Gerd Althoff

Aufgeführte Gefühle

Die Rolle der Emotionen in den öffentlichen Ritualen des Mittelalters

Abstract Since the writings of Johan Huizinga and Norbert Elias medieval men and women are often considered to have reacted to situations with spontaneous immediacy and with strong emotions. Modernity, on the other hand, is seen as the result of a process of civilization. Today we have better command of our emotions. Meanwhile this approach has been widely criticized, especially since the have been discovered as an era of public stagings. Communication in public was first and foremost “staged” and to a large ex- tend ritualized. This ritualization helped to install and maintain public order. It is in this context that “staged emotions” also play an important role. They were signs in symbolic interactions and thus cannot be measured by our con- temporary standards of authentic feelings. Their purpose was to confirm the speaker’s statements and to bind them with a higher degree of commitment. This can be well demonstrated by a number of examples from the twelfth century in particular.

Gerd Althoff: Aufgeführte Gefühle

Aufgeführte Gefühle Stellen wir an den Anfang eine Geschichte von scheinbar emotional aufge- wühlten mittelalterlichen Menschen.1 Die Geschichte beginnt in Konstanz und endet in Mailand. Sie stammt aus dem Jahre 1153 und wird von Otto Morena, einem juristisch versierten Bürger von Lodi erzählt, der zur politi- schen Führungsschicht dieser Stadt gehörte. Er wusste also, wovon er sprach. Die Geschichte handelt davon, wie es zur Unterstützung der italienischen Stadt Lodi durch Friedrich Barbarossa und zu seinem Zorn und Hass auf Mailand kam.2 Zwei Bürger aus Lodi waren nach Konstanz gekommen, wo sie eher zufäl- lig einem Hoftag Friedrich Barbarossas beiwohnten. Als sie realisierten, dass der König eine Beratung abhielt, in der Arm und Reich Klagen vorbringen konnten, „gingen sie sofort in eine Kirche, nahmen von dort zwei sehr große Kreuze auf die Schultern, traten vor den König und die übrigen Fürsten und warfen sich mit den Kreuzen in größter Trauer (maxime lugentes) zu Füßen des Königs nieder.“3

1 Gegen das im Folgenden entwickelte Verständnis mittelalterlicher Emotionen hat kürz- lich Peter Dinzelbacher: Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualis- mus, Badenweiler 2009, S. 11–78 Einspruch erhoben. Der Einspruch beruht ganz wesent- lich auf Zuspitzungen und Unterstellungen, die meine Arbeiten und Absichten so ver- fälscht wiedergeben, dass sich die Polemik letztlich gegen das eigene Missverständnis richtet. Auf eine ausführliche Auseinandersetzung kann daher verzichtet werden. Nur so viel sei gesagt: Nirgendwo habe ich behauptet „spontanes Weinen sei nicht vorgekom- men“ (S. 22). Selbstverständlich hat es im Mittelalter spontane Gefühlsäußerungen gege- ben. Sie waren und sind nur nicht mein Thema. In Ritualen dagegen hat man in aller Re- gel nicht spontan reagiert, sondern unter anderem auch Emotionen aufgeführt. Nur um diesen Nachweis ging es und geht es mir im Folgenden. 2 Vgl. Otto Morena, Historia, ed. Ferdinand Güterbock (MGH SS rer. Germ. N.S. 7), Berlin 1930; zu seiner Erzählung siehe Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikati- on, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2001, S. 214 ff. 3 Otto Morena, Historia, S. 3. Statimque in quandam ecclesiam introeuntes duasque inde maximas cruces ad humeros levantes coram ipso rege ceterisque principibus adierunt et pedibus ipsius regis

