FDP. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei alte Jahrzehnt endete mit einer internationalen Finanz- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und Wirtschaftskrise und in der Bundesrepublik Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1251

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) Deutschland mit einem Einbruch der Wirtschaft von Wir haben uns vorgenommen, diese Krise nicht nur (C) 5 Prozent – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte irgendwie durchzustehen, sondern wir wollen, dass unseres Landes. Das neue Jahrzehnt beginnt hier im Par- Deutschland stärker aus dieser Krise herauskommt, als lament in der Tat mit der Debatte über einen Bundes- es in sie hineingegangen ist. Das ist der Anspruch der haushalt mit der höchsten Neuverschuldung mit über christlich-liberalen Koalition. 85 Milliarden Euro – auch das natürlich ein Vorgang von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) großer Bedeutung. Ich sage Ihnen: Wer nicht sieht, dass das eine mit dem anderen direkt verknüpft ist, wer nicht Dazu müssen wir uns anschauen, von welchen Ent- sieht, dass eine Antwort auf minus 5 Prozent Wachstum, wicklungen weltweit die Dinge bestimmt sind. Ich die eine geringere Neuverschuldung mit sich bringen möchte drei Entwicklungen nennen: Es gibt einen welt- würde, eine falsche Antwort im Geiste der 30er-Jahre weiten Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, weit wäre und dass wir aus der Geschichte gelernt haben, der über unseren Kontinent hinaus. Es gibt die Sehnsucht braucht an dieser Debatte gar nicht weiter teilzunehmen. von immer mehr Menschen auf der ganzen Welt – ich sage, das ist eine berechtigte Sehnsucht –, eigene Wege (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zu gehen, Teilhabe zu erreichen, Wohlstand zu erwerben. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir befinden uns gleichzeitig in einem Informationszeit- NEN]: Zu wem reden Sie?) alter und haben völlig neue Kommunikationsmöglich- – Ich rede hier zu allen, Frau Künast, natürlich auch zu keiten, durch die Wettbewerb, Arbeitsteilung und Ideen- Ihnen. austausch massiv vorangetrieben werden. (Sigmar Gabriel [SPD]: Hört der Westerwelle Es gibt eine zweite Entwicklung: Wir machen die Er- auch zu? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE fahrung von Abhängigkeiten und Knappheiten von Res- GRÜNEN]: Das ist eine Botschaft aus der sourcen, von denen wir früher dachten, dass sie uns Blindenschule!) unendlich zur Verfügung stehen. Da geht es um Energie- träger, um Rohstoffe, um stabile Klimaverhältnisse. Ich sage Ihnen: Sosehr wir uns alle eine andere Situa- tion wünschen würden, so sehr sind wir dazu verpflich- (Zuruf von der SPD: Sind wir hier in der Volks- tet, der Realität ins Auge zu sehen. hochschule? – Heiterkeit bei der SPD) (Sigmar Gabriel [SPD]: Hört! Hört! – Weiterer Wir sehen, dass andere Ressourcen, die wir in früheren Zuruf von der SPD: Dann machen Sie das!) Zeiten für uns für reserviert hielten, zum Beispiel Infor- mation und Wissen, heute mit allen geteilt werden müs- Die Welt hat 2008/2009 am Abgrund gestanden. Wir ha- sen. Das bedeutet, dass kein Land mehr alleine seinen ben es geschafft – wenn ich „wir“ sage, dann meine ich (B) Wohlstand erhalten kann, dass kein Land mehr alleine (D) auch die, die damals in der Großen Koalition Mitverant- Sicherheit gewährleisten kann und dass wir in eine im- wortung getragen haben, und dann meine ich auch die mer stärkere Abhängigkeit voneinander geraten. FDP als damalige Opposition –, international und natio- nal in diesem Hause die richtigen Lehren daraus zu zie- Die dritte Entwicklung ist eine Suche nach Zusam- hen, das Richtige zu tun und den Absturz in den Ab- menhalt und Schutz. Es gibt die Hoffnung der Men- grund zu verhindern. Das war richtig, das war wichtig, schen, dass der eigene Lebensentwurf im schnellen Wan- und das war ein Beitrag zur internationalen Stabilität. del nicht umgeworfen wird, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Sigmar Gabriel [SPD]: Diese Hoffnung treten Sie mit Füßen!) Aber mit dem, was wir getan haben, ist die Krise noch nicht vorbei. So wie wir klug den Abschwung gedämpft dass Gemeinschaften zusammenbleiben, die Sehnsucht haben, so geht es jetzt darum, klug aus dem Tal wieder nach Heimat, Vertrautheit und Sicherheit. herauszukommen. Ich sage Ihnen: Das wird sicherlich Wenn wir die richtigen Antworten auf diese Krise fin- kontroverse Debatten hervorrufen. Aber es wird vor al- den wollen, wenn wir wirklich stärker aus dieser Krise len Dingen neues Denken erfordern. herauskommen wollen, dann müssen wir diese Entwick- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lungen nicht nur verstehen, sondern sie auch als Chance NEN]: Beides! – Thomas Oppermann [SPD]: für unser Land begreifen. Auf diesem Fundament ma- Neustart! – Sigmar Gabriel [SPD]: Die geistig- chen wir unsere Politik. politische Wende, haben Sie gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist nicht etwas – auch das will ich gleich ankündigen –, Dabei setzt die christlich-liberale Koalition auf Frei- worüber wir nur im Januar des Jahres 2010 debattieren, heit in Verantwortung. Unser Land ist durch Offenheit sondern dieser Wirtschaftseinbruch wird uns über weite und Freiheit in seiner 60-jährigen Geschichte erfolgreich Teile dieser Legislaturperiode beschäftigen. Wenn wir geworden. Unser Land ist immer dann erfolgreich gewe- es geschafft haben – so besagen es jedenfalls die Pro- sen, wenn es Vertrauen in den Einzelnen gesetzt hat, in gnosen –, im Jahr 2013 wieder das Vorkrisenniveau zu seine Fähigkeiten, seine Fertigkeiten und seinen Willen, erreichen, dann haben wir nach heutigem Stand gute Ar- etwas zur Gemeinschaft beizutragen. Unser Land wurde beit gemacht. Das ist die Dimension der Aufgabe, vor erfolgreich, weil es die Ordnung von Freiheit in Verant- der wir stehen. wortung in das Gesellschaftsmodell der sozialen Markt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wirtschaft umgesetzt hat. 1252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) (Sigmar Gabriel [SPD]: Warum machen Sie Maßnahme beseitigt. Deshalb muss man den Kommu- (C) das jetzt kaputt?) nen, wenn man ein wenig Redlichkeit hat, Das ist das Fundament des solidarischen Miteinanders in ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE unserer Gesellschaft. GRÜNEN]: Muss man denen erst mal alles Unsere Vorstellung von Freiheit und Verantwortung wegnehmen!) hat uns in Bündnisse mit gemeinsamen Wertefundamen- sagen, dass durch diese Maßnahme keine Einnahmeaus- ten geführt, wie die Europäische Union und die NATO. fälle stattfinden, sondern dass dadurch überhaupt die Sie machen unser Land in einer vernetzten Welt auch in Grundlage dafür gelegt wird, dass in den Kommunen Zukunft erfolgreich. wieder Gewerbesteuereinnahmen fließen können. Das Heute stehen wir vor der Aufgabe, in schwierigen ist die Wahrheit. Zeiten und in neuen Zusammenhängen genau diese Stär- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ken weiterzuentwickeln und dabei das zu bewahren, was Sigmar Gabriel [SPD]: Sie reden unter Ihren uns stark gemacht hat, aber da zu erneuern, wo Erneue- Möglichkeiten! Sie reden unter Ihrem Niveau! – rung notwendig ist. Das ist die Aufgabe. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das erklären Sie mal dem Kämmerer einer [SPD]: Hört! Hört!) Stadt! Das kurbelt die Konjunktur so richtig an!) Ich möchte die Arbeit der christlich-liberalen Koali- tion an Beispielen deutlich machen, da, wo wir erneuern Wir haben zweitens Korrekturen bei der Erbschaft- werden. steuerreform vorgenommen. Wir sind uns, glaube ich, einig, dass wir die kleinen und mittleren Unternehmen, ( [Erfurt] [SPD]: Fangt end- die Familienunternehmen, in unserem Lande als das lich mal an!) Rückgrat unserer Wirtschaft bezeichnen können. Die christlich-liberale Koalition wird die Wirtschafts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – kraft unseres Landes Sigmar Gabriel [SPD]: Mövenpick wahr- (Sigmar Gabriel [SPD]: Zerstören!) scheinlich!) erneuern Wenn wir die gemeinsame Auffassung haben, dass der Übergang von einer Generation auf die andere bezüglich (Zurufe von der SPD: Oh!) der Erbschaftsteuer so gestaltet werden sollte, dass man (B) durch nachhaltiges Wachstum; genau darüber können Betrieben nicht mit Misstrauen, dass sie bestimmt nur (D) wir streiten. Aber wir werden das tun, und ich glaube, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen wollen, wir werden es gut machen. sondern mit ein bisschen Vertrauen – das ist das Erfolgs- rezept der sozialen Marktwirtschaft – begegnet, dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – musste man die Änderungen in der Erbschaftsteuer so Sigmar Gabriel [SPD]: Ausbaden müssen es gestalten, wie wir es gemacht haben. Das haben wir ge- andere!) tan. Meine Damen und Herren, das beginnt mit den So- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fortmaßnahmen in der Krise. Viele von ihnen haben wir gemeinsam beschlossen. Aber wir haben in den ersten Als dritten Punkt will ich die Entlastung von Familien Tagen unserer gemeinsamen neuen Regierung etwas da- nennen. Dass man im Steuerrecht aus steuersystemati- zugesetzt: schen Gründen Kinder wie Erwachsene behandeln (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben eine könnte, ich glaube, darüber sollte es keinen Streit geben. Mövenpick-Koalition! – Dr. Frank-Walter Dass jetzt aber die Maßnahmen zur Verbesserung der Steinmeier [SPD]: Das ist keine Rosinenpicke- Kaufkraft, die wir gemeinsam eingeleitet haben, rei, das ist Mövenpickerei!) (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie meinen das Be- Wir haben das Wachstumsbeschleunigungsgesetz verab- treuungsgeld?) schiedet. Ich sage Ihnen: Das ist eine wichtige Ergän- die Erhöhung des Kindergeldes für Familien, zung dessen, was wir an konjunkturpolitischen Maßnah- men im vergangenen Jahr gemacht haben. (Zuruf beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Doch nicht für alle!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Mövenpick-Koalition, bei der Sozialdemokratie plötzlich mit dem Wechsel von dazu sagen Sie nichts!) der Regierungsverantwortung in die Opposition sozusa- gen zu einer nicht vernünftigen Sache mutiert, damit Wir haben erstens wichtige Korrekturen an der Un- müssen Sie fertig werden und nicht wir. Wir haben etwas ternehmensteuerreform vorgenommen, die nach der für Familien getan, und das war notwendig. Meinung jedes Fachmanns oder jeder Fachfrau – das weiß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ganz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – genau – prozyklische Effekte, also verstärkende krisen- Sigmar Gabriel [SPD]: Das Betreuungsgeld hafte Effekte, hatte. Diese wurden jetzt durch unsere wollten wir nie! – Jürgen Trittin [BÜND- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1253

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen, dass die von über 4 Prozent. Das war die Wahrheit von Rot-Grün, (C) ärmsten Kinder leer ausgehen!) und nur durch den Regierungswechsel ist das wieder in solide Bahnen gekommen. Was ist passiert? Wir hatten die Steuerschätzung im Mai 2009, und wir hatten die Steuerschätzung im No- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- vember 2009. Es ist dieser Bundesregierung gelungen, chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE einen Haushaltsentwurf vorzulegen, durch den das GRÜNEN) Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet werden Wir sichern mit unseren Maßnahmen die Grundla- konnte, ohne dass die Neuverschuldung höher ist als das, gen des Aufschwungs. Wir haben die Regelung für die was wir in der Großen Koalition im Sommer miteinan- Kurzarbeit verlängert. Wir lassen die automatischen Sta- der verabredet haben. bilisatoren weiter wirken – im Übrigen einer der wich- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tigsten Posten in diesem Haushalt. Wir sind von einem Sigmar Gabriel [SPD]: Weil Sie 10 Milliarden Darlehen für die Bundesagentur zu einem Zuschuss für Euro mehr für Kredite aufgenommen haben die Bundesagentur übergegangen, was nichts anderes als nötig! – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ heißt – damit das für die Bürgerinnen und Bürger klar DIE GRÜNEN]: 10 Milliarden haben Sie ver- ist –, als dass wir die Beitragszahler nicht mit den Fol- prasst!) gen der Krise alleine lassen, sondern die Gesamtheit der Steuerzahler die Folgen dieser Krise trägt. Das ist rich- Warum ist das möglich gewesen? Das ist möglich ge- tig, das ist solidarisch, und deshalb haben wir das ge- wesen, weil genau das eingetreten ist, was wir wollten. macht. Wir haben gehandelt. Wir haben Konjunkturpakete und Maßnahmen zum Kurzarbeitergeld verabschiedet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Steuerveränderungen im Mittelstandsbereich veran- Ein Zuschuss von 16 Milliarden Euro für die Bundes- lasst. Wir haben weitere Kaufkraftstimulierungen ange- agentur für Arbeit und knapp 4 Milliarden Euro für den regt. Genau daraus ist eine bessere Wirtschaftsentwick- Gesundheitsbereich, das sind 20 Milliarden Euro zur lung bis November entstanden, so wie wir das wollten. Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und eine (Sigmar Gabriel [SPD]: Jetzt verprassen Sie das solidarische Maßnahme aller Steuerzahler zur Bekämp- Geld für Geschenke, für Klientelpolitik!) fung der Krise. Die hat uns Spielräume eröffnet, den nächsten Impuls zu (Thomas Oppermann [SPD]: Schließen Sie setzen, um für die Steuerschätzung im Mai wieder eine denn Beitragserhöhungen aus?) bessere Entwicklung zu haben. Das ist unsere Philoso- Wir führen die Kredit- und Bürgschaftsprogramme (B) (D) phie. Wer diese Art, zu denken, nicht aufbringt, der muss weiter, die Investitionen ermöglichen. Wir wissen, dass wirklich in sich gehen. die Versorgung der Wirtschaft, vor allem der kleinen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mittleren Unternehmen, mit Krediten ein wichtiger, viel- Sigmar Gabriel [SPD]: Sie verprassen jetzt das leicht der existenzielle Punkt dieses Jahres sein wird, um Geld!) den Aufschwung auch wirklich in die richtigen Bahnen zu lenken. Wir haben dazu die staatlichen Warenkredit- Es ist notwendig, dass wir diesen Kurs fortsetzen, dass versicherungen aufgestockt, das KfW-Sonderprogramm wir weiter auf Wachstum setzen und uns gleichzeitig mit flexibilisiert und einen Kreditmediator eingesetzt. der Haushaltskonsolidierung befassen. (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie brauchen einen Meine Damen und Herren, natürlich spiegelt dieser Mediator in der Koalition!) Haushalt – ich habe es am Anfang gesagt – die Sondersi- tuation wider. Wenn Sie sich einmal redlich die europäi- Wir werden auch mit den Banken beständig im Gespräch schen Daten anschauen, dann merken Sie, dass für sein, um die Entwicklung weiterzuverfolgen und gege- Frankreich 2010 ein Defizit von minus 8,2 Prozent vo- benenfalls weitere Maßnahmen durchzusetzen. raussagt wird – so tut es jedenfalls die EU –, Großbritan- Mit unserem Haushaltsentwurf und unserer Koali- nien 12,9 Prozent, Japan 8,9 Prozent und die USA tionsvereinbarung haben wir vor allen Dingen deutlich 13 Prozent. Das, was wir hier zu bewältigen haben, ist gemacht, dass es notwendig ist, in die Zukunft zu inves- mit minus 5 Prozent nicht einfach, aber es zeigt auch, tieren, weil wir stärker aus der Krise hervorgehen wol- dass wir gar nicht so schwach, sondern stark in diese len. Deshalb gehen wir wichtige Schritte hin zu einer Krise hineingegangen sind und damit dieser Krise besser Bildungsrepublik. trotzen können, wenn wir das Richtige tun. (Sigmar Gabriel [SPD]: Indem Sie die Länder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ruinieren!) Wenn es um die Frage geht, wer wie mit Geld umge- Bei aller Notwendigkeit, Ausgaben zu begrenzen, wer- hen kann, möchte ich daran erinnern, dass wir, bevor wir den wir in dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro 2005 als Union in die Regierungsverantwortung kamen, zusätzlich in Bildung und Forschung investieren. drei Jahre hintereinander, also 2003, 2004 und 2005, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Situation hatten, dass die rot-grüne Bundesregierung die Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages nicht einge- Wir sind davon überzeugt, dass das Ziel, 10 Prozent halten hat. Bei minus 0,2 Prozent hatten Sie ein Defizit des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Bildung 1254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) auszugeben – 3 Prozent für Forschung und 7 Prozent für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Bildung –, richtig ist und über die Zukunft unseres Lan- neten der FDP) des entscheidet. Die christlich-liberale Koalition setzt darauf, dass wir (Sigmar Gabriel [SPD]: Wenn Sie die Länder möglichst schnell das Zeitalter der regenerativen Ener- und Kommunen ruinieren, geht das nicht!) gien erreichen. Deshalb ist der Bund bereit – so haben wir es im Übri- (Sigmar Gabriel [SPD]: Wie viel hat die Kern- gen mit allen Ministerpräsidenten verabredet –, einen energie gespendet? Wie hoch waren die Spen- größeren Anteil als den normalen Anteil zu zahlen, um den aus der Kernenergie?) die Lücke zwischen den heutigen Bildungsausgaben und Dazu ist es dann aber auch notwendig, dass die dazu be- den 7 Prozent zu füllen. Normalerweise beträgt der An- nötigte Infrastruktur erzeugt wird. Dazu ist es notwen- teil des Bundes an den Bildungsausgaben 10 Prozent. dig, dass wir die benötigten Brücken bauen, weil wir Wir haben gesagt: Wir sind bereit, bis zu 40 Prozent zu nicht von heute auf morgen unmittelbar zu einer aus- geben, um die Lücke zu füllen. Wir werden bis zum schließlichen Versorgung durch regenerative Energien Sommer mit den Ländern darüber verhandeln, wie wir kommen können, ohne dass sich die Preise so entwi- das sinnvoll und vernünftig tun können. ckeln, dass die Industrie aus Deutschland verschwindet. (Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben sie gleich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zeitig ruiniert!) Sigmar Gabriel [SPD]: Wie hoch waren die – Im Gegensatz zu Ihnen waren die Ministerpräsidenten Spenden aus der Atomindustrie?) aller Bundesländer mit diesem Weg einverstanden. Das ist unsere Überzeugung. Genau das werden wir tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Für diese Brücken brauchen wir auch moderne Koh- der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Sie haben ja lekraftwerke. Jeder, der behauptet, dass das nicht sein bis heute kein Ergebnis!) muss, der sorgt dafür, dass die alten Kohlekraftwerke weiterbetrieben werden, dass unsere EVUs Kohlekraft- Ich habe von neuem Denken gesprochen. Das heißt werke in Polen kaufen werden und dafür aus Deutsch- auch: Die Art unseres Wachstums wird sich ändern. Es land verschwinden. geht um nachhaltiges Wachstum. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Sigmar Gabriel [SPD]: Atomkraftwerke!) NEN]: Das ist einfach Unsinn!) Dabei sage ich ausdrücklich: Deutschland muss an seine Das kann nicht die Antwort sein. Wir setzen auf neue (B) (D) Stärken anknüpfen. Das heißt, Deutschland wird seinen Kohlekraftwerke, und wir setzen darauf, dass das dann Wohlstand nur sichern können, wenn es weiter eine auch ein Exportschlager in andere Teile der Welt werden starke Exportnation bleibt. Alle Aussagen, wir brauchten kann. jetzt nicht mehr so viel zu exportieren, halte ich für falsch. Vielmehr muss das, was unsere Stärken ausge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) macht hat – Chemie, Automobilindustrie, Medizintech- Wir werden im Sinne dieses in sich geschlossenen nik, Verkehrstechnik –, weiterentwickelt und nachhalti- Energiekonzepts darüber sprechen, ob wir verlängerte ger gemacht werden, aber darf niemals aufgegeben Laufzeiten – ich sage: ja, wir brauchen das – für Kern- werden. Das ist unsere Philosophie. kraftwerke brauchen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Sigmar Gabriel [SPD]: Wie viel haben die ge- spendet?) Deshalb setzen wir vor allen Dingen in den Bereichen Forschung und Innovation in Kombination mit unseren natürlich unter Berücksichtigung aller Sicherheitsstan- klassischen Stärken auf die Informationsgesellschaft. dards. Aber es hat keinen Sinn, dass wir hier nicht der Wir werden die Breitbandstrategie zielstrebig umsetzen. Wahrheit ins Auge sehen. Dazu wird es noch vieler Anstrengungen bedürfen. Wir werden den Bereich E-Government deutlich stärken. Wir (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In werden insbesondere darauf achten, dass die Freiheit Neckarwestheim und Biblis!) durch die neuen Möglichkeiten des Internets nicht einge- Wir werden ein neues Forschungsprogramm für er- schränkt wird. Arbeitnehmerdatenschutz, Stiftung Da- neuerbare Energien entwickeln: Speichertechnologien, tenschutz und Datenschutz-Audit, all das sind Stich- intelligente Netztechnik und Biokraftstoffe der zweiten punkte dazu. Generation. Ein großer Schwerpunkt unserer Politik wird das (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Thema Energie sein. Das ist ein Thema, bei dem es GRÜNEN]: Asse!) ohne Kontroversen sicher nicht geht. Diese Frage muss Wir wollen, dass Deutschland Leitmarkt für Elektromo- in einem Industriestandort aber notwendigerweise gelöst bilität wird. Die Bundesregierung wird dazu am 3. Mai werden. Wir brauchen ein in sich schlüssiges berechen- dieses Jahres einen Gipfel durchführen bares Energiekonzept für die nächsten Jahre oder Jahr- zehnte. Anders wird der Industriestandort Deutschland (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht erhalten werden können. NEN]: Einen Gipfel! Das ist ja der Gipfel! – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1255

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) Sigmar Gabriel [SPD]: Über allen Gipfeln ist Überwachung der nationalen Maßnahmen zuzulassen, (C) Ruh!) die Vergleichbarkeit bedeuten würde, weil diese Länder sagen: Das ist ein Eingriff in unsere Souveränität. – Das mit Vertretern der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und der wischt man nicht einfach weg, indem man sich gegensei- Wissenschaft. Ich glaube, das ist richtig. Sie sollten mit tig bezichtigt, schuld zu sein, sondern darüber muss ge- uns gemeinsam ein Interesse daran haben, dass wir hier nerell gesprochen werden. Das ist ein dickes Brett, das wieder führend sind, dass auch das Auto des 21. Jahr- wir bohren müssen. Es weist uns auf den Kern globaler hunderts ein Auto ist, das in Deutschland gebaut wird, so Zusammenarbeit hin. Ich bin überzeugt, wir sind über- wie es mit den Autos des 20. Jahrhunderts war. zeugt: Es geht nur mit international verbindlichen Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz pflichtungen, aber dann für alle. Daran müssen wir ar- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das beiten. stinkt nach Opel!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nachhaltiges Wachstum heißt natürlich auch Fort- Das ist die Aufgabe dieses Jahres, bis hin zur nächsten schritte im internationalen Klimaschutz. Ich glaube, wir Konferenz in Bonn und zur Konferenz in Mexiko am sind uns einig, dass die Ergebnisse, die wir in Kopen- Ende des Jahres. Wir können und werden also unsere hagen erreicht haben, enttäuschend waren. Deshalb sage Wirtschaftskraft erneuern. ich: Europa wird seine Vorreiterrolle weiterführen. Ich sage auch: Deutschland hat sich bereits – das zeigt auch Wir wollen ein Zweites tun. Die christlich-liberale die Koalitionsvereinbarung – entschlossen, Koalition will das Verhältnis von Bürger und Staat er- neuern: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: In der Koalitionsvereinbarung? Hier im (Thomas Oppermann [SPD]: Sie? Bitte Bundestag!) nicht! – Sigmar Gabriel [SPD]: Oh Gott! Jetzt kommt die geistig-politische Wende!) dass wir bis 2020 unsere CO2-Emissionen um 40 Pro- zent reduzieren werden. Aber ich sage auch: Ich bin sehr durch Stärkung der Eigenverantwortung, damit Siche- dafür, dass die Europäische Union auf 30 Prozent geht. rung der Handlungsfähigkeit des Staates und dadurch Das kann nur passieren, wenn andere europäische Mit- Erhaltung der Solidarität in der Gesellschaft. Das ist der gliedstaaten das 30-Prozent-Ziel genauso unterstützen, Zusammenhang. Wer nicht auf die Eigenverantwortung wie die Bundesrepublik Deutschland das tut. Was ich setzt, wird nur noch Mangel verwalten. Ohne Eigenver- nicht zulassen werde – ich glaube, darüber sollten wir antwortung werden wirkliche Solidarität und ein hand- uns einig sein –, ist, dass wir von 30 auf 40 Prozent ge- lungsfähiger Staat nicht möglich sein. (B) hen, andere ihre Position nicht verändern und wir an- (D) schließend etwas versprechen sollen, was wir zum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schluss realistischerweise nicht halten können. Deshalb Deshalb setzen wir in allen Lebensbereichen darauf, arbeiten wir daran, dass Europa sein Reduktionsangebot dass, wo immer das möglich ist, Entscheidungsfreiheit von 30 Prozent gegebenenfalls, wenn die Mitgliedstaa- besteht. Das beginnt bei der Familienpolitik. Wahlfrei- ten mitmachen, dann auch ohne dass andere folgen, un- heit ist das Credo. Wir schreiben den Menschen nicht terfüttern kann. Solange wir das nicht können, sage ich: vor, wie sie leben sollen. 30 Prozent Reduktion für Europa ja, aber nur wenn an- dere Teile der Welt genauso ambitionierte Verpflichtun- (Zurufe von der SPD: Oh! Wie toll! – Wir gen eingehen. Alles andere hilft dem Klima auf der Welt auch nicht! – Wer macht denn das?) nicht weiter. Deshalb wird der Bund weiter seiner Aufgabe nachkom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men, den Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jahren fortzusetzen. Kopenhagen hat ein viel schwierigeres Thema aufge- worfen. Das werden Sie durch die Beschimpfung von (Sigmar Gabriel [SPD]: Herdprämie!) Regierungen allein nicht lösen. Dieses Thema heißt: Ist Ich sage, an die Kommunen gerichtet, allerdings es auf der Welt möglich, gibt es die Bereitschaft, dass auch: Es ist nicht nachvollziehbar, wenn geäußert wird, andere Länder bindende Vereinbarungen eingehen, so dass das vereinbarte Geld nicht ausreicht. Die Kommu- wie wir das im Kioto-Protokoll getan haben? Wir, die nen rechnen jetzt so, als würden sie den Rechtsanspruch Europäische Union und auch andere entwickelte Indus- ab dem ersten Lebensjahr für das erste und zweite Le- trieländer – die Vereinigten Staaten haben es nicht ge- bensjahr so auslegen, als wenn jedes Kind ganztägig in macht –, sind bindende internationale Verpflichtungen einer Betreuungseinrichtung untergebracht wäre. Das er- im Rahmen der Klimarahmenkonvention eingegangen. scheint uns nicht realistisch. Die eigentliche Enttäuschung in Kopenhagen war, dass die Schwellenländer gesagt haben, dass sie sich zum ers- (Thomas Oppermann [SPD]: Wäre aber wün- ten Mal mit Verpflichtungen im Sinne der Verbesserung schenswert!) der Energieeffizienz beschäftigen, aber unter keinen Be- Aber wir werden darüber im Gespräch bleiben. Wir wol- dingungen zustimmen, dass die Verpflichtungen bindend len das. im internationalen Sinne sind. Das hat das indische Par- lament beschlossen. Das ist die starke Meinung von Jetzt ein Wort zum Betreuungsgeld. Ich sehe die Pro- China. Man ist nicht einmal bereit, eine internationale bleme, die damit verbunden sind. 1256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) NEN]: Das ist die Frage! Ich glaube das NEN]: Ihnen glaube ich das sofort! Die Bür- nicht!) ger, von denen Sie sprechen, können sich den Staat jedenfalls leisten! – Thomas Oppermann Wir haben dieses Thema noch nicht abschließend behan- [SPD]: Jetzt sind wir sehr gespannt!) delt. Wir wollen das Betreuungsgeld im Übrigen erst 2013 einführen. Ich finde, es ist eine sehr merkwürdige Entwicklung der letzten drei Monate, dass der Steuerzahler – – (Sigmar Gabriel [SPD]: Davon wird es nicht besser!) (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wir auch! – Wei- tere Zurufe von der SPD) Aber dass aus der Bezuschussung der Betreuung von Kleinkindern, die nicht zu Hause betreut werden, im – Nein. Dazu muss ich wirklich sagen: Die Wahl- Sinne der Wahlfreiheit vielleicht auch der Gedanke er- programme waren transparent. wächst, Familien zu unterstützen, die sich ganz selbstbe- wusst für die Betreuung zu Hause entscheiden, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie und transparent?) (Sigmar Gabriel [SPD]: Das Gegenteil ist der Fall!) Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, die das schon seit zehn Jahren nicht mehr gemacht haben, halten wir kann im Sinne der Wahlfreiheit nicht grundsätzlich uns an unsere Wahlprogramme. falsch sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Wie bitte?) Sigmar Gabriel [SPD]: Diskutieren Sie das mal mit den Städten! – Renate Künast Jeder wahlberechtigte Bürger in Deutschland konnte le- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wovon sen, was die Union vorhatte. sollen die Familien, die Sie dadurch unterstüt- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zen wollen, leben? Etwa von der Wahlfrei- NEN]: Nein! Das konnte niemand lesen! – heit?) Sigmar Gabriel [SPD]: Der Bürger wusste aber Deshalb werden wir einen Weg finden, der auf der einen nicht, wem die FDP gehört!) Seite falsche Effekte vermeidet – Ich glaube, der Vorsitzende der SPD kommt sonst (Sigmar Gabriel [SPD]: Desintegration för- nicht oft zu Wort. (B) dern Sie! – Caren Marks [SPD]: Reden Sie (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (D) einmal mit Ihrer Ministerin!) der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Wenn Ihnen und auf der anderen Seite die Wahlfreiheit stärkt. das Wort nicht einfällt: Mövenpick!) (Thomas Oppermann [SPD]: Das ist bildungs- Irgendwie hat man den Eindruck, er hat in der SPD nicht feindlich, was Sie da machen! – Sigmar genug Möglichkeiten, zu reden. Gabriel [SPD]: Sie fördern die Desintegra- Zu Ihrer großen Freude konnten Sie im Wahlkampf tion!) sogar verfolgen, dass es leichte Differenzen zwischen Im Verhältnis von Bürger und Staat spielt das Thema CDU und CSU gab. Sie haben auch gesehen, dass sich Bürokratie eine zentrale Rolle. das FDP-Programm von den Programmen der Unions- parteien unterschieden hat. Aber in allen Programmen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- war Steuersenkung ein Thema, und zwar nicht ir- NEN]: Oh ja! Vor allem die Bürokratie bei der gendeine Steuersenkung, sondern vor allen Dingen eine Übernachtungsabrechnung! Mit Frühstück Steuerstrukturreform, verbunden mit einer einfacheren oder ohne?) Gestaltung unseres Steuersystems Viele Menschen fühlen sich entmutigt. Deshalb werden (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir die Arbeit des Normenkontrollrates nicht nur fortset- NEN]: Bei den Hotels! – Thomas Oppermann zen und nicht nur die Berichts- und Statistikpflichten um [SPD]: Es wird bürokratischer und teurer!) 25 Prozent reduzieren, – nach 60 Jahren erkennbar kein so einfaches Unterfan- (Sigmar Gabriel [SPD]: Haben Sie das auch gen – und mit dem Willen, gerade die Ungerechtigkeiten mit dem Baron besprochen, August von bei kleinen und mittleren Einkommen abzubauen. Finck?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sondern wir werden auch in umfassenden Pilotprojekten Thomas Oppermann [SPD]: Die kleinen Ein- mit den Ländern bei Elterngeld und Wohngeld Erfahrun- kommen zahlen doch gar keine Steuern!) gen sammeln: Wie kann man Bürokratie, auch für die Bürger fassbar, reduzieren? Dadurch werden wir auch Ich kann, ehrlich gesagt, nur schwer verstehen, die Arbeit des Normenkontrollrates stärken. (Thomas Oppermann [SPD]: Frau Bundes- Das Thema „Bürger und Staat“ wird natürlich ganz kanzlerin, die kleinen Einkommen zahlen gar wesentlich auch durch die Steuerpolitik bestimmt. keine Steuern!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1257

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) dass Parteien, die sich allen Bereichen der Bevölkerung auch wenn man sagen muss: Sie haben dankenswerter- (C) verpflichtet fühlen, überhaupt nicht mehr darüber spre- weise mitgemacht, meine Damen und Herren. chen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Sigmar Gabriel [SPD]: Wir wissen, dass kleine neten der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Dafür Einkommen keine Steuern zahlen!) sitzen jetzt die Treiber der Schulden auf der Regierungsbank!) Alles, was wir hier vereinbaren – ob wir die erneuer- baren Energien fördern, ob wir das Rentensystem unter- – Der Schuldenbremse. stützen, das Gesundheitssystem oder sonst etwas –, be- Wir haben – parteiübergreifend; sonst kann man in ruht auf Steuereinnahmen des Staates. Deshalb brauchen Deutschland die Verfassung nicht ändern – eine Schul- wir motivierte Bürgerinnen und Bürger, die wissen, wa- denbremse in das Grundgesetz aufgenommen. Jeder, der rum sie Steuern zahlen, und die finden, dass es dabei ge- in diesem Hause sitzt, weiß, dass man nicht sehenden recht zugeht. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Auges gegen ganz spezifische Festlegungen des Grund- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gesetzes verstoßen kann. Das wissen wir alle; da brau- der FDP) chen Sie uns nicht zu verklagen. Die Schuldenbremse ist so etwas wie eine Leitplanke unserer gesamten Arbeit. Es liegt in der Natur der Sache, dass man darüber Die Schuldenbremse beginnt 2011 zu wirken. streitet. Wir sind jedenfalls davon überzeugt, dass es im (Sigmar Gabriel [SPD]: Deshalb werden Sie Einkommensteuersystem Ungerechtigkeiten gibt, die sozialen Kahlschlag machen müssen!) beseitigt werden müssen, und dass Entlastungen möglich sind, notwendig sind und sogar Wachstum schaffen. Das Die politische Kunst – zu dieser Art von Politik sind ist unsere Überzeugung. wahrscheinlich nur wir fähig, so wie wir jetzt regieren – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chen und Beifall bei der SPD und dem BÜND- Das ist keine Überzeugung, das ist Ideologie!) NIS 90/DIE GRÜNEN – Sigmar Gabriel [SPD]: Das ist ein guter Satz!) Wir werden zwischen November und Mai tun, was wir zwischen dem letzten Mai und dem November getan besteht darin, Wachstum und solide Finanzen miteinan- haben: Wir werden auf die Steuerschätzung warten. der zu vereinbaren. Das ist unsere Aufgabe. Diese Auf- Jetzt sagen manche: Wir wissen doch, was heraus- gabe ist nicht einfach; aber wir werden sie lösen. (B) kommt, wenn wir wissen, wie das Wachstum ist. – Das Die internationale Krise hat gezeigt, dass der Staat (D) ist, wenn man nur auf das Wachstum schaut, im Prinzip Verpflichtungen hat. Wenn Freiheit und Verantwortung richtig. Die Überraschung, die wir zwischen Mai und für die Bürgerinnen und Bürger erlebbar sein sollen, November erlebt haben, kam gerade daher, dass keiner dann bedarf es Regeln. Regeln haben auf den internatio- in der Lage ist, bei einem Wachstum von minus nalen Finanzmärkten gefehlt; da herrschte Freiheit 5 Prozent die Entwicklung des Arbeitsmarktes zu pro- ohne Verantwortung, das waren Exzesse. Deshalb geht gnostizieren. 100 000 Arbeitslose mehr oder weniger be- es jetzt darum, die Regeln, soweit sie im G-20-Prozess deuten für den Haushalt eine Differenz von 2 Milliarden vereinbart sind, in diesem Jahr umzusetzen. Einiges ist Euro. So können sich erhebliche Verschiebungen erge- in Gang gekommen; Wolfgang Schäuble hat gestern da- ben, die Veränderungen im Haushalt nach sich ziehen. rüber gesprochen. Es geht – das gilt insbesondere für die Die Wachstumsprognosen sind völlig klar, die Auswir- G-20-Treffen, die in Kanada und in Südkorea stattfinden kungen auf den Arbeitsmarkt, die Wirkung der automati- werden – darum, Wege zu finden, zu verhindern, dass schen Stabilisatoren und vieles andere aber nicht. Des- Banken so groß sind oder so verflochten sind, dass sie halb warten wir die Steuerschätzung ab – sie findet uns immer wieder sozusagen erpressen können. Es gibt bekanntermaßen noch vor der NRW-Wahl statt –, und verschiedene Modelle. Auch Deutschland wird mit ei- dann werden wir den Gesetzentwurf für den Haushalt nem Modell in die Debatte gehen. Wir müssen darauf 2011 vorbereiten. Die Steuerstrukturreform bleibt weiter achten – das ist die größte Herausforderung bei der Be- auf der Tagesordnung. wältigung der Krise –, dass wir eine international abge- Von der Entlastung im Umfang von 24 Milliarden stimmte Exit-Strategie finden. Es nützt nichts, wenn Euro, die wir vereinbart haben, haben wir mit dem Deutschland die Schuldenbremse hat, und es nützt im- Wachstumsbeschleunigungsgesetz bereits einen Teil um- mer noch nichts, wenn sich ganz Europa an den Stabili- gesetzt. Warten wir die Steuerschätzung ab; dann wissen täts- und Wachstumspakt hält, wenn zugleich in den Ver- wir, was für Aufgaben noch vor uns liegen. einigten Staaten von Amerika, in Japan oder anderswo eine völlig andere Politik betrieben wird. Was hat uns Ein weiterer Punkt – das müssen wir zusammenbrin- die Krise denn gezeigt? Sie ist nicht vorrangig von gen; das ist das Schwierige an unserer Arbeit – ist, dass Europa ausgegangen. Sie hat uns gezeigt: Wenn sich ein das Verhältnis der Bürger zum Staat geprägt wird von großer Spieler in dem globalen Wettbewerb nicht an Re- der Frage, ob wir nachhaltige, solide Finanzen haben. geln hält, dann müssen alle für die Folgen aufkommen. Bei der Schuldenbremse war die Sozialdemokratie nun Deshalb wird es eine der herausragenden Aufgaben sein, wirklich nicht der Treiber – ich würde mal sagen, die nicht nur mit der Europäischen Zentralbank und der Treiber der Schuldenbremse sitzen eher hier bei uns –; Europäischen Kommission eine Exit-Strategie zu verein- 1258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) baren und nicht nur das zu tun, was Deutschland einzig- Die andere Aufgabe ist folgende: Die Anreize, Arbeit (C) artig in seinem Grundgesetz verankert hat, sondern auch aufzunehmen, sind mit Sicherheit noch nicht optimal ge- dafür zu sorgen und alles daranzusetzen, so schwierig es regelt. Sie alle kennen die Meinung, dass man 100 Euro auch ist, dass andere dem folgen. dazuverdienen könne. Viele, die Arbeitslosengeld II be- kommen, sagen, mehr dürften sie ja nicht. Diese Frage Ich nenne einen dritten Punkt, dem sich die christlich- der Hinzuverdienstmöglichkeiten muss so neu geregelt liberale Koalition verpflichtet fühlt. werden – dies werden wir in der ersten Hälfte dieses Jah- (Sigmar Gabriel [SPD]: Mövenpick!) res tun –, dass Anreize gesetzt werden, ohne Vollbe- schäftigung zu schwächen, was wir auch nicht wollen. Wir müssen den Zusammenhalt in unserer Gesell- Das ist eine ziemlich schwierige Aufgabe. schaft erneuern: zwischen Jung und Alt, zwischen Kran- ken und Gesunden, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann brauchen Sie aber auch einen (Thomas Oppermann [SPD]: Mit der Kopf- Mindestlohn, gnädige Frau!) pauschale?) Wir haben das Schonvermögen vergrößert; dies wird zwischen Ärmeren und Wohlhabenderen, zwischen Ein- jetzt im Parlament debattiert werden. Ich glaube, das war heimischen und Zugewanderten, zwischen Ost und eine richtige Entscheidung, zu der viele sehr lange nicht West. Auch geht es um den internationalen Zusammen- bereit waren. Wir müssen gerade auch für Alleinerzie- halt in unseren Bündnissen. hende durch Kinderbetreuung – – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Vermittlungs- Sigmar Gabriel [SPD]: Fangen Sie mal in der ausschuss!) Koalition an!) – Okay, dann muss ich vier Jahre nicht richtig hingehört Nur durch diesen Zusammenhalt ist Solidarität in unse- haben, wenn mich der tägliche Ruf aus der SPD nach der rer Gesellschaft möglich. Erhöhung des Schonvermögens nicht erreicht hat. Dies Dazu gehört natürlich die Frage, wer Hilfe leistet und halte ich allerdings für relativ unwahrscheinlich. wer der Hilfe bedarf. Wir müssen darüber diskutieren, wenn es um Armut (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Die in unserem Lande geht, ob die Frage von gleichen Chan- Hotels!) cen immer eine Frage nur von Geld ist oder ob sie nicht auch eine viel kompliziertere Frage ist. Ich sage Ihnen Da ist die Diskussion über die Frage natürlich essenziell, ganz eindeutig: Wir werden uns nicht damit abfinden – – (B) wie wir das Arbeitslosengeld II, bekannter unter (D) Hartz IV, gestalten. Ich sage ganz deutlich: Ich glaube, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ganz ohne dass die rechtlichen Rahmenbedingungen, was den Geld kann man seinen Lebensunterhalt nicht Zwang, die Aufgabe oder die Notwendigkeit der Ar- bestreiten!) beitsaufnahme anbelangt, eindeutig ausreichend sind. – Es geht nicht ohne Geld; Geld ist sogar sehr wichtig. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber wer glaubt, er könne das Problem nur mit Geld lö- NEN]: Weiß das Herr Koch auch?) sen und es gebe sonst kein anderes Problem zu lösen, der arbeitet an der Aufgabe vorbei. So einfach ist das. Da- Wer eine zumutbare Arbeit nicht annimmt, hat heute rüber brauchen wir uns auch gar nicht aufzuregen. Sanktionen zu befürchten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Sigmar Gabriel [SPD]: Mit Herrn Koch müssen Sie reden!) Ich sage ganz eindeutig: Wir finden uns mit Arbeits- losigkeit nicht ab. Wir wollen und glauben auch, dass es – Heute rede ich hier, Herr Gabriel. möglich ist, im nächsten Jahrzehnt Vollbeschäftigung zu Die Frage, ob die Umsetzung unserer rechtlichen Re- erreichen. gelungen überall ausreichend erfolgt, muss man sich im- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – mer wieder anschauen. Da gibt es zwei Aufgaben: Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sie im Die eine ist, möglichst viele Arbeitsangebote zur Wahlkampf noch bestritten!) Verfügung zu stellen. Da wird immer wieder über Optio- Wir wollen jedem eine Chance geben, weil sich die frei- nen diskutiert, zum Beispiel in vielen neuen Bundeslän- heitliche Entfaltung des Menschen durch selbstverdien- dern über sogenannte Bürgerarbeit oder anderes. Diese tes Geld viel besser vollziehen kann. Das wollen wir er- Diskussion werden wir fortsetzen. Aber es gelingt uns reichen. heute noch nicht – das muss man ganz einfach sagen –, jedem, der Arbeit sucht, wirklich eine Arbeit anzubieten. Wir wollen Solidarität in unserer Gesellschaft: im Wir müssen dabei aber auch aufpassen, dass wir nicht in Rentensystem, im Gesundheitssystem und in der Pflege. eine Situation geraten, in der wir den mittelständischen Aber wer an dem demografischen Wandel, an den Verän- Unternehmen Arbeit wegnehmen, weil wir zu viel staat- derungen des Altersaufbaus unserer Gesellschaft einfach lich geförderte Arbeit anbieten. Auch diese Diskussion vorbeisieht, wer so tut, als müsse und könne man die muss geführt werden; wir führen sie ja auch schon seit Rente mit 67 Jahren rückgängig machen, wer so tut, als vielen Jahren. könne man die Lohnzusatzkosten einfach an die Arbeits- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1259

Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelMerkel: (A) kosten gekoppelt lassen, wer so tut, als brauche man Die christlich-liberale Koalition will ein starkes (C) keine Kapitaldeckung in der Pflege, der lebt nicht im Deutschland, ein lebenswertes Deutschland und bei der Sinne eines nachhaltigen Lebens, sondern der lügt sich menschlichen Gestaltung der Globalisierung an vorders- in die Tasche. Das ist die Wahrheit. ter Stelle mitarbeiten. Deshalb erneuern wir unsere Wirt- schaftskraft, das Verhältnis von Bürger und Staat und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Deshalb werden wir sowohl das Thema der Kapital- Vor zwei Jahrzehnten waren wir alle hier Zeugen deckung in der Pflege angehen als auch uns die Frage eines unglaublichen Vorgangs, nämlich des Endes des stellen, wie wir langfristig unser Gesundheitssystem Kalten Krieges, des Falls der Mauer und des Sieges der weiterentwickeln. Freiheit auf unserem Kontinent. Aus Gegnern wurden (Thomas Oppermann [SPD]: Davor haben die Partner. Am 3. Oktober dieses Jahres werden wir meisten Angst!) 20 Jahre deutsche Einheit feiern. Man darf sagen: Deutschland und Europa haben ihre Chance in der dama- Ich sage ganz deutlich: Diese christlich-liberale Koali- ligen historischen Situation genutzt. tion steht dafür, dass es keine Zweiklassenmedizin gibt, Vor zehn Jahren, im ersten Jahrzehnt unseres (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – 21. Jahrhunderts, haben wir festgestellt, obwohl manche Lachen bei Abgeordneten der SPD und des in den 90er-Jahren schon vom Ende der Geschichte ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sigmar sprochen haben, dass neue Bedrohungen, neue Heraus- Gabriel [SPD]: Mensch, das glaubt doch heute forderungen auf uns zukommen. Der 11. September schon keiner!) 2001 war sicherlich das markanteste Beispiel für asym- dass jeder, der medizinische Leistungen braucht, sie metrische Bedrohung, Terrorismus und religiösen Extre- auch bekommt, aber in einer Art und Weise, die die Be- mismus. schäftigungsmöglichkeiten in unserem Lande nicht un- terminiert. Dieser Aufgabe stellen wir uns. Jetzt stehen wir an der Schwelle eines neuen Jahr- zehnts. In diesem neuen Jahrzehnt, im zweiten Jahrzehnt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des 21. Jahrhunderts, wird sich entscheiden, wie unsere der FDP) Gesellschaft mit diesen Bedrohungen und mit diesen Ge- fahren umgeht. Ich finde, die Art und Weise, wie wir bis- Wir werden sie lösen, so wie wir als Koalition aus Union her durch die schwerste Wirtschaftskrise seit 60 Jahren und FDP die großen Sozialsysteme dieses Landes auf gekommen sind, macht uns Mut, dass wir das schaffen den Weg gebracht haben. können: (B) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (D) GRÜNEN]: Was? – Thomas Oppermann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [SPD]: Mit der FDP?) durch neues Denken, durch interessante Vorschläge Auch das ist die Wahrheit. In dieser Tradition bewegen und durch harte Debatten. Das befruchtet unsere Dis- wir uns. kussionskultur, aber es müssen ehrliche und vernünftige Debatten sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir das in Angriff nehmen, dann darf ich Ihnen Wir werden der Integration von Zugewanderten in un- jedenfalls heute Morgen mitteilen: Die christlich-liberale serem Lande weiter eine große Bedeutung zumessen. Koalition stellt sich diesen Aufgaben mit Mut und Zu- Wir haben als eine der ersten Maßnahmen dafür gesorgt, versicht, dass die Anerkennung von Berufsabschlüssen auslän- discher Mitbürgerinnen und Mitbürger verbessert (Sigmar Gabriel [SPD]: Und Geld von wird, ein Thema, das schnell angegangen werden muss. Mövenpick!) Wir werden im 20. Jahr der deutschen Einheit die Soli- und wir glauben, wir können das schaffen. darität zwischen Ost und West weiterentwickeln. Herzlichen Dank. (Beifall des Abg. [CDU/CSU]) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Der Solidarpakt gilt – ich sage das ausdrücklich –, weil der FDP) die strukturellen Probleme der neuen Bundesländer nach wie vor andere sind als in den alten Bundesländern. Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir werden natürlich auch den Zusammenhalt nicht Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für nur in unserer Gesellschaft, sondern insgesamt auch in die Fraktion Die Linke. unserer Außen- und Sicherheitspolitik deutlich machen. Ich werde nächste Woche in einer Regierungserklärung (Beifall bei der LINKEN) zu Afghanistan darlegen, wie wir uns die nächste Etappe des Afghanistan-Einsatzes vorstellen. Wir werden Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): schwierige Verhandlungen mit dem Iran führen, bei de- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nen es um Sanktionen gehen wird. Wir werden eine neue festgestellt, dass Sie sich nach dem völligen Fehlstart der Strategie der NATO auszuarbeiten haben. Aber wir wer- Bundesregierung wirklich lange Beifall klatschen muss- den unseren Bündnisverpflichtungen gerecht werden. ten, um sich aufzumuntern. Aber das ändert nichts daran. 1260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Gregor Gysi (A) Fangen wir doch mit Ihrer Militäraußenpolitik an, in dieser Legislaturperiode „eine Abzugsperspektive in (C) also mit Afghanistan. Was mich in den letzten Wochen Sicht kommen“ müsse. Darf ich das für die Bevölkerung entsetzt hat, ist der Umgang mit der Vorsitzenden der übersetzen? Das heißt, Sie wollen bis 2013 wissen, ob Evangelischen Kirche in Deutschland, Frau Käßmann. und wann der Abzug beginnt, also sagen wir mal 2020 oder 2025. Das ist dann eine Perspektive. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Nein, Herr Westerwelle, so kommen wir nicht weiter. Widerspruch bei der CDU/CSU) Ziehen Sie die Bundeswehr ab, und zwar noch in diesem Jahr 2010! Das wäre ein konkreter Schritt. Ich sage Ihnen auch, warum. Herr Klose hat gesagt, wenn man die Truppen der NATO aus Afghanistan ab- (Beifall bei der LINKEN) zöge, dann hätten neun Wochen später die Taliban wie- der die Macht. Wenn das stimmt, lieber Herr Gabriel, Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht darauf hin- dann frage ich Sie, was Sie eigentlich neun Jahre lang gewiesen, dass wir in einer der schwersten Krisen seit gemacht haben, wenn sich nichts geändert hat und nach 1931/32 leben. Die Exporte sind eingebrochen. Der neun Wochen wieder die alten Kräfte die Macht hätten. Rückgang der Wirtschaftsleistung in Höhe von 5 Prozent Wozu wurde dann neun Jahre dieser Krieg geführt? Das ist gigantisch. Das hatten wir noch nie in der Geschichte ist doch skandalös. der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der LINKEN – Sigmar Gabriel Nun analysieren wir einmal, was mit der Beschäfti- [SPD]: Das ist ja wie bei euch in der Partei! Da gung in den Jahren zuvor und jetzt passiert ist. Es han- haben auch die alten Kräfte wieder die delt sich leider um ein Gemeinschaftswerk von SPD, Macht!) Grünen und Union sowie nun langsam auch von der FDP. Warum? Was ist passiert? Es wird immer über Ar- Ein weiterer Punkt ist, dass Ralf Fücks von den Grü- beitslose gesprochen und nicht über die Realitäten. Die nen, Herr Robbe von der SPD und auch Unionsabgeord- Zahl der Vollzeitbeschäftigten hat von 1999 bis 2008 nete auf eine Art und Weise über Frau Käßmann herge- um 1,4 Millionen abgenommen. Es sind also nicht etwa fallen sind, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte, mehr geworden, sondern es sind 1,4 Millionen weniger und zwar aus einem Grunde: Wenn sich nicht einmal geworden. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat in der mehr eine führende Kraft einer christlichen Kirche für gleichen Zeit um 1,3 Millionen zugenommen. Sie liegt den Frieden engagieren darf und Sie ihr vorwerfen, dass nun bei 5 Millionen. Die Zahl der Minijobs hat in der sie nicht für Krieg ist, dann ist das ein einzigartiger gleichen Zeit um 2,5 Millionen zugenommen. Sie liegt Skandal. jetzt bei 7,1 Millionen. Die Zahl der Mehrfachbeschäfti- (B) (Beifall bei der LINKEN) gungen hat sich verdoppelt. Die Zahl der befristeten Be- (D) schäftigungsverhältnisse ist um 50 Prozent gestiegen. Ich verlange von einem christlichen Menschen, dass er Ein Viertel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland sich besonders für Frieden engagiert. arbeitet im Niedriglohnsektor. Das ist prozentual der Im Übrigen kennen wir inzwischen den NATO- größte Anteil im Vergleich zu allen anderen Industrielän- Bericht vollständig. Herr zu Guttenberg, wenn Sie ihn dern. Wir haben selbst die USA diesbezüglich überholt. gelesen haben – den wollen Sie ja gelesen haben –, dann Ich sage Ihnen: Das Ganze ist ein Skandal. Es löst nicht ist mir völlig schleierhaft, wie Sie den Kunduz-Einsatz die Probleme, sondern verschärft sie. jemals als angemessen bezeichnen konnten. Aus dem (Beifall bei der LINKEN) Bericht geht ganz klar hervor, dass er völlig unangemes- sen war, und zwar sowohl moralisch als auch völker- Die OECD, keine linke Organisation, hat jetzt festge- rechtlich. stellt, dass die Spaltung zwischen Vollbeschäftigten und prekär Beschäftigten nirgendwo so tief ist wie hier in (Beifall bei der LINKEN) Deutschland. Was wir dringend brauchen – das verwei- Der Präsident von Afghanistan, Karzai, will eine poli- gert Ihre Koalition –, ist ein flächendeckender gesetzli- tische Versöhnung selbst mit bestimmten Taliban. Er cher Mindestlohn. will einen politischen Prozess. Ohne einen politischen (Beifall bei der LINKEN) Prozess werden die Probleme in Afghanistan auch nicht zu lösen sein. Ihre ewige Debatte darüber, die Zahl der Denn die EU-Richtlinien hören auf zu wirken. Ange- Soldaten aufzustocken, hilft Afghanistan nicht. Wir sichts der vorhandenen Strukturen benötigen wir Min- brauchen endlich zivile Hilfe, und deshalb muss die Ar- destgarantien im sozialen Bereich. Ich verstehe die FDP mee – das gilt für unsere wie auch für die anderen Ar- nicht. Sie können doch selbst den Hoteliers mal erklären, meen – aus Afghanistan abziehen. dass wir Mindestlöhne in Deutschland brauchen. Warum geben Sie sich nicht einen Ruck und machen das, was (Beifall bei der LINKEN) 21 andere EU-Länder längst beschlossen haben? Nur in Eines hat die Linke erreicht, nämlich dass jetzt alle Deutschland gibt es keinen flächendeckenden gesetzli- über den Abzug debattieren. Das war noch in der letzten chen Mindestlohn. Das ist ein Skandal. Legislaturperiode anders. Wenn Sie alle über einen Ab- (Beifall bei der LINKEN) zug debattieren, dann muss man allerdings genau hinhö- ren. Herr Bundesaußenminister Westerwelle, ich höre Nun komme ich zur Leiharbeit, eingeführt von SPD Ihnen, wie Sie wissen, genau zu. Sie haben gesagt, dass und Grünen und nun von Ihnen ausgebaut. Sie wollen sie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1261

Dr. Gregor Gysi (A) nicht abschaffen; das haben Sie gesagt, Frau Bundes- vidualmaßnahme beschlossen, die noch für 200 andere (C) kanzlerin Merkel. Darf ich Sie daran erinnern, was ei- Menschen gilt. Zu dieser Individualmaßnahme gehört, gentlich bei Schlecker passiert ist? – Schlecker hat seine dass er fünf Monate unentgeltliche Praktikumsarbeit Leute entlassen und in eine Zeitarbeitsfirma gesteckt. leisten muss; da ist nichts mit Zuverdienst. Wissen Sie, Dort verdienen die Menschen viel weniger, obwohl sie was Sie da organisieren? – Sie organisieren damit, dass die gleiche Arbeit leisten. Soll das die Entwicklung in die Unternehmer Arbeitskräfte kostenlos bekommen. der Bundesrepublik Deutschland werden, oder ist das ein Das baut die Vollzeitbeschäftigung ab. Sie schaffen mit Skandal? Wenn das ein Skandal ist: Warum stellen Sie solchen Maßnahmen keine neuen Arbeitsplätze, sondern sich dann nicht hierhin und sagen Schlecker, dass es ein schaffen sie geradezu ab. Hören wir doch endlich damit Skandal ist und dass wir das nicht dulden können? auf! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Der SPD-Abgeordnete Brandner hat damals gesagt, man Die FDP schimpft immer gegen zu viel Staat und zu wolle die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausfüh- viele Subventionen. Ich wundere mich, wieso Sie bei der ren. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Steinmeier: Die Aufstockung nie schimpfen. Das ist doch die höchste Leiharbeit ist voll in der Schmuddelecke drin. Dafür ha- Form fehlgeleiteter Subventionen. Aufstockung bedeutet ben Sie mit gesorgt. nichts anderes, als dass Sie dem Unternehmer sagen: (Beifall bei der LINKEN) Zahl so wenig Lohn, wie du willst, die Differenz über- nimmt der Staat. – Auch das finden Sie gut, Frau Bun- Jetzt gibt es aber eine Lösung. Frau Bundeskanzlerin, deskanzlerin Merkel. Ich finde, das ist ein Skandal. wenn Sie die Leiharbeit nicht abschaffen wollen, können Wenn jemand Vollzeitarbeit leistet, dann hat er Anspruch wir uns durchaus verständigen. Machen wir es wie in auf einen Lohn, mit dem er in Würde leben kann, nicht Frankreich. Das ist kein sozialistisches Beispiel. Das einen Anspruch darauf, zum Sozialamt geschickt zu müsste doch erträglich sein. Was macht man in Frank- werden. reich? In Frankreich sagt man einer kleinen Firma, deren Elektromeister erkrankt ist: Gut, ihr könnt euch einen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Elektromeister ausleihen; aber dem müsst ihr dasselbe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) plus 10 Prozent zahlen. Es ist für euch teurer. – Weil es Frau von der Leyen ist jetzt verpflichtet, die Rente ab 67 teurer ist, bekommt es den Charakter einer absoluten zu überprüfen. Sie hat schon gesagt, sie wird sie zwar Ausnahme. Nur bei uns sparen die Unternehmen, wenn überprüfen, aber es wird dabei bleiben. Frau von der sie Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter beschäftigen. Da- Leyen, wenn Sie schon mit dem Ziel überprüfen, dass al- durch kommt Missbrauch zustande und werden die Be- (B) les dabei bleibt, dann können Sie es auch gleich bleiben (D) legschaften so lange unter Druck gesetzt, bis sie einver- lassen. standen sind, die Löhne zu reduzieren. Genau das geht nicht. Dagegen werden wir strikt kämpfen, und zwar (Beifall bei der LINKEN – Sigmar Gabriel überall, auch im Landtagswahlkampf von Nordrhein- [SPD]: Das hat eine gewisse Logik!) Westfalen, um das hier klar und deutlich zu sagen. Es wird immer gesagt, die Älteren müssten länger ar- (Beifall bei der LINKEN) beiten. Wissen Sie aber, wie viele der 63- bis 64-Jähri- Rot-Rot in Berlin hat übrigens etwas sehr Positives gen heute beschäftigt sind? – 7,4 Prozent! Über 90 Pro- erreicht; darüber wird nicht gesprochen. Rot-Rot hat die zent sind ohne Beschäftigung. Und Sie sagen diesen sogenannten Christlichen Gewerkschaften verklagt, die über 90 Prozent, sie sollten gefälligst zwei Jahre länger sittenwidrige Tarifverträge gerade mit Zeitarbeitsfirmen arbeiten. Das ist in einer leicht altersrassistischen Gesell- abgeschlossen haben. Nun hat man erreicht, dass die Ge- schaft geradezu ein Hohn! richte gesagt haben: Das geht nicht; das ist unzulässig. – (Beifall bei der LINKEN) Es steht allerdings noch die Entscheidung des Bundesar- beitsgerichts aus. Wenn das Bundesarbeitsgericht das Wir haben gerade eine Kindergelderhöhung erlebt. aber bestätigt – das hoffe ich sehr –, dann stehen Sie, Herr Schäuble hat sich sehr aufgeregt, als ich gesagt Frau Bundeskanzlerin Merkel, in der Verantwortung, das habe, dass die Hartz-IV-empfangenden Eltern für ihre bundesweit zu überprüfen. Wenn man das Ganze bun- Kinder nicht einen Cent mehr bekommen. Er hat gesagt, desweit überprüfte und alle sittenwidrigen Verträge ab- sie bekämen einen anderen Kinderzuschlag. Man darf schaffte, dann hätten nicht nur die Belegschaften etwas aber nicht vergessen, dass dieser gar nicht erhöht worden davon, weil sie mehr verdienten, sondern dann nähmen ist. Wenn Sie das Kindergeld für alle erhöhen, warum er- unsere Sozialkassen 500 Millionen Euro mehr ein, die höhen Sie dann nicht wenigstens auch den Kinderzu- ihnen zuvor durch die völlig sittenwidrigen Verträge, die schlag für Hartz-IV-Empfänger? Dazu habe ich keine dort abgeschlossen wurden, entzogen worden sind. Erklärung gehört. Das Ganze liegt jetzt beim Bundesver- (Beifall bei der LINKEN) fassungsgericht. Ich hoffe und glaube, dass das Bundes- verfassungsgericht Ihnen bescheinigen wird, dass die In meiner Bürgerinnen- und Bürgersprechstunde war Regelsätze für Kinder von Hartz-IV-Empfängern zu ein Mann – es ist für Sie vielleicht interessant, sich das niedrig und daher verfassungswidrig sind. Sie sprechen anzuhören, Frau Merkel und Herr Westerwelle –, der von Chancengleichheit für Kinder, sorgen aber dafür, Hartz-IV-Empfänger ist. Bei ihm hat man jetzt eine Indi- dass so viele Kinder in Armut aufwachsen, dass von 1262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Gregor Gysi (A) Chancengleichheit nicht einmal im Ansatz die Rede sein Aber zurück zum Spendenthema von gestern. Herr (C) kann. Westerwelle, 1,1 Millionen Euro von Baron von Finck von Mövenpick im Zusammenhang mit dem ermäßigten (Beifall bei der LINKEN) Mehrwertsteuersatz bei Hotels – das werden Sie nicht Im Übrigen brauchen wir endlich die Rentenanglei- los. Zudem gab es 820 000 Euro für die CSU. chung zwischen Ost und West; dazu werde ich ein ande- res Mal etwas sagen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist immer noch besser als SED-Geld!) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben erklärt, dass Sie keine Zweiklassenmedizin wollen. Ich habe aber den Nun sagen Sie zu Recht: Auch andere Parteien kriegen Eindruck, Sie wollen eine Dreiklassenmedizin. Was or- Spenden. – Die Allianz ist ein tolles Beispiel. Die ganisieren Sie eigentlich? – Sie wollen eine Kopfpau- Riester-Rente wurde eingeführt. Seitdem bekommen schale. Ich bitte Sie! Sie wollen, dass die Lidl-Verkäufe- CDU, CSU, FDP, SPD und Grüne jährlich je 60 000 Euro rinnen und Herr Ackermann den gleichen Betrag in die von der Allianz. Ich habe mich sehr über das geärgert, Versicherung einzahlen. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, was Herr Schäuble gestern gesagt hat. Das will ich be- dass eine Lidl-Verkäuferin etwas weniger verdient als gründen. Er hat hier am Pult gesagt, dass er es als einen Herr Ackermann und dass man das deshalb anders orga- Skandal empfindet, dass wir das öffentlich machen, weil nisieren muss? wir damit die parlamentarische Demokratie gefährden. Das war seine Aussage. Ich sage Ihnen: Das ist eine Un- (Beifall bei der LINKEN) verschämtheit. Die Spenden und die Annahme der Spen- Außerdem haben Sie über Bildung gesprochen. Sie den gefährden die parlamentarische Demokratie, nicht haben Recht, bei Bildung geht es nicht nur um Geld. die Tatsache, dass man etwas dagegen tut. Aber uns fehlen jährlich 40 Milliarden Euro. Ihr Hin- (Beifall bei der LINKEN) weis, die Kommunen sollten darauf hoffen, dass Sie ih- nen jetzt das Geld wegnehmen, damit später etwas zu- Die Politik gerät doch immer stärker in den Ruf, kor- rückkommt, nutzt den Schülerinnen und Schülern rupt zu sein, käuflich zu sein. Wenn wir das nicht wol- absolut gar nichts. len, dann lassen Sie uns doch gemeinsam eine Verständi- Wenn Sie es mit der Chancengleichheit, von der Sie gung darüber herbeiführen, dass Spenden von größeren geredet haben, ernst meinen, muss endlich die soziale Unternehmen, von Versicherungen, von Banken und von Ausgrenzung bei der Bildung aufhören. Wer die Kinder, Wirtschaftsverbänden an die Parteien verboten sind. Lie- wie zum Beispiel in Bayern, nach der vierten Klasse ber würde ich die staatlichen Mittel erhöhen, trennt, der betreibt nicht anderes als soziale Ausgren- (B) (Zurufe von der FDP: Aha!) (D) zung. Wir kämpfen für Gemeinschaftsschulen, damit alle Kinder in Deutschland eine Chance auf eine gute als von Spenden abhängig zu werden, wie Sie es inzwi- Bildung haben. schen sind, und dann die Politik derjenigen zu betreiben, die spenden. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. [FDP]) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. – Ich weiß, dass Sie das nicht wollen. Sie wollen immer Jörg van Essen [FDP]) die Eliteförderung. Das Professorenkind soll ganz – Herr van Essen, wie soll das denn enden? Wollen wir schnell von dem Hartz-IV-Empfänger-Kind getrennt Verträge schließen? Dann schließen wir Verträge mit be- werden. Wir wollen das nicht. Wir wollen, dass auch das stimmten Unternehmen und bringen anschließend ent- Hartz-IV-Empfänger-Kind eine Chance bekommt. sprechende Anträge ein, und Sie machen dasselbe mit (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der anderen Unternehmen. Wo leben wir denn hier? Wir sind CDU/CSU: So ein Blödsinn!) die Repräsentanten des Volkes und nicht die irgendwel- cher Lobbyisten. Das muss deutlich werden. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, dass Sie al- les Notwendige gegen die Krise getan haben. Aber auch (Beifall bei der LINKEN) Selbstüberschätzung muss doch Grenzen haben. Herr Bundesminister Rösler, auch Sie pflegen dies, (Beifall bei der LINKEN) indem Sie einen Lobbyisten der privaten Krankenversi- cherungen einstellen, der Ihnen die Gesetze entwerfen Nicht eine einzige Regulierungsmaßnahme für die Fi- soll. Auch das kennen wir schon seit längerer Zeit. Was nanzmärkte ist eingeführt worden. Der größte Skandal soll denn eigentlich dabei herauskommen? Ich kenne in Ihrer Rede war, dass Sie gesagt haben, die Kosten der Gesetzentwürfe, die britische Anwaltskanzleien ge- Krise müssten von allen Steuerzahlerinnen und Steuer- schrieben haben. Sie wissen noch, das war in der letzten zahlern bezahlt werden, und dass Sie das gerecht finden. Legislaturperiode. Wo soll denn das Ganze enden? Wozu Die Krise wurde aber von den Managern der Banken und bezahlen wir eigentlich die Beamtinnen und Beamten, den verantwortlichen Politikern angerichtet. Und jetzt wenn sie nicht einmal mehr einen Gesetzentwurf schrei- sagen Sie der Lidl-Verkäuferin, sie solle dafür mit ihren ben dürfen? Ich sage Ihnen: So geht das nicht. Wenn wir Steuern bezahlen. Das finde ich grob ungerecht, und da- die Demokratie diesbezüglich stärken wollen, müssen her schlagen wir andere Lösungen vor. wir hier andere Regelungen treffen. Es geht nicht darum, (Beifall bei der LINKEN) dass der Einzelne annimmt oder nicht annimmt. Wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1263

