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SPORT

Fußball Asyl bei Berti Sieben Wochen vor der Europameisterschaft verblüfft die Nationalelf durch ihre Leichtigkeit des Seins. Jetzt scheint sich auszuzahlen, daß Trainer Berti Vogts vom väterlichen Führungsstil abrückte und auf Eigenverantwortung setzt: Statt Kondition zu bolzen, läßt er Taktik üben – das sind die Profis aus ihren Klubs kaum noch gewohnt.

ls der Spott am heftigsten war, rief einer an, der sich auskennt mit den ANebenwirkungen öffentlicher Hä- me. Marcus Babbel, begabter Verteidi- ger bei Bayern München, hatte mit ei- nem Paß vor den eigenen Strafraum ein verhängnisvolles Tor verschuldet. Der Rumäne Hagi traf zum 2:2 für den FC Barcelona – und die Bayern schienen alle Chancen auf das Uefa-Pokal-Finale eingebüßt zu haben. Vereinspräsident stichelte, denn er haßt solche Fehler, die „nicht einmal Schülern“ passieren. Bundestrainer Berti Vogts aber trö- stete. Er klingelte bei Familie Babbel in Gilching-Argelsried an und sagte, junge Menschen müßten Fehler machen, um Persönlichkeiten zu werden. Wegen der Europameisterschaft solle sich Babbel mal keine Sorgen machen: „Da bist du dabei. Ich bin froh, daß ich dich habe.“ Manchmal ist es bei Fußballern eben

doch noch wie im wirklichen Leben: H. MÜLLER Ein paar nette Worte können Ungeheu- Nationalspieler Sammer, Trainer Vogts: „Ich denke Fußball, Fußball, Fußball“ erliches bewirken. Beim Rückspiel in Barcelona schoß Babbel am vergange- sich von einer farblosen Darbietung zur „Die Liga denkt Geld, Geld, Geld“, so nen Dienstag das erste Tor, die Münch- nächsten. Keine Elf mit spielerischem sagt es Vogts, „ich denke Fußball, Fuß- ner gewannen 2:1. Vogts, meint Babbel Glanz, kein Team ohne ernüchternde ball, Fußball.“ nun, habe ihn wieder aufgebaut. Niederlagen, kaum ein Klub ohne hand- Der einstige Außenverteidiger läßt im Es hat sich etwas getan zwischen feste Kräche – genervt von der Durch- Training fast ausschließlich Spielzüge Vogts und den Wohlstandsjünglingen in schnittlichkeit der Liga und vom Bally- und Strategien üben; Tore, das erkann- kurzen Hosen. Sieben Wochen vor der hoo der Medien sehnen sich die Natio- ten die Spieler erstmals vor zwei Mona- EM in England registrieren Profis und nalspieler nach Seriosität und Esprit. Da ten in Portugal, fallen auf einmal „wirk- Trainer eine neue Verbundenheit. Und bietet, ausgerechnet, Berti Vogts Asyl. lich so, wie Berti das geplant hat“ (Klins- ein wenig wundern sie sich selbst. etwa empfindet bei mann). Im Vergleich zu manchem nur Vor einem knappen Jahr noch galt Länderspielreisen wieder „richtig Freu- rhetorisch erstklassigen - die Nationalelf samt Trainer als anti- de“ – daheim in Dortmund hatten ihm coach scheint der Terrier von einst hand- quiert. Die Bundesliga und millionen- die Gedankenspiele über einen mögli- werklich hoch überlegen. schwere Vereine wie der FC Bayern chen Vereinswechsel viel Ärger einge- Feldherr Vogts? Jürgen Klinsmann oder Borussia Dortmund ließen, so bracht und die Laune verdorben. Spie- lobt, es sei erstaunlich, „welche Fehler schien es, keine Nische mehr für das lern wie ihm erscheint der Männerbund der Trainer im Training erkennt“. Ande- einstmals „liebste Kind der Deutschen“ Nationalelf in diesen Monaten so ro- re preisen seine moderne Taktik, die kein (Vogts). Spieler freuten sich schon mal mantisch und heimelig wie Boris Becker Vereinstrainer spielen lasse. über eine Muskelverhärtung, weil sie vor gut sechs Jahren das lustige Torten- Selbst Andreas Möller hat der positive darob lästige Länderspiele absagen werfen mit den Kumpels vom Daviscup- Sogerfaßt. Als Dortmund „nur seinetwe- konnten. Team. Die schöne bunte Fußballshow gen“ Meister wurde, meint Vogts, habe Nun aber geht eine rundum mittelmä- der Liga hat die Kicker reich, aber ir- der als Sensibelchen verrufene Regisseur ßige Bundesligasaison zu Ende. Traditi- gendwie auch träge gemacht; die Aus- „viel Ballast abgeworfen“. In der Natio- onsvereine wie Eintracht Frankfurt wahl des Deutschen Fußball-Bundes nalelf, formuliert Möller, seiwieder jeder kämpfen gegen den Abstieg, und selbst (DFB) bietet da wohl so etwas wie eine bereit, „einen Teil von sich abzugeben“. die Teams an der Tabellenspitze kicken Rückkehr zu den Ursprüngen. Ein bißchen Zeltlager-Atmosphäre, ein