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Diese größte Trauer, die hier nicht näher spezifiziert wird, muss man sich einigermaßen theatralisch vorstellen. Tränenströme, Wehklagen und andere verbale Äußerungen der Verzweiflung, verbunden mit nonverbalen Aus- drucksformen wie dem Fußfall, werden auch in vielen anderen Beispielen als Formen größter Trauer genannt. Sie gehörten zum Repertoire des Bittstellers wie das Amen zur Messe und hatten eine sehr klare Funktion: Sie sollten die Dringlichkeit der Bitte unterstreichen und ihre Ablehnung dadurch erschwe- ren, dass sich der Bittsteller selbst entäußerte.4 Die Kreuze, die expressiv-emotionale Form des Fußfalls wie die lauten Wehklagen verschafften den Lodeser Bürgern dann auch die nötige Auf- merksamkeit, und sie durften dem König ihr Anliegen und ihre Bitte vortra- gen, die da lautete: Lodi würde von Mailand unterdrückt und der König möge einschreiten. Die Bitte hatte vollen Erfolg, denn Friedrich Barbarossa schickte einen Gesandten namens Sicher mit einem Brief nach Mailand, in dem er den Mailändern befahl, jede Bedrückung Lodis einzustellen.5 Der zweite Akt des Dramas spielt in Lodi und zeigt uns erneut emotiona- lisiertes und erregtes Verhalten: Als die erfolgreichen Bürger nach ihrer Rückkehr dem Rat der Konsuln in Lodi erzählten, was sie erreicht hatten, war deren Reaktion aber ganz anders, als man vielleicht erwarten könnte: „Als die Lodeser Konsuln und die anderen Weisen von Lodi dies vernahmen, glaubten sie dies zwar nicht so recht, schalten sie aber alle sehr heftig und sag- ten ihnen viele Schmäh- und Schimpfworte, sie drohten ihnen auch, sie aus dem Land zu jagen, und befahlen ihnen unbedingt, niemandem jemals Weite- res darüber zu sagen, wenn sie nicht umgehend den Tod erleiden wollten.“6

cum ipsis crucibus prostrati sunt maxime lugentes. 4 Vgl. hierzu grundsätzlich Claudia Garnier, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunika- tion im mittelalterlichen Reich (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2008, mit vielen einschlägigen Belegen. 5 Otto Morena, Historia, S. 5 f. Rex itaque […] statim cancellarium suum vocavit ac litteras […] eum statim facere precepit; et cuidam suo legato Sichero nomine iussit, quatenus litteras susciperet Mediolanumque deferret ac viva voce Mediolanesibus ex parte ipsius precipiat, ut, sicut littere eis nunciaverint, ita omnino peragant. 6 Ebd., S. 6. Cum autem Laudenses consules aliique de Laude sapientes hoc audierunt, quamvis non firmiter crediderunt, tamen valde omnes ipsos increpaverunt ac multas iniurias et turpia verba

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Auch hier schlägt das emotionale Thermometer stark aus, die Weisen von Lodi scheinen außer sich zu sein und drohen den beiden Bürgern sogar den Tod an, wenn sie ihren Vorstoß nicht vollständig geheim halten. Man ahnt, dass die Lodeser eine Heidenangst vor dem drohenden Konflikt mit Mailand haben. Als kurze Zeit später Barbarossas Bote mit dessen Brief an Mailand bei ih- nen erschien, gab es wieder eine sehr emotionale Reaktion der Weisen von Lodi: „Da waren sie alle wie halbtot, erfüllt von tiefem Schmerz, wussten sie nicht, was sie tun oder sagen sollten, und waren völlig verblüfft, einer sah den ande- ren an, und einige Zeit standen sie da, als ob sie alle stumm geworden seien, und brachten vor übermäßiger Trauer und vor allem aus Furcht vor den Mai- ländern kein Wort hervor.“7 Doch bat man schließlich den Boten inständig, den Brief unter keinen Umständen den Mailändern zur Kenntnis zu bringen. Diese Reaktion bestätigt die schon angedeutete Interpretation des Verhaltens. Der Bote ließ sich jedoch davon nicht beeindrucken, er übergab in Mailand den Brief seines Herrn, und so kam es dort zum vierten Akt des Dramas: „Nachdem die Mailänder Konsuln öffentlich und in allgemeiner Ver- sammlung den Brief gelesen hatten, warfen sie, ganz erregt von Zorn und Wut (ira et furor), vor den Augen Sichers und aller anderen den Brief mitsamt dem Siegel auf den Boden und zerknüllten und zertraten ihn mit ihren Fü- ßen. Außerdem stürzten sie sich einmütig auf Sicher los, der nur entkommen konnte, indem er floh und sich verbarg.“8

ipsis dixerunt; ipsos etiam de terra se deiecturos, si verum esset, minati fuerunt; insuper etiam illis firmiter preceperunt, ne cui unquam illud amplius dicerent, nisi statim mori desiderarent. 7 Ebd., S. 7. ... quasi semivivi omnes effecti, valde dolentes, quid facerent vel dicerent nescientes, pernimium obstupuerunt; ac unus versus alium prospiciens, per quoddam tempus, quasi mutefacti omnes forent effecti, pre nimia tristicia et maxime Mediolanensium timore nihil loquentes stete- runt. 8 Ebd., S. 9. Consules vero palam et in communi cetu litteris ipsis perlectis valde ira et furore com- moti ipso Sicherio aliisque omnibus videntibus ipsas litteras pariter cum ipsarum sigillo in terram proiecerunt ac pedibus suis fregerunt atque conculcaverunt. Insuper etiam super ipsum Sicherium omnibus unanimiter irruentibus, ipse fugiendo se abscondens vix evadit.