Dr. Gregor Gysi (A) müssen das unterbinden. Anders werden wir nicht glaub- mit auseinandersetzen können. Kommen Sie nicht mit (C) würdig. dem Trick, zu sagen: Das erklären wir eine Woche nach der Wahl. – Das ist nicht hinnehmbar. Das ist indiskuta- (Beifall bei der LINKEN) bel. Nun haben Sie gesagt, die Steuersenkungen seien so Ich möchte wissen: Was haben Arbeitnehmerinnen wichtig und würden so viel bringen. Sie treiben die und Arbeitnehmer, was haben Hartz-IV-Empfängerinnen Kommunen in die Pleite, das stimmt. Sie schaden insge- und Hartz-IV-Empfänger, was haben Rentnerinnen und samt der Binnenwirtschaft, weil Ihre Vorstellungen, be- Rentner zu erwarten von den Plänen, die Sie schmieden, stimmte Steuern zu senken, dazu führen, dass Sie genau um die Neuverschuldung, die Sie mit Ihrem sogenannten diejenigen schwächen, auf die wir dringend angewiesen Wachstumsbeschleunigungsgesetz gerade vergrößert ha- sind, wenn wir zum Beispiel mehr Vollbeschäftigung or - ben, abzubauen? Die anderen werden es bezahlen müs- ganisieren wollen. sen. Lassen Sie mich zu einem Beispiel kommen, dem (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Stufentarif. Das ist eine Lieblingsidee der FDP. 10 Pro- FDP: Eben nicht!) zent, 25 Prozent und 35 Prozent Steuern je nach Höhe des Einkommens, das ist Ihre Vorstellung. Ich stelle fest: Stichwort „Steuergerechtigkeit“: Wir können gerne Für die unteren Steuerzahlerinnen und Steuerzahler be- mal über Steuergerechtigkeit diskutieren. Wir sind zum deutete das eine Einsparung von 1 Prozent, für die Top- Beispiel dafür, dass diejenigen, die bis zu 6 000 Euro im verdiener von 16,8 Prozent. Finden Sie das nicht ein biss- Monat verdienen, in Zukunft weniger Steuern zahlen als chen ungerecht? Darf ich mal daran erinnern, dass der heute. Diejenigen, die mehr verdienen, sollen aber end- Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer unter dem lich mehr zahlen. Auch das gehört nämlich zur Steuerge- Christdemokraten Kohl bei 53 Prozent lag, dass er vom rechtigkeit. Sozialdemokraten Schröder auf 42 Prozent gesenkt und von der Großen Koalition für die Spitzeneinkommen (Beifall bei der LINKEN) wieder auf 45 Prozent erhöht wurde? Und jetzt wollen Wir haben Ihnen gesagt: Wir wollen eine Börsenumsatz- Sie auf 35 Prozent runter? Sie können den Besserverdie- steuer, auch zur Eindämmung der Spekulationen. Wir nenden gleich sagen, sie sollten überhaupt keine Steuern haben Ihnen gesagt: Wir wollen endlich eine Vermögen- bezahlen. Wie wollen Sie denn auf dieser Basis jemals steuer als Millionärsabgabe. Was ist denn daran so Steuergerechtigkeit herstellen? Das ist doch überhaupt schlimm, dass jemand, der mehr als1 Million Euro Ver- nicht mehr nachzuempfinden. mögen hat, darauf eine Steuer zahlt? Warum verweigern (B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sie sich denn? Mein Gott, es gibt sogar eine Gruppe von (D) neten der SPD) Millionären, die fordern, endlich mal Steuern bezahlen zu können. Richten Sie sich nach denen und nicht nach Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben von dem größten den anderen! Defizit in Höhe von 86 Milliarden Euro gesprochen. Das verstößt natürlich gegen die Maastricht-Kriterien. Auch (Beifall bei der LINKEN) mit der künftigen Schuldenbremse, die Sie fälschlicher- Wir haben gesagt: Wir wollen eine höhere Erbschaft- weise beschlossen haben, hat das nichts zu tun. steuer bei großen Erbschaften und natürlich auch eine Nun kommt eine Sache, die wir Ihnen nicht durchge- gerechte Körperschaftsteuer. Wie ich schon gesagt hen lassen können. Sie sagen, was Sie vorhaben, könn- habe, ist trotz der Finanzkrise so gut wie nichts passiert. ten Sie leider erst nach der Steuerschätzung im Mai Der amerikanische Präsident hat eine Idee, die ich Ihnen, 2010 erklären. Für wie doof halten Sie denn die Leute? Frau Bundeskanzlerin, einmal erläutern muss. Ich weiß Die merken doch alle, dass Sie ihnen erst nach der nicht, wann Sie das letzte Mal mit ihm telefoniert haben. NRW-Wahl sagen werden, was auf sie zukommt. Das ist Ich habe von seiner Idee gelesen. Sie scheinen sich da- ein Wahlbetrug mit Ansage. Das ist überhaupt nicht hin- mit zu wenig zu beschäftigen. nehmbar. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE (Beifall bei der LINKEN) LINKE]) Alle Kernzahlen sind Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, doch Was hat Obama gemacht? Obama hat gesagt, er wolle bekannt. Sie müssen doch keine Steuerschätzung abwar- von den Banken etwa 120 Milliarden Dollar kassieren. ten, die im Übrigen sowieso noch nie gestimmt hat. Sie Er wolle jeden Cent zurück, den die Banken dem ameri- können sich darauf gar nicht verlassen. Sie haben doch kanischen Volk direkt oder indirekt schuldeten. „Direkt jetzt alle Kernzahlen, um sagen zu können, was Sie ei- oder indirekt“, das ist sehr spannend. Eine solche Ab- gentlich vorhaben. Immerhin, Herr Schäuble hat es an- gabe, nämlich die „Finanzkrisenverantwortungsgebühr“, gedeutet. Er sprach davon, dass kein Politikbereich aus- fordern wir, und zwar deshalb, weil die Banken inzwi- genommen sei, dass es keine Besitzstandswahrung gebe, schen wieder riesige Bonuszahlungen leisten; dagegen dass Einschnitte in Leistungsgesetze zu erwarten seien. haben Sie nichts unternommen. Die Deutsche Bank etwa Welche denn? Warum sagen Sie das den Leuten nicht? hat darüber hinaus einen Gewinn von 10 Milliarden Ich empfinde das als höchst unehrlich. Seien Sie so offen Euro angekündigt. Das ist doch der Gipfel! Wir zahlen und sagen Sie jetzt, was Sie vorhaben, damit wir uns im hier täglich riesige Summen, die Banken erwirtschaften Rahmen der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen da- riesige Gewinne, leisten Bonuszahlungen, und Sie zie- 1264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Gregor Gysi (A) hen die Banken mit keiner einzigen Steuer zur Bezah- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) lung des Ganzen heran. der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Dafür haben wir auch einen klaren Wählerauftrag erhal- ten. Die Menschen wollen, dass sich etwas ändert. Sie Um es klar zu sagen: Bei den direkten und indirekten wollen vor allen Dingen ein neues Verhältnis des Staates Zahlungen geht es, lieber Herr Kauder, um die Aufwen- zu seinen Bürgern. dungen der Steuerzahler zur Bankenrettung. Es geht um den Ausgleich für Steuermindereinnahmen; durch Ab- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schreibungen ihrer Verluste haben die Banken nämlich NEN]: Die reichen Bürger dürfen sich den deutlich weniger Steuern gezahlt. Es geht darum, dass Staat kaufen!) wir für die Rettung der HRE 12,8 Milliarden Euro an Forderungen gesichert haben. Wenn wir diese Forde- Dabei muss man insbesondere eines zur Kenntnis neh- rungen nicht mit staatlichen Mitteln gesichert hätten, men, Herr Trittin: Die Bürgerinnen und Bürger wissen dann wären sie abgeschrieben worden. Damit wären sehr genau: Nicht der Staat finanziert seine Bürger, wieder Steuerverluste verbunden gewesen. Es geht also (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auch – ich muss das ganz deutlich sagen – um indirekte Sondern der Herr Finck die FDP!) Verluste. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika den Mumm hat, seine Banken zur Kasse zu sondern die Bürgerinnen und Bürger finanzieren mit den bitten, dann erklären Sie mir, warum Ihnen hier in Erträgen aus ihrer harten Arbeit den Staat. So verhält es Deutschland dieser Mumm fehlt. sich. Deshalb wollen wir, dass in diesem Land endlich wieder fair mit den Bürgern umgegangen wird. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir fordern doch nur genau das, was dort geschieht. der CDU/CSU) Im Übrigen planen auch Frankreich und Großbritan- Aus genau diesem Grunde haben wir das Wachs- nien die Einführung einer solchen Abgabe; Sie nicht, tumsbeschleunigungsgesetz gemacht. Wir haben damit Frau Merkel. Ich bitte, dass Sie den Bürgerinnen und einen Impuls für Wachstum und Beschäftigung gesetzt, Bürgern erklären, warum Sie immer nur die Banken und wir haben eine Entlastung vorgesehen, und zwar schonen, immer nur die Hoteliers schonen, immer nur eine Entlastung vor allen Dingen für die unteren Ein- bestimmte Lobbygruppen schonen, während die anderen kommensgruppen, insbesondere für die Familien mit – bis hin zu den Verkäuferinnen und Verkäufern, den niedrigem Einkommen. Das zeigt sich allein daran, dass Rentnerinnen und Rentnern – das alles bezahlen müssen. (B) wir für die Erhöhung des Kinderfreibetrages 400 Millio- (D) Ich finde das unerträglich. nen Euro aufwenden, für das Kindergeld jedoch 4,2 Mil- Eines werden Sie verstehen, Frau Bundeskanzlerin – wir liarden Euro. haben hin und her diskutiert; es bleibt dabei –: Wir kön- (Zurufe von der SPD) nen Ihrem Etat leider nicht zustimmen. Das sind die Realitäten. Das zeigt schon, dass diejenigen (Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Volker profitieren, die wenig Geld haben, nämlich Familien mit Kauder [CDU/CSU]: Oh, das ist aber eine Kindern in unteren Einkommensschichten. Überraschung! Überraschung am Morgen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger Nun, Herr Gysi, unterhalten wir uns einmal über die für die FDP-Fraktion. Wirklichkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Es interessiert Sie wahrscheinlich nicht, aber ich werde es Ihnen trotzdem vortragen. Schauen wir uns einmal Birgit Homburger (FDP): beispielhaft an, meine Damen und Herren, was das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Wachstumsbeschleunigungsgesetz für eine alleinste- wollen den Wohlstand erhalten, Perspektiven eröffnen hende Krankenpflegerin mit einem Gehalt von ungefähr und Zukunftsfähigkeit schaffen. Dabei setzen wir nicht 2 300 Euro brutto im Monat bedeutet. zuerst auf den Staat, sondern vor allen Dingen auf die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Deshalb wol- (Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Wo gibt es len wir die Rahmenbedingungen schaffen, durch die es die?) ermöglicht wird, dass die Potenziale ausgeschöpft wer- Sie hat 2010 deutlich weniger Steuern zu zahlen und da- den, die in dieser Gesellschaft stecken. Wir wollen den durch 360 Euro mehr. Oder nehmen Sie den Elektroge- Ideenreichtum und die Kreativität der Menschen anre- sellen, gen. Wir wollen die Leistungsbereitschaft fördern. Jeder in diesem Land soll im Rahmen seiner Möglichkeiten (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verantwortung übernehmen dürfen und übernehmen NEN]: Nehmen Sie doch mal die Hartz-IV- können. Empfänger! 1,8 Millionen Kinder!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1265

Birgit Homburger (A) mehrere Berufsjahre, verheiratet, zwei Kinder, ungefähr Schauen wir uns einmal die Einnahmesituation an: (C) 25 000 Euro Einkommen im Jahr – das sind realistische Die staatlichen Einnahmen sind in den letzten Jahren ge- Zahlen –: Dieser musste bisher Steuern bezahlen, er stiegen, die Verschuldung ebenso. In den elf Jahren Re- zahlt jetzt keine Steuern mehr. gierungszeit der SPD haben Sie es geschafft, 300 Milliar- den Euro zusätzliche neue Schulden zu machen, ( [SPD]: Und Gebühren?) (Zurufe von der SPD) Er hat 536 Euro im Jahr mehr, das heißt ungefähr 45 Euro mehr im Monat. und Ihre Planung sah vor, weitere 350 Milliarden Euro Schulden zu machen – und das, obwohl die Staatsein- (Zurufe von der SPD) nahmen weiter steigen. – Jetzt schreien Sie nicht dazwischen! Das mag für Sie (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gehen Sie doch wenig sein, weil Sie nur die Realität hier im Bundestag ins Hotel!) kennen. Aber für diese Familien ist das viel Geld. Diese Realität müssen Sie endlich mal zur Kenntnis nehmen. Das zeigt dreierlei: Erstens. In konjunkturell guten Zei- ten wurde nicht ausreichend gespart. Das lag in Ihrer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- Verantwortung, meine Damen und Herren. rufe des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) (Beifall bei der FDP – Dr. Frank-Walter – Herr Kelber, es nützt Ihnen nichts, wenn Sie nur Steinmeier [SPD]: Aber das machen Sie jetzt? schreien; damit haben Sie noch kein Konzept. Wunderbar!) Ich sage Ihnen ganz deutlich: All das, was diese Zweitens. Der Staat hat kein Einnahmeproblem, er hat christlich-liberale Koalition jetzt macht, stand in unseren ein Ausgabenproblem. Wahlprogrammen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der SPD: Dafür haben Sie aber der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Thomas Geld bekommen!) Oppermann [SPD]) All das war lange vor dem 27. September 2009 klar. Wir Drittens. Der Glaube, man müsse nur mehr Einnah- haben dann einen klaren Wählerauftrag erhalten, nicht men haben, um den Haushalt in Ordnung bringen zu trotz, sondern wegen unseres klaren politischen Kurses. können, hat sich nicht bewahrheitet. Deswegen werden Genau den werden wir jetzt auch gemeinsam umsetzen. wir einen anderen Weg gehen, nämlich den eines fairen Umgangs mit den Bürgern. Wir werden Steuerentlastun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen vornehmen und damit auch die Wirtschaft wieder (B) (D) der CDU/CSU – Anton Schaaf [SPD]: Gna- ankurbeln. denlos! – Thomas Oppermann [SPD]: Koste es, was es wolle!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Dann lesen wir allenthalben, dass Herr Gabriel, der Und das finanzieren Sie alles auf Pump! Sie sich da hinten freundlich unterhält, haben doch gar kein Geld dafür!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Auch das haben wir gerade klargestellt. NEN]: Ist ja sein Recht! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Soll er sich Entsprechend dem Koalitionsvertrag halten wir an der unfreundlich unterhalten?) großen Steuerstrukturreform fest. Wir wollen auch eine weitere Entlastungswirkung erreichen, und zwar vor Wählerbetrug warnt. Herr Gabriel, mich wundert das durch eine Verbesserung der Leistungsgerechtigkeit und nicht. Schauen wir uns einmal an, was die SPD gemacht durch die Vereinfachung des Steuerrechts. hat: Vor der Wahl 2002 haben Sie gesagt, Sie wollten die Steuern nicht erhöhen. Nach der Wahl haben Sie sie na- (Beifall des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] türlich erhöht. Vor der Wahl 2005 haben Sie ganz klar [SPD]) gesagt, niemals würden Sie einer Mehrwertsteuererhö- Wir wollen, dass ein Arbeitnehmer endlich wieder ver- hung zustimmen. Selbstverständlich wurde 2005 die steht, was der Staat von ihm will, und dass er beurteilen Mehrwertsteuer erhöht, und es folgten weitere 19 Steuer- kann, ob das auch fair ist. Ich sage Ihnen: Wenn ein Ar- erhöhungen. Das ist die Realität. Wenn also jemand in beitnehmer mit 30 000 Euro brutto im Jahr von jedem diesem Land Erfahrung mit Wählerbetrug hat, dann sind zusätzlich verdienten Euro 52 Cent abgeben muss, dann es Sie, Herr Gabriel, und die SPD. hat das nichts mehr mit Fairness im Umgang mit den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bürgern zu tun, sondern dann ist das Abzocke. Das de- der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: motiviert die Leistungsbereiten, und deshalb werden wir Warum klatscht die Union da gar nicht? – das im Sinne der Mitte dieser Gesellschaft beenden. Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Union bleibt stumm! – Gegenruf des Abg. der CDU/CSU) Volker Kauder [CDU/CSU]: Überhaupt nicht!) Wir wollen damit Impulse geben, um die Krise zu Ich sage Ihnen: Es ticken nicht alle so wie Sie. Wir wer- überwinden, und Rahmenbedingungen so setzen, dass den weiter Wort halten. sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze erhalten und 1266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Birgit Homburger (A) neue geschaffen werden können. Wir wollen einen Auf- samtkonzept vorlegen, und zwar dann, wenn es (C) bruch für Deutschland. vorgelegt werden muss, nämlich zusammen mit dem Haushalt 2011, (Zurufe von der SPD: Oh!) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Dazu ist es auch nötig, dass Einsparungen vorgenommen GRÜNEN]: Blablabla!) werden. und der wird wie immer planmäßig im September dieses (Thomas Oppermann [SPD]: Ja, wo denn?) Jahres in diesem Hohen Hause debattiert werden. Das haben wir immer gesagt. Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung gehen bei uns Hand in Hand. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: (Thomas Oppermann [SPD]: Dann sagen Sie Nur heiße Luft! – Britta Haßelmann [BÜND- doch mal, wo!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein einziges Bei- spiel!) Fangen wir beim Haushalt 2010 an. Vielleicht hätten Sie sich den einmal anschauen sollen, bevor Sie an die- – Es ist schon bemerkenswert, dass vonseiten der Oppo- ser Debatte teilnehmen, meine Damen und Herren. Im sition die ganze Zeit hineingebrüllt wird. Ich habe von Haushalt 2010 ist es nämlich gelungen, mit einer gerin- Ihnen noch kein einziges Konzept gesehen. geren Neuverschuldung, (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jürgen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Durch unsere Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie Wachstumspolitik!) man in den Wald reinruft, so schallt es wieder als noch mit einem SPD-Finanzminister unter der alten raus, Frau Homburger!) Regierung beschlossen, auszukommen, obwohl wir die – Das geht an die Adresse der SPD, Herr Trittin. Ich Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen zum glaube nicht, dass Sie die gerade verteidigen wollten. 1. Januar dieses Jahres entlastet haben. Das zeigt: Es geht, wenn man will. (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Doch, der ist vernünftig!) (Beifall bei der FDP) – Das wird sich noch zeigen, Herr Steinmeier. – Es geht Nun zum Haushalt 2011. Natürlich werden wir die an die Adresse der SPD, weil ich es bemerkenswert Schuldengrenze einhalten. finde, wie Sie sich neu aufstellen. Von Ihrer Klausurta- (B) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha! Wie gung wurde berichtet, dass Ihr Parteivorsitzender erklärt (D) denn?) habe, der Satz „Erst das Land, dann die Partei“ habe in dieser Form für die SPD an Gültigkeit verloren. Das ist eine pure Selbstverständlichkeit. Wir werden trotzdem alles daransetzen, im Haushalt weitere Entlas- (Zuruf von der FDP: Skandalös!) tungsspielräume für die Bürgerinnen und Bürger zu erar- Das ist Ihre Antwort auf die Krise in diesem Land. Das beiten. ist ein Offenbarungseid für eine einst so stolze sozial- (Thomas Oppermann [SPD]: Sagen Sie mal, demokratische Partei. Sie sind von den Wählern zu wo Sie sparen wollen!) Recht in die Opposition geschickt worden. Dass das harte Arbeit ist, wissen wir. Deshalb werden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wir alle Subventionen auf den Prüfstand stellen. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen heißt es: „Erst die Lobby, dann die (Thomas Oppermann [SPD]: Hotel- Partei“, oder wie? – Thomas Oppermann subvention!) [SPD]: Erst Mövenpick und dann das Land!) Deshalb werden wir dafür sorgen, dass der Staat endlich Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden auch die effizienter arbeitet. Wenn ich mir die strukturellen Defi- Vereinfachung des Steuersystems vorantreiben. zite in diesem Haushalt anschaue, stelle ich fest, dass wir hier erhebliche Einsparpotenziale haben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei Ihnen läuft ja alles wie geschmiert!) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?) Wir haben in unserem Koalitionsvertrag bereits 19 konkrete Maßnahmen aufgeschrieben. Das kann man Diese Einsparpotenziale werden wir heben und dem nachlesen; das brauche ich jetzt nicht vorzulesen. Wir Haushalt nachhaltig zur Verfügung stellen. sind ja nicht hier, um Ihnen eine Vorlesung zu geben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir gehen davon aus, dass Sie lesen können. Wir können der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Ihnen gerne ein Exemplar des Koalitionsvertrages DIE GRÜNEN]: Wo denn? Los, Beispiele!) schenken, wenn Sie noch keines haben. Außerdem werden wir den Bürokratieabbau voran- (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nein! treiben; denn das ist ein Konjunkturprogramm zum Null- Nein! Nein! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ tarif. Auch das wird helfen. Wir werden dafür ein Ge- DIE GRÜNEN]: Wir nehmen keine Spenden!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1267

Birgit Homburger (A) Ich sage Ihnen sehr deutlich – auch das steht im Ko- Da ist allenfalls bei der Umsetzung an der einen oder an- (C) alitionsvertrag –: Wir werden das komplizierte Mehr- deren Stelle etwas zu optimieren. wertsteuersystem, das undurchschaubar ist, Wenn ich mir die Reaktion der SPD anschaue, dann (Beifall bei Abgeordneten der SPD) muss ich feststellen, dass es völlig überzogene Verbalat- insgesamt überarbeiten. tacken gab. Es gab den Versuch, von Ihrer Konzeptions- losigkeit und von Ihrer desaströsen Situation abzulen- (Zuruf des Abg. Anton Schaaf [SPD]) ken. Wir wollen, dass zukünftig das Steuersystem mit dem Sozialsystem besser verknüpft wird. Deswegen Dazu wird eine Kommission eingesetzt; denn das Mehr- werden wir Änderungen bei Hartz IV vornehmen; es wertsteuersystem muss vernünftig vom Kopf auf die gibt sehr wohl Änderungsbedarf. Ein Punkt ist, dass wir Füße gestellt werden, und zwar in der kompletten Breite. die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessern werden, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weil wir der Meinung sind, dass derjenige, der arbeitet, NEN]: Aha! Aber erst einmal der Hotellerie mehr haben soll als derjenige, der nicht arbeitet. etwas schenken!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dafür braucht man Zeit und eine vernünftige Vorberei- der CDU/CSU) tung. Sie haben das in Ihrer Regierungszeit nicht getan. Wir werden uns dieser Aufgabe jetzt annehmen. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? In der Gesundheitspolitik hat uns nicht nur ihren wiedergefundenen Dienstwagen hinterlassen, Birgit Homburger (FDP): sondern auch einen völlig maroden Gesundheitsfonds. Ich möchte den Gedanken erst noch zu Ende führen, Herr Präsident. (Zurufe von der SPD: Oh!) Wir werden auch beim Schonvermögen etwas än- Der von der SPD durchgesetzte Gesundheitsfonds hat dern. Wir werden das Schonvermögen von 250 auf keine Stabilität geliefert. 750 Euro pro Lebensjahr erhöhen, weil wir der Meinung (Beifall bei Abgeordneten der FDP) sind, dass jemand, der das getan hat, was wir ihm die ganze Zeit gepredigt haben, nämlich ein Leben lang vor- Für 2010, also bereits nach einem Jahr, haben wir einen zusorgen, und der dann unverschuldet in Hartz IV gerät, Fehlbetrag von 8 Milliarden Euro. besser gestellt sein muss als derjenige, der in seinem Le- (B) (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) ben nicht vorgesorgt hat. (D) Die Hälfte muss jetzt durch Steuerzuschüsse ausgegli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen werden. der CDU/CSU) Wir wollen ein solidarisches Finanzierungssystem, Dazu fällt der SPD jetzt nach elf Jahren auf der Regie- das nicht an der Beitragsbemessungsgrenze endet. Wir rungsbank ein, dass sie das eigentlich auch gern gemacht wollen den Einstieg in einkommensunabhängige Arbeit- hätte. Sie sind herzlich eingeladen, uns bei diesen Ände- nehmerbeiträge und einen Sozialausgleich durch das rungen zu unterstützen. Steuersystem, weil wir davon überzeugt sind, dass es ge- rechter ist, dass es die Arbeit nicht immer teurer macht (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie ha- und dass es vor allen Dingen zukunftsfest ist. Das wer- ben doch von unserem Gesetzentwurf abge- den wir im Gesundheitswesen umsetzen. schrieben!) (Beifall bei der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Die christlich-liberale Koalition wird die Fehler Ihrer Wollen Sie dazu die Steuern erhöhen?) Hartz-IV-Reformen zum Wohle der Menschen in diesem Land endlich beseitigen. Ich möchte nun auf das zurückkommen, was Herr Gysi hier über Hartz IV gesagt hat, und halte zunächst (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einmal fest, dass das Sozialste, was man einem Men- der CDU/CSU) schen geben kann, ein Arbeitsplatz ist. (Dr. [DIE LINKE]: Von Präsident Dr. Norbert Lammert: dem er leben kann!) Frau Kollegin Homburger, darf der Kollege Beck Ih- nen nun eine Zwischenfrage stellen? Genau das wollen wir erreichen. Wir wollen, dass wie- der mehr Menschen Chancen auf sozialversicherungs- Birgit Homburger (FDP): pflichtige Beschäftigung in Deutschland haben. Einigen, die sich in den letzten Tagen an Diskussionen über Bitte. Hartz IV beteiligt haben, muss man sagen, dass man mit Pauschalierungen der Situation der Menschen nicht ge- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): recht wird. Aus unserer Sicht gibt es – das ist die Hal- Frau Kollegin, Sie haben gerade die Solidarität im tung der kompletten Koalition – keinen Bedarf an ge- Krankenversicherungssystem angesprochen. Ich habe setzlichen Änderungen bei den Zumutbarkeitskriterien. dazu eine Frage an Sie: Trifft es eigentlich zu, dass die 1268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Volker Beck (Köln) (A) Mitglieder der FDP-Fraktion Sonderkonditionen bei der maßnahme. Denn wir wollen, dass die Menschen, die Ju- (C) DKV angeboten bekommen? gendlichen und die Kinder in diesem Lande tatsächlich Chancen haben. Dies könnten wir vonseiten der Bundes- Birgit Homburger (FDP): ebene für das ganze Bundesgebiet anstoßen. Sehr verehrter Herr Beck, ich weiß nicht, wo es Son- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- derkonditionen gibt. Fakt ist, dass jeder das Recht hat, NEN]: Deshalb ist das Betreuungsgeld so inte- sich selbst zu versichern, und dass wir wollen, dass alle ressant? – [Spandau] [SPD]: Was in diesem Lande das Recht bekommen, ihre Kranken- sagen Sie zum Betreuungsgeld?) kasse frei zu wählen. Das haben Sie in der Vergangen- heit verhindert. Wir wollen, dass die Menschen in die- Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden im Rahmen sem Land, die mehr entscheiden können, als Sie ihnen des Prinzips „Fordern und Fördern“ nicht nur die Kinder zutrauen, fördern, sondern müssen auch die Eltern in dieser Ge- sellschaft fordern. Auch die Eltern müssen in diesem Zu- (Zuruf von der SPD: Was ist die Antwort?) sammenhang ihre Verantwortung wahrnehmen. Anders endlich die Möglichkeit erhalten, selbst zu entscheiden, wird das nicht machbar sein. wo sie sich versichern, in welchem Umfang sie sich ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sichern und welche Zusatzversicherungen sie abschlie- ßen. Dazu sind die Menschen selbst in der Lage, und ge- nau das werden wir auch auf den Weg bringen, Herr Präsident Dr. Norbert Lammert: Beck. Frau Kollegin Homburger, der Kollege Heil würde gerne eine Zwischenfrage stellen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, das bestreiten Birgit Homburger (FDP): Sie nicht? – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ Ja, bitte. DIE GRÜNEN]: Sie haben es nicht bestritten!) Wir werden dieses Land zukunftsfest machen. Des- Hubertus Heil (Peine) (SPD): halb werden wir 12 Milliarden Euro zusätzlich in Bil- Frau Kollegin Homburger, können Sie uns in dem Zu- dung und Forschung investieren. Es ist uns ein ganz sammenhang, dass Sie Kinder früher und individueller zentrales Anliegen, dass zu Beginn von Bildungskarrie- fördern wollen, einmal erklären, warum es eine gute Idee ren von Kindern investiert wird. Wir wollen Chancen- sein soll, eine Prämie an die Eltern eines, sagen wir mal, (B) gleichheit beim Start und nicht Ergebnisgleichheit am schlecht integrierten Kindes in Berlin-Neukölln zu zah- (D) Schluss. Wir wollen die Potenziale erschließen, die es len, damit das Kind bewusst nicht in die Kinderbetreu- unabhängig von Herkunft, Schicht oder Geschlecht eines ung geht, wo es möglicherweise die Chance hätte, vor Kindes gibt. Kein Kind darf in diesem Bildungssystem der Schule die deutsche Sprache zu lernen? Warum wol- verloren gehen. Das ist das Ziel. Deshalb werden wir uns len Sie als Liberale dieses Betreuungsgeld mit einfüh- von Bundesseite engagieren. Wir werden ein Stipendien- ren, das alle Experten ablehnen, wenn Sie das wollen, wesen aufbauen. was Sie gerade gesagt haben, nämlich Aufstieg durch Bildung? (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und Studienge- bühren einführen!) (Zuruf von der FDP: Es gibt auch gute Eltern! – Beifall bei Abgeordneten der FDP Wir werden genauso Impulse setzen und bei den Län- und der CDU/CSU) dern anregen, dass mehr in frühkindliche Bildung inves- tiert wird, Birgit Homburger (FDP): (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und in das Be- Zum Ersten. Es gilt auch hier, was ich vorhin zum treuungsgeld!) Thema Hartz IV gesagt habe: Mit Pauschalierungen weil das der Schlüssel für soziale Gerechtigkeit ist. werden Sie den Menschen in diesem Lande nicht ge- recht. Diejenigen, die sich verantwortungsvoll verhalten, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der haben es nicht verdient, von Ihnen so behandelt zu wer- CDU/CSU) den. Wir wollen Aufstiegschancen durch Bildung. Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ist das Ziel. Deswegen müssen wir zur Kenntnis neh- Thomas Oppermann [SPD]: Antworten Sie men, dass es Familien gibt, die ihrer Verantwortung ge- doch mal auf die Frage! Das war eine konkrete recht werden, und dass es andere gibt, die das offensicht- Frage!) lich nicht tun und deren Kinder, wenn sie in die Schule kommen, nicht in der Lage sind, lesen und schreiben zu Zum Zweiten. Wir werden – das habe ich gerade er- lernen. Diese Defizite müssen beseitigt werden, bei- läutert – 12 Milliarden Euro zusätzlich in dieser Legisla- spielsweise dadurch, dass im vierten Lebensjahr eine turperiode in Bildung und Forschung investieren. Das Sprachstandsdiagnose erhoben wird; in Baden-Württem- bedeutet, dass wir für die Bildungschancen der jungen berg ist das bereits flächendeckend der Fall. Wenn dann Generation deutlich mehr tun, als Sie es in Ihrer Regie- Förderbedarf erkennbar ist, folgt zwingend eine Förder- rungszeit getan haben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1269

Birgit Homburger (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Nun komme ich zu der Frage, die Sie vorhin aufge- (C) Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich habe nach worfen haben: Brauchen wir einen starken Staat, oder dem Betreuungsgeld gefragt!) brauchen wir einen schwachen Staat? Natürlich brau- chen wir einen starken Staat. – Stellen wir doch einmal fest: Sie stellen die Fragen, ich gebe die Antwort. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen ihn doch schwach!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unsere Definition eines starken Staates ist, dass er nur Zum Thema Betreuungsgeld, lieber Kollege, hat die die Gesetze macht, die er wirklich braucht, und dann da- Frau Bundeskanzlerin gerade das Nötige gesagt. für sorgt, dass die existierenden Gesetze durchgesetzt werden. Das ist ein starker Staat. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Was denn?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Man wird ein Konzept erarbeiten. Im Koalitionsvertrag Genau das werden wir tun. Wir werden die Aufsicht, steht im Übrigen auch, dass das gegebenenfalls ein Gut- die bisher zersplittert war, bei der unabhängigen Deut- scheinmodell werden kann. schen Bundesbank zusammenführen. Das ist ein Fort- schritt, weil wir dann endlich eine Instanz haben, die da- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) für zuständig ist, den Banken auf die Finger zu schauen. So wird das Problem, das Sie beschrieben haben, gar ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht erst entstehen. Deswegen können Sie ganz gelas- Der Finger reicht nicht!) sen und sicher sein: Wir werden auch an diesem Punkt in dieser Koalition eine gute Lösung finden, damit es für Es ist wichtig, dass der Finanzmarkt sauber kontrolliert mehr Menschen in diesem Land mehr Chancen gibt. wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wir brauchen auch neue Regeln. Ich sage in aller Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Schauen wir Deutlichkeit: Dass es im Bereich Finanzmarkt Probleme mal!) gab, lag auch daran, dass diejenigen, die Verantwortung hatten, nicht das Risiko getragen haben. Wir haben uns Ich war gerade beim Thema Innovation und For- als FDP immer dafür eingesetzt – ich weiß, dass CDU/ schung. An dieser Stelle möchte ich unterstreichen, dass CSU das genauso sehen –, dass es einen unmittelbaren das Energiekonzept für uns von besonderer Bedeutung Zusammenhang zwischen Risiko und Verantwortung ist, dass wir das Zeitalter erneuerbarer Energien errei- (B) gibt. Den Fall haben wir beispielsweise bei Familienun- (D) chen wollen und deshalb im Bereich Technologiepolitik ternehmen, wo ein Unternehmer jeden Tag mit seiner etwas tun und in Technologien investieren werden, bei- Existenz und der Existenz seiner ganzen Familie dafür spielsweise im Bereich der Speichertechnologie, was Sie steht, dass etwas funktioniert. Genau das müssen wir in der Forschungspolitik über lange Zeit verhindert ha- auch im Finanzmarktbereich schaffen, nämlich dass wir ben, insbesondere unter Rot-Grün. Risiko und Verantwortung wieder zusammenbringen, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass die Verantwortung von denjenigen übernommen NEN]: Erreicht den Hof mit Müh und Not; in werden muss, die die Entscheidungsmöglichkeiten ha- seinen Armen das Kind war tot!) ben. Das ist das Ziel. Wir brauchen ein verantwortliches Handeln in diesem Bereich. Das wird man nur dadurch Wir werden auch darauf setzen, dass es eine größere schaffen, dass wir wieder die Übernahme von Risiken Energieeffizienz, dezentrale Energieerzeugung und vir- einfordern. tuelle Kraftwerke gibt. Wir brauchen einen vernünftigen Energiemix, einen tragfähigen Energiemix mit einem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten höheren Anteil erneuerbarer Energien; erstens aus Kli- der CDU/CSU) magründen und zweitens, weil das großartige Ex- portchancen für die deutsche Wirtschaft eröffnet. Ein letzter Punkt in diesem Zusammenhang. Ich bin der Auffassung, dass bei den Banken, die damals zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Recht mit einem Bankenrettungsschirm versehen wor- der CDU/CSU) den sind, richtig gehandelt wurde. Das war zum damali- gen Zeitpunkt notwendig. Wir waren damals in der Op- Diese Koalition will Deutschland erneuern. Deswe- position und haben trotzdem erkannt, dass die Situation gen werden wir auch Änderungen auf dem Finanzmarkt schwierig war und es notwendig war, dass gehandelt herbeiführen. wurde. Wenn ich die getroffenen Entscheidungen be- (Klaus Hagemann [SPD]: Aha!) trachte und die Tatsache berücksichtige, dass wir im Rückblick wissen, was alles passiert ist und was offen- Wir haben eine Finanzmarktkrise erlebt, die mehrere sichtlich an Fehlern gemacht worden ist, dann bin ich Aspekte deutlich gemacht hat. Es gab bisher schon Re- der Meinung, dass auch die Frage einer zivilrechtlichen geln, aber wir haben feststellen müssen, dass diese Re- Haftung der Verantwortlichen geprüft werden muss. geln an vielen Stellen leider nicht eingehalten wurden. Das hat auch etwas damit zu tun, dass diese Regeln nicht (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richtig überwacht werden. NEN]: Ach, auf einmal!) 1270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Birgit Homburger (A) Das sind wir den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in stehen bzw. wie sie erhalten werden können. Aber dazu (C) diesem Land schuldig. Genau das werden die Verant- haben Sie faktisch gar nichts gesagt. wortlichen an den Stellen, an denen wir Einfluss haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch tun. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Ich hatte angesichts der Art Ihrer Rede das Gefühl, dass Alle Gesetzesänderungen, die zur Stärkung der Verant- man das Redepult für Sie demnächst in die Kuppel oder wortung nötig sind, alle Gesetze, die in elf Jahren sozial- gar in die Wolken hängen könnte. So ungefähr war Ihr demokratischer Finanzminister nicht auf den Weg ge- Redebeitrag, Frau Merkel. bracht worden sind, werden dank der neuen christlich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – liberalen Koalition jetzt kommen. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo waren Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten denn heute Morgen? – [CDU/ der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier CSU]: „Frau Dr. Merkel“! So viel Zeit muss [SPD]: Das befürchten wir auch!) sein!) Diese Koalition hat ein anderes Staatsverständnis. Das Ganze wurde gekrönt von dem üblichen Kla- mauk eines Guido Westerwelle, der erst einmal der (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!) Habsburger k. u. k. Schule entsprechend den Arm um Wir setzen zuerst auf den Bürger und dann auf den Staat. die Kanzlerin legen muss, damit ihn auch jeder fotogra- fiert. Herr Merkel – – (Beifall bei der FDP – Jürgen Trittin [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst auf Mövenpick (Lachen bei der CDU/CSU – Norbert Barthle und dann auf den Staat!) [CDU/CSU]: Ganz schön konfus die Opposi- tion!) Wir setzen auf die Schaffenskraft und den Ideenreichtum der Bürgerinnen und Bürger. Diesem Ideenreichtum, – Na ja, Frau Merkel, Herr Westerwelle. – Sie brauchen dieser Kreativität wollen wir wieder mehr Raum geben, gar nicht zu gehen, Herr Westerwelle. Ich weiß, eine mehr Freiheit lassen. „18“ unter den Füßen ist nicht immer nur lustig. Dieses Land hat ernsthafte Probleme. Was wir brauchen, ist ein (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vor allen Din- neues Programm, ein Programm für den Aufbau dieses gen den Hotels!) Landes, für eine Neuentwicklung. Dieses Programm muss auch in dem Haushaltsentwurf, der vorgelegt wird, Diese Seite des Hauses, die christlich-liberale Koali- seinen Niederschlag finden. Ich stelle fest: Frau Merkel, (B) tion, denkt den Staat vom Bürger her. (D) Sie hatten schon einmal vier Jahre Regierungszeit. Sie (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: haben elf Jahre lang behauptet, wenn Sie nach dieser Vom Bürger Finck in Thurgau!) Verlobungszeit endlich mit Herrn Westerwelle regieren könnten, würde alles gut. Aber Sie haben weder in den Diese Seite des Hauses, die Opposition, setzt viel zu viel vergangenen vier Jahren den Mumm gehabt, noch ha- auf den Staat und bremst die Bürger aus. ben Sie heute den Mut – das zeigt der Haushaltsentwurf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 2010 –, eine Strukturreform für dieses Land anzufas- der CDU/CSU) sen. Dabei hätten wir das eigentlich nötig. Das ist der zentrale Unterschied. Das macht den Zusam- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN menhalt dieser Koalition aus. In genau diesem Sinne sowie bei Abgeordneten der SPD) werden wir Deutschland erneuern und mehr Chancen für Ich muss einmal sagen: Wir haben in den ersten mehr Menschen in diesem Land schaffen. 100 Tagen, in der Schonfrist, in der man normalerweise Vielen Dank. ein bisschen zurückhaltend sein soll und Zeit geben soll, ein Programm umzusetzen, gedacht, Sie würden diese (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 100 Tage nutzen, etwas vorzulegen. Stattdessen haben wir in den ersten 90 Tagen erlebt, wie sich kleine Möch- Präsident Dr. Norbert Lammert: tegernhäuptlinge, Seehofer und Westerwelle, in den Vor- Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast für dergrund stellen und streiten. Herr Westerwelle hat hier die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. einmal in seiner unnachahmlichen Art gesagt: Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der das Ganze regelt. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau (Jörg van Essen [FDP]: Das hat er nicht hier Merkel, Sie haben uns viel von neuem Denken erzählt, gesagt, sondern auf dem Bundesparteitag in gesagt, jetzt müsse neu gedacht werden. Ich hätte mir ge- Düsseldorf!) wünscht, man hätte bei Ihrer Rede den Eindruck gehabt, Das würde ich an dieser Stelle gerne einmal sehen. dass Sie tatsächlich gedacht haben, und zwar an alle Menschen in diesem Land, an 1,8 Millionen arme Kin- Stattdessen sehen wir drei Leute, die Häuptlinge sein der in diesem Land, an die Frage, wo eigentlich morgen wollen, drei Parteivorsitzende, die sich, weil schon in die Arbeitsplätze für Junge und Alte in diesem Land ent- den ersten 100 Tagen nichts geht, bei Steak Tatar treffen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1271

Renate Künast (A) Ich habe mir die Augen gerieben, als ich das gesehen Ich erwarte von der Steuerschätzung keine beson- (C) habe. Ich muss wirklich sagen: So tief ist diese Wunsch- deren neuen Erkenntnisse. koalition, Ihre Traumkoalition in den ersten 90 Tagen schon gesunken, dass Sie auf archaische Sitten von Der Mann weiß Bescheid. Stammesfürsten zurückgreifen müssen, nämlich den ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meinsamen rituellen Verzehr von rohem Fleisch. Aber sowie bei Abgeordneten der SPD) für dieses Land ist dabei schon wieder nichts herausge- kommen. Sie müssen sich entscheiden, wie Sie Ihre 130 Mil- liarden Euro neue Schulden gegenfinanzieren wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahr ist: Es sind nicht 85, sondern 130 Milliarden Euro sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Schulden, wenn man all die Tricksereien dieser Koali- Kauder [CDU/CSU]: Wäre es Ihnen lieber ge- tion einbezieht. Sie sagen bei Ihren Steuersenkungsver- wesen, sie hätten Gemüse gegessen? – Weitere sprechen, zum Beispiel Mehrwertsteuer für die Hotelle- Zurufe von der CDU/CSU: Müsli!) rie: Wort gehalten. Die FDP hat dies sogar plakatiert. Ich sage Ihnen: Dieser Haushalt drückt eines aus, nicht Wort Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. gehalten, sondern Hand aufgehalten. Frau Merkel, Sie haben hier gerade einen Versuch der Betrachtung der Wirklichkeit unternommen: die Roh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stoffpreise, die Energieknappheit, der wachsende Ener- sowie bei Abgeordneten der SPD) giehunger, der demografische Wandel, stärker belastete Dieser Haushalt drückt aus, dass bei der Mehrwert- Familien, Kinder ohne Bildungschancen, fehlendes steuer, bei der Erbschaftsteuer mittlerweile Zahltag ist. Fachpersonal in diesem Land und die große Enttäu- Das Wort Gemeinwohl kommt in diesem Haushalt gar schung nach Kopenhagen. Aber es reicht nicht, die nicht vor. Wo sind die Sätze zur Gegenfinanzierung? Wirklichkeit nur zu betrachten, Frau Merkel, man muss Ich sage Ihnen: Ich kann nicht akzeptieren, dass Herr dann auch anfangen, etwas zu tun. Die Wirklichkeit ver- Schäuble hier wie gestern immer in so einer netten Form trägt jetzt keine Reaktion von mittelmäßigen, von sich des Unbestimmten und umgeben von einer Nebelma- selbst begeisterten und kurzfristigen Lobbyinteressen schine warme Worte spricht und uns erzählt, dass wir verpflichteten schwarz-gelben Regierungsmitgliedern. demnächst den Gürtel enger schnallen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt müssen Sie sagen, wie Sie Ihre Steuersenkungen sowie bei Abgeordneten der SPD) und Ihre Neuverschuldung gegenfinanzieren wollen. Wo Auch Ihre Autosuggestion hat uns nicht weiterge- wollen Sie den Leuten Geld streichen, welchen Unter- (B) bracht. Das Betrachten der Realität heißt auch, auf die nehmern, bei der Ökosteuer oder bei denen, die ökolo- (D) Wirklichkeit zu reagieren. Das würde heißen: Schaffung gisch wirtschaften? Wollen Sie den Kindern Geld weg- neuer Strukturen, zum Beispiel im Energiebereich, nehmen? Wollen Sie die Infrastruktur abbauen oder Schaffung neuer Strukturen und Investitionen im Be- was? Wen von denen, die Verursacher der Krise waren reich Bildung, Schaffung einer neuen Verkehrsinfra- und daran noch verdienen, wollen Sie zur Kasse bitten? struktur und ein Neuaufbruch bei der Wissenschaft. Aber Sind Sie bereit, eine Vermögensabgabe einzuführen, um Sie sind diesen Herausforderungen faktisch mit Hasen- damit anzufangen, die Schulden abzuzahlen? Das sind füßigkeit, mit Klüngelpolitik und mit einer durchschau- die Fragen und die Herausforderungen. Aber diese Re- baren Notlüge begegnet. Diese durchschaubare Notlüge gierung hat keine Werte, keine Ziele, keinen Plan und heißt bei Ihnen, Frau Merkel, schweigen. Moderieren sei auch keinen Mumm. Sie können es nicht. eine ganz besondere perfide oder auch kreative politi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sche Strategie. Davon haben wir nichts gemerkt. Ich und bei der SPD) empfinde diese Bundesregierung nach 90 Tagen wie folgt: Es ist eine Regierung ohne Werte, ohne Ziele, Was wir jetzt bräuchten, wäre ein grüner Zukunfts- ohne Plan und auch ohne Mut, auf die Herausforderun- haushalt, der in Zeiten, in denen alle von Green Eco- gen zu reagieren. nomy reden, tatsächlich eine Green Economy, Jobs und Einnahmen generiert. Ein Haushalt, der verlässlich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN transparent, wirklich nachhaltig und generationenge- sowie bei Abgeordneten der SPD) recht ist und die Schulden nicht einfach verschiebt. Ein Schauen wir uns Ihren Haushaltsentwurf einmal an. Haushalt, der den Klimaschutz verankert und für sozia- Er wird nicht als Haushaltsentwurf 2010, sondern als len Zusammenhalt, Daseinsvorsorge und Teilhabege- Haushaltsentwurf Rüttgers in die Geschichte der Repu- rechtigkeit Sorge trägt. blik eingehen. Das ist der Beweis: Sie können es nicht. Meine Damen und Herren, Ihr Haushalt leistet nichts Sie haben angesichts der nun anstehenden Landtags- davon. Sie predigen uns stattdessen Hoffnung nach dem wahl keinen Mut, jetzt endlich einmal das Zeitfenster Motto: Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Aber so geht nach einem Jahr voller Wahlen – die Wahl in Hessen, die es nicht. Sie können nicht einfach einen undefinierten Europa- und die Bundestagswahl – wieder zu schließen Wachstumsbegriff in die Welt setzen und behaupten, und etwas anzupacken. Sie sagen, dass Sie auf die Steu- man könne so viel Wachstum generieren, dass man erschätzung warten. Da kann ich nur Hermann Otto Schulden abzahlen oder Projekte der Zukunft finanzie- Solms, sozusagen den Finanzfachmann dieser Regie- ren kann. So wird es nicht sein. Sie werden mit Staats- rung, zitieren, der gestern gesagt hat: mitteln kein Wachstum forcieren. Außerdem sagen Sie 1272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Renate Künast (A) nicht, welches Wachstum Sie eigentlich wollen. Jeder nur, wenn alle anderen das auch tun. – Das gerade eben (C) Fachmann bestätigt, dass Staatsverschuldung nachweis- war der Zusammenbruch der Klimakanzlerin. lich wachstumsmindernd und nicht wachstumsfördernd ist. Sie sollten einmal deutlich machen, wie es Ihrer Mei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nung nach in Zukunft aussehen soll. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Frau Merkel sagt immer so schön: Wenn wir wieder da sind, wo wir vor der Krise waren. – Das löst bei mir Hier wurden Chancen für unsere wirtschaftliche Ent- meistens Unruhe aus. Wo waren wir denn vor der Krise? wicklung vertan. Ich bin davon überzeugt, dass das unse- Vor der Krise hatte unsere Wirtschaft strukturelle Defi- rer wirtschaftlichen Entwicklung massiv schadet. An- zite. Wir waren umgeben von einem Wachstumsbe- dere Länder – China, Indien, Japan, Südkorea – griff, der uns in genau diese Krise geführt hat. Sie schaf- investieren horrende Summen in die technologische Ent- fen es nicht, den Wachstumsbegriff neu auszurichten, wicklung. Wenn China 40 Prozent seiner Konjunktur- sondern verbreiten weiter den Irrglauben, Wachstum mittel investiert, ist das ein Vielfaches mehr als das, was könne ein Allheilmittel sein. Das ist es aber nicht, im wir investieren. Selbst wenn die Chinesen noch Dreck- Gegenteil. schleudern von Kohlekraftwerken neu bauen, haben sie den Vorteil der technologischen Entwicklung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sage Ihnen, Frau Merkel: Hasenfüßigkeit, keinen Plan haben, keinen Mut haben, das schadet der Wirt- Ich glaube, wir müssen den Mut haben, auszuspre- schaft in Deutschland und in Europa und verhindert, chen, was in Zukunft geschehen muss: Es gibt Wirt- dass wir diese Arbeitsplätze haben; die Arbeitsplätze schaftsbereiche, die massiv schrumpfen müssen, weil sie entstehen dann woanders. nicht mehr zu begründen sind. Andere Wirtschaftsberei- che brauchen eine Vielzahl von Maßnahmen, Kreativität (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und einen Innovationsdruck, den auch der Staat unter- sowie bei Abgeordneten der SPD) stützen könnte, auch mit einer guten Haushaltspolitik. Andere Wirtschaftsbereiche brauchen einen radikalen Sie hätten in Kopenhagen guten Willen zeigen kön- Innovationsdruck, damit sie massiv wachsen. nen. Sie reden ständig darüber, wer wann wie wo vor- wärts geht oder nicht und wer Bedingungen stellt. Sie Wahr ist: Wir müssen unsere Wirtschaftsweise verän- tun so, als seien Sie selber bereit, die anderen aber nicht. dern. Wir dürfen nicht mehr auf Kosten anderer, nicht mehr auf Kosten der Umwelt, nicht mehr auf Kosten von Sie haben Ihr eigenes perfides System: Als es um Boden, Wasser und Artenvielfalt leben. Dafür muss man 400 Millionen Euro für Klimaschutzmaßnahmen in Ent- (B) allerdings die entsprechenden Stellschrauben im Haus- wicklungsländern ging, haben Sie nicht sofort gerufen: (D) halt verankern und darf nicht nur UN-Reden halten, Frau Ja, wir sind bereit, weil wir unsere und eure Lebens- Merkel. grundlagen schützen wollen. – Den Hotels durch die Re- duzierung des Mehrwertsteuersatzes 1 Milliarde Euro (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hinterherzuwerfen, ging dagegen über Nacht. Für den Frau Merkel wurde in der letzten Legislaturperiode Agrardiesel 500 Millionen Euro lockerzumachen, ging zeitweise „Klimakanzlerin“ genannt. Schauen wir uns ebenso über Nacht. Nie haben Sie Bedingungen gestellt, einmal an, ob Sie die Themen Klima, Umgang mit Roh- zum Beispiel dass bei den Milchbauern etwas ankommt stoffen und mit Energie in diesem Haushalt berücksich- oder dass bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, zum tigt haben. Beginnen wir mit dem 40-Prozent-Ziel. Frau Beispiel dass die Hotels Mindestlöhne zahlen, oder dass Merkel, ich höre immer, wir – das ist ein diffuses „wir“ – in Umbauten, in Modernisierung, in neue Arbeitsplätze hätten bereits vereinbart, die CO2-Emissionen bis 2020 investiert wird. Frau Merkel, wir haben Ihr System ver- um 40 Prozent zu reduzieren. Meine Damen und Herren, standen: Sie reden schön; aber am Ende ist es immer die ich würde gern bei einer Abstimmung im Deutschen alte Klientelpolitik der CDU/CSU. Bundestag sehen, wie Sie dazu stehen. Sie können – wir geben Ihnen mit einem Antrag die Gelegenheit dazu – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier die Hand heben, wenn Sie zu dem Allgemeinplatz und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ stehen, dass Deutschland innerhalb von zehn Jahren CSU]: Ihnen fällt auch nichts anderes ein, Frau mindestens diese Minus-40-Prozent-Marge erreichen Künast! Immer derselbe Schrott!) wird. Das wäre die internationale Botschaft, dass wir Die Antwort auf die Frage, wie es in der Energiepoli- wirklich bereit dazu sind und alle politischen Maßnah- tik weitergehen soll, haben Sie auf den Herbst verscho- men, auch jeden Bundeshaushalt, danach ausrichten. ben. Das heißt, Sie lassen die Industrie und den Mittel- Die Wahrheit ist: Da draußen erzählen Sie immer Net- stand bei Investitionen im wahrsten Sinne des Wortes tes; allein, auch insofern, als morgen Abend die Trickserei mit den Atomkraftwerksbetreibern losgeht. Das muss ( [SPD]: Richtig!) man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Ge- setz, das der Deutsche Bundestag in einem offenen und aber gerade eben haben Sie das Gegenteil gesagt, näm- lich: Minus 30 Prozent in der EU, minus 40 Prozent in transparenten Verfahren beschlossen hat, wird jetzt vom Deutschland Kanzleramtschef unter der Ägide der Bundeskanzlerin vermauschelt. Sie können täuschen, tarnen, tricksen – (Bettina Hagedorn [SPD]: Wenn!) wir wissen, um was es geht, wenn Bezugsrechte hin und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1273

Renate Künast (A) her geschoben werden: Es geht Ihnen darum, einen trick- nicht die Familien gestärkt. Vielmehr muss derjenige, (C) reichen Weg zu finden, damit Sie den Deutschen Bun- der bei Ihnen 20 Euro mehr Kindergeld bekommt, destag nicht mit einer Änderung dieses Gesetzes befas- danach 30 Euro Gebührenerhöhung bei den Kindergär- sen müssen. ten zahlen. Die Familie hat 10 Euro weniger und die Hartz-IV-Kinder haben gar nichts. Ich sage Ihnen, gerade angesichts der Asse: Die Be- völkerung dieses Landes hat ein Anrecht darauf, dass es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in die Zukunft geht, in Richtung 100 Prozent erneuer- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der bare Energien, und nicht in Richtung einer Absicherung LINKEN) der Oligopole. Die Bevölkerung dieses Landes hat ein Fazit: Unter Schwarz-Gelb geht es einigen wenigen Anrecht darauf, dass sich die Bundesregierung um die besser, aber vielen schlechter. Die wahren Leistungsträger körperliche Unversehrtheit und die Sicherheit der Bürger dieser Gesellschaft, beispielsweise die unterbezahlten Er- kümmert. Dazu haben Sie bisher kein Wort gesagt, we- zieherinnen und unterbezahlten Pflegekräfte, brauchen der im Zusammenhang mit der Lagerung noch im Zu- funktionierende Kommunen, einen funktionierenden So- sammenhang mit der Laufzeitverlängerung. zialstaat. Aber diese Regierung hat keine Werte, keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ziele, keinen Plan. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wenn Sie weni- Die Nutznießer Ihrer Politik sind die Atomwirtschaft ger reden würden, hätten wir weniger CO2 in und die Aktieninhaber, sind die Konkurrenten unserer der Luft!) Solarwirtschaft, die die Arbeitsplätze schaffen, die wir In diesem Haushaltsplan gibt es keine Erhöhung der Re- hätten haben können. Das, meine Damen und Herren, ist gelsätze, keine Einstellung von Mitteln für eine Neube- nicht Marktwirtschaft, die Sie ja immer beschwören; das rechnung der Kinderregelsätze, keine Maßnahmen zur ist auch kein Wettbewerb, der ja der Kern der Marktwirt- Integration auf dem Arbeitsmarkt – sie werden einge- schaft ist; das ist eher Staatssozialismus alter Prägung: dampft –, und die Mittel zur Integration von Migranten Einige bestimmen das Geschäft. werden nicht erhöht. Ich will Ihnen an dieser Stelle auch sagen, dass die Laufzeitverlängerung, wenn sie käme, Ihrer Umwelt- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: politik und Ihrem Bundesumweltminister wie ein Klotz Frau Kollegin. am Bein hängen würde. Sie können sich noch so anstren- gen und schöne Reden halten, Herr Röttgen: Wenn Sie Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) diese Pläne nicht verhindern, können Sie es auch gleich Ich komme zu meinem letzten Satz. – Meine Damen (D) sein lassen. und Herren, dieser Haushalt weist uns nicht in die Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kunft, sondern rückwärts. An dieser Stelle können Sie sowie bei Abgeordneten der SPD) sich noch so viel beweihräuchern, dass Sie Geld in Bil- dung investieren: Dieser Bildungshaushalt steigt weni- Eines geht nicht: immer schöne Reden halten und da- ger als der Gesamthaushalt. Dies ist bezeichnend. nach das Gegenteil tun. Das können Sie ja weiterma- chen: Herr Röttgen redet so, Frau Merkel wirft auch hin Sie haben keine Antworten auf die Probleme, denken und wieder Klimaschutzblasen, dann kommt Frau nur an diejenigen, die die dicken Ellenbogen haben, an Aigner und sagt: Wie viel Chemie auch immer die die Menschen, die Baron von Finck heißen, aber nicht an Landwirtschaft in die Böden einträgt, wie viel fossile die Menschen, die Otto Normalverbraucher heißen. Am Energie sie auch immer braucht, wir werden nichts än- 9. Mai haben die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein- dern. – Herr Schäuble, Sie hätten doch sagen können: Westfalen die Chance, Ihnen die rote Karte zu zeigen. Subventionen werden reduziert, wenn nicht ökologisch Das haben Sie bitter nötig. gewirtschaftet wird. – Oder nehmen wir den Bundesver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kehrsminister: Herr Röttgen oder Frau Merkel, Sie kön- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der nen noch so viel erzählen, dieser Bundesverkehrsminis- LINKEN) ter redet sich über Schienenverkehr besoffen, am Ende geht aber das ganze Geld wieder in die Straße. So nicht! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich muss Ihnen sagen: Dieser Haushalt ist ein Ar- Das Wort hat der Kollege Volker Kauder für die mutszeugnis. Er ist auf dem Rücken der Familien und CDU/CSU-Fraktion. der Kinder sowie auf dem Rücken der Kommunen ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- macht, wo sich bestimmt, wie der Alltag der Menschen neten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: aussieht. Schauen wir auf Nordrhein-Westfalen: Essen, Jetzt kommt der Neustart!) Kulturhauptstadt 2010, muss Grundschulen schließen, Städte denken über die Reduzierung der Zahl der Kin- Volker Kauder (CDU/CSU): derspielplätze nach, Wuppertal schließt das Theater. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- In Magdeburg, in einem anderen Bundesland, werden gen! Mit dem Haushalt 2010 legen wir einen Haushalt die monatlichen Kitagebühren um 30 Euro erhöht. Das vor, der Wachstum bringt und die Konsolidierung ernst ist erst der Anfang. Meine Damen und Herren, Sie haben nimmt, einen Haushalt, der das beinhaltet, was uns in 1274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Volker Kauder (A) den nächsten Jahren immer wieder täglich ins Haus Dieser Haushalt zeigt sehr genau, dass es gelingen kann, (C) steht: die richtige Balance zwischen dem Antreiben von das Staatsdefizit zurückzuführen. Der Haushalt 2005 Wachstumskräften und der gleichzeitigen Zurückfüh- hatte ein strukturelles Defizit von 60 Milliarden Euro. rung der Verschuldung, des Staatsdefizits. Das ist eine Wir hätten die Nettoneuverschuldung auf 6 Milliarden ambitionierte Aufgabe. Euro zurückgeführt, wenn nicht die Kosten der Krise da- zugekommen wären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Thomas Oppermann [SPD]: Peer Steinbrück!) Ich habe gestern und heute sehr genau zugehört, was – Wissen Sie, was mich bei der SPD wundert? Ich habe vonseiten der Opposition kam. Ich muss sagen: Zur den Eindruck, Sie haben wirklich den Verstand verloren. Frage, wie Perspektive, Zuversicht, Chancen und die Re- (Joachim Poß [SPD]: Was? – Thomas duzierung des Staatsdefizits verbunden werden können, Oppermann [SPD]: Und ich habe den Ein- habe ich von Ihnen nichts, aber auch gar nichts gehört, druck, dass Sie keinen haben!) meine sehr verehrten Damen und Herren. Anstatt ein bisschen stolz auf das zu sein, was wir in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wirtschaftskrise miteinander erreicht haben, Thomas Oppermann [SPD]: Dann haben Sie nicht zugehört!) (Bettina Hagedorn [SPD]: Darauf sind wir stolz!) Es verwundert ja auch nicht: Wir haben in der vergan- genen Wahlperiode in der schärfsten Finanz- und Wirt- tun Sie so, als ob all das, was wir heute vorlegen, damit schaftskrise miteinander in der Regierung und mit der nichts zu tun hätte. Der Haushalt ist der Beweis für die FDP in der Opposition Maßnahmen getroffen, für die erfolgreiche Bekämpfung der Finanz- und Wirtschafts- wir in ganz Europa und darüber hinaus bewundert wer- krise. den. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Thomas Oppermann [SPD]: Auf Vorschlag neten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Sie waren auch schon mal besser! – Joachim der SPD!) Poß [SPD]: Sie bauen doch nur Pappkamera- Das Ziel war vor allem, zu verhindern, dass die Wirt- den auf!) schaft zusammenbricht, dass Spareinlagen der Men- – Es hat überhaupt keinen Sinn. Es ist ein Teil Ihres Pro- schen gefährdet werden und dass aus der Finanz- und blems, dass Sie nie gewusst haben, was Sie sein wollen: Wirtschaftskrise eine gigantische Arbeitslosigkeit ent- Regierung oder Opposition. Ich sage Ihnen: Sie sind (B) (D) steht. jetzt Opposition, damit Sie das genau wissen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der (Thomas Oppermann [SPD]: Das haben Sie SPD, dass Sie 2005 die Union brauchten, zeigt doch: Sie noch vor sich!) haben eine gigantische Staatsverschuldung produziert. Sie haben die größte Arbeitslosigkeit in Zeiten ohne Fi- Früher haben Sie sich nie entscheiden können, was Sie nanz- und Wirtschaftskrise verursacht. eigentlich wollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) derspruch bei der SPD) Es geht jetzt darum, diesem neuen Jahrzehnt eine 2005 waren wir in einer Situation, in der wir heute trotz neue Perspektive zu geben. Dies tun wir. Finanz- und Wirtschaftskrise nicht sind. (Bettina Hagedorn [SPD]: Für Hoteliers!) (Joachim Poß [SPD]: War 2002 denn keine Es geht darum, den Menschen zu sagen: Es gibt eine Krise?) Reihe von Möglichkeiten, euer Leben erfolgreich zu ge- stalten. Wir wollen die Freiheit des Einzelnen Deswegen finde ich, dass weder Sie von der SPD noch Sie von den Grünen ein Recht darauf haben, jetzt zu sa- (Thomas Oppermann [SPD]: Und des Hotel- gen, wie es gehen soll. gewerbes!) (Joachim Poß [SPD]: 2001 und 2002 waren in die Solidarität der Gemeinschaft einbinden. Wir wol- doch keine normalen Zeiten!) len, dass der Einzelne frei entscheiden kann, wie er sein Leben gestaltet. Sie konnten es in normalen Zeiten nicht, in Krisenzeiten können Sie es erst recht nicht. (Joachim Poß [SPD]: Der einzelne Erbe vom Starnberger See!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: So ein Stuss! Was war Aber es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Deshalb denn 2002 normal?) gilt für diese christlich-liberale Koalition der Grundsatz: die Freiheit des Einzelnen eingebettet in die Solidarität Es kommt also darauf an, Wirtschaft und Wachstum der Gemeinschaft. voranzubringen und neue Chancen zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für Hotels!) neten der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1275

Volker Kauder (A) Das heißt zunächst einmal, dass wir allen eine Chance Wer duldet, dass Kinder nicht in die Schule gehen, und (C) geben wollen und müssen, ihr Leben aus eigener Kraft tatenlos zuschaut, der versündigt sich an den Zukunfts- zu gestalten. Es ist für niemanden eine tolle Sache – ich chancen dieser Kinder. weiß aus Erfahrung, aus meinem früheren Beruf, wovon ich rede –, wenn er jeden Tag zum Sozialamt oder zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hartz-IV-Behörde gehen muss, um sich dort sein Geld Chancen müssen durch Bildung geschaffen werden. zu holen. Diese Bildungsangebote müssen auch angenommen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das werden. Dafür werden wir sorgen. mal Herrn Koch!) Der Haushalt beinhaltet diese Chance, Frau Künast. Der Grundsatz „Die Freiheit des Einzelnen, eingebet- Wir werden in dieser Koalition 12 Milliarden Euro zu- tet in die Solidarität der Gemeinschaft“ heißt: Wir helfen sätzlich zur Verfügung stellen, um Verbesserungen in der denen, die in Schwierigkeiten sind. Deswegen ist es rich- Bildungspolitik voranzubringen. tig, dass es solche Sozialsysteme gibt. Aber ich kann ei- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nes nicht akzeptieren, und das werden wir in der Koali- NEN]: Man braucht 20!) tion auch nicht akzeptieren: Es geht nicht darum, mit immer mehr Geld einen sozialen Status abzusichern. Es Selbstverständlich werden wir mit den Ländern darüber geht vielmehr darum, Aufstiegschancen zu schaffen und sprechen, wie das umgesetzt werden soll. Aber eines die Menschen aus der Abhängigkeit des Sozialstaates kann ich Ihnen sagen: Die 12 Milliarden Euro werden so herauszuholen, statt sie darin zu halten. eingesetzt, dass sie den Kindern nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Von Ihnen war nichts zu der Frage zu hören, wie wir Herr Kauder, – – nach dem Grundsatz der Freiheit und Eingebundenheit in die Gemeinschaft die Veränderungen gestalten, die bei den Hartz-IV-Regelungen notwendig sind. Volker Kauder (CDU/CSU): Wenn wir vorankommen und erreichen wollen, dass (Zuruf von der SPD: Wir haben nicht angekün- dieses neue Jahrzehnt ein Jahrzehnt neuer Chancen wird, digt! Wir haben gehandelt!) dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Wachstum Ich sage Ihnen dazu: Erstens ist der Grundsatz des For- möglich ist. Wir sind uns darüber einig – so habe ich Sie derns und Förderns richtig. Zweitens ist es richtig, dass in der letzten Debatte verstanden –, dass wir das Niveau (B) wir Maßnahmen getroffen haben, damit niemand wie der Wirtschaft nach der Schrumpfung um 5 Prozent (D) früher einfach in der Sozialhilfe bleibt. Stattdessen wird nicht beibehalten, sondern wieder zu dem früheren Ni- den Menschen mit einem enormen Aufwand und auch veau zurückkehren wollen. persönlicher Zuwendung in den kommunalen Beratungs- Deswegen kann ich nicht verstehen, Frau Künast stellen geholfen. – wahrscheinlich haben Sie es nicht richtig kapiert –, Jetzt kommt es vor allem darauf an, dass wir für Kin- warum Sie die Bundeskanzlerin kritisieren, wenn sie der Chancen schaffen. sagt, dass wir 2013 wieder da sein wollen, wo wir 2008 gewesen sind. Das ist eine Perspektive, nicht das, was (Zuruf der Abg. Caren Marks [SPD]) Sie gesagt haben. – Dazu komme ich jetzt. Ich denke dabei an dieses Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rede: Wenn wir mehr Geld in die Hand von Familien gä- der FDP) ben – Herr Heil, es ist eine Unverschämtheit, welche Fragen Sie hier stellen –, dann würden wir nur dafür sor- Wir wollen, dass dieses Land nicht auf dem Niveau gen, dass die Kinder nicht in die Schule oder in irgend- der Finanz- und Wirtschaftskrise stehen bleibt, sondern welche Betreuungseinrichtungen kämen. – Ich will Ih- dass es wieder nach vorne und nach oben kommt. nen sagen, was wir als Herausforderung sehen müssten: Hier in Berlin, wo es noch kein Betreuungsgeld gibt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und lässt der rot-rote Senat zu, dass Hunderte von Kindern der FDP) nicht in die Schule kommen. Es wird nichts unternom- men. Was in Neukölln passiert, ist ein Skandal. Dagegen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: muss etwas gemacht werden. Herr Kauder, der Herr Kollege Liebich würde Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- gerne eine Zwischenfrage stellen. derspruch bei der SPD) Volker Kauder (CDU/CSU): Ich habe mich informiert, und mir ist gesagt worden, dass Familien ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Dazu gehört auch, dass man die nötigen Vorausset- Das ist doch keine Frage des Betreuungsgeldes; viel- zungen schafft. Ein Thema, das dafür von Bedeutung ist, mehr muss man über geeignete Maßnahmen nachden- ist die Energiepolitik, Frau Künast. Wir haben entschie- ken, um dem entgegenzuwirken. den, dass wir noch in dieser Legislaturperiode ein Ener- giegesamtkonzept vorlegen. Dieses Konzept wird der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien sein. 1276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Volker Kauder (A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir von der Union wollen, dass die Menschen mit Mi- (C) Das hat schon längst angefangen!) grationshintergrund die Erfahrungen, die sie in unserem Land machen, an ihre Heimat weitergeben. Aber das unterscheidet eine christlich-liberale Koali- tion von Rot-Grün: Wir machen Politik unter realen Ge- Wir wollen – das werden wir auch tun – neue Pro- sichtspunkten. Wir betrachten die Wirklichkeit, schauen dukte fördern. Auch in Zukunft müssen die modernsten uns an, was ist, und bringen dann die richtigen Lösungen und besten Autos der Welt hier in Deutschland gebaut und betreiben keine Umsetzung nackter Ideologie, mit werden. Deswegen steigen wir in die Elektromobilität der Sie im Grundsatz gescheitert sind. ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Seit wann denn? Guten Morgen, Herr NEN]: Wieso denn? 100 000 Arbeitsplätze!) Kauder!) Die Elektromobilität hat aber noch eine ganz andere Wir werden unser Konzept der erneuerbaren Energien Bedeutung. Je besser es uns gelingt, Speichertechnolo- umsetzen. Bis wir das erreicht haben, muss es auch noch gien zu entwickeln, desto leichter ist es, regional erneu- Kernkraftwerke als Brückentechnologie geben. Wir erbare Energien an die Haushalte weiterzugeben. Sie brauchen ebenfalls noch Kohlekraftwerke. Wenn es aber haben bisher keinen Beitrag dazu geleistet, eine solche technisch möglich ist – ich bin sehr dafür –, bessere Speichertechnologie zu entwickeln. Kohlekraftwerke als die alten zu betreiben, dann müssen und werden wir das machen; denn das ist richtige Um- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weltpolitik. Es weht ein anderer Geist in dieser Koalition; das (Beifall bei der CDU/CSU) habe ich klar und deutlich gesagt. (Widerspruch bei der SPD – Jürgen Trittin Wir betrachten die Wirklichkeit. In diesen Tagen ist [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wahr! allenthalben gesagt worden: Wir brauchen noch Zeit, um Der Geist der Käuflichkeit!) das Stromleitungssystem an die neue Zeit heranzufüh- ren. Dafür werden gigantische Investitionen in Höhe von Uns ist die Freiheit des Einzelnen, eingebunden in die 20 Milliarden Euro notwendig sein. Dieses Geld werden Solidarität der Gemeinschaft, wichtig. Wir nehmen auch die Stromkonzerne aufwenden müssen. Das wird für unsere Verantwortung in der Welt wahr. Die Kanzlerin weiteres Wachstum sorgen. Aber eines werden wir nicht hat eine Regierungserklärung zu Afghanistan mit an- machen, nämlich um der Ideologie willen Kraftwerke, schließender Debatte für die nächste Woche angekün- (B) die günstig und sicher Strom erzeugen, abschalten und digt. Dann wird sich zeigen, ob wir alle bereit sind, Ver- (D) so die Preise nach oben treiben. Was ist das denn für eine antwortung zu übernehmen. heuchlerische Politik, hier zu jammern, dass die Men- schen belastet werden, und sie dann mit einer aus purer Es gibt den schönen Satz: Wer sich jemanden mit Ideologie betriebenen Energiepolitik zu belasten? Nicht Hilfe zu eigen gemacht hat, der ist ihm auch verantwort- mit uns, Frau Künast! lich. Wir können nicht einfach ohne Perspektive und ohne eine Konzeption von dort weggehen, wo wir ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mal angefangen haben, Verantwortung zu übernehmen. Darüber sprechen wir nächste Woche. Wir werden aus diesem neuen Jahrzehnt ein Jahrzehnt der Chancen machen. Das heißt, der Zusammenhalt in Wir tragen mit unserer Entwicklungszusammenarbeit der Gesellschaft muss gefördert werden; das hat die auch Verantwortung dafür, dass Staaten in die Lage ver- Bundeskanzlerin klar und deutlich gesagt. Deswegen ist setzt werden, Aufgaben zu erfüllen. Ich bin dankbar für ein Schwerpunkt die Integration. Wir wollen, dass die die große Spendenbereitschaft für Haiti. Das zeigt wie- Menschen in diesem Land zusammenleben und gemein- der einmal, zu welcher Solidarität die Menschen in die- sam einen Beitrag für sich und dafür leisten, dass dieses sem Land fähig sind. Land vorankommt. Integration stellt Anforderungen; da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rüber haben wir mehrfach gesprochen. Das Beherrschen der deutschen Sprache, der Besuch einer Schule und eine Das ist großartig. Herzlichen Dank dafür! Ausbildung sind wichtig, um voranzukommen. Man Aber wir müssen uns schon jetzt Gedanken darüber muss auch akzeptieren, dass es hier in diesem Land tra- machen, wie es weitergeht, nachdem die ärgsten Pro- dierte kulturelle Werte gibt, die weitergelebt werden sol- bleme behoben sind. Die Menschen in Haiti dürfen nicht len. Es gibt unsererseits auch Angebote. Selbstverständ- wieder in die Situation geraten, in der sie vor dieser lich soll jeder in diesem Land seine Religion leben schrecklichen Katastrophe waren. Wir tragen Verantwor- können. Wir von der Union setzen uns dafür ein, dass tung dafür, dass auch sie ein menschenwürdigeres Leben Muslime in ihren Moscheen beten können. Aber ich er- führen können als bisher. Dazu müssen wir einen Beitrag warte dann, dass die Muslime, die das Glück der Glau- leisten. benstoleranz in diesem Land erfahren, mutig sagen: Wir wollen, dass Glaubenstoleranz auch in unseren Heimat- Es erfüllt uns mit Sorge, wie viele Menschen auf die- ländern gelebt wird. ser Welt bedrängt, eingesperrt und verurteilt werden für ihre demokratischen und ihre Glaubensüberzeugungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das darf uns nicht ruhen lassen. Es gibt Dinge, die den Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1277