246 DER SPIEGEL 17/1996 .

wenig Elitebewußtsein, das ergibt offen- bar eine Gemeinschaft zum Kuscheln. Störenfriede wie („Berti ist zu verbissen“) hat Vogts nach Kanzler-Art totgeschwiegen; andere, wie Lothar Matthäus, entsorgten sich selbst, weil sie sich verletzten. So stellte sich der Kader, der am Mittwoch in Rot- terdam auf die Niederlande trifft, quasi von selbst zusammen. Aber Vogts hat dennoch einiges dazu- getan. „Nach der verunglückten Welt- meisterschaft 1994 mußten wir total um- denken“, sagt er. Mit seinem Kapitän Klinsmann entwickelte er ein Konzept, in dem der väterliche, oft belächelte Führungsstil durch ein vergleichsweise modernes Management ersetzt wurde. Er sei „von der reinen Trainingslehre abgekommen“, sagt Vogts: „Ich habe erwachsene Spieler, die selbst für ihre Leistung geradestehen müssen.“ Also verzichtet er von nun an auf Konditions- training und Laktattests. Er habe seinen Vollprofis erklärt, sie müßten „zu Hau- se arbeiten und fit werden“. Wer das nicht schaffe, müsse zuschauen. Ein wenig unvermittelt kommt die große Trendwende hin zu Eigenverant- wortung und Korpsgeist schon. Noch vor zwei Jahren wurde Vogts schließlich unterderhand vorgeworfen, er könne nicht einmal richtig auswechseln. Der Verdacht liegt deshalb nahe, daß in der Nationalelf ein Reflex gegriffen hat, der im ganz normalen Berufsleben häufiger zu beobachten ist. Auch die Angestellten von Microsoft verklären ihren Chef gern zum Genie – je großarti- ger Bill Gates, desto besser muß auch jeder einzelne Programmierer sein. Für einen Tölpel Vogts spielt keiner gern, der Magier Vogts aber wertet auch die Mannschaft auf. Spieler und Trainer feiern sich gegenseitig: „Siegertypen“ spielten jetzt für ihn, lobt Vogts, „die

machen, was man ihnen vorgibt, tempe- H. RAUCHENSTEINER ramentvoll und leidenschaftlich“. Nationalstürmer Klinsmann: „Sehr, sehr starker Favorit für die EM in England“ Der Fußballehrer ahnt selbst, daß die neue Begeisterung nicht von Dauer sein muß. Seine Ankündigung, im Falle SPIEGEL-Gespräch des Mißerfolgs zurückzutreten, ist als Schachzug zu verstehen, mit dem er eine Trainerdiskussion verhindern will. Nach dem Turnier in England wird er dem „Das Feuer brennt“ DFB-Präsidenten Egidius Braun seine „Bilanzierung“ abgeben – der Vertrag Jürgen Klinsmann über Berti Vogts, Bayern München und Intrigen läuft schließlich aus. Und auch das Pro- blem Matthäus, den Bild und Becken- bauer in den Kader zurückschreiben SPIEGEL: Herr Klinsmann, früher hielt punkt der Nationalmannschaft erlebt. möchten, hat Vogts im Griff. sich Ihre Begeisterung für Berti Vogts Das prägt und stärkt den Zusammen- Er habe Matthäus beobachten lassen, durchaus in Grenzen. Ist er inzwischen halt. Wir haben viele Gespräche ge- erzählt Vogts, und seine Späher hätten Ihr Lieblingstrainer? führt, um die Pleite aufzuarbeiten. einen anderen Eindruck als die Männer Klinsmann: Mit den Jahren rückt man SPIEGEL: Vogts war in seiner Amtszeit vom Springer-Verlag gehabt: „Lothar einander jedenfalls näher. Wir haben noch nie so unumstritten wie in diesem ist nicht hundertprozentig fit, und er vor zwei Jahren, bei der Weltmeister- Jahr. Haben alle, die ihn loswerden trainiert nicht regelmäßig.“ Wegen ei- schaft in Amerika, zusammen den Tief- wollten, inzwischen resigniert? nes Matthäus, fügt er dann noch keck Klinsmann: Falls wir im Juni eine schwa- hinzu, werde er, Berti Vogts, sein Sy- Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Klaus che Europameisterschaft spielen, wird stem nicht mehr umstellen. Brinkbäumer. es wieder Feuer geben. Das weiß Berti

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