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Viermal haben wir von sehr emotionalem Verhalten gehört, mit dem Men- schen auf Nachrichten und Vorgänge reagierten, die ihnen missfielen. Zorn und Wut fanden nach den Beschreibungen ebenso extreme emotionale Aus- drucksformen wie Verzweiflung, Unsicherheit, Angst und Schmerz. Aus sol- chen und aus unzähligen vergleichbaren Nachrichten in der Überlieferung des gesamten Mittelalters kann man nun den Schluss ziehen – und Johan Huizinga, Norbert Elias und viele andere nach ihnen haben das getan –, dass Menschen im Mittelalter höchst spontan reagierten, dass ihre Gefühle schnell auf unkontrolliert hohe Betriebstemperaturen und Windstärken kamen, dass sie mit anderen Worten so reagierten, wie das heute noch kleine Kinder tun.9 Daraus – und aus einigen anderen Beobachtungen – hat man dann einen Prozess der Zivilisation konstruiert, bei dem die kontrollierten und selbstbe- herrschten Menschen der Neuzeit oder der Moderne entstanden sein sollen, hervorgegangen aus den unzivilisierteren Menschen des Mittelalters, die spontan mit ungebremsten Emotionen positiver wie negativer Art reagiert haben sollen. Huizinga und ihm folgend Elias haben die Emotionalität mit- telalterlicher Menschen ja in der Tat mit derjenigen der Kinder unserer Ge- sellschaft gleichgesetzt. Diese Sichtweise ist inzwischen jedoch aus verschie- denen Perspektiven in Frage gestellt worden.10 Ich möchte im Folgenden nur eine dieser kritischen Perspektiven ein biss- chen systematischer entwickeln, um ein adäquates Verständnis extremer und uns fremd erscheinender Ausdrucksformen mittelalterlicher Emotionen zu ermöglichen.

9 Vgl. dazu Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 19659, bes. S. 8 ff.; ihm folgend Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogene- tische Untersuchungen, Bd.2, Frankfurt a. M. 198914, S. 324 ff. u. S. 479, in der zum vorigen Zitat gehörigen Anm. 132. 10 Vgl. dazu den Forschungsüberblick von Rüdiger Schnell, „Historische Emotionsfor- schung. Eine mediävistische Standortbestimmung“, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173–276.

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Zunächst einmal ist grundsätzlich zu bemerken – und das ist natürlich banal –, dass wir für das Mittelalter nur Beschreibungen oder Bilder von e- motionalen Ausdrucksformen zur Verfügung haben; aus ihnen müssen wir unsere Einschätzungen generieren. Schon diese Ausgangslage rät dazu, nicht direkt etwas über die Emotionen der mittelalterlichen Menschen zu behaup- ten. Wir erfassen vielmehr nur die Beschreibungen von Ausdrucksformen, und folgerichtig sollten wir zunächst einmal diese untersuchen. Überdies begegnen uns diese Ausdrucksformen vorrangig in Beschrei- bungen öffentlicher Kommunikation, die im Mittelalter hochgradig rituali- siert war. Emotionen hatten in Ritualen und ritualisierten Verhaltensmustern des Mittelalters ihren festen Platz und erfüllten offensichtlich eine wichtige Funktion. Ich werde mich im Folgenden darauf konzentrieren, diese Funkti- on zu erläutern, die bis in die jüngste Zeit immer wieder kontrovers disku- tiert wird.11 Alles andere klammere ich bewusst aus, wohl wissend, dass da- mit kein Überblick über die breitgefächerten Emotionsforschungen zum Mit- telalter gegeben wird. Wie können Ausdrucksformen für Emotionen entstehen? Mit aller Wahr- scheinlichkeit konnten die Menschen früher ebenso wie heute sozusagen wi- der ihren Willen von ihren Emotionen überkommen und sogar überwältigt werden. Man denke an die Trauer beim Tode Nahestehender, aber auch an den Wutanfall und den grimmigen Zorn, der uns übermannen kann. Den- noch nutzt der Mensch auch in solchen Fällen in aller Regel die Ausdrucks- formen, die ihm die Kultur, in die hinein er sozialisiert wurde, zur Verfü- gung stellt. Das war im Mittelalter wohl nicht anders als heute. Auf der anderen Seite ist es heute durchaus verbreitet, Emotionen zu in- szenieren, das heißt, sie vorzutäuschen oder zumindest ihre Stärke zu über- treiben oder abzuschwächen, je nachdem, wie es eine bestimmte Situation