Volker Kauder (A) ganzen Menschen und nicht nur Kompromisse fordern. Anders als in vielen anderen Bundesländern ist das (C) Die Menschenrechte sind unteilbar. Studieren im Land Berlin gebührenfrei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der LINKEN und der SPD – der Abg. Brigitte Zypries [SPD]) Norbert Barthle [CDU/CSU]: Und wer bezahlt Die bedrohteste Glaubensgruppe auf der ganzen Welt es?) sind die Christen, zum Beispiel im Irak, aber auch in Wir haben die Hauptschule und damit das dreiglied- anderen Ländern. Gerade eine christlich-liberale Koali- rige Schulsystem abgeschafft. tion darf angesichts dessen nicht zur Tagesordnung über- gehen. Wir müssen mit denjenigen solidarisch sein, die (Beifall bei der LINKEN und der SPD – nichts anderes wollen, als sich als Christen zu ihrem [FDP]: Und die Plätze am Glauben zu bekennen. Da erwarte ich einen starken Bei- Gymnasium werden verlost!) trag der Bundesregierung sowie von denjenigen, die in Wir würden gern – ich weiß, das finden Sie falsch, aber unserem Land die Erfahrung von Glaubenstoleranz ma- ich will es hier einmal angemerkt haben – in Berlin noch chen können. Auch das wird ein Anspruch an diese Re- viel mehr für die Bildungspolitik tun, wenn Sie mit Ihrer gierungskoalition sein müssen. Politik nicht die Hoteliers anstatt die Länder und Kom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) munen entlasten würden. Ich freue mich, dass wir in dieser Koalition zusam- Vielen Dank. mengefunden und uns vorgenommen haben, diesem (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Jahrzehnt den Stempel von mehr Chancen und mehr Per- neten der SPD) spektiven aufzudrücken. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: NEN]: Der wahre Christ kümmert sich um al- Ihre Antwort, Herr Kauder. les, Herr Kauder!) Wir wollen den Menschen die Gelegenheit geben, für ihr Volker Kauder (CDU/CSU): Leben zu sorgen. Die Freiheit des Einzelnen, eingebun- Herr Kollege, Sie haben zunächst einmal gar keine den in die Solidarität der Gemeinschaft – das zeichnet Frage stellen können, weil ich schon geahnt habe, in diese Koalition aus. welche Richtung Sie wollen. Ich kann Ihnen nur sagen: (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Sie haben mein Anliegen überhaupt nicht verstanden. (B) der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zunächst einmal ging es mir gar nicht um die Qualität (D) Quatsch! – Joachim Poß [SPD]: Quatsch mit des Bildungswesens in Berlin, wenngleich ich zur Quali- Soße!) tät eines Bildungswesens, das die Frechheit besitzt, Menschen den Zugang zu einer bestimmten Schule zu verweigern und Gymnasialplätze auszulosen, etwas sa- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen könnte. Das ist schon ein Superhammer im Umgang Es gibt eine Kurzintervention des Kollegen Liebich. mit Bildungschancen. Bitte schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (DIE LINKE): Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Keine Ah- Sehr geehrter Herr Kauder, da Sie auf meine Frage nung, mein Lieber!) nicht antworten wollten, muss ich mich auf diesem Wege Aber darauf wollte ich gar nicht eingehen. noch einmal melden. Sie haben Bezug genommen auf die Bildungspolitik hier in der Hauptstadt, die bekannt- Ich wollte nur sagen: Das hat überhaupt nichts, null lich von der SPD und unserer Partei Die Linke regiert und nichts mit Geld zu tun, sondern mit der Frage, wie wird. Ich bin es zunehmend leid, die Propaganda, die ich konkret Politik umsetze. Dass Menschen ihre Kinder hier immer wieder geäußert wird, einfach so im Raum nicht in die Schule schicken und dieser Tatsache einfach stehen zu lassen. zugeschaut wird, ist ein Thema, das nichts mit Geld zu tun hat, sondern mit dem Willen, die richtige Politik zu (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Petra machen. Merkel [Berlin] [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die rot-rote Landesregierung hat trotz der Plünderung der Haushaltskassen – auch durch die Politik, die mit Ich sage Ihnen: Das darf nicht zugelassen werden. Kin- diesem Haushalt verfolgt wird – der, die nicht in die Schule gehen, haben keine Lebens- perspektive. Wenn Sie dafür keine Verantwortung tragen (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) wollen, dann frage ich mich, warum Sie überhaupt in kostenfreie Kitaplätze für die Kinder von drei bis sechs Berlin regieren. Jahren beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der LINKEN und der SPD – Birgit Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Du Homburger [FDP]: Bezahlt aus dem Länder- sollst nicht falsches Zeugnis geben wider dei- finanzausgleich!) nen Nächsten! Das steht schon in der Bibel!) 1278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ineinander verbeißt, statt sich um die wirklichen Pro- (C) Jetzt hat der Kollege Frank-Walter Steinmeier für die bleme dieses Landes zu kümmern, die nichts geregelt SPD-Fraktion das Wort. kriegt, die sich allenfalls am Sonntagabend in der Kneipe gut versteht. Deshalb kann ich verstehen, dass ei- (Beifall bei der SPD) ner der Kommentatoren zu Ihren Treffen sagte: Prost Mahlzeit! Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der SPD) Herren! Den zweiten Tag hören wir sehr intensiv den Union und FDP haben bislang keinen einzigen Ansatz Reden aus der Koalition zu. Ich werde einen Eindruck für ein schlüssiges Zukunftskonzept vorgelegt. Deshalb nicht los: Ein bisschen klingen Ihre Reden wie eine Bitte gibt es in diesem Land – mich wundert das nicht – weit um Vergebung. Wer genau hinschaut, der sieht doch bei und breit keine Spur von Aufbruchstimmung. Was uns den Rednern der Koalitionsfraktionen die roten Ohren. Union und FDP tagtäglich bieten, das ist die ständige (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wäre Ihnen Wiederholung eines kleinkarierten Gezänks. Ich kann recht, wenn wir rote Ohren hätten! Wir haben Ihnen versichern – auch wir kommen herum –: Die Men- schwarz-gelbe!) schen sind das leid. Sie haben diese Regierung nicht ge- wählt, um schlecht unterhalten zu werden, sondern um Sie wollen so tun, als seien die ersten 100 Tage dieser ordentlich regiert zu werden. Sie alle auf der Regie- Regierung so etwas wie Anfängerpech, alles nur ein rungsbank haben den Auftrag, zu regieren. Aber dann Ausrutscher. Das ist das durchgehende Motto dieser Re- tun Sie das auch! Fangen Sie endlich damit an! gierung. Aber seien Sie sicher: Niemand wird Ihnen das glauben. Sie werden sich das Jahr über vor dem Zorn der (Beifall bei der SPD – Christian Lindner Bürger, den Sie hervorrufen, nicht verstecken können. [FDP]: Machen Sie erst mal Opposition, Mis- ter 23 Prozent! – Zuruf von der CDU/CSU: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sagen Sie doch mal was zur Sache!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Was heißt „zur Sache“? Nicht wir, sondern Sie selbst Millionen von Menschen sind in der Tat schon jetzt reden doch von Neustart und Krisengipfel, wie ich gele- enttäuscht, auch viele Anhänger der Union und der FDP. sen habe. Allerdings weiß ich eines: Einen Neustart Was diese schwarz-gelbe Regierung abliefert, ist nicht braucht man erst, wenn man weiß, dass das, was man be- nur ein Fehlstart, wie ich in den ersten Tagen dieser Re- gonnen hat, in Trümmern liegt. gierung gesagt habe, sondern – ich kann es nicht anders nennen – politisches Totalversagen. Es stimmt: Das schwarz-gelbe Phantasialand, das Sie (B) sich gebaut haben – auf der einen Seite sollen die Men- (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen kaum noch Steuern zahlen, und auf der anderen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Seite sollen sie besser leben –, hat sich doch in Wahrheit Sie reden die Lage schön, statt den Menschen zu sagen, in kurzer Zeit in Luft aufgelöst; die Leute spüren das. was ist. Wir stecken nach wie vor im tiefsten Wirt- Wer Deutschland, das größte Land in Europa, ernsthaft schaftseinbruch der Nachkriegszeit. Wir könnten wis- regieren will, der muss mehr bieten als solche Luft- sen, dass uns diese Krise nach wie vor fest im Griff hat. schlösser. Das sage ich insbesondere der FDP. Frau Bun- Doch Sie machen denselben Fehler wie zu anderen Zei- deskanzlerin, da haben Sie recht: Niemand kann auf ten. Sie vertrauen auf die Nachrichten von den Aktien- Dauer gegen die Realität regieren. Sie haben heute Mor- märkten, und Sie wollen nicht wissen, dass Aktienkurse gen gesagt: Macht die Augen auf vor dieser Realität! – heute über die tatsächliche Lage in der Wirtschaft nichts Das ist aber nichts, was an dieses Parlament oder gar an aussagen. Das ist und bleibt trügerischer Schein. Sie die Oppositionsfraktionen adressiert werden sollte. Um klammern sich an den Schein, und Sie wollen nicht das zu sagen, brauchen Sie nicht den Deutschen Bundes- wahrhaben, dass die wahre Krise, die Krise auf dem Ar- tag, Kameras und Mikrofone. Das müssen Sie der FDP beitsmarkt, erst jetzt auf uns zukommt. sagen, und dafür haben Sie das Kabinett. Nutzen Sie diese Möglichkeit! Millionen von Menschen machen sich Sorgen um die Zukunft. Sie fragen, ob der Wohlstand, den wir haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und hatten, auch noch für ihre Kinder gesichert ist. Das DIE GRÜNEN) alles sind große Fragen an eine Regierung; aber diese Herr Vizekanzler, was die Realität angeht, nützen am Regierung schwebt in den Wolken, faselt von bürgerli- Ende keine markigen Sprüche. Wir bitten herzlich da- cher Mehrheit wie von einer messianischen Erlösung, rum, Herr Westerwelle: Verschonen Sie uns mit all die- von einer geistig-politischen Wende, als ob bis jetzt der sen Ankündigungen von der geistig-politischen Wende! Antichrist dieses Land im Würgegriff gehalten hätte. So kann man inszenieren, sich präsentieren, aber regieren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kann man so nicht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner? DIE GRÜNEN) Wir wären ja schon froh über die Anwendung der Mit Verlaub, was ich sehe, ist eine Regierung, die Grundrechenarten; aber noch nicht einmal das funktio- nicht regiert, die mit sich selbst beschäftigt ist, die sich niert. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1279

Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Leuten erzählen, dass das alles möglich ist, sind Sie (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht ganz bei Trost. Sie wollen Steuersenkungen auf Pump, mal 15, mal 20, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mal 24 Milliarden Euro; genau wissen wir es noch nicht. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sie wollen das, obwohl Sie wissen, dass kein Geld in der LINKEN) Kasse ist – mehr als 300 Milliarden Euro werden bis zum Jahr 2012 fehlen –, und obwohl Sie wissen, dass Das Stück, das jetzt gespielt wird – ich wage vorauszu- nach den Umfragen die meisten Menschen in Deutsch- sagen: genau bis zur Landtagswahl in NRW –, hat den land das nicht für vernünftig halten und sagen: Guido, Titel: Im Himmel ist Jahrmarkt. Danach aber wird die lass das sein! – Sogar die Mehrheit der FDP-Wähler ist Bühne umdekoriert. Dann kommt ein anderes Stück. Das dieser Meinung. Stück hat den Titel: Die Kassen sind leer. Bisher, Herr Westerwelle, Frau Merkel, haben Sie mit Herr Schäuble, wir haben in der Regierung zusam- der falschen Vorstellung mancher in diesem Land ganz mengearbeitet. Ich schätze Sie und Ihre Arbeit. Sie ha- gut gelebt, Schwarz-Gelb verstehe mehr von Finanzen ben über 40 Jahre in der deutschen Politik zugebracht. und Wirtschaft als andere. Das glaubt Ihnen nach den Sie haben sich einen Ruf erarbeitet. Deshalb frage ich ersten 100 Tagen im Amt in Deutschland niemand mehr, Sie: Warum machen Sie dieses Theater mit? und das zu Recht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Sagen doch wenigstens Sie die Wahrheit, nämlich dass Troost [DIE LINKE]) es so nicht geht, und sagen Sie das jetzt und nicht erst im Sie haben in den ersten 100 Tagen gezeigt: Sie ver- Juni dieses Jahres. Darauf kommt es an. schleudern das Geld, sodass es hinterher an allen Ecken Frau Merkel und Herr Westerwelle, Sie versprechen und Enden fehlt. Schon jetzt ist absehbar, dass die Län- jetzt einen Neustart. Ich frage mich: Wie soll das eigent- der arm gemacht werden. Die Frankfurter Oberbürger- lich gehen? Einen Neustart kann es doch nur geben, meisterin – sie gehört bekanntlich nicht der SPD an – hat wenn man erkannt hat, warum man gegen die Wand ge- gesagt: Die Gemeinden werden in den Ruin geführt. – fahren ist. Einen Neustart kann es nur geben, wenn man Nie hat eine Regierung den finanz- und wirtschaftspoliti- erkannt hat, dass die Richtung, die man eingeschlagen hat, schen Vertrauensvorschuss, mit dem Sie vor 100 Tagen grundfalsch war. Ein Neustart kann doch nur funktionie- gestartet sind, so schnell verspielt wie diese. ren, wenn man auch die richtigen Leute dazu hat. Genau (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das unterscheidet aber diese Koalition von der vorheri- (D) gen. Vor gut einem Jahr hatten Sie, Frau Merkel, einen Die Opposition könnte sich darüber freuen; aber das ist Peer Steinbrück, der Ihnen ein Konzept für die Banken- ein Drama für unser Land. Deshalb freut uns das nicht. sanierung auf den Tisch gelegt hat. Aber wir werden Sie mit diesem Thema treiben, das ganze Jahr hindurch. Wir werden Ihnen das nicht durch- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gehen lassen. NEN]: Jetzt haben sie einen PKV-Mann in der Gesundheitspolitik!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Dazu komme ich noch, Herr Trittin. Geduld, Geduld! – Vor einem Jahr hatten Sie noch einen Arbeitsminister Dieses Jahr machen Bund, Länder und Gemeinden , der Ihnen Konzepte für wirksame arbeits- – Sie wissen das, Herr Schäuble, auch wenn Sie es ges- marktpolitische Instrumente auf den Tisch gelegt hat, tern nicht berichtet haben – (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die viel Geld (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Na- gekostet haben!) türlich habe ich es gesagt!) die dafür gesorgt haben, dass die Krise bei uns keine so alles in allem 145 Milliarden Euro neue Schulden. Herr tiefen Spuren hinterlassen hat wie in den europäischen Schäuble, mit jedem Euro in Ihrem Haushalt machen Sie Nachbarländern. 30 Cent Schulden, die obendrauf kommen. 30 Prozent Ihres Haushaltes sind schuldenfinanziert. Das ist die (Beifall bei der SPD) Lage. Schlimm genug, könnte man sagen. Zum Teil, aber eben nur zum Teil, ist das Folge der Krise. Schlimm Ihnen fehlen nun solche Leistungsträger im Kabinett, ist jedoch: Sie machen das Problem nicht kleiner, son- Frau Merkel, die Vorschläge entwickeln, wie Konjunktur dern Sie machen es größer, indem Sie weitere Steuersen- und Wachstum durch Innovation – genau das ist notwen- kungen auf Pump machen und damit weitere Schulden dig – gestärkt werden können. obendrauf packen, indem Sie eine Kopfpauschale ein- Ich sage Ihnen: Die Gefahren der Krise sind nicht ge- führen wollen – das ist ja der Vorschlag von Herrn bannt, aber diesmal sitzt Frau Merkel hier im Bundestag Rösler –, die anschließend notwendigerweise einen So- mit leeren Händen, zialausgleich nach sich zieht, der 35 Milliarden Euro zu- sätzlich kostet. Sie, Herr Kauder, haben gesagt, die SPD (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wo sind Ihre sei nicht bei Verstand. Ich sage Ihnen: Wenn Sie den Vorschläge?) 1280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) mit Achselzucken, ohne Idee, ohne Plan. Das ist der Un- Ordnung gewesen. Die FDP hat gesagt, das sei keine (C) terschied zu damals, den die Leute sehr wohl wahrneh- Dankeschön-Spende; denn sie sei schon vorher bezahlt men. Sie merken auch, dass diese Regierung nichts zu worden. bieten hat. (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- (Beifall bei der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah! Die Kor- Aber dass das so ist, ist aus meiner Sicht kein Zufall; ruption ist umgekehrt!) dahinter steckt ein bisschen mehr. Aber das macht doch die Sache nicht besser. Was wollen ( [FDP]: Wählerwille!) Sie damit eigentlich sagen? War das sozusagen Vor- Das hat Gründe, die in der Architektur und in dem We- kasse? sen der jetzigen Koalition liegen. Beides lässt sich – da (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) bin ich ganz sicher – nicht ohne weiteres durch bloße Ankündigungen verändern. All das kann man auch nicht Wenn Sie so Politik machen, dann wird – das kann ich – darauf haben andere schon hingewiesen – mit Prosecco Ihnen garantieren – die Frage gestellt werden: Sind wir und Tatar zukleistern. nach 100 Tagen dieser Regierung schon wieder in der Bimbes-Republik? (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Igitt! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Mein dringender Rat und meine Empfehlung, damit DIE GRÜNEN]: Nein! Die haben Rotwein ge- nicht wir alle durch diese Spendenpraxis mit geschädigt trunken!) werden, ist: Vermeiden Sie auf jeden Fall den Eindruck, dass Sie dahin zurückkehren wollen! Vermeiden Sie den Hier wird mit einer FDP regiert, die immer noch unter Eindruck, dass durch Spendeneinkommen auf die Ge- Realitätsschock steht, die die Wirklichkeit nicht wahrha- setzgebung Einfluss genommen wird! Am besten wäre ben will, die trotz der tiefsten Krise seit 60 Jahren, seit es, Sie würden dieses Geld schnellstmöglich auf eines Beginn der Nachkriegszeit, immer noch daran glaubt, der vielen Konten von Herrn von Finck zurücküberwei- dass die Politik gegen die Krise bereits in ihrem Partei- sen. Aber das Mindeste ist, dass das Hotelkettenbegüns- programm aufgeschrieben sei. Ich habe mir das Partei- tigungsgesetz schnellstmöglich wieder aufgehoben wird. programm der FDP angesehen. Dort steht nichts dazu. Sie werden Gelegenheit bekommen, darüber abzustim- Man vertraut ein bisschen auf Angebot und Nachfrage. men. Das ist der einzige Ausweg. Nutzen Sie ihn! Hier ein Bonbon für die Hotelbesitzer, da ein Zucker- stück für die Unternehmenserben. Dann kommen die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Apotheker dran und schließlich noch ein paar andere DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: (D) Freunde. – So funktioniert Regieren nicht. Wer gut re- Sie können ja mal Frau Hendricks fragen!) gieren will, der muss das ganze Volk im Blick haben und darf nicht nur einzelne Klientelgruppen bedienen. – Ja, die habe ich gefragt. Da können Sie sicher sein. Deshalb trete ich hier so selbstbewusst auf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da müssen wir auch mal über Ihre Medienholding reden, Herr Noch nie in der Nachkriegsgeschichte, nach meiner Steinmeier!) Erinnerung jedenfalls, hat eine Bundesregierung sich so offensichtlich in den Dienst von Lobbyinteressen ge- Ich will dazu gar nicht mehr sagen, weil die Spende stellt, wie das jetzt der Fall ist. bereits im Mittelpunkt vieler Reden gestern und heute gestanden hat. Ich habe mir aber folgende Frage gestellt: (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Und Rot- Ist das eigentlich das einzige Vorkommnis, das den Vor- Grün 1998?) wurf von Klientelpolitik in Ihre Richtung rechtfertigt? Aus meiner Sicht jedenfalls ist genauso schlimm, dass in – Nein. Wir haben von Ihnen etwas übernommen, was kurzer Zeit, innerhalb von wenigen Tagen, an vielen damals zu Recht Bimbes-Politik und Bimbes-Republik Stellen Cheflobbyisten aus deutschen Verbänden und genannt wurde. Schützen Sie sich selbst davor, eine sol- deutschen Unternehmen in Spitzenpositionen der Minis- che Situation erneut herbeizuführen! Das hat Ihnen ge- terien gerückt sind. schadet, und es hat dem Land geschadet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/ Enkelmann [DIE LINKE]) CSU]: Das sind doch Reden der 90er-Jahre! Das ist die Vergangenheit!) Ich weiß nicht, ob Herr Röttgen da ist; ich sehe ihn im Augenblick nicht. Aber aufgrund meiner Beschäftigung – Zur CSU komme ich noch. mit Energiepolitik in der Vergangenheit weiß ich, dass es (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da sind wir aber in Deutschland eine ganze Reihe von unabhängigen Ener- froh!) gieexperten gibt. Keinen von diesen hat Herr Röttgen in sein Ministerium geholt. Wir haben gestern über die Spende aus der Familie von Finck, die Mövenpick-Spende, gestritten, und viele Stattdessen hat er jemanden geholt, der seit Jahrzehn- haben sich verteidigt und gesagt, das sei doch alles in ten aufseiten der Industrie für die Atomkraft gestritten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1281

Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) hat. Herr Hennenhöfer soll jetzt als Spitzenbeamter im (Beifall bei der SPD – Zurufe von der FDP: (C) Bundesumweltministerium die Grundzüge der deutschen Oh!) Energiepolitik bestimmen. Herr Röttgen, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Wenn es noch eines Bei- Ob die CSU Herrn Baron von Finck auch zu Dank spiels bedurft hätte: Das ist ein Musterbeispiel erfolg- verpflichtet ist, wissen wir noch nicht ganz genau. reichen Lobbyismus in dieser Bundesregierung. Des- (Joachim Poß [SPD]: Seit Jahrzehnten!) halb sage ich: Herr Röttgen, Sie werden sich am Ende Ihr Energiekonzept von der deutschen Atomlobby dik- Wahr ist jedenfalls, dass Herr Seehofer, wie wir gehört tieren lassen. haben, ebenfalls schon über Jahre für die Interessen der Hotelbesitzer stramm gefochten hat. Seehofer ist derje- Was dem Ganzen noch die Krone aufsetzt – ich habe nige, der bis vor kurzem noch gesagt hat, er sei Chef der es ja nicht fassen können –, ist die Tatsache, dass dieser letzten wirklichen Volkspartei in Deutschland. Spitzenbeamte, den Sie sich eingekauft haben, in den zentralen Genehmigungsentscheidungen, die demnächst (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Wo arbeitet in Ihrem Hause anfallen werden, aus Rechtsgründen we- der Herr Schröder jetzt?) gen Befangenheit nicht einmal mitwirken darf. Das ist ein Skandal. Herr Röttgen muss der deutschen Öffent- – Herr Schröder hat sich da nie beworben, wenn ich das lichkeit erklären, welchen Sinn diese Personalentschei- richtig weiß. dung macht. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber bei Gazprom!) DIE GRÜNEN) Aber dann verstehe ich das Gezappel nicht, das ich im Herr Rösler, was die grundsätzliche Aufgabe des Ge- Augenblick in der CSU sehe. Als wir noch in der Großen sundheitsministers angeht, nämlich dafür zu sorgen, dass Koalition waren, habe ich immer gedacht, das habe et- jeder in diesem Lande einen Anspruch auf bestmögliche was mit den Sozis in der Koalition zu tun, weil die CSU Versorgung hat, sind wir nicht im Streit. Es gibt da aber mit denen besondere Schwierigkeiten habe. Aber das ein paar Unterschiede, die auch mit dem unterschiedli- Gezappel geht ja weiter. Heute hü, morgen hott und chen Einkommen zusammenhängen. Diese drücken sich übermorgen eine ganz andere Meinung, so die tägliche in der Struktur der Versicherten aus. Wenn Sie wirklich CSU-Taktik ohne irgendein erkennbares politisches Ziel. den Anspruch haben, bestmögliche Versorgung für jeden Wenn Sie mich fragen, dann ist die CSU auf der Suche zu garantieren, dann geht das nur, wenn Sie die gesetz- nach sich selbst statt auf der Suche nach Lösungen für lich Krankenversicherten gegen die Interessen von Lob- dieses Land. Wenn mich nicht alles täuscht, dann könnte, (B) byisten verteidigen. Dass das nicht einfach ist, können wenn ich nach Bayern schaue, Herr Seehofer der Ab- (D) Sie von Ulla Schmidt erfahren. wickler der ehemals stolzen bayerischen Staatspartei werden. Herr Seehofer: „Wer zu spät kommt, den be- (Lachen bei der FDP – Zuruf von der FDP: straft das Leben“, würde Gorbatschow sagen. Dienstwagen in Spanien!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Sie werden sich noch an meine Worte erinnern. Man des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – braucht ein breites Kreuz, um den täglichen Druck von Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach, wie origi- den Akteuren im Gesundheitswesen auszuhalten. nell! Tolle Formulierung!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich sage das nicht ohne Not. Ich gebe Ihnen jetzt eine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Begründung dafür. Was die CSU-Politik in den letzten Sie probieren noch nicht einmal, wie viel Druck Sie Jahren in Bayern mit Blick auf das große Börsenkasino aushalten, sondern holen sich gleich den Cheflobbyisten der Bayerischen Landesbank, bei dem 14 Milliarden der privaten Krankenversicherungen in die Grundsatzab- Euro verzockt worden sind, angeht: Die CSU hat in Bay- teilung des Gesundheitsministeriums. Das ist nicht ver- ern – das nehmen Sie hoffentlich ernst – ihre finanz- und boten, werden Sie sagen. Aber in diesem Lande gibt es wirtschaftspolitische Kompetenz auf Dauer verspielt. 70 Millionen gesetzlich Versicherte. Sie verstehen nicht, ( [CDU/CSU]: Die Um- dass die Mehrheit der Menschen in diesem Lande Angst fragen sagen das Gegenteil!) haben, weil sie befürchten, dass ihre Interessen durch Ihre Personalentscheidung untergebuttert werden. Ich war am Dreikönigstag im Berchtesgadener Land. Herr Ramsauer, das ist ganz sicher ein wunderschöner (Christian Lindner [FDP]: Quatsch!) Wahlkreis; das will ich nicht bestreiten. Herr Rösler, Sie nähren mit jeder öffentlichen Äußerung (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Er diese Befürchtung der breiten Masse der Bevölkerung. hatte mehr Prozente als Sie!) Deshalb sage ich Ihnen: Mit Ihrer Gesundheitspolitik werden Sie in der eigenen Koalition noch viel Spaß be- – Ja, auch das. – Ich habe nach der Veranstaltung mit kommen. Den wünsche ich Ihnen. Ich wünsche aber den vielen Leuten, auch mit CSU-Leuten, gesprochen. Sie Versicherten in diesem Lande, dass sie die Gesundheits- sagen: Früher waren wir wirklich stolz auf unsere CSU versorgung behalten, die sie unter guter sozialdemokrati- in Bayern. Wir waren stolz, weil wir es besser konnten, scher Führung der letzten Jahre gewohnt sind. sagen sie. 1282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE recht. – Es soll also doch Steuersenkungen in breitem (C) GRÜNEN]: Was ja auch nicht stimmt!) Umfang geben, obwohl kein Geld da ist. Es soll mögli- cherweise doch eine Reduzierung des Spitzensteuersat- Dieser Stolz ist weg, sagen einige. Und: Ich schäme zes um 10 Prozent geben, und das alles trotz leerer Kas- mich dafür, was die bei der Landesbank mit unserem sen. Anschließend haben Sie veranlasst, dass der Geld gemacht haben. Sie haben es einfach verzockt; weg Finanzminister diese Pirouette wieder mitdreht. Meine ist es. Damen und Herren, das ist keine seriöse Politik. Ich bin Das Geld, das die kleinen Leute in Bayern erarbeitet mir sicher: Das wird nicht belohnt werden, auch nicht haben, ist bei der Bayerischen Landesbank verbrannt. bei der wichtigen Wahl, die in diesem Jahr stattfindet. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sollten mal (Beifall bei der SPD) auf die WestLB schauen!) Für das Heraushalten und Ausspielen von Teilen der Ich sage Ihnen voraus: Diese Erbsünde in Bayern wer- Koalition gegeneinander gibt es noch ein paar andere den Sie so schnell nicht wieder los. Das ist bitter für die Beispiele, unter anderem die Causa Steinbach. Es geht CSU in Bayern. Aufgrund der Reden hier sage ich an die um die Frage, ob Frau Steinbach dem Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ angehö- CSU gerichtet: Seien Sie zwischendurch einfach mal et- ren darf und soll. Ich vermute, Sie haben da eine Mei- was weniger von oben herab, und zeigen Sie etwas mehr nung. Ich vermute, Sie wissen, dass Frau Steinbach die- Demut! Auch Sie, meine Damen und Herren von der sem Stiftungsrat nicht angehören wird. Aber statt das zu CSU, sind in der Realität Deutschlands angekommen. sagen, lassen Sie die FDP das Geschäft erledigen, so wie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es früher in der Großen Koalition durch die SPD erledigt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) worden ist. Sie fürchten sich davor, den Vertriebenenver- bänden klipp und klar die Wahrheit zu sagen. Würde Nun tut die Bundeskanzlerin Frau Merkel so, als hätte Frau Steinbach dem Stiftungsrat angehören, wäre das sie mit dem ganzen Gezeter der Männer links und rechts eine Katastrophe für das deutsch-polnische Verhältnis. um sich herum nichts zu tun. Aber statt das selbst klar zu sagen, müssen das bei Ihnen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) immer die jeweiligen Koalitionspartner tun. Das ist nicht fair. Das ist nicht offen. Das ist keine Leitentscheidung Einige sagen sogar: Das ist geschickt. der Kanzlerin. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nur, wahr ist es nicht. (B) Ich nenne als weiteres Beispiel Europa und die Tür- (D) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch!) kei. Im Koalitionsvertrag steht dazu auch nichts Ge- Frau Merkel, Sie haben Ihren aktiven Anteil an dem ak- naues, es wiederholen sich allenfalls die Formulierungen tuellen Desaster in der Koalition. Sie schauen nämlich aus früheren Koalitionsverträgen. Herr Westerwelle sagt dem Treiben zwischen FDP auf der einen Seite und CSU bei seinem Türkeibesuch das eine, die CSU täglich das auf der anderen Seite einfach teilnahmslos zu. Sie halten andere. Von der Kanzlerin hören wir kein klares Wort sich einerseits heraus und erklären das andererseits noch dazu, wie die Regierung mit dieser Frage umgehen will. zur Methode. Sie spielen Leute von der FDP und der Frau Merkel, in Ihrem Kabinett darf nicht nur jeder CSU ganz geschickt gegeneinander aus, schlagen sich machen, was er will. Sie wollen sogar, dass jeder macht, aber selbst in die Büsche. Beispiele dafür haben wir in was er will. Das mag für Sie persönlich, vielleicht sogar den letzten Tagen erlebt. im Augenblick für die Umfragewerte das Richtige sein – es ist jedenfalls nicht negativ –, es ist aber schlecht für (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Steinbach!) unser Land. Das ist Ihr Anteil am Schlamassel dieser Die Steuersenkung ist ein Beispiel. Zur Steuersen- Koalition und an dem Drama, das sich in Deutschland kung haben Sie lange nicht das Geringste gesagt. Vor abspielt. der Wahl in Nordrhein-Westfalen wollen Sie nicht zuge- (Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/ ben, dass das alles leere Versprechungen sind. Darum CSU]: Sie müssen sich einen besseren Reden- musste erst einmal Herr Schäuble ins Rennen. schreiber suchen!) (Joachim Poß [SPD]: Er hat aber auch nichts In einem haben Sie recht: In diesem Land ist Erneue- gesagt!) rung notwendig. Neues Denken ist gefragt, und zwar Er musste erst einmal sagen: Das geht so nicht; es ist dringend. Ja, Frau Merkel, aber was tun Sie? Sie tun ge- kein Geld dafür da. – Als er dann einmal öffentlich ge- nau das Gegenteil. Sie reichen altem Denken, ich sage sagt hatte, was notwendig zu sagen war, sind Sie ihm in sogar uraltem Denken die Hand. Sie reichen die Hand ei- den Rücken gefallen ner Politik, die schon bei Frau Thatcher und Herrn Reagan vor Jahrzehnten gescheitert ist. Müssen wir in (Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Zurückgepfif- Deutschland denn auch noch die Erfahrung machen, fen!) dass die Verarmung des Staates keine Garantie für Wachstum ist? Wenn Sie so weitermachen, dann be- und haben in einem Interview im Handelsblatt öffent- fürchte ich, dass das der Fall sein wird. lich erklärt – das haben dann einige zu einem Macht- wort hochstilisiert –: Nein, Herr Schäuble, die FDP hat (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1283

Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Dabei liegen die Themen für die Erneuerung dieses Generalsekretär bezeichnet den Staat als schwächlichen (C) Landes auf der Hand: grüne Revolution, die älter wer- Nichtsnutz. Das sagt jemand, der seinen Lebensunterhalt dende Gesellschaft, bessere Bildung, bessere Integra- jahrelang aus öffentlichen Kassen bestritten hat. Ich sage tion. Aber was hören wir heute Morgen in Ihrer Rede? Ihnen: Wer so borniert, wer so verächtlich über Arbeits- Wir hören wieder nur Ankündigungen, wieder nur Über- lose und den notwendigen Schutz der Menschen daher- schriften. Wo ist das Konzept dieser Regierung für eine redet, wer nicht lernt, dass wir nicht einfach zu den ver- Modernisierung der Wirtschaft? Wo ist das Konzept die- meintlich sonnigen Zeiten vor der Krise zurückkehren ser Regierung für die Arbeit von morgen? Gar nichts können, der kann dieses Land nicht erneuern. Deshalb höre ich dazu! Wo ist die Weichenstellung für Bildung, werden Sie scheitern, meine Damen und Herren von der Betreuung und Integration? Stattdessen – Sie haben eben Bundesregierung. zugehört – gibt es wieder die Ankündigung von neuen Gipfeln: wieder die Ankündigung eines Bildungsgipfels, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wieder die Ankündigung eines Integrationsgipfels. Ich DIE GRÜNEN) frage Sie: Was sollen all diese neuen Gipfel, wenn Län- Diese Bundesregierung ist zu der Erneuerung, die sie der und Gemeinden keine Kohle mehr in ihrer Kasse ha- sich selbst vorgenommen hat, nicht in der Lage. ben, um daraus Politik zu finanzieren? Wir wollen Taten Schwarz-Gelb kann das nicht. Schauen Sie auf Frau sehen. Wir wollen Ergebnisse sehen. Die haben Sie Merkel. Sie sitzt mit leeren Händen auf dem Kanzler- nicht. Deshalb ist Ihre Politik folgenlos und schädlich stuhl. für unser Land. (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [CDU/CSU]: Und das ist gut so! – Hartwig des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das haben Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist sie folgenlos Sie wenigstens erkannt!) oder nicht folgenlos? Beides geht nicht!) – Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie zu den „leeren Hän- Wer Erneuerung will, der braucht Geld. Deshalb sage den“ klatschen. ich: Stecken Sie das Geld, das noch zur Verfügung steht – es ist wenig genug –, in Innovation, Forschung und (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Bildung. Dort wird es dringend gebraucht. Stattdessen Mit vollen Händen hat noch niemand ge- verplempern Sie mal eben knapp 10 Milliarden Euro mit klatscht! Das geht gar nicht!) dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Sie So kann man vielleicht eine Zeit überstehen, aber Politik hätten damit die Bildungshaushalte des Bundes verdop- für die Menschen in unserem Land kann man so nicht (B) peln können. Wenn jetzt noch 20 Milliarden Euro Steu- machen. (D) ersenkung draufkommen, Die Quittung dafür wird in diesem Jahr kommen. Das (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das geht rein wird für Sie eine bittere Erfahrung sein. Wenn die Men- praktisch nicht!) schen erkennen, dass sie von dieser Regierung getäuscht dann könnten Sie mit dem Geld, das Sie mit der Gieß- worden sind, wenn sie erkennen, dass es nicht mehr kanne übers Land verstreuen, Ganztagsschulen bauen, Netto vom Brutto, sondern weniger Netto vom Brutto Studienplätze schaffen, Forscher einstellen, Labors aus- geben wird, wenn sie erkennen, dass in den Städten und statten und die Zahl der Patente nach oben treiben. Gemeinden überall gestrichen wird, dass die Gebühren für Kindergärten, Wasser und Abfall erhöht werden, (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Mal in den dass, was in einigen Städten Nordrhein-Westfalens Haushaltsplan reinschauen!) schon jetzt erkennbar ist, Stadtteilbüchereien, Theater und Schwimmbäder geschlossen werden, wenn die Men- All das wäre möglich, wenn Sie nicht an dieser blödsin- schen erkennen – das hat Frau Künast eben richtig ge- nigen, an dieser falschen Politik festhielten. sagt –, dass sie trotz einer Kindergelderhöhung nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mehr, sondern weniger Geld im Portemonnaie haben, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – dann wird das Vertrauen in diese Regierung wegbrechen. Norbert Barthle [CDU/CSU]: Da sträuben sich Ich sage Ihnen: Das, was Sie mit den Menschen treiben, dem Haushälter die Nackenhaare!) insbesondere vor den Wahlen, ist ein falsches Spiel. Das beschädigt das Vertrauen in diese Regierung; da bin ich Mit dem, was Sie gegenwärtig auf den Weg bringen, mir sicher. Schlimmer aber ist, dass das auch das Ver- plündern Sie nicht nur die öffentlichen Kassen des Bun- trauen in die politischen Institutionen beschädigt. des, der Länder und der Gemeinden, sondern Sie schwä- chen auch das, was gerade in der gegenwärtigen Situa- (Beifall der Abg. Brigitte Zypries [SPD]) tion in unserem Land so wichtig ist: die soziale Darum ist das, was Sie in den ersten 100 Tagen Ihrer Re- Sicherheit. Wir ahnen und wissen im Grunde genau gierungszeit aufgeführt haben, kein schlechtes Lustspiel, – einige aus der Koalition sagen es in Interviews ja auch sondern bitterer Ernst. schon öffentlich –: Nach der NRW-Wahl wird der Rot- stift angesetzt, natürlich bei den Schwachen und bei den Herr Schäuble, ich habe Ihnen gestern gut zugehört. Normalverdienern. Wir hören schon die zynischen Be- Meine herzliche Bitte ist, dass Sie über einen Satz, den gleitkommentare von Roland Koch und anderen: Treibt Sie gestern gesagt haben, noch einmal ganz ernsthaft die faulen Säcke endlich einmal zur Arbeit! Der FDP- nachdenken. Dieser Satz ist in Ihrer Rede im Zusam- 1284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) menhang mit der Diskussion über die Parteispenden (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ (C) von Finck gefallen. Sie haben in der Debatte gestern ver- DIE GRÜNEN]: Oh!) sucht, Kritik an Ihrer Klientelpolitik unter Verweis auf Diese Rede, Herr Steinmeier, war lang, laut und enttäu- Weimar verstummen zu lassen. Wer sie kritisiert – ich schend. darf Sie einmal zitieren –, der stehe in den Traditionen der „Radikalen von rechts und links“. So haben Sie das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gestern genannt. Herr Schäuble, überlegen Sie noch ein- neten der FDP) mal, ob das wirklich ein Satz ist, den Sie an die Adresse Diese Rhetorik, mit der man versucht, ein blutleeres der Sozialdemokraten richten wollen. Mit Blick auf die Sammelsurium und Peinlichkeiten zu überspielen, liegt Geschichte dieser Partei kann das kein ernstgemeinter Ihnen einfach nicht. Satz sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der FDP) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wissen Sie, letztes Jahr waren Sie eigentlich noch ganz vernünftig. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Zurufe von der SPD: Ah!) Herr Steinmeier, kommen Sie bitte zum Ende. Mit „geistiger Wende“ haben wir nicht gemeint, dass Sie sich jetzt in geistiges Unterholz begeben sollen. Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Ich bin sofort fertig. – Ich halte dem entgegen: Demo- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) kratie gefährdet nicht der, der Falsches falsch nennt. Die Nein, mit „geistiger Wende“ haben wir gemeint, dass wir wirkliche Gefahr für die Demokratie ist eine Politik, die mehr Freiheit in diesem Land brauchen. Lieber Herr sich richtiger Einsicht verweigert, Steinmeier, Ihre Angriffe auf die Bundesregierung waren ungerechtfertigt (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!) die das tut, was nur Einzelnen nützt, die das Gemein- wohl aber vernachlässigt und die Kritik daran Majestäts- und sie waren billig. beleidigung nennt. Das darf nicht sein. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein! Ihre Poli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tik ist billig, Herr Friedrich! Ich korrigiere mich: Sie ist teuer!) (B) DIE GRÜNEN) (D) Sie sollten sich nicht auf dieses Niveau begeben. Viel- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: leicht hätten Sie, wenn es um die Verquickung von Poli- Herr Steinmeier, kommen Sie bitte zum Ende. tik und wirtschaftlichen Interessen geht, auch über Ihren Freund Gerhard Schröder und Gazprom reden können. Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): (Zuruf von der FDP: Herr Müller!) Die Gefahr für unser Land sind nicht die Kritiker, das sind Sie selbst. Machen Sie Schluss mit der Klientelpoli- Aber auf dieses Niveau möchte auch ich mich nicht be- tik! Machen Sie Schluss mit der Politik sozialer Spal- geben. tung! Kehren Sie auf den Weg der Verantwortung zu- Ich beglückwünsche Sie, dass Sie bei Ihrem Urlaub in rück! Bayern offensichtlich noch einige Sozis getroffen ha- ben. Herzlichen Dank. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall wie bei Abgeordneten der FDP) beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf Wiedersehen! – Es gibt nicht mehr viele davon. Bei den Umfragen liegt Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihre Partei, wenn ich das sagen darf, bei 17 Prozent. In Und Tschüss!) der letzten Woche haben auf die Frage nach der Wirt- schaftskompetenz der CSU 64 Prozent der bayerischen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bevölkerung gesagt: Die CSU hat die Wirtschaftskom- petenz. Das liegt nach allen Untersuchungen daran, dass Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Bayern die Region mit der größten wirtschaftlichen Frei- Dr. Hans-Peter Friedrich das Wort. heit in Europa ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch neten der FDP) einmal über die Bayern LB!)

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Deswegen gibt es auch die meisten Investitionen in die- sem Land. Darauf sind wir stolz. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man konnte nach dieser Rede wirklich nicht da- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr von ausgehen, dass so lange geklatscht wird. gut! Jawohl!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1285

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Das ist die Kompetenz, auf die die CSU stolz sein kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Um die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kindergeldkomponente geht es doch gar Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber zu nicht!) Deutschland gehören Sie schon noch, oder sind Sie schon ein extra Staat?) – Herr Poß, der größte Teil der im Rahmen des Wachs- tumsbeschleunigungsgesetzes vorgesehenen Steuersen- Die christlich-liberale Koalition legt ihren ersten kungen geht zugunsten der Familien, Haushalt vor; aber es ist nicht der erste Haushalt in einer Krise, sondern bereits der zweite. Den letzten, lieber (Joachim Poß [SPD]: Ja! Das ist richtig! Aber Herr Steinmeier, haben wir zusammen mit Ihnen verab- der Freibetrag war gar nicht nötig! – Gegenruf schiedet. Wir haben festgestellt, dass die Wirtschafts- der Abg. Birgit Homburger [FDP]: Natürlich krise kein Land in der Welt verschont, sondern überall ist der nötig!) zuschlägt. Es gibt viele Länder, die am Rand des Erträg- lichen, am Rand des Staatsbankrotts angelangt sind, ei- der kleinere Teil dient der Entlastung der Unternehmen. nige mit Massenarbeitslosigkeit. Unser Land ist bisher Haben Sie von der SPD etwa vergessen, dass die Un- relativ verschont geblieben. Das liegt daran, dass ternehmen die Grundlage für Arbeitsplätze in diesem Deutschland, dass die deutsche Volkswirtschaft eine her- Land sind vorragende Substanz hat. (Joachim Poß [SPD]: Als es um die zeitliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Befristung ging, haben wir ja auch mitge- neten der FDP) macht!) Es liegt auch daran, dass vonseiten der deutschen Po- und dass jede Erleichterung für die Unternehmen auch litik, auch hier im Hohen Hause, rechtzeitig, schnell und eine Verbesserung im Hinblick auf die Wettbewerbsfä- richtig reagiert wurde. Wir haben in der Großen Koali- higkeit der Arbeitsplätze ist? tion zusammen – vielleicht wollen Sie sich nicht mehr daran erinnern; aber ich erinnere Sie daran – öffentliche (Joachim Poß [SPD]: Noch einmal: Bei der zeitli- und private Investitionen angestoßen. Ich denke nur an chen Befristung haben wir mitgemacht!) die Wärmesanierung von Gebäuden. Wir haben mit der Kurzarbeit eine Brücke von der Krise hinüber in die Insofern ist auch diese zweite Komponente, wie ich Normalzeiten gebaut. Hoffen wir, dass diese Brücke lang glaube, von großer Bedeutung. genug sein wird. Wir haben gemeinsam, Sie von der Trotz dieser neuen Impulse – wir stellen übrigens (B) SPD und wir, im letzten Jahr Steuerentlastungen in Höhe 750 Millionen Euro zusätzlich für Forschung und Bil- (D) von 14, 15 Milliarden Euro beschlossen, die zum dung bereit – sieht unser Haushaltsentwurf eine gerin- 1. Januar dieses Jahres in Kraft treten. Ich verstehe nicht, gere Neuverschuldung als der damalige Entwurf des wieso Sie sich jetzt von diesen Beschlüssen, die Sie SPD-Bundesfinanzministers vor. selbst mitgetragen bzw. vorangetrieben haben, verab- schieden wollen. (Joachim Poß [SPD]: Die Grundlagen haben sich ja auch geändert! Sagen Sie das doch auch Weil sich diese Krise im Haushalt widerspiegelt, hat einmal! Das ist doch eine Täuschung! – Ge- der ehemalige SPD-Bundesfinanzminister im Mai letz- genruf des Abg. Dr. [CDU/ ten Jahres einen Haushaltsentwurf für 2010 vorgelegt, in CSU]: Höchstens Selbsttäuschung, und zwar dem eine Erhöhung der Neuverschuldung um 86 Mil- bei Ihnen!) liarden Euro vorgesehen war; Das zeigt, dass wir die Dinge solide angegangen sind. (Joachim Poß [SPD]: Ja! Unter den damaligen Annahmen! Das wissen Sie doch genau!) Das Zweite ist – auch darauf möchte ich hinweisen –: das ist die Wahrheit. Das ist das Spiegelbild der Krise. Es gibt in diesem Lande nicht nur einen Schutzschirm für Banken, sondern auch einen Schutzschirm für die Seit drei Monaten regiert eine christlich-liberale Ko- Arbeitnehmer. Auch dies haben wir zusammen auf den alition, Weg gebracht. In der jetzigen Krise ist es nämlich rich- tig, dafür zu sorgen, dass die Lohnnebenkosten nicht (Joachim Poß [SPD]: Ja, leider!) steigen, weil dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden die die Politik der Krisenbewältigung des letzten Jah- könnten, res weiterentwickelt hat, konsequent und logisch. (Joachim Poß [SPD]: Ja! Aber dafür haben wir (Joachim Poß [SPD]: Das stimmt so nicht!) die Substanz geliefert, nicht Sie!) Erstens stocken wir den Umfang der Steuerentlastungen, was vielleicht zur Folge hätte, dass Kurzarbeit in Ar- die wir schon im letzten Jahr beschlossen haben, um beitslosigkeit umschlägt. Wir haben bei den Mitteln für weitere 8,5 Milliarden Euro auf, die Bundesanstalt für Arbeit 16 Milliarden Euro draufge- (Joachim Poß [SPD]: Ja! Aber für Unsinn!) legt, die Mittel für die gesetzliche Krankenversicherung um 4 Milliarden Euro erhöht und das Darlehen – ein Dar- und zwar in allererster Linie – das ist der größte Bro- lehen führt irgendwann zwangläufig dazu, dass die Bei- cken – für Familien. Dazu stehen wir, weil es richtig ist. tragszahler dafür aufkommen müssen – in einen verlore- 1286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) nen Bundeszuschuss umgewandelt. Auch das ist, wie ich (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Schaffen Sie (C) glaube, ein wichtiger Gesichtspunkt. sie doch ab! Aber nein: Es gibt sie immer noch!) Der Verlauf dieses Jahres und der weitere Verlauf der Wirtschaftskrise sind unsicher; darauf wurde zu Recht Welches Etikett auch immer Sie auf eine Steuer kleben: hingewiesen. Am Ende müssen die Menschen zahlen. Lassen Sie also das mit den Etiketten! Außerdem wissen Sie genau, dass Meine Damen und Herren, die Frau Bundeskanzlerin es wahnsinnig schwer ist, Steuern, die einmal eingeführt hat heute gesagt: Der Wirtschaftseinbruch in Deutsch- sind, wieder abzuschaffen. land betrug 5 Prozent. – Die Produktion in Deutschland ist also um 5 Prozent eingebrochen. Ich möchte zu Ver- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) gleichszwecken daran erinnern, dass wir beim sogenann- Deswegen sind wir bei solchen Vorschlägen – die von al- ten Ölpreisschock in den 70er-Jahren einen Produktions- len Seiten gemacht werden – sehr zurückhaltend. rückgang um 0,9 Prozent zu verzeichnen hatten. Der damalige Rückgang hat zu einer enorm hohen Arbeitslo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sigkeit geführt. Insofern kann man im Vergleich zu da- Joachim Poß [SPD]: Frau Merkel ist doch für mals ermessen, was ein Rückgang um 5 Prozent bedeu- die Finanztransaktionsteuer! Herr Kauder ist tet und wie gut es uns gelungen ist, die Arbeitslosigkeit doch für diese Steuer! Sind Sie nicht dafür? im Zaum zu halten und sie nicht ausufern zu lassen. Sind Sie gegen die Finanztransaktionsteuer?) Wir wollen, dass die Menschen fair behandelt wer- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den, die ihr Leben lang gearbeitet haben und zu einem Herr Kollege Friedrich, würden Sie eine Zwischen- späten Zeitpunkt ihres Arbeitslebens unverschuldet ar- frage des Kollegen Heil zulassen? beitslos geworden sind. Es muss ein Unterschied ge- macht werden zwischen denen, die jahrzehntelang gear- beitet haben und dann unverschuldet in Hartz IV Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): geraten, und denen, die noch nie gearbeitet haben. Des- Keine Zwischenfragen, danke. wegen, aber auch, um den Leistungsgedanken zu beto- nen, war es uns wichtig, dass das Schonvermögen erhöht (Brigitte Zypries [SPD]: Sehr christliches Ver- wird. Die christlich-liberale Koalition hat diesen Schritt halten!) getan. Ich glaube, dass diese Entscheidung richtig ist. Gefahren lauern allerdings auch in manchen unserer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) Partnerländer, die finanziell und wirtschaftlich zum Teil der FDP) (D) schwach auf der Brust sind; auch hier müssen wir uns auf vieles einstellen. Wir wissen nicht, was dieses Jahr Wir werden bei unseren Überlegungen weiter darauf bringt. Aber die christlich-liberale Koalition ist auf alle achten, dass die Kommunen – das ist ein Anliegen, das Eventualitäten vorbereitet. Unsere Antwort auf die Krise ich als Vertreter der CSU besonders hervorheben will; und auf die Herausforderungen ist die soziale Markt- denn wir sind tief verwurzelt in den Kommunen – auch wirtschaft. Das unterscheidet uns von der rot-rot-grünen in der Zukunft ihre Aufgaben erfüllen können. Wir wer- Opposition. den auch vonseiten der Bundespolitik darauf achten, dass die Kommunen in ihrer Wirtschaftsdynamik, in ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rer Investitionskraft weiterhin gefestigt und gestärkt Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!) werden. Das ist einer der wichtigsten Punkte, die wir uns auf die Fahne geschrieben haben. Im Übrigen möchte Wir setzen auf die Freiheit der Marktwirtschaft. ich darauf hinweisen, dass die Wachstumsdynamik, die Das wichtigste Kapital unseres Landes sind das wir gemeinsam durch das Wachstumsbeschleunigungs- Selbstvertrauen der Menschen, ihr Optimismus, ihre gesetz erhöht haben, auch den Kommunen zugute- Leistungsbereitschaft und ihre Bereitschaft, Verantwor- kommt. tung zu übernehmen. All dies sind Voraussetzungen da- (Joachim Poß [SPD]: Das ist ein Witz von für, dass der Sozialstaat, den wir alle bewahren und ver- Wachstumskonzept!) bessern wollen, erhalten bleibt. Die Steuereinnahmen, die durch zusätzliches Wachstum Die Generalsekretärin der SPD wurde dieser Tage in entstehen, kommen nämlich auch bei den Kommunen einem Interview mit der Berliner Zeitung gefragt: Wo an. würde die SPD denn sparen? Sie hat gesagt: Sparen braucht man nicht, man muss nur die Steuern erhöhen. Lassen Sie mich zum Schluss etwas zur Schulden- Sie hat die Einführung eines neuen Soli und die Erhö- bremse sagen. Wir – FDP, SPD, CDU/CSU – haben die hung von Steuersätzen vorgeschlagen. Schuldenbremse im vergangenen Jahr in Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen gemeinsam ver- Meine Damen und Herren, wir wissen, wie erfinde- abredet. Wir stehen zu dieser Verantwortung. Ich kann risch die Linken sind, wenn es um die Einführung neuer nur immer wieder sagen: Weisen wir gemeinsam alle Steuern geht. Ich erinnere an die rot-grüne Ökosteuer, Angriffe der Linken – sowohl derer, die sich die Linken die mit dem Wohlfühlwort „Öko“ versehen wurde, aber nennen, als auch der Linken in den Reihen anderer Par- nichts weiter war als das Abkassieren von Menschen. teien – auf die Schuldenbremse zurück! Freibier für alle Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1287

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) und Schulden machen auf Teufel komm raus ist keine Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): (C) verantwortliche Politik. Deswegen ist die Schulden- Lieber Herr Heil, allein die Tatsache, dass Sie solche bremse richtig. Fragen stellen, zeigt, welche Verwirrung bei Ihnen herrscht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) LINKEN – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wir wollen wirtschaftliche Dynamik in dieses Land Ihr macht 100 Milliarden Euro Schulden, nicht bringen. Wir wollen, dass die Menschen arbeiten und wir!) Lust an der Arbeit haben. Dazu gehört, dass wir ihnen Diese christlich-liberale Regierung hat einen klaren Entfaltungsmöglichkeiten dadurch bieten, dass wir ihnen Auftrag: Wir werden Deutschland aus der Krise führen. nicht das ganze Geld wegnehmen, das sie verdienen, Wir werden das Land fitmachen für das neue Jahrzehnt, sondern ihnen mehr Netto vom Brutto lassen. Das ist un- und wir werden dafür sorgen, dass Deutschland in der ser Credo. Dass dazu natürlich auch gehört, dass wir ih- Welt an der Spitze steht. nen nicht auf der einen Seite steuerliche Entlastungen geben und auf der anderen Seite die Lohnnebenkosten Danke schön. erhöhen, ist doch selbstverständlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie doch was zur neten der FDP – Dr. Gesine Lötzsch [DIE Frage!) LINKE]: Ich dachte, Bayern!) Allein die Frage ist schon Unfug.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Kollege Heil zu einer Kurzintervention, bitte. Natürlich ist dies eines der wichtigsten Ziele unserer Wirtschaftspolitik überhaupt. Wir verstehen Wirtschafts- Hubertus Heil (Peine) (SPD): politik nicht wie andere, die Genossen der Bosse, als Klientelpolitik für die Großkonzerne. Unser Ansatz ist Herr Kollege Friedrich, da Sie nicht den Mut gezeigt Wirtschaftspolitik für die mittelständischen Unterneh- haben, eine Zwischenfrage zuzulassen, möchte ich Ihnen men, für das Handwerk, für die landwirtschaftlichen Be- eine ganz einfache Frage stellen. triebe. Aus der Koalition waren unterschiedliche Äußerun- (Joachim Poß [SPD]: Für die Allianz!) gen zu vernehmen, als es um die Erhöhung des Arbeits- (B) losenversicherungsbeitrages ging. Ich will Ihnen hier Dort sind die Erhöhungen von Lohnnebenkosten schäd- (D) und jetzt, in der Reaktion auf meine Kurzintervention, lich, und deswegen werden wir uns einer solchen Politik die Gelegenheit geben, zu Protokoll zu geben, wie sich der Erhöhung von Lohnnebenkosten entgegenstellen. das verhält. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Können Sie – auch für die Zeit nach der Landtags- Joachim Poß [SPD]: Keine Antwort! – wahl in Nordrhein-Westfalen – definitiv ausschließen, Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wiedervorlage dass der Arbeitslosenversicherungsbeitrag in dieser Le- im Sommer, Herr Friedrich!) gislaturperiode über das hinaus erhöht wird, was an Er- höhung – auf 3 Prozent – zum nächsten Jahr ansteht? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nun hat Brigitte Zypries für die SPD-Fraktion das Ich frage danach, weil das für die Planbarkeit im Hin- Wort. blick auf Personal, für wirtschaftliche Investitionen, für den Faktor Arbeit sehr wichtig ist. Meine Frage ist ganz (Beifall bei der SPD) einfach – Sie müssen nicht lang antworten –: Ja oder Nein? Wird diese Koalition, um ihre Steuergeschenke zu Brigitte Zypries (SPD): finanzieren, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag erhö- Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten hen und damit dafür sorgen, dass den Arbeitnehmern Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Der weniger Netto vom Brutto bleibt? Haushalt des Beauftragten für Kultur und Medien sieht Diese Frage ist offen, weil in der Koalition schon über auf den ersten Blick gut aus: Es gibt keine Kürzungen in eine Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages der Kultur- und Medienpolitik des Bundes. Ja, es gibt auf 4,5 Prozent diskutiert wird. Herr Friedrich, Ja oder sogar eine moderate Steigerung, die aber hoffentlich Nein: Werden Sie den Beitrag auf mehr als 3 Prozent er- nicht nur an der tarifvertraglich bedingten Erhöhung der höhen? Sagen Sie: Read my lips! Personalkosten liegt. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die schlechte Nachricht allerdings ist: In Wahrheit Sagen Sie uns: Wird Steinmeier nach der Wahl findet natürlich doch eine Kürzung bei den wichtigsten noch da sein?) Akteuren der Kultur in unserem Lande statt, nämlich bei den Kommunen. Dies liegt nun nicht am Haushalt des BKM, sondern an den sonstigen Entscheidungen, die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: diese Regierungskoalition in den ersten hundert Tagen Herr Kollege Friedrich. bereits umgesetzt hat. Durch das sogenannte Wachs- 1288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Brigitte Zypries (A) tumsbeschleunigungsgesetz werden den Kommunen (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Sa- (C) mindestens 1,6 Milliarden Euro pro Jahr in den Kassen gen Sie mal Ihre persönliche Meinung!) fehlen, und zwar zusätzlich zu den ohnehin schon vor- handenen Mindereinnahmen aufgrund der Wirtschafts- Es zeigt sich: Nicht nur in der Steuerpolitik gibt es für und Finanzkrise. die Koalition nach knapp 100 Tagen im Amt ein verhee- rendes Zeugnis. Auch in der Kultur- und Medienpolitik Deshalb können viele Kommunen heute schon nicht ist der Start missraten. mehr freiwillige Leistungen in dem Umfang anbieten, (Beifall bei der SPD) wie sie es gern täten. Gerade die freiwilligen Ausgaben prägen das Leben in der Kommune. Bibliotheken, Ich erinnere an den Fall Brender, Chefredakteur im ZDF. Schwimmbäder, Theater, freie Kulturszenen, all das ist Herr Staatsminister, hier hätten Sie die Unabhängigkeit ein Stück Lebensqualität und ein Kernstück kommunaler des Rundfunks achten und verteidigen müssen. Selbstverwaltung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn Sie heute in die Feuilletons der Zeitungen se- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf hen, finden Sie an jedem Tag Auflistungen zu den Über- von der CDU/CSU: Heuchelei! – Joachim Poß legungen der Kommunen, was künftig noch bei ihnen [SPD]: Dazu kann er ja was sagen!) eingespart werden kann. Diese Liste reicht von Theater- schließungen – das markanteste Beispiel ist Wuppertal – Ein anderes Beispiel ist das wirklich unwürdige Gescha- über zahlreiche Einschränkungen bei den kulturellen chere um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh- Förderungen verschiedenster Art bis hin zur Schließung nung“. Das Verhalten des BdV und seiner Präsidentin von Musikschulen. belastet das deutsch-polnische Verhältnis erheblich. Es hat inzwischen auch die Stiftung nachhaltig geschädigt. (Joachim Poß [SPD]: Hört! Hört!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dazu hat bei seiner Amtsübernahme 1998 des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – gesagt: Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Wer Musikschulen schließt, gefährdet die Innere Si- cherheit. Wir als Sozialdemokraten sehen in diesem Haushalt einzelne Kritikpunkte in den einzelnen Titeln, die wir in (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Lukrezia den Ausschussberatungen diskutieren werden. So sind Jochimsen [DIE LINKE]) zum Beispiel im Haushalt keine Mittel für die geplante Digitalisierung der Kinos vorgesehen. Wir wollen aber, (B) Damit hat er exemplarisch deutlich gemacht, welche Be- (D) deutung die Kultur für unsere Gesellschaft hat. Es geht dass die kleinen Kinos unterstützt werden. eben nicht nur um das sogenannte Bildungsbürgertum, Wir alle wissen: Kunst ohne Künstler geht gar nicht. das sich bei den Theaterpremieren der Stadt trifft. Nein, Deshalb ist die Förderung von Projekten und Program- es geht vor allen Dingen auch darum, dass man kleine, men durch die Kulturstiftung des Bundes sehr wichtig. alternative Kulturangebote in der Kommune machen Wir meinen, die Mittel dieser Stiftung sollten aufge- kann, die den Jugendlichen Alternativen zum Internet stockt werden. Wir möchten gerne von Ihnen die Erklä- und zum Fernsehen am Nachmittag aufzeigen. rung, dass Sie bei der Künstlersozialversicherung nicht (Beifall bei der SPD) den Weg der schwarz-gelben Landesregierung Baden- Württembergs einschlagen und diese Künstlersozialver- Es geht auch um Angebote, die ihnen deutlich ma- sicherung einstampfen wollen. Hier möchten wir gerne chen, welche Bedeutung das Spielen eines Instruments Klarheit. haben kann. Ich denke etwa an die wunderbare Initiative „Ein Musikinstrument für jedes Kind“. Es geht auch um Ich komme zum Thema Internet. Der Vorschlag für die freien Theaterprojekte wie das Projekt der „Atriden“ die Einsetzung einer Enquete-Kommission ist zwar in meinem Wahlkreis, bei dem 90 Menschen aus 14 ver- grundsätzlich gut. Wir meinen aber, dass da noch we- schiedenen Nationen ein antikes Stück aufgeführt und sentliche Aspekte fehlen. Bei dieser Enquete-Kommis- dabei gemeinsam gelernt haben, dass dieses Zusammen- sion fehlt bisher zum Beispiel völlig die derzeitige spielen viel mehr als „nur“ Theaterspielen ist. All diese gesellschaftliche Debatte um das Internet: Welche politi- wichtigen Aufgaben von Kulturarbeit gehen verloren, schen und welche soziologischen Auswirkungen hat wenn wir die Kommunen finanziell ausbluten. Es wird denn das Internet auf unsere Gesellschaft? Was hat sich schwer sein, diese kulturelle Substanz wieder aufzu- im Denken geändert, seit wir das Internet benutzen? bauen. Auch deshalb ist das sogenannte Wachstumsbe- Diese Fragen, die jetzt auch in Amerika breit diskutiert schleunigungsgesetz in seinen Auswirkungen so verhee- werden, müssen wir hier unbedingt erörtern. rend. In diesen Zusammenhang gehören die Stärkung der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Medienkompetenz und der informationellen und kom- munikativen Selbstbestimmung in den neuen sozialen Diese Überlegungen zur Kultur sind ein Grund für die Netzwerken ebenso wie die Frage der Sammlung und SPD, sich für die Einführung eines Staatsziels Kultur Verwertung von Daten durch Unternehmen wie Google. in die Verfassung einzusetzen. Dazu lesen wir leider im Dazu gehört für uns auch die Debatte, ob es Sinn macht, Koalitionsvertrag nichts. extra eine Suchmaschine für Kinder zu finanzieren, oder Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1289

Brigitte Zypries (A) ob nicht Kinder im Rahmen der Stärkung von Medien- kontraproduktiv, mit Streichungen im Bereich der Kultur (C) kompetenz lernen sollten, mit den Angeboten des Inter- die Haushalte sanieren zu wollen. nets umzugehen, statt dass man sie auf extra für sie ent- worfene Suchmaschinen verweist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN – Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das doch mal Ihrer Frau Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Merkel!) Frau Zypries, bitte kommen Sie zum Schluss. Denn Kultur ist leider keine gesetzlich verankerte Pflichtaufgabe. Dennoch sollte es unsere Pflicht sein, sie Brigitte Zypries (SPD): zu schützen und ihre Rahmenbedingungen zu verbes- Das, Frau Präsidentin, waren meine Überlegungen. sern. Die SPD wird im Ausschuss konstruktiv mitdiskutieren und zusehen, dass in unserem Sinne noch Veränderun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen stattfinden. der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gerade im Bereich der kulturellen Bildung dürfen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir nicht sparen. Im Gegenteil: Wir wollen mehr als bis- her unsere Verantwortung für dieses Schlüsselthema der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zukunft wahrnehmen und mit gutem Beispiel vorange- hen. Jetzt spricht für die Bundesregierung der Kollege Bernd Neumann. (Joachim Poß [SPD]: Da sind wir aber ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- spannt!) neten der FDP) Durch die Einrichtung eines neuen Fördertitels für kultu- relle Vermittlung und weitere Schwerpunktsetzungen der Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes- Kulturstiftung des Bundes planen wir in diesem Jahr kanzlerin: Mittel in Höhe von über 12,5 Millionen Euro für die kul- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe turelle Bildung ein. Außerdem wird eine Fülle von Maß- Frau Zypries, an sich ist es schade, dass Sie sich in Ihrer nahmen über die von uns ohnehin geförderten Einrich- Jungfernrede im Bereich der Kultur eigentlich gar nicht tungen und Fonds initiiert und finanziert. dem Kulturhaushalt, den wir heute zu diskutieren haben, Für uns gilt: Der Zugang zur Kultur muss jedermann zugewendet haben. Sie haben ihn kurz angesprochen, (B) möglich sein. Dort, wo es Barrieren gibt, sind sie abzu- (D) damit meine ich: gelobt. Insofern gehe ich erst einmal bauen. Kulturelles Miteinander ist die beste Methode davon aus, dass die SPD-Opposition mit dem, was wir zur Integration. hier vorgelegt haben, völlig einverstanden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Völlig!) Es ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, das kultu- Wir haben in der letzten Legislaturperiode die Ausga- relle Erbe zu bewahren, wie dies in vielen vom Bund ge- ben des Bundes für die Kultur Jahr für Jahr kontinuier- förderten Einrichtungen geschieht. Stellvertretend sei die lich erhöht. Stiftung Preußischer Kulturbesitz genannt. Mit der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eröffnung des Neuen Museums im Oktober 2009 sind zum ersten Mal seit 1939 alle Häuser auf der Museums- Auch im vorliegenden Haushalt – Kollegin Zypries hat insel wieder für das Publikum geöffnet. Die hohen Besu- darauf hingewiesen – hat die Bundesregierung eine mo- cherzahlen bestätigen das große Interesse an diesem En- derate Steigerung vorgesehen. Hinzu kommen die semble. Schritt für Schritt vorgenommene Realisierung des Son- derinvestitionsprogramms zum Erhalt des kulturellen Er- Für das Jahr 2010 ist von der Bundesregierung im bes – in 2010 mehr als 50 Millionen Euro – sowie die Haushaltsentwurf vorgesehen, die Betriebsmittel für die Mittel aus dem Konjunkturpaket II, wodurch wir bis Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam mit Berlin 2011 die Chance haben, für die Verbesserung der Infra- um 5 Millionen Euro auf 138 Millionen Euro zu erhö- struktur in der Kultur bis zu 100 Millionen Euro auszu- hen. Daneben stellen wir, der Bund, als alleiniger Finan- geben. Auch in der Finanz- und Wirtschaftskrise gilt: zier bei Investitionen 92 Millionen Euro allein in 2010 Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eine un- zur Verfügung. Das heißt, wir tun etwas für den Erhalt verzichtbare Investition in die Zukunft unserer Ge- des kulturellen Erbes trotz finanziell schwerer Zeiten. sellschaft. (Beifall der Abg. Petra Merkel [Berlin] [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses mit dem Humboldt-Forum ist eine einmalige Chance für Damit aus der wirtschaftlichen Krise nicht auch noch die Kulturnation Deutschland. Wir errichten im Herzen eine geistige wird, bedarf unsere Gesellschaft eines trag- der Hauptstadt ein Schaufenster der Weltkulturen und fähigen geistigen Fundaments. Dieses Fundament ist die schließen eine schmerzliche Lücke im Stadtbild. Zusam- Kultur. Deshalb ist es aus gesellschaftspolitischer Sicht men mit der Museumsinsel entsteht ein Ensemble von 1290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Staatsminister Bernd Neumann:Neumann (A) Ausstellungshäusern, das weltweit seinesgleichen su- halb braucht die Kultur in unserem Land gerade in dieser (C) chen wird. Krisenzeit nationalen Schutz. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) Die vom Deutschen Bundestag beschlossene Reali- sierung des Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin Wenn Sie schon nicht auf uns hören, verehrter Staats- wollen wir in dieser Legislaturperiode zügig fortsetzen. minister, dann hören Sie doch auf die Hilferufe der Ein neuer internationaler Einladungswettbewerb mit ei- Städte, des Städtetages und der Organisationen der Kul- nem vorgeschalteten offenen Bewerberverfahren soll im turschaffenden. Vom Kulturrat über den Bundesverband Februar starten. Ich bin zuversichtlich, dass im Bildender Künstlerinnen und Künstler bis zum Deut- 20. Jubiläumsjahr der deutschen Einheit die Jury einen schen Bühnenverein, alle fordern jetzt einen Notfonds angemessenen und eindrucksvollen Entwurf nominiert, des Bundes. Genau das fordert auch die Linke in dieser der dann zügig realisiert wird. Haushaltsdebatte. Mir ist bewusst, dass wir uns auch haushaltsmäßig in (Beifall bei der LINKEN) schwierigen Zeiten bewegen. Ich hoffe gleichwohl, dass Ja, wir fordern ein Hilfsprogramm zur Erhaltung der kul- wie in der Vergangenheit auch zukünftig parteiübergrei- turellen Infrastruktur in unserem Land, einen Schutz- fend der für die Kultur notwendige Konsens bestehen schirm für die Kultur, 1 Milliarde Euro. Diesen Vor- bleibt. schlag bringen wir ein. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen uns nicht damit begnügen, dass hier und da ein paar Symptome behandelt werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Staatsminister hat neulich folgenden interessan- Die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen spricht jetzt für ten Satz gesagt: Bei Katastrophen sei es folgerichtig, die Fraktion Die Linke. wenn Bund, Land und Kommunen gemeinsam Hilfs- (Beifall bei der LINKEN) fonds für die Kultur einrichteten. Ich frage: Ist diese Krise keine Katastrophe, und ist die Krise plus Wachs- tumsbeschleunigungsgesetz dieser Regierung nicht gera- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): dezu eine doppelte Katastrophe für die Kultur? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Die Kultur gehört in den Haushalt der Kanzlerin. Es ist (Beifall bei der LINKEN) (D) nicht ausgemacht, ob das für die Kultur gut oder schlecht Die Kultur gehört in den Haushalt der Kanzlerin. Also ist. muss die Kanzlerin – sie ist leider nicht anwesend – auch (Zuruf von der CDU/CSU: Bisher ist es immer handeln. Sie wird dadurch Wachstum schaffen; denn gut gewesen!) Kultur- und Kreativwirtschaft sind eine Wachstumsbran- che. Wenn man dieser Branche aber das Fundament Einerseits wird dadurch auf die nationale Verantwortung nimmt – die Orchester, die Theater, die Museen, die Bi- für die Kultur in unserem föderalen Staat hingewiesen. bliotheken und vor allem die kulturelle Bildung der Kin- Andererseits wird die Kultur dadurch zum kleinen der –, dann wird diese Zukunftswirtschaft verkümmern Anhängsel in der großen Haushaltsdebatte. Eine grund- und nicht wachsen. Schaffen Sie also einen Schutz- sätzliche Auseinandersetzung, wie wichtig Kultur für schirm für die Kultur! Das ist nicht nur unsere Forde- dieses Land ist und wie bedroht sie gerade jetzt ist, lässt rung. Das ist die Forderung der Stunde. sich in einer Anhängseldebatte zur Haushaltsdebatte lei- (Beifall bei der LINKEN) der nicht führen. Nun noch ein paar Fragen zu den nationalen Prestige- (Beifall bei der LINKEN) projekten der Bundeskultur in Berlin. Das Stadtschloss Hätten wir doch jetzt den Satz in unserer Verfassung: sowie das Freiheits- und Einheitsdenkmal sind sehr um- Der Staat schützt und fördert die Kultur. Wenn wir die stritten, von Pannen begleitet und sehr teuer. Der Staats- Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankert hätten, minister hat leider kein Wort zum Dokumentations- könnten wir gerade in dieser Zeit Signale setzen. zentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ gefunden. Dürfen wir einmal erfahren, lieber Staats- Staatsminister Neumann hat neulich im Ausschuss für minister, wie es weitergeht? Wird das Institut aus dem Kultur und Medien gesagt, man müsse sich der Verant- Historischen Museum ausgegliedert? Wird der Bundes- wortung bewusst sein, die man auf nationaler Ebene tag mit einem neuen Stiftungsgesetz befasst? Verzichtet trage; der Bund habe Vorbildfunktion. Großartig gespro- die Regierung auf das Berufungsrecht? Gibt es noch chen! Aber was heißt das konkret? Konkret heißt das, mehr Stiftungsratsmitglieder des Bundes der Vertriebe- dass diese Regierung ein Wachstumsbeschleunigungsge- nen, wie es von Frau Steinbach gefordert wurde? Im De- setz beschließt, das die Kommunen finanziell zuneh- zember letzten Jahres ist der einzige polnische Vertreter mend in den Ruin treibt, wohl wissend, dass es die Kom- im wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung zurück- munen zusammen mit den Ländern sind, die die getreten. Danach habe ich die Bundesregierung gefragt, Hauptkosten für die Kultureinrichtungen tragen. Des- wie denn nun die polnische Sichtweise bezüglich der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1291

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) Nachkriegsaussiedlung der Deutschen in Polen in der tend. Das gilt sowohl für die Hoch- und Breitenkultur als (C) Stiftung gewährleistet werden soll. Die Antwort lautete: auch für die Pflege kultureller Traditionen oder die Ent- Die Bundesregierung legt weiterhin großen Wert auf wicklung alternativer Kunstprojekte. eine polnische Beteiligung. – Sehr schön! Aber wie? Gibt es einen Nachfolger für Professor Szarota? Sucht Besonders hohe Bedeutung kommt aber der kulturel- man überhaupt einen? Sieht man denn nicht, dass die len Bildung zu. Darum haben wir im Koalitionsvertrag Aufgabe der Versöhnung bei diesem Projekt zunehmend festgeschrieben – ich zitiere –: in den Hintergrund tritt? Wir wollen gemeinsam mit den Ländern den Zu- Kanzlerin, übernehmen Sie! gang zu kulturellen Angeboten unabhängig von fi- nanzieller Lage und sozialer Herkunft erleichtern (Beifall bei der LINKEN) und die Aktivitäten im Bereich der kulturellen Bil- Machen Sie Schluss mit dieser Art von Erinnerungskul- dung verstärken; kulturelle Bildung ist auch ein tur in der Verantwortung der Bundesregierung! Das täte Mittel der Integration. der politischen Kultur in unserem Land gut. Geld ließe Durch entsprechende tägliche Nachrichten kann man sich dabei übrigens auch sparen. den Eindruck gewinnen, dass unsere Gesellschaft zuneh- Vielen Dank. mend verroht und gerade junge Menschen Identitätspro- bleme haben. Die Gewalt im Alltag nimmt ein immer (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- größeres Ausmaß an. Wir Liberale meinen, dass gerade neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE die kulturelle Bildung helfen kann, solche Tendenzen in GRÜNEN) der gesellschaftlichen Entwicklung zu stoppen. Kultu- relle Bildung ist für uns eine gemeinsame Zukunftsauf- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gabe von höchster Priorität. Jetzt hat der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Dem Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, ist es in den letzten Jah- Reiner Deutschmann (FDP): ren, auch mit Unterstützung unserer Fraktion, gelungen, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten den Stellenwert der Kulturförderung des Bundes in den Damen und Herren! Zu Recht schauen wir mit Stolz auf Haushaltsberatungen deutlich herauszustellen und sogar die vielfältige Kulturlandschaft in Deutschland. Sie (B) für einen Aufwuchs des Kulturetats zu sorgen. Dafür (D) weist eine hohe Dichte auf, ist durch öffentliches und möchte ich dem Kulturstaatsminister ausdrücklich dan- privates Engagement geprägt, und sie findet in den un- ken. terschiedlichsten Bereichen statt. Allein unsere Museen werden jährlich von über 105 Millionen Menschen be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sucht. Kultur hat in Deutschland zu Recht einen beson- der CDU/CSU) deren Stellenwert. Ich bin froh, dass auch wir vonseiten des Bundes einen kleinen Teil dazu beitragen können Nun befinden wir uns in der größten Finanz- und und dürfen, dass die Kulturlandschaft Deutschland Wirtschaftskrise, die dieses Land seit dem Ende des weiter blüht. Zweiten Weltkrieges erlebt hat. Geld muss gespart wer- den. Erfahrungsgemäß wird der Rotstift in solchen Zei- Zurzeit präsentiert sich Deutschland mit der Kultur- ten gern bei den verhältnismäßig kleinen Kulturetats an- hauptstadt Ruhr 2010 in besonderer Weise als Kultur- gesetzt. Gerade in den Ländern und Kommunen nation. Diese Kulturhauptstadt steht für Kultur im Zei- geschieht dies, weil die Kultur nur als freiwillige Auf- chen des Strukturwandels. Industriebrachen werden für gabe eingestuft ist. Pflichtaufgaben haben dann Vorrang. die Kultur neu entdeckt und für die Menschen erschlos- Dass es anders geht, zeigt zum Teil Sachsen. Dort ist sen. Dies zeigt, welche Kraft und Kreativität im Kultur- Kulturförderung Pflichtaufgabe und im Kulturraumge- sektor stecken. Dabei steht Kultur nicht nur für ideelle setz geregelt. Darüber hinaus hat die Kultur durch Werte. Kulturförderung ist auch eine Investition in die Art. 11 der Landesverfassung Verfassungsrang. Zukunft. Viele Gutachten zeigen, dass jeder so inves- tierte Euro als Kulturrendite im Wirtschaftskreislauf (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen bereits jetzt verdoppelt wird. Nicht umsonst spielt inzwi- [Bönstrup] [CDU/CSU]) schen die Kultur- und Kreativwirtschaft in einer Liga mit Der mit dem Kulturraumgesetz verbundene Solidaref- der Chemie- und Automobilindustrie. fekt schafft Planbarkeit und Sicherheit nicht nur für Kul- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang turdezernenten, sondern durchaus auch für Vereine und Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) andere Körperschaften. Allerdings muss die soziale Lage vieler Künstlerinnen und Künstler noch viel stärker Ich glaube, dass wir darin übereinstimmen, dass die thematisiert werden. Bedeutung der Kultur nicht stark genug betont werden kann. Attraktive Kultureinrichtungen und Kulturange- Ich will die Kultur nicht per se aus den Sparbemühun- bote prägen entscheidend die Lebensqualität in unseren gen ausschließen. Aber nach 18 Jahren als Beigeordneter Städten und Gemeinden. Sie sind damit identitätsstif- in der kommunalen Kulturpolitik weiß ich, dass noch 1292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Reiner Deutschmann (A) kein Haushalt durch Einsparungen im Kulturetat saniert Der Flächenbrand im Kulturbetrieb hat gerade erst be- (C) worden ist. gonnen. Ein solcher Verlust kultureller Infrastruktur kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Aber schon so manches abgerissene Haus hat dauerhaft Allen voran die kleineren Kultureinrichtungen, die freie eine hässliche Baulücke hinterlassen. Das darf uns im Szene, die Soziokultur und die Kinder- und Jugendkultur Kulturbereich nicht passieren. erwartet eine düstere Zukunft. Ziehen wir die Konse- quenzen: Besser früher als zu spät brauchen wir einen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nothilfefonds Kultur des Bundes. Darüber entscheidet NEN]: Wie Sie das in Wuppertal machen? Das einzig und allein der politische Wille. Pina-Bausch-Theater abwickeln!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dann sollen sie lieber das halbe Ordnungsamt schlie- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- ßen, als bei der Kultur zu sparen. – Trotz der klar verteil- KEN) ten Kompetenzen möchte ich den Ländern und Kommu- nen von massiven Einschnitten abraten. Gerade in Der politische Wille konnte Banken retten. Für den Er- Krisenzeiten sind Streichungen im Kulturbereich kontra- halt kleiner kultureller Institutionen wäre nur ein Bruch- produktiv. teil dieser Mittel notwendig. Die Rettung der Hypo Real Estate hat so viel Geld verschlungen, wie der vierfache (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Betrag aller öffentlichen Kulturausgaben pro Jahr in der CDU/CSU) Deutschland ausmacht. Im Haushaltsplan der Regierung Wie gesagt, die Kompetenzen sind in Deutschland geht es in erster Linie um die Sicherung etablierter Aus- klar verteilt. Kultur ist Ländersache. Die Bundesländer hängeschilder. Aber, Herr Neumann, solange der Bund sind gefordert, ihre jeweiligen Landesgesetze so zu ge- nicht gleichermaßen Verantwortung für die Förderung stalten, dass die Kulturförderung auch in der Krise finan- kleiner Projekte und Institutionen übernimmt, riskiert er ziell abgesichert bleibt. Ich hoffe, dass die Kultur bald in trotzdem eine Verödung unserer Kulturlandschaft; allen Bundesländern ganz selbstverständlich zu den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pflichtaufgaben gehört. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dabei wäre die Verankerung der Kultur als Staats- denn Generationengerechtigkeit bedeutet nicht nur, den ziel sehr hilfreich. Es wäre ein Zeichen dafür, was die Schuldenberg zu reduzieren und unser kulturelles Erbe Kultur unserer Nation wirklich wert ist. Ich will aber En- (B) für nachfolgende Generationen zu bewahren, es ist ge- (D) gagement nicht nur von den Ländern fordern, sondern nauso wichtig, Kreativität zu fördern, die Entstehung auch vom Bundestag. Ich stehe dazu, dass wir weiterhin von Neuem zu fördern und die Fantasie zu fördern. Das den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien unter- bedeutet vor allem, die Rahmenbedingungen für kul- stützen, wenn es um die Kulturförderung vonseiten des turelle Bildung zu verbessern. Bundes geht. Doch was macht die Bundesregierung? Sie kürzt die Danke schön. Zuwendungen für die Kulturstiftung des Bundes. Wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) alle kennen die Bedeutung der Kulturstiftung im Bereich der kulturellen Bildung. Neuerdings ist im Haushalts- plan 1 Million Euro für „kulturelle Vermittlung“ vorge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sehen. Mir kommt es sehr fragwürdig vor, Gelder für die Jetzt hat die Kollegin Agnes Krumwiede für die Frak- Kulturstiftung zu kürzen und gleichzeitig in ein Phantom tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. mit dem Namen „kulturelle Vermittlung“ zu investieren, von dessen Existenz die Opposition zum ersten Mal Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durch den Haushaltsplan erfahren hat. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollegen! Das Streben nach Leistung, Wachstum und sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Wohlstand beherrscht unsere Gesellschaft. Ein Bild ma- KEN) len, Theater spielen oder Musizieren ist bei uns keine Leistung, sondern im besten Fall Talent, das in der Frei- Wir sind gespannt, welche inhaltlichen Konzepte sich zeit gepflegt werden darf. Auch für die Kommunen ist dahinter verbergen und helfen auch gerne mit Ideen. Kultur keine Pflicht, sondern Kür, eine freiwillige Leis- tung. Es ist eine Tatsache, dass die sogenannten freiwilli- Wir helfen auch gerne bei der Medienpolitik. Die gen Aufgaben den Kürzungen als Erstes zum Opfer fal- Koalition hat groß angekündigt, die digitale Spaltung der len, wenn den Kommunen das Geld ausgeht. Die stehen Gesellschaft verhindern zu wollen, aber es genügt nicht, vor dem finanziellen Kollaps. Ihre verfehlte Steuerpoli- in jedem Haushalt einen Breitbandzugang zu legen. Not- tik mit großzügigen Geschenken an eine großzügige Kli- wendig sind mehr Projekte zur Förderung von Medien- entel wird die Situation noch verschlimmern. kompetenz. Entscheidend ist auch hier die Förderung der kleinen Initiativen, in denen Kindern, Jugendlichen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erwachsenen die digitale Welt mit all ihren Chancen kri- sowie bei Abgeordneten der SPD) tisch nähergebracht wird. Ich glaube, wir brauchen einen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1293

Agnes Krumwiede (A) Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft. Einem Ich möchte auf eine Begegnung aufmerksam machen, (C) Wachstumsbeschleunigungsgesetz möchte ich die For- die in der Öffentlichkeit bisher vielleicht noch nicht die derung nach Entschleunigung entgegensetzen. nötige Aufmerksamkeit gefunden hat. In zwei Wochen kommen hier in Berlin acht Persönlichkeiten zusammen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Henry Kissinger, Richard von Weizsäcker, Sam Nunn, sowie bei Abgeordneten der SPD) Helmut Schmidt, William Perry, Egon Bahr, George Alle, gerade Kinder und Jugendliche, sind auf Zeit zum Shultz und Hans-Dietrich Genscher. Diese acht Männer Wachsen und zum Spielen angewiesen. Geistige Ent- haben jahrzehntelang für den Frieden gearbeitet. Sie ha- wicklung braucht Zeit. Da lässt sich nichts beschleuni- ben Vertrauen gestiftet. Sie haben Konflikte überwun- gen. den, und sie sind ganz gewiss keine naiven Persönlich- keiten. Heute eint diese acht erfahrenen Persönlichkeiten Wir müssen Abschied nehmen vom Leistungswahn die gemeinsame Überzeugung, dass eine nuklearwaf- und in die Bildung investieren, Räume und Freiräume fenfreie Welt nötig und möglich ist. Auf diesem Wege schaffen für kreative Inhalte. Das Wohlergehen der Men- wollen auch wir als christlich-liberale Bundesregierung schen in unserem Land hängt nicht ab von materiellem gehen. Wir sind der Überzeugung: Nach dem Jahrzehnt Wachstum zugunsten einer privilegierten Schicht, son- der Aufrüstung brauchen wir jetzt ein Jahrzehnt der Ab- dern von lebensfreundlichen Bedingungen. Ein besseres rüstung; Abrüstung ist das Gebot der Menschheit in die- Leben für viele ist für uns Grüne wichtiger als mehr sen Jahren. Geld für wenige. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU und der SPD) Das heißt, es darf Ihnen als Regierung nicht in erster Wer die Chancen der Globalisierung sieht, erkennt Linie darum gehen, die schillernde Oberfläche unserer natürlich auch die Gefahren. Ich will nicht, so wie ich Kulturnation zu polieren, Stichwort „Berliner Stadt- das früher in Generaldebatten vormittags oft getan habe, schloss“. Wenn die Kommunen vor dem Aus stehen, über die innenpolitischen, wirtschaftspolitischen und bil- kann der Bund nicht tatenlos zusehen. dungspolitischen Fragen der Globalisierung sprechen, (Beifall bei Abgeordneten des BÜND- sondern über die außenpolitischen. Die Globalisierung NISSES 90/DIE GRÜNEN) ist chancenreich; aber sie hat auch Schattenseiten, zum Beispiel die Weiterverbreitung von Massenvernich- Wir dürfen unsere kommunalen Kultureinrichtungen tungswaffen. Der internationale Terrorismus, auch der nicht dem Beschleunigungswahnsinn opfern. Sumpf von radikalen Ideologien in der Welt und nicht (B) Es ist unsere Pflicht, zukünftigen Generationen keine mehr nur in Regionen, das Vernetzen von Fundamenta- (D) geistige Verarmung zu hinterlassen. Der Weg zu einem lismus, Radikalismus, Menschenverachtung und Un- neuen Denken – wir meinen damit etwas anderes als menschlichkeit, all das ist natürlich eine Geißel unserer Frau Merkel –, zu einem besseren Leben ist ohne ein Zeit, ein Ergebnis des technologischen Fortschritts und neues Bewusstsein für kulturelle Werte nicht möglich. der Globalisierung. Wer die Globalisierung mit realisti- schem Optimismus begrüßt, der muss zugleich auf Ab- Vielen Dank. rüstung setzen, um die globalisierte Welt sicherer zu ma- chen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE KEN) LINKE]) Der amerikanische Präsident Barack Obama hat inso- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fern ein Fenster der Gelegenheit, wie man es nennt, auf- Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen gestoßen. Ich meine damit nicht in erster Linie seine nicht vor. Rede in Kairo – die auch –, Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Amtes, Einzelplan 05. GRÜNEN]: Die in Prag!) Als erster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Guido sondern vor allen Dingen, Frau Kollegin Roth, seine Westerwelle für die Bundesregierung. Rede in Prag, eine Rede, die meiner Meinung nach viel zu wenig beachtet worden ist. Hier sehen wir, dass ehr- Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- geizige, visionäre Ziele formuliert werden können. Es ist wärtigen: richtig, dass wir den amerikanischen Präsidenten beim Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Wort nehmen. Damit wir uns auch hier nicht missverste- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutsche Au- hen: Wir wollen nukleare Abrüstung nicht, um leichter ßenpolitik ist Friedenspolitik. Diese Kontinuität zu konventionelle Kriege führen zu können, sondern für wahren, das gehört nach Auffassung der christlich-libe- uns als christlich-liberale Bundesregierung und, wie ich ralen Bundesregierung zum Wertvollsten, was wir Deut- hoffe, auch für das ganze Haus gehen nukleare Abrüs- sche an politischem Inventar zu bieten haben. Weil deut- tung und konventionelle Abrüstung Hand in Hand. Das sche Außenpolitik Friedenspolitik ist, setzen wir auf müssen wir allen waffenreichen Regionen in der Welt Abrüstung. immer wieder ins Stammbuch schreiben. 1294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle:Westerwelle (A) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Wer das mit antisemitischen Reden bestreitet, wie es (C) SPD) zum Beispiel die iranische Regierung tut, der muss wis- sen, dass wir alle, also alle Deutschen, dem stets ent- Wir sprechen mit unseren Partnern und Verbündeten schiedenen Widerstand entgegensetzen werden. über Abrüstung. Das stand vielleicht bei den Berichten über eine Reihe von Antrittsbesuchen auf meinen ersten (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Auslandsreisen, die ich machen durfte, zum Teil ja auch SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN in Begleitung von Kolleginnen und Kollegen, nicht so- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fort ganz vorne auf den Titelseiten, aber es ist gleich- Dass wir für die Zweistaatenlösung werben, das muss wohl ein Kernanliegen unserer Politik. Wir wollen näm- ich, weil es auch Teil der Staatsräson ist und Politik der lich, dass auslaufende oder auch nie ratifizierte Verträge letzten Regierungen war, eigentlich gar nicht erwähnen. über Rüstungskontrolle wirksam bleiben bzw. wirksam Es versteht sich von selbst. Natürlich gehört zur Zwei- werden. Wir sprechen also mit unseren Partnern und staatenlösung zugleich das Recht der Palästinenser auf Verbündeten über Abrüstung; das habe ich gerade erst einen eigenen lebensfähigen Staat. auch in Japan getan, wohin mich verschiedene Kollegen nahezu aller Fraktionen dieses Hauses begleitet haben. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen all das des- wegen in großer Klarheit gesagt, weil ich nach meinen Wir wollen mit unseren Verbündeten auch darüber vielen Gesprächen in den letzten Wochen und Monaten sprechen, dass die letzten in Deutschland stationierten befürchte, dass die Zeit der Entscheidung kommen wird, Nuklearwaffen abgezogen werden. und zwar in den nächsten Wochen. Wir müssen uns ent- (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP] und scheiden, wie wir als Teil der Völkergemeinschaft auf Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) die Gesprächsverweigerung des Iran reagieren. Wir setzen auf die Friedensdividende. 20 Jahre nach un- Deswegen sage ich hier für die deutsche Bundesregie- serer Wiedervereinigung – dieses wunderbare Jubiläum rung in großer Klarheit: Für uns ist eine atomare Bewaff- feiern wir ja dieses Jahr – ist es an der Zeit, dass wir uns nung des Iran in keiner Weise akzeptabel. Wenn der Iran alle gemeinsam diese Friedensdividende politisch erar- nicht zu Gesprächsfähigkeit zurückfindet, wenn er nicht beiten. Die Welt friedlicher zu machen, das ist auch eine endlich wieder verhandelt, wenn er nicht seinen selbst Antwort auf die Globalisierung unserer Zeit. übernommenen internationalen Verpflichtungen wieder entspricht, dann werden wir notfalls auch bereit sein, in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der internationalen Gemeinschaft eine Ausweitung der bei Abgeordneten der SPD) Sanktionen zu beschließen. Wir werden jedenfalls einer atomaren Bewaffnung des Iran mit Sicherheit nicht zu- (B) Aber wir sind nicht naiv. Deswegen vergessen und (D) ignorieren wir nicht die Gefahren, die es gibt. Ich muss schauen, ohne irgendetwas dagegenzusetzen. Niemand den kundigen und interessierten Kolleginnen und Kolle- in diesem Hause könnte das verantworten. gen dieses Hohen Hauses, die jetzt bei dieser Debatte da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei sind, nicht viel über die großen Herausforderungen des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) und Gefahren sagen. Wir hatten schon gestern Gelegen- heit, darüber zu sprechen. Es gibt viele Sorgen. Denken Wir werden in der nächsten Woche eine große De- wir an den Jemen oder an Afghanistan. Darüber wurde batte über Afghanistan führen. Erlauben Sie mir, weil hier schon oft diskutiert. Wir alle wissen, was eine ato- wir alle in Vorbereitung auf die Afghanistan-Konferenz mare Bewaffnung des Iran an Destabilisierung insbe- auch in den jeweiligen Fraktionen beraten und diskutie- sondere für die Region, aber auch für die Welt bedeutet. ren, was zu tun ist, einige Worte dazu zu sagen. Wir wer- Natürlich wissen wir auch, dass wir beim Nahostkonflikt den nächste Woche eine Regierungserklärung der Bun- neue Impulse brauchen, um Gesprächsfähigkeit wieder- deskanzlerin hören. Das ist das selbstverständliche herzustellen. Deswegen drängen wir alle da, wo wir es Recht des Parlaments. Zugleich ist es aber auch aus- können, darauf, dass die Friedensgespräche wieder auf- drücklich die Absicht und der Wunsch der Regierung; genommen werden. denn wir haben ein Interesse an einer möglichst breiten Mehrheit in diesem Hause bezüglich der Afghanistan- Ich will hier aber genauso klar sagen, meine Damen Politik. Ich rechne nicht mit jedem, aber ich setze auf und Herren, weil das aus Sicht der Bundesregierung Teil alle und ihre Vernunft. der Staatsräson ist: Zur Sicherung des Friedens gehört ausdrücklich auch die Anerkennung des Existenzrechts Meine Damen und Herren, wir dürfen dem Terror in Israels als jüdischer Staat in sicheren Grenzen. Ich sage Afghanistan keinen neuen Rückzugsraum geben. Wir das vor dem Hintergrund der gerade eben stattgefunde- wollen bitte nicht vergessen: Millionen Frauen und Män- nen deutsch-israelischen Regierungskonsultationen, die ner in Afghanistan setzen auf uns. Sie haben etwas Frei- angesichts unserer eigenen Geschichte ein bemerkens- heit erringen können, zum Beispiel für Mädchen und wertes Ereignis waren. Man sollte bedenken, dass dieses Frauen. Das ist der wahre Grund, warum wir in Afgha- dunkelste und grausame Kapitel unserer Geschichte we- nistan sind: um unsere eigene Gesellschaft vor Terroris- niger als ein Menschenleben her ist. Es ist deswegen für mus zu schützen, aber zugleich auch, um unserer mit- die Bundesregierung völlig klar – das möchte ich hier auch menschlichen Verpflichtung nachzukommen, damit ohne Wenn und Aber noch einmal festhalten –: Israel hat Frauen nicht ermordet werden, nur weil sie so leben das Recht auf eine sichere Existenz, auf Sicherheit der möchten, wie wir es bei uns als selbstverständlich anse- eigenen Bürgerinnen und Bürger in sicheren Grenzen. hen, damit Brunnen gebohrt werden können, damit es Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1295

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle:Westerwelle (A) eine Perspektive für dieses Land gibt. Die Völkerge- Meine Damen und Herren, natürlich ist das erfolg- (C) meinschaft kann es sich nicht leisten, dass dieser Staat reichste Friedensprojekt die Europäische Union. Wir strauchelt oder sogar fällt. Das ist eine Herausforderung setzen deswegen darauf, dass das Kooperationsmodell für die ganze Wertegemeinschaft und hat mit einer Mili- fortentwickelt wird. Das ist die Lehre aus unserer Ge- tarisierung von Außenpolitik nichts, aber auch gar nichts schichte: nicht Konfrontation auf einem Kontinent der zu tun. Wer jetzt kopflos aus Afghanistan abziehen Kriege – das ist die europäische Geschichte –, sondern würde, ließe Millionen Menschen im Stich und schickte Kooperation als Friedensantwort auf wirklich furchtbare viele von ihnen in den sicheren Tod durch Taliban-Hen- Jahre. ker. Das muss einmal ausgesprochen werden. Ich möchte all denen, die nach der Ratifizierung des (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lissabon-Vertrages fragen, wie es weitergeht – er ist ja eine wirkliche Verbesserung –, und auch denen, die wie Ich habe Anfang dieses Jahres dazu fünf Punkte vor- wir alle bei Europa vieles kritisch sehen, sagen: Am geschlagen, die die breite politische Agenda in London Schluss sollte man sich immer wieder daran erinnern, prägen sollen. Ich brauche das an dieser Stelle nicht warum wir das alles gemacht haben. Es ist nicht nur noch einmal vorzutragen. Nur so viel: Für uns ist völlig gemacht worden für Wohlstand – auch –, nicht nur für klar – ich hoffe, dass wir im Deutschen Bundestag der- Reisefreiheit – auch –, zuallererst ist das alles gemacht selben Überzeugung sind –, dass wir zunächst einmal worden für Frieden und Ausgleich. Wenn uns die Euro- über unsere Ziele in Afghanistan reden müssen, darüber, päische Union nicht mehr gebracht hätte als jahrzehnte- was wir an Aufbau und Stabilisierung der guten Regie- langen Frieden auf unserem Kontinent, schon das hätte rungsführung schaffen wollen, darüber, wie wir wirt- sich für jeden Deutschen und auch für jeden anderen schaftliche und soziale Perspektiven für die Menschen europäischen Bürger gelohnt. dort schaffen können und was wir tun können, um dem Terrorismus den Boden zu entziehen. All das gilt es zu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie nächst einmal zu besprechen und zu diskutieren. Erst bei Abgeordneten der SPD) dann kann es um Weiteres gehen. Deutsche Außenpolitik ist interessengeleitet und werteorientiert. Deswegen sehen wir keinen Gegensatz Ich habe entgegen manchem Zeitungsbericht nie ge- darin, dass wir uns einerseits Märkte eröffnen wollen sagt, dass eine Aufstockung zum Beispiel unserer Aus- und andererseits auf die Einhaltung von Menschenrech- bildungskapazitäten bei der Bundeswehr auf keinen Fall ten drängen. Für uns ist das kein Widerspruch, sondern infrage komme. Ich habe auch nie gesagt, dass wir das in für uns gehört dies zusammen. Interessengeleitet und jedem Fall machen. Ich habe nur auf die Reihenfolge Wert werteorientiert: Ich habe bei meinen Reisen nach China gelegt – dabei bleibe ich auch für die Bundesregierung; in (B) und in die arabische Region gesehen, dass das sehr wohl (D) genau dieser Reihenfolge wollen wir das beraten –: Zu- miteinander vereinbar ist. Wir wollen unsere Wirt- nächst einmal geht es um die Ziele, um die Perspektive schaftsinteressen auch in anderen Ländern der Welt für Afghanistan; dann kommt lange nichts, und dann wahrnehmen. Wie können wir sonst Exportweltmeister geht es um den militärischen Schutz. So ist die Reihen- sein und Wohlstand in unserem eigenen Lande schaffen? folge: Strategie, dann Instrumente, und erst dann geht es Aber wir werden deswegen zu keiner Zeit auf Werte, auf um die Frage der Truppen und des militärischen Schut- Menschenrechte, auf Bildung, auf Religionsfreiheit, auf zes. Das ist die richtige Reihenfolge. Deswegen bleiben Pluralität und auf Minderheitenschutz verzichten. Wir wir dabei. London muss einen breiten politischen Ansatz machen in der Sache der Menschenrechte keine Kom- haben und darf keine Truppenstellerkonferenz sein. Das promisse. Denn wir wissen: Werteorientierung und Inte- ist die Haltung der gesamten Bundesregierung. ressenleitung gehören beide zum Kompass einer guten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) deutschen Außenpolitik. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kollegen, wir setzen dabei natürlich auch auf die Stär- Meine Damen und Herren, für diese Politik ist es na- kung der zivilen Institutionen. Wir haben – das ist gar türlich auch wichtig, dass wir die auswärtige Kultur- keine Frage – natürlich auch einen Dank auszusprechen; und Bildungspolitik ausbauen. Darüber wird zwar das möchte ich an dieser Stelle tun. Ich möchte mich kaum gesprochen. Aber etwa ein Viertel des Etats, den – ich vermute, das gilt für das gesamte Hohe Haus – für wir heute beraten, geht in die auswärtige Kultur- und die Arbeit der zivilen Helfer überall auf der Welt, aber Bildungspolitik. Das ist übrigens etwas, das ich fortset- auch ausdrücklich für die Arbeit der Frauen und Männer zen möchte. Denn da hat die Politik meines Amtsvor- der Bundeswehr herzlich bedanken. Wenn wir hier über gängers aus unserer Sicht die Weichen richtig gestellt. auswärtige Politik reden, dann ist dieser Dank des Ho- Wir werden diese Politik fortführen. Die auswärtige Kul- hen Hauses angebracht. Wir sind stolz auf die Arbeit, die tur- und Bildungspolitik wird also ein wichtiger Be- geleistet wird, und wir sind dankbar dafür, dass Männer standteil unserer Außenpolitik sein. und Frauen international tätig sind – sei es in Afghanis- tan, auf dem Balkan oder an anderer Stelle. Herzlichen Wir wollen einen engen Dialog mit allen Ländern in Dank dafür! der Welt, insbesondere mit unseren unmittelbaren Nach- barn sowie mit Russland und mit China. Aber wir ver- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD gessen nicht die Balance, von der ich eben gesprochen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) habe. 1296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle:Westerwelle (A) Wir kennen unsere fundamentalen eigenen Interessen. men und sind nicht abgereist, sondern sie bleiben dort (C) Auch das darf nicht verschwiegen werden. Unsere Au- und helfen jetzt. Das ist in meinen Augen so vorbildlich, ßenpolitik ist vor allen Dingen durch Werte geprägt, die dass man es auch einmal in diesem Hohen Hause sagen in unserer Verfassung stehen. Die Würde des Menschen darf. Danke schön darf dieses Hohe Haus im Namen ist unantastbar: Das ist natürlich auch der Maßstab für Deutschlands denjenigen sagen, die das jetzt alles inner- unsere Außenpolitik. Wir Deutsche sind verlässliche halb und außerhalb der Botschaft leisten. Partner in der Welt. Ich sage dies nachdrücklich. Wir halten Wort. Ich habe das gerade erst in der Türkei wie- (Beifall im ganzen Hause) der deutlich gemacht. Ein Dankeschön geht natürlich auch an unsere Bürge- Zur deutschen Außenpolitik zählt auch die transatlan- rinnen und Bürger für ihre Mitmenschlichkeit. Es ist tische Freundschaft. Die Vereinigten Staaten von Ame- großartig, was hier an Solidarität gezeigt wird. rika und uns verbindet eine enge Freundschaft und nicht Das Elend ist furchtbar; wir wissen das alle. Ich habe nur eine transatlantische Partnerschaft. Das hindert uns soeben die Nachricht bekommen, dass es durch ein wei- aber nicht daran, auch andere Regionen stärker in den teres Nachbeben möglicherweise weitere Schwierigkei- außenpolitischen Fokus zu nehmen, als dies vielleicht ten gibt. Mehr kann ich noch nicht sagen, weil ich noch bisher der Fall gewesen ist. Wir werden in diesem Jahr nichts Genaueres weiß. Es ist natürlich eine unglaubli- beginnen, ein besonderes Augenmerk auf Lateiname- che Herausforderung, vor der wir stehen. Unsere Lehre rika zu legen. Wir glauben, da liegt ein in den außen- aus der Geschichte ist, dass wir uns als Deutsche in der politischen und innenpolitischen Debatten enorm un- Völkergemeinschaft eingebettet fühlen, auch in schwe- terschätztes Potenzial. Natürlich gilt unsere Hilfe und ren Stunden, wenn Länder so etwas ertragen müssen. unsere Solidarität Afrika, nicht nur weil es unser Nach- Deshalb zeigt Deutschland in diesen Tagen, dass es ein barkontinent ist, sondern auch, weil es natürlich unsere Land der Nächstenliebe ist, ein Land, das hilft, das Soli- mitmenschliche Verpflichtung ist. darität kennt und auch durch jeden Einzelnen zu Hause Meine Damen und Herren, wir haben eine große Er- praktiziert. folgsgeschichte in der deutschen Außenpolitik seit Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Gründung der Republik, und zwar unabhängig davon, wer regiert hat. Kontinuität ist in Wahrheit keine Ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie fallslosigkeit, sondern ist etwas sehr Wertvolles, auch in bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- der Außenpolitik. Dazu zählt, dass wir natürlich auch in NISSES 90/DIE GRÜNEN) Europa kooperativ handeln und arbeiten wollen. Dazu zählen auch gute nachbarschaftliche Verhältnisse. Ich (B) Vizepräsident Dr. h. c. : (D) sage das hier als jemand, der sich noch an Willy Brandt Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die und Walter Scheel erinnert. Ich sage das als jemand, der SPD-Fraktion. vom Deutsch-Französischen Jugendwerk in Bad Honnef geprägt ist. Ich bin im Rheinland groß geworden. Ich (Beifall bei der SPD) sage das als jemand, der den Jugendaustausch als Schü- ler noch als Mittel der Völkerfreundschaften begriffen Dr. Rolf Mützenich (SPD): hat. So wie es uns gelungen ist, unsere tiefe Freundschaft Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu unseren westlichen Nachbarländern zu verankern, so Herr Außenminister, ich möchte für die SPD-Fraktion ist es die Aufgabe unserer Zeit, diese tiefe Freundschaft das aufgreifen, was Sie zum Schluss gesagt haben. An- zu unseren östlichen Nachbarländern zu schaffen. Wir lässlich einer Diskussion über außenpolitische Heraus- wollen daran arbeiten und das vollenden, was andere vor forderungen muss man sich immer vergegenwärtigen, uns begonnen haben. was Haiti zum jetzigen Zeitpunkt durchmacht – ein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Land, das ohnehin größte Probleme hat. Ich glaube, dass bei Abgeordneten der SPD) angesichts dieser Katastrophe im Erdbebengebiet man- ches, was wir hier in Überschriften über innere und äu- Meine Damen und Herren, ich schließe mit einem ßere Katastrophen beschreiben, etwas kleiner wird. Ich Dank – denn ich habe von Werteorientierung gespro- glaube, gerade anlässlich einer außenpolitischen Debatte chen – an die Mitmenschlichkeit unserer Bürgerinnen ist das angemessen. und Bürger. Wir haben eine furchtbare Katastrophe ver- folgen können. Wir haben sie gesehen; aber wir sehen Ich bedanke mich ebenfalls für die große Spendenbe- zugleich die enorme Solidarität unserer Bürgerinnen und reitschaft der Bundesbürger, aber ich danke auch denje- Bürger, nicht nur gestern Abend bei einer herausragend nigen Deutschen, die dorthin gereist sind und die noch erfolgreichen Spendengala im Zweiten Deutschen Fern- reisen werden, die manchmal unbezahlten Urlaub neh- sehen. Wir sehen sie auch bei vielen anderen Initiativen. men und dort helfen, Verschüttete zu finden und auch bei Dafür wollen wir uns bedanken. der Aufbauhilfe tätig zu sein. Dies sind Dinge, für die wir auch vonseiten des Deutschen Bundestages Dank sa- Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen – denn ich habe gen müssen an die einzelnen Helfer und insbesondere an auch in Ihrem Namen sofort nach dem Erdbeben mit un- die Organisationen, die diese Hilfe bündeln. seren deutschen Botschaftsangehörigen und unserem deutschen Botschafter in Haiti telefoniert –, was diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen leisten. Sie sind mit dem Leben davongekom- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1297

Dr. Rolf Mützenich (A) Ich glaube, es ist manchmal leicht, von hier aus ge- internationale Rechtssicherheit für das Afghanistan- (C) genüber dem einen oder anderen Ressort Kritik an einer Mandat nicht hergestellt ist. Er hat ausgeführt, dass wir schleppenden internationalen Aufbauhilfe zu äußern. darüber befinden müssen, dass es dort einen nichtinter- Dennoch glaube ich, dass man auch daran erinnern nationalen bewaffneten Konflikt gibt. Angeblich hat er muss, dass die Vereinten Nationen schreckliche Verluste zweimal versucht, das im Kabinett unterzubringen. Es ist an Menschenleben, an Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ihm offensichtlich nicht gelungen. Deswegen meine Fra- tern – es sind mindestens 50, wahrscheinlich sogar bis zu gen – ich bitte Sie, das in die Debatte über den 300 – erlitten haben. Die Vereinten Nationen sind jene Einzelplan 14 aufzunehmen –: Haben wir in diesem Zu- Organisation, die nach meinem Dafürhalten wieder die sammenhang Rechtssicherheit? Hat die Bundesregie- internationale Aufbauarbeit wird leisten müssen. Natür- rung im Dezember einen Antrag vorgelegt, der rechtssi- lich können die USA das zum jetzigen Zeitpunkt schaf- cher ist, damit der Bundestag möglicherweise zustimmt? fen, aber es wäre gut, wenn wir uns auch vonseiten Euro- Oder ist das nicht der Fall? pas darauf konzentrierten, dass insbesondere die Ich glaube, diese Diskussion trägt eher zur Verunsi- Vereinten Nationen als internationale Hilfsorganisation cherung bei, insbesondere das, was in den letzten Wo- daran mitwirken müssen, den notwendigen Aufbau chen immer wieder von Sprechern der einzelnen Res- Haitis zu unterstützen. Deswegen noch einmal: Herr Au- sorts gesagt worden ist. Frank-Walter Steinmeier hat für ßenminister, auch wir haben großen Respekt vor den unsere Seite erklärt, dass auch wir als Opposition die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Botschaft, vor ih- Verantwortung für Afghanistan übernehmen, zwar nicht rem unermüdlichen Einsatz vor Ort, gerade angesichts bedingungslos, aber wir haben Kriterien formuliert, die der schrecklichen Bilder, die sie unmittelbar erlebt ha- wir in der nächsten Woche zur Diskussion stellen. ben. Umso mehr war es gut, dass Frau Käßmann vonsei- Umso mehr ist – wenn wir uns den außenpolitischen ten der Evangelischen Kirche diese Debatte unterstützt Problemen stellen – ein Unterschied zu Haiti zu benen- hat. Ich habe manche Kritik vonseiten des Deutschen nen. Wir haben viele internationale Probleme zu lösen. Bundestages überhaupt nicht verstanden und auch be- Aber wir können diese internationalen Probleme mit klu- stimmte Vergleiche nicht; das muss ich sagen. ger Politik und Vernunft regeln. Naturkatastrophen, wie Haiti sie erlebt hat, sind nicht beherrschbar. Aber wir (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem können die internationalen Probleme mit einer klugen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Politik lösen. Wir vonseiten der sozialdemokratischen Wer, wenn nicht die Kirche, muss über die Frage von Bundestagsfraktion, vonseiten der Opposition, wollen Krieg und Frieden diskutieren? Das steht ihr gut zu Ge- daran mitwirken. Dies ist gar keine Frage. sicht, aber dann muss sie es auch aushalten, wenn Fragen (B) (D) Wo Kritik notwendig ist, wollen wir sie üben. Deswe- gestellt werden. Wenn Frau Käßmann zum Beispiel sagt: gen würde ich gerne an dieser Stelle ein paar Punkte an- „Nichts ist gut in Afghanistan“, dann dürfen wir auch sprechen. Herr Außenminister, Sie haben es erwähnt: In fragen: Was ist der Maßstab für diese Aussage? der nächsten Woche werden wir im Deutschen Bundes- Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinwei- tag noch einmal eine wichtige Afghanistan-Debatte füh- sen, dass die ARD bzw. die BBC vor etwa 14 Tagen die ren. Ich bin dankbar, dass die Bundeskanzlerin für die Ergebnisse einer interessanten Umfrage veröffentlicht Bundesregierung etwas zur Afghanistan-Politik und zur hat, die ein sehr differenziertes Bild zutage brachte: Die Konferenz in London sagen will. Es hat nach meinem Afghanen selbst haben gesagt, dass sie auf der einen Dafürhalten lange gedauert, bis sie sich dazu bereit er- Seite große Probleme haben, dass sie auf der anderen klärt hat. Ich glaube, das hat auch etwas damit zu tun, Seite aber einen besseren Zugang zu Strom, Wasser und dass das gesamte Haus an die Bundesregierung appel- vielen anderen Dingen haben als vor einem Jahr. Das ist liert hat, vor der Konferenz in London sehr deutlich zu keine Bestätigung für die Afghanistan-Politik, sondern machen, in welche Richtung die Bundesregierung gehen eher eine Ermunterung, auf diesen Ansatz zu bauen. will. Vielleicht hat sie etwas zu lange gezögert, aber im- Dennoch müssen wir die Frage stellen: Welchen Maß- merhin macht sie es. stab legen wir an Afghanistan an? Deswegen noch ein- Dennoch will ich zwei Punkte ansprechen, die aus mal: Es ist gut, dass sich die Kirchen an dieser Debatte meiner Sicht notwendig sind. Wir vonseiten der SPD ha- beteiligen. Sie tun das sehr differenziert. Wir vom Deut- ben sehr frühzeitig über die Afghanistan-Politik gespro- schen Bundestag sollten uns darüber nicht beklagen, chen, nicht nur in der Regierung, sondern auch während sondern diese kritische Diskussion mit führen. des Wahlkampfes. Frank-Walter Steinmeier hat als Kan- Wenn wir heute über den Einzelplan des Auswärtigen didat für den 27. September ein sehr umfassendes Pro- Amtes sprechen, lohnt es, dass wir uns zehn Jahre nach gramm vorgestellt. Wir werden am Freitag in einer hoch- der Jahrtausendwende vergewissern, in welche Richtung rangigen Afghanistan-Konferenz noch einmal darüber diese Welt geht, nach welchen Rahmenbedingungen wir beraten, wie notwendig dieser Weg ist. die internationale Politik werden aufbauen müssen. Ich will schlagwortartig auf ein paar Aspekte aufmerksam Dennoch stellen sich aus meiner Sicht, wenn wir machen, auf die sich die deutsche Außenpolitik, wie ich nächste Woche darüber beraten, bereits heute zwei Fra- glaube, wird einstellen müssen: gen. Der Verteidigungsminister hat uns in den vergange- nen Tagen und Wochen immer wieder über Veröffentli- Erstens. Die Weltfinanzkrise, über die wir hier aus in- chungen in Medien mitgeteilt, dass aus seiner Sicht die nenpolitischen Gründen zu Recht immer wieder disku- 1298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Rolf Mützenich (A) tieren – auch heute Morgen –, hat natürlich insbesondere Europa helfen können. Wir können helfen, dieses Ver- (C) internationale Auswirkungen. Ich glaube, dass die Welt- hältnis zu verbessern und – so sage ich es einmal – zu finanzkrise den Unterschied zwischen armen und rei- entkrampfen. So können wir auf diese Krise reagieren. chen Ländern, zwischen entwickelten, sich entwickeln- Deswegen lautet meine Bitte an die Bundesregierung, den und den Ländern, in denen die Menschen in Armut gerade mit Russland über die Herausforderungen zu leben, noch verschärfen wird. Das wird eine große He- sprechen. Das hat auch die Vorgängerregierung getan. rausforderung für die deutsche und die europäische Au- ßenpolitik, aber auch für die einzelnen Ressorts der Bun- Ich will auf eine Frage aufmerksam machen, die von desregierung sein. der russischen Regierung vielleicht anders beantwortet wird: die Frage der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Zweitens. Die Bedeutung der Schwellenländer wird Wer genau zugehört hat, als der russische Ministerpräsi- zunehmen. Die G 7 und die G 8 werden in Zukunft dent gesagt hat: „Weil es die amerikanische Raketenab- wahrscheinlich nicht mehr der Rahmen für die Lösung wehr gibt, brauchen wir neue offensive Waffen“, der internationaler Probleme sein, sondern die G 20 oder an- weiß, was die Stunde geschlagen hat für Abrüstung und dere internationale Organisationen. Nach meinem Dafür- Rüstungskontrolle. Das heißt, die Frage der Raketenab- halten muss aber auch die Bundesregierung auf diese wehr muss in der Abrüstung und Rüstungskontrolle in Frage Antworten finden. Insbesondere, wenn wir eine den nächsten Jahren einen Stellenwert bekommen. Es ist vertrags-, normen- und regelgeleitete Politik machen mein Appell an Sie, dies auf die internationale Agenda wollen, werden wir überlegen müssen, ob diese interna- mitzunehmen. tionalen Organisationen legitimiert sind, ob wir ihnen eine Legitimation verschaffen können und in welcher (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Konkurrenz sie stehen. Wir vonseiten der SPD haben Ihnen bezüglich der Drittens. Der Klimawandel wird auch die Sicherheits- konventionellen Abrüstung und Rüstungskontrolle fragen in der internationalen Politik verschärfen. Es ist schon früh angeboten, dass der Deutsche Bundestag, bitter, dass es in Kopenhagen nicht zu einer besseren Lö- wenn Sie es wollen und für richtig halten, den sogenann- sung gekommen ist. Umso mehr große Herausforderun- ten angepassten KSE-Vertrag ratifiziert. Ich glaube, das gen wird der Klimawandel, so glaube ich, für die inter- ist notwendig und angemessen. Wir unterstützen das. nationale Gemeinschaft im Hinblick auf die Sicherung Herr Bundesaußenminister, wir nehmen Sie beim Wort. der Lebensbedingungen in den vom Klimawandel be- Genauso wie wir den amerikanischen Präsidenten bei sonders betroffenen Ländern liefern. der Lösung internationaler Probleme beim Wort nehmen, nehmen wir Sie beim Wort, die Abrüstung und Rüs- Der vierte Punkt ist die Frage der Aufrüstung, den Sie tungskontrolle voranzubringen. Sie haben unsere Unter- (B) eben angesprochen haben, Herr Bundesaußenminister. stützung, wenn die letzten verbliebenen amerikanischen (D) Ich nenne an dieser Stelle auch die Frage von Religion Atomwaffen auf dem Verhandlungswege aus Deutsch- und Politik. Ich glaube, das ist keine Leitidee der inter- land entfernt werden sollen. Das ist ein richtiger Punkt. nationalen Politik. Wir dürfen diese Idee auch nicht im- Wir vonseiten der SPD folgen Ihnen auf diesem Weg. mer bedienen. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht immer wieder verleiten lassen, die Religion als Ursache (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für internationale Konflikte anzusehen, da sie doch eher der FDP) als Instrument von dem einen oder anderen genutzt wird. Weil es nach meinem Dafürhalten gerade an dieser Ich glaube, gerade heute sollte man sagen: Kein Land Stelle der Debatte darum geht, andere Verantwortliche in der Welt wird diese internationalen Herausforderungen der internationalen Politik zu benennen, möchte ich noch alleine bewältigen können, aber wir werden die USA zur einmal auf China zu sprechen kommen. Die Volksrepu- Regelung dieser Probleme brauchen. Dass Präsident blik China wird das Land sein, das wir mehr und mehr Obama mit seiner Demokratischen Partei eine entschei- zur Regelung internationaler Konflikte brauchen. Des- dende Niederlage erlitten hat, ist gar keine Frage. Ich wegen fanden wir es sehr angemessen und zeitgerecht, warne aber davor, auf Präsident Obama herumzureiten dass Sie nach China und Japan gereist sind und dort auch und zu sagen: „Er löst das alles nicht“, auch wenn das in die Frage der Menschenrechte angesprochen haben. Es der veröffentlichten Meinung zurzeit schick zu sein ist immer richtig, Kritik zu üben; aber ich glaube, es ist scheint. Von dieser Stelle aus sage ich: Wir werden kei- umso notwendiger, auch zu sagen, dass China Lehren nen besseren amerikanischen Präsidenten bekommen. Er aus der internationalen Politik zieht. Die Volksrepublik geht die internationalen Probleme an, zum Beispiel China wird mehr und mehr ein verlässlicher Akteur in durch seine Reden in Kairo und Prag – Sie haben das ge- der internationalen Politik, insbesondere im asiatischen sagt –, und versucht, die innenpolitischen Verhältnisse Raum. Deswegen ist es gut, wenn wir sagen: Ja, die zu verändern. Deswegen haben Deutschland und Europa Volksrepublik China muss Verantwortung übernehmen ein großes Interesse daran, die Politik dieses amerikani- und nach Regeln und Normen der internationalen Politik schen Präsidenten zu unterstützen. Ich glaube, die Bun- umsetzen. desregierung ist dazu aufgerufen, dies nicht nur in den Zum Schluss. Wir sollten uns über die Rolle Europas Partnerschaften, die wir mit den USA entwickelt haben, klar werden. Sie haben Europa eben als Friedensgemein- sondern auch im ganz konkreten Miteinander zu tun. schaft beschrieben, wo im Grunde genommen Krieg fern Nach meinem Dafürhalten ist aus Sicht der USA das jeden Gedankens ist. Das ist vollkommen richtig. Aber Verhältnis zu Russland das Thema, bei dem wir in wir sollten uns hier in Deutschland klarmachen, dass Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1299

Dr. Rolf Mützenich (A) sich Gemeinschaftsbildung, wie sie in Europa geschieht, Außenminister im Kreis seiner EU-Kollegen über die (C) mittlerweile in der ganzen Welt entwickelt. Dort ist Ge- Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheidet. meinschaftsbildung auf der regionalen Agenda. Ich habe Auch mit Blick auf die verfrühten Beitritte Bulgariens eben über Asien gesprochen; das betrifft auch viele an- und Rumäniens müssen wir erreichen, am Ende der Ver- dere Regionen. handlungen über den Beitritt eines Kandidaten begrün- det „Ja“ oder „Jetzt noch nicht“ sagen zu können. Wir Umso wichtiger ist, dass wir Perspektiven für andere wollen nicht noch einmal in die Situation kommen, am Länder in Europa benennen, wenn es zur Stabilität Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken zu Europas beiträgt. Deswegen unterstützen wir Ihre Tür- können. Dies erfordert, dass wir uns schon vor Verhand- keipolitik. Wir fanden es gut, dass dieses Thema im lungsbeginn selbst ein genaues Bild über den Stand der Koalitionsvertrag so aufgenommen worden ist wie da- Vorbereitungen des Kandidaten machen. mals zu Zeiten der Großen Koalition. Ich sage gleichzei- tig: Insbesondere dabei, dass Sie für Minderheitenrechte Vor allem – das ist die entscheidende Aufgabe – müs- in der Türkei plädieren, haben Sie unsere volle Unter- sen wir unsere Erwartungen an den Verhandlungsprozess stützung. Auch wir glauben, dass ohne die Türkei wich- formulieren, insbesondere bei Problemthemen wie tige Herausforderungen in dieser Region nicht bewältigt Rechtsstaatlichkeit oder Kriminalitäts- und Korruptions- werden können. bekämpfung, aber auch, wie im Falle Islands, mit Blick auf die Integrationsbereitschaft des Landes. Wenn wir Sie haben schließlich den Iran angesprochen. Wir derartige Benchmarks formulieren, dann haben wir eine vonseiten der Opposition, vonseiten der SPD unterstüt- Grundlage, um hinterher begründet „Ja“ oder „Jetzt noch zen Sie auch in der Iranpolitik. Ich glaube, ein solches nicht“ sagen und unsere Entscheidung auch unserer Be- Land muss sich darüber klar werden, dass sich die Welt- völkerung erklären zu können. gemeinschaft, wenn es gegen internationale Normen verstößt, auf friedliche internationale Sanktionen ver- Das gilt selbstverständlich auch für die Frage eines ständigt. Bitte sorgen Sie mit dafür, dass die internatio- Beitritts der Türkei. Um es in aller Klarheit zu sagen: nale Gemeinschaft zusammenbleibt. Denn das ist, Die Verhandlungen mit der Türkei sind mit dem Ziel glaube ich, die einzige Antwort, die der Iran versteht. des Beitritts aufgenommen worden, und sie sind ein er- gebnisoffener Prozess. Sollte die EU nicht in der Lage Vielen Dank. sein, die Türkei aufzunehmen, oder sollte die Türkei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht in der Lage sein, alle mit dem Beitritt verbundenen der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Verpflichtungen voll und ganz zu erfüllen, muss eine SES 90/DIE GRÜNEN) möglichst enge Anbindung erreicht werden. (B) Wir müssen aber auch sehen, dass die Türkei seit (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: mehr als drei Jahren die Anwendung des Ankara-Proto- Das Wort hat nun Kollege Andreas Schockenhoff, kolls verweigert. Die Beitrittsverhandlungen kommen CDU/CSU-Fraktion. nicht voran. Das wirft die Frage auf, was die Türkei mit der EU will. Deshalb müssen wir uns schon jetzt unter Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): strategischen Gesichtspunkten Gedanken machen, was Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir dann tun wollen, wenn die Verhandlungen an einen Lassen Sie mich mit einer ungewöhnlichen und deswe- toten Punkt kommen. gen aufrüttelnden Anklage beginnen: „Die EU schadet (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Europa-Idee“. Das sagt kein Gegner der EU, sondern NEN]: Man kann ihn auch herbeireden!) kein Geringerer als der frühere Bundespräsident Roman Herzog, ein Freund und Förderer eines Europas der Bür- Sie einfach im Sande verlaufen zu lassen, wäre unwür- ger. dig und entspräche nicht unserem besonderen Interesse an einer Vertiefung der Beziehungen zur Türkei. Da die (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das bleibt Modernisierung der Türkei in unserem Interesse liegt, trotzdem Unsinn!) stellt sich für uns die Frage, ob dieser innere Modernisie- rungsprozess bereits unumkehrbar ist und was wir gege- Die EU, so mahnt er, verliere an Akzeptanz, weil sie benenfalls für seine Fortsetzung tun müssen. über die Köpfe der Bürger hinweg immer mehr zentrale Vorschriften für Dinge erlasse, die mindestens ebenso Die Türkei spielt im Nahen und Mittleren Osten eine gut lokal oder regional geregelt werden könnten. Er immer wichtigere und immer konstruktivere Rolle – das nennt dafür zahlreiche Beispiele. Roman Herzog hat liegt in unserem Sicherheitsinteresse –, doch in strategi- recht. Gerade wir als Europafreunde müssen gegen eine scher Hinsicht ist diese Region für uns zu wichtig. Des- Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips Widerstand leis- halb stellt sich die Frage, wie wir am ehesten ein eng mit ten. Auch weil wir uns als Bundestag wichtige Gestal- der EU abgestimmtes Handeln der Türkei in dieser Re- tungsmöglichkeiten erhalten müssen, haben wir eine be- gion erreichen. Dazu gehört auch die uneingeschränkte sondere Wächteraufgabe. Mit dem Begleitgesetz zum Zusammenarbeit mit der Türkei in Energiefragen; ich Lissaboner Vertrag haben wir die dafür notwendigen In- nenne nur das Stichwort Nabucco. strumente geschaffen. Nicht zuletzt: Wenn in der Türkei jetzt gelegentlich Eine entscheidende Kontroll- und Gestaltungsmög- über die sogenannte Norwegen-Lösung gesprochen lichkeit ist das Recht zu einer Stellungnahme, ehe der wird, dann muss man das richtig verstehen. Gemeint ist 1300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Andreas Schockenhoff (A) nicht nur eine enge Anbindung an die EU durch den eu- zwei bis drei Jahre mit der Übergabe der Verantwortung (C) ropäischen Wirtschaftsraum. Gemeint ist auch, dass es an die afghanischen Sicherheitskräfte und mit dem Ab- Norwegen war, das Nein zur EU-Mitgliedschaft gesagt zug der ersten Bundeswehrsoldaten begonnen werden hat, nicht die EU. All dies sind strategische Fragen des kann. Je früher wir unser militärisches Engagement re- weiteren Vorgehens, die wir nicht mit einfachen Formeln duzieren und schließlich beenden können, desto besser. beantworten können. Aber, um das ebenso deutlich zu sagen: Eine Übergabe der Verantwortung ist nur verantwortbar, wenn Afgha- Lieber Herr Außenminister, ein wichtiger Schwer- nistan nach dem Abzug nicht erneut zur Basis von Ter- punkt Ihrer Rede war, den Abrüstungsbemühungen neue rornetzwerken wird oder in einen Bürgerkrieg zurückzu- Dynamik zu verleihen. Das gilt – Sie haben es gesagt – fallen droht. Das ist die Herausforderung, vor der wir insbesondere für die schwierige Frage, wie der Weiter- stehen: Afghanistan darf nicht wieder zu einem geschei- verbreitung von Massenvernichtungswaffen wirksam terten Staat werden, von dem aus Terroristen gegen uns Einhalt geboten werden kann. Ich sage, auch für die agieren. Union: Ein nuklear bewaffneter Iran würde unsere Si- cherheit bedrohen und im Nahen und Mittleren Osten ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nen neuen atomaren Rüstungswettlauf mit katastropha- der FDP) len Folgen auslösen. Das muss verhindert werden. Deswegen sind auch wir, wenn es notwendig ist, zu här- Was ist zu tun? Erstens. Neben der Aufgabe, weiter zu teren gemeinsamen Sanktionsmaßnahmen bereit. stabilisieren, muss es darum gehen, die Ausbildung af- ghanischer Soldaten und Polizisten zu beschleunigen. Je (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mehr Ausbilder wir nach Afghanistan schicken, desto neten der FDP) schneller ist die erforderliche Anzahl Soldaten und Poli- Um eine neue Dynamik der Rüstungskontroll- und zisten ausgebildet und desto früher werden wir mit dem Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen, unterstützen Abzug unserer Soldaten beginnen können. Der Leitge- wir Sie, Herr Außenminister, nachdrücklich in Ihren Be- danke muss also lauten: Wer früher raus will, muss jetzt mühungen, eine internationale Abrüstungsinitiative auf mehr Ausbilder für Militär und Polizei entsenden. Wer den Weg zu bringen. In diesem Zusammenhang werden dazu nicht bereit ist, trägt die Verantwortung dafür, wenn auch die in Deutschland stationierten amerikanischen wir länger bleiben müssen. Nuklearwaffen eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Völliger nicht nur auf weitere Abrüstungsschritte drängen, son- Quatsch!) dern einen konkreten Beitrag leisten – so wie wir es ge- meinsam in unserer Koalitionsvereinbarung festgehalten Wir wollen das nicht. (B) haben. Zweitens muss es darum gehen, eine effektive Regie- (D) Konkret heißt das: Wir setzen uns für den Abzug dieser rungsführung zu erreichen. Dafür brauchen wir in Lon- Waffen ein. Dieser soll aber nicht einseitig geschehen, don klare Zusagen der afghanischen Regierung. Das sondern im Zusammenhang mit Abrüstungsvereinbarun- werden wir dem afghanischen Präsidenten Karzai gen; denn auch anderswo in Europa, beispielsweise in Ka- nächste Woche bei seinem Besuch in Berlin auch sagen. liningrad, sollten taktische Atomwaffen abgerüstet wer- Dies gilt insbesondere für die Bekämpfung der Korrup- den. Zudem soll dies im Zuge der Ausarbeitung des tion; wir brauchen aber auch eine bessere Balance zwi- neuen strategischen Konzepts der NATO geschehen; schen der Zentralmacht und den Regionen und eine brei- denn auch in diesem Zusammenhang muss die künftige tere politische Partizipation in den Regionen. Rolle der Nuklearwaffen geklärt werden. Nicht zuletzt Drittens muss es darum gehen, in unserem Verantwor- muss der Abzug dieser Waffen im Bündnis abgestimmt tungsbereich, im Norden, mehr für den Wiederaufbau werden. Mit anderen Worten: nicht einseitig, sondern im zu tun: Grundversorgung mit Energie und Trinkwasser, Zusammenhang mit Abrüstung, im strategischen Kon- mehr Infrastruktur im Transportbereich, mehr Schulen zept der NATO und im Bündnis abgestimmt. Das ist der und Lehrer, mehr Arbeitsplätze. Weg, um einen weiteren Schritt in Richtung einer nuklear- waffenfreien Welt zu gehen und gleichzeitig Vertrauen Im Hinblick auf die Äußerungen von Herrn Gysi im Bündnis zu wahren. heute Morgen – ich bin Ihnen dankbar, Herr Mützenich, dass Sie darauf eingegangen sind – will ich zu den Äu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ßerungen von Frau Käßmann sagen: Es geht auch da- der FDP) rum, das viele Gute, das die Aufbauhelfer und Soldaten Wir werden uns – das ist bereits gesagt worden – am bereits erreicht haben, auszubauen und zu vertiefen. Na- nächsten Mittwoch ausführlich mit der Londoner Afgha- türlich haben die Kirchen das Recht, sich an dieser Dis- nistan-Konferenz befassen. Im Rahmen der Haushalts- kussion zu beteiligen, beratungen muss man jedoch ein Wort zu Afghanistan (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wie groß- sagen; denn Afghanistan ist nicht nur eine der größten zügig!) außenpolitischen Herausforderungen, der Afghanistan- Einsatz ist auch einer der kostenintensivsten Posten in sie müssen es sogar. dem Etat, über den wir diskutieren. Ist aber wirklich nichts gut in Afghanistan? Nach ei- Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, die Vorausset- ner aktuellen BBC-Umfrage sehen 70 Prozent der zungen dafür zu schaffen, dass im Laufe der nächsten Afghanen ihr Land auf einem guten Weg. 2001 gab es Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1301

Dr. Andreas Schockenhoff (A) fast keine Schulen mehr. Heute gehen in Afghanistan Michael Leutert (DIE LINKE): (C) Millionen Kinder in die Schule. 3 500 neue Schulge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! bäude wurden gebaut. 2001 gab es praktisch keine wei- Herr Außenminister, in den letzten Tagen wurde viel terführende Bildung mehr. Heute studieren 50 000 junge über eine ganz gewisse Spende diskutiert. Seit gestern Afghanen an Universitäten, weitere 10 000 besuchen Abend – Sie haben es selbst angesprochen – gibt es eine Berufsschulen. 2001 galten Frauen und Mädchen als Spende, über die wir uns alle freuen können: Menschen zweiter Klasse. Heute ist die Gleichberechti- 18 Millionen Euro für die Opfer in Haiti sind innerhalb gung in der afghanischen Verfassung festgeschrieben, weniger Stunden bei der ZDF-Spendengala zustande ge- können Mädchen wieder zur Schule gehen. kommen. Allerdings halte ich es für etwas peinlich, dass die Bundesregierung innerhalb einer Woche lediglich in 2001 gab es keine Gesundheitsversorgung mehr. der Lage war, 10 Millionen Euro zusammenzubringen. Heute hat der größte Teil der Bevölkerung Zugang zu Meines Erachtens kommt dies davon, dass man die ent- medizinischer Basisversorgung. 2001 gab es keine In- sprechenden Mittel gekürzt hat. frastruktur mehr. Heute sind in Afghanistan 14 000 Ki- lometer Straße neu gebaut oder repariert worden. Damit sind wir auch schon beim Haushalt. Ihnen steht nicht wirklich viel Geld für die Außenpolitik zur Verfü- Ist das alles wirklich nicht gut? Ist es nicht so, wie es gung. Aber das wenige Geld, das Ihnen zur Verfügung der Kölner Erzbischof Kardinal Meisner kürzlich ge- steht, verteilen Sie auch noch falsch. Sie geben Ihr Geld sagt hat, dass der Einsatz der Bundeswehr einen Schutz- mitnichten nur für zivile Projekte aus, sondern folgen schild bietet, um zivile Strukturen aufzubauen? Ist es mehr und mehr der militärischen Logik derzeitiger Au- wirklich nicht gut, dass in Afghanistan aufgrund unserer ßenpolitik. Stabilisierungsbemühungen das PRT Faizabad im Laufe des zweiten Halbjahres 2010 an die afghanischen Sicher- Die Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist aber – so heitskräfte übergeben werden kann und sich die deut- dachte ich zumindest immer – das Vertreten der Angele- schen Sicherheitskräfte von dort zurückziehen können? genheiten Deutschlands im Ausland und die Pflege unse- rer Beziehungen zu anderen Staaten und internationalen Ja, es ist richtig: Das alles reicht bei Weitem noch Organisationen. Dies sind Aufgaben rein zivilen Cha- nicht aus. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen rakters. Dafür stehen Ihnen 3 Milliarden Euro zur Ver- verstärken. Aber wer wie die EKD-Vorsitzende, und sei fügung; das ist ungefähr 1 Prozent des Gesamthaushalts, es nur als Predigtkunstgriff, mit Überzeugung behauptet, von dem der Verteidigungsminister auch in diesem Jahr nichts sei gut in Afghanistan, der erweckt doch den Ein- 10 Prozent abgreift. Wir hatten da schon einmal eine druck, als seien die bisherigen Aufbau- und Friedensan- bessere Situation. Von diesen 3 Milliarden Euro sind strengungen nicht der Rede wert. Dies ist falsch, und es 50 Prozent von vornherein komplett gebunden, also ei- (B) eröffnet dem Land keine Perspektiven. gentlich nicht verhandelbar. Das sind Beiträge an inter- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nationale Organisationen und die Personalkosten. Die Mahnung, mehr für den Aufbau zu tun und die An vier Beispielen zeige ich nun, wie das wenige rest- Art unseres Einsatzes zu überdenken, ist voll berechtigt, liche Geld nach unserer Auffassung auch noch falsch, und das müssen wir auch annehmen. Aber dabei darf nämlich im Sinne der militärischen Komponente deut- nicht ignoriert werden, was unsere Entwicklungshelfer, scher Außenpolitik, verteilt wird: die Soldaten der Bundeswehr, Polizisten und Diploma- Erstes Beispiel ist der Titel „Stabilitätspakt Afghanis- ten bereits erreicht haben. Sonst lässt man die Menschen tan“, der der Öffentlichkeit neben dem Militäreinsatz in Afghanistan allein, statt ihnen – gerade auch im seel- immer als zivile Hilfe verkauft wird. Aber allein von den sorgerischen Sinne – Mut zu machen. Daher will ich ne- 90 Millionen Euro, die dafür zur Verfügung gestellt wer- ben dem großen Dank, den der Außenminister zu Recht den, gehen wieder 50 Millionen Euro in den Aufbau der denjenigen ausgesprochen hat, die sich jetzt unter so afghanischen Sicherheitskräfte. schwierigen Umständen in Haiti einsetzen, erneut, wie es in diesem Hause schon wiederholt geschehen ist, de- Das zweite Beispiel ist der Titel: „Demokratisierungs- nen danken, die dafür Sorge getragen haben und weiter- und Ausstattungshilfe, Maßnahmen zur Förderung der hin dafür Sorge tragen, dass in Afghanistan vieles schon Menschenrechte“. Dafür stehen insgesamt 19 Millionen besser geworden ist und Weiteres besser werden wird. Euro zur Verfügung. Aber allein davon gehen 11 Millio- Sie haben unsere Unterstützung bei ihren Bemühungen, nen Euro in die sogenannte Ausstattungshilfe für auslän- dass Afghanistan so weit zur Stabilität kommt, dass es dische Streitkräfte. Letztendlich bleiben somit für die dort auch ohne die ständige Präsenz von Militärs eine Förderung der Menschenrechte nur 3 Millionen Euro üb- selbsttragende Sicherheit gibt. rig. Vielen Dank. Das dritte Beispiel ist – Sie haben es hier ebenfalls angesprochen – die sogenannte Afrika-Initiative, die mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 31 Millionen Euro im Haushalt steht. Auch hier fließen wiederum 10 Millionen Euro direkt in den Aufbau der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Polizei. Nun ist klar: Als Europäer denkt man bei Polizei Das Wort hat nun Michael Leutert für die Fraktion nicht unbedingt sofort an etwas Schlechtes. Aber man Die Linke. muss sich einmal die Länder anschauen, in die diese Mittel fließen. Das sind Kongo, Liberia, Elfenbeinküste, (Beifall bei der LINKEN) Sierra Leone und Burundi. 1302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Michael Leutert (A) (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) Das ist doch absolut okay!) Das Wort hat nun Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Das kann okay sein, aber ich möchte gerne wissen, über welche Polizeikräfte wir sprechen. Wir alle wissen, dass in diesen Ländern Polizeikräfte zum Teil paramili- Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tärischen Charakter haben. Ich gehe davon aus, dass wir NEN): hier nicht bloß über Verkehrspolizisten sprechen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, im November haben wir hier den (Beifall bei der LINKEN) Koalitionsvertrag diskutiert. Damals habe ich unserem Noch deutlicher wird es beim vierten Beispiel – das Land gewünscht, dass das Handeln von Schwarz-Gelb hat es im Etat des Auswärtigen Amtes so noch nicht ge- besser wird, als das der Text des Vertrages befürchten geben, nämlich einen Titel mit direktem militärischem lässt. Diese Hoffnung hat sich bislang nicht erfüllt. Bezug, der ganz ungeschminkt so benannt wird –: „Un- In den letzten Wochen standen große Zukunftsfragen terstützung des Aufbaus afghanischer Sicherheitskräfte der Vereinten Nationen auf der Tagesordnung. Es ging durch die NATO“. Mit diesen Sicherheitskräften – das und geht um einen Durchbruch beim Klimaschutz und kann man in der Erklärung nachlesen – ist ausschließlich um die Bekämpfung von Hunger und Armut trotz Wirt- die afghanische Armee gemeint. Das hat in dem Haus- schaftskrise. Es ging um Deutschlands Rolle bei der Lö- halt des Auswärtigen Amtes überhaupt nichts zu suchen. sung der großen Menschheitsfragen. Es ging darum, vo- Ich kann schon jetzt ankündigen, dass wir die Streichung ranzugehen. Aber diese Regierung hat durch den Mangel dieses Titels fordern. an politischen Initiativen viel Ansehen unseres Landes (Beifall bei der LINKEN) bereits verspielt. Es ist völlig klar: Der Etat des Auswärtigen Amtes ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eigentlich nicht der klassische Punkt, an dem man die Die Konferenz von Kopenhagen ist ein Beispiel für Kritik an der immer stärker werdenden Militarisierung das Scheitern Ihrer Diplomatie. der Außenpolitik vorbringt. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: So ein Das kann doch nicht wahr sein!) Quatsch!) Nach dem Klimagipfel reicht es eben nicht, auf China Ich weiß im Übrigen auch aus vielen Gesprächen mit und die USA zu zeigen. Sie tragen selbst Mitverantwor- vielen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes, dass sie tung für eine falsche Verhandlungsstrategie der Europäi- (D) (B) sich selber als Teil der zivilen Komponente der deut- schen Union. Sie haben konkrete Finanzzusagen an die schen Außenpolitik verstehen. Aber die von mir hier Entwicklungsländer im Vorfeld der Konferenz genauso vorgetragenen Beispiele machen deutlich, dass sich der mitverhindert wie eine Erhöhung der europäischen Min- Etat des Auswärtigen Amtes in dem Spannungsfeld von derungsziele auf 30 Prozent. ziviler und militärischer Komponente in der Außenpoli- tik mehr und mehr in Richtung militärische Komponente (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bewegt. Sie haben an entscheidender Stelle vorher blockiert Im zivilen Bereich – ich kann dafür zwei Beispiele statt voranzugehen. Das ist – auch wenn Sie das nicht nennen – sieht es nicht besser, sondern schlechter aus. gerne hören – ein Versagen deutscher Außenpolitik, und Dort werden nämlich die Mittel gestrichen. Die Mittel dann helfen danach auch alle schönen Worte des Um- für Maßnahmen zur Sicherung von Frieden und Stabili- weltministers nichts. tät zum Beispiel werden um 14 Millionen Euro gekürzt. Auch bei der internationalen Bekämpfung von Hun- Der sehr wichtige Titel „Für humanitäre Hilfsmaßnah- ger und Armut wird diese Regierung zur Bremserin, men im Ausland“ – wir hatten eben das Thema Haiti – statt eine Vorreiterrolle einzunehmen. Ban Ki-moon hat wird um 7,5 Millionen Euro gestrichen. gerade wieder verstärkte Anstrengungen zur Erreichung Letztendlich bleibt nur Folgendes festzustellen: Die der Millenniumsziele eingefordert. Was ist die außen- schwarz-gelbe Bundesregierung ist de facto in der Logik politische Antwort Deutschlands? Sie kündigen mit die- militärischer Außenpolitik. In Afghanistan, in der eige- sem Haushalt einseitig den Ausstieg Deutschlands aus nen Logik des Krieges, ist sie gefangen. Es ist Fakt, dass dem europäischen Stufenplan zur Entwicklungsfinanzie- zivile Projekte, untersetzt durch den Haushalt, zu einem rung an. Das ist keine nachgeordnete Frage der Entwick- Teil dieser militärischen Logik werden und immer mehr lungspolitik; es ist ein Affront gegen zentrale Vereinba- an den Rand gedrängt werden. Das kann man in dem rungen der UNO und der Europäischen Union. vorgelegten Haushalt nachlesen. Das widerspricht allen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erklärungen und Ankündigungen, dass man zum Bei- sowie bei Abgeordneten der SPD) spiel in Afghanistan mehr für den zivilen Wiederaufbau tun möchte. Schon aus diesem Grund wird die Linke die- Sie haben sich mit diesem Haushalt von den bisherigen sen Haushalt ablehnen. internationalen Zusagen Deutschlands verabschiedet, ob- wohl 2 Milliarden Menschen von weniger als 2 Dollar am Vielen Dank. Tag leben und über 1 Milliarde Menschen weltweit hun- (Beifall bei der LINKEN) gern. Diese Regierung hat zwar 1 Milliarde Euro jährlich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1303