11 Neben dem umfassenden Forschungsbericht von Schnell („Historische Emotionsfor- schung“) vgl. aus jüngerer Zeit Barbara H. Rosenwein, Emotional Communities in the , 2006, mit anderen Akzentsetzungen; Stefan Weinfurter, „Der Papst weint. Argument und rituelle Emotion von Innocenz III. bis Innocenz IV.“, in: Spielregeln – Ge- wohnheiten – Konventionen. Kolloquium aus Anlass des 65. Geburtstags von Gerd Althoff, hrsg. von Hermann Kamp und Claudia Garnier, Darmstadt 2009, S. 69–80.

6 Passions in Context I (1/2010) aus taktischen oder strategischen Überlegungen heraus erfordert. Das war in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters nicht anders. Wir bewerten allerdings diese Inszenierung von Emotionen zumeist nega- tiv, weil wir den Anspruch erheben, dass die Ausdrucksformen der wirkli- chen Stärke der Emotionen entsprechen sollten. Dieser Echtheitsanspruch, den wir heute an emotionale Ausdrucksformen stellen, ist nun aber ein Prob- lem. Denn dieser Anspruch ist einigermaßen hypertroph: Wer kann wirklich entscheiden, was an den eigenen oder gar den fremden Ausdrucksformen von Emotionen echt und was aufgeführt ist? So gibt es – wohl aus gutem Grund – heute die stehenden Redewendungen: „Führ dich nicht so auf“, o- der „Sei nicht so theatralisch“, die auf genau den Sachverhalt zielen, dass die gezeigten emotionalen Ausdrucksformen der Situation, in der sie gezeigt werden, nicht zu entsprechen scheinen. Oder wir sprechen von „falschem Verhalten“, wenn die gezeigten Ausdrucksformen, in welche Richtung auch immer, von den „wirklichen“ Gefühlen abweichen, die wir aber immer nur unterstellen können. Es liegt nicht in meiner Kompetenz darüber zu urteilen, wann und wie dieser Echtheitsanspruch an die Ausdrucksformen von Emo- tionen entstanden ist, man sucht die Entstehungszeit aber wohl zu Recht im 18. Jahrhundert.12 Damit ist aber klar, dass für die mittelalterlichen Menschen nicht unbe- dingt die gleichen Normen für den Umgang mit den emotionalen Aus- drucksformen in Geltung waren wie heute. Hieran sind auch längst begrün- dete Zweifel angemeldet worden. Die moderne Mediävistik hat sich, wenn ich es richtig sehe, bei der Beantwortung dieser Frage mehrheitlich anderen Erklärungsmodellen zugewandt als etwa denen von Huizinga und Elias. Dieser Perspektivenwechsel hing nicht zuletzt damit zusammen, dass man erst in den letzten Jahrzehnten das Mittelalter als ein Zeitalter der Inszenie-

12 Vgl. dazu Hildegard Emmel, Art. „Empfindsamkeit“, in: Historisches Wörterbuch der Philo- sophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 2, Basel, Stuttgart 1972, Sp. 455 f.; Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982, S. 123 ff.; Anne Vicent- Buffault, Histoire des larmes. XVIIIe-XIXe siècles, , Marseille 1986; Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 34 ff.

7 Gerd Althoff: Aufgeführte Gefühle rungen entdeckt hat. Gerade die Kommunikationsakte in der mittelalterli- chen Öffentlichkeit wurden als „Aufführungen“ oder eben Inszenierungen erkannt, die nach bestimmten Regeln abliefen und ganz bestimmte Funktio- nen erfüllten.13 Den Begriff „Öffentlichkeit“ benutze ich hier anders, als es für die Moder- ne üblich ist. Öffentlichkeit war im Mittelalter dann gegeben, wenn Personen zusammentrafen, die keine verwandtschaftliche oder freundschaftlich- genossenschaftliche Bindung aneinander hatten. Dann hatte man in anderer Weise auf Rang und Ehre und die Wahrung des Gesichts zu achten als im Kreis der Verwandten, Freunde, Genossen und Vertrauten, der familiares. Dies führte wohl auch dazu, dass die Kommunikation in der mittelalterli- chen Öffentlichkeit weitgehend ritualisiert war. Diese ritualisierten Kommu- nikationsformen trugen dazu bei, unliebsame Überraschungen möglichst zu vermeiden. Diese Ritualisierung ermöglichte es, dass die öffentliche Kommunikation einen wichtigen Beitrag zur Stiftung und Aufrechterhaltung von Ordnung leistete: Die Akte symbolischer Kommunikation – mit diesem Begriff trifft man die Vielzahl von Ritualen und ritualisiertem Verhalten in der Öffent- lichkeit ganz gut – beinhalteten nämlich in aller Regel das Versprechen, sich auch zukünftig so zu verhalten, wie man es, symbolisch verdichtet, gezeigt hatte. Voraussetzung dafür war natürlich, dass sich eine Gruppe oder ein Verband über den Sinn rituell-symbolischer Handlungen klar war, sonst blieben solche Codes unverständlich. Einige Beispiele: Ein Lehnsmann legte seine Hände in die Hände eines Lehnsherrn.14 Damit versprach er symbolisch, alle Rechte und Pflichten, die