Dr. Frithjof Schmidt (A) für Hotelbesitzer, findet aber nur 44 Millionen Euro Hier geht es um eine zentrale außenpolitische Frage der (C) mehr, um die deutschen Versprechungen zur Bekämp- Gesamtstrategie in Afghanistan. fung von Hunger, Armut und Krankheit zu erfüllen. Das Alle Experten sagen uns, dass es von zentraler Bedeu- ist eine Schande für unser Land. tung ist, eine komplementäre Wirkung von militäri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schem Stabilisierungseinsatz und Entwicklungshilfe sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- nicht mit Vermischung zu verwechseln. Genau das KEN) macht Herr Niebel falsch. Sie, Herr Westerwelle, haben die Federführung und lassen ihn gewähren. Das bedeutet Ich fordere Sie auf: Halten Sie die deutschen Ver- sehr konkret, die zivilen Helfer in der Wahrnehmung vor pflichtungen international ein! Stehlen Sie sich nicht so Ort zu militärischen Handlangern zu machen. Das würde schäbig davon! die Entwicklungshelfer vor Ort noch größeren Gefahren Der Mangel an politischen Initiativen zeigt sich auch aussetzen, als es ohnehin schon der Fall ist. am Beispiel Afghanistan. Eine klare Strategie für Af- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ghanistan haben Sie uns wenige Tage vor der Afghanis- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- tan-Konferenz immer noch nicht vorgelegt. KEN) Wir fordern von Ihnen ein klares Konzept für einen Diese Äußerungen aus dem Kabinett zeigen generell massiven Polizeiaufbau mit mindestens 500 deutschen ein hochproblematisches Verständnis deutscher Außen- Polizisten, eine Aufbaustrategie, die endlich die wach- und Entwicklungspolitik. Wir brauchen keine einseitige sende Schere zwischen dem Hilfsbedarf einerseits und Verengung auf das Militär. Auslandseinsätze dürfen den Umsetzungs- und Abflussproblemen bei der Mittel- eben auch nicht, wie das Herr zu Guttenberg Ende letz- verwendung andererseits schließt, und ein konkretes ten Jahres gefordert hat, zur Selbstverständlichkeit wer- Konzept, um die Spirale der Gewalt im Norden Afgha- den, ganz im Gegenteil. Nach mehr als zehn Jahren nistans zu durchbrechen. Außerdem fordere ich Sie auf, Erfahrung mit Auslandseinsätzen brauchen wir eine öf- dem Bundestag einen verbindlichen Abzugsplan vorzu- fentliche Debatte über deren Wirkungsmächtigkeit. Wir legen, der gemeinsam mit unseren Verbündeten abge- müssen Fehler ehrlich analysieren, politische und zivile stimmt und umgesetzt wird. Alternativen ins Zentrum stellen und militärische Gewalt als Ultima Ratio und nicht als Selbstverständlichkeit ver- Bisher haben Sie auf diese zentralen Punkte keine stehen. Ich bin der Ratsvorsitzenden der Evangelischen klaren Antworten, weil Sie in der Koalition keine Einig- Kirche in Deutschland, Frau Käßmann, sehr dankbar, keit haben. Das ist der Grund, weshalb Sie uns heute dass sie diese Debatte mit einem Impuls deutlich in wieder nichts dazu gesagt haben. (B) Gang gesetzt hat. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Stattdessen versucht diese Regierung mit Haus- der SPD) haltstricks, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihre streuen. Es wird angekündigt, die Zahl der deutschen Bundesregierung hat mit ihrer Diplomatie beim Klima- Polizisten in Afghanistan solle verdoppelt werden. Die gipfel Schiffbruch erlitten. Sie ist bei der Bekämpfung Wahrheit ist aber: Damit lösen Sie nur das alte Planziel von Armut und Hunger wortbrüchig geworden, und sie der Großen Koalition ein. Das war schon viel zu wenig, findet keine klare Antwort auf die Situation in Afghanis- und es ist auch heute noch viel zu wenig. tan. Das ist die Bilanz von zwölf Wochen Schwarz-Gelb (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in der internationalen Politik. Bei einem solchen Start mag man sich die nächsten Monate gar nicht ausmalen. Die Entwicklungsfinanzierung soll angeblich ver- doppelt werden. Ein Blick auf die Fakten zeigt aber, dass Danke. Sie auch hier nur weitgehend die Versprechen von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwarz-Rot erfüllen. Auch das ist keine neue Leistung sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Ihrer Regierung und Ihres Haushalts. Hören Sie auf zu KEN) tricksen! Hören Sie auf mit der Verneblungstaktik, und schaffen Sie Klarheit über den weiteren Kurs in Afgha- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nistan! Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Stinner für die Wirklich beunruhigt haben mich in diesem Zusam- FDP-Fraktion. menhang die Äußerungen von Herrn Niebel, der eine (Beifall bei der FDP) enge Kooperation mit der Bundeswehr zur Bedingung für die Mittelvergabe an Entwicklungsorganisationen machen will. Dr. Rainer Stinner (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Herren! Ich möchte zu Beginn etwas machen, was wir GRÜNEN]: Totaler Hammer! – Britta sonst bei anderen Debatten gerne tun, nämlich in diesem Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fall nicht den Soldaten, sondern den Diplomaten dan- Der hat halt keine Ahnung!) ken. Das ist auch der Situation in Haiti geschuldet; der 1304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Rainer Stinner (A) Minister hat darauf hingewiesen. Wir können mit Stolz nen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, (C) sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland einen sehr um gemeinsam Verantwortung für Deutschland wahrzu- professionellen und sehr motivierten diplomatischen nehmen. Wir kennen Ihre Diskussionen und die Zerris- Dienst hat. Zum Teil verrichten unsere Diplomaten ihren senheit Ihrer Fraktion. Wir wollen weiterhin versuchen, Dienst im Ausland unter sehr schwierigen Bedingungen. im Interesse Deutschlands und Afghanistans gemeinsam Es gibt nicht nur die Glamourbotschaften in Genf, Paris zu arbeiten. und New York. In den meisten Hauptstädten dieser Welt arbeiten unsere Diplomaten unter – auch persönlich – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sehr eingeschränkten Lebensbedingungen. Auch ange- der CDU/CSU) sichts der Situation in Haiti sind wir unseren Diplomaten Nun versucht man in den ersten Wochen der neuen sehr zu Dank und Anerkennung verpflichtet. Regierung krampfhaft, sich an Außenminister Außenminister Westerwelle hat in seinen Reden seit Westerwelle abzuarbeiten. Dieses Bemühen eint einige der Amtsübernahme zwei Dinge in den Vordergrund ge- Publikationen sowie einige Stimmen hier im Deutschen stellt. Erstens. Er sieht sich in der Kontinuität deutscher Bundestag. Manche der innerhalb und außerhalb dieses Außen- und Sicherheitspolitik. Zweitens. Er wird eigene Hohen Hauses geäußerten Kritikpunkte kann ich nur als Akzente setzen. Beides hat er in den letzten fast drei Mo- rührende Bemühungen bezeichnen; denn sie treffen ein- naten sehr deutlich bewiesen. fach nicht. Der Außenminister hat sehr klar gesagt, dass er eigene Akzente setzen wird, und das hat er in den bis- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten herigen knapp drei Monaten auch getan. der CDU/CSU) Schon in seinem Reiseplan hat er deutliche Akzente Wir als FDP-Fraktion stehen nicht an, zu sagen: Ja- gesetzt: Warschau, Brüssel, dann Paris – und zwar ohne wohl, wir stehen in der guten Tradition deutscher Au- jede Verstimmung, ja sogar mit Zustimmung Frank- ßen- und Sicherheitspolitik. Wir sind stolz auf unsere ei- reichs –, die Türkei, Tokio und China. Außerdem setzt er genen liberalen Außenminister. Gleichwohl sehen wir, deutliche Akzente bei seiner Art der parlamentarischen dass auch die nichtliberalen Außenminister – solche gab Zusammenarbeit. Wir hatten gestern Abend im Rah- es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – men der Obleuterunde zum zweiten Mal das Vergnügen (Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] eines gemeinsamen Essens mit dem Außenminister. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Ute Kumpf [SPD]: Sie sollen nicht essen, die Kontinuität in der deutschen Außenpolitik gewähr- sondern vernünftig regieren! – Zuruf von der leistet haben; darauf möchten wir rekurrieren. Das wer- SPD: Was gab es denn Gutes?) (B) den wir weiterhin so sehen. (D) Sie können Ihre Kollegen, die dabei waren, fragen, und Der Herr Außenminister hat deutlich gemacht – das sie werden Ihnen bestätigen, dass nicht nur das Essen, ist auch die Meinung meiner Fraktion –, dass uns sehr sondern auch die Diskussion sehr gut war. daran gelegen ist, den Konsens der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik auch in Zukunft weitestgehend zu Außenminister Westerwelle gelingt es sehr gut, auf erhalten. der einen Seite die deutschen Interessen zu vertreten, auf der anderen Seite aber nicht die deutliche, im Ton durch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aus moderate Benennung der Wertebasis, die wir mit der Wir halten das für ein hohes Gut, sowohl innenpolitisch deutschen Außenpolitik erhalten wollen, zu vernachläs- als auch außenpolitisch. Wir kennen die Konfliktsitua- sigen. Das sind wichtige Akzente, die er in den ersten tionen – auch inhaltlicher Art – und die parteipolitischen Monaten gesetzt hat. Daran ist auch beim schlechtesten Profilierungsnotwendigkeiten sehr genau. Aber es ist Willen der Opposition nichts auszusetzen. Daher sollten wichtig, dass wir in Deutschland auf einer gemeinsamen Sie dem beschriebenen Verfahren zustimmen. Werte- und Interessenbasis Außen- und Sicherheitspoli- (Beifall bei der FDP) tik betreiben. Das wollen wir sehr gerne weiterhin tun. Deshalb stehe ich nicht an, lieber Kollege Mützenich, Es gibt einige Themen, die die außenpolitische Ihnen für Ihre heutige Rede ganz herzlich zu danken. Ich Agenda in den nächsten Wochen und Monaten dominie- hoffe, es schadet Ihnen bei Ihren Parteigenossen nicht, ren werden. Ich kann sie jetzt nicht alle abarbeiten; zu ei- wenn ich als Liberaler so etwas sage. Aber das ist die nigen Punkten ist auch schon viel gesagt worden. Herr Art, wie wir gerne zusammenarbeiten würden. Sie ak- Kollege Schmidt, Ihre Kritik im Hinblick auf Afghanis- zentuieren die Unterschiede völlig zu Recht. In manchen tan gleitet an uns ab, denn wir haben sehr für einen intel- Dingen geben Sie Ansatzpunkte zum Nachdenken. Aber lektuell integren Prozess geworben. Wir haben gesagt, wir können erkennen, dass wir hier eine gemeinsame dass die Konferenz in London wichtig ist und die deut- Basis haben, auf der wir weiterhin zusammenarbeiten sche Bundesregierung mit eigenen Ideen in diese Konfe- wollen. renz gehen muss. Diese werden nächste Woche von der Bundeskanzlerin hier vorgetragen werden. Wir warten Ich sage im Namen meiner Fraktion ausdrücklich: Es die Konferenz in London ab und gehen dann in der fol- ist unser Ziel, in den nächsten Wochen diesen Konsens genden Reihenfolge vor: erst die Ziele festlegen, dann bei dem uns allen wichtigen Thema Afghanistan so weit die Strategien und schließlich Maßnahmen und Ressour- wie möglich zu erhalten. Wir reichen die Hand auch Ih- cen zuordnen. In dieser Reihenfolge wird die Bundesre- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1305

Dr. Rainer Stinner (A) gierung vorgehen, und dabei werden wir sie als FDP- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C) Fraktion kritisch, aber positiv begleiten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der CDU/CSU) Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Lassen Sie mich ganz kurz auf den Nahostkonflikt, der uns alle beschäftigt, eingehen. Ich möchte für meine Dr. Rainer Stinner (FDP): Fraktion noch einmal betonen, welch unglaubliche histo- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Die rische Dimension die israelisch-deutschen Regierungs- Grundlagen deutscher und liberaler Außenpolitik blei- konsultationen haben. Sie haben eine symbolische Be- ben konstant. Wir wollen Frieden schaffen für unser deutung, die wir uns vor einigen Jahren nicht vorstellen Land im Bündnis mit Europa und der Welt. Wir wollen konnten. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir als internationale Verantwortung übernehmen, in Haiti und Deutsche sagen, dass es uns auf der Basis der gefestigten auch woanders. deutsch-israelischen Beziehungen als Freunden Israels möglich ist, kritische Positionen offen anzusprechen, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zum Beispiel die Siedlungspolitik, die wohl alle im Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Deutschen Bundestag mit einer gewissen Skepsis be- trachten. Dr. Rainer Stinner (FDP): Wir als FDP-Bundestagsfraktion erwarten, dass die Wir wollen helfen, wo wir helfen können. Dafür ste- Bundesregierung bei allen inhaltlichen Punkten der deut- hen wir als FDP-Fraktion, und wir unterstützen dabei die schen Außen- und Sicherheitspolitik deutsche Positionen Bundesregierung mit ganzer Kraft. sehr deutlich definiert und international vorträgt. Herzlichen Dank. Lassen Sie mich in der mir verbleibenden Minute noch etwas zum Haushalt ausführen. Lieber Herr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Leutert, zu Ihnen kann ich nur sagen: Für jemanden, der der CDU/CSU) nur einen Hammer hat, sieht alles wie ein Nagel aus. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Heiterkeit im ganzen Hause – Claudia Roth Das Wort hat nun Kollegin Angelica Schwall-Düren, [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: SPD-Fraktion. Das war gut!) (Beifall bei der SPD) (B) Ihrer Kritik, es würde krampfhaft eine Militarisierung (D) hervorgerufen werden, kann ich nur mit einer gewissen Belustigung begegnen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): dass sich ein Akzent des Außenministers, nämlich die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Abrüstung, in diesem Haushalt unmittelbar nieder- Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Außenminister! Der schlägt. Die Mittel für die Abrüstung sind um 21 Prozent Lissabonner Vertrag ist nun zum Glück in Kraft, und gesteigert worden. Das entspricht der Akzentsetzung die institutionellen Debatten können ein Ende finden. dieses Außenministers. Der Weg ist jetzt frei, wieder intensiver über die Gestal- tung der Europäischen Union nachzudenken. Lieber (Beifall bei der FDP) Kollege Schockenhoff, Sie haben im Zusammenhang Wir müssen uns aber fragen – das ist mein abschlie- mit der Subsidiaritätskontrolle des Deutschen Bundes- ßender Gedanke, Herr Präsident –, ob die Mittelzuwei- tages insbesondere das Thema der EU-Erweiterung um sungen an die Außenpolitik auf Dauer genügen. Ich die Türkei angesprochen. Mich treibt die Sorge um, dass weise darauf hin, dass die auswärtigen Dienste ver- manchmal eher der Versuch unternommen wird, hier gleichbar großer Länder wie Frankreich oder Großbri- eine Verhinderungspolitik zu betreiben. tannien wesentlich größer sind als unserer. Masse ist Heute wollen wir nicht über die zum Glück gestärkten nicht alles, aber es ist ein Indiz. Rechte des Deutschen Bundestages sprechen, sondern Ich sage Ihnen: Wir müssen uns auch Gedanken über über die Europapolitik der Bundesregierung; denn die Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer Diploma- Deutschland hat eine ganz wichtige Rolle und vor allen ten und Diplomatinnen machen. Dingen eine große Verantwortung in Europa. Da frage ich doch, Herr Stinner, ob neben der Kontinuität, die ich (Beifall bei Abgeordneten der FDP) wahrnehme und sehr begrüße, die eigenen Akzente tat- sächlich schon Wirklichkeit geworden sind. Ich habe Eines interessiert uns dabei besonders, nämlich wie wir heute von Frau Bundeskanzlerin Merkel so gut wie den diplomatischen Dienst auch für Familien attraktiver nichts zur Europapolitik gehört und leider auch von Ih- machen können. Wir haben hier ein Problem. Das ist nen, Herr Westerwelle, wenig. Ich sehe ein, Ihre Rede- nicht Sozialpolitik im Interesse der Diplomaten, sondern zeit war begrenzt; das ist Interessenpolitik; denn die Wirksamkeit und die Schlagkraft des diplomatischen Dienstes hängen davon (Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Das ab, dass wir genügend fähige Leute finden, die auch ins ist wahr! – Zuruf von der CDU/CSU: Unser al- Ausland gehen können. ler Zeit ist begrenzt!) 1306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) aber wir müssen schon erwarten, dass zu Beginn der die Position der Regierung ist. Man hört immer wieder, (C) Amtszeit einer Regierung diese Dinge deutlich werden. dass es dort Vorbehalte gibt. Wenn wir das ernst nehmen, Da muss ich Ihnen sagen: Reisen allein genügt nicht. Es was Sie, Herr Westerwelle, gesagt haben – dass die Eu- geht, wenn es stimmt, dass wir eine Wertegemeinschaft ropäische Union vor allen Dingen ein friedensstabilisie- sind, um die Erarbeitung gemeinsamer Positionen; es render Faktor ist –, dann können wir diese Länder nicht geht um die praktische Umsetzung dieser Werte; es geht auf Dauer als Insel innerhalb der Union mit Instabilität um konkrete Politik. und großen Problemen zurücklassen. Es geht eben auch darum, wie die Frage des Beitritts der Türkei entschie- Was passiert gerade mit unseren Nachbarn? Ich den wird. Auch hier, Herr Westerwelle, haben Sie unsere möchte als Erstes sagen, dass auch ich Ihnen, Herr Unterstützung, dass wir diesen wichtigen Partner auf Westerwelle, sehr dankbar bin, dass Sie zunächst in dem Weg in Richtung Europäische Union begleiten. Die Polen waren und dass Sie Frankreich besucht haben. klaren Verhandlungsbedingungen muss man nicht wie- Auch Frau Staatsministerin Pieper ist schon in Polen ge- derholen. Wir wollen, dass wir zu einem positiven Er- wesen. Dieses und auch die Äußerungen, die Sie dort ge- gebnis kommen. tan haben, kann ich nur begrüßen. Ich freue mich sehr, dass Premierminister Tusk der Karlspreis verliehen wird, (Beifall bei der SPD) weil er in der Tat auf der polnischen Seite die Persön- Wo sind die Ideen, die Konzepte für die Gemeinsame lichkeit ist, die sehr viel dazu beigetragen hat, dass die Außen- und Sicherheitspolitik, für die Europäische Si- deutsch-polnischen Beziehungen wieder verbessert wer- cherheits- und Verteidigungspolitik? Wo stehen wir in den. der Frage der Partnerschaft mit Russland? Auch hier An dieser Stelle muss ich in Richtung der Frau Bun- müssen wir im Zusammenhang mit wichtigen Zukunfts- deskanzlerin sagen, vor allen Dingen weil ich ihre Ver- fragen vorankommen. Ich fordere Sie auf, schnell nach- antwortung sehe: Sie muss in diesem Feld einen Streit zuliefern. aus der Welt schaffen. Wo steht diese Regierungskoalition, wenn es darum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geht, die Politiken der EU, sowohl die Inhalte als auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Instrumente und Methoden, an die Herausforderun- gen der Zeit anzupassen? Beispielsweise wird uns bald Es geht nicht, dass die Frage Steinbach dieses Verhältnis die „Finanzielle Vorausschau“ vorgelegt. Wir hören von weiter belastet. Ich will mit aller Deutlichkeit sagen: Ich der Bundesregierung, man wolle keinen Cent zusätzlich habe keinerlei Verständnis dafür, dass man in der Koali- geben. Man wolle auf der anderen Seite die Gemeinsame tion meint, darüber Verhandlungen beginnen zu können. Agrarpolitik nicht verändern. Man wolle in der Struktur- (B) Wir haben ein gültiges Gesetz, und es gibt niemanden, politik natürlich dafür sorgen, dass der nötige Rückfluss (D) der Bedingungen zu stellen hat, wie dieses Gesetz umge- wieder erfolgt. Aber gleichzeitig sollten neue Aufgaben setzt werden soll. Das muss ich ganz klar und eindeutig erfüllt werden; ich erinnere hier an den Europäischen zurückweisen. Auswärtigen Dienst, ich erinnere an FRONTEX und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten andere Aufgaben. So kann es also nicht weitergehen; da- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) her frage ich Sie, ob Sie nicht auch einmal etwas kon- zeptionell denken können wie beispielsweise der Lu- Hier ist der Außenminister gefragt, damit wir in der be- xemburger Finanzminister, der neue Ideen in Bezug auf schworenen Kontinuität, Herr Westerwelle, fortsetzen eine europäische Steuer, durch die die EU finanziert können, was für Willy Brandt ganz wichtig war: dass wir wird, auf die Tagesordnung gesetzt hat. ein Volk von guten Nachbarn sind. Wo bleibt die konzeptionelle Kraft dieser „Traumre- (Beifall bei der SPD) gierung“ für wichtige europapolitische Felder? Der Wir haben gemeinsam mit Polen wichtige Fragen an- Misserfolg in Kopenhagen in Fragen des Klimaschut- zupacken. Ich verweise auf die östliche Partnerschaft; da zes ist schon angesprochen worden. Auch ich bin der warte ich auf Initiativen. Meinung, dass ein wesentlicher Punkt die mangelnde europäische Einigkeit gewesen ist. Wenn wir es nicht Wir haben im Übrigen zusammen mit Frankreich schaffen, die EU-Mitgliedstaaten, unsere Partner und wichtige Initiativen zu ergreifen; ich denke etwa an die Partnerinnen, davon zu überzeugen, dass wir gemeinsam Mittelmeerunion. Palästina, Israel, der Nahe Osten sind für dieses 30-Prozent-Ziel verbindlich stehen, dann wer- angesprochen worden. Wenn wir hier nicht vorankom- den wir hier auf Dauer nicht vorankommen. men, dann wird diese Union für das Mittelmeer nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von Erfolgen gekrönt sein, und dann werden auch die positiven praktischen Initiativen ins Leere laufen. Viel- Das hängt auch davon ab, ob es uns gelingt, an der einen leicht ist der Deutsch-Französische Tag, den wir in zwei oder anderen Stelle, Streitfragen aus der Welt zu schaf- Tagen feiern, für Sie ein Anlass, die eine oder andere Ini- fen, ob es uns beispielsweise gelingt, unsere östlichen tiative bekannt zu geben, Herr Außenminister. Partner zu bewegen, ein Stück nach vorne zu gehen. Ich frage mich aber auch: Wo ist das stimmige Kon- Auch die Frage der Energieversorgungssicherheit zept der Regierung in Bezug auf die Erweiterungspoli- ist nur gemeinsam, nicht bilateral zu beantworten. Ich tik? Zu Kroatiens Beitritt sagt man Ja. Bezüglich der weiß, dass das schwierig ist. Umso wichtiger ist es des- westlichen Balkanstaaten wissen wir schon nicht, wie halb, dass wir innereuropäisch etwas für die Umsetzung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1307

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) des Energiebinnenmarktes tun, indem wir die Initiativen Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Europäische (C) zur Schaffung einer gemeinsamen Infrastruktur – Strom- Union in internationalen Gremien gemeinsam auftritt. netze, Gasnetze, Interkonnektoren – voranbringen und Auch hier möchte ich an eine neue Initiative des wieder- regenerative Energien und Energieeffizienz befördern, gewählten Vorsitzenden der Euro-Gruppe bei der G 20, statt uns auf den Standpunkt zu stellen, mit der Atom- Jean-Claude Juncker, eines Christdemokraten und damit energie könnten wir heute noch punkten, und damit eines Parteifreundes von Ihnen, erinnern. Er fordert, dass eine Strategie nach dem Motto: „Rückwärts in die Stein- die Euro-Gruppe bei der G 20 einen gemeinsamen Sitz zeit“ zu fahren. einnimmt. Es ist völlig klar, dass Italien, Frankreich und Deutschland dann auf dieser Ebene zurückstecken müss- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch noch ten, nach dem Motto: Geteilte Souveränität ist gestei- auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zu sprechen gerte Souveränität. Das heißt ja nicht, dass man nicht im kommen. Sie ist nicht vorbei; das hat ja auch Frau Vorfeld entsprechend Einfluss ausüben kann und aus- Merkel gesagt. Von dem Richtigen, was wir in der Gro- üben muss. Aber man muss darauf hinweisen, dass der ßen Koalition gemeinsam durchgesetzt haben, haben wir Erfolg eher gegeben ist, wenn man gemeinsam auftritt. uns keineswegs, wie Herr Kauder, der leider nicht mehr hier ist, sagte, verabschiedet. Die Erfolge werden sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) noch zeigen. Allerdings sind die Auswirkungen der Auch hierzu möchte ich ein Zitat bringen, diesmal aus Krise immer noch zu spüren; es besteht nach wie vor der Financial Times Deutschland: eine Rückfallgefahr; und erst recht ist es noch nicht ge- lungen, ihre Ursachen zu beseitigen. Allerdings sprechen Erfahrungen der jüngsten Zeit für den Euro-Vorstoß. Bei den Kopenhagener Kli- Auch hier müssen wir fragen: Was regelt die Regie- maverhandlungen führte der zersplitterte Auftritt rung in der EU, damit in Zukunft keine Finanzblasen der Europäer dazu, dass die USA das Endergebnis mehr entstehen, die beim Platzen zu einer verheerenden mit den Schwellenländern China, Indien, Brasilien Explosion führen, welche mit einem Absturz von Spa- und Südafrika aushandelten und die EU ignorierten. rern, Kleinanlegern und Beschäftigten verbunden ist? … Selbst in großen EU-Ländern reift die Einsicht, Herr Schäuble hat gestern gesagt, es seien Lehren aus dass Europa Einfluss nur bewahren kann, wenn es der Krise gezogen worden. Wo bleibt aber eine konkrete geeint auftritt. Finanzmarktregulierung? Helmut Schmidt wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die EU Ich frage: Sollte Deutschland da eine Ausnahme sein? hier große Spielräume und auch großen Einfluss auf die Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wären noch viele Weltmärkte für Geld und Kapital hat. Felder anzusprechen, auf denen mehr Initiative erforder- (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lich wäre. Ich erinnere an die Lissabon-Plus-Strategie. (D) Wir wollen gerne mit Ihnen über diese Dinge diskutieren Deshalb muss es darum gehen, liebe Kolleginnen und und sind gespannt auf Ihre Konzepte, Herr Westerwelle. Kollegen, dass mehr in Bezug auf Transparenz, Finanz- Eines ist klar: Diese Koalition braucht Mut statt Klein- aufsicht, Bonusregelungen und Besteuerung getan wird. mut. Sie braucht Kooperation statt Streit. Sie braucht Man kann sich dabei nicht damit herausreden, dass in- Gemeinwohlorientierung statt Klientelpolitik und Eigen- ternational noch nichts erreicht worden ist. Wenn man interesse. national nichts tut und auch nicht versucht, etwas euro- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir brau- päisch voranzubringen, dann besitzt man in dieser Frage chen eine bessere Opposition in Deutschland! keine Glaubwürdigkeit auf der internationalen Ebene. Die Opposition erzählt Märchen!) (Beifall bei der SPD) Wenn Sie dieser Linie in Ihrer Europapolitik folgen, Das ist insbesondere in Bezug auf ein wichtiges dann werden die Sozialdemokraten an Ihrer Seite sein. Thema in diesem Zusammenhang zu sagen, nämlich die Denn – um mit Willy Brandt zu sprechen – wir wollen Finanzmarkttransaktionsteuer. Die USA und China wird mehr Europa und nicht weniger. man nur ins Boot bekommen, wenn man Druck aufbaut Herzlichen Dank. und einheitlich agiert. Erlauben Sie mir, zu zitieren, was Helmut Schmidt hierzu gesagt hat: (Beifall bei der SPD)

Die Regierung Merkel/Westerwelle ist erstaunlich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: vorsichtig und zurückhaltend auf dem Feld der Fi- Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die Fraktion nanzaufsicht, die eigentlich im deutschen Interesse der CDU/CSU. gestrafft werden müsste. Und nicht nur da: Es kom- men keine Vorschläge an die Adresse der Amerika- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt geht es ner, es gibt kaum Vorschläge zu Afghanistan, keine vorwärts in die neue Zeit!) zu Iran, keine zu Israel versus Palästinenser. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): In all diesen Feldern sollte Deutschland im Rahmen der EU stärker und selbstbewusster auftreten. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir ste- hen nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages und (Hellmut Königshaus [FDP]: Und das Vakuum vor dem Beginn der Amtszeit einer neuen Kommission auffüllen, das Sie hinterlassen haben!) an einem Punkt, an dem wir eine europapolitische Be- 1308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Thomas Silberhorn (A) standsaufnahme machen sollten. Zwei Beobachtungen tun. Sie sind ein klarer Verstoß gegen das Subsidiaritäts- (C) geben aus meiner Sicht Anlass zu Schlussfolgerungen: prinzip. Die Kommission sollte davon schlicht Abstand nehmen und sich um die Fragen kümmern, für die sie Einerseits sehen wir uns im Zuge der weltweiten Ver- prioritär zuständig ist. Die Verhandlungen in Kopenha- netzung, der Globalisierung, einem verschärften inter- gen sind von der Kommission geführt worden. Wir müs- nationalen Wettbewerb ausgesetzt. Trotz ihrer Wirt- sen uns jetzt darauf konzentrieren, dass wir bei den Fol- schaftskraft findet die Europäische Union bei den gekonferenzen in diesem Jahr in Bonn und in Mexiko zu großen, grenzüberschreitenden Fragen – von der Klima- einer gemeinsamen Position der Europäischen Union in politik über die Finanzmarktregulierung bis zur Welt- der Klimaschutzpolitik kommen. handelsrunde – kein ausreichendes Gehör, wenn es ihr nicht gelingt, mit einer Stimme zu sprechen. Hier sind Ähnliches gilt in der Wirtschaftspolitik. Wir brau- wir noch nicht am Ende unserer Möglichkeiten ange- chen nach dieser etwas verkorksten Lissabon-Strategie langt. einen Ansatz, wie wir in der Europäischen Union zu Andererseits müssen wir feststellen, dass die Bürger mehr Wettbewerbsfähigkeit kommen. Ich sehe mit einer der Europäischen Union, die eine Wertegemeinschaft ist, gewissen Skepsis die Vorschläge, die von Spanien zu sich zunehmend auf ihre lokale, regionale oder nationale Beginn der neuen Ratspräsidentschaft gemacht worden Verwurzelung konzentrieren. Das ist offenbar ein gegen- sind. Ich bin dafür zu gewinnen, dass wir uns Zielmar- läufiger Prozess zur Globalisierung. ken setzen. Aber diese müssen wir, bitte schön, im Wett- bewerb miteinander erreichen und nicht durch eine wirt- Damit steht die Europäische Union in den nächsten schaftspolitische Globalsteuerung aus Brüssel. Auch da Jahren vor zwei zentralen Herausforderungen: Zum ei- gilt also: Wir müssen die großen Dinge gemeinsam und nen muss das Gewicht Europas nach außen gestärkt wer- mit den richtigen Instrumenten regeln, aber nicht mit den. Zum anderen brauchen wir innerhalb der Europäi- Gleichmacherei und Harmonisierungsdruck aus Brüssel. schen Union den Mut zu mehr Vielfalt und weniger Gleichmacherei. Vieles ist in dieser Beziehung aus dem Ähnliches gilt in der Finanzpolitik. Natürlich brau- Gleichgewicht geraten. Das ist wohl auch der Grund, chen wir ein größeres Gewicht der Europäischen Union weshalb die europäische Integration für viele Bürger in der internationalen Finanzpolitik. Wir müssen die ihren Reiz eingebüßt hat. Vorgaben mit setzen für die Regulierung und auch für die Aufsicht der Finanzmärkte. Aber das darf nicht so Bundespräsident Horst Köhler hat das vor gut vier weit gehen, dass auf europäischer Ebene auf ein Wei- Wochen, am 20. Dezember 2009, anlässlich des 60. Jah- sungsrecht gegenüber nationalen Aufsichtsbehörden zu- restages des Karlspreises deutlich umschrieben, indem rückgegriffen wird. Aufsicht funktioniert immer dann, er gesagt hat – ich zitiere –: (B) wenn möglichst viele Augen hinschauen. Deswegen ist (D) Die Bürger sollen schlicht die Erfahrung machen, es richtig, die Koordinierung, die wir in Europa brau- dass Europa ihnen dient. Zu oft erleben sie heute chen, zu verbessern. Aber wir brauchen kein Weisungs- das institutionelle Europa vor allem als Ärgernis. recht gegenüber nationalen Behörden. Das ist ein Grund für das vielfach zu geringe Ver- Lassen Sie mich diesen Punkt zusammenfassen. Wir trauen, das der Europäischen Union und ihren Institutio- brauchen nach meiner festen Überzeugung ein starkes nen entgegengebracht wird. Europa, wenn es um die großen Fragen, um die Zu- kunftsfragen für unseren Kontinent und für den ganzen Was sind die Lehren für die aktuelle Politik? Was den Globus geht. Aber wir brauchen zugleich ein schlankes Klimaschutz angeht, hat die Europäische Union in Ko- Europa, wenn es um die Alltagsfragen für unsere Bürger penhagen bei weitem nicht die Erwartungen unserer und für die Unternehmen geht. Das ist die Balance, die Bürger und der internationalen Öffentlichkeit erfüllen wir finden müssen. können. Stattdessen beschäftigt sich die Europäische Kommission mit der Mobilität in Innenstädten, mit ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ner Frage also, für die bei uns die Kommunen zuständig neten der FDP) sind. Es ist ein eklatantes Missverhältnis, wenn sich die Es gibt jährlich einen Subsidiaritätsbericht der Europäische Union mit Kleinigkeiten, mit Nebensäch- Kommission. Ich denke, der bevorstehende Amtsantritt lichkeiten befasst und einen erklecklichen Eifer in der der neuen Kommission wäre eine geeignete Gelegenheit, Bevormundung und Drangsalierung der Bürger entwi- alle laufenden Vorhaben neu zu bewerten und, bitte ckelt, aber dort, wo wir ein starkes Europa und die Vor- schön, die Vorhaben zurückzuziehen, die bisher keine reiterrolle der Europäischen Union in der internationalen Mehrheit in Europa gefunden haben. Es wäre ein Beitrag Klimaschutzpolitik bräuchten, nicht das erreicht, was sie zu mehr Demokratie und Bürgernähe, dass nicht alles in will. den Schubladen verbleibt, bis irgendwann das Rad ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stück weiter gedreht werden kann. Vorschläge, die keine Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das musste Mehrheit finden, sollten auch einmal vom Tisch genom- mal gesagt werden!) men werden. Meine Damen und Herren, hier müssen wir die Dinge Wir müssen unsere Rolle als Deutscher Bundestag in wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Die Vorschläge diesen Fragen deutlich stärken. Wir haben während der der Kommission zur Mobilität in den Innenstädten haben letzten Legislaturperiode alle Voraussetzungen dafür ge- überhaupt nichts mit grenzüberschreitenden Fragen zu schaffen. Jetzt müssen wir dazu übergehen, europäische Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1309

Thomas Silberhorn (A) Vorhaben in unseren Ausschüssen nicht einfach nur zur Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue (C) Kenntnis zu nehmen, sondern uns zu positionieren und mich, dass viele Kolleginnen und Kollegen nicht nur die Stellung zu beziehen. Wir müssen uns auch auf europäi- Kontinuität in der Außenpolitik betont haben, sondern scher Ebene stärker mit den Kolleginnen und Kollegen auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Diese besteht in den anderen nationalen Parlamenten vernetzen. Wir auch auf unserer Seite. werden früher oder später wohl auch die Gelegenheit be- kommen, die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes Herzlichen Dank. durch den Europäischen Gerichtshof überprüfen zu las- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen. Nach den Vorschlägen und Beschlüssen, die man aus Brüssel bekommt, zu urteilen, wird das nicht lange auf sich warten lassen. Ich freue mich darauf, dass der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Europäische Gerichtshof die Gelegenheit erhält, seine Das Wort hat nun Alexander Ulrich für die Fraktion neue Rolle als Wächter der Subsidiarität auszuüben. Die Linke. Lassen Sie mich zum Thema der europäischen Au- (Beifall bei der LINKEN) ßen- und Sicherheitspolitik einige Sätze sagen. Wir ha- ben hier Spielraum für eine stärkere Rolle der Europäi- Alexander Ulrich (DIE LINKE): schen Union. Wir haben deshalb ganz bewusst im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir eigene Planungs- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und Führungsfähigkeiten der Europäischen Union in die- Herr Außenminister, Sie haben heute sehr viel über eine sem Bereich haben wollen. werteorientierte Außenpolitik geredet. Letzte Woche konnte ich Sie nach Japan und China begleiten; es war Wenn wir die Tragödie in Haiti betrachten, dann wird eine sehr interessante Reise. Aber angesichts dessen, augenfällig, dass wir in der Tat auch auf europäischer dass wir in dieser Woche auch über Werte in der deut- Ebene besser zusammenarbeiten müssen. Es sind zwar schen Politik reden, sollten Sie sich natürlich ein biss- bereits beträchtliche Hilfen angelaufen. Aber es darf chen daraufhin überprüfen lassen, dass Politik in nicht sein, dass bei einem Erdbeben dieses gewaltigen Deutschland nicht käuflich wird. Ausmaßes die Europäer zu einem guten Teil sozusagen nebeneinander laufen. Hier sind Verbesserungen nötig. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das musste Um in einer solchen Krise schnell helfen zu können, ist ja mal wieder gesagt werden!) die Koordinierung das Wichtigste. Die Bewältigung sol- Denn dann könnte man auch im Ausland noch stärker für cher Krisen ist eine gigantische Koordinierungsaufgabe. eine Werteorientierung werben. Ganz nebenbei, die FDP (B) Wir sollten daher einen Teil der Koordinierung in der könnte einen guten Zug machen – dann wäre die Werte- (D) Europäischen Union bewerkstelligen. Deswegen halte orientierung wieder vorhanden –: Um von diesem ich den Vorschlag, den der neue ständige EU-Ratspräsi- schlechten Beigeschmack wegzukommen, sollte sie die dent Van Rompuy gemacht hat, nämlich eine humanitäre Spende in Höhe von 1,1 Millionen Euro an die FDP Eingreiftruppe der Europäischen Union zu schaffen, für nach Haiti weiterleiten. sehr überlegenswert. Ich denke, dass wir genau in dieser Richtung weiterarbeiten müssen. (Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir hätten gern die SED-Milliar- Meine Damen und Herren, im Rahmen der Außen- den gesehen!) und Sicherheitspolitik wird der Europäische Auswär- tige Dienst in den nächsten Jahren eine große Rolle spie- Bei den Haushaltsberatungen im letzten Jahr befan- len. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt zu weiten den wir uns noch mitten in der Krise. Milliarden von Teilen eine Domäne der Mitgliedstaaten. Deswegen ist Steuergeldern wurden zur Rettung von Banken ausgege- es richtig, wenn die auswärtigen Dienste der Mitglied- ben. Heute, ein Jahr später, ist die Krise noch lange nicht staaten in diesem Europäischen Auswärtigen Dienst vorbei. Aber die Banken zocken schon wieder, als wäre stark vertreten sind. Aber ich denke, dass dieser Europäi- nichts passiert. sche Auswärtige Dienst nur dann Sinn macht, wenn die Synergieeffekte, die in einer gemeinsamen Arbeit auf Was tun die Bundesregierung und die EU-Kommis- europäischer Ebene liegen, auch tatsächlich zum Tragen sion, um diese hochriskanten und teilweise kriminellen kommen. Finanzgeschäfte zu unterbinden? Eigentlich nichts. Ein Verbot von Hedgefonds wie vor 2005 – Fehlanzeige. ( [CDU/CSU]: Das ist Sanktionen gegen Steueroasen – Fehlanzeige. Ein richtig!) Zwang zur stärkeren Unterlegung von riskanten Invest- ments mit Eigenkapital – Fehlanzeige. Eine Rückkehr Es kann doch nicht sein, dass der Europäische Auswär- zur gesetzlichen Rente – Fehlanzeige. Auch bei der Fi- tige Dienst auf die bestehenden nationalen Dienste ein- nanztransaktionsteuer versteckt sich die Regierung hin- fach obendraufgesattelt werden soll. Im Gegenteil: Da ter dem Abwarten auf den IWF-Bericht, anstatt sich klar besteht Potenzial für Personaleinsparungen auf europäi- für eine europaweite Einführung dieser Steuer auszu- scher Ebene genauso wie auf nationaler Ebene. Ich rate sprechen. uns sehr, dieses Potenzial zu nutzen; denn sonst schaffen wir Doppelstrukturen, die uns im Ergebnis nicht helfen, (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Haben Sie sondern die Dinge eher komplizieren. das falsche Redekonzept?) 1310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Alexander Ulrich (A) Warum tut die Regierung angesichts der schwersten Dazu hat in Deutschland ganz wesentlich die Umsetzung (C) Wirtschafts- und Finanzkrise seit den 30er-Jahren nichts der Agenda 2010 beigetragen. Hartz IV, der Kern dieser gegen kriminelle Finanzgeschäfte? Agenda, hat die Umverteilung von unten nach oben mas- siv verstärkt, eine Politik, die die jetzige Bundesregie- (Hellmut Königshaus [FDP]: Wir sind hier in rung nahtlos fortsetzt. der Außenpolitik!) (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Bei Nun, dafür gibt es zwei Erklärungen: Die Regierung welchem Einzelplan sind wir gerade?) glaubt, die Finanzmärkte funktionieren; man müsse sie nur besser beaufsichtigen. Stellen Sie sich vor: Eine – Scheinbar kapieren Sie nicht, dass Europapolitik im- Bank öffnete nachts die Türen und den Tresor, aber in- mer auch Innenpolitik ist. Das müssen wir auch der FDP stallierte mehr Kameras in der Hoffnung, so Bankräuber endlich beibringen. abzuhalten. So viel Naivität möchte selbst ich der Regie- rung nicht unterstellen. (Beifall bei der LINKEN) Oder die Regierung dient nicht der Bevölkerungs- Die Lissabon-Strategie ist grandios gescheitert. Was mehrheit, sondern Herrn Ackermann und seinen Freun- passiert? Denkt man darüber nach, was an der alten Stra- den. tegie falsch war? Denkt man darüber nach, ob Wettbe- (Zuruf von der FDP: Zum Thema!) werbsfähigkeit alleine wirklich ein sinnvolles Ziel ist? Denkt man darüber nach, ob die Instrumente vielleicht Entscheiden Sie selbst! einfach nicht geeignet waren? Die Antwort ist Nein. Die öffentliche Konsultation der Kommission dauerte nicht (Beifall bei der LINKEN) einmal acht Wochen, und auch die bisherigen Entwürfe Die neue europäische Aufsicht wird kleinteilig und der neuen Agenda 2020 lassen nichts Gutes erwarten. damit machtlos. Es gibt eine für Wertpapiere und eine Es muss endlich Schluss sein mit der Politik der Dere- für Versicherungen. Die EZB hat im Rat für Systemrisi- gulierung, Flexibilisierung und Privatisierung. In der EU ken den Hut auf. Dies alles findet natürlich hinter ver- muss endlich wieder der Mensch in den Mittelpunkt ge- schlossenen Türen statt. Kein Parlamentarier, kein Bür- stellt werden und nicht die Rendite. ger wird erfahren, welche Risiken in der Wirtschaft existieren und warum. Dabei geht es doch angeblich um (Beifall bei der LINKEN) mehr Transparenz und das Wohl der Allgemeinheit. Wann immer es an der Börse kracht, wird die EZB nicht Es reicht nicht, wenn man dieses Jahr zum „Europäi- (B) die Spekulanten an die Leine nehmen, sondern die Zin- schen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ aus- (D) sen hochsetzen. Damit beendet man aber keine Spekula- ruft. Herr Westerwelle, Sie haben sehr wenig zum tion auf einzelnen Märkten, sondern würgt die komplette Thema Europa gesagt. Sie haben auch wenig über dieses Wirtschaft ab. „Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgren- zung“ gesagt. Das passt auch; denn Armut und der Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch die regierungs- Kampf gegen Armut ist kein Thema für die FDP. nahe Aufsicht etwa der BaFin hat nicht funktioniert; denn es fehlte erstens an Regeln, zweitens an Mitteln (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und drittens am Willen. Finanzaufseher waren in Deutschland so etwas wie Bankangestellte, sie waren Wir brauchen keine Sonntagsreden, wir brauchen Ta- schlecht informiert und hatten nichts zu melden. Diese ten. Das heißt: Wir brauchen dringend die soziale Fort- Probleme werden nun aber nicht gelöst, sondern ver- schrittsklausel. Binnenmarktfreiheiten dürfen die er- schleppt. kämpften sozialen Grund- und Arbeitnehmerrechte in den Mitgliedstaaten nicht aushebeln. Gewerkschaften zu Das Gleiche gilt für die allgemeine Koordinierung Schadenersatz zu verklagen, wenn sie gegen Lohndum- der Wirtschaftspolitik in der EU. Die bisherige Koor- ping kämpfen – wie bisher fast unbemerkt infolge des dination ging schief und die Antwort ist: mehr von den Laval-Urteils geschehen –, ist absolut inakzeptabel. alten falschen Rezepten. Mit der Lissabon-Strategie sollte die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirt- (Beifall bei der LINKEN) schaftsraum der Welt werden, mit mehr und besseren Ar- beitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammen- Wir, Die Linke, werden weiterhin für eine solidari- halt. sche, friedliche und nachhaltige EU kämpfen. Dies ist übrigens nicht antieuropäisch, sondern zutiefst euro- Diese Strategie ist grandios gescheitert. Wir befinden päisch; denn wenn die Interessen der Arbeitnehmerinnen uns im Jahr 2010, Herr Westerwelle, aber wir sind nicht und Arbeitnehmer, der Bürgerinnen und Bürger nicht der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt, und endlich ernst genommen werden, dann wird die europäi- wir haben auch nicht mehr Arbeitsplätze, sondern weni- sche Idee scheitern. ger, bessere schon gar nicht. Wir haben im Jahr 2010 keinen größeren sozialen Zusammenhalt, sondern mehr Vielen Dank. Armut und mehr soziale Ausgrenzung. (Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Jürgen (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Sie haben Koppelin [FDP]: Sie wollen nur mit Sahra das falsche Manuskript!) Wagenknecht Hummer essen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1311

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich darf noch einige Ausführungen zu den bevorste- (C) Das Wort hat nun Gunther Krichbaum, CDU/CSU- henden bzw. gerade stattfindenden Beitrittsverhand- Fraktion. lungen machen, weil sie Auswirkungen auf unseren Haushalt und den der Europäischen Union haben werden (Beifall bei der CDU/CSU) und weil sie in anderen Reden angesprochen worden sind: Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Stichwort Kroatien: Ich glaube, dass Kroatien mitt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lerweile auf einem guten Weg ist. Ob wir allerdings das Herr Ulrich, ich bin Ihren Ausführungen gefolgt. avisierte Beitrittsjahr 2011 halten können, das muss eher (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das war bezweifelt werden; denn das eigentlich schwierige Kapi- falsch!) tel „Justiz und Grundrechte“ steht noch zur Eröffnung an. Wir wissen, dass sich gegenwärtig andere Mitglied- Es stellt sich die Frage, ob Sie im richtigen Film sind. staaten dagegen wenden, dieses Kapitel schon jetzt auf- zumachen. Wir sind auf einem guten Weg, was die (Jan van Aken [DIE LINKE]: Sie haben es Richterausbildung angeht, und es gibt erfreuliche Fort- nicht verstanden!) schritte im Bereich Korruptionsbekämpfung. Aber man muss diesen Dingen mit Realismus begegnen. Deswegen Wenn es eine Errungenschaft in Europa gibt, dann ist wird ein Beitritt vor 2012 kaum machbar sein. es die des Friedens, aber auch der Freiheit. Erst in die- sem Rahmen hat sich der wirtschaftliche und damit auch Thema Island: Vielleicht sollte man auch gegenüber der soziale Wohlstand entwickelt. Ohne den wirtschaftli- unseren isländischen Freunden bei allem Wohlwollen chen Erfolg wären soziale Wohltaten gar nicht möglich. deutlich sagen – immerhin sind 75 Prozent des Gemein- Wie sehr sich dieses Europa zu einem sozialen Europa schaftsrechts übernommen und gehört Island bereits zum wandelt, erkennen Sie, wenn Sie das Programm der spa- EWR und zum Schengen-Raum –, dass wir nach den nischen Präsidentschaft durchlesen. wahren Motiven für einen Beitritt fragen müssen. Allein Herr Außenminister Westerwelle, Sie haben zu Be- ein Blick auf den Kontoauszug ist als Grund zu wenig. ginn Ihrer Ausführungen darauf hingewiesen, dass Wir müssen nach den wahren Motiven fragen. Es wäre Europa mit dem Vertrag von Lissabon seine Handlungs- wenig gewonnen, wenn Island eines Tages der Europäi- fähigkeit zurückgewinnt. Nach den Turbulenzen der schen Union beitritt, sich aber dann herauskristallisiert, letzten Tage kann man festhalten, dass auch die Kom- dass die Liebe der Bürger zu Europa sehr schnell ab- mission handlungsfähig wird. Die Anhörungen neigen kühlt. Ich glaube, damit wäre wenig geholfen. Es ist (B) sich dem Ende zu. Nebenbei ist zu bemerken, dass vor auch eine Integrationswilligkeit des Staates vonnöten. (D) allem der designierte deutsche Kommissar, Ministerprä- Ein Wort zum Thema Türkei: Wir haben eine glas- sident Günther Oettinger, diese Anhörung mit Bravour klare Regelung im Koalitionsvertrag, nämlich dass die gemeistert hat. Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden. Ich habe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wie viele andere natürlich auch die Zeitung gelesen. An der einen oder anderen Stelle war auch ich verwundert; Das gibt auch zu erkennen, dass er die Aufgabe als deut- denn Außenminister Westerwelle hat in der Türkei gar scher Kommissar hervorragend ausfüllen und damit nichts anderes gesagt, als dass dieser Prozess ergebnisof- auch ein Schwergewicht in der Kommission darstellen fen ist; und das ist gut so. Wir sollten nicht so tun, als wird, woran wir ein Interesse haben dürften. Lassen Sie stünde das Ergebnis schon fest. mich das an dieser Stelle erwähnen. (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Aber Ich erwähne es auch deswegen, weil Frau Kollegin Ihre Leute sagen doch immer etwas anderes, Schwall-Düren in ihrer Rede auf die Idee zu sprechen Herr Krichbaum!) kam, eigene Einnahmequellen für die EU zu schaffen. Der designierte Haushaltskommissar, Herr Janusz Nein, das ist ein Prozess, und es ist gut, dass das ein Lewandowski, wurde genau danach gefragt und hat die Prozess ist. Wenn das Ende schon feststünde, wo be- EU-Steuer ins Spiel gebracht. Dieses Thema wird an Be- stünde denn dann noch die Möglichkeit, durch Reformen deutung gewinnen, weil die neue Kommission die auf das Land einzuwirken? Deswegen macht es wenig Finanzielle Vorausschau für die Jahre 2014 bis 2020 vor- Sinn, das ständig infrage zu stellen. legen wird. Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen: Die Union und die FDP werden sich strikt dagegen wen- Ich glaube, es ist gut – das kann man festhalten –, den, dass die EU eine eigene Steuer einführt, weil das dass sich die Türkei in vielen Bereichen auf die Europäi- nicht dazu geeignet ist, die Steuerlast der Bürger zu sen- sche Union zubewegt hat. Es gibt Bewegungen in der ken. Ganz im Gegenteil: Wer die Büchse der Pandora Kurden-Frage, auch in der Armenien-Frage. Auf der an- aufmacht, der wird den Geist nicht zurückdrängen kön- deren Seite muss man aber auch sagen, dass im Fall Tür- nen. Deswegen sage ich: Nein, das ist mit Deutschland kei noch vieles zu tun bleibt. Das betrifft zum einen na- nicht zu machen. türlich die Frage der religiösen Minderheiten. Wir erwarten eine Toleranz gegenüber den christlichen Kir- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und chen. Zudem sind die Einschränkungen bei der Presse- der FDP) freiheit nicht tolerabel, nicht hinnehmbar. 1312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: es, um hier keine Illusionen aufkommen zu lassen, be- (C) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sonders wichtig, dass man sich ehrlich in die Augen Kollegen Montag? sieht und seitens der Europäischen Union glasklare Er- wartungen formuliert. Die Türkei sollte aber auch wis- Gunther Krichbaum (CDU/CSU): sen, worauf sie sich einlässt, zum Beispiel auf die Ver- Ich gestatte die Zwischenfrage. pflichtung, das Ankara-Protokoll zu implementieren. Gleichzeitig sollte man aber auch unseren zypriotischen Freunden sagen, dass sie sich nicht mit aller Gelassen- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): heit im Stuhl zurücklehnen können. Denn beide müssen Ich danke Ihnen, Herr Kollege Krichbaum. Sie waren aufeinander zugehen. Sonst wird sich in dieser Frage in Ihrer Rede schon ein wenig weiter, aber ich konnte nichts bewegen. mich nicht rechtzeitig beim Präsidium bemerkbar ma- chen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber es gibt keine Verpflichtung, nicht Ich will Sie etwas zu Ihren Ausführungen zur Türkei mehr zu wachsen?) fragen. Sie betonen, wie glasklar die Koalitionsvereinba- rung sei, und dass darin stehe, dass die Verhandlungen – Entschuldigung, ich habe das akustisch nicht verstan- mit der Türkei ergebnisoffen geführt werden. Das ist den. eine schiere Selbstverständlichkeit für alle Beitrittsver- (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: War nicht handlungen. notwendig! – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das (Hellmut Königshaus [FDP]: Was ist die war ein Scherz!) Frage?) – Gut. Es ist doch völlig klar, dass Verhandlungen begonnen werden, egal wer den Beitritt wünscht, dass zum Eine weitere Verpflichtung der Türkei ist, die Presse- Schluss, wenn sie beendet werden, das Ergebnis bewer- freiheit zu respektieren. Ohne Pressefreiheit gibt es tet und danach entschieden wird, ob die Kriterien erfüllt keine Demokratie. sind oder nicht. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: So ist das!) Verstehen Sie, dass viele Menschen sich fragen, wa- Die jüngsten Verschärfungen des Steuerstrafverfahrens rum das bei der Türkei immer so betont wird? Der Sub- gegen die Dogan-Gruppe lassen ernste Besorgnis auf- text ist doch das Problem. Verstehen Sie, dass sich viele kommen. Die Kommission hat dies im jüngsten Fort- denken, dass etwas dahinterstecken muss? Mich würde schrittsbericht thematisiert. Wir müssen ohne Schaum (B) interessieren, was dahintersteckt, dass Sie das bei der vor dem Mund darauf hinweisen, welche Erwartungen (D) Türkei immer wieder so betonen. wir an die Türkei haben. Die Respektierung der Presse- freiheit gehört dazu. Es wäre ein verheerendes Signal für Gunther Krichbaum (CDU/CSU): potenzielle Investoren, die davon abgeschreckt werden, Herr Kollege Montag, es geht weniger um den Sub- in der Türkei Investitionen vorzunehmen, wenn derart text als um den Kontext. willkürlich mit Steuerstrafverfahren agiert wird, um ein Medienunternehmen mit regierungskritischen Presse- (Beifall des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ organen letztlich mundtot zu machen. Das kann so nicht DIE GRÜNEN]) im Raum stehen bleiben und muss auch hier im Deut- Aufgrund der Erfahrungen aus den bisherigen Beitritts- schen Bundestag für Widerstand sorgen. verhandlungen mit anderen Staaten muss man der Ehr- Lassen Sie mich noch ein Wort zu unserem südlichen lichkeit halber sagen, dass am Schluss der Verhandlun- Mitgliedstaat, zu Griechenland sagen. In der Tat – Kol- gen der politische Discount eine maßgebliche Rolle lege Montag, ich gebe Ihnen an der Stelle recht – kon- gespielt hat. Wir wissen und freuen uns darüber, dass zentrieren wir unsere Betrachtungen sehr häufig auf die heute auch Länder wie Bulgarien und Rumänien Mit- Thematik der Türkei, ohne Griechenland in den Fokus gliedstaaten der Europäischen Union sind. zu nehmen. Das ist inakzeptabel, gerade wenn man auf (Ute Kumpf [SPD]: Was ist das mit Discount?) die Stabilitätskriterien achtet. Es trägt auch in erheblichem Maß zur Stabilisierung ei- (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sehr richtig!) ner ganzen Region bei. Deswegen sei, weil es in Zweifel Gegenwärtig gibt es dort eine Staatsverschuldung, die gezogen wurde, hier an dieser Stelle erwähnt, dass natür- bei 125 Prozent liegt, und ein Defizit von 13 Prozent der lich auch die Länder des westlichen Balkans eine Bei- Wirtschaftleistung. Der Umstand, dass immer wieder ge- trittsperspektive zur Europäischen Union haben, allen fälschte Zahlen an Brüssel weitergegeben werden, ist be- voran Serbien, und wir das unterstützen. Denn es geht sorgniserregend. Das ist nicht akzeptabel. um die Stabilität. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aber dieser politische Discount ist in Zukunft so nicht der FDP) mehr möglich. Wir haben es im Falle der Türkei immer- hin mit einer Bevölkerung von 70 Millionen Menschen Ich nähre nicht die Diskussion über den Ausschluss zu tun. Die Demografie ist anders als bei uns; die Bevöl- von Mitgliedern aus der Euro-Gruppe, weil dies auch kerungszahl ist eher im Steigen begriffen. Deswegen ist rechtlich zumindest fragwürdig, wenn nicht vielleicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1313

Gunther Krichbaum (A) sogar unmöglich wäre. Diese Diskussion sollte schnell Erstens. Wir brauchen in der Europapolitik eine neue (C) beendet werden. Gleichsam muss man aber darauf hin- Ehrlichkeit, eine Ehrlichkeit, die sich sowohl auf die weisen: Wer Zahlen fälscht, begeht Betrug an den Bür- Ziele und Vorhaben der Europäischen Union bezieht gern der Europäischen Union. Wir haben nur diesen ei- – hierzu hat uns das Bundesverfassungsgericht mit sei- nen Euro, und dieser Euro hat gerade jetzt, in der Finanz- nen Sätzen zu Art. 146 des Grundgesetzes etwas ins und Wirtschaftskrise, eine sehr stabilisierende Wirkung. Stammbuch geschrieben – als auch – das richtet sich an Es ist wichtig, dass an dieser Stabilität nicht gerüttelt die Regierungsbank – deutlich machen muss: Wenn et- wird. Griechenland muss interne Reformen durchführen, was hierzulande nicht durchsetzbar ist, ganz egal von die sicherlich schmerzlich sein werden. welcher Couleur, gehört es sich nicht, es heimlich und ohne dass Politik und Bevölkerung es bemerken, über Wenn ich manche Meldungen vom heutigen Tage, Brüssel durchzusetzen. Wir müssen eine neue Kultur der beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, deutschen Europapolitik etablieren, die deutlich macht: lese, muss ich sagen: Das kann so nicht weitergehen. Es Europapolitik muss in allem, was wir tun, streitbar und kann keine Lösung sein, bei der Statistikführungspflicht nachvollziehbar sein. einseitig Kompetenzen an Brüssel abzugeben; dagegen wehren sich auch andere Mitgliedstaaten zu Recht. Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rüber müssen wir mit unseren griechischen Freunden noch ein ernstes Wort reden. Zweitens ist aus meiner Sicht wichtig, dass uns der Vertrag von Lissabon vor neue Herausforderungen Zum westlichen Balkan habe ich bereits Ausführun- stellt, die bewältigt werden müssen. Ganz bewusst nenne gen gemacht. Ich glaube, dass gerade wir, der Deutsche ich zuallererst die Frage: Wie ist das Verhältnis der Bür- Bundestag, in Anbetracht des Vertrages von Lissabon gerinnen und Bürger als Staatsbürger der Europäischen und der Begleitgesetzgebung eine besondere Verantwor- Union zur EU? Ich glaube, wir alle in diesem Haus, die tung haben, diese Prozesse in der Zukunft aktiver zu be- wir in der Vergangenheit immer gesagt haben, dass der gleiten. Vertrag von Lissabon das wichtigste Instrument ist, um Vielen Dank. dieses Verhältnis zu verbessern, müssen jetzt die Ant- wort auf die Frage geben, wie wir mit dem Vertrag von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lissabon auch die politische Kultur so verändern kön- nen, dass die Tendenz der Abneigung gegenüber Europa Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und des Desinteresses an Europa umgekehrt wird. Für Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für das Bünd- die Bundesregierung wird es deswegen wichtig sein, nis 90/Die Grünen. sich für eine bürgerfreundliche Ausgestaltung der euro- (B) päischen Bürgerinitiative zu engagieren. (D) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kollege Silberhorn, grundsätzlich stimmen wir beim Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Thema Subsidiarität absolut darin überein, dass wir un- möchte den Ball, den die Kollegen Schockenhoff und sere Kritik nicht immer nur an die bösen Bürokraten der Silberhorn von der CDU/CSU in ihren Ausführungen Europäischen Kommission adressieren dürfen, ohne gespielt haben, aufnehmen. auch das Handeln unserer eigenen Bundesregierung in den Blick zu nehmen. So fallen mir beim Thema „Öf- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das heißt ei- fentlicher Personennahverkehr und Kommunen“ einige gentlich „den Ball im Spiel halten“!) Beispiele ein, die deutlich machen, dass das eigentliche Wenn wir die Aussage, dass wir in einer neuen Zeit Problem Änderungen von Straßenverkehrsvorschriften leben, wirklich ernst nehmen, dann, so glaube ich, müs- durch das Bundesverkehrsministerium sind, dass die sen wir auch bereit sein, mit neuen Antworten in diese Entstehung dieses Problems am Ende aber häufig der Zeit zu gehen, uns neue Antworten zu überlegen. Die Europäischen Kommission zugeschrieben wird. Beiträge, die Roman Herzog zum europäischen Integra - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tionsprozess geleistet hat, sind unbestritten; er ist einer der Väter der Europäischen Menschenrechtscharta. Aber Der zweite Themenbereich, der aus meiner Sicht von die Beiträge, die er zuletzt in der Auseinandersetzung entscheidender Bedeutung ist, wenn man über die neue um die Frage: „Wie sollte das Verhältnis zwischen Zeit, die Zeit nach dem Inkrafttreten des Vertrages von EuGH und Bundesverfassungsgericht ausgestaltet sein?“ Lissabon, redet, ist das Versprechen, das den Bürgerin- geleistet hat – Herr Schockenhoff, Sie haben ihn nen und Bürgern mit dem Vertrag gemacht wurde: näm- zitiert –, habe ich nicht als Beiträge empfunden, die uns lich dass die EU ein sozialeres Gesicht bekommt. Dieses weiterbringen, wenn wir über die Zukunft des neuen Eu- Versprechen ist in dem Vertrag enthalten. Dieses Ver- ropas reden. sprechen müssen wir einlösen. Wir werden es nicht ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lösen können, wenn wir, wie Sie es in Ihrem Koalitions- vertrag gemacht haben, in eine nationalstaatsbezogene Vielleicht kann man hier ansetzen: Wenn wir sagen, Sozialstaatsdenke zurückfallen. Wir müssen versuchen, dass uns der Vertrag von Lissabon und die Begleitgesetz- den Menschen zu zeigen: Ein Europa, das die Grenzen gebung in eine neue Zeit geführt haben, dann sollten wir für die Wirtschaft öffnet, muss auch die Grenzen für von zwei grundlegenden Erkenntnissen unserer Politik Menschen öffnen, die zum Beispiel Sozialleistungen in ausgehen. Anspruch nehmen wollen, oder für Menschen, die möch- 1314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Manuel Sarrazin (A) ten, dass ihre Rechte als Arbeitnehmer von der EU ge- (Beifall bei der LINKEN) (C) schützt werden. Für ziviles Krisenmanagement der Vereinten Nationen Genauso darf die Bundesregierung in der Frage der fi- und die OSZE will sie sogar überhaupt nichts mehr aus- nanziellen Vorausschau nicht zum Neinsager werden. geben. Das spricht Bände. Die Äußerung, Sie lehnen es grundsätzlich ab, der EU (Hellmut Königshaus [FDP]: Sie können die einen Anteil an nationalen Steuern zuzubilligen, habe Haushaltspläne nicht lesen!) ich mit Interesse zur Kenntnis genommen. Schließlich bekommt die EU seit über 20 Jahren einen geregelten Dieser stiefmütterliche Umgang mit den Menschen- Anteil an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer. Ich rechten ist nicht wirklich neu. Er zeigt sich nicht zuletzt weiß nicht, ob Sie die 15 Prozent des Gesamtbudgets der in unserem eigenen Land: Die Bundesregierung lässt EU, die durch Einnahmen aus der Mehrwertsteuer erzielt minderjährige Roma-Flüchtlinge in den Kosovo abschie- werden, mit Ihrer Äußerung infrage stellen wollen oder ben, trotz der erschreckenden Verhältnisse dort. Sie ob ich das vielleicht falsch gelesen habe. sollte sich Art. 1 des Grundgesetzes in Erinnerung rufen, in dem steht: Wichtig ist: Sie sind gefordert, mit Ideen für diese neue Zeit voranzugehen. Wie Frau Schwall-Düren sage Die Würde des Menschen ist unantastbar. ich: Was Sie in Polen gesagt haben, ist auch meine Mei- Flüchtlinge besitzen dieselben Menschenrechte; denn nung. Wir müssen aber auch bei harten Themen wie der kein Mensch ist illegal. europäischen Innenpolitik mit Ideen vorangehen und un- seren Beitrag dazu leisten. Das gilt für den Schutz der (Beifall bei der LINKEN) Bürgerrechte – Stockholmer Programm –, das gilt für die Kaum besser ist es hierzulande um die sozialen Men- neuen Möglichkeiten, die der Vertrag von Lissabon für schenrechte bestellt. Vielen Kindern bleibt seit der Ein- die Justiz- und Innenpolitik bietet, das gilt für eine ver- führung von Hartz IV nichts anderes übrig, als in eine antwortungsvolle Gestaltung der Erweiterung, das gilt Suppenküche zu gehen, wenn sie eine warme Mahlzeit für die Überlegung, den EAD mit einem europäischen am Tag bekommen wollen. 2 Millionen Kinder leben in Korpsgeist stark aufzustellen, das gilt für den Klima- Armut. Halten Sie dies für vereinbar mit Art. 25 der All- schutz und für die Nachhaltigkeit. gemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Recht auf einen gewissen Lebensstandard oder mit dem Grundge- Der langen Rede kurzer Sinn: Wir warten darauf, dass setz? Meine Damen und Herren, derartige Zustände in Sie Parolen wie die von der Bürokratie in Brüssel unter- puncto Menschenrechte sind für ein reiches Land wie die lassen, dass Sie ein soziales Europa nicht länger als Un- Bundesrepublik Deutschland ein Armutszeugnis. ding hinstellen und dass Sie das Mantra, dass der EU- (B) Haushalt bei gut 1 Prozent des Bruttonationaleinkom- (Beifall bei der LINKEN) (D) mens der Mitgliedstaaten gedeckelt werden muss, able- Wer den Menschenrechten schon im eigenen Land so gen. wenig Aufmerksamkeit schenkt, der wird auch im inter- Wir erwarten, dass Sie sich auf den Weg machen, uns nationalen Maßstab hinterherhinken. mit interessanten, konstruktiven, neuen proeuropäischen Die Herausforderungen sind riesig: Rund 1 Milliarde Ideen zum Nachdenken zu bringen, wie wir die neue Menschen weltweit hungern. Circa 37 Millionen Men- Zeit bewältigen können. Wenn diese Ideen interessant, schen waren 2008 weltweit auf der Flucht. Ebenso ster- gut und proeuropäisch sind, haben Sie uns auf Ihrer ben jährlich Millionen Menschen an eigentlich heilbaren Seite. Wenn nicht, dann nicht. Krankheiten. Die Pharmakonzerne stellen aus reinem Profitinteresse lebenswichtige Medikamente nicht zu Danke. günstigeren Preisen zur Verfügung. Die Politik hat dies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN toleriert. sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Linke sagt: Selbstverständlich müssen globale Herausforderungen auch durch die internationale Staa- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tengemeinschaft gemeistert werden. Fest steht jedoch, Die nächste Rednerin ist Katrin Werner für die Frak- dass die wohlhabenden Industrienationen, darunter auch tion Die Linke. die Bundesrepublik, hierzu einen größeren Beitrag leis- ten können und müssen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Katrin Werner (DIE LINKE): Dieser Haushaltsentwurf der Bundesregierung wird dem Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen nicht gerecht. Daher lehnt die Linke ihn ab. und Herren! Die schwarz-gelbe Bundesregierung singt (Beifall bei der LINKEN) in ihrem Koalitionsvertrag das Hohelied der Menschen- rechte. Ihr Haushaltsentwurf spricht eine andere Spra- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: che: Ausgerechnet bei den Menschenrechten kürzt sie Frau Werner, das war Ihre erste Rede im Deutschen die ohnehin nicht üppigen Mittel von rund 22 Millionen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des ge- Euro auf nur noch 19 Millionen Euro – so viel, wie die samten Hauses. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg. Bundesregierung für gerade einmal zehn Tage Krieg in Afghanistan ausgibt. Das ist ein Skandal. (Beifall) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1315

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:Göring-Eckardt (A) Zu diesem Geschäftsbereich liegen keine weiteren Zur Verlässlichkeit gehört eine ausreichende Mittel- (C) Wortmeldungen vor. ausstattung. Gerade in der Haushaltsdebatte darf ich die- sen Hinweis wagen. In diesem Jahr wollen wir für die Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- Bundeswehr etwas über 31 Milliarden Euro ausgeben, ministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14. ein großer, ein hoher Betrag, aber gleichwohl gut inves- tiertes Geld. Aufgabe politischer Führung ist es, durch Ich gebe das Wort dem Bundesminister der Verteidi- den Einsatz dieser Mittel die Bundeswehr als Instrument gung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg. unserer Sicherheitspolitik zu stärken. Auch hierfür er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bitte ich die Unterstützung des Deutschen Bundestages. neten der FDP) In den vergangenen Wochen konnte ich ein facetten- reiches, ein sehr breites Bild von der Bundeswehr gewin- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- nen, von ihren Stärken, aber auch von Bereichen, in desminister der Verteidigung: denen Nachsteuerungsbedarf besteht. Bei meinen Gesprächen und Besuchen habe ich viel von Herausfor Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und - Herren! Die Bundeswehr wird Tag für Tag mit vielfälti- derungen und Handlungsfeldern gehört, von Optimie- rungspotenzial, von Effizienzsteigerung, von Entschei- gen Erwartungen, aber auch mit einem sehr breiten Ein- satzspektrum konfrontiert. Unsere Soldaten sind da, dungsbedarf, aber eben auch von Überbeanspruchung wenn es bei Schnee und Eis zu größeren Katastrophen und von Überforderung. kommt; gottlob sind wir heuer weitestgehend davon ver- Im Kern geht es um zwei prioritäre Aufgabenfelder, schont geblieben. Wir haben mit Blick auf Haiti unver- die sehr eng miteinander verknüpft sind. Es sind dies züglich ein Angebot zur Unterstützung abgegeben. Un- zum einen die Einsätze. Seit 1992 befindet sich die Bun- sere Soldaten sind da, wenn etwa, wie in Afghanistan, deswehr ununterbrochen im Auslandseinsatz. Zum ande- nach Ausbildern gerufen wird. ren ist es die konsequente Fortsetzung der Transforma- tion der Bundeswehr. Vergessen wir nicht: Mit unseren An den Einsatz unserer Streitkräfte sind hohe Erwar- Entscheidungen sorgen wir dafür, dass Menschenleben tungen geknüpft, und der Einsatz ist gefährlich. Er ist ri- geschützt und gerettet werden. Wir haben dafür zu sor- sikobeladen, um etwas aufzugreifen, was heute Morgen gen, dass unsere Soldaten ihren Dienst wirksam so ver- diskutiert wurde. Dies hat uns das Jahr 2009 auf sehen können, dass ihr Leben im Einsatz möglichst we- schmerzliche Weise gelehrt. Auch im vergangenen Jahr nig gefährdet wird. Das ist unsere Aufgabe. hatten wir Gefallene und Verwundete zu beklagen. Das ist die traurige Wahrheit. Gerade deshalb lasse ich es mir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) nicht nehmen, diese Wahrheit offen anzusprechen. neten der FDP) (D) Meine Damen und Herren, wir denken an ihre Fami- In Afghanistan, wo derzeit rund 4 500 Frauen und lien, und wir ehren zu Recht unsere Soldaten. In diesem Männer der Bundeswehr für unser Land in einer sehr Zusammenhang danke ich von Herzen, schwierigen Mission stehen, sehen wir gerade dies in be- der für diese Ehrung Großes geleistet hat. sonderer Weise. Dort werden die drei zentralen Eigen- schaften der Herausforderungen unserer Sicherheit von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie heute deutlich: Das Erste ist das, was man mit Asymme- des Abg. [SPD]) trie umschreibt. Sie wird viel beschrieben, aber selten korrekt. Das ist zum Zweiten die globale Natur der He- Wir brauchen gerade für die Ereignisse in den Ein- rausforderungen, die keinen Halt mehr vor Grenzen satzgebieten, insbesondere für den in Afghanistan, eine macht, und zum Dritten die zwingende Notwendigkeit klare Sprache: eine Sprache, die die Menschen verste- eines umfassenden, ja, vernetzten Ansatzes aller Akteure hen, und eine Sprache, die nicht allein taktisch geprägt und deren Mittel. Wie sehr wurde über Jahre über den ist. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihren Begriff „vernetzte Sicherheit“ gespottet, und wie wich- Dienst. Sie erfüllen ihren gefährlichen, ja auch riskanten tig und wie bedeutsam ist gerade dieser Ansatz gewor- Auftrag, und wir können uns auf sie verlassen. Das ist den. Im Verständnis unserer Bündnispartner, aber auch ein leicht gesagtes Wort, aber trotzdem eines mit einer vieler anderer Partner auf dieser Erde hat er sich nieder- tiefen Bedeutung. geschlagen. Aber unsere Soldaten haben damit ein Anrecht darauf Auf der Afghanistan-Konferenz am Donnerstag der erworben, dass sie sich auch auf uns verlassen können. kommenden Woche wollen wir die Strategie der interna- Dies muss miteinander in einem Wechselspiel stehen. tionalen Gemeinschaft notwendigerweise gemeinsam An dieser Stelle danke ich auch im Namen unserer Sol- mit unseren afghanischen Freunden anpassen. Im Mittel- datinnen und Soldaten Ihnen, den Mitgliedern des Deut- punkt der Diskussion stehen dabei die gemeinsamen schen Bundestages, für Ihre große Unterstützung gerade Ziele. In diesem Verständnis gilt es, mit der afghanischen bei der Beschaffung des notwendigen Materials, insbe- Regierung die Anpassung an unsere gemeinsame Strate- sondere geschützter Fahrzeuge, die zunehmend bedeut- gie voranzubringen. Es versteht sich von selbst – das ge- samer werden. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes hört sich –, dass wir den Deutschen Bundestag mit den lebenswichtig, überlebenswichtig. Diesen Dank ver- Wegen und Mitteln des weiteren Engagements befassen. binde ich mit der Bitte, hierbei auch weiter auf Ihre Un- Ich will noch einmal betonen – das habe ich in den ver- terstützung zählen zu dürfen. gangenen Wochen oft gesagt –: Wir dürfen uns nicht in 1316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

BundesministBundesministerer Dr. Karl-TheodorKarl-Theodor FreiherrFreiherr zu GuttenbergGuttenberg (A) einer intellektuell überschaubaren Diskussion, einer rei- derung hin zum Zynismus. Diese Diskussion gilt es zu (C) nen Truppenstellerdebatte, verlieren. Das würde den An- führen. forderungen nicht gerecht werden. Wir haben in diesem Hohen Haus oft von der Not- Zur Klarheit gehört ohnehin die Erkenntnis, dass wendigkeit einer sehr breiten sicherheitspolitischen De- Soldaten allein den Frieden und die Sicherheit in Afgha- batte gesprochen und bisweilen beklagt, dass punktuelle nistan nicht wiederherstellen können. Der Schlüssel, ge- Ereignisse zu überzogenen Reaktionen geführt haben rade im Bereich Sicherheit, liegt in der Ausbildung der mögen. Heute und im Zuge dieser Debatte bietet sich die afghanischen Kräfte, der Armee, aber auch der Polizei, Chance zu einer vertieften Diskussion. die in den letzten Jahren stärker, wirksamer geworden sind. Wir sind aber noch nicht an dem Ziel, das wir uns Unsere Erfahrungen aus den internationalen Einsät- vorstellen. Wir können dies nur gemeinsam auf einer zen zeigen: Die Bundeswehr ist grundsätzlich leistungs- ressortübergreifenden Grundlage erreichen. Wir brau- fähig, jeder einzelne Soldat sicherlich auch. Von unseren chen dafür klare Benchmarks, wie man das heute neu- rund 250 000 Soldatinnen und Soldaten sind gegenwär- deutsch nennt. Wir brauchen aber auch klare Zeitlinien tig rund 7 000 in den derzeit laufenden Einsätzen gebun- und entsprechende Zeitfenster, um den Ausbildungser- den, darunter auch etwa 500 Reservisten. Hinzu folg, aber auch den Aufbauerfolg messen zu können und kommen weitere 1 800 Soldaten, die wir für den kurz- um daraus die notwendige Abzugsperspektive zu entwi- fristigen Einsatz im Rahmen der NRF und der EU- ckeln. Wir wollen beim Thema Abzugsperspektive Battle-Groups bereithalten. Diese Verpflichtungen ste- nicht hinter anderen zurückstehen, die sich dazu bereits hen im Hinblick auf Vorbereitung und Ausbildung einem geäußert haben. Einsatz in nichts nach. Die afghanische Sicherheit braucht – das mag banal Im internationalen Vergleich fällt dieser Anteil eher klingen – ein afghanisches Gesicht. Wir würden einer Il- bescheiden aus. Auch daran darf man gelegentlich erin- lusion erliegen, wenn wir glaubten, dass die internatio- nern. Ihn zu vergrößern, heißt freilich nicht, die Bundes- nale Gemeinschaft das alleine erreichen kann. Dieses af- wehr zu einer Interventionsarmee zu machen. Die Leis- ghanische Gesicht der Sicherheit muss klarer erkennbar tungsfähigkeit der Bundeswehr muss aber immer werden. Dem versuchen wir auch konzeptionell nachzu- wieder aufs Neue bekräftigt und sichergestellt werden. kommen. Gerade mit dem Konzept des sogenannten Auch das ist unser Auftrag. Partnering wird bereits jetzt in Afghanistan mit unter- schiedlicher Intensität dafür Sorge getragen, dass sich Aus dem, was wir heute „Denken vom Einsatz her“ die Voraussetzungen für die Sicherheit des Landes konti- nennen, gilt es dann auch die richtigen Konsequenzen zu nuierlich fortentwickeln. ziehen: für die Strukturen, die Fähigkeiten und am Ende (B) auch für die konzeptionellen Grundlagen. Das ist eines (D) Kerngedanke ist, dass Ausbildung und Schutz zusam- der strategischen Ziele, an denen die Bundeswehr und si- mengehören und untrennbar miteinander verbunden cherlich auch die Bundesregierung sich werden messen sind. In dem Sinne heißt Partnering richtig verstanden lassen müssen. nicht entweder Sicherheit oder Ausbildung jeweils für sich allein, sondern es bedeutet, dass beides einander be- Mit den bisherigen Strukturen – das ist mein klarer dingt und Teil eines Konzeptes sein soll und muss. Diese Befund – werden wir die Leistungsfähigkeit unserer Neuerung ist allerdings noch nicht überallhin durchge- Bundeswehr auf Dauer schwerlich sicherstellen können. drungen. Es ist wichtig, dass wir offen darüber diskutie- Die Frauen und Männer unserer Bundeswehr können die ren. vorhandenen Schwächen zwar kompensieren, aber sie sollten es nicht müssen. Das erfährt man immer wieder Afghanistan ist nur einer von gegenwärtig zehn Aus- in besonderer Weise aus den Gesprächen mit den Solda- landseinsätzen. Auch darauf darf man immer wieder hin- tinnen und Soldaten und aus ihren Rückmeldungen. weisen. Die Bundeswehr ist heute ganz ohne Zweifel eine Armee im Einsatz. Wir haben heute schon einmal Deshalb müssen wir uns fragen: Haben wir die richti- an dieser Stelle darüber gestritten, was das heißt. Ist das gen Schlüsse aus diesen Entwicklungen gezogen? Wis- etwas, was Routine werden darf? Mit Sicherheit nein. sen wir, worauf wir uns einstellen müssen? Sind wir auf Das soll und darf es nicht. Ist es aber Realität? Ja, und die schon genannten Herausforderungen richtig und um- dieser Realität haben wir uns zu stellen. Dafür haben wir fassend vorbereitet? unsere Verpflichtungen zu erfüllen. Wir brauchen Strukturen, Prozesse und Verfahren, die Wir stehen diesbezüglich auch zu unserer Verantwor- dem Ja zum Einsatz, dem Kontinuum des Einsatzes tung, aber wir wollen keine Weltpolizei sein. Das könn- Rechnung tragen: von der Krisenfrüherkennung über die ten wir auch nicht, weil es ebenso anmaßend wie uto- Planung, Mandatierung und Vorbereitung sowie die Füh- pisch wäre. rung und Durchführung bis hin zur – was gelegentlich unterschätzt wird – Nachbereitung eines Einsatzes. Auch Es bleibt sicherlich auch ein grundlegendes Dilemma das wird in Afghanistan sicherlich noch eine gewichtige – diesen Ansatz sollten wir vielleicht noch etwas stärker Rolle spielen müssen. Wir stehen diesbezüglich vor er- diskutieren –, dass wir, die Maßstäbe unseres Engage- heblichen Aufgaben. ments in Afghanistan zugrunde gelegt, uns leider nicht in allen nahezu vergleichbaren Regionen dieser Erde en- Ich habe deshalb mein Haus beauftragt, in einer scho- gagieren können. Das ist manchmal auch eine Gratwan- nungslosen Analyse auch die bestehenden Defizite zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1317

BundesministBundesministerer Dr. Karl-TheodorKarl-Theodor FreiherrFreiherr zu GuttenbergGuttenberg (A) benennen und Vorschläge zu erarbeiten. Dabei wird es Ich darf mit Blick auf unseren Haushalt einen anderen (C) keine Tabus geben dürfen. Punkt nennen, der mir wichtig ist. Einsatzfähigkeit heißt auch, über modernes und leistungsfähiges Gerät zu ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fügen. Wir sind hier noch lange nicht am Ziel und haben neten der FDP – Renate Künast [BÜND- einen teilweise harten und steinigen Weg zu gehen. Die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann passiert denn Einführung einiger Systeme wird nur mit einem enor- etwas, Herr Guttenberg?) men Kraftakt möglich sein. In vielen Bereichen haben wir noch Defizite zu verzeichnen. Die Gründe sind viel- Ich will in diesem Kontext letztlich nichts Geringeres, seitig; das ist bekannt. Ich hoffe und baue hier auf große als dass die Bundeswehr für eine stets erneuerte Kultur Gemeinsamkeit und einen klaren Austausch über die der Offenheit und des Vertrauens steht. Wir brauchen Dinge. Nicht alles, was man vorfindet, ist erfreulich, auch unkonventionelle Lösungen. Deshalb wird sich un- zum Beispiel wenn Vertragsstrukturen offenbar nicht die mittelbar nach Vorliegen der Analyse eine Kommission Geltungskraft entfalten, die sie sollten. Hier ist das Mit- mit den Defiziten befassen, eine Kommission, die politi- einander von Regierung und Parlament von größter Be- sche, militärische, administrative, wirtschaftliche und deutung. rechtliche Expertise in sich vereinen wird. Insgesamt geht es um nichts Geringeres als um die (Ute Kumpf [SPD]: Wenn man nicht mehr weiter Zukunft der Bundeswehr; das wurde wahrscheinlich weiß, gründet man einen Arbeitskreis!) schon oft gesagt. Es geht damit auch um unsere Zukunft Ihr Kernauftrag wird darin bestehen, zügig Vorschläge und darum, dass unsere Kinder in Zukunft weiterhin in zu einer effizienten und einsatzorientierten Spitzen- Frieden und Freiheit leben können. struktur des Bundesministeriums der Verteidigung und Herzlichen Dank. der Bundeswehr zu erarbeiten. Zur Überprüfung der Strukturen durch die Kommission wird auch gehören, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sich Gedanken über die Rolle, die Funktion und auch Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Kompetenzen herausgehobener Spitzenpositionen zu NEN]: Rhetorisch brillant, inhaltlich dünn! machen. Dazu gehört nicht nur der militärische, sondern Was hat er denn jetzt gesagt?) gerade auch der zivile Bereich. Der Einsatz ist Richt- schnur, wenn wir dann Kompetenzen ressourcensparend Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zusammenfassen, überlappende Zuständigkeiten beseiti- Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Hans-Peter gen und unnötige Redundanzen abbauen wollen. Bartels das Wort. (B) Seit ihrer Gründung im Jahr 1955 hat sich die Bun- (Beifall bei der SPD) (D) deswehr oft solchen Anpassungsprozessen stellen müs- sen. Dieser Transformationsprozess, der begonnen hat, Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): wird uns sehr fordern. Die bestehenden Strukturen sollen Gegenstand der Betrachtung und nicht Grundlage sein. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Dabei wird auch das ambitionierte Ziel der Verkürzung Sie mich mit den Korrekturen des Bundesverteidigungs- des Grundwehrdienstes auf sechs Monate eine gewich- ministers beginnen. Nicht, dass Sie mich falsch verste- tige Rolle spielen. Wir müssen es schaffen, dass ein Ge- hen: Ich will den Minister nicht korrigieren, sondern fühl der Gerechtigkeit des Dienens entsteht und herrscht möchte darauf hinweisen, dass er sich selbst immer wie- und dass jeder einzelne Grundwehrdienstleistende das der korrigiert, und zwar ein bisschen oft, wie ich finde. Gefühl hat, gebraucht zu werden. Das muss weiterhin Das ist nicht ehrenrührig, aber gewiss nicht optimal für der Maßstab sein, wenn wir dieses Ziel erreichen wollen. die Bundeswehr und unser Land. (Beifall bei der SPD – Dr. Hans-Peter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Die Fähigkeit neten der FDP) zur Selbstkritik geht Ihnen ab!) Ich sehe der Debatte darüber und den Ergebnissen dieser Als Kurt Beck vor zwei Jahren davon sprach, dass Debatte mit einer gewissen Spannung entgegen, insbe- man versuchen müsse, mit moderaten Taliban zu verhan- sondere weil ich alle Fraktionen des Bundestages an die- deln, gab es Hohn und Spott, auch vom heutigen Vertei- ser Debatte beteiligen will. Ich bin sehr gespannt, welche digungsminister. Vorschläge gemacht werden. (Karin Evers-Meyer [SPD]: Besonders lauten Die Bundeswehr muss ein attraktiver Arbeitsplatz sogar!) bleiben. Das hängt auch davon ab, inwieweit wir die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ermöglichen, Inzwischen fordert er selber das. Willkommen in der Handlungsfelder identifizieren und entsprechend han- Wirklichkeit! Er sprach von kriegsähnlichen Zuständen deln. Das reicht von Kinderbetreuungsmöglichkeiten bis in Afghanistan und hat den Eindruck erweckt – das hin zu einem flexibleren Laufbahnrecht. Das sind ehr- wurde öffentlich so kommuniziert –: Da ist Krieg. Die- geizige und schwierig zu erreichende Ziele. Aber sie sem Eindruck ist er – zu Recht – sofort wieder entgegen- sind richtig und wichtig. getreten. Natürlich handelt es sich nicht um Krieg. Wir haben noch nicht die richtige Begrifflichkeit dafür. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Initiative, dass das Kabinett klären soll, worum es sich 1318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Hans-Peter Bartels (A) handelt, hat offenbar noch nicht zu einem Ergebnis ge- (Beifall bei der SPD – Karin Evers-Meyer [SPD]: (C) führt. Das musste einmal gesagt werden!) Als es um den Luftschlag bei Kunduz ging, hieß es Es gibt vier Punkte, in denen wir im Interesse unseres vonseiten des neuen Ministers erst, dieser Luftschlag Landes mit der Regierung übereinstimmen. hätte unter allen Umständen erfolgen müssen. Vier Wo- Wir Sozialdemokraten wollen den Erfolg in Afgha- chen später hieß es: Das war nicht angemessen. – Herr nistan. Das heißt: mehr für den zivilen Aufbau und mehr Guttenberg, Sie sagten, Sie seien an Aufklärung inte- für die Armee- und Polizeiausbildung tun. Gehen Sie in ressiert. Das sind wir auch. Aber Sie sind es doch, der diese Richtung, und wir gehen mit! Wir haben Verant- auf allen Akten und Informationen sitzt und keinen Be- wortung übernommen, und wir bleiben dabei: Wir müs- richt darüber abgibt, was tatsächlich geschehen ist. Die sen das, was wir mit vielen Nationen gemeinsam begon- Regierung ist im Vorteil und kann sagen, was in ihrem nen haben, gemeinsam anständig zu Ende bringen. Verantwortungsbereich geschehen ist. Sie müssen nicht auf einen Untersuchungsausschuss verweisen, der in Wir Sozialdemokraten halten an der Wehrpflicht fest anderthalb oder zwei Jahren einen Abschlussbericht vor- und freuen uns, dass Sie es auch tun. Aber wir wissen, legt und Ihnen erzählt, was in Ihrem Haus und in der dass eine Ausmusterungsquote von beinahe 50 Prozent Bundeswehr, für die Sie Verantwortung tragen, vorge- absurd ist. Deshalb wollen wir eine Reform, die neue gangen ist. Chancen der Freiwilligkeit mit den Grundlagen unserer Wehrpflicht verbindet. Das ist intelligenter als die (Beifall bei der SPD) schlichte Verkürzung auf sechs Monate. Lassen Sie uns noch einmal – Sie haben das angeboten – über unser so- Die Bundeskanzlerin hat am 8. September 2009 lü- zialdemokratisches Modell diskutieren. ckenlose Aufklärung versprochen. Auch das Wort „scho- nungslos“, das Sie eben verwendet haben, fiel in diesem (Beifall bei der SPD) Zusammenhang. Geschehen ist aufseiten der Bundesre- Wir wollen, dass der Dienst in unseren Streitkräften gierung bis heute nichts. Sie schieben das Thema vor attraktiver wird. Das beginnt bei der Kasernenqualität sich her und hoffen, dass es sich durch Zeitablauf erle- sowie bei Besoldung und Zuschlägen, und es endet noch digt. nicht bei der Familienfreundlichkeit, der Planbarkeit der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Laufbahn und modernerer Ausrüstung. Da gibt es viel zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tun. Lassen Sie uns die Gemeinsamkeiten suchen. Wenn ich an die nächsten Monate und den Untersu- Wir Sozialdemokraten haben Vorschläge für die Wei- terentwicklung der Bundeswehrstruktur gemacht, und (B) chungsausschuss denke, dann glaube ich, Sie werden (D) zwar über das Ziel der Transformation 2010 hinaus. Die sich noch zwei weitere Male korrigieren müssen. Ers- Bundeswehr braucht mehr infanteristische Kräfte, mehr tens. Sie sagen, dass Sie den geheimen NATO-Bericht Redundanz und Reserven in der Truppe – nicht nur we- vor Ihrer Pressekonferenz am 6. November 2009 zu dem Luftschlag selbst gelesen haben. Dann mussten Sie aber gen der Auslandseinsätze – und eine schlankere Füh- wissen, dass dieser Bericht zu dem Schluss kommt, die rungsstruktur. Verzichten können wir auf die amerikani- schen Atombomben in Deutschland und das Tornado- Bombardierung habe nicht im Einklang mit der Wei- Geschwader zur nuklearen Teilhabe. sungslage und Absicht der NATO in Afghanistan gestan- den. Entweder wussten Sie das und haben die Öffent- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie lichkeit falsch unterrichtet, oder Sie haben den Bericht der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE gar nicht gelesen. Es ist Zeit für Korrekturen. GRÜNEN]) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Gleichzeitig gehören uralte Standortentscheidungen GRÜNEN]: Völlig richtig!) vielleicht noch einmal auf den Prüfstand. 1991 wurde der Umzug des Marinefliegergeschwaders 5 von Kiel Zweitens. Sie haben die Schuld für Ihre Fehleinschät- nach Nordholz beschlossen. Jetzt schreiben wir das zung und die Falschinformation der Öffentlichkeit dem Jahr 2010, und das Geschwader ist nach 19 Jahren im- Generalinspekteur Schneiderhan und dem Staatssekretär mer noch in Kiel, aber soll immer noch umziehen. Man Wichert gegeben. Das war nicht besonders honorig von weiß manchmal gar nicht, wem man zurufen soll: Neh- Ihnen. Das war ein Abschieben der Verantwortlichkeit, men Sie Vernunft an! – Staatssekretäre dürfen ja nichts und das werden Sie hoffentlich auch bald korrigieren. annehmen, und im Moment haben wir ja auch keinen. Ich weiß nicht, ob es auch aus Ihrer Sicht Korrektur- Wir Sozialdemokraten werden die anstehenden not- bedarf beim Haushalt gibt. Dass der Verteidigungsetat wendigen Reformen konstruktiv begleiten. Wenn Sie für real und nominal schrumpft, statt wenigstens die jährli- Ihre drei angekündigten Reformkommissionen zur chen Kostensteigerungen auszugleichen, hätte die Bun- Wehrpflicht, zur Attraktivität und zur Struktur noch eine deswehr von Ihnen nicht erwartet. Da werden Steuerge- zentrale steuernde Superkommission brauchen, dann schenke an Hoteliers und Firmenerben per Eilgesetz nehmen Sie – Stichwort: Parlamentsarmee – den Vertei- durchgepaukt, und die Neuverschuldung treibt in unge- digungsausschuss. Da werden wir das diskutieren. ahnte Höhen, aber die Bundeswehr muss Geld abgeben. Vielen Dank. Das ist die Schwerpunktsetzung Ihrer Koalition. Das halten wir für falsch. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1319

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bürokratisch vorzugehen, damit die Soldaten nicht zu (C) Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die lange auf das warten müssen, was für sie notwendig ist. FDP-Fraktion. Wir sollten vor allem an die Soldaten denken – darauf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sollten wir zukünftig einen noch stärkeren Schwerpunkt der CDU/CSU) legen –, die zurückkommen und in Afghanistan trauma- tische Erlebnisse hatten. Wir müssen die Betreuung ver- Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): stärken. Das sind wir diesen Soldaten schuldig. Dazu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sind wir verpflichtet. Dazu gehört auch – darum werden Wenn wir heute in erster Lesung den Verteidigungsetat wir uns bei den Haushaltsberatungen kümmern –, dass diskutieren, dann wünsche ich mir eigentlich, dass wir ihre Familien, wenn sie wollen, in diese Betreuung ein- uns alle mehr um das Herausstellen der Gemeinsamkei- geschlossen werden. Das halte ich für dringend erforder- ten bemühen. lich. Das geschah in der Vergangenheit zu wenig. (Ute Kumpf [SPD]: Und mehr Ehrlichkeit, Herr (Beifall bei der FDP) Kollege! Das wäre auch nicht schlecht!) Wir sollten bei all den Auslandseinsätzen nicht unsere Eben – Kollege Bartels, das muss ich leider sagen – war Soldaten vergessen, die hier im Lande ihren Dienst tun. mir das zu viel Kraut und Rüben. Vielleicht können die Wenn ich den Beruf des Soldaten attraktiv machen will, nachfolgenden Redner der Sozialdemokraten das zu- dann muss endlich Schluss mit maroder Infrastruktur rechtrücken. und mangelnden Beförderungschancen sein. Es muss Ich denke, an die erste Stelle gehört bei einer solchen Schluss damit sein, dass alles oft schwerfällig läuft und Debatte, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten im dass Dienst und Familie oft genug nicht zusammenge- Ausland genauso wie denen hier in Deutschland unseren führt werden. Wir müssen viel mehr tun. Wir werden nur Dank aussprechen. Ich möchte stellvertretend den Solda- gute Leute für unsere Bundeswehr bekommen können ten danken, die oben auf der Tribüne sitzen, und sie – das ist meine Auffassung und die Auffassung der herzlich im Deutschen Bundestag willkommen heißen. Freien Demokraten –, wenn wir den Dienst in der Bun- deswehr attraktiv machen. Das reicht bis hin zur Besol- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD dung. Ich weiß, wie schwer das ist. Auch ich weiß, wie und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es in der Haushaltskasse aussieht. Wir werden aber über Wenn wir diesen Etat diskutieren, dann geht es doch alles reden müssen. um die angemessene Finanzausstattung der Bundes- Sie haben erfreulicherweise die neuen Organisations- (B) wehr – da kann jeder seine Schwerpunkte setzen; darü- strukturen angesprochen. Ich füge hinzu: Straffung der (D) ber können wir diskutieren –; denn die Bundeswehr ist – Verwaltungsstruktur. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Viel das sollten wir gerade bei einer solchen Debatte heraus- Geld kostet leider auch, dass wir bei der Bundeswehr streichen – unsere Armee, sie ist eine Parlamentsarmee. immer noch die unglaublich große Planwirtschaft haben. Wir sollten uns alle zusammen daher in erster Linie, ob Das kostet uns sehr viel Geld. Hier könnten wir erhebli- wir im Verteidigungsausschuss oder im Haushaltsaus- che Mittel sparen. schuss sind, aufgefordert fühlen, uns um den Zustand der Bundeswehr zu kümmern, welche Aufgaben wir auch (Beifall bei der FDP – Michael Groschek immer sonst in diesem Parlament haben. [SPD]: Am besten privatisieren!) Wenn ich mir den Etat ansehe, dann weiß ich genau, Wir brauchen – davon sind wir überzeugt – eine leis- dass sich vieles um die Auslandseinsätze dreht. Der Mi- tungsfähige nationale Wehrtechnik. Aber bei den gerin- nister hat es angesprochen; der Haushalt spiegelt das wi- gen Stückzahlen, die wir oft bestellen, ist die internatio- der. Ich will an dieser Stelle im Rahmen der Haushalts- nale Zusammenarbeit mit unseren Partnern, vor allem in beratungen gerade für die FDP sagen: Wir werden alles Europa, notwendig. Ich hoffe, dass es, wenn wir Auf- tun, damit unsere Soldaten, die im Ausland sind, das Ge- träge vergeben, zu einer Zusammenarbeit in Europa fühl haben, dass der Bundestag zu ihnen steht, nachdem kommt. Bei der Gelegenheit will ich etwas sagen, weil der Beschluss zum Einsatz mit Mehrheit gefasst wurde, wir alle manchmal Briefe bekommen, die auf die Bestel- und sie das beste Material bekommen, das zur Verfü- lung von Flugzeugen und Schiffen Bezug nehmen. Ich gung steht. Dieses Gefühl müssen sie haben; sonst kön- will hier in aller Deutlichkeit zum Verteidigungsetat sa- nen sie ihren Dienst nicht tun. gen – auch ich bin ein Freund der Marine, des Schiffbaus (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und der Werften –: Sie müssen sich auf uns verlassen können. (Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]) Herr Minister, Sie haben Gott sei Dank die Einschrän- kung gemacht, es gebe Nachsteuerungsbedarf. Den gibt Der Bundesverteidigungsminister ist nicht für die Lö- es wirklich in vielen Bereichen. Ich finde, dass manches sung von strukturpolitischen Problemen zuständig. Auf- – dabei bleibe ich; das habe ich in der Opposition gesagt, träge kann er nur vergeben, weil es für die Bundeswehr und das sage ich auch jetzt – viel zu schleppend läuft, bis notwendig ist, ein bestimmtes Material zu bekommen. die Soldaten das beste Material bekommen. Ich bitte das Ministerium, etwas zügiger zu verfahren und nicht zu (Beifall bei der FDP) 1320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (A) Der Bundesverteidigungsminister ist nicht für Werften- Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): (C) hilfe und auch nicht für Luft- und Raumfahrt zuständig; Wahren Sie auch das Gesicht unserer Soldaten! das sind andere Häuser. Herzlichen Dank für Ihre Geduld. Wir Freien Demokraten werden das verwirklichen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) was wir in allen früheren Debatten gesagt haben: Wir werden die großen Projekte auf den Prüfstand stellen. Ich sage Ihnen: Es ist dringend erforderlich, MEADS zu Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: überprüfen. Wir Freien Demokraten haben dieses Pro- Als Nächster hat Paul Schäfer das Wort für die Frak- jekt immer kritisch gesehen. Ich sage Ihnen auch: Das tion Die Linke. Projekt „Herkules“, wie es sich im Augenblick darstellt (Beifall bei der LINKEN) – inzwischen sind wir da bei fast 7 Milliarden Euro –, ist so nicht mehr zu akzeptieren. Da muss wirklich mit dem Besen durchgegangen werden. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der (Ute Kumpf [SPD]: Mit der Kehrmaschine! Tat, wer über den Verteidigungshaushalt redet, muss Ein Besen reicht da gar nicht!) über die Auslandseinsätze der Bundeswehr reden. Insge- samt haben diese Einsätze von 2002 bis heute circa Das ist Geld des Steuerzahlers, Herr Minister, und wir 10 Milliarden Euro gekostet; das ist kein Pappenstiel. achten sehr auf dieses Geld; denn die Bundeswehr Außerdem ist der Etat mehr und mehr auf diese Einsätze braucht es dringend für ihre Einsätze. zugeschnitten. Durch diese Einsätze zeigen sich am ein- dringlichsten die Folgen der hier beschlossenen Politik. Herr Minister, Sie haben angeboten, mit dem Parla- Das heißt, natürlich muss über Afghanistan gesprochen ment über den Airbus A400M zu sprechen. Ein solches werden. Gespräch können Sie sehr schnell bekommen. Das Par- lament hat die Beschaffung des A400M beschlossen. Die Schlüsselfrage des Jahres 2010 lautet für uns ein- Wir als FDP haben, was die Stückzahl angeht, Kritik ge- deutig: Wird die Bundeswehr in diesem Jahr aus Afgha- übt. Wir wissen, dass wir ein Transportflugzeug brau- nistan abgezogen, oder werden noch mehr Soldatinnen chen. Wir akzeptieren aber nicht, dass EADS uns in der und Soldaten an den Hindukusch geschickt? Öffentlichkeit droht und sagt, welchen Preis wir zu zah- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ len hätten. Es ist ein Vertrag geschlossen worden. EADS CSU) ist vertragsbrüchig geworden. Man könnte es auch so formulieren: Der Vertrag ist ausgelaufen. Wir sind auf Die Bombennacht von Kunduz hat vielen endgültig die (B) der besseren Seite. Drohungen von EADS beeindrucken Augen geöffnet. Der Minister hat gesagt, dass wir eine (D) mich überhaupt nicht. klare Sprache brauchen: Dort sind über 100 Menschen gezielt getötet worden. Der verantwortliche Offizier hat (Beifall des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/ sogar von „vernichten“ gesprochen. Dieses Ereignis hat CSU]) gezeigt: Dort wird Krieg geführt, und dort sind wir in ei- ner Gewaltspirale, aus der wir so schnell wie möglich Wir haben das Geld der Steuerzahler sparsam einzuset- herausmüssen. zen. Diese Verträge müssen eingehalten werden. Mehr Geld gibt es nicht. Suchen Sie das Gespräch mit dem (Beifall bei der LINKEN) Parlament! Das Parlament hat diese Entscheidung ge- troffen, und das Parlament wird Änderungen beschlie- Bischöfin Käßmann hat gewiss recht, wenn sie sagt, ßen, sofern es nicht die Entscheidung trifft, dieses Pro- dass es darum geht, nicht vor der Logik des Krieges zu jekt zu beenden. kapitulieren, und dass das klare Zeugnis gegen Gewalt und Krieg nach Mut und Fantasie verlangt, wie Kon- Meine letzte Bemerkung gilt dem, was in Afghanistan flikte anders als gewaltförmig gelöst werden können. geschehen ist; dazu hat der Kollege Bartels vorhin viel Das ist die Aufgabe, die ansteht. Es reicht jetzt nicht, zu gesagt. Ich verweise auf den Rückhalt durch dieses Par- sagen: Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. – lament, den unsere Soldaten brauchen. Liebe Kollegin- Was nun wirklich nicht geht, ist, dass jetzt alle über Ab- nen und Kollegen, es ist sehr einfach, hier in Berlin vor zugsperspektiven sprechen, hier aber dann das Gegenteil laufenden Kameras Urteile abzugeben. Lassen Sie uns beschlossen oder befürwortet wird. diesen Untersuchungsausschuss durchführen, und las- Wir werden nach der Konferenz in London erleben, sen Sie uns in Ruhe untersuchen. Denken Sie aber im- dass die Bundeswehr bei der Aufstockung der Truppen mer daran, dass in Afghanistan Soldaten sind, die – dieser Prozess läuft woanders schon – nachzieht. Nein, manchmal in kürzester Zeit Entscheidungen treffen müs- wir sagen: Abzug heißt Abzug! Und wir fordern: Abzug sen. Ich weiß nicht, ob mancher von uns unbedingt mit noch in diesem Jahr! diesen Soldaten tauschen möchte. (Beifall bei der LINKEN – Elke Hoff [FDP]: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Armes Afghanistan!) Zugleich muss in diesem Zeitrahmen ein innerafghani- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: scher Aussöhnungsprozess befördert werden, um Herr Koppelin, kommen Sie bitte zum Ende. schnellstmöglich zu einem Waffenstillstand zu kommen, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1321

Paul Schäfer (Köln) (A) der ja erst die Bedingungen für den zivilen Wiederauf- Die Alternative der Linken an dieser Stelle ist klar: (C) bau schafft. Wir möchten, dass die Bundesrepublik zu einer zivil ge- prägten Außen- und Sicherheitspolitik zurückkehrt. Wir Meine Damen und Herren, es geht nicht allein um ei- brauchen statt der Fixierung auf althergebrachte Militär- nen Abzug aus Afghanistan. Leider ist der ganze Rüs- allianzen wie die NATO eine neue europäische Sicher- tungsetat von der Idee durchdrungen, die Bundeswehr heitsarchitektur, die alle Länder des Kontinents um- für weitere Einsätze dieser Art fit zu machen. Deshalb fasst, die auf Vertrauensbildung, umfassender muss auch darüber gestritten werden, ob wir Streitkräfte Kooperation und Abrüstung beruht. Gerade hier sind für globale militärische Interventionen vorhalten wol- neue Anstrengungen überfällig, und zwar nicht nur in len oder nicht. Die Haltung der Linken ist eindeutig: Wir Russland oder in China. Dass Sie für Abrüstung in die- wollen es nicht. sen Ländern sind, ist klar. Nein, hier spielt die Musik. (Beifall bei der LINKEN) Hier müssen wir mit der Abrüstung beginnen. Wir haben die Umgestaltung der Bundeswehr zu einer (Beifall bei der LINKEN) Armee im Einsatz immer abgelehnt und bleiben dabei. Zurück zum Verteidigungshaushalt. Mit Haushalts- Wenn man dem folgte, ließen sich viele Milliarden Euro wahrheit und Haushaltsklarheit hat das, was uns hier einsparen und für sozial nützlichere Dinge aufwenden. präsentiert wird, wenig bis gar nichts zu tun. Da gibt es Wenden wir uns jetzt einmal dem vorliegenden Haus- die globale Minderausgabe von 250 Millionen Euro. haltsentwurf konkret zu. Es fällt auf, dass der Etat Aber Sie verraten uns natürlich nicht, wo Sie kürzen scheinbar stagniert. Aber mein Mitleid mit dem Herrn wollen. Eine Aussage dazu, wen es treffen wird, wird Minister hält sich an der Stelle in engen Grenzen. tunlichst vermieden. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Dann gibt es die Etatansätze für die Auslandsein- Das wundert uns nicht!) sätze. Offiziell veranschlagt sind 640 Millionen Euro. Herr Koppelin, Sie kennen sich ja aus: Addieren Sie ein- Ich glaube, auch die Sammelbüchse kann im Schrank mal die Beträge, die dieses Haus in seinen Mandaten für bleiben. Erstens hatten wir in den letzten Jahren kräftige Bundeswehreinsätze verabschiedet hat. Es ist interes- Zuwächse; seit 2006 wurde der Rüstungsetat um mehr sant, welche Summe sich ergibt. Da kommt man nämlich als 3 Milliarden Euro erhöht. Zweitens liegt der Gesamt- auf 980 Millionen Euro. Das heißt, hier gibt es eine rie- etat jetzt bei über 31 Milliarden Euro. Man hätte sich zu sige Diskrepanz. Deshalb sage ich: Hier wird vertuscht; Beginn der letzten Legislaturperiode überhaupt nicht hier wird die Öffentlichkeit bewusst über die wahren vorstellen können, dass man über die Schallmauer von Kosten der militärischen Interventionspolitik getäuscht. (B) 30 Milliarden Euro springt. Drittens sei nur am Rande Diese Vertuschung machen wir nicht mit. Wir fordern (D) erwähnt: Selbst am Konjunkturpaket II durfte der Minis- Sie daher auf: Legen Sie endlich konkret vor, was die ter der Verteidigung mitnaschen. Einerseits wurden Auslandseinsätze kosten, und stellen Sie endlich realisti- 250 Millionen Euro für die Sanierung von Liegenschaf- sche Zahlen in den Haushalt ein, damit die Öffentlich- ten bereitgestellt – das ist in Ordnung –, andererseits keit weiß, woran sie ist. aber auch 220 Millionen Euro für Beschaffungsprojekte. Das war zwar eine schöne Finanzspritze für die Rüs- (Beifall bei der LINKEN) tungskonzerne, aber volkswirtschaftlich war das eine Bei näherem Hinsehen wird auch schnell klar, dass es Fehlzündung. Rüstung gehört zu den Wirtschaftsberei- bei den Rüstungsausgaben nicht bei dem derzeitigen chen, die nur eine geringe Sogwirkung entfalten. Stillstand bleiben wird. Das Rad der militärischen Be- (Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Da gibt es aber schaffung dreht sich weiter; in der jüngsten Vergangen- auch Arbeitsplätze!) heit hat es sich schon erheblich gedreht. Wir hatten zu Beginn der letzten Legislaturperiode 6 Milliarden Euro Mit anderen Worten: Für dasselbe Geld hätte man pro- an investiven Ausgaben, jetzt sind wir bei 8 Milliarden duktivere und nachhaltigere Arbeitsplätze schaffen kön- Euro. Das ist ein bemerkenswerter Zuwachs, ein sattes nen, und dann hätte man Produkte, die keine Werte zer- Plus von fast 2 Milliarden Euro. Welcher Titel im Haus- stören, sondern aufbauen. Deshalb sind wir dagegen. halt ist in dieser Weise aufgepeppt worden? Das wüsste ich gerne. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Das war eine Inves- Wir werden bei einigen Großprojekten von durchaus tition in die Sicherheit!) zweifelhaftem Rang in den nächsten Jahren zum Teil er- hebliche Zuwächse haben. Über diese Belastung haben Die Ausgaben für die Bundeswehr bleiben mit einem Sie überhaupt nicht gesprochen. Ich meine beispiels- Gesamtvolumen von über 31 Milliarden Euro – nach weise den Schützenpanzer Puma. Ich meine die neue NATO-Kriterien sind es 34 Milliarden Euro – auf be- Generation der Kampfhubschrauber, neue Raketenab- trächtlicher Höhe. Das ist immerhin ein Anteil von circa wehrsysteme oder die Fregatte 125 – Kostenpunkt: 10 Prozent des Gesamthaushaltes. Diese Aufblähung des knapp 3 Milliarden Euro, Verwendungszweck: Unter- Wehretats ist die unabweisbare Folge des Umbaus der stützung von Militäreinsätzen rund um den Globus. Bundeswehr zu einer global einsetzbaren Interventions- Also: Landesverteidigung ade, große Weltpolitik ahoi! armee. Herr Minister, es tut mir leid, aber das, was dort Das ist mit uns nicht zu machen. stattfindet, kann man als nichts anderes denn als militäri- sche Interventionen bezeichnen. (Beifall bei der LINKEN) 1322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Paul Schäfer (Köln) (A) Dann haben wir noch den A400M. 9,2 Milliarden schütterndes Beispiel dafür, wo etwas getan werden (C) Euro soll das Langstrecken-Transportflugzeug kosten, muss, wo international geholfen werden muss. mit dem die Bundeswehr Kriegsgerät in Einsatzgebiete Es gibt einige alte Slogans, die gerne verwendet wer- bringen will. Inzwischen ist klar, dass die Industrie den den. Sie wirken zwar unter Umständen etwas abgegrif- Leistungsvertrag nicht einhalten kann und der Flieger fen und angestaubt; das gebe ich zu. Manchmal aber sind viel mehr kosten wird. Es ist die immer gleiche Story, solche Slogans, weil die Politik an der Stelle so kontinu- die wir erleben: Das Militär hat bestimmte Wünsche. ierlich und konservativ ist, doch noch brauchbar und Die Rüstungswirtschaft will satte Gewinne machen. Die treffen ins Schwarze. Dies gilt auch für einen Slogan, Regierung will diese Interessen bedienen und bringt das den ich zum Schluss nennen möchte: Bildung statt Bom- Parlament dazu, solche Projekte schnellstmöglich durch- ben. Bildung statt Bomben, das wäre eine zukunftsorien- zuwinken; wir haben das am Ende der letzten Legislatur- tierte Politik. periode erlebt. Dann geht die Sache erst richtig los: Die Preise steigen und steigen. Die Industrie stellt Nachfor- Danke. derungen. Nachbesserungen sind erforderlich; der Zeit- (Beifall bei der LINKEN) plan verschiebt sich. – Es ist immer dieselbe Story. Aber selbst Beschaffungsvorhaben, die technisch und finanziell völlig aus dem Ruder laufen wie im Falle des Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: A400M, werden von der Industrie dank ihrer Monopol- Jetzt hat Alexander Bonde das Wort für Bündnis 90/ stellung mit aller Macht durchgedrückt. Die Grünen. Mir ist überhaupt rätselhaft, wie man auf die Größen- Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ordnung von 60 Maschinen kommt. Das haben mir Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! selbst Befürworter dieses Projekts, die sich dafür aus- Man kann es nicht an jedem Redebeitrag erkennen: Wir sprechen, dass die Transall ersetzt wird, noch nicht klar- diskutieren den Haushaltsplan der Bundesregierung für machen können. Die Zeche, die jetzt bezahlt wird, ist au- das Jahr 2010. ßerordentlich hoch. Es sind bereits Nachforderungen in Höhe von 5 Milliarden Euro erhoben worden. Ich kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur hoffen, dass Sie diesen Erpressungsversuchen der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rüstungsindustrie widerstehen. Wir fordern Sie auf: In Zeiten der Rekordverschuldung gilt es, für jeden Ein- Stoppen Sie diesen Unsinn, und steigen Sie aus diesem zelplan eines Ministeriums die Ausgaben genau zu über- Beschaffungsvorhaben aus! prüfen und die Frage zu beantworten, ob mit möglichst (B) (Beifall bei der LINKEN) geringen Mitteln möglichst viel erreicht wird. Dieser (D) Aufgabe müssen Sie sich, Herr Minister, der Sie einen Meine Damen und Herren, wir können zusammenfas- der größten Einzelhaushalte im Bundeshaushalt zu ver- sen: Sie machen mit diesem Haushalt Rekordschulden. antworten haben, stellen. Ihr Haushalt macht deutlich, Deshalb wollen Sie ab dem nächsten Jahr kräftig sparen. dass es an vielen Stellen grundsätzliche Strukturfragen Was das für den Etat des Ministers der Verteidigung be- gibt, die wir angehen müssen, um diesen Haushalt wie- deuten wird, ist zwar keine geheime Verschlusssache, der verträglich zu gestalten. aber rätselhaft ist es dennoch. Die Erfahrung besagt, dass die Beschaffungstitel tabu sind. Im Gegenteil, sie wer- Ich verstehe, dass Sie in den ersten Monaten Ihrer den noch steigen. Auch die Ausgaben für die Auslands- Amtszeit vordringlich mit Selbstverteidigung und Perso- einsätze werden wahrscheinlich eher steigen. Möglicher- nalfragen beschäftigt waren. weise besteht eine Kürzungsoption bei den Personal- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Georg ausgaben. Die Soldatinnen und Soldaten sind das Schirmbeck [CDU/CSU]: Du wolltest doch schwächste Glied in der Kette, ebenso die zivilen Ange- zum Haushalt reden! Du hast gut angefangen!) stellten. Hier ist interessant, dass deren Tarifvertrag Ende dieses Jahres ausläuft. Es interessiert uns bren- Ich sage Ihnen ganz offen: Gehen Sie schnell in den Un- nend, was daraus wird und ob für die Menschen schlech- tersuchungsausschuss, und beantworten Sie die Fragen, tere Bedingungen ausgehandelt werden, weil man sparen die auf dem Tisch liegen! Wenn die Belastung durch den muss. Untersuchungsausschuss der Grund dafür ist, dass Sie an die großen Strukturfragen im Moment nur in Form von Wir haben da andere Vorstellungen: Wir wollen, dass Kommissionen heranrobben, dann muss ich Ihnen sa- nicht bei den Menschen gespart wird, sondern bei den gen: Schaffen Sie Klarheit, um sich dieser Fragen anneh- großen Waffensystemen. Wir wollen, dass die Auslands- men zu können. einsätze der Bundeswehr nicht ständig ausgeweitet, son- dern zurückgenommen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Sie haben heute eine Kommission angekündigt; das Damit könnte man zumindest einen Teil der Investitio- klang gut und sehr tiefgründig. Interessant ist, dass die nen in die Zukunft finanzieren, die vordringlich sind: die Kommission im Ministeriumsspott als Abteilungsleiter- Erneuerung des Sozialstaats, den ökologischen Umbau kränzchen bezeichnet wird. Ich bin gespannt, was dabei unserer Wirtschaft, die Bekämpfung von Armut und glo- tatsächlich herauskommt und wie viele Fragen aus dieser baler Unterentwicklung weltweit. Haiti ist doch ein er- grundsätzlichen Betrachtung ausgeklammert werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1323

Alexander Bonde (A) Ich bin überzeugt, dass es richtig wäre, die Sicherheits- auszusetzen. Sie sagte, es gebe keine Rechtfertigung, die (C) politik und die Struktur der Bundeswehr endlich grund- Freiheitsrechte junger Menschen, in diesem Fall junger sätzlich zu diskutieren und angesichts der bestehenden Männer, zu beschränken. Der Kompromiss dieser Koali- Einsätze an falsche Strukturen heranzugehen. tion ist: Man verkürzt die Dauer des Wehrdienstes, so- dass die Freiheit von noch mehr jungen Männern be- Die Realität sieht doch so aus: Die Bundeswehr befin- schränkt wird. Das ist einer der vielen Widersprüche, die det sich in Stabilisierungseinsätzen unter UN-Mandat. die FDP nicht auflösen kann. Aber ein Großteil der Ressourcen an der Heimatfront ist nach wie vor so ausgelegt, die Rote Armee zurück- Ich muss allerdings sagen: Ihr Kompromiss macht zuschlagen. Wir leisten uns eine Bundeswehr mit diese Veranstaltung wesentlich teurer. Sie binden noch 350 000 Angehörigen, wenn ich die zivilen Mitarbeiter mehr Ressourcen für etwas, das für keines der beschrie- und die Reservisten zu den 250 000 Militärs hinzu- benen Konfliktszenarien zusätzliches Potenzial birgt. rechne, und stoßen bei den Auslands- und Stabilisie- Die Wehrpflicht bringt nichts bei der Stabilisierung, bei rungseinsätzen an eine Grenze, wenn wir 6 982 dieser der Absicherung von humanitären Einsätzen und ande- 350 000 Bundeswehrangehörigen einsetzen. rem. Sie beschaffen auch in diesem Haushalt wieder teure und schwere Waffensysteme für Konflikte, die wir zum Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Glück seit Jahrzehnten nicht mehr erleben. Dies geht na- Herr Bonde, möchten Sie eine Zwischenfrage des türlich zulasten der Einsatzrealität; denn bei diesen Ein- Kollegen Koppelin zulassen? sätzen treffen wir nicht auf Gegner, die mit Panzern be- waffnet sind und eine eigene Luftwaffe haben. Es geht Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zulasten der Mechanismen der zivilen Konfliktlösung, Aber gerne; ich freue mich. Bei seinem heutigen Bei- von denen wir alle wissen, dass sie nicht ausreichend trag habe ich ihn fast nicht wiedererkannt, verglichen entwickelt sind. Es geht zulasten der Steuerzahlerinnen mit Oppositionszeiten. und Steuerzahler und nicht zuletzt auch zulasten der Sol- datinnen und Soldaten im Einsatz, denen mit diesen fal- schen Strukturen zum Teil unlösbare Aufgaben mit auf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den Weg gegeben werden. Bitte schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Ich will mich im Namen meiner Fraktion ausdrück- Dabei helfe ich dir gerne. – Ich möchte eine Frage zur lich bei all denjenigen bedanken, die trotz dieser fal- (B) Wehrpflicht stellen. Es gab hier Kritik an der FDP. Un- (D) schen Strukturen diese Aufgabe für uns und für unser sere Haltung ist bekannt: Wir sind für die Aussetzung Land bewältigen. der Wehrpflicht; der Koalitionspartner wollte das nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dann hat man diesen Kompromiss gefunden. Ihr von sowie bei Abgeordneten der SPD) den Grünen wart auch immer für die Aussetzung der Wehrpflicht, sogar für die Abschaffung, die Sozialdemo- Sie verteidigen diese Strukturen. Ich bin gespannt, ob kraten aber nicht. Zu welchem Kompromiss seid ihr Ihre Kommissions-Arie zum Schluss dazu führen wird, denn damals gekommen? die Bereitschaft zu entwickeln, den Anspruch aufzuge- ben, die Bundeswehr solle grundsätzlich alles können, ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was zu dem Resultat führt, dass sie von allem ein biss- NEN]: Zu keinem unsinnigen!) chen kann. Das wird immer unter dem schönen Bundes- wehrbegriff „Anfangsbefähigung“ versteckt. Was soll Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Bundeswehr können, und welche Aufgaben soll sie Herr Kollege Koppelin, ich kenne die Situation, übernehmen? Das ist die zentrale Frage, über die wir Kompromisse machen zu müssen. Ich sage Ihnen nur ei- sprechen und diskutieren müssen. Weitere drängende nes: Es macht keinen Sinn, sich hinzustellen und zu sa- Fragen sind: Welche real existierenden Konflikte gibt es, gen, man wolle, dass kein junger Mann einen Eingriff in und welche Rolle spielt heute dabei das Militär? Was be- seine Freiheit erdulden muss, wenn hierdurch keine si- deutet dies für die einzusetzenden Gerätschaften? Wie cherheitspolitische Kapazität geschaffen wird. Nachdem kann man sich dabei um die kümmern, die im Rahmen Sie gefordert haben, dass keiner mehr Wehrdienst leisten dieser Einsätze ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren, muss, kommt nun ein Kompromiss heraus, der dafür seien sie nun Militärs oder wie in vielen Konflikten zi- sorgt, dass noch mehr Wehrpflichtige eingezogen wer- vile Mitarbeiter, die wir dringend brauchen? Ich bin den. überzeugt, wir wären besser aufgestellt mit einer Bun- deswehr mit nur 200 000 Soldatinnen und Soldaten, die (Beifall der Abg. Omid Nouripour [BÜND- sich aber gut ausgerüstet und ausgebildet auf die von uns NIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr. Hans-Peter Politikern zu definierenden Aufgaben konzentrieren. Bartels [SPD]) Übrigens machen Sie in der Frage der Wehrpflicht Sie sind da noch mehr umgefallen als die SPD, die sich einen Schritt, der es verhindert, in diese Richtung voran- damals bei der Frage, ob die Mehrwertsteuer um 2 oder zukommen. Es ist ja eine interessante Situation: Die 0 Prozentpunkte angehoben werden soll, mit der Union FDP hat versprochen, die Wehrpflicht abzuschaffen oder auf einen Aufschlag von 3 Prozentpunkten geeinigt hat. 1324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Alexander Bonde (A) Herr Koppelin, bei Ihnen ist es jetzt wie damals bei der legten Preis erhältlich sind. Wenn das jetzt wieder aufge- (C) Mehrwertsteuer: schnürt wird, weiß ich nicht, wie die Bundeswehr ein weiteres Großprojekt steuern können soll, wenn am (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ende immer der den Wettbewerb gewinnt, der am meis- der FDP – Hellmut Königshaus [FDP]: Das ist ten verspricht und zum Schluss die Hand aufhält, um ja albern!) noch mehr zu kassieren, und dabei weniger liefert. Dieser Kompromiss übertrifft selbst die Forderung des (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das habt ihr Koalitionspartners und macht es noch schlechter. Das ist doch getan! Ihr habt doch bestellt!) eine weitere Wahrheit über die Liberalen in der Koali- tion. Ausdruck der industriepolitischen Ausrichtung dieses Hauses ist, dass die Themen Arbeitsplätze und Indus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) triepolitik wieder das Faustpfand dafür sind, um das Es steht eine Grundsatzentscheidung an. Wir sehen Geld aus dem Etat des Ministeriums herauszuziehen, schon heute an Afghanistan, dass die Frage ziviler Fä- statt es in die Ausrüstung der Bundeswehr zu stecken. higkeiten dabei eine Rolle spielen muss. Wir haben (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Ihr habt be- heute wieder viel über Polizisten und Ähnliches gehört. stellt! Natürlich!) Am 30. November vergangenen Jahres waren nach Aus- kunft der Bundesregierung 29 deutsche Polizisten an der Ich bin davon überzeugt, dass die Strategie, aus die- EU-Mission beteiligt; an der nationalen Mission waren sem Etat Industrieförderung zu bezahlen und nicht das 113 Polizisten beteiligt. Spannend wird es, wenn man zu beschaffen, was die Bundeswehr braucht, nicht nur nachfragt, wie viele davon wirklich praktische Polizei- den Steuerzahler Geld kostet, dem keine Leistung ge- ausbildung betreiben: Das sind noch 73. Herzlichen genübersteht, sondern auch Arbeitsplätze und die Inno- Glückwunsch! Wir sind gespannt, ob Sie in Bezug auf vationsfähigkeit der für uns durchaus wichtigen Luft- den deutschen Beitrag mit ähnlich jämmerlichen Zusa- fahrtindustrie massiv gefährdet. Das ist die Wahrheit gen aus London zurückkehren. Sie haben, was die Be- zum Thema Arbeitsplätze, wenn es um die Auseinander- deutung dieser Konferenz angeht, die Hürde hoch gelegt. setzung mit EADS geht. Wir werden Sie konkret daran messen, was für den Wie- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ deraufbau, für Mechanismen der zivilen Konfliktbewäl- DIE GRÜNEN) tigung herauskommt, auch im Hinblick auf die Frage, wie wir denjenigen, die vor Ort Hilfe leisten, und denje- Ich will Sie darin bestärken, Herr Minister, dass Ver- nigen, die vor Ort Unterstützung erhalten, eine konkrete trag Vertrag ist. Ich erwarte, dass die Bundesregierung eine klare Haltung einnimmt. Es kann nicht darum ge- (B) Perspektive aufzeigen können, die endlich vom militäri- (D) schen Weiter-so Abstand nimmt. hen, mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzah- ler Beschaffungen für die Bundeswehr fortzusetzen, die Ich habe bereits die finanziellen Realitäten und die keinem helfen, der für uns in Einsätze geht, die keine Si- Dinosaurierstrukturen dieses Haushalts benannt. Es ist cherheit schaffen, sondern die dazu dienen, bestimmte übrigens spannend, dass der Verteidigungsminister, der Industriezweige zu subventionieren und künstlich jen- das Amt mit großem ordnungspolitischem Nimbus ange- seits des Bedarfes zu unterstützen. treten hat, zu einer brandaktuellen Frage überhaupt nicht Stellung bezogen hat. Mich würde schon interessieren, Vizepräsidentin : was der Marktwirtschaftler und Ordnungspolitiker Karl- Herr Kollege Bonde, achten Sie bitte auf die Zeit. Theodor von und zu Guttenberg eigentlich dazu sagt, dass die Bundesrepublik einen eindeutigen Vertrag mit einem Rüstungshersteller geschlossen hat, der seit Wo- Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen massiv erklärt, weshalb Verträge für ihn nicht gel- Das ist eine wichtige Fragestellung, wenn man be- ten. Es geht um den A400M. Es ist unbekannt, welche denkt, wie sich die Strukturen Ihres Haushaltes entwi- Zahl, welche Leistung und welcher Preis herauskommen ckeln. Wir schauen genau hin, ob Sie Ihren ordnungspo- sollen. litischen und sicherheitspolitischen Ansprüchen gerecht werden. Auch in dieser Hinsicht hat dieser Einzelplan Es ist schon interessant, wie dort agiert wird. Auf- noch einen weiten Weg vor sich. grund der Politik, die seit Jahren im Bereich des Bundes- verteidigungsministeriums, des Einzelplans 14, betrie- Herzlichen Dank. ben wird, ist es aber folgerichtig: Der A400M war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) immer umstritten. Es gab Alternativen, die technolo- gisch besser zu beherrschen gewesen wären. Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Aber doch Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck für die nicht für die Grünen! Ihr habt doch mitbe- Unionsfraktion. stellt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese Alternativen kamen deshalb nicht zum Zug, weil die EADS dieses Angebot auf den Tisch gelegt hat, weil Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): sie zugesichert hat, dass es technisch beherrschbar ist, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- weil sie zugesagt hat, dass diese Leistungen zum festge- ginnen und Kollegen! Der vorliegende Verteidigungs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1325

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) haushalt ist der erste, den die christlich-liberale Koali- Ich verstehe diesen Haushaltsansatz im Einzelplan 14 (C) tion im Deutschen Bundestag vorlegt. Die Botschaft ist im Sinne der gemeinsamen sicherheitspolitischen Ver- eindeutig: Wir halten Kurs. An der Sicherheit Deutsch- antwortung. Herr Kollege Bonde, Sie sehen, dass ich lands und seiner Soldatinnen und Soldaten im Einsatz mich an Ihre Vorgabe halte und zum Einzelplan 14 spre- wird nicht gespart. Die Bundeswehr ist auch nicht der che. Finanzsteinbruch des Bundeshaushaltes. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) NEN]: Gut!) Mit dem auf dem Vorjahresniveau konsolidierten Mit rund 31,4 Milliarden Euro bleibt der Verteidigungs- Etatansatz können alle wichtigen Zukunftsprojekte bei etat gegenüber dem Vorjahr nahezu stabil. Damit ist si- Personal, Ausrüstung und Unterbringung realisiert wer- chergestellt, dass die wichtigsten Projekte der Transfor- den. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Weltwirt- mation und der materiellen Modernisierung fortgeführt schaftskrise eine Kraftanstrengung, für die ich dem Ver- werden können. teidigungsminister an dieser Stelle ausdrücklich danke. Besonders hervorheben möchte ich die Anstrengun- Als Verteidigungspolitiker kommt es mir ganz beson- gen im Bereich Vereinbarkeit von Familie und Beruf ders darauf an, Leib und Leben unserer Soldatinnen oder von Familie und Dienst. Die Bundeswehr steht in und Soldaten im Einsatz optimal zu schützen. Denn der Mitte der Gesellschaft und darf von familienför- wir Abgeordnete tragen ungeachtet aller Partei- und dernden Maßnahmen nicht ausgeschlossen werden. Fraktionsgrenzen eine gemeinsame Verantwortung für Dieser Aspekt ist zunehmend wichtig für die Entschei- die Bundeswehr als Parlamentsarmee. Ich möchte an dung junger Menschen bezüglich Familie und Soldaten- dieser Stelle ausdrücklich daran erinnern. beruf. Deshalb rege ich an, dass die Verantwortlichen der Bundeswehr ihre Anstrengungen in diesem Bereich wei- Ich möchte auch daran erinnern, dass hinter all den ter steigern. nüchternen fiskalischen Daten Menschen stehen, die in unserem Auftrag und im Namen unseres Landes für Si- Eng mit der Attraktivität von Streitkräften verbunden cherheit und Frieden in der Welt kämpfen. Die Soldatin- ist auch eine gute Sanitätsversorgung. Deshalb muss nen und Soldaten stehen mit ihrem Leben und ihrer Ge- die Lage im Einsatz und im klinischen Bereich auf ho- sundheit für diesen Auftrag, den wir ihnen erteilt haben, hem Niveau erhalten werden. Zu diesem Komplex der ein. Fürsorge gehört auch die Erkennung und Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Hierbei Ich möchte die Gelegenheit nutzen – nicht nur, weil geht es nicht nur um die einsatznahe Nachbehandlung, auf der Tribüne Marinekameraden sitzen –, im Namen sondern auch um die Langzeitbehandlung und die Einbe- (B) (D) meiner Fraktion unseren Soldatinnen und Soldaten, den ziehung von Angehörigen in die Therapie. Ich bin daher zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundes- dankbar, dass CDU/CSU und FDP diese Problematik in wehr ein herzliches Dankeschön zu sagen. Sie erfüllen dieser Legislaturperiode schwerpunktmäßig angehen ihren Einsatz unter gefährlichen Rahmenbedingungen wollen. und stehen für die Sicherheit Deutschlands ein. Mein be- sonderer Dank gilt auch den Familienangehörigen, die Erfreulich ist, dass die Personalkosten aufgrund des den Soldatinnen und Soldaten bei der Aufgabenerfüllung Abbaus bei zivilen Arbeitnehmern weiter leicht gesun- zur Seite stehen. Es ist sehr wohl klar, welch entschei- ken sind. Umso wichtiger bleibt es, dass die Bundes- denden Anteil diese daran haben. Ich bin auch der Auf- wehrangehörigen auch aufgabenbezogen bezahlt wer- fassung, dass sie von uns oft nicht in ausreichender den. Die Schere zwischen Dienstposten auf der einen Weise gewürdigt werden. und Besoldung auf der anderen Seite muss schnellst- möglich geschlossen werden. Ich bin zuversichtlich, (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem dass der vorliegende Haushaltsentwurf auch in diesem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Bereich die nötigen Spielräume eröffnet. Michael Groschek [SPD]) Ebenso kann die dringend notwendige Renovierung Mir ist es unverständlich, dass einige versuchen, die- der Kasernen im Westen unserer Republik fortgesetzt sen Einsatz zu diskreditieren. Natürlich kann Militär al- werden. Als attraktiver Arbeitgeber muss die Bundes- lein keinen staatlichen Aufbau gewährleisten – das sagt wehr über zeitgemäße Infrastruktur verfügen. Das be- eigentlich auch niemand, der seine sieben Sinne beiei- trifft die Unterbringung ebenso wie den Zugang zu mo- nander hat –, aber Militär schafft einen notwendigen Si- dernen Kommunikationsmitteln. Bei dieser Gelegenheit cherheitsschirm, unter dem ziviler Aufbau vorangetrie- darf ich vielleicht darauf hinweisen, dass auch die Unter- ben werden kann. Im Kosovo – das wird klar, wenn wir bringung in den Einsatzländern deutlich verbessert wer- uns die Dinge dort näher anschauen – führte genau die- den konnte. Der Standard unserer Feldlager gehört im ses Vorgehen zum Erfolg. Darum unterstützen wir die internationalen Vergleich, wie ich meine, zur Spitzen- Bundesregierung und insbesondere den Verteidigungs- gruppe. minister zu Guttenberg in seinen Bemühungen, die af- ghanische Regierung stärker in die Pflicht zu nehmen Die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im und dem militärischen Mandat eine zeitliche Perspektive Einsatz und damit die Attraktivität unserer Bundeswehr zu geben. hängen entscheidend von der Qualität und der Moderni- tät der Ausrüstung ab. Daher begrüße ich es ausdrück- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) lich, dass trotz der geringen Abstriche im Bereich der in- 1326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) vestiven Ausgaben die Beschaffung der wichtigen Wenn zum Beispiel die Bundeswehr die Ausbildung der (C) Ausrüstung fortgeführt werden kann. afghanischen Polizei betreibt – das ist wichtig und rich- tig –, ist das nicht eine unmittelbar streitkräftespezifi- Das Heer als Hauptträger unserer Einsätze benötigt sche Aufgabe. Ich glaube, darüber sind wir uns im weitere geschützte Fahrzeuge. Vertrauen in das eigene Klaren. Die zusätzlichen Fahrzeuge für die Ausbil- Gerät ist Voraussetzung für die Auftragserfüllung durch dungsteams der Bundeswehr müssen dann durch zusätz- unsere Soldatinnen und Soldaten. Mit dem in diesem liche Anstrengungen im Gesamthaushalt finanziert wer- Etat erstmalig veranschlagten Schützenpanzer Puma ver- den. fügt das Heer in Zukunft über ein leistungsfähiges und hochgeschütztes Gefechtsfahrzeug für den Einsatz in al- Die Bundeswehr steht vor großen Aufgaben. Die len denkbaren Szenarien. Neuausrichtung und Transformation im laufenden Ein- satz sowie eine Neugestaltung der Wehrpflicht sind nur Eminent wichtig für die Einsatzfähigkeit der Bundes- einige Stichworte. Lassen Sie mich kurz ein paar Worte wehr ist und bleibt die strategische Lufttransportka- zur Wehrpflicht sagen. Herr Kollege Bonde, es geht pazität. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht darum, noch mehr Leute ungerecht zu behandeln, vorhin angesprochen worden: Wir brauchen dringend sondern es geht in diesem Zusammenhang um Wehrge- das neue Transportflugzeug A400M im Einsatz. Es muss rechtigkeit. deshalb im Schulterschluss mit unseren Partnern und der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Industrie ein für alle Seiten gangbarer Weg gefunden der FDP) werden, um dieses Projekt weiterzuführen und die ent- sprechenden Fähigkeiten in absehbarer Zeit zu beschaf- Ich sage es ganz offen: Ich bin froh, dass wir hier einen fen. Kompromiss gefunden haben, der die Wehrpflicht im Prinzip erhält. Die Ausgestaltung mit den sechs Monaten Die Marine wird mit der im Zulauf befindlichen ist eine Herausforderung an die Fantasie, den Dienst Korvette 130 die maritimen Einsätze zukünftig besser sinnvoll und attraktiv zu gestalten. schultern können. Diese modernen Schiffe werden eine spürbare Entlastung des Personals im Einsatz zur Folge (Zuruf von der SPD) haben und damit auch die Attraktivität des Soldatenbe- Es geht auch darum, bestimmte Spielräume für Flexibili- rufs heben. tät – W 12, W 15, W 18 – zu eröffnen, auch für den Frei- Was aber nützen Finanzmittel, wenn die Ausrüstung willigendienst. Das gilt übrigens auch für den Zivil- nicht zeitgerecht geliefert wird? Hier wurde in der Ver- dienst. Hier wird von den Hilfsorganisationen eine größere Flexibilität erwartet. Ich glaube, dass wir hier (B) gangenheit oft allzu optimistisch kalkuliert. Dies mag (D) vielleicht in Zeiten des Kalten Krieges noch hinnehmbar von unseren jungen Leuten das entsprechende Engage- gewesen sein, in Zeiten, in denen wir die Dinge im Ein- ment erwarten können. satz dringend brauchen, ist dies jedoch nicht hinnehm- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bar. Die Bundeswehr muss sich auf die Beschaffungszu- sagen der Industrie verlassen können. Die Soldatinnen Einen Mix aus Pflicht- und Freiwilligendienst für diese und Soldaten im Einsatz benötigen keine Perspektive auf Gemeinschaft ist das, was wir brauchen. optimale, sondern auf einsatzbereite Ausrüstung. Herzlichen Dank. Ein Wermutstropfen im Bereich der verteidigungsin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vestiven Ausgaben sind die Abstriche bei Forschung und Entwicklung. Zwar können die begonnenen Vorha- Vizepräsidentin Petra Pau: ben fortgeführt werden, aber für neue Vorhaben stehen Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann für nicht genügend Mittel zur Verfügung. Ich meine, dass die SPD-Fraktion. wir diesen Umstand schnellstmöglich beenden müssen. Wir wollen nicht an der Zukunftsfähigkeit der Bundes- (Beifall bei der SPD) wehr sparen. Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf die Aus- Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): gaben für internationale Einsätze lenken. Die zur Ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! fügung stehenden Mittel sind um 25 Millionen Euro er- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den ersten höht worden; so weit, so gut. Dennoch sollten Ausgaben, Blick erscheint der Regierungsentwurf des Verteidi- die aufgrund von sicherheitspolitischen und gesamtpoli- gungshaushaltes 2010 stabil und solide. tischen Vorgaben auf die Bundeswehr zukommen, künf- (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Und auf den tig von dem allgemeinen Haushalt, sprich dem zweiten Blick?) Einzelplan 60, getragen werden. Die Kosten für die Si- cherheitsvorsorge Deutschlands dürfen nicht allein vom Die Ausgaben bleiben gegenüber denen in 2009 nomi- Verteidigungshaushalt getragen werden müssen und da- nell konstant, allerdings wird uns die mittelfristige Fi- mit den finanziellen Spielraum der Bundeswehr massiv nanzplanung, die im Rahmen der Haushaltsberatungen einengen. nicht neu vorgelegt worden ist, in den Jahren danach, ab dem Haushaltsjahr 2011, vor gewaltige Herausforderun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen stellen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1327

Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (A) Sehr geehrter Herr Minister zu Guttenberg, ich meine, und Nieren prüfen. Ich kann Ihnen an dieser Stelle auch (C) es gehört auch bei der ersten Lesung eines Bundeshaus- sagen, worauf es uns dabei ankommt. Wir haben immer haltes dazu, dass Sie hier im Parlament etwas zum Haus- gesagt, dass wir alles tun, damit unsere Soldatinnen und halt sagen und nicht nur Allgemeinplätze zum Ausdruck Soldaten bei ihren gefährlichen Auslandseinsätzen, bringen. speziell in Afghanistan, optimal ausgerüstet und ge- schützt sind; dazu stehen wir auch in der Opposition. (Beifall bei der SPD) Deshalb müssen wir uns in den laufenden Haushaltsbe- Denn auch das haben die Soldatinnen und Soldaten und ratungen intensiv mit der Frage beschäftigen, ob und wo die zivilen Kräfte der Bundeswehr mehr als verdient. sich aufgrund der verschärften Sicherheitslage eventuell Auch ich will hier für meine Fraktion allen Soldatinnen materielle Engpässe bei der Schutzausrüstung abzeich- und Soldaten und den zivilen Kräften für ihren Einsatz nen. Sollten solche Engpässe zu erwarten sein, ist ein im Inland und im Ausland sehr herzlich danken. Auch schnelles Nachsteuern für uns selbstverständlich. ich beziehe die Familienangehörigen ausdrücklich mit Auch über die Personalausgaben ist schon gesprochen ein. worden. Sie sollen um 172 Millionen Euro sinken. Dies (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird im Wesentlichen mit dem Abbau des Zivilperso- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- nals begründet. Ich will für meine Fraktion ausdrücklich SES 90/DIE GRÜNEN) erklären: Die Axt darf nicht nur bei den zivilen Stellen der Bundeswehr angelegt werden. Hier wird eine wichtige und wertvolle Arbeit für unser Land geleistet, für die jede Soldatin, jeder Soldat und je- (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat Herr der Zivilbeschäftigte nicht nur Dank, sondern auch Re- Struck doch damals so beschlossen!) spekt und Anerkennung verdient. Wenn der Tarifvertrag im Jahr 2010 ausläuft, sollten wir Wer sich den Umfang der Staatsverschuldung in uns gemeinsam darum kümmern – Kollege Koppelin hat Höhe von 1 600 Milliarden Euro bzw. 1,6 Billionen ja ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten gefordert –, dass Euro vor Augen führt – ich sage das ohne Schuldzuwei- seine Geltungsdauer verlängert wird und, wenn über- sungen –, der wird in den nächsten Monaten – das gehört haupt, ein sozialverträglicher Abbau des zivilen Perso- zur Haushaltsklarheit und -wahrheit und zur Ehrlichkeit nals stattfindet. dazu, und das wird sich nach der Steuerschätzung im (Beifall bei der SPD) Mai dieses Jahres immer deutlicher herausstellen – nicht umhinkommen, einzugestehen, dass sich auch der Ein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 3. Februar die- zelplan 14 entsprechenden Sparmaßnahmen und Einspa- ses Jahres werden wir das erste Berichterstattergespräch (B) rungen nicht entziehen kann. im Bendlerblock, im Verteidigungsministerium führen. (D) Heute Morgen habe ich mir in Vorbereitung auf diese Zu den Beschaffungsvorhaben, durch die mehr als Debatte die Spar- und Streichliste der FDP-Fraktion 90 Prozent der Mittel gebunden sind, wurden bereits angeschaut. Ich meine jetzt nicht das Sparbuch der FDP. Ausführungen gemacht. Das, was gesagt wurde, kann Das ist etwas völlig anderes; denn da ist etwas drauf, und ich im Wesentlichen ausdrücklich bestätigen. Der linken zwar ein Guthaben. Seite des Hauses sage ich aber auch: Es macht keinen Sinn, aus dem Projekt A400M auszusteigen, weil unsere (Vereinzelt Heiterkeit) Probleme dadurch noch viel größer würden. Ich sage Ihnen voraus: In den nächsten Wochen, bis zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zweiten und dritten Lesung des Haushaltsentwurfs, wer- der CDU/CSU) den wir eine sehr spannende Auseinandersetzung erle- ben. Die Freien Demokraten haben 59 Einsparvor- Dann würden wir nämlich wieder bei null anfangen. Wer schläge gemacht. sich regelmäßig mit Beschaffungsvorhaben der Bundes- wehr beschäftigt, der weiß, dass wir dabei eigentlich (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Schreibt ihr noch nie bzw. nur sehr selten auf der sicheren Seite wa- die jetzt alle ab?) ren. Letztlich waren die Kosten eines Beschaffungsvor- Ich bin gespannt, ob die FDP diese Vorschläge in den habens immer höher als zu Beginn ermittelt. Haushaltsberatungen wiederholen wird oder ob sie, wie (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Damit sie es in den ersten Tagen ihrer Regierungsbeteiligung finden wir uns jetzt ab? Sehr schön!) getan hat, alles über Bord wirft, was sie in diesem Haus elf Jahre lang stets in den Fokus der Debatte und der Öf- – Damit muss man sich nicht abfinden. Wenn Sie von fentlichkeit gestellt hat. der linken Seite des Hauses aber solche Äußerungen ma- chen, dann muss es erlaubt sein, auch auf die weiteren (Hellmut Königshaus [FDP]: Ihr fordert, was Gefahren hinzuweisen. All das, was sich bei dieser Be- ihr bisher immer abgelehnt habt!) schaffungsmaßnahme bis Ende des Monats noch klären Bei einem Sparvorschlag, Herr Kollege Koppelin, hat muss, ist heute zum Teil schon zum Ausdruck gebracht Minister zu Guttenberg Ihnen schon den Gefallen getan: worden. Einen Staatssekretär nach Hause zu schicken, das war Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Haushaltsbe- ein konkreter Einsparvorschlag. Die Begründung, wa- ratungen der nächsten Wochen, bis zur zweiten und drit- rum man das tun solle, lautete: die Bürger entlasten. Mal ten Lesung, werden wir den Haushaltsentwurf auf Herz schauen, ob Sie in den Haushaltsberatungen dazu kom- 1328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (A) men, dass die Bürger entlastet werden. Ich glaube, wir froh, dass es uns in den vergangenen Jahren gemeinsam (C) werden uns in den nächsten Monaten vom Gegenteil gelungen ist, Weichen zu stellen. Ich erinnere mich noch überzeugen können. gut an die etwas schwierige Diskussion über die Ausstat- tung der Bundeswehr mit IED-Schutz, mit Schutzvor- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. richtungen gegen Sprengsätze. Wir wissen heute, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sprengsätze zu einer wesentlichen Gefährdung der Sol- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) datinnen und Soldaten geworden sind. Ich bin froh, dass die Bundeswehr den Weg in die richtige Richtung ge- Vizepräsidentin Petra Pau: gangen ist. Wir müssen die Beschaffung in Zukunft nach Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP- den für den Einsatz erforderlichen Fähigkeiten ausrich- Fraktion. ten. Der Haushalt ist belastet durch Investitionsentschei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dungen, die in der Vergangenheit getroffen wurden. Wir der CDU/CSU) können aus diesen Investitionen nicht von heute auf morgen aussteigen. Zum A400M hat die Koalition aber Elke Hoff (FDP): eine klare Vereinbarung gefasst: dass die Verträge einzu- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen halten sind. und Kollegen! Wenn wir in den Angeboten, die die SPD macht, Einsparvorschläge unserer Fraktion wiederfin- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der den, werden wir unser Copyright geltend machen. CDU/CSU – Ernst-Reinhard Beck [Reutlin- gen] [CDU/CSU]: Das ist Wunschdenken! Da (Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin ist der Wunsch der Vater des Gedankens!) [FDP]) Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung berück- Wir werden sehen, wie sich das im Einzelnen darstellt. sichtigt, was die sie tragenden Fraktionen sinnvoller- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, weise vereinbart haben. dass sich die neue Bundesregierung in ihrem Koalitions- Die Bundeswehr hat die Strukturanpassungen, die vertrag auf ein sicherheitspolitisches Arbeitsprogramm infolge der Machtverschiebungen nach dem Ende des verständigt hat, das die Interessen unseres Landes abbil- Kalten Krieges und angesichts der Bedrohung durch den det und bei konsequenter Umsetzung auch für die Zu- internationalen Terrorismus notwendig geworden sind, kunft sicherstellen wird, dass die Bundeswehr ein leis- leider bis zum heutigen Tage nicht ausreichend vollzo- tungsfähiges Instrument deutscher Sicherheitspolitik gen. Der eingeschlagene Transformationsprozess führte (B) (D) bleibt – unverzichtbar für den Schutz Deutschlands wie bisher nicht zu einer erfolgreichen Entwicklung und ge- für Krisenvorsorge und Krisenbewältigung auf interna- nießt in der Bundeswehr keinen besonders guten Ruf. In tionaler Ebene. diesem Bereich ist eine grundlegende Neuausrichtung Lieber Paul Schäfer, du hast eben mehr oder weniger notwendig; denn die sicherheitspolitischen Herausforde- gegeißelt, dass die Bundeswehr in internationalen Ein- rungen werden in Zukunft nicht enden. sätzen tätig ist. Die zukünftigen Konflikte sind interna- Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass eine Kom- tionalisiert. Wenn wir uns den Einsatz der Bundeswehr mission eingesetzt wird, die bis Ende 2010 die Eck- in maritimen Operationen anschauen, muss ich sagen: punkte einer neuen Organisationsstruktur der Bun- Die Bundeswehr ist ein unverzichtbarer Bestandteil in- deswehr erarbeiten soll. Das ist nicht Ausdruck einer ternationaler Kooperation. Ich glaube, dass die Bundes- Kommissionitis des Verteidigungsministers, Kollege wehr schlecht beraten wäre, sich von solchen gemeinsa- Bonde, sondern das haben die Fraktionen miteinander men Aktionen fernzuhalten. vereinbart. Auch das ist in der Vergangenheit in dieser (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Klarheit und Form nicht gelungen. Ich gehe auch davon der CDU/CSU) aus, Herr Verteidigungsminister zu Guttenberg, dass diese Expertenrunde in den nächsten Monaten die Wei- Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass die Solda- chen für diesen notwendigen Prozess stellen und es eine ten der Bundeswehr, die im Ausland im Einsatz sind, ein Selbstverständlichkeit sein wird, dass dies auch in enger Aushängeschild der Bundesrepublik Deutschland dar- Kooperation zwischen Ministerium und den Fraktionen stellen. Ich habe bei vielen Besuchen feststellen können, erfolgen wird, da eine breite Rückendeckung bei der dass die Präsenz unserer Soldatinnen und Soldaten in in- Neuausrichtung der Bundeswehr auch hier im Parlament ternationalen Strukturen das Ansehen unseres Landes vonnöten ist. Unsere Soldaten müssen wissen, dass der mehrt und unterstreicht. Darauf möchte ich ungern ver- Deutsche Bundestag diese neuen Strukturausrichtungen zichten. in aller Breite mitträgt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der CDU/CSU) Wir haben eben zum gefundenen Kompromiss zur Natürlich – ich denke, das ist überwiegend Konsens Wehrpflicht einige Einlassungen der Kolleginnen und in diesem Hause – benötigen die Soldatinnen und Solda- Kollegen gehört. Nach unserer Auffassung ist eine Aus- ten für den gefährlichen Einsatz, in den sie gehen, die setzung der Wehrpflicht die richtige Zukunftsausrich- bestmögliche Ausrüstung und Ausstattung. Ich bin tung; gleichzeitig haben wir aber auch immer betont, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1329