13 Vgl. dazu allgemein Jan-Dirk Müller (Hrsg.), „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), Stuttgart, Weimar 1996; Hans-Werner Goetz (Hrsg.), Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterfor- schung, Darmstadt 1999, bes. S. 362 ff.; Gerd Althoff, „Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit“, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 229–257. 14 Zum Lehnswesen vgl. Gerd Althoff/Barbara Stollberg-Rilinger, „Rituale der Macht in Mit- telalter und Früher Neuzeit“, in: Axel Michaels (Hrsg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg

8 Passions in Context I (1/2010) in einem Lehnsverhältnis üblich waren, anzuerkennen. Die Bedeutung dieser Geste musste natürlich bekannt sein. Oder: Man aß und trank zusammen nach einem Konflikt; das symbolisierte das bindende Versprechen, mit dem anderen in Zukunft friedlich-freundschaftlich zusammenleben zu wollen.15 Oder: Man stellte die Rangordnung in einem Herrschaftsverband dadurch her, dass man sie mittels einer bestimmten Reihenfolge in einer Prozession darstellte – und so etwa in eine Kathedrale einzog – oder dass man die Plätze an einer Festtafel als Abbildung der Rangordnung auffasste.16 All dies musste natürlich durch die Gewohnheiten abgedeckt sein, sonst funktionierte es nicht. Warum ist das alles für die Frage nach den Ausdrucksformen von E- motionen wichtig? Im Kontext all der Rituale und ritualisierten Verhaltensweisen des Mittel- alters, die der Etablierung oder Aufrechterhaltung von Ordnung verpflichtet sind, begegnet uns eine geradezu überschäumende Emotionalität, die auch für die Eingangsbeispiele charakteristisch war. In Ritualen und bei ritualisier- ten Verhaltensweisen herrschte scheinbar geradezu ständig ein emotionaler Überdruck; die Akteure freuten sich unbändig, weinten verzweifelt, schäum- ten vor Empörung oder waren eben außer sich vor Zorn und Wut. Anzu- nehmen, sie seien wie die kleinen Kinder zu angemessenen Reaktionen un- fähig, wäre ein Missverständnis. Die Menschen wussten offensichtlich, wann und in welcher Windstärke in den Ritualen Emotionen vorgesehen waren und erwartet wurden, und sie erfüllten diese Erwartungen perfekt. Sie führten diese Emotionen also an den

2007, S. 141–177; Karl-Heinz Spieß, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelal- ter, 2., verb. und erw. Aufl., Stuttgart 2009. 15 Vgl. allg. Detlef Altenburg/Jörg Jarnut/Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.), Feste und Feiern im Mittelalter (Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes), Sigmaringen 1991. 16 Vgl. allg. Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 12), Köln, Weimar, Wien 1999; Gerrit Jas- per Schenk, Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich, Köln, Weimar, Wien 2003; Gerald Schwedler, Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen – Ritua- le – Wirkungen (Mittelalterforschungen, Bd. 21), Ostfildern 2008.