Elke Hoff (A) dass es um Wehrgerechtigkeit geht. Insofern kann man Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geben wird, (C) jetzt nicht der FDP den Vorwurf machen, wir würden die sind wirklich der Maßstab für alle weiteren Entscheidun- Türe dafür öffnen, dass mehr Grundwehrdienstleistende gen in dieser Frage. Unsere Soldatinnen und Soldaten eingezogen werden. Vielmehr war dies ein Aspekt unse- haben an dieser Stelle Klarheit und unsere Rückende- rer Vorstellungen zur Wehrpflicht. Ich glaube, dass der ckung verdient. gefundene Kompromiss einen Anreiz dafür bedeutet, die Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. bestehenden Einberufungsstrukturen auf den Prüfstand zu stellen. Dadurch muss die Bundeswehr ihre Anstren- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gungen verstärken, sich so attraktiv zu machen, dass die jungen Wehrpflichtigen sagen: Jawohl, hier will ich blei- Vizepräsidentin Petra Pau: ben, hier habe ich eine berufliche Perspektive. Das Wort hat der Kollege Ulrich Meßmer für die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten SPD-Fraktion. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Der Bundesverteidigungsminister hat jetzt die Möglich- keit, das Thema Wehrgerechtigkeit anzufassen. Diesen Ullrich Meßmer (SPD): Vorgang werden wir konstruktiv begleiten. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Haushalt in dieser Größenordnung bewegt eine Menge. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Einsätze Man kann ja auch viel kritisieren und dies immer unter der Bundeswehr sind in den letzten Jahren immer ge- das Wort „Rüstung“ fassen. Aber hinter dem Wort „Rüs- fährlicher geworden. Heute ist hier von vielen Kollegen tung“ stehen – zumindest nach meiner Einschätzung und dankenswerterweise das wichtige Thema PTBS, post- Erkenntnis – auch viele Menschen, die davon leben, de- traumatische Belastungsstörungen, angesprochen ren Existenz davon abhängt. Auch bei denen, die uns be- worden. Deswegen bin ich auch froh, dass es hier ge- liefern – ich möchte das Stichwort „A400M“ aufgreifen –, lungen ist, die Umsetzung des damals einstimmig ge- stehen Menschen dahinter. Wenn ich das Handelsblatt fassten Beschlusses des Deutschen Bundestages in die von heute richtig gelesen habe, Herr Minister, dann ist Koalitionsvereinbarung aufzunehmen. Herr Minister, wohl klar, dass die Verantwortlichkeit für die fehlenden ich bin sehr zuversichtlich, dass Sie in Ihrem Hause sehr Milliarden weder bei der Vertragsgestaltung der Vorgän- rasch dafür sorgen werden, dass dieser einstimmig be- gerregierung noch bei der Abwicklung im Ministerium schlossene Wunsch des Parlamentes für unsere Soldatin- zu suchen ist, sondern eindeutig beim Management der nen und Soldaten wirklich umgesetzt wird. EADS. Deshalb habe ich die herzliche Bitte: Wenn hier (B) Der wichtigste Einsatz der Bundeswehr wird natür- verhandelt wird, dann müssen die Interessen der Steuer- (D) lich in den nächsten Monaten und Jahren absehbar die zahler gewahrt werden. Es dürfen nachher allerdings ISAF-Mission in Afghanistan sein. Wir werden uns nicht die Arbeitnehmer bei EADS die Leidtragenden auch im Deutschen Bundestag mit einer Neuausrichtung sein. „Hart sein“ darf nicht bedeuten, dass die Men- der strategischen Überlegungen und Grundlagen für die- schen, die eine gute Arbeit für unsere Bundeswehr leis- sen Einsatz auseinandersetzen müssen. ten, auch im fliegenden Bereich – davon kann man sich jeden Tag überzeugen –, nachher die Leidtragenden oder Herr Minister, Sie haben den Begriff des Partnerings die Opfer eines solchen Skandals sind. Ich habe die herz- heute hier im Deutschen Bundestag erwähnt. Ich halte liche Bitte, dies dabei zu berücksichtigen. dies für einen sinnvollen Ansatz. Aber wir müssen auch gleichzeitig die Frage stellen, ob die Bundeswehr in ih- (Beifall bei der SPD) rer jetzigen Grundausrichtung dazu in der Lage ist, die Ich möchte ein aktuelles Ereignis ansprechen, weil notwendigen Anforderungen des Partnerings zu erfüllen. mich die Bilder davon bewegen; ich weiß nicht, wie Ih- Ich gehe davon aus, dass wir uns, wenn dies zu einer nen das geht. Ich habe im Fernsehen eben noch Bilder Grundlage für den zukünftigen Einsatz werden sollte, von Haiti jetzt nach dem neuen schweren Erdstoß gese- sehr rechtzeitig über die notwendigen Strukturen unter- hen. Die Lage dort ist für die Menschen katastrophal: für halten. Für mich ist ein Thema – das mag zunächst etwas die Bevölkerung, für die internationalen Helfer, aber banal klingen –, dass die Bundeswehr dann, wenn sie auch für alle anderen, die helfen wollen. Ich bin mehr- beim Partnering mitmacht, in der Lage sein muss, mit fach darauf angesprochen worden, ob es nicht mögli- genügend Sprachmittlern diese Aufgabe für die Afghan cherweise auch seitens der Bundeswehr Unterstützung National Army zu erfüllen. Dies ist ein wichtiger Punkt, und Hilfe geben kann, ähnlich wie sie bei dem Tsunami den wir in unserer Verantwortung noch intern klären damals geleistet worden ist. Hier wäre sicherlich die müssen. Frage etwa an die Marine zu richten, was geht. Ich bin eigentlich sicher, dass man sich darüber schon Gedanken Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen in macht. Zügiges Handeln ist hierbei erforderlich. den nächsten vier Jahren vor großen haushalterischen, strukturellen und auch außenpolitischen Herausforde- Ich glaube, dass beim Verteidigungshaushalt häufig rungen, was die Ausrichtung der Bundeswehr angeht. nicht gesehen wird, wie viele Menschen davon abhän- Ich hoffe, dass wir ihnen gemeinsam gerecht werden. gen. Wir muten den Bediensteten, aber auch den Fami- Die Signale, Herr Kollege Arnold, die heute von Ihnen lien bei der Veränderung der Bundeswehr eine ganze gekommen sind und die besagen, dass es einen mög- Menge zu; Frau Hoff, da gebe ich Ihnen durchaus recht. lichst breiten Konsens über die weitere Entsendung der Wenn die Bundeswehr in Zukunft etwas bedeuten soll, 1330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Ullrich Meßmer (A) dann muss sie auch ein attraktiver Arbeitgeber sein; Ich erlebe es regelmäßig im Bereich der Behindertenaus- (C) ich will nicht sagen „werden“; das würde möglicher- bildung, aus dem ich selbst komme, dass sich das Hee- weise Widerspruch heraufbeschwören. Sie muss daran resmusikkorps engagiert und Maßnahmen für behinderte arbeiten, dass sie zukünftig ein attraktiver Arbeitgeber Menschen entsprechend unterstützt werden. Das Musik- ist und als solcher auch erkennbar ist. Dafür muss noch korps hat sich selbst in Bereichen der Gesellschaft, von eine ganze Menge getan werden. „Attraktivität“ heißt denen man das vielleicht nicht vermutet, ungeheuer hohe natürlich, dass Aus- und Weiterbildung ins Zentrum ei- Anerkennung erworben. ner beruflichen Entwicklung rücken müssen. Es muss Wenn es um die Umsetzung von Maßnahmen geht, berufliche Perspektiven geben. Es muss die Möglich- werden wir auf Ihr Angebot zurückkommen. Wir wollen keit geben, wie in der Wirtschaft Karrieren zu gestalten die Einrichtung eines Unterausschusses vorschlagen, um – das bekomme ich immer mit –, Karrieren aber auch die Modernisierungsmaßnahmen zu begleiten und zu un- planbar zu machen. Ich meine, dass sich die Bundeswehr terstützen. Dabei wird sich zeigen, Herr Minister, ob mehr noch auf die Bedürfnisse junger Menschen und eine Zusammenarbeit mit den übrigen Fraktionen des junger Familien einstellen muss und mehr dafür tun Hauses tatsächlich gewollt ist und ob Anregungen aufge- muss, dass auch junge Familien ein Interesse daran ha- griffen werden. ben, ihre Lebensplanung dort zu verwirklichen. Wir sind jenseits der aktuellen aufgeregten Diskus- Ich weiß, dass dies bei den besonderen Aufgaben sehr sion gerne dazu bereit. Wir werden sehen, wie sich das schwierig ist; das braucht mir niemand zu sagen. Es Ganze entwickelt. Ich bin sehr gespannt, wie die Anre- wäre spannend gewesen, in diesem Haushalt ein paar gungen auch meiner Fraktion aufgenommen werden. Antworten darauf zu finden. Ich glaube nämlich schon, Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. dass dies Auswirkungen auf künftige Investitionen hat, ob das Wohnungen, Kinderbetreuungsmöglichkeiten (Beifall bei der SPD) oder Ähnliches betrifft. Es muss sich im Haushalt wider- spiegeln, dass die notwendigen Investitionen getätigt Vizepräsidentin Petra Pau: werden. Es ist viel gedankt worden – dem schließen wir Kollege Meßmer, das war Ihre erste Rede im Deut- uns ausdrücklich an; meine Vorredner aus der Fraktion schen Bundestag. Wir wünschen Ihnen auch in Ihrer haben es schon gesagt –, aber Dank allein reicht nicht weiteren Arbeit viel Erfolg. aus; es muss auch erkennbar werden, dass die Bundes- (Beifall) wehr ein attraktiver Arbeitgeber ist. Das bedeutet, dass in den Fragen von Besoldung und Aufstieg eine ganze Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Menge getan werden muss. Vor dem Hintergrund der Klaus-Peter Willsch. (B) (D) Diskussionen, die immer wieder geführt werden – ich (Beifall bei der CDU/CSU) habe sie auch im Fernsehen regelmäßig verfolgt –, muss klar sein: Wer eine Dienst- oder Arbeitsstelle bei der Ar- mee hat, braucht keine Angst vor der Zukunft oder vor Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): dem Alter zu haben. Hierbei stellen sich sicherlich eine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ganze Menge Fragen, auch was Gerechtigkeit und ent- Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kameraden von der Ma- sprechende Altersversorgung angeht. In diesem Zu- rine! Wenn wir heute den Verteidigungshaushalt beraten, sammenhang sollte man vielleicht so ähnlich, wie es in dann geht es um einen Bereich, der – schon in vordemo- kratischer Zeit – einen Kern staatlichen Handelns dar- der Wirtschaft der Fall ist, darüber nachdenken, ob nicht stellte. Die Sicherstellung der inneren Sicherheit und auch die Zeitsoldaten in den Genuss einer zusätzlichen Ordnung und der Schutz der Bevölkerung vor äußerer Altersversorgung kommen sollten. Bedrohung oder vor Freiheitsgefährdung von außen ge- (Beifall bei der SPD) hören zu den klassischen Aufgaben. Die Diskussionen über die Mandatierung von Ein- Ich selber habe erlebt, wie sich in der Wirtschaft Ver- sätzen zeigen, dass wir häufig sozusagen eine mediale änderungen ergeben und wie viel bereits heute dafür ge- Welt gegen uns haben, mit der wir umgehen müssen. tan wird, für die Menschen in Zukunft ein attraktiver Wenn wir in den Wahlkreisen nach diesem Thema ge- Arbeitgeber zu sein. Wenn sich die Bundeswehr in die- fragt werden – speziell denke ich an den Einsatz in Af- sem Bereich weiterentwickeln will, dann muss sie heute ghanistan –, dann merken wir, dass sich sehr viele dabei für junge Menschen attraktiv werden, damit sie auch in unwohl fühlen. Es ist kein Problem, die Unterstützung 20 Jahren kompetentes Personal hat, das gut ausgebildet der Öffentlichkeit für die Bundeswehr zu finden, wenn und in der Lage ist, eigenständig notwendige Entschei- es um die Vogelgrippe geht, wenn verendete Vögel ein- dungen im Rahmen des jeweiligen Aufgabengebietes zusammeln sind oder im Oderbruch Sandsäcke ge- oder auch Einsatzgebietes zu übernehmen. schleppt werden müssen. Ich lobe ausdrücklich auch das zivile Engagement Auch was die aktuelle Situation in Haiti angeht, ist der Soldatinnen und Soldaten in der Öffentlichkeit, meines Wissens bereits eine Übersicht über verfügbare ohne das viele kulturelle, aber auch sportliche Ereignisse Kapazitäten ans Auswärtige Amt übermittelt worden, nicht möglich wären. damit dort zentral gesteuert werden kann, welche Bun- deswehrkapazitäten und Teileinheiten zum Einsatz kom- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. men können. Bei solchen Einsätzen ist es immer sehr Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]) einfach, breite Sympathie für die Bundeswehr zu be- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1331

Klaus-Peter Willsch (A) kommen. Wenn es aber um Einsätze in ihrem eigentli- Damit komme ich – ich kann das verkürzt darlegen, (C) chen Kernbereich geht, wird es schwierig, weil wir auf weil andere Kollegen die einzelnen Posten schon durch- einmal in kriegerischen Situationen sind. Dass das nicht gegangen sind – zu den Haushaltszahlen selbst. Der einfach ist, wissen wir alle. Haushalt der Verteidigung ist durch die Einsätze der Bundeswehr geprägt. Wir erleben auch Neuerungen. Deshalb ist es für mich wichtig, dass es in der Frage Normalerweise geht die Verlaufskurve der einsatzbe- der Mandate eine breite Übereinstimmung in diesem dingten Mehrkosten bei Einsätzen nach einer gewissen Haus gibt. Wenn in diesem Haus ein Mandat erteilt wird, Zeit nach unten. Beim Einsatz in Afghanistan ist das gehört es dazu, dass wir als Bundestag einen Beschluss nicht der Fall. Hier geht die Kurve stetig nach oben. über die erforderliche Ausstattung und Ausrüstung für Wenn man mit Leuten spricht, die das Gerät unterhalten, dieses Mandat fassen. Das ist ein Gegenstand der Haus- das aus dem Einsatz zurückkommt, dann hört man fol- haltsdebatte über den Einzelplan der Verteidigung. gende Beschreibungen: Das Gerät wirkt, als ob es mit Wir tun gut daran, wenn wir Einsätze wie den in Af- Sandpapier geschmirgelt worden wäre. – Es muss also ghanistan nicht zu sehr überfrachten, zum Beispiel mit sehr viel mehr für die Materialerhaltung getan werden. Forderungen nach Frauenbeauftragten in allen Provinzen Wir sorgen dafür, dass das möglich ist. Wir werden das sowie dem Errichten einer vorbildlichen rechtsstaatli- in haushaltspolitisch sehr schwieriger Zeit in den nächs- chen Ordnung. Damit verheben wir uns in einem Land ten Jahren zu bewältigen haben. Ein schlichtes Festhal- wie Afghanistan, das vielleicht noch nicht die Vorausset- ten am Plafond ist relativ wenig vor dem Hintergrund zungen dafür hat. Wir spiegeln dann etwas vor, was ei- erstens einsatzbedingter Mehrausgaben und zweitens des gentlich nicht notwendig ist. Der Sinn des Einsatzes in Anwachsens der Versorgungslasten, die wir seit 2004/05 Afghanistan ist, der Bedrohung, die aus der Tatsache in den Einzelplänen berücksichtigen. Wir müssen uns herrührt, dass in diesem Land al-Qaida den Westen und nüchtern bewusst machen, dass es notwendig sein wird, unsere Art, zu leben, frontal angegriffen hat, entgegen- Mittel entweder an anderer Stelle im Haushalt des Ver- zuwirken. Das steht für sich alleine. Das Militär ist dafür teidigungsministeriums selbst oder in anderen Bereichen da, die Interessen unseres Landes notfalls auch im Aus- zu mobilisieren. Es kann kein Vertun geben: Wenn wir land zu vertreten bzw. die Freiheit Deutschlands am Hin- Soldaten in Einsätze schicken, dann müssen wir sie so dukusch zu verteidigen, wie es ein Amtsvorgänger von ausrüsten, dass sie unter größtmöglichem Schutz und mit Herrn Guttenberg gesagt hat. höchstmöglicher Wirksamkeit ihren gefährlichen Auf- trag erfüllen können. Das ist unsere Verantwortung als (Zuruf von der SPD: Die Sicherheit!) Parlament. Dafür stehen wir ein. – Richtig, die Sicherheit. – Ohne Überhöhungen und Il- Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den Großpro- (B) lusionen wäre es viel leichter, die in der Außenpolitik jekten sagen. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass (D) vorhandenen Notwendigkeiten und auch die militäri- sie in den Gesprächen, die jetzt geführt werden, auf die schen Einsätze rational zu begründen. Einhaltung von Verträgen pocht, denn das ist das Selbst- Das ist wichtig im Blick auf die Soldaten, die wir verständlichste der Welt. Wir haben dieses Thema im dorthin schicken, und ihr Empfinden. Ich erlebe immer Haushaltsausschuss intensiv beraten. Auch ich kenne wieder, wie hier in Deutschland am Schneidetisch in Menschen, die bei Firmen arbeiten, die betroffen sein Zeitlupe oder Zeitraffer und mit sieben Monitoren Situa- könnten, wenn der angedrohte Ausstieg aus dem Projekt tionen nachgestellt werden, in denen ein Soldat sofort mehr ist als Theaterdonner und Verhandlungsstrategie. handeln muss, wenn er nicht riskieren will, dass die ihm Es ist jedenfalls nicht klug, solche Verhandlungen in öf- anvertrauten Soldaten bzw. seine Kameraden zu Scha- fentlicher Debatte im Deutschen Bundestag zu führen. den kommen oder dass der Auftrag nicht erfüllt wird. Es Es ist notwendig, dass die Bundesregierung und die Re- ist aber ungeheuer schwierig, am Schreibtisch die Situa- gierungen der anderen Länder, die den A400M bestellt tionen, in denen sich die Soldaten befinden, nachzuvoll- haben, die Verhandlungen eingedenk der Tatsache füh- ziehen; denn die Soldaten nehmen die Situationen ganz ren, dass geschlossene Verträge einzuhalten sind und anders wahr. Es gab in der Welt am Sonntag einen Be- dass die Fähigkeiten, deren Fehlen zum Abschluss dieser richt eines deutschen Hauptmanns, der seit November Verträge geführt hat, der Truppe trotzdem zur Verfügung den Alltag in der Region Kunduz erlebt. Er schreibt: gestellt werden müssen; das erwartet das Parlament von der Regierung. In den Medien sind wir ja oft nur eine Randnotiz. Wenn’s nicht knallt, interessiert es keinen, was hier Die Union ist ein treuer Partner der Bundeswehr, und passiert. Als im Sommer die drei deutschen Solda- die christlich-liberale Regierungsmehrheit wird es auch ten gefallen sind, war das drei Tage lang in der hier im Parlament sein. Wir laden alle anderen herzlich Presse. Und dann ist Michael Jackson gestorben … ein, den Soldaten gerade bei den zentralen Fragen, bei denen es um den Einsatz, die Tüchtigkeit des Materials Ich glaube, die Medien haben den Auftrag und die Ver- dafür und die richtigen Einsatzbedingungen geht, zu zei- antwortung, sich um unsere Soldaten in positivem Sinn gen, dass sie eine Parlamentsarmee, dass sie eine Armee zu kümmern und Öffentlichkeit für sie herzustellen. des ganzen Parlaments sind. Ich wünsche uns gute Bera- Auch wir, die wir im Bundestag Debatten darüber füh- tungen für den Einzelplan 14. ren, müssen das Unsere dazutun, indem wir im richtigen Ton darüber reden und unsere Verantwortung gegenüber Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. den Soldaten, die wir in den Einsatz schicken, wahrneh- men. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Wir haben also eine gute Kombination von Vorsorge (C) Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen für unsere internationalen Verpflichtungen einerseits und nicht vor. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des einem klar erkennbaren Sparwillen vor dem Hintergrund Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen- der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise, in der un- arbeit und Entwicklung, Einzelplan 23. Das Wort hat ser Land je gewesen ist, andererseits. Wir machen deut- der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit lich, dass Entwicklungspolitik einen hohen Stellenwert und Entwicklung, Dirk Niebel. für diese Bundesregierung hat; deswegen wächst der Etat trotz aller schwierigen Rahmenbedingungen. Aber (Beifall bei der FDP) wir machen auch deutlich, dass wir in gesamtwirtschaft- liche Rahmenbedingungen eingebettet sind, die wir nicht Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu- zur Seite schieben können. sammenarbeit und Entwicklung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Was unsere internationalen Verpflichtungen anbe- Herren! Wenn man den Schmerz und die Verzweiflung trifft, werden wir im Bereich des Klimaschutzes – un- der Menschen in Haiti sieht, fällt es wohl keinem von sere Partnerländer sind vom Klimawandel weit überpro- uns leicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Ir- portional betroffen – einiges an Leistungen zu erbringen gendjemand hat gesagt, die Zustände seien geradezu haben, die heute noch nicht vollständig in den Haus- apokalyptisch. Ich glaube, das trifft es sehr gut. Deswe- haltsentwürfen abgebildet sein können, weil die Kopen- gen bin ich mir sicher, dass alle Mitglieder dieses Hauses hagener Konferenz leider kein Ergebnis gebracht hat. der Überzeugung sind, dass schnell, solidarisch und vor Wir werden auch vor dem Hintergrund dessen, was uns allem wirksam geholfen werden muss. die Afghanistan-Konferenz beschert und mit dem Wis- sen, dass diese Bundesregierung den Schwerpunkt des (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ zukünftigen Engagements auf die zivile Aufbauarbeit le- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen möchte, noch einiges mehr tun, als im Moment im CDU/CSU) Haushalt widergespiegelt sein kann, weil die Afghanis- Aus diesem Grund bin ich nicht nur für den Applaus tan-Konferenz noch nicht stattgefunden hat. auch der Opposition dankbar, sondern ich bin auch der Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass wir auch Bundesregierung dankbar, dass sie schnell reagiert hat. hier schon einige Erfolge vorweisen können, insbeson- Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen- dere im Norden, wo wir auch Verantwortung für die Si- arbeit und Entwicklung hat mittlerweile insgesamt cherheit tragen. 75 Prozent der Menschen im Norden Af- 5 Millionen Euro für Nahrungsmittelsoforthilfe zur Ver- ghanistans können mittlerweile durch Beschäftigung ein fügung gestellt. Zusammen mit den Mitteln des Auswär- eigenes Einkommen erzielen. 60 Prozent aller Kinder in (B) tigen Amtes aus Nothilfetiteln sind es insgesamt (D) 10 Millionen Euro für Maßnahmen der humanitären So- Nordafghanistan haben die Gelegenheit, eine Schule zu fort- und Nothilfe. Wenn man unseren 20-prozentigen besuchen. Wir werden dafür sorgen, dass mit dem weite- Anteil an der EU-Hilfe hinzurechnet – das sind noch ein- ren entwicklungspolitischen Engagement der Bundesre- mal etwa 60 Millionen Euro –, sind wir in einem Bereich publik diese Friedensdividende weiter ausgeweitet von ungefähr 70 Millionen Euro Soforthilfe, mit denen wird. wir unsere Solidarität mit den Menschen in Haiti bei der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ersten Runde der Hilfestellung deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Unser Haushaltsentwurf ist eindeutig ein Aufbruchs- signal, ein Signal, dass das Bundesministerium für wirt- Darüber hinaus werden wir uns auch mit dem Wieder- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder aufbau beschäftigen. Das sollten wir allerdings interna- das Schlüsselressort in Deutschland für die ODA werden tional abgestimmt im Rahmen einer gemeinsamen Ge- muss. Wir stellen uns nicht zuerst die Frage, ob der berkonferenz tun. Haushalt zu groß oder zu klein ist; zuerst stellen wir uns Haiti zeigt wieder eines: Entwicklungspolitik muss die Fragen: Ist unsere Entwicklungspolitik wirksam und schnell sein, aber Entwicklungspolitik muss auch lang- sichtbar? Sind multilaterale Maßnahmen effektiver? fristig wirken. Sie darf nicht nur Hilfe, sondern sie muss Werden privates Kapital und die private Wirtschaft zum auch Hilfe zur Selbsthilfe sein und die Selbsthilfekräfte Wohle unserer Partnerländer ausreichend eingebunden? in unseren Partnerländern stärken. Unter diesem Ge- Wird vor allem die Zivilgesellschaft gestärkt? Denn wir sichtspunkt ist der heutige Entwurf für den Haushalt wollen, dass wirkliche Veränderungen aus der Mitte der 2010 ein Entwurf mit einer klaren liberalen Handschrift. Gesellschaft, also aus der Zivilgesellschaft heraus, er- reicht werden, und zwar nicht nur in Deutschland, son- (Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin dern auch und vor allem in unseren Partnerländern. [FDP]) Wenn wir das mit der Frage kombinieren, ob wir mit un- Wir haben in diesem Haushalt einen Aufwuchs von serer Politik mehr Freiheit und Eigenverantwortung 67 Millionen Euro im Vergleich zum Jahre 2009 oder erreichen, und diese Frage bejahen können, dann können – anders formuliert – einen Aufwuchs von 44 Millionen wir sagen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Euro gegenüber den Vorgaben des letzten, abgewählten Man stellt fest, dass sowohl die mediale als auch die SPD-Finanzministers. oppositionelle Aufgeregtheit etwas weniger wird. Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zustimmung wird etwas größer. Dass das BMZ Armut der CDU/CSU) bekämpft, ist nicht falsch – richtig ist, dass private Wirt- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1333

Bundesminister Dirk Niebel:Niebel (A) schaftlichkeit Basis der Armutsbekämpfung ist. Vielen herzlichen Dank. (C) Budgethilfe ist nicht immer falsch, aber es ist richtig, sie kritisch zu überprüfen. China ist kein Entwicklungsland, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aber es ist richtig, China an den Lösungen globaler He- rausforderungen zu beteiligen. Multilaterale Ansätze Vizepräsidentin Petra Pau: sind nicht immer effizienter. Richtig ist es aber, die Effi- Das Wort hat die Kollegin Bärbel Kofler für die SPD- zienz bilateraler Arbeit zu stärken. Wir als Bundesregie- Fraktion. rung sind für Sie alle sehr leicht durchschaubar. Unsere (Beifall bei der SPD) Messlatte, an der wir uns messen lassen müssen, ist un- ser Koalitionsvertrag. Diesen werden wir in dieser Le- gislaturperiode unserem Handeln zugrunde legen. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und Kollegen! Ich kann mich in einem einzigen Punkt den Ausführungen des Ministers anschließen: Es ist Wir haben schon einiges geschafft, wenn auch noch dringend nötig, dass den Menschen in Haiti sehr schnell, lange nicht alles. Wir sind noch nicht einmal 100 Tage sehr unbürokratisch, sehr unkompliziert und sicher mit im Amt, aber Schwerpunkte sind klar erkennbar. Wir ha- mehr als 10 Millionen Euro Not- und Übergangshilfe ge- ben die Wirksamkeit und Sichtbarkeit der deutschen holfen wird. Entwicklungspolitik gestärkt. Statt mangelnder Abstim- mung haben wir eine bessere Kohärenz zwischen Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wicklungs-, Außen- und Außenwirtschaftspolitik schon DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der heute erreicht, und zwar dadurch, dass wir einfach etwas LINKEN) tun, was im zwischenmenschlichen Bereich üblich ist, Dann hören die Gemeinsamkeiten aber sehr schnell nämlich indem wir miteinander reden. auf. Ich muss sagen: Seit ich im Bundestag bin, habe ich (Beifall bei Abgeordneten der FDP) selten eine so uninspirierte und für das Thema leiden- schaftslose Rede eines Ministers zu seinem eigenen Res- Wir haben die Schlagkraft und die Steuerungsfähigkeit sorts gehört. des BMZ in den Blick genommen, und wir wollen beide in dieser Legislaturperiode durch eine Reform der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Durchführungsorganisation erhöhen. In weniger als des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 100 Tagen nach der Amtsübernahme werden wir die ers- In den letzten Jahren habe ich meine Haushaltsrede in ten Vorschläge miteinander prüfen. In weniger als der Regel damit beginnen können, dass ich gesagt habe: (B) 200 Tagen nach der Amtsübernahme werden die ersten Ich freue mich über den Aufwuchs, den die Ministerin (D) Vorschläge für eine Reorganisation im Kabinett beraten durch Verhandlungen erreicht hat. Zur Erinnerung – es werden. lohnt sich, Zahlen in Relation zu setzen –: Im letzten Jahr, das ebenfalls schwierig war, und in dem es eben- Wir erhöhen unsere Anstrengungen für ländliche Ent- falls eine Krise zu bewältigen galt, gab es einen Auf- wicklung, Gesundheit und vor allem für Bildung, weil wuchs um 12,4 Prozent, also um 600 Millionen Euro. Bildung die Grundlage dafür ist, dass man ein selbstbe- Dieses Geld stand zur Bekämpfung von Armut, von öko- stimmtes Leben in Freiheit und ohne Armutsrisiko füh- logischem und sozialem Raubbau und zum Aufbau von ren kann. Das wird einer unserer Schwerpunkte sein. Strukturen zur Verfügung. Darum geht es nämlich in der Auch die Zivilgesellschaft wird ausdrücklich gestärkt, Entwicklungspolitik: Entwicklungspolitik ist Struktur- was im Haushaltsentwurf sichtbar ist. Wir wollen aus- politik. drücklich auf die Zivilgesellschaft, die Kirchen und ins- besondere auf die politischen Stiftungen einen größeren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schwerpunkt legen, als das früher der Fall war. Ich wäre sehr dankbar, wenn das vom Ministerium ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mal zur Kenntnis genommen würde. Die Kooperation mit der privaten Wirtschaft wird Leider kann ich meine Rede dieses Jahr nicht so be- überproportional gestärkt. Auch das sehen Sie an einem ginnen. Wie hoch ist der Aufwuchs nämlich? Sie haben zusätzlichen Haushaltsansatz von 10 Millionen Euro. es selbst erwähnt: 67 Millionen Euro. Man könnte fast Der Schwerpunkt auf Eigenfinanzierung unserer Partner sagen: Es ist ein Nullaufwuchs; es passiert nichts. durch Mikrofinanzkredite soll dazu führen, Grundlagen (Widerspruch bei der CDU/CSU) für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Sie zitieren immer wieder den Haushaltsentwurf von Juli Wir werden das mit einer größeren Werte- und Inte- letzten Jahres. Sie wissen ganz genau: Im Juli ist ein Ka- ressengebundenheit unserer Entwicklungspolitik kom- binettsentwurf ohne Ressortabstimmungen, ohne Ver- binieren. Um allen Vorurteilen entgegenzuwirken: handlungen vorgelegt worden. Eines kann ich Ihnen sa- Schauen Sie sich an, was der erste Minister in diesem gen: So einen mutlosen, so einen fantasielosen Entwurf Amt, Walter Scheel, gemacht hat: Er hat für die Bundes- mit einem Aufwuchs von 67 Millionen Euro hätte eine republik Deutschland die Grundlagen für eine liberale Ministerin Wieczorek-Zeul nie zugelassen. Sie hätte sich internationale Entwicklungspolitik gelegt. Diese Regie- erfolgreich für mehr Mittel für diesen wichtigen Bereich rung wird genau hier anknüpfen. eingesetzt. 1334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. Bärbel Kofler (A) (Beifall bei der SPD – Hartwig Fischer [Göt- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (C) tingen] [CDU/CSU]: Den Haushalt habt ihr Falsch!) doch mitbeschlossen! Der ist noch einmal er- Ich möchte Ihnen noch eines sagen: Im Zusammen- höht worden!) hang mit diesem Haushalt hätte man auch einmal ein Sie haben sich nicht nur vom 0,51-Prozent-Ziel in paar Ausführungen dazu machen können, dass laut aktu- diesem Jahr, sondern auch von einer grundsätzlichen, eller Steuerschätzung in diesem Jahr 10 Milliarden Euro stetigen Aufbauarbeit in diesem Ressort – von der Errei- mehr zur Verfügung stehen. Vielleicht wird gleich einer chung des 0,7-Prozent-Ziels bis 2015 – verabschiedet. meiner Kollegen noch darauf eingehen. Man hätte also Sie tragen immer wie eine Phalanx vor sich her, dass die etwas von diesen 10 Milliarden Euro oder auch von der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels im Koalitionsvertrag 1 Milliarde Euro, die nun den Hoteliers zugute kommt, steht. Wenn man diesen Vertrag einmal genau nachliest, einige Mittel für den Einzelplan 23 verwenden können. stellt man aber fest, dass darin keine Jahreszahl steht. (Beifall bei der SPD – Hartwig Fischer [Göt- Für den Einzelplan 23 sehen Sie für das Jahr 2011 ein tingen] [CDU/CSU]: Sie haben sie doch schon Minus von 0,7 Prozent vor; zu den folgenden Jahren äu- in 13 anderen Ressorts verplant!) ßern Sie sich nicht. Wir haben gestern gelernt, dass es mit dieser Regierung keine mittelfristige Finanzplanung – Ich verteile sie aber hier. Sie haben sie nur an die Hote- geben kann, da im Mai in Nordrhein-Westfalen Land- liers gegeben. tagswahlen stattfinden. Man wird darauf warten müssen, bis von Ihrer Seite vernünftige Angaben zu unserem Ein- Schauen wir uns das ganze Trauerspiel um diesen zelplan gemacht werden. Haushalt weiter an. Sie, Herr Minister, haben von großen Linien gesprochen. Ich erkenne keine einzige große Li- Gerade für unser Ressort ist es von großer Bedeutung, nie in diesem Einzelplan. Das Einzige, was Sie getan ha- dass man den Aufwuchs verstetigt. Diejenigen, die Sie ben, ist, beim Globalen Fonds zur Bekämpfung von eben angesprochen haben – zivile Kräfte, Kirchen, Stif- Aids, Tuberkulose und Malaria 58 Millionen Euro zu tungen und auch die Wirtschaft; ich habe gar nichts da- streichen. Hierzu hätte ich gerne heute von Ihnen ein gegen, dass sie mehr bekommen; im Gegenteil, dort wird klärendes Wort gehört. Es ist richtig, was in den Erläute- gute Arbeit geleistet –, brauchen nicht nur einen höheren rungen im Haushaltsentwurf zu diesem Titel steht, näm- Barmittelansatz, sondern mehr über Verpflichtungser- lich dass dieser Fonds ein bedeutendes „Finanzierungs- mächtigungen zugesagtes Geld, damit sie wissen, was instrument in der internationalen Zusammenarbeit zur ihnen in den nächsten Jahren zur Verfügung stehen wird, Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria“ damit sie ihre gute Arbeit fortführen können und damit ist. Gleichzeitig sagen Sie, dass Sie die zugesagten Mit- sie gerade für die Zivilgesellschaft – Sie haben sie ange- tel in Höhe von 200 Millionen Euro nicht in voller Höhe (B) (D) sprochen – etwas tun können. abfließen lassen können, da Sie im Koalitionsvertrag eine Verteilung der bilateralen und multilateralen deut- Vizepräsidentin Petra Pau: schen Leistungen im Verhältnis von zwei Dritteln zu ei- Kollegin Kofler, gestatten Sie eine Zwischenfrage? nem Drittel vereinbart haben. Jetzt frage ich mich: Wo ist hier die große Linie? Dr. Bärbel Kofler (SPD): Hier geht es um die Bekämpfung von Krankheiten Aber selbstverständlich. und um Gesundheitsförderung gerade in ländlichen Ge- bieten bei den Ärmsten der Armen. Man sollte nämlich einmal zur Kenntnis nehmen, was durch den Globalen Vizepräsidentin Petra Pau: Fonds seit 2002 erreicht wurde: 2,5 Millionen HIV-Er- Herr Fischer, bitte. krankte haben Unterstützung bekommen, 104 Millionen Menschen haben Moskitonetze bekommen, Hunderttau- Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): sende Beschäftigte im Gesundheitsbereich wurden aus- Liebe Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die und weitergebildet. Sie aber entziehen sich den Zusagen, 65 Millionen Euro Aufwuchs in diesem Haushaltsplan die die Bundesrepublik Deutschland gemacht hat, und auf Grundlage des Haushalts beschlossen worden sind, gefährden damit gleichzeitig diese sinnvolle Politik. Sie den Herr Steinbrück in der mittelfristigen Finanzplanung setzen damit auch den Ruf unseres Landes als verlässli- vorgelegt hat? cher Partner in diesem Bereich aufs Spiel. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Der hat eine (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: So ist es!) Ressortabstimmung gemacht!) Auf eine Anfrage der Kollegin Roth vom Beginn die- ses Monats schreiben Sie, Frau Kopp – Sie haben es ja Dr. Bärbel Kofler (SPD): selbst unterschrieben –, auch noch: Diese Kürzung um Sehr geehrter Herr Kollege Fischer, natürlich ist mir 58 Millionen Euro ist richtig und gewollt. Als sich dage- das bekannt. Ich habe ja gerade ausgeführt, vor welchem gen öffentlicher Protest regt, wird zurückgerudert. Im Hintergrund hier Verhandlungen über die Zukunft statt- Haushaltsentwurf steht allerdings immer noch der An- gefunden haben. Sie können gern das Gespräch mit der satz von 142 Millionen Euro. Ich hätte sehr gerne einmal Ministerin von damals suchen. Selbstverständlich wurde ein paar Aussagen von Ihnen dazu, was nun passiert. vor der Wahl keine Abstimmung vorgenommen, was den Setzen Sie den Ansatz wieder auf 200 Millionen Euro, zukünftigen Aufwuchs anbelangt. wie es zugesagt war. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1335

Dr. Bärbel Kofler (A) Die politische Halbwertszeit Ihrer Äußerungen ist al- Zusammengefasst kann man zu diesem Haushalt nur (C) lerdings bezüglich der Finanzierung von Entwicklungs- eines sagen: Er ist mutlos, was die Finanzierung anbe- zusammenarbeit – das gilt auch für viele andere Dinge – langt, uninspiriert, was die Ideen anbelangt, und fanta- nicht sehr hoch. Im Dezember konnten wir lesen, dass sielos. Ich würde mir die Leidenschaft und das Engage- Sie gegen die Einführung einer Finanztransaktionsteuer ment Ihrer Amtsvorgängerin für die Ärmsten der Armen zur Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit auf dieser Erde wünschen. Tragen Sie zur nachhaltigen sind. Nach Ihrem Treffen mit Zoellick hört man von Ih- Bekämpfung von Armut wirklich bei! Dann haben Sie nen, dass man dafür vielleicht doch noch Mittel einset- unsere Unterstützung. Angesichts dessen, was Sie bis zen könne; man wolle mal sehen, was beim G-20-Tref- jetzt vorgelegt haben, ist jede Kritik noch höflich. fen herauskomme. Ich höre gerne, dass das bei Ihnen neuerdings ein Thema sein soll, Herr Niebel; ich be- Danke. zweifle es nur. Vieles von dem, was Sie sagen, richtet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich nur nach der politischen Tagesform und dem, was DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/ gerade opportun ist. Wichtig ist, dass Sie einen Vor- CSU]: Schmarren! – Dr. h. c. Jürgen Koppelin schlag vorlegen, wie Sie das von Ihnen erklärte Ziel ei- [FDP]: So ein Blödsinn!) ner ODA-Quote von 0,7 Prozent erreichen wollen. Es gibt keine einzige Aussage zu den Finanzen von Ihnen, Vizepräsident Dr. : die belastbar ist und belegt, dass Sie etwas tun, um die Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der ODA-Quote auf 0,7 Prozent zu erhöhen. CDU/CSU-Fraktion. Eine Anmerkung zur grundsätzlichen Ausrichtung (Beifall bei der CDU/CSU) von Struktur- und Entwicklungspolitik. Sie reden im- mer nur davon, dass die Wirtschaft es richten soll. Das ist Ihr Credo. Es wäre ganz schön, wenn Sie in den Län- Holger Haibach (CDU/CSU): dern, in denen Sie unterwegs sind, genauer hinhören Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- würden. Auf der Konferenz in Accra hat, wie ich finde, ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal kann der ghanaische Präsident etwas sehr Vernünftiges gesagt. man sogar jemanden wie mich, der schon acht Jahre im Er hat gesagt: Entwicklungspolitik muss dazu beitragen, Deutschen Bundestag ist, überraschen. 2005, als das dass in den Ländern administrative Strukturen aufgebaut Ende von Rot-Grün da war und die Große Koalition be- werden; diese sind nämlich Voraussetzung dafür, dass gann, war ich überrascht, wie schnell die Grünen sich überhaupt ökonomische Strukturen wachsen können. aus der Regierungsverantwortung zurückgezogen haben. Das ist die richtige Ausgangsposition. Hier muss Struk- Damals habe ich gedacht, es gehe nicht noch schneller. (B) turpolitik ansetzen. Administrative, rechtliche, soziale Frau Kofler, Sie haben mir das Gegenteil bewiesen: So (D) Infrastruktur muss aufgebaut werden, damit Investitio- schnell wie die SPD hat sich noch keine Partei aus der nen in diesen Ländern überhaupt stattfinden können und Regierungsverantwortung zurückgezogen. sie sich entwickeln können. Schauen Sie sich einmal ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nen Großteil der Länder an. Glauben Sie, dass es zur Ar- Widerspruch bei der SPD) mutsbekämpfung ausreicht, dort ein deutsches mittel- ständisches Unternehmen anzusiedeln? Sie haben völlig verkannt, wer eigentlich die Verantwor- tung für die Politik in den letzten Jahren gehabt hat. (Harald Leibrecht [FDP]: Macht doch keiner!) (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Es geht doch um Das ist doch – ich sage es jetzt einmal höflich – völlig diesen Haushalt!) naiv, was da zum Teil geäußert wird. Ich würde gerne einmal versuchen, Ihre Zahlen ins (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richtige Licht zu rücken. Wenn man schon mit Zahlen DIE GRÜNEN) hantiert, dann muss man aufpassen, dass man richtig da- mit hantiert. Ich habe mir einmal einige Zahlen heraus- Das hat nichts mit verantwortungsbewusster Entwick- suchen lassen: Von 1998 bis 2005 – wenn ich mich recht lungs- und Stukturpolitik zu tun. erinnere, gab es damals schon die gleiche Ministerin, al- Ich denke, da unterscheidet sich grundsätzlich unser lerdings mit einer rot-grünen Mehrheit – ist die reale Staatsverständnis. Das sieht man auch an dem, was die Zahl im Haushalt, der Anteil des Einzelplans 23, von et- FDP in diesem Land macht. Wir als Sozialdemokraten was über 4 auf etwas unter 4 Milliarden Euro gesunken. haben ein anderes Staatsverständnis, nämlich dass der Minus 125 Millionen Euro – das ist Ihre rot-grüne Bi- Staat verantwortliche Aufgaben im Sinne des Gemein- lanz gewesen. Dass Sie uns vor diesem Hintergrund hier wesens und der Bevölkerung übernehmen muss, dass er einen Aufwuchs vorwerfen, finde ich sehr bemerkens- sie unterstützen und eine Basis bilden muss. Dazu benö- wert. tigt er auch finanzielle Mittel, damit die entsprechenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Steuersysteme in manchen Ländern erst einmal aufge- ruf der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD]) baut werden können. Sie waren ja gerade in Ruanda. Dort hätten Sie lernen können, was man mit Budgethilfe – Ich habe Ihnen zugehört; vielleicht hören Sie mir auch beim Aufbau von Staats- und Steuerstrukturen machen einen Moment lang zu. Schreien ist immer ganz wichtig, kann, damit das eintritt, was Sie angesprochen haben, wenn man nicht hören will, was andere sagen. Das ist nämlich dass die Länder sich selbst helfen können. aber auch eine Frage von Stil und Höflichkeit. 1336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Holger Haibach (A) Erst seitdem die CDU/CSU mitregiert, seit der Gro- es 50 000 oder 200 000 Tote sein; ganz genau wird man (C) ßen Koalition, hat es den Aufwuchs von etwas unter das wahrscheinlich nie feststellen können –, dann sieht 4 Milliarden Euro auf die jetzt vorhandenen circa man, welche gewaltige Dimension diese Katastrophe 5,8 Milliarden Euro gegeben. Auch das würde ich gerne hat. in diesem Zusammenhang einmal festhalten: Der letzte Ich habe die Debatte den ganzen Tag über verfolgt. Haushalt hatte eine ODA-Quote von 0,36 Prozent. Wenn Wenn billig und platt behauptet wird, wir würden zu we- alles so kommt, wie wir uns das vorstellen, werden wir nig Geld zur Verfügung stellen, dann muss ich sagen, eine ODA-Quote von 0,40 Prozent haben. Das ist eine dass das an der Realität vorbeigeht. Geld ist nicht das gewaltige Steigerung gegenüber dem, was Sie zuletzt Problem. Die Frage ist: Wie schaffen wir die Hilfe zu vorgelegt haben. den Menschen? Gibt es überhaupt eine vernünftige In- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – frastruktur? Darum müssen wir uns kümmern. Dann Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das ist absoluter Un- kann man sich immer noch mit der Frage beschäftigen, sinn! Falsch gerechnet!) ob genügend Geld für die Hilfe vorhanden ist. Meine These ist: Geld ist wahrscheinlich genügend vorhanden. Natürlich würden wir uns wünschen, dass wir den Sorgen wir lieber dafür, eine entsprechende Infrastruktur Stufenplan einhalten können. Aber man muss – das hat zu schaffen, damit wir die Hilfe zu den Menschen brin- der Minister zu Recht gesagt – die Dinge im Fokus des- gen können. sen sehen, was um uns herum geschieht und in welcher Welt wir leben. Sie wissen ganz genau: Wenn wir die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Quote von 0,51 Prozent erreichen wollten, dann müssten Wir können uns auch über die Frage unterhalten – wir wir den Einzelplan 23 auf einen Schlag um 3,5 Milliar- diskutieren hier den Etat für wirtschaftliche Zusammen- den Euro aufwachsen lassen. Sie glauben nicht, dass ir- arbeit und Entwicklung –, was eigentlich unsere Auf- gendeine Regierung, egal wie sie politisch bestellt ist, gabe ist. Unsere Aufgabe fängt gerade erst an. Was wir das zu dieser Zeit leisten könnte. Deswegen hören Sie im Moment machen, ist Soforthilfe in Form von Kata- doch einfach auf mit diesem Unsinn und bleiben bzw. strophenhilfe und humanitärer Hilfe. Wenn die werden Sie realistisch! schlimmsten Schäden beseitigt sind und die gröbsten Schwierigkeiten überwunden sind, werden wir irgend- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wann vor der Situation stehen, dass wir einen Beitrag Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE dazu leisten müssen, diesem Land wieder eine Chance GRÜNEN]: Vertragstreue ist kein Wert!) zu geben. Ich glaube, dass der Haushalt, den wir heute diskutie- Es wird immer sehr viel von Wiederaufbau gespro- (B) ren, eine angemessene Reaktion auf die Herausforderun- chen. Aber eigentlich ist es das nicht. Wenn Sie sich (D) gen, die in den kommenden Jahren vor uns liegen, bietet, Haiti vor der Katastrophe anschauen, dann können Sie und dass er – das ist schon angeklungen – konsequent sehen: Es war ein Land mit extrem schwachen staatli- das umsetzt, was wir uns im Koalitionsvertrag vorge- chen Strukturen, mit einer kaum vorhandenen Verwal- nommen haben. tung und mit extremen Schwierigkeiten, was fast alle Ich will mit einem Punkt beginnen, der in der Debatte grundlegenden Aufgaben des täglichen Lebens angeht. sonst häufig unter den Teppich gekehrt wird. Wir sagen, Insofern geht es am Ende darum, dazu beizutragen, dass dass wir mehr für das Engagement der Kirchen und Haiti ein Land wird, in dem zukünftig bessere Chancen mehr für das Engagement der politischen Stiftungen existieren als vor der Katastrophe. Das bedeutet, dass bereitstellen. Das klingt für uns alle so selbstverständ- wir vielfältige Unterstützung leisten müssen. Das hat et- lich, aber ich möchte Sie daran erinnern, dass das Sys- was mit Geld zu tun. Aber wir müssen auch unser Know-how zur Verfügung stellen, zum Beispiel wenn es tem der politischen Stiftungen, so wie wir es hier in darum geht, einigermaßen erdbebensicher zu bauen und Deutschland kennen – mit Auslandsbüros, mit politi- Bebauungspläne so aufzustellen, dass im Falle solcher scher Förderung von Entwicklungszusammenarbeit, mit Katastrophen, die nicht zu verhindern sind, nicht noch Demokratieförderung, mit Verbreitung der Idee der so- mehr Menschen sterben. zialen Marktwirtschaft –, etwas ganz Einzigartiges ist. Bei allem Streit, den es gibt, sollten wir uns in dem Ziel Die Regierung hat angemessen auf die Herausforde- einig sein, dass wir diesen Exportschlager, der ein All- rungen reagiert. Es geht aber um viel weitergehende Fra- einstellungsmerkmal darstellt, stärken. Das tut dieser gen. Bevor wir uns über die Frage den Kopf zerbrechen, Haushalt in ganz hervorragender Art und Weise. ob 10, 11 oder 12 Millionen Euro der angemessene Be- trag sind – es wird sicherlich wesentlich mehr werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) müssen –, sollten wir uns eher Gedanken darüber ma- Natürlich kommt heute keine Debatte – schon gar chen, wie man Haiti langfristig eine Chance eröffnen keine entwicklungspolitische Debatte – ohne ein Wort kann. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. über Haiti aus. Was wir dort gesehen haben, ist eine Ka- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tastrophe selten gekannten Ausmaßes. Man soll nie Menschenleben gegeneinander aufrechnen. Trotzdem Natürlich kann man keine Debatte, die sich mit Ent- will ich sagen: Durch den Tsunami wurde eine Region wicklungszusammenarbeit beschäftigt, führen, ohne getroffen, die wesentlich stärker bevölkert ist, als es bei dass man ein Wort über Afghanistan sagt. Dieses Haiti der Fall ist. Wenn man die Zahl der Toten im Ver- Thema wird uns in der nächsten Woche noch sehr inten- hältnis zur Einwohnerzahl vergleicht – in Haiti werden siv beschäftigen. Deswegen will ich dieses Thema nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1337

Holger Haibach (A) weiter ausbreiten. Die Bundesregierung und die sie tra- der Entwicklungszusammenarbeit abhängt. Der wesent- (C) genden Fraktionen, die christlich-liberale Koalition, lich größere Teil der Ausgaben für Klimaschutzpro- müssen ihren Auftrag dort sehr ernst nehmen. Wir haben jekte in Entwicklungsländern wird tatsächlich von un- dafür gesorgt, dass schon in diesem Haushaltsjahr Mittel serem Etat geleistet, nämlich im Umfang von weit über für Afghanistan aufwachsen. Wir wollen uns das auch 1 Milliarde Euro. Damit setzen wir ein richtiges Zei- für die kommenden Jahre vornehmen. Ich halte das für chen: Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, indem goldrichtig. wir diesen Bereich aufwachsen lassen. Ich halte es für richtig und legitim, dass wir hier besonders diejenigen Geld ist auch an dieser Stelle nur ein Teil. Der andere Entwicklungsländer in den Fokus nehmen, die in Kopen- Teil umfasst die Frage, wie wir genau helfen und was hagen bereit waren, mit uns zu kooperieren. Wir sollten wir vor Ort wollen. Es gibt ein paar begrenzende Fakto- uns in besonderem Maße in diesen Ländern engagieren. ren. Es gibt heute in fast jedem Land, das Truppen nach Wenn nämlich jemand den Willen hat, uns bei der Über- Afghanistan sendet, eine Diskussion über die Frage, an windung des Klimawandels zu helfen, dann sollten wir welchem Punkt eine Übergabe in Verantwortung mög- ihn nicht bestrafen, sondern ihn dadurch belohnen, dass lich ist. Das macht auch für uns, die wir Entwicklungs- wir besonders intensiv zusammenarbeiten. zusammenarbeit betreiben, die Dinge ein gutes Stück weiter vordringlich. Wir wissen nämlich, dass wir nur (Beifall bei der CDU/CSU) ein begrenztes Maß an Zeit haben. Wir wissen, dass un- sere Arbeit, auch nachdem die Soldaten abgezogen sind, Dieser Haushalt wirft im Zusammenhang mit der noch lange sehr notwendig sein wird. Weiterentwicklung unserer Entwicklungspolitik struk- turelle Fragen auf, über die wir zu diskutieren haben. Deswegen glaube ich, dass neben der Beantwortung Da geht es zum einen um die Vorfeldreform. Sie ist nicht der Frage, wie viel Geld wir dort investieren, es auch ganz einfach; wir haben hier ehrgeizige Ziele. Ich glaube wichtig ist, die richtigen Instrumente zu finden. Das be- aber, dass wir die Ziele so setzen, dass wir sie auch errei- deutet, wir müssen noch mehr hinein in die Provinz, und chen können. Am Ende des Tages steht also nicht das, wir müssen noch mehr aufs Land. Außerdem müssen wir was unter der letzten Ministerin passiert ist: Der Prozess schauen, dass wir gerade bei einem Land wie Afghanis- ist am Ende völlig ins Stocken geraten, weil man nicht tan, das in Provinzen aufgeteilt ist, das historisch gese- versucht hat, die Beteiligten wirklich mitzunehmen. Ich hen keine starke Zentralgewalt, sondern nur starke Re- glaube, das Ziel, eine kleine Vorfeldreform vernünftig gionalkräfte kennt, die richtigen Strukturen schaffen und durchzuführen, ist realistisch und kann am Ende des Ta- unsere finanziellen Möglichkeiten konzentrieren. Das ges erreicht werden. halte ich für mindestens genauso wichtig wie die Frage: Wofür geben wir ansonsten Geld aus? (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) (B) Ich will an dieser Stelle eine Anmerkung machen. Wir sollten uns nicht an Dingen verheben, für die wir, (D) Vorhin, bei der Debatte zum Verteidigungsetat, hat es wenn wir sie überhaupt irgendwann in Angriff nehmen eine große Rolle gespielt, dass man sich um traumati- wollen, wesentlich mehr Zeit brauchen. sierte Bundeswehrangehörige und deren Familien küm- Gerade ist schon die Frage angeklungen: Gibt es mern muss. Ich will nur sagen, dass das zum Beispiel Frontstellungen zwischen Budgethilfe und Projektfinan- auch für Angehörige der Polizeikräfte gelten muss, die zierung auf der einen Seite sowie zwischen bilateraler wir nach Afghanistan schicken und die dort auch großen und multilateraler EZ auf der anderen Seite? Ich halte Gefahren ausgesetzt sind. Hier muss dasselbe gelten: das ehrlich gesagt für einigermaßen konstruiert. Eine entsprechende Nachsorge muss gewährleistet sein; denn auch die Polizisten leisten für uns einen wichtigen (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das steht in Ihrem Beitrag. Wir sollten uns bei ihnen – wie bei allen, die un- Koalitionsvertrag! Schauen Sie da doch mal ter diesen sehr schwierigen Umständen einen wichtigen rein!) Beitrag leisten – recht herzlich bedanken. – Das steht nirgendwo im Koalitionsvertrag: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Doch! Es steht im bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Koalitionsvertrag drin!) GRÜNEN) Nirgendwo steht, dass wir die Budgethilfe abschaffen Ein weiteres ausgesprochen wichtiges Thema, das uns wollen und dass wir gegen multilaterale Zusammen- in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen wird, ist arbeit sind. Wir sind nur der Meinung, dass alle Instru- mit der Frage verbunden: Was passiert nach Kopenha- mente der Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden gen? Ich glaube, man kann auf jeden Fall ohne große sollten. Man darf also nicht glauben, dass nur internatio- Übertreibung festhalten, dass die Konferenz in Kopen- nale, multilaterale Entwicklungszusammenarbeit oder hagen kein Erfolg gewesen ist. Die Frage ist nur: Welche nur Budgethilfe richtig ist. Am Ende des Tages ist der Konsequenz ziehen wir daraus? Die Konsequenz kann richtige Einsatz von Mitteln vielleicht wichtiger als der nicht sein, zu sagen: Der internationale Prozess ist dann Mittelabfluss. Ich glaube, wir sollten uns allen den Ge- gescheitert. Er ist nämlich nicht gescheitert. Es gibt, was fallen tun, an dieser Stelle eine ehrliche und vernünftige Kopenhagen betrifft, klare Abmachungen, die wir ein- Debatte zu führen. Insofern freue ich mich auf die Haus- halten müssen. Wir werden auch in der Entwicklungszu- haltsberatungen. sammenarbeit unseren Beitrag leisten müssen. Herzlichen Dank. In der Debatte, die wir vor Kopenhagen geführt ha- ben, ist deutlich geworden, dass an dieser Stelle viel von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es wurde eine Marktöffnung erzwungen und die Exis- (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Hänsel von der tenz zahlreicher Kleinbauern zerstört, die jetzt von Nah- Fraktion Die Linke. rungsmittelhilfen abhängig sind. Die bittere Armut hat die Menschen dazu getrieben, fast den gesamten Wald- (Beifall bei der LINKEN) bestand in Haiti abzuholzen, was katastrophale ökologi- sche und klimatische Folgen für die gesamte Karibik hat. Heike Hänsel (DIE LINKE): Diese Entwicklung erleben wir in vielen Ländern des Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen Südens. Armut und Elend wachsen weltweit. Mehr als und Kollegen! Das Leid der Menschen in Haiti hat uns 1 Milliarde Menschen hungern. Jean Ziegler, der ehema- alle geschockt – viele Vorredner sind schon darauf ein- lige UN-Sonderbotschafter für das Recht auf Nahrung, gegangen –, zumal wir vom Entwicklungsausschuss vor spricht in diesem Zusammenhang von einem „Imperium drei Jahren gemeinsam das Land besucht haben und sehr der Schande“. Wer ernsthaft Hunger, Armut und Um- herzlich und hoffnungsvoll von den Menschen dort emp- weltzerstörung bekämpfen will, der braucht nicht, Herr fangen wurden. Es bedrückt einfach noch mehr, wenn Niebel, die Stärkung der deutschen Privatwirtschaft. man das Land konkret kennengelernt hat. Vielmehr müssen wir uns für ein anderes Weltwirt- In diesem Zusammenhang halte ich es schon für schaftssystem einsetzen und uns gegen Militäreinsätze, wichtig, Herr Kollege Haibach, über Zahlen zu spre- die für Wirtschafts- und Rohstoffinteressen geführt wer- chen. Die 10 Millionen Euro Soforthilfe sind in unseren den, wehren. Augen angesichts des Ausmaßes der Zerstörung, der (Beifall bei der LINKEN) großen Spendenbereitschaft in der Bevölkerung und der Soforthilfe anderer Länder viel zu gering. Wir sehen, Genau dasselbe erleben wir in Afghanistan. Nach dass die Bundesregierung viel mehr Geld für Krieg und bald neun Jahren sogenannter Aufbauhilfe, Zerstörung ausgibt als für Aufbau und Entwicklung. (Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämtheit!) (Beifall bei der LINKEN) sprich: Besatzung und Krieg, ist dieses Land das viert- ärmste Land der Erde. Deshalb muss das Jahr 2010 zum Wir haben uns schon vor Tagen dafür ausgesprochen, Jahr des Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan ge- dass die Soforthilfe massiv erhöht werden muss. macht werden. Es ist auch wichtig, dass wir langfristig zum Wieder- (Beifall bei der LINKEN) aufbau Haitis beitragen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Wir wollen die jährlichen Ausgaben des Bundeswehr- (B) Haiti, die leider unter Ministerin Wieczorek-Zeul ausge- einsatzes in den zivilen Aufbau umwidmen. Die Bundes- (D) laufen ist, wieder aufgenommen wird. Wir sind der Mei- regierung gibt nach wie vor viermal mehr für das Militär nung, Haiti braucht sofort und für lange Zeit unsere Soli- als für den zivilen Aufbau aus. darität. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Pfui!) (Beifall bei der LINKEN) Herr Niebel, wir teilen auch die Kritik zahlreicher Gleichzeitig teilen wir die Kritik der Vereinten Natio- Entwicklungsorganisationen an Ihrem Vorhaben, die nen und der amerikanischen Friedensbewegung, die ein- Vergabe von Entwicklungsgeldern in Afghanistan zu- dringlich an die US-Politik appelliert, dass das jetzige künftig an eine enge Kooperation mit der Bundeswehr Machtvakuum Haitis nicht für eine neue Militärpräsenz vor Ort zu koppeln. Das lehnen wir ganz klar ab. missbraucht werden darf. Die Menschen in Haiti brau- (Beifall bei der LINKEN) chen jetzt keine Soldaten, sie brauchen Ärzte und Auf- bauhelfer. Auch Ihre Äußerung, dass die Bundeswehr in Afgha- nistan noch eine ganze Zeit lang zivil flankiert werden (Beifall bei der LINKEN – Harald Leibrecht muss, zeigt deutlich: Sie sehen die Hilfsorganisationen [FDP]: Sie brauchen aber auch Sicherheit!) als Teil der militärischen Strategie der NATO. Das leh- Wir müssen uns natürlich auch die Frage stellen – das nen wir ab. Wir fordern ein Ende der zivil-militärischen wird viel zu wenig thematisiert –, warum dieses Land so Zusammenarbeit. bitterarm ist. Vor zwei Jahren haben wir die Hungerre- (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth volten in Haiti miterlebt. Wir haben Berichte gehört, [Kyffhäuser] [FDP]: Wollen Sie ohne Schutz dass Menschen aus Lehm Brot backen, um den Hunger runterfahren? Wollen Sie das machen?) zu stillen. Diese Armut kommt natürlich nicht von unge- fähr. Sie ist die Folge jahrhundertelanger Kolonialpoli- Während die deutschen Rüstungsausgaben für zu- tik, die sich bis heute auswirkt, und auch die Folge von künftige Militärinterventionen weiter steigen – davon imperialer Politik, die mit Hilfe zahlreicher US-Mili- wurde heute auch gesprochen – und Milliardenbeträge tärinterventionen und der Unterstützung brutaler Dikta- für Banken bereitgestellt werden, schafft es die Bundes- turen betrieben wurde. Auch eine neoliberale Freihan- regierung in diesem Jahr nicht – und das ist Fakt –, das delspolitik wurde in Haiti angewandt. Minimalziel, einen Anteil von 0,51 Prozent des Brutto- nationaleinkommens für Entwicklungsausgaben bereit- (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Endlich! zustellen, einzuhalten. Sie schaffen es nicht. Sie zahlen Darauf habe ich gewartet!) nicht die zugesagten 200 Millionen Euro in den Globa- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1339

Heike Hänsel (A) len Fonds zur Bekämpfung von Krankheiten ein. Sie würde, wenn er unsere Rituale in den Haushaltsdebatten (C) sparen im Bereich Klimaschutzbekämpfung an dem An- beobachten würde? Ich glaube, er würde mit dem Kopf passungsfonds. Überall gibt es zu wenig Geld, aber bei schütteln und sagen: Ihr habt sie nicht mehr alle. Und in Rüstung und militärischen Investitionen haben Sie einen der Tat haben wir sie nicht alle. Wir haben nicht alle Aufwuchs. Das lehnen wir ganz klar ab. Euros zusammenbekommen. Wir haben nie die Euros zusammenbekommen, die immer wieder von allen ver- (Beifall bei der LINKEN) sprochen wurden. Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer einführen. Wir wollen sämtliche Rüstungsprojekte streichen. Dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gäbe es genügend Geld für die Bekämpfung von Krank- Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heiten. Es gäbe genügend Geld für den Klimaschutz, üb- Sehr richtig!) rigens auch für den Zivilen Friedensdienst, der nach wie Unser Gast würde uns daran erinnern, dass im Deut- vor ein Nischendasein fristet. Wir wollen ihn zu einem schen Bundestag schon zur Zeit von Willy Brandt vom zentralen Instrument der Außenpolitik ausbauen. Der Zi- 0,7-Prozent-Ziel gesprochen wurde. Jeder betont die vile Friedensdienst braucht eine Zukunft. Damit wäre Wichtigkeit dieses Versprechens, dieses Ziels, 0,7 Pro- auch er finanzierbar. zent vom Bruttonationaleinkommen für Entwicklungs- (Beifall bei der LINKEN) zusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Regelmäßig kommen dann die Haushaltsbera- Herr Niebel, abschließend möchte ich Ihnen gerne tungen. Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir die noch sagen: Sie wollen nicht, dass das Entwicklungshil- Hosen runterlassen und sagen – das wäre ganz offen- feministerium zum Weltsozialamt wird. Wir hingegen sichtlich –, dass nichts eingehalten wird und niemals ein- wollen nicht, dass dieses Ministerium zum Selbstbedie- gehalten wurde von dem, was versprochen wurde. Das nungsladen für Wirtschaftslobbyisten wird. ist zu meinem großen Bedauern auch unter Rot-Grün so (Beifall bei der LINKEN) gewesen. Das war unter Schwarz-Rot so, und heute, un- ter Schwarz-Gelb, erleben wir das Gleiche wieder. In diesem Zusammenhang sage ich – das gilt auch für die Kollegen von der CSU –: Setzen Sie ein Zeichen. Auch das gehört zu dem Ritual: Man hört die aben- Spenden Sie die Gelder, die Sie von der Hotellobby be- teuerlichste Argumentationsakrobatik, mit der das Bre- kommen haben, für Haiti. Das wäre ein deutliches Zei- chen von Versprechen, das Nichteinhalten von Zusagen chen. Damit könnten Sie zeigen, dass Sie es ernst mei- schöngeredet werden soll. Das haben wir auch heute nen mit dem Wiederaufbau in Haiti. wieder erlebt. Da wird mit ernster Miene auf die schwie- (B) Danke. rige Haushaltslage und auf die Wirtschaftskrise verwie- (D) sen. Da wird sogar eine klitzekleine Steigerung – weit (Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Jürgen weniger als das, was eigentlich hätte sein müssen – als Koppelin [FDP]: Das SED-Vermögen!) Erfolg verkauft. Der Verweis auf die Kasse, auf die Wirt- schaftslage ist aber eine faule Ausrede; denn es geht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht um einen Fixbetrag, sondern um einen Anteil von Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe vom 0,51 Prozent, der jetzt hätte eingestellt werden müssen, Bündnis 90/Die Grünen, dem ich zu seinem heutigen der zugesagt war. 0,7 Prozent sollen das 2015 sein. Ein 52. Geburtstag gratuliere. Anteil ist ein Anteil ist ein Anteil. Er wird größer oder kleiner, je nachdem wie stark die Wirtschaftskraft ist. (Beifall) Wir hätten erwartet, dass es eine Lücke von 3 Milliarden Euro wird. Aufgrund der gesunkenen Wirtschaftszahlen Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): beträgt die Lücke jetzt 2,2 Milliarden Euro. Also ma- Herr Präsident, danke schön für die Glückwünsche. – chen Sie bitte keinen Hinweis auf die Wirtschaftskraft; Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in diesen denn es ist ein flexibler Anteil. Haushaltsdebatten immer gewisse Rituale, die sich stän- dig wiederholen, allerdings mit wechselnder Rollenver- Dann gibt es immer folgendes Argument – auch heute teilung. Ich erlebe dieses Stück jetzt in der dritten Fas- war es wieder bei einigen Rednern zu hören –: Meine sung. Mal spielten Rote und Grüne die Regierungsrolle, Herren, lassen Sie uns doch realistisch bleiben – dann dann Rote und Schwarze und jetzt Schwarze und Gelbe. kommt also Realismus ins Spiel –, 0,51 Prozent, da Die, die zusammen die Regierungsrolle spielen, stellen fehlten einfach noch 2,2 Milliarden Euro. Das sei ein- sich hier hin und sagen: Seht, wie toll wir sind. Dann fach nicht zu schaffen. Das sei doch unrealistisch. Welch kommen die anderen und sagen: Das stimmt doch gar ein Blödsinn. Erinnern wir uns doch daran, welche Sum- nicht, ihr macht viel zu wenig und gebt viel zu wenig men im letzten und vorletzten Jahr plötzlich realistisch Geld für die Ärmsten der Armen. wurden. Ich meine jetzt nicht Bürgschaften in dreistelli- ger Milliardenhöhe. Ich greife ein Beispiel von vielen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie heraus. Hopplahopp, praktisch über Nacht wurden heute einmal ermutigen, dieses alte Rollenspiel zu ver- 5 Milliarden Euro für ein zweifelhaftes Projekt, eine Prä- lassen und ehrlich miteinander umzugehen. Wer ehrlich mie für das vorzeitige Wegwerfen von Autos, bereitge- ist, der muss auch zur Selbstkritik bereit sein. Was würde stellt. Das alles ist plötzlich realistisch. ein ehrlicher, aufgeklärter Politiker aus Afrika, Bangla- desch oder Bolivien sagen, wenn er uns heute zuhören (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Thilo Hoppe (A) Aber in der Entwicklungsdebatte fordern Sie: Lassen Sie Diese Regel, die in den 90er-Jahren von den Haushältern (C) uns doch bitte realistisch bleiben. vereinbart wurde – es ist ja kein Gesetz –, sieht vor, dass die bilateralen, also unsere deutschen Institutionen, im- In Ihrer Rede hat die Kanzlerin viel von Moral ge- mer doppelt so viel Geld bekommen sollen wie alle inter- sprochen und das 0,7-Prozent-Ziel erneut bekräftigt. nationalen Organisationen zusammen. Wir werden in den Aber wenn ich die Kanzlerin jetzt wörtlich nehme, was Einzelberatungen einen Entwurf vorlegen, der beides ich gerne tun will, und mir dann diesen Haushaltsent- macht, der sowohl die Gelder für die bilaterale Entwick- wurf ansehe – Sie haben gehört, dass ich genauso Kritik lungszusammenarbeit steigert, GTZ, KfW, Kirchen, Stif- an den Haushaltsentwürfen von Rot-Grün und der Gro- tungen und NGOs, als auch kräftige Erhöhungen der Mit- ßen Koalition geübt habe –, dann muss ich diesen Haus- tel für die internationalen Organisationen vorsieht. haltsentwurf als unmoralisch bezeichnen. Die Schwerpunkte sind: Klima – natürlich, das haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – viele Vorredner schon gesagt –, ländliche Entwicklung Norbert Barthle [CDU/CSU]: Seit wann sind und Hungerbekämpfung. Die Zahl der Hungernden – ich Zahlen moralisch?) habe das oft genug gesagt – steigt und hat eine histori- sche Rekordmarke erreicht. Außerdem fließt mehr Geld Ich weiß, dass die Ministerin und viele engagierte in Bildung und Gesundheit. Zwei Länderschwerpunkte Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker sind Afghanistan und aufgrund der traurigen aktuellen in jeder Haushaltsrunde aufrecht und ernsthaft für mehr Nachrichten natürlich auch Haiti; für Haiti sollte es, ähn- Geld für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre lich wie nach der Tsunamikatastrophe, einen Sondertitel Hilfe gekämpft haben. Aber zur nüchternen Betrachtung geben. gehört auch, dass die anderen, der Finanzminister und die Haushälter, in ihrer Mehrheit jedes Mal stärker wa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren und die Debatte dominiert haben. Daher ist die Ver- und bei der SPD) pflichtung nie erfüllt worden. Ich glaube, wir sollten so ehrlich sein, uns gegenseitig zuzugestehen, dass das so Natürlich wird immer auch die große Frage nach dem ist. Was soll die Erbsenzählerei, die wir heute wieder er- Realismus gestellt: Können Sie das gegenfinanzieren? Wir lebt haben, welche Koalition etwas mehr oder weniger haben sehr detaillierte Gegenfinanzierungsvorschläge ge- doll die Versprechen gebrochen hat? Insgesamt können macht. Dazu gehören die Flugticketabgabe – sie macht auch Mathematiker und gute Rhetoriker nicht darüber allerdings nur einen kleinen Betrag aus –, die Finanz- transaktionsteuer und die Streichung klimaschädlicher hinwegtäuschen: Nie ist das Ziel eingehalten worden. Subventionen. Es ist auch eine Summe genannt worden: Wenn man die Steuergeschenke für Hoteliers rückgängig (B) Jetzt kann man nicht mehr sagen, dass man Hoffnung (D) habe, diesmal konnte man es noch nicht schaffen, aber macht, dann hätte man schon die Hälfte der fehlenden man werde irgendwann den großen Endspurt beginnen 2,2 Milliarden Euro beisammen. und dann ganz viel nachliefern. Das ist jetzt wirklich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vorbei. Jetzt ist Schluss mit lustig. Wir haben das Jahr bei der SPD und der LINKEN) 2010. Im Rahmen der Europäischen Union ist verspro- chen worden, in diesem Jahr 0,51 Prozent in den Haus- Um die ODA-Quote zu erreichen, soll es nicht nur im halt einzustellen; 2,2 Milliarden Euro fehlen einfach. Einzelplan 23, also beim Entwicklungsministerium, Stei- Darüber kann man nicht hinwegtäuschen. gerungen geben, sondern auch in vielen anderen Ressorts. Ich greife ein Ressort heraus: das Bundesministerium für Wir haben uns die Mühe gemacht – mit ganz vielen Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Hier Telefonaten, mit ganz viel Fleißarbeit –, in Absprache sollen die Kooperation mit der Welternährungsorganisa- mit den Haushältern einen Haushaltsentwurf vorzule- tion der Vereinten Nationen, der FAO, und insbesondere gen, der genau diese 2,2 Milliarden Euro, die fehlen, ent- die Reform des Komitees zur Ernährungssicherung aus- hält. Jetzt gibt es natürlich die große Debatte über Quan- gebaut werden. Auch in diesem Bereich soll es kräftige tität und Qualität. Wir wollen keine Luftbuchungen, wie Aufwüchse geben. sie manche hier machen, keine rein ideologischen Zah- len, die man gar nicht umsetzen kann. Wir haben viel- Ich freue mich, dass auch die SPD einen Plan vorle- mehr bei der GTZ, bei der KfW, im bilateralen und mul- gen will, der das 0,51-Prozent-Versprechen ernst nimmt. tilateralen Bereich nachgefragt. Daher können wir jetzt Titel für Titel einen Haushalt präsentieren, der sehr rea- (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: So ist es!) listisch ist, wo wir Geld in die Hand nehmen, das wirk- Ich bitte Sie allerdings, Selbstkritik zu üben, wie auch lich absorbiert und umgesetzt werden kann, und den wir es tun. Auch der Haushaltsentwurf, der noch von Ärmsten der Armen helfen können. Peer Steinbrück vorlegt wurde, hätte die 0,51-Pro- zent-Messlatte ganz klar gerissen. Aber – das will ich auch sagen – ein solcher Haushalt lässt sich bei Festhalten an der anachronistischen, veral- (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Ich habe erklärt, teten Zweidrittel/Eindrittel-Regel nicht realistisch dar- dass das nicht das letzte Wort war!) stellen. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, jetzt nicht einfach ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schnell die Rollen zu tauschen. Wir haben unsere Haus- sowie bei Abgeordneten der SPD) aufgaben bisher allesamt nicht erledigt. Jetzt stehen wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1341

Thilo Hoppe (A) vor der großen Aufgabe, endlich ehrlich zu sein und die Feststellung – hier hat der Kollege Hoppe recht –, (C) diese Aufgaben gemeinsam anzupacken. dass die ODA-Quote im Jahre 2009 bei 0,36 lag. Den geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Ach! Das ist völlig jetzigen Koalition sage ich: Viele von Ihnen habe ich als falsch!) ehrliche Streiter für die Entwicklungspolitik erlebt. An- Das werfe ich niemandem vor. gesichts des vorliegenden Haushaltsentwurfs fordere ich Sie auf, jetzt ehrlich zu sein. Ich glaube, dass viele von (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das ist die falsche Ihnen es lieber gehabt hätten, wenn ein Haushaltsent- Zahl!) wurf vorgelegt worden wäre, der das 0,51-Prozent-Ziel erreicht. Wir zeigen Ihnen, dass das geht. – Ich wiederhole: Das ist kein Vorwurf. Ich fordere Sie auch auf, jetzt nicht den vorgegebenen (Dr. Sascha Raabe [SPD]: So ein Schwach- Argumentationsmustern zu folgen, sondern Rückgrat zu sinn! Dass das auch noch ständig wiederholt beweisen und mit uns gemeinsam parteiübergreifend wird! Das stimmt doch nicht!) kräftige Nachbesserungen zu fordern, sodass wir ge- – Zu Ihnen komme ich gleich noch, Herr Kollege. meinsam einen Haushalt erarbeiten können, den wir ei- nem aufgeklärten Entwicklungspolitiker oder einem (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ja, ja!) Politiker aus Afrika, Bangladesch oder Bolivien vorle- Ich will Ihnen ganz klar sagen – da drücken wir uns gen könnten, ohne rot werden zu müssen. nicht –: Wir mussten uns in den Koalitionsverhandlun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen entscheiden: Soll dieses Ministerium erhalten blei- sowie bei Abgeordneten der SPD – Volkmar ben oder muss es aufgelöst werden? Darüber hat es eine Klein [CDU/CSU]: Der darf aber kein Erinne- Diskussion gegeben, auch in meiner Fraktion. rungsvermögen haben! Sonst haben Sie (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Hauptsächlich in schlechte Karten!) Ihrer Fraktion!) – Frau Kollegin, geben Sie mir doch die Chance, meine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausführungen zu machen. Normalerweise wird hier eine Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin von der Rede gehalten, und Sie haben die Möglichkeit, eine Zwi- FDP-Fraktion. schenfrage zu stellen. Es ging darum – ich sage das in al- (Beifall bei der FDP) ler Deutlichkeit –, dass dieses Ministerium zum Schluss ein Marionettenministerium war, das innerhalb der Re- (B) gierung kaum noch Einfluss hatte. In diesem Ministe- (D) Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): rium wurde viel Geld hin und her geschoben. Ein Teil Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! davon versickerte in bürokratischen Strukturen. Herr Kollege Hoppe, ich bin mit Ihnen nicht in allen Punkten einer Meinung. Trotzdem fand ich Ihre Rede (Beifall bei Abgeordneten der FDP) bemerkenswert. Wenn man will, dass die Fraktionen in – Dazu sagt die SPD natürlich nichts. Sachen Entwicklungshilfe zusammenarbeiten, war das, was Sie sagten, ein guter Ansatz, um zumindest mitei- Das ist übrigens nicht nur die Meinung eines Freien nander ins Gespräch zu kommen. Unsere Einladung Demokraten, es war die taz, die im September letzten richtet sich auf jeden Fall auch an Ihre Fraktion. Natür- Jahres unter der Überschrift „Das Marionetten-Ministe- lich wissen wir, dass es auch genügend Sozialdemokra- rium“ schrieb, dass die Sozialdemokraten mit der ten gibt, die ein Interesse an diesem Thema haben und Reform der Entwicklungshilfe gescheitert seien. Ich nicht mit Schaum vor dem Mund hier stehen, wie wir es schließe mich dieser Meinung an. Ich stelle Ihnen gerne heute erlebt haben, den gesamten Artikel zur Verfügung; er ist sehr interes- sant zu lesen. Was musste man erfahren? In diesem Mi- (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Wie bitte?) nisterium kontrollierte zum Schluss jeder jeden, und sondern sachlich argumentieren wollen. manche spielten sich zu Kleinministern auf. Am Ende einigte man sich in diesem Ministerium: Wir kontrollie- Sie haben natürlich recht: Wir sind in der Vergangen- ren auf jeden Fall mit aller Macht und mit viel Geld die heit bei jeder Haushaltsberatung unzufrieden gewesen; GTZ. Überhaupt keine Zusammenarbeit gab es mit dem das ist ganz klar. Auswärtigen Amt. (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Wann sollen wir Endlich gibt es wieder eine vernünftige Zusammenar- denn sonst Emotionen haben, wenn nicht bei beit mit dem Außenministerium. Das hat teilweise die der Bekämpfung von Hunger und Armut?) Kritik der Sozialdemokraten bewirkt. Ich fand es übri- gens unfair: Minister Niebel war noch nicht im Amt, – Liebe Kollegin, versuchen Sie einmal, zwei Minuten hatte noch nicht auf seinem Stuhl Platz genommen, da keine Zwischenrufe zu machen, damit ich ein paar Ideen haben Sie ihn schon kritisiert. vortragen kann, mit denen Sie sich dann auseinanderset- zen können. Schließlich will ich auch auf Ihre Rede ein- (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gehen. Ich habe nämlich zumindest versucht, Ihnen zu- NEN]: Ihn haben seine Worte eingeholt! – Zu- zuhören. – Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört rufe von der SPD) 1342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (A) – Ich verstehe die Aufregung nicht. Ich kann nur sagen: fügung zu stellen. Man muss mit den Leuten reden und (C) Sie haben es geschafft. Dieses Ministerium – das ist ihnen sagen: Schluss, aus, Geld gibt es erst wieder, wenn auch unser Ziel gewesen – ist kräftig aufgewertet wor- bei euch ein bisschen mehr Demokratie herrscht, wenn den, und es gibt eine gute Zusammenarbeit mit dem die Opposition auch zu Wort kommt. Auswärtigen Amt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ein anderer Punkt, den wir uns genau anschauen wer- Auf einen Aspekt lege ich Wert: In der Bezeichnung den, ist der Freiwilligendienst „weltwärts“. „welt- des Ministeriums heißt es nicht nur „Entwicklungshilfe“, wärts“ – das habe ich immer kritisiert – ist der einzige sondern auch „wirtschaftliche Zusammenarbeit“. Ich Freiwilligendienst, bei dem man weder sozial- noch ren- lege auch auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit Wert; tenversichert ist. das ist richtig so, und dabei bleibt es auch. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: CDU/CSU – [SPD]: Außen- Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen wirtschaftsministerium, sonst gar nichts! – Zu- Sascha Raabe? ruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) – Haben Sie einen zu hohen Blutdruck? Ich weiß nicht, Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): warum Sie die ganze Zeit dazwischenrufen. Ich nehme die Zwischenfrage gerne an, weil sie meine Redezeit verlängert, die sonst zu Ende geht. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nein, mir geht’s gut!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich will mit einem Lob beginnen. Ich will die ehema- Bitte schön, Herr Raabe. lige Ministerin Wieczorek-Zeul in einem Punkt aus- drücklich loben, und zwar für ihr Engagement im Dr. Sascha Raabe (SPD): Kongo. Ich weiß aus vielen persönlichen Gesprächen, Sehr geehrter Herr Kollege Koppelin, die Unruhe, die dass sie sich dort persönlich engagiert hat. Ich finde es Sie bemängeln, kommt daher, dass Sie in Ihrer Rede so gut, dass der neue Minister, Dirk Niebel, das fortsetzt viele Unwahrheiten gesagt haben, dass ich sie in dieser und in den Kongo gefahren ist. Das ist – bei allem, was Zwischenfrage gar nicht alle aufzählen kann. Ich will uns unterscheidet – Kontinuität, wie ich sie mir wün- nur drei nennen: sche. Erstens. Sie haben behauptet, Deutschlands ODA- (B) (D) Erlauben Sie mir einige Bemerkungen als Haushälter. Quote für 2009 liege bei 0,36. Sie müssten wissen, dass Wir haben in der letzten Legislatur erlebt, dass sehr viel die ODA-Quote im Nachhinein errechnet wird: Der ent- Länderbudgethilfe gewährt wurde. Länderbudgethilfe sprechende Ausschuss der OECD, der DAC, muss erst taucht auch jetzt wieder als Forderung auf. Als Haushäl- feststellen, was 2009 tatsächlich ausgegeben worden ist. ter habe ich allerdings zu berücksichtigen, dass der Bun- Vorher kann die ODA-Quote nicht ermittelt werden. Sie desrechnungshof die Budgethilfe heftig kritisiert hat. können also noch gar nicht wissen, wie hoch die ODA- Das kann das Parlament nicht einfach abtun. Lesen Sie Quote für 2009 ist. den Bericht! Sie haben ihn wahrscheinlich nicht gelesen; sonst würden Sie nicht den Kopf schütteln. Ich bin ganz Zweitens ist es so, dass wir erwarten, dass die ODA- klar für Projektförderung – das machen wir, niemandem Quote für 2009 bei 0,41 liegt. Bevor Helmut Kohl regiert wird etwas weggenommen –; Budgethilfe, die nicht kon- hat, lag die ODA-Quote bei 0,47. Das ist herunterge- trollierbar ist, müssen wir aber einstellen, weil der Bun- wirtschaftet worden auf 0,26 im Jahr 1998. Unter Heidi desrechnungshof das von uns fordert. Wieczorek-Zeul haben wir die ODA-Quote von 0,26 wieder auf fast 0,41 gesteigert. Wir hätten es gern (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der weitergemacht; aber nun haben Sie uns mit Ihrem Haus- CDU/CSU) haltsentwurf etwas vorgelegt, mit dem Sie das Verspre- Man sollte nicht immer sagen: Wir müssen draufsat- chen brechen. teln, hier fehlt dieses, und da fehlt jenes. Ich wünsche Zweiter Punkt: Sie sagten, das Bundesministerium mir manchmal, dass wir als Haushälter, aber auch Sie als habe bei uns nicht Bundesministerium für wirtschaft- Fachpolitiker mehr darauf achten, ob die Mittel effektiv liche Zusammenarbeit geheißen, sondern nur Bundes- eingesetzt werden. ministerium für Entwicklung. Sie können nicht so tun, ( [CDU/CSU]: Wohl wahr!) als heiße es jetzt durch die FDP auf einmal Bundes- ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dies Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nehmen Sie – das Haus war auch bei uns schon so. weiß, dass ich da persönlich engagiert bin, dass das ein Steckenpferd von mir ist – die Asiatische Entwicklungs- Dritter Punkt: Wir sind natürlich verwundert, wenn bank. Ich kann nicht einsehen, dass wir viel Geld für Sie sagen, sie wollen die Budgethilfe einstellen, weil der diese Bank bereitstellen, wenn von denen fast das ganze Bundesrechnungshof fordere, dass sie eingestellt werden Budget von Kambodscha bezahlt wird, wo die Opposi- müsse. Das ist schlicht gelogen. Der Bundesrechnungs- tion, wo die Demokratie unterdrückt wird. Ich bin nicht hof sagt nicht, dass überall, wo sich Deutschland an mehr bereit, aus deutschen Steuergeldern Mittel zur Ver- Budgethilfe beteiligt – multilateral, auf EU-Ebene, auf Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1343

Dr. Sascha Raabe (A) UN-Ebene –, die Budgethilfe eingestellt werden müsse. Die dritte Frage habe ich vergessen. Sie dürfen sie (C) Sie können hier doch nicht eine Rede halten, in der Sie gern wiederholen. Aber sicherlich war sie auch nicht so dem Bundesrechnungshof etwas unterstellen, was er bedeutend. nicht gesagt hat. (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Da ich eh keine Ich muss übrigens keine Frage stellen. Sie sollten sich qualifizierten Aussagen mache!) einmal die Geschäftsordnung anschauen. Dann werden Budgethilfe ist klar. Wir wollen sie effektiv einsetzen. Sie sehen, dass ich hier auch Lügen richtigstellen darf. Wenn Sie hier einen solchen Unsinn erzählen, dann kann Nun nenne ich aus Zeitgründen nur noch einen Punkt, es einen nicht mehr auf dem Platz halten. Herr Minister, der mir persönlich ebenfalls wichtig ist. Ich bitte Sie, dies sehr intensiv zu verfolgen. Die aktuelle (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das mit der Finanz- und Konjunkturkrise hat dazu geführt, dass es Lüge ziehen Sie zurück! Das ist unparlamenta- auch in den Entwicklungsländern erhebliche Probleme risch!) gibt. Nicht die Entwicklungsländer haben die Probleme verursacht, sondern sie sind woanders entstanden, auch Dann sollten Sie sich auch nicht darüber wundern, wenn bei uns. Diese Länder dürfen nicht darunter leiden. Die man sich darüber aufregt. Wenn Sie an einer sachlichen Folgen müssen mit unserer Hilfe gelindert werden. Diskussion interessiert sind, dann bleiben Sie bitte sach- lich und bei der Wahrheit, Herr Koppelin. Zu Afghanistan ist in der außenpolitischen Debatte schon etwas gesagt worden. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Herr Kollege, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar für Ihre Fragen. – Habe ich Ihre Aufmerksamkeit? Ich Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): wollte Ihnen gern antworten. Aber es ist schon genau das Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Dieses Problem, wie Sie sich heute geben: Sie können nicht ein- Ministerium hat in den letzten Tagen wirklich viel Öf- mal zuhören. Sie stellen Fragen, können vielleicht aber fentlichkeit erlebt, nicht zuletzt durch die massive Kritik nicht die Antwort ertragen. der Sozialdemokraten. Dies hat uns geholfen. Also kriti- sieren Sie in dieser Form weiter! Wir werden unseren Herr Kollege, ich bin ausgesprochen dankbar für Kurs weiter verfolgen. Ich bin Minister Niebel und der diese Fragen, weil es erstens mein Urteil über Sie und Staatssekretärin, der Kollegin Kopp, ausgesprochen (B) Ihre bisherige Politik voll bestätigt hat, was Sie in Ihren dankbar, dass sie dieses Ministerium aufgewertet haben, (D) Fragen zum Ausdruck gebracht haben. Ich fange mit der sodass es in der Öffentlichkeit endlich wieder eine Rolle Budgethilfe an. spielt. (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Oder mit der Herzlichen Dank. ODA-Quote!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Hören Sie doch einfach zu! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich habe mich als Berichterstatter für den Einzel- Das Wort hat der Kollege Lothar Binding von der plan 23 im Haushaltsausschuss wirklich oft – nicht nur SPD-Fraktion. einmal und auch in Sondersitzungen – mit den Kollegin- (Beifall bei der SPD) nen und Kollegen aller Fraktionen zusammensetzen müssen, weil das Thema Budgethilfe eine große Rolle gespielt hat. Zum Schluss gab es sogar das Problem, Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): dass die Union die Budgethilfe für Vietnam nicht wollte, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und während Sie sie wollten. Ich habe so viele Sitzungen Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Zunächst dazu gehabt, dass ich diesen Bericht fast auswendig mache ich eine Bemerkung zu der Debatte, die eben kenne. Werfen Sie mir also bitte nicht vor, ich behaup- Herr Koppelin und zuvor schon Dirk Niebel angestoßen tete hier Falsches. Sie haben anscheinend den Bericht haben. Ich glaube, dass nur sehr schwache Amtsinhaber nie gelesen. Ich stelle ihn Ihnen aber gerne zur Verfü- dadurch stärker erscheinen wollen, dass sie ihre Vorgän- gung. ger persönlich schlechtmachen. Das ist kein guter Stil, und dies trägt auch ein bisschen zu dem Aggressions- (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das hat der Rech- potenzial bei, das man eben spüren konnte. nungshof nicht gesagt!) (Beifall bei der SPD) Was die ODA-Abschlussquote angeht, habe ich Ih- Ich nehme ein Stichwort auf, das Thilo Hoppe benutzt nen hier meine Meinung gesagt; Sie vertreten eine an- hat und das auch ich gern benutze: das Ritual, das ei- dere. Ich mache den Vorschlag, dass ich mich mit Ihnen gentlich niemand versteht, und das Maß der Selbstkritik. darüber nicht streite. Wenn die endgültigen Zahlen da Ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Aber es geht sein werden, werden wir sehen, wer in der Sache recht noch um einen anderen Begriff: das Maß der Anstren- hatte. gung, mit der man seine Ziele erreicht. Das Maß der An- 1344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Lothar Binding (Heidelberg) (A) strengung ist, wie man zeigen kann, in Bezug auf unser Von dem Auf und Ab für den GFATM haben wir (C) ganz konkretes Ziel einer ODA-Quote von 0,7 Prozent schon gehört. 200 Millionen Euro sollten es sein. Im in Deutschland sehr unterschiedlich. Auf dieses Maß der Entwurf stehen viel weniger Mittel. Dann gab es in der Anstrengung werde ich nachher zurückkommen. Öffentlichkeit ein Hin und Her. Vom Ministerium wurde erklärt, warum die 142 Millionen Euro doch korrekt Ich war gestern bei Amnesty International. Da gab es seien. Anschließend haben wir in der Presse gehört, dass eine Ausstellung von Bildern, die in Slums, in Favelas es doch 200 Millionen Euro hätten sein sollen und auch gemacht wurden. Sie wurden dreidimensional aufgebaut. sein werden. Daran sieht man schon, dass auch mit dem Es ging dabei weniger um Armut an sich, weniger um Parlament bestimmte Dinge über die Öffentlichkeit aus- Lebens- und Wohnverhältnisse, als vielmehr darum, wie getragen werden. Ich glaube, dass man Empfängern von es eigentlich Menschen gelingen kann, ihre Würde zu Leistungen solche Wechselbäder nicht über die Presse wahren, obwohl sie so arm sind. Das gelingt sehr vielen zumuten kann. sehr gut. (Beifall bei der SPD) Der Würdebegriff spielt in diesem Einzelplan eine ganz besondere Rolle. Dabei geht es, wie ich meine, Schauen wir einmal genauer darauf, was dieser Be- auch sehr stark um Symbole, um Verhalten. Jetzt will ich griff „liberaler Haushalt“ eigentlich bedeutet! Sie von eine kleine paradoxe Intervention vorführen. Dass unser der FDP haben immer eine Geheimwaffe gehabt, mit der Entwicklungsminister mit einem solchen Käppi, wie ich sie uns jährlich gequält haben – dicker als diese paar es mir jetzt aufsetze, die Armen besucht – – Ich halte es Blätter hier. Das war das „Sparbuch“ der FDP. Es war nicht lange aus; es ist auch nicht eingetragen. 4 Zentimeter dick, hatte 1 000 Seiten. Es war meist keine geheime Verschlusssache, wurde hier aber nie vorgetra- (Zuruf von der FDP: Das ist das Vorgänger- gen. modell!) – Sie kennen sich da gut aus. Ich bin Zivildienstleisten- (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Früher habt der im Krankenhaus gewesen. Ich musste es extra neu ihr bestritten, dass ihr es überhaupt gelesen beschaffen. – Was ich sagen wollte, ist einfach Folgen- habt!) des: Wer diesen Würdebegriff ernst nimmt, muss sich so – Ich habe es immer gelesen. etwas überlegen. Ich habe es dem Minister übel genom- men, dass er in dieser Form in anderen Ländern aufge- Die Einsparungen, die dort vorgeschlagen wurden, taucht ist und uns dort so repräsentiert hat. Darüber war suchen wir in diesem Haushalt allerdings vergeblich. ich sehr enttäuscht. Jetzt vergleiche ich nicht die neue Regierung mit der al- (B) ten, sondern ich vergleiche die FDP-Vorstellungen von (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestern mit den FDP-Handlungen von heute, und das ist DIE GRÜNEN) erlaubt. Das haben Sie bei uns auch gemacht. Das halte Das führt uns zu einem bestimmten Selbstverständ- ich für legitim. nis. In der Rhein-Neckar-Zeitung – das ist die Zeitung, (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Wir haben die in dem Wahlkreis wichtig ist, in dem Herr Dirk doch noch gar keine Beratung gehabt!) Niebel früher zu Hause war – habe ich am 19. Januar Folgendes gelesen –: Minus 125 000 Euro bei den Bezügen für Bundes- minister und Parlamentarische Staatssekretäre. Wenn es jemand hinkriegt, dieses Amt so neu auf- zustellen, dass es seinem Namen gerecht wird, dann (Lachen des Abg. Jörn Wunderlich [DIE ich. LINKE]) (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das Fehlanzeige! Davon kann man nicht viel finden, genau stimmt!) genommen gar nichts. – Das habe ich mir gedacht. Ich glaube, dass es genau (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Typisch dieses Verständnis ist, das uns irritiert. FDP!) Nehmen wir einfach einmal ein Beispiel: Im Novem- Minus 500 000 Euro bei der Öffentlichkeitsarbeit. – ber hat Kollege Niebel forsch 300 Millionen Euro für Diese Streichung hätten wir uns gewünscht. Das war das Ministerium gefordert. Es wurden dann schließlich eine super Idee, gegen die ich immer war. Aber diesmal 44 oder 67 Millionen Euro; wie viel genau, ist egal, je- ist davon nichts zu finden. denfalls sehr wenig. (Zuruf von der FDP: Immerhin!) Minus 675 000 Euro bei Information und Kommuni- kation. – Da wird ein bisschen gekürzt, aber bei weitem Das heißt, die Forderung war schon fast um den Faktor keine 675 000 Euro. zehn zu niedrig. Das Ergebnis war fast um den Faktor 40 zu niedrig. Aber wen wundert’s? Wer etwas Falsches Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fordert, kann keine richtigen Ergebnisse zeitigen. Herr Kollege Binding, erlauben Sie eine Zwischen- (Beifall bei der SPD) frage des Kollegen Koppelin? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1345

(A) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Ich habe vorhin versucht, den Grund für unsere An- (C) Im Moment möchte ich noch vortragen, weil das so träge darzulegen. Das ist anscheinend nicht richtig rü- eine schöne Liste ist. Ich glaube, dass es geschickter ist, bergekommen. Ich verweise noch einmal auf den Artikel wenn ich die erst einmal zu Ende führe. in der taz vom 21. September 2009 mit der Überschrift „Das Marionetten-Ministerium“ – ich stelle Ihnen den Minus 105 Millionen Euro für das Integrierte Klima- Artikel auch gerne zur Verfügung – mit heftigster Kritik und Energieprogramm: Fehlanzeige. Das habe ich im daran, dass dieses Ministerium null Einfluss hatte. Das Haushalt nicht gefunden. Sie klären mich sicherlich haben wir genauso gesehen, und das war über Jahre hin- nachher auf. weg einer der Gründe dafür, dass wir entsprechende An- Minus 600 000 Euro für die Überprüfung der deut- träge gestellt haben. schen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Auch (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- dazu habe ich nichts gefunden. NIS 90/DIE GRÜNEN) Minus 1,5 Millionen Euro für die Forschung. Im Haushalt finde ich nichts. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Minus 4 Millionen Euro für die entwicklungspoliti- Wenn Sie jetzt stolz darauf sind, dass Sie den ach so sche Bildung. Darüber haben wir uns immer sehr aufge- miesen Haushaltsansatz von 5,8 Milliarden Euro dieses regt. Im Haushalt finde ich nichts – was ich heute gut einflusslosen Ministeriums, den unsere Ministerin sei- finde. Aber gemessen an dem, was sich die FDP vorge- nerzeit im Parlament erreichen konnte, um 67 Millionen nommen hat, ist das nichts. Euro überschreiten, dann gebührt dieser Stolz, glaube ich, doch zum überwiegenden Teil den Vorarbeiten Ihrer Jetzt komme ich zu zwei interessanten Punkten: Mi- Vorgängerin. Ich denke, das kann man lobend erwähnen. nus 2 Millionen Euro für die Förderung entwicklungs- wichtiger Vorhaben privater deutscher Träger. Was aber (Beifall bei der SPD) finden wir im jetzigen Haushalt? Plus 10 Millionen Das ist eine sehr gelungene Basis, auf der Sie im We- Euro. Das ist interessant. Was hat diesen Wandel indu- sentlichen weiterarbeiten. Viele Ansätze sind völlig ziert? gleich geblieben. Minus 30 Millionen Euro für den entwicklungspoliti- Die Struktur ist minimal verändert worden, allerdings schen Freiwilligendienst. Als Begründung hieß es, dass an einer gefährlichen Stelle. Darauf will ich näher einge- das nicht Sache des Bundes sei. Gott sei Dank hat es sich hen. Lassen Sie mich ein paar nüchterne Zahlen nennen. inzwischen bis zum Minister herumgesprochen, dass 1981 – Sie wissen sicherlich noch ungefähr, was damals (B) man diese Kürzung nicht vornehmen sollte. war; es gab einen Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb – (D) Ich komme zur ODA-Quote und zu einem Stichwort, betrug die ODA-Quote 0,47 Prozent. Nicht schlecht. das vorhin genannt wurde. Wie hoch war die ODA-Quote 1998 – nach einer ge- wissen Zeit der schwarz-gelben Regierung? Kann das je- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mand raten? Sie hätte eigentlich steigen müssen. Davon Herr Kollege Binding, – – war schließlich immer die Rede. Das meine ich mit An- strengung. Sie war auf 0,26 Prozent gesunken. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: 16 Jahre Wir machen es am Ende meiner Rede. Das ist besser Schwarz-Gelb!) für meinen Redefluss. Das war das Minimum auf der gesamten Zeitachse, auf die wir zurückblicken. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein, das gehört in die Rede hinein. Er hat sich in der Inzwischen beträgt die ODA-Quote ungefähr 0,40 Pro- Rede gemeldet. zent. Damit können wir nicht zufrieden sein. Deshalb wollen wir mehr. Wir wollen die ODA-Quote erfüllen. Aber dafür ist gute Politik gefordert. Das wird unsere Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Messlatte für Sie sein. Okay, Sie dürfen Ihre Zwischenfrage stellen. Ich nenne einige Beispiele, was wir erwarten. Eines können Sie sich schon denken. Selbstverständlich wer- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den wir bei unseren Deckungsvorschlägen von dem Be- Bitte schön. trag ausgehen, den die Senkung des Mehrwertsteuersat- zes für Hotels ausmacht. Das sind 1 Milliarde Euro nach Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): vorsichtiger Schätzung. Sie können aber auch die Rück- Herr Kollege, vielen Dank. Sie nehmen wahrschein- nahme der Sonderregelungen für internationale Kon- lich zum ersten Mal an Haushaltsberatungen, auch an zerne in den Blick nehmen. Sie nennen das Krisenbewäl- Beratungen zu diesem Etat teil. Deswegen können Sie tigung. Das muss offen gestanden falsch sein; denn die nicht wissen, dass in den Beratungen die Möglichkeit Krise wollen wir überwinden, sodass eine dauerhafte besteht, Anträge einzubringen. Diese Gelegenheit haben Rücknahme bestimmter Elemente der Unternehmensteu- Sie auch. erreform 2008 keinen logischen Sinn ergibt. 1346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Warum hat Minister Schäuble den Erlass zu den Steu- Nach 16 Jahren schwarz-gelber Regierung war sie auf (C) eroasen ausgesetzt, als ob es keine Abwanderung in 0,26 Prozent gesunken. In der Tat ist es richtig, dass das Steueroasen mehr gäbe? Auch dazu haben wir einen De- Volumen des Haushalts des Ministeriums für wirtschaft- ckungsvorschlag. liche Zusammenarbeit und Entwicklung bis 2005 nicht zugenommen hat, sondern etwas gesunken ist. Aller- (Beifall bei der SPD) dings ist die ODA-Quote weiter gestiegen, weil auf- Hinzu kommen selbstverständlich der Erlös aus der grund unserer Initiative die Entschuldung der ärmsten Versteigerung der Emissionszertifikate und Rückflüsse Länder der Welt – ich nenne als Beispiele die HIPC-Ini- aus der finanziellen Zusammenarbeit. Zu erwägen ist tiative, den Weltwirtschaftsgipfel in Köln im Jahr 1999 auch, ob die Zahlungen an multilaterale Fonds nicht als und die Initiative der Bundesrepublik Deutschland unter Zuschuss, sondern als zinssubventioniertes Darlehen ge- Gerhard Schröder – begonnen hat. Dies wurde auf die währt werden können. Damit hätte man eine Hebelwir- ODA-Quote zu Recht angerechnet. Sie dürfen nicht Äp- kung. Außerdem sind sie anrechnungsfähig. fel mit Birnen vergleichen und die ODA-Quote mit dem Haushalt verwechseln. Man könnte die ODA-Quote anheben und stabilisie- ren. Ich glaube, das wäre mit der Weltbank zu verhan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) deln. Eventuell geht das sogar ohne Militärkäppi. (Beifall bei der SPD) Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Frau Hendricks, ich gebe Ihnen folgende Antwort: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das ist mir bekannt. Das ist aber nicht das Thema. Ich Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von wollte darauf hinweisen, dass Herr Binding die Zahlen der CDU/CSU-Fraktion. für den Zeitraum von 1998 bis 2005 explizit nicht er- wähnt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aber er hat die ODA-Quote erwähnt!) Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sie haben durchaus recht: Er hat von der ODA-Quote Es ist interessant, Herr Binding, dass Sie uns mit Zahlen gesprochen. konfrontieren, aber einen gewissen Zeitraum auslassen, (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: So ist es!) nämlich die Jahre 1998 bis 2005. Denn in dieser Zeit ist das Volumen des Haushalts gesunken, Aber er hat einen falschen Eindruck erweckt. Deshalb (B) (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Aber nicht die habe ich darauf hingewiesen, dass das Volumen des hier (D) ODA-Quote!) zur Diskussion stehenden Haushalts unter Rot-Grün ge- sunken ist und dass das – ich glaube, dafür dürfen Sie und zwar um fast 130 Millionen Euro. Das lag nicht an dankbar sein – nicht an Ihrer Ministerin gelegen hat. Das Ihrer Ministerin – denn wie wir alle wissen, hat sie wirk- hat man später gemerkt; denn unter Frau Wieczorek- lich darum gekämpft –, sondern es lag am Kanzler. Zeul kam es dann zu einem großen Aufwuchs. Aber al- les in allem haben wir das primär unserer Kanzlerin zu (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sie ist nicht verdanken. Das zeigen auch die Zahlen. Das war der gesunken!) Grund, warum ich das erwähnt habe. Wir müssen auch sehen, zu welcher Zeit es zu einem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stetigen, 50-prozentigen Aufwuchs gekommen ist. Das war unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel, weil es Die Finanzmarktkrise wurde vorhin kurz angespro- für sie eine Herzensangelegenheit ist. chen. Sie führt uns dramatisch vor Augen, wie sehr wir (Beifall bei der CDU/CSU) global vernetzt sind und dass wir uns nicht abschotten können. Ich erinnere daran, dass viele Experten gesagt Die aktuelle Finanzmarktkrise wurde schon angespro- haben, die Entwicklungsländer würden von der Finanz- chen. marktkrise nicht so sehr betroffen sein, weil diese Län- der nicht solche Bankensysteme und eine solche Infra- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: struktur wie die Industrieländer hätten. Aber es ist ganz Frau Kollegin Wöhrl, erlauben Sie eine Zwischen- anders gekommen. Die Finanzmarktkrise hat immens frage der Kollegin Hendricks? große Spuren hinterlassen und auch vor den Entwick- lungsländern nicht haltgemacht. Das sieht man auch da- ran, dass mit 20 Millionen Armen mehr gerechnet wird, Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): wenn das globale Wachstum um 1 Prozent abnimmt. Der Bitte, Frau Hendricks. Weltbankpräsident hat veröffentlicht, dass die Zahl der ärmsten Menschen aufgrund der Finanzmarktkrise um Dr. Barbara Hendricks (SPD): 64 Millionen gestiegen ist. Daran kann man die Auswir- Frau Kollegin Wöhrl, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu kungen dieser Krise erkennen. Die Herausforderungen, nehmen, dass die Daten, die Herr Binding gerade ge- die auf Deutschland und die anderen Geberländer zu- nannt hat, die ODA-Quote betreffen? Ich wiederhole: kommen werden, werden nicht geringer, sondern größer Im Jahr 1991 lag die ODA-Quote bei 0,47 Prozent. werden. Das müssen wir uns vor Augen führen. Unsere Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1347

Dagmar Wöhrl (A) Solidarität muss zunehmen. Wir müssen mehr globale heute auf morgen geht; das dauert eine gewisse Zeit. Sie (C) Verantwortung übernehmen. wollen partnerschaftliche Zusammenarbeit, was natür- lich auch für die Wirtschaft, zum Beispiel den Energie-, Nun geht es darum, wie wir die größere Verantwor- Kommunikations- oder Dienstleistungsbereich, gilt. tung, die zukünftig auf uns zukommt, ausgestalten wol- len. Als Erstes heißt es immer, dass wir mehr Geld brau- Bei Afrika denkt man natürlich auch an die Energie- chen. Ich glaube nicht, dass man alle Probleme lösen versorgung, die vor allem im ländlichen Bereich ein kann, indem man mehr Geld in die Hand nimmt. Quanti- Riesenproblem ist. Man denkt an den Klimaschutz, die tät ist nicht gleich Qualität. Es ist ein falscher Ansatz, Abholzung der Tropenwälder und die Energiegewinnung den Problemen Geld hinterherzuwerfen. Dadurch ver- durch Holzkohle. Allerdings sollte man auch an unsere schwinden die Probleme nicht. Wir müssen zukünftig Umwelttechnologien denken. Hier sind wir mit einem viel mehr darauf schauen, wofür und wie wir Geld aus- Anteil von 30 Prozent Weltmarktführer. Warum kann geben. Wir müssen damit viel bewusster umgehen, auch man nicht zu einer Win-win-Situation kommen, indem – schließlich sind wir in den Etatberatungen – mit Blick man mit unseren Technologien hilft? Sie können in die- auf unseren Haushalt. Es wird nicht mehr werden. Wir sen Ländern Entwicklungstreiber sein und sind es zum müssen konsolidieren und die Vorgaben der Schulden- großen Teil schon. Es gibt keinen besseren Weg, um die bremse im Grundgesetz einhalten. Vor diesem Hinter- Armut zu lindern, den Klimawandel aufzuhalten und grund wird es zukünftig eine wichtige Aufgabe sein, die auch in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen. Gelder noch effizienter einzusetzen. Wir brauchen auch Akzeptanz in der Öffentlichkeit Nun zum Thema „50 Jahre Entwicklungspolitik in dafür, wie wir die Gelder einsetzen. Manchmal habe Afrika“. Viele von Ihnen, die schon sehr lange – auch im ich das Gefühl, dass dafür noch ein bisschen zu wenig zuständigen Fachausschuss – aktiv sind, haben in den getan wird. Damit die Akzeptanz in unserer Bevölke- letzten Jahren mit viel Herzblut und großer Intensität rung – auch bei den Menschen, die keinen Arbeitsplatz beim Aufbau in Afrika mitgewirkt. Wenn wir aber ehr- haben – noch größer wird, ist es wichtig, darauf hinzu- lich sind, können wir mit dem, was wir geschafft haben, weisen, dass unsere Wirtschaft vor Ort ist und dies auch nicht zufrieden sein. Arbeitsplätze bei uns sichert. Es ist wichtig und richtig, die Eigenverantwortung und die Selbsthilfekräfte zu (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wohl wahr!) stärken. Das kann durch Handel und durch die Stärkung Deswegen müssen wir auch in Zukunft kritisch bilanzie- des privaten Sektors geschehen. ren und hinterfragen. Mikrofinanzkredite sind für mich ein unwahrschein- lich wichtiges Instrument. In vielen Entwicklungslän- (B) Eine quantitative Erhöhung des Etats kann es nur ge- (D) ben, wenn sie mit einer Reform der entwicklungspoli- dern gibt es keinen Mittelstand, keine vielen kleinen Be- tischen Instrumentarien einhergeht. triebe wie in Deutschland, die uns stark gemacht haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Was ist das denn für der CDU/CSU) ein Staatsverständnis?) Der Minister hat bereits angesprochen, dass wir eine Re- Für mich ist es hochinteressant, dass 50 Prozent dieser form der Durchführungsorganisationen brauchen. Das Mikrofinanzkredite von Frauen in Anspruch genommen wird nicht einfach werden. Am Anfang wirkt immer al- werden und es einen immens hohen Rückfluss von les schön und gut, und man spricht von Synergieeffekten 95 Prozent gibt; das sind hervorragende Zahlen. Auf die- und vielem mehr. Wenn es dann aber an die Umsetzung ses Instrument müssen wir in Zukunft noch viel mehr geht, sieht das ganz anders aus; Frau Ministerin a. D., setzen. Sie wissen noch, wie das gewesen ist. Herr Minister, ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Unsere Unterstützung haben Wir dürfen die Entwicklungspolitik nicht nur als Ar- Sie. mutsbekämpfung sehen, sondern es gehören auch nach- haltige Wachstumsperspektiven dazu. In Zukunft müs- Die Gründe, weswegen man Entwicklungspolitik be- sen wir uns noch viel mehr auf gezielte Investitionen in treibt, sind sehr vielfältig. Natürlich gibt es humanitäre die Bildung und das Wissen der Menschen konzentrie- Gründe. Wir sind uns alle einig, dass wir die Not und das ren. Herr Minister, ich bin froh, dass es im Haushaltsplan Elend der Menschen lindern wollen. Dann gibt es sicher- zu einem Aufwuchs bei den Mitteln für die Bildung ge- heitspolitische Gründe. Wir wissen, dass die globalen kommen ist. Es gibt eine immense Bildungsarmut. Risiken zunehmen. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir 140 Millionen Kinder und Jugendliche besuchen keine diese Risiken ganz schnell bei uns im Land. Deswegen Schule. Sie werden nie die Chance haben, aus der Armut betreiben wir Krisenprävention. herauszukommen, auch wenn wir noch so viel Geld hin- schicken. Das werden die verlorenen Generationen sein, Außerdem gibt es wirtschaftspolitische Gründe. Viele die man irgendwann nicht mehr zurückholen und inte- von Ihnen, die viel gereist und vor Ort gewesen sind, grieren kann. Weil die Bildungschancen, ähnlich wie wissen, dass die Entwicklungsländer sich selbst nicht Nahrung, ungleich in der Welt verteilt sind, ist es wich- gerne als Armutsländer sehen. Sie wollen nicht ewig tig, dass wir Hilfe leisten, und zwar auch in der berufli- Empfängerländer bleiben, sondern haben ihren Stolz und chen Bildung und im Tertiärbereich. wollen unabhängig werden und in der Zukunft eigenver- antwortlich handeln. Sie wissen, dass das nicht von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Dagmar Wöhrl (A) Der Einzelplan 23 ist der zweitgrößte Investitions- Das faktische Nullwachstum des Entwicklungs- (C) haushalt. Das heißt für uns natürlich auch, dass wir eine haushalts ist enttäuschend und bricht das Verspre- große Verantwortung tragen; denn es handelt sich um chen an die Ärmsten der Welt. Steuergelder. Ich sage immer – ich bin jetzt seit 15 Jah- ren im Deutschen Bundestag –, dass wir nur der Treu- So die Deutsche Welthungerhilfe heute morgen. händer sind. Das ist nicht unser Geld. Deswegen muss es Deutschland hat sich international dazu verpflichtet, verantwortungsbewusst eingesetzt werden. Wir müssen bis 2015 bescheidene 0,7 Prozent des Bruttosozialpro- die Verwendung überprüfen, und es muss legitim sein, duktes für die Entwicklungszusammenarbeit auszuge- dass die Gelder in deutschem Interesse verwendet wer- ben. Als Zwischenziel hatte die alte Bundesregierung, den. die auch in der neuen vertreten ist, angekündigt, den An- teil bis 2010 auf 0,51 Prozent anzuheben. Schwarz-Gelb Wir dürfen auch keine Blankoschecks verteilen. Die hat sich heute davon verabschiedet. Der jetzige Haushalt Budgethilfe ist angesprochen worden. Es ist in diesem ist ein klarer Wortbruch. Saal viel über das Thema Budgethilfe diskutiert worden. Es ist wichtig, Kontrolle auszuüben; aber es ist auch (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- wichtig, dass die Kriterien für die Budgethilfe, die auf- NIS 90/DIE GRÜNEN) gestellt worden sind, eingehalten werden. Ob es um Rechtsetzung oder um Menschenrechte geht, ist egal. Beim genauen Hinsehen wird es noch schlimmer: Wir müssen einem Land auch einmal sagen: „Wir haben Herr Niebel rechnet jetzt auch Gelder für Klimaschutz- die Hilfe überprüft, und wir haben angemahnt, dass Kri- maßnahmen in die Entwicklungszusammenarbeit ein. terien nicht eingehalten wurden“, und dann den Mut ha- Das ist nicht hinnehmbar. Die Industrieländer tragen die ben, darüber nachzudenken, ob wir einem solchen Ent- Hauptverantwortung für den Klimawandel. Die afrikani- wicklungsland weiter Budgethilfe geben. Dieses Recht schen Staaten haben mit 3,5 Prozent des globalen Schad- muss uns vorbehalten bleiben. stoffausstoßes kaum zum Klimawandel beigetragen, lei- den aber am meisten unter den Folgen. Die Gelder sind (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute eine Wiedergutmachung und keine Entwicklungshilfe. Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Wer das heute nicht begreift, dessen Politik ist schlicht ist doch keine Frage! Der Hinweis ist überflüs- nicht zukunftsfähig. sig!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Wenn wir unsere Entwicklungshilfe nicht als großzü- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gige Armutshilfe, sondern als zeitlich begrenzte Hilfe Zudem werden derzeit sogar die Kosten für die Abschie- (B) zur Selbsthilfe verstehen – das gilt auch für unsere Part- (D) ner –, dann werden wir Erfolg haben. Es gibt das schöne bung von Asylbewerbern in die Entwicklungshilfe ein- Beispiel – Sie alle kennen es – vom Offizier Martin, der gerechnet, ebenso die Baukosten für die Unterkünfte der seinen Mantel mit einem Obdachlosen am Straßenrand Bundeswehr in Afghanistan. Das muss man sich einmal teilt. Er gibt dem Obdachlosen die Hälfte des Mantels, auf der Zunge zergehen lassen. Es grenzt schon fast an was eine noble Geste ist. Was ist das Ergebnis dieser Ge- Bilanzfälschung, was im BMZ praktiziert wird. schichte? Wir haben einen Heiligen mehr, aber wir ha- (Beifall bei der LINKEN) ben keinen Armen weniger. Deshalb müssen wir die Ethik des Teilens mit der Ethik des Mehrens verbinden. Herr Niebel hat bereits in seiner kurzen Amtszeit die Vielleicht habe ich es etwas überspitzt dargestellt. Aber Weichen für die Entwicklungspolitik falsch gestellt. Die wenn wir es schaffen, dass einer eine kleine Firma auf- erste falsche Weichenstellung war die Ablehnung der Fi- macht, in der er Mäntel herstellt und vielleicht noch ei- nanztransaktionsteuer. nen Obdachlosen einstellt, damit sich dieser in Zukunft (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und selber einen Mantel von seinem Geld kaufen kann, dann der SPD) haben wir das erreicht, was wir erreichen wollen. Wenn wir unseren Haushalt nicht unter dem Aspekt der Ethik Wo sollen denn, bitte schön, die zusätzlichen Mittel her- des Teilens, sondern der Ethik des Mehrens sehen, dann kommen, die Sie, Herr Niebel, richtigerweise für Ihr sind wir auf dem richtigen Weg. Ressort fordern? Eine Börsenumsatzsteuer, wie sie von der Linksfraktion gefordert wird, würde 70 Milliarden Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Euro Mehreinnahmen für den Bundeshaushalt schaffen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und damit auch der Entwicklungszusammenarbeit zugu- Das Wort hat jetzt der Kollege Niema Movassat von tekommen. der Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen internationale Besteuerungsformen, mit denen wir die großen transnationalen Konzerne stärker Niema Movassat (DIE LINKE): zur Verantwortung ziehen; denn sie profitieren von nied- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! rigen Arbeitslöhnen, den fehlenden Sozialleistungen und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1349

Niema Movassat (A) den niedrigen Umweltstandards in den Ländern des Sü- auf die unbedingte Achtung von Völkerrecht und Men- (C) dens. schenrechten stützt. Sie kann nur dann wirksam sein, wenn ihre Bemühungen nicht von der Handelspolitik (Beifall bei der LINKEN) ständig null und nichtig gemacht werden. Strukturelle Damit komme ich zum nächsten Herzthema von Veränderungen im Sinne der Menschen des Südens be- Herrn Niebel: dem Wirken der deutschen Wirtschaft nötigen vor allem politischen Willen. Ob Sie den haben in Entwicklungsländern. Für den Entwicklungsminis- werden, wird sich zeigen. ter lässt sich gute Entwicklungszusammenarbeit an der Ich danke für die Aufmerksamkeit. Höhe der deutschen Investitionen im Ausland messen. Die Stichworte „Hungerbekämpfung“ und „Armutsmin- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- derung“ sind den Begriffen „deutsche Interessen“ und neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN „privatwirtschaftliche Initiativen“ gewichen. Wenn die und der SPD) Entwicklungspolitik, wie von der Bundesregierung an- gekündigt, stärker an Menschenrechten ausgerichtet Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden soll, dann muss das insbesondere für die Aktivi- täten der deutschen Wirtschaft im Ausland gelten. Das Wort hat der Kollege Volkmar Klein von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ein Negativbeispiel bietet ThyssenKrupp. Dieser der FDP) Konzern baut gerade ein Stahlwerk in einem geschützten Mangrovengebiet an der Küste Brasiliens. Dadurch wird Volkmar Klein (CDU/CSU): 40 000 Menschen der Weg zu Fischgründen abgeschnit- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ten, und dadurch werden die Mangrovenwälder von ren! Als neugewählter Abgeordneter dachte ich, dass es Trassen verwüstet. Kritiker des Stahlwerkes werden von auch innerhalb der Oppositionsfraktionen so etwas wie Milizen mit dem Tode bedroht, sodass sogar der Schutz Kommunikation, vielleicht sogar innerfraktionelle Ab- des brasilianischen Menschenrechtsschutzprogramms stimmungen gebe; aber offenbar habe ich mich da ge- nötig ist. Das ist hoffentlich nicht die Art von Auslands- täuscht. investitionen, die Sie sich wünschen, Herr Niebel. Ich hoffe, dass Sie dazu klar Position beziehen. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ob das im Landtag NRW der Fall wäre!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In den letzten beiden Tagen habe ich häufig die massive (B) (D) Abschließend zu nennen ist die Frage der ländlichen Kritik gehört, dass die Neuverschuldung viel zu hoch Entwicklung – für den Entwicklungsminister nach eige- sei. Gleichzeitig habe ich mittlerweile mehrfach die Kri- ner Aussage ein Kernthema. 80 Prozent der Hungernden tik gehört, dass die Ausgaben an vielen Stellen und ge- weltweit leben auf dem Land. Dennoch wurde der Anteil rade beim Einzelplan 23 viel zu gering seien. Beides der Landwirtschaftsförderung an der Entwicklungshilfe passt aber nicht zusammen. Vielleicht ist es die Strategie der Industrieländer in den letzten Jahrzehnten von circa der Opposition, einfach erst einmal dagegen zu sein. 17 Prozent auf 3,7 Prozent zurückgefahren. Dabei kann Überlegen Sie bitte einmal, ob Sie gegen zu geringe nur die Unterstützung einer kleinbäuerlichen Landwirt- Ausgaben oder gegen zu hohe Schulden sind. Wenn Sie schaft die weltweite Hungerkrise eindämmen, unter der gleichzeitig gegen beides sind, dann werden Sie in der mittlerweile 1 Milliarde Menschen leiden. Zu diesem Er- Öffentlichkeit unglaubwürdig. gebnis kam auch der Weltagrarbericht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Notwendig ist es auch, sich offensiv gegen illegale Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Man muss doch Landnahmen einzusetzen, durch die der Bevölkerung einfach nur die Prioritäten richtig setzen!) skrupellos die Ernährungsgrundlage entzogen wird. Herr Das ist einfach durchsichtig, und das werden wir Ihnen Niebel, Sie haben recht, wenn Sie die unfairen Handels- nicht durchgehen lassen. beziehungen und die westliche Subventionspolitik für das Scheitern der bisherigen Entwicklungspolitik mit- (Zuruf des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] verantwortlich machen. Aber dann muss sich die Bun- [SPD]) desregierung für die sofortige Abschaffung der Agrar- – Da ist das Geschrei von Herrn Binding eher als Bestä- exportsubventionen einsetzen; tigung zu werten. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Tatsächlich ist Lob für den Haushalt des Ministeriums NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ten der SPD) angesagt. Dieser Einzelplan hat ein Volumen von sonst ist Ihre Kritik unglaubwürdig. Hierbei geht es 5,88 Milliarden Euro; das entspricht 1,8 Prozent unseres schließlich auch um Menschenleben. Haushaltes. Es sind 67 Millionen Euro mehr als im Vor- jahr veranschlagt. Das ist ein ordentlicher Aufwuchs ge- Entwicklungszusammenarbeit muss sich daran mes- genüber dem Jahr 2009. sen lassen, ob sie tatsächlich zur Verminderung der Ar- mut und zur Friedenssicherung beiträgt und sich dabei (Zuruf der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD]) 1350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

Volkmar Klein (A) – All Ihr Geschrei mag seine Berechtigung haben. Noch anderen soll uns interessieren. – Unsere Verantwortung (C) mehr zu fordern und noch mehr ausgeben zu wollen, endet also nicht an den Grenzen unseres Landes. Des- klingt zunächst einmal sehr sympathisch. Aber wenn ich halb gibt es auch eine Steigerung des Haushaltsansatzes. mich einmal so in deutschen Landen umschaue, dann stelle ich fest: In vielen Teilen Deutschlands nennt man Unsere Verantwortung endet aber auch nicht an den Leute, die ständig lautstark etwas fordern, aber die Ver- Grenzen unserer Generation. Auch das muss berücksich- antwortung dafür weder tragen müssen noch wollen, tigt werden. Auch die Frage der Staatsverschuldung ist Maulhelden. Denen glaubt man nicht. eine ethische Frage. Ich würde sogar sagen, hierbei han- delt es sich um eine der zentralen ethischen Fragen unse- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rer Zeit. Es kann doch nicht richtig sein, dass wir auf Wenn jemand obendrein selber in der Vergangenheit ent- Kosten der ganz schwachen anderen leben und die Zu- sprechende Verantwortung getragen und sie nicht ge- kunft derjenigen, die heute noch nicht einmal geboren nutzt hat, dann ist das noch viel schlimmer. sind, verfrühstücken. Das ist unethisch, das ist unmora- lisch. Wir haben jetzt schon ein paar Mal die Zahlen gehört. Während der gesamten Zeit der rot-grünen Regierung ist (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) der Ansatz für den Einzelplan 23 um 125 Millionen Euro Wenn man heute so tut, als ob nur der moralisch handelt, auf 3,9 Milliarden gesunken. Das ist doch eindeutig. der mehr Ausgaben fordert, und nicht auch der, der an Nun hat Frau Hendricks eben in einem, wie sie die Zukunft unseres Landes und unserer Kinder denkt meinte, genialen Schachzug versucht, das zu entschuldi- – dieser handelt doch eigentlich noch viel moralischer –, gen. ist das einfach nur grotesk. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Barthle Sie hat nämlich darauf hingewiesen, dass aufgrund von [CDU/CSU]: Da redet ein guter Haushälter!) Maßnahmen zum Schuldenerlass, zum Beispiel der Wir geben aber nicht nur mehr Geld aus, sondern HIPC-Initiative, die ODA-Quote viel höher gewesen sei. wollen dieses Geld auch effizienter ausgeben. Wir wol- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ja, klar!) len eine Straffung und Neuorganisation der Durchfüh- rungsorganisationen in Angriff nehmen; das wurde – Liebe Frau Hendricks, ich bedanke mich dafür, dass schon gesagt. Wir wollen aber auch noch mehr auf nach- Sie das jetzt noch einmal bestätigen. Das macht Ihre de- haltige Wirtschaftsentwicklung setzen und diese in saströse Bilanz noch viel schlimmer. Sie haben nämlich den Mittelpunkt rücken. Wirtschaftlich erfolgreiche über die entsprechenden Initiativen Schulden für Darle- Partnerländer sind auch gut für uns in Deutschland. (B) hen, die zuvor von der Regierung Kohl gewährt wurden, (D) erlassen. Das heißt, Sie haben Zuwächse bei der ODA- Drei Punkte möchte ich herausgreifen, die für mich Quote geerntet, deren Grundlage zuvor von der Regie- wichtige Schwerpunkte darstellen: rung Kohl gelegt worden ist. Erster Punkt ist der Bereich Klimaschutz. Allein in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diesem Einzelplan werden wir 170 Millionen Euro zu- neten der FDP – Lachen bei der SPD – sätzlich für Klimaschutz ausgeben. Man kann formal sa- Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Und das bei ei- gen, das ist die Antwort auf eine internationale Zusage. ner ersten Rede! – Weitere Zurufe vom Ich würde aber sagen, dass uns dies auch inhaltlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wichtig ist, weil es uns um den Schutz der Schöpfung geht. Ganz abgesehen davon will ich in Erinnerung rufen, dass der jetzt vorliegende Regierungsentwurf einen um Zweiter Punkt, Afrika. Wir vergessen Afrika und die 44 Millionen Euro höheren Ansatz aufweist als der von am wenigsten entwickelten Länder nicht. Auf diese Part- der alten Regierung ursprünglich vorgesehene Entwurf. nerländer entfallen 57 Prozent der Haushaltsmittel. Aber Deswegen sollten sich all diejenigen, die den niedrigeren wir wollen keine bloße Alimentierung der Armen, son- Ansatz bereits befürwortet hatten, mit ihrem Geschrei dern Hilfe zur Selbsthilfe. Wir sind eben kein Welt- nicht so weit hervorwagen. sozialamt. Man sollte es noch einmal unterstreichen: Ich möchte noch auf die Ausführungen des Kollegen Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, worauf wir setzen. Hoppe eingehen, der das auf die ganz große moralische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ebene gehoben hat. neten der FDP) (Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstkritisch!) Deshalb ist es so wichtig, Mikrokreditinitiativen in den Mittelpunkt zu stellen. Der Friedensnobelpreisträger Wir stehen zu unserer Verpflichtung, auch jenseits unse- von 2006, Muhammad Yunus, hat einmal gesagt: In je- rer Grenzen Verantwortung zu übernehmen. Ich dem Menschen steckt ein Unternehmer. – Ich bin nicht möchte einmal eine Anleihe bei Albert Schweitzer ma- ganz so optimistisch; vielleicht stimmt das nicht ganz, chen, der Wort und Tat in großartiger Art und Weise mit- aber sicher doch weitgehend. Wenn es uns gelingt, in einander verbunden hat. Er hat Moral bzw. Ethik – je vielen Menschen den Unternehmer zu wecken, dann nachdem, ob man auf den lateinischen oder griechischen können wir auch in vielen Menschen den Arbeitgeber Begriff zurückgreift – definiert, indem er gesagt hat: wecken. Genau das brauchen wir in Afrika. Bisher ist Nicht nur das eigene Wohl, sondern auch das Wohl der das an vielen Stellen leider nicht ausreichend gelungen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1351

Volkmar Klein (A) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werde ich jetzt nicht weiter auf diese Rede eingehen, ins- (C) Ach du dickes Ei!) besondere nicht darauf, wie Sie die Entschuldungsinitia- tive von Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek- Dritter Punkt. Wir sollten weniger nur in staatlichen Zeul irgendwie dem Vorgänger Kohl zugeordnet haben. Strukturen denken. Zu Hause, in unserer sozialen Markt- Das war schon ziemlich kabarettreif. Wir wollen es aber wirtschaft, lassen wir den Staat doch auch nicht alles aufgrund Ihrer ersten Rede dabei belassen – Schwamm machen. Aber sobald wir in Afrika helfen wollen, ver- drüber. gessen wir oft unsere guten Erfahrungen und setzen viel zu viel auf Staat und Plan. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Sie haben ein völlig falsches Staatsverständnis!) Ich habe heute Vormittag einen Berliner Radiosender gehört, der zu Spenden für die Erdbebenopfer in Haiti Deshalb war es uns wichtig, in diesem Haushalt die Mit- aufgerufen hat. Da hat ein junger Mann angerufen und tel für die Förderung der entwicklungswichtigen Vorha- gesagt, er habe selbst genug Probleme und auch ben der Kirchen, Stiftungen und anderer Nichtregie- Deutschland habe genug Probleme; er halte es für einen rungsorganisationen zu erhöhen. Skandal, dass so viel Geld für Haiti gespendet werde und (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Aber wir brau- so viele Steuergelder dorthin fließen würden. Ich habe chen dafür einen funktionierenden staatlichen mich in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Rahmen in den Ländern, mit denen wir zusam- Dirk Niebel wenige Monate zuvor ganz ähnlich argu- menarbeiten!) mentiert hat, als wir den ärmsten Ländern zur Milderung der Folgen der Krise 100 Millionen Euro im Rahmen der Meine Damen und Herren, mit dem Haushalt werden Konjunkturpakete in Höhe von insgesamt 80 Milliarden wir unserer Verantwortung gerecht. Aber angesichts des- Euro zur Verfügung stellen wollten. Damals hat Dirk sen, wie wenig bisher in Afrika trotz horrender Summen Niebel gesagt, wir sollten mit dem Geld lieber erreicht wurde, sind Fragen bezüglich der Effizienz der 2 000 Lehrer in Deutschland einstellen, als es in Afrika bisherigen Hilfe und Instrumente sicherlich sehr berech- zu verpulvern. tigt. Ich bin stolz auf die Bürgerinnen und Bürger, die sich (Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin durch solche Stammtischparolen nicht davon abhalten [FDP]) lassen, zu spenden. Das ist eine hervorragende Haltung. Deshalb ist es wichtig, mehr als bisher zu evaluieren, (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ wie erfolgreich wir eigentlich sind. DIE GRÜNEN) (B) Ich denke, dass wir gemeinsam mit unseren Partner- Herr Niebel, ich habe mich damals als Kollege für Sie (D) ländern in Zukunft erfolgreicher im Kampf gegen Armut geschämt. Es wird Sie vielleicht wundern, wenn ich sein müssen, dass wir da wirklich engagiert sein müssen. sage, dass ich über den Haushaltsentwurf, den Sie hier Ich finde es etwas schofel, wenn hier der heutigen Re- vorgelegt haben, nicht enttäuscht bin; denn ich habe gierung weniger Engagement für die Armen in Afrika nichts anderes von Ihnen erwartet. und in aller Welt unterstellt wurde. Das sollten Sie in Ihre Mottenkiste zurückpacken. Wir wollen mit großem Enttäuscht bin ich aber von der Bundeskanzlerin, von Engagement unserer Verantwortung gerade für die Men- Frau Merkel, die die Gesamtverantwortung für diesen schen in Afrika gerecht werden. Das verbindet uns nicht Haushalt trägt; denn sie hat in den letzten Jahren immer nur mit dem Banker Muhammad Yunus in Bangladesch, wieder versprochen, dass sie die Mittel für die Entwick- sondern ebenso mit dem Minister, und dem wird auch lungszusammenarbeit gemäß dem im Jahr 2005 in der unser Etat gerecht. In diesem Sinne sollten wir gemein- Europäischen Union vereinbarten ODA-Stufenplan sam erfolgreich arbeiten. steigern wird, sodass im Jahr 2010 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusam- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. menarbeit zur Verfügung stehen. Frau Merkel hat sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dafür auf Kirchentagen und bei Zusammentreffen mit Künstlern wie Bono feiern lassen. Auch gestern auf der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ZDF-Spendengala hat sie ein entsprechendes Bild abge- Herr Kollege Klein, ich gratuliere Ihnen im Namen geben. Sie hat gönnerhaft 2,5 Millionen Euro für Haiti des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundes- zugesagt. Aber an der Stelle, auf die es ankommt, näm- tag. lich für die ärmsten Menschen der Welt – das sind 3 Mil- liarden Menschen, die in Armut leben, und 1 Milliarde (Beifall) Menschen, die hungern – im Haushalt eine Hilfe vorzu- sehen, hat sie ihr Versprechen eiskalt gebrochen. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dr. Sascha Raabe von der SPD- (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Was ist das Fraktion. für eine Wortwahl?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das dürfen wir ihr nicht durchgehen lassen.

Dr. Sascha Raabe (SPD): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herr Kollege Raabe, erlauben Sie eine Zwischenfrage Herren! Herr Kollege Klein, da das Ihre erste Rede war, der Kollegin Hendricks? 1352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010

(A) Dr. Sascha Raabe (SPD): lungshilfe. Entwicklungszusammenarbeit jetzt ein- (C) Ja, gerne. zuschränken, würde nicht nur politische Instabilitä- ten bedeuten, sondern vor allen Dingen auch ein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weiteres Auseinanderklaffen der Entwicklung in Bitte schön, Frau Hendricks. der Welt; gar nicht zu sprechen – jetzt hören Sie gut zu – Dr. Barbara Hendricks (SPD): von den Enttäuschungen in den Ländern, denen wir Herr Kollege Raabe, Sie haben gerade en passant mit- mit unseren Millenniumszielen viele Versprechun- geteilt, dass die Bundeskanzlerin die Erhöhung der Mit- gen und Zusagen gemacht haben. tel aus dem Bundeshaushalt zugunsten der Opfer in Haiti von 7,5 Millionen Euro um 2,5 Millionen Euro auf nun- Auf den letzten Punkt möchte ich eingehen. Frau mehr 10 Millionen Euro im Rahmen einer Spendengala Merkel hat in ihrer Rede heute in Bezug auf die Ent- mitgeteilt hat. Wir haben vorhin schon einmal über wicklungsländer nur eine negative Bemerkung gemacht. Würde gesprochen. Halten Sie es der Würde des Amtes Sie hat nämlich gesagt, dass der Klimagipfel in Kopen- der Bundeskanzlerin für angemessen, dass sie dies bei hagen an Indien und anderen Entwicklungsländern ge- einer solchen Gelegenheit tat, bei der es doch eigentlich scheitert sei, weil diese Länder sich weigerten, ambitio- darum ging, nierten Klimazielen zuzustimmen und die Ergebnisse überprüfen zu lassen. Aber es ist doch kein Wunder, dass (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihr die Entwicklungsländer misstrauisch sind angesichts der Geschwätz wird immer dümmlicher!) Tatsache, dass unsere Bundeskanzlerin wenige Tage vor Spenden von Privaten und Unternehmen zu generieren? dem Weltklimagipfel ein Versprechen gebrochen hat, das Wäre es nicht angemessener gewesen, wenn dies im die Europäische Union und Deutschland verbindlich ge- deutschen Parlament geschehen wäre? geben haben. Dann darf man sich nicht wundern, wenn die Entwicklungsländer bei den Konferenzen der Welt- handelsorganisation sagen: Wir glauben es euch schlicht- Dr. Sascha Raabe (SPD): weg nicht mehr. Man darf sich auch nicht wundern, wenn Frau Kollegin, ich würde mir wünschen, dass man im die Entwicklungsländer bei der Klimakonferenz sagen: Rahmen einer solchen Gala die privaten Spenden her- Wir lassen uns doch nicht wieder über den Tisch ziehen. vorhebt und nicht die Zusage von staatlichen Mitteln be- Frau Merkel hat also eine Mitschuld am Scheitern von kannt gibt. Sie haben vor allem dahin gehend recht, dass Kopenhagen, weil sie das Versprechen gebrochen hat. es sich bei dieser ZDF-Gala um einen sehr späten Zeit- punkt gehandelt hat, sich zu dieser Katastrophe zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ äußern. Als es die Tsunamikatastrophe gab, ist Bundes- DIE GRÜNEN) (B) (D) kanzler Gerhard Schröder gemeinsam mit der Entwick- lungsministerin vorangeschritten und hat in vorbildlicher Wir brauchen den ODA-Stufenplan, weil jeden Tag 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Armut Weise große Summen zur Verfügung gestellt. Er hat in 25 sterben. Das entspricht, auf zehn Tage gerechnet, einem der Europäischen Union bei der Hilfe eine Führungsrolle stillen Tsunami oder einem stillen Erdbeben in der Di- übernommen. mension der Katastrophe von Haiti. Insofern ist es un- Ich muss schon sagen, dass das Krisenmanagement glaubwürdig, wenn man sich jetzt herausredet und be- der Bundesregierung einschließlich des Entwick- hauptet, dass man schon irgendwie bis zum Jahr 2015 lungsministers, was das Erdbeben auf Haiti angeht, sehr eine ODA-Quote von 0,7 Prozent erreichen wird. zurückhaltend gewesen ist. Ich hätte mir das Engage- ment gewünscht, das damals Gerhard Schröder und Es ist in der Tat peinlich, wenn sich ausgerechnet der Heidemarie Wieczorek-Zeul bei der Tsunamikatastrophe Entwicklungsminister gegen eine Finanztransaktionsteuer an den Tag gelegt haben. Ich gebe Ihnen da vollkommen wehrt. Eigentlich müsste er mit der Fahne voranschrei- recht. ten und dafür werben, dass nicht die Entwicklungsländer die Misere ausbaden müssen, die ihnen Börsenzocker Ich möchte auf das Versprechen der Bundeskanzlerin, eingebrockt haben. Die Entwicklungsländer könnten mit das sie immer wieder gegeben hat, zurückkommen. Da dem Geld ihre Not lindern. Herr Niebel schont aber Bör- sie heute in ihrer Rede nichts zur internationalen senzocker und lässt dafür die Ärmsten in der Welt im Armutsbekämpfung gesagt hat, zitiere ich aus ihrer Re- Stich. Das ist eine Schande. Das spiegelt auch der Haus- gierungserklärung vom 30. November 2005: haltsentwurf wider. Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, … bis (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 2010 mindestens 0,51 Prozent … des Brutto- DIE GRÜNEN) inlandsproduktes für die öffentliche Entwicklungs- arbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich da sage. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Merkel sagte am 30. Januar 2009 auf dem Welt- Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. wirtschaftsforum in Davos: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Wir dürfen die weltweite Armutsbekämpfung nicht destages auf morgen, Donnerstag, den 21. Januar 2010, aus dem Blick verlieren. Deutschland hat auch für 9 Uhr, ein. das Haushaltsjahr 2009 – und das wird auch im Die Sitzung ist geschlossen. Haushaltsjahr 2010 so sein – Steigerungsraten beträchtlicher Art bei den Ausgaben für Entwick- (Schluss: 18.36 Uhr) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 15. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Januar 2010 1353

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich

Bellmann, Veronika CDU/CSU 20.01.2010

Buschmann, Marco FDP 20.01.2010

Edathy, Sebastian SPD 20.01.2010

Ernst, Klaus DIE LINKE 20.01.2010

Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 20.01.2010

Günther (Plauen), FDP 20.01.2010 Joachim

Jelpke, Ulla DIE LINKE 20.01.2010

Lafontaine, Oskar DIE LINKE 20.01.2010

Nešković, Wolfgang DIE LINKE 20.01.2010

Vogel (Kleinsaara), CDU/CSU 20.01.2010 Vo lkm ar (B) (D) Zapf, Uta SPD 20.01.2010

Zimmermann, Sabine DIE LINKE 20.01.2010 Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980