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Stellen der Rituale auf, an denen sie gefordert waren. Mit echten oder spon- tanen Emotionen, also etwa solchen, die einen wider Willen anfallen und ü- berwältigen, hat so etwas sicher nur entfernt zu tun. Fragt man andererseits, welche Funktionen diese aufgeführten Emotionen in den Ritualen hatten, stellt man leicht fest, dass sie für die Ernsthaftigkeit des Gezeigten standen und diese unterstrichen, und so die Personen noch stärker an das banden, was sie gezeigt hatten. Die Tränen und Wehklagen der sich nach einem Konflikt Unterwerfenden drückten ihre Reue über die frühere Feindschaft aus. Der Jubel des Volkes brachte die vorbehaltlose Zu- stimmung zu einer Königswahl zum Ausdruck. Der Zorn des Königs unter- strich seine Entschlossenheit sich durchzusetzen. Die gezeigten Emotionen verstärkten also jeweils die Botschaften und die Versprechungen, die in den Ritualen vermittelt wurden. Sie banden damit aber gerade durch ihre Über- schwänglichkeit die Personen, die sie zeigten, um so stärker an das Gezeigte. Wer seine Verzweiflung über seine früheren Verhaltensweisen mit emotiona- len Äußerungen wie Tränen und Wehklagen bekräftigt hatte, konnte sich von diesen Aussagen schwer wieder distanzieren. Die Emotionen hatten also die Funktion, den Versprechungen, die im Ritual gegeben wurden, zusätzliche Bindungskraft zu verleihen. Dabei war es nicht von Belang, ob diese Emotionen in unserem Sinne echt waren; diese Frage stellte sich gar nicht. Die bindende Wirkung der Zeichen war nicht von der Gesinnung abhängig, in der sie gegeben wurden. So fragte niemand, ob die Mailänder Konsuln wirklich außer sich vor Zorn über den Brief Barbarossas waren. Sie hatten mit ihrer zornigen Reaktion vielmehr in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass sie die königlichen Anwei- sungen bezüglich Lodis keinesfalls befolgen wollten. Der königliche Bote a- ber war nicht deshalb knapp entkommen, weil er besonders schnell laufen konnte; der inszenierte Zorn hatte sein Ziel erreicht, wenn dem Boten die ab- solute Entschlossenheit der Mailänder zum Widerstand klar war. Er sollte sie ruhig seinem Herrn melden. Das lässt sich noch an einigen anderen konkreten Beispielen aus der Ge- schichte von Friedrich Barbarossa und seinem Verhältnis zu Mailand vertie- fen. Im Fortgang der Geschichte kam der aus Mailand vertriebene Bote Si-

10 Passions in Context I (1/2010) cher zurück zum Hofe Barbarossas: „Er warf sich zu des Königs Füßen und berichtete ihm und allen anwesenden Fürsten der Reihe nach, was und wie ihm geschehen war. Und er bat ihn und alle Fürsten des Hofes, ihn und sich selbst wegen dieser Beleidigung zu rä- chen. Als aber der König und die gesamten Fürsten dies hörten, wurden sie von größtem Zorn und Schmerz bewegt und diese Worte stiegen in ihren Her- zen höher auf, als einer je glauben würde. Wie ein Feuerfunke das ganze Haus anzündet, so entflammten diese Worte das Herz des Königs und aller Fürsten, und sie beschlossen sogleich, mit einem großen Heer in die Lombardei zu zie- hen.“17 Man geht gewiss nicht fehl in der Annahme, sich die Ausdrucksformen die- ses „größten Zorns“ in der Tat wie einen zerstörerischen Brand vorzustellen, der durch den Feuerfunken der Worte des Boten ausgelöst worden war. Man kann aber auch diese Ausdrucksformen als rituellen Zorn kennzeichnen, denn er stellte sich hier wie anderswo mit großer Sicherheit immer gerade dann ein, wenn man sich etwas anhören musste, das nicht ins politische Konzept passte. Dann reagierte man eben emotional überschwänglich, weil dies die beste Art war, zum Ausdruck zu bringen, dass man mit dem Vorge- tragenen keinesfalls konform gehe. Die emotionale Reaktion ersetzte lange Diskurse. Genau das Gleiche passierte auch in einer einigermaßen berühmten Szene in Besançon im Jahre 1157, als die päpstlichen Gesandten Ansichten äußer- ten, die die Gefolgsleute Friedrich Barbarossas als Beleidigung des Herr- schers betrachteten. Zunächst war ein Brief Papst Hadrians verlesen und ü- bersetzt worden, in dem die Behauptung stand, „die Fülle der Würde und Ehre sei dem Kaiser vom römischen Bischof verliehen worden, er habe die Kaiserkrone aus dessen Hand empfangen und es würde ihn [den Papst] nicht

17 Otto Morena, Historia, S. 10. Sicherius autem cum ad curiam venit, regis pedibus se prosternens omnia, que et qualiter sibi contigerant, per ordinem regi omnibusque principibus astantibus expo- suit; rogavitque ipsum ac universos curie principes, quatenus eum et se ipsos de hac iniuria vindi- carent. Hoc autem rege et universis principibus audientibus, maxima ira et dolore commoti sunt. Altiusque in cordibus eorum hec verba ascenderunt, quam quisquam ratus unquam foret; et sicut scintilla ignis totam domum accendit, ita hec verba cor regis et omnium principum accenderunt. Statimque se in Longobardiam cum exercitu magno venturos esse decreverunt.

11 Gerd Althoff: Aufgeführte Gefühle reuen, wenn er noch größere Lehen aus seiner Hand empfangen würde. [...] Als man all dies nun zusammenfasste“ (der Erzbischof von Köln, Rainald von Dassel, hatte den Brief übersetzt und dabei das lateinische Wort benefici- um mit Lehen wiedergegeben, was die Sache auf die Spitze trieb) „und unter den Großen des Reiches Lärm und Tumult über eine so ungewöhnliche Bot- schaft mehr und mehr anschwoll, soll einer der Legaten, als fügte er zum Feuer noch das Schwert hinzu, gesagt haben: ‚Von wem hat er denn das Kai- sertum, wenn nicht vom Herrn Papst‘? Wegen dieses Wortes stieg der Zorn so an, dass einer von ihnen, nämlich der Pfalzgraf Otto von Bayern, beinahe mit gezücktem Schwert den Nacken des Legaten bedroht haben soll.“18 Wie bei den eingangs zitierten Beispielen ist die Windstärke der geäußer- ten Emotionen für uns wieder befremdlich hoch. Auch hier muss man aber nicht wirklich um das Leben der Legaten fürchten. Der Zorn war auch hier aufgeführt, denn so gut wie nie ist in solchen Situationen scheinbar flam- menden Zorns tatsächlich einmal Gewalt angewendet worden. Die heftigen Ausdrucksformen machten auch hier wieder lediglich klar, dass man sich in grundsätzlichem Dissens befand und die andere Seite gut daran tat, ihre Po- sition aufzugeben, weil man zum Äußersten bereit war. Die handelnden Per- sonen hatten also nicht die Kontrolle über ihr Verhalten verloren, sondern sandten Zeichen aus, die der Gegenseite eine sehr rationale Botschaft signali- sierten. Auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich übrigens ähnliche Beispiele. So hat Nikita Chruschtschow in einer UN-Vollversammlung mit

18 Ottonis et Rahewini Gesta Frederici I. imperatoris, ed. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 46), Hannover 1846, lib. III, 9 f., S. 140 f. quantam tibi dignitatis plenitudinem contulerit et honoris, et qualiter imperialis insigne coronae libentissime conferens, benignissimo gremio suo tuae sub- limitatis apicem studuerit confovere, nichil prorsus efficiens quod regiae voluntati vel in minimo cognosceret obviare. Neque tamen penitet nos tua desideria voluntatis in omnibus implevisse, sed, si maiora beneficia exellentia tua de manu nostra suscepisset, si fieri posset, quanta aecclesiae Dei et nobis per te incrementa possint et commoda provenire, non inmerito gauderemus. [...] His om- nibus in unum collatis, cum strepitus et turba inter optimates regni de tam insolita legatione magis ac magis invalesceret, quasi gladium igni adderet, dixisse ferunt unum de legatis: 'A quo ergo habet, si a domno papa non habet imperium?' Ob hoc dictum eo processit iracundia, ut unus eorum, videlicet Otto palatinus comes des Baioaria, ut dicebatur, exerto gladio cervici illius mor- tem intentaret.; vgl. dazu Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas, S. 106 ff.

12 Passions in Context I (1/2010) seinem Schuh auf der Tischplatte Protest getrommelt und damit die gesamte westliche Welt verstört:19 Die gleiche Aufführungstechnik benutzte man auch schon im Mittelalter. Inszenierten Zorn konnte man jedoch auch ganz anders zeigen: indem man ihn nämlich unterdrückte, sich gleichzeitig aber jeder Kommunikation verweigerte und so deutlich machte, wie unversöhnlich man war. Auch hier- bei handelte es sich um aufgeführte Reaktionen, die sehr zweckrational ein- gesetzt wurden. Wieder bietet Friedrich Barbarossa in seinen Auseinander- setzungen mit Mailand ein aussagekräftiges Beispiel. Die Mailänder hatten sich nach den bereits geschilderten Konflikten zu- nächst dem Kaiser unterworfen und waren milde behandelt worden. Bald danach hatten sie den Konflikt jedoch wieder aufgenommen. Nach einer lan- gen Belagerung waren sie dann aber erneut gezwungen, sich zu unterwerfen. Nun jedoch inszenierte man kaiserliche Strenge und Unnachgiebigkeit, die folgendermaßen beschrieben wird: Ausgerechnet in der Stadt Lodi mussten die Mailänder sich unterwerfen. Dazu erschienen zunächst 20 Konsuln und Ritter, die Schwerter über ihrem Nacken trugen – was auf die Todesstrafe verwies, die sie eigentlich verdienten –, und die sich mit ausgestrecktem Körper vor dem Kaiser zu Boden warfen. Verzeihung fanden sie jedoch nicht, sie wurden vielmehr abgewiesen. Der Vorgang wiederholte sich drei Tage später, nun kamen die Konsuln mit 300 ausgesuchten Rittern, fielen wieder vor dem Kaiser zu Boden und küssten ihm sogar die Füße, doch erreichten sie erneut nichts. Beim dritten Mal weitere zwei Tage später kamen sie in noch größerer Zahl und hatten auch ihren carrocio, den Fahnenwagen, mitgebracht, den sie dem Kaiser ü- bergaben.

19 Diese Szene ereignete sich auf der 15. UNO-Vollversammlung im Oktober 1960; vgl. ex- emplarisch folgenden Artikel der New York Times vom 26. 07. 2003: William Taubman, “Did he Bang it? Nikita Khrushchev and the Shoe” (http://www.nytimes.com/2003/07/26/opinion/26iht-edtaubman_ed3_.html, 18.1.2010).

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„Dann fielen die Ritter und das Fußvolk einmütig auf ihr Antlitz, weinten und riefen nach Barmherzigkeit. Darauf sprach einer der Konsuln mitleiderregend und nach seiner Rede warf sich die ganze Menge erneut zu Boden und streck- te die Kreuze, die sie trug, empor und flehte unter lauten Wehklagen im Na- men des Kreuzes um Barmherzigkeit. Alle die es hörten, wurden davon heftig zu Tränen gerührt. Aber das Antlitz des Kaisers blieb unverändert. Als dritter bat der Graf von Biandrate mitleiderregend für jene, seine früheren Freunde, und zwang alle zu Tränen, indem er selbst das Kreuz hochhielt und sich die ganze Menge zugleich mit ihm erneut demütig bittend niederwarf; indessen ließ nur der Kaiser allein sein Gesicht unbeweglich wie Stein.“20 Man muss sich diese Szenen, die öffentlich vor dem gesamten Heer des Kai- sers stattfanden, konkret vor Augen führen, um zu ermessen, wie hier auf beiden Seiten virtuos Emotionen aufgeführt werden: Sei es, dass man sie aus- lebte, sei es, dass man sie unterdrückte und eben dieses Unterdrücken das Aufsehenerregende war. Jedenfalls schickte Friedrich alle Mailänder ohne jede Antwort und Reak- tion wieder fort, die dann – vielleicht in einem Akt echter Verzweiflung – ihre Kreuze durch die Fenster der Kemenate der Kaiserin Beatrix warfen, um sie als Vermittlerin zu gewinnen. Erst als sie ein viertes Mal wiederkamen, be- gann Friedrich, wie er selbst gesagt haben soll, „zugleich mit der Barmher- zigkeit und dem Gericht.“ Die Mailänder retteten lediglich das nackte Leben, die Stadt wurde vollständig zerstört, und es wurde ihnen verboten, weiter an diesem Ort zu siedeln.

20 Chronica regia Coloniensis, ed. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 18), Hannover 1880, a 1162, S. 111 Tunc milites et populus in facies suas ceciderunt plorantes et misericordiam invocan- tes. Post haec quodam consule miserabiliter perorante, finita oratione, omnis multitudo rursus procidit, et cruces quas tenebat extendens, cum eiulato magno in virtute crucis misericordiam in- vocavit. Unde vehementer moti sunt ad lacrimas quicumque audierunt, set imperatoris facies non est immutata. Tertio comes Blandratensis pro illis olim amicis suis miserabiliter perorans, vim fecit omnibus, ut possint lacrimari, et ipso crucem preferente et tota multitudine item cum ipso supplic- iter procidente, set solus imperator faciem suam firmavit ut petram.; siehe dazu Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas, S. 251 ff.

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Es ist besonders berechtigt, diese Äußerungen kaiserlicher indignatio als inszeniert aufzufassen, weil in den Quellen berichtet wird, dass die „Drehbü- cher“ dieser Unterwerfung abgesprochen worden waren.21 Die Mailänder wussten, dass sie nicht leicht die kaiserliche Gnade erlangen würden, des- halb strengten sie sich so an. Barbarossa hingegen spielte seine unnachgiebi- ge Härte bzw. seinen unbändigen Zorn auf die Mailänder, indem er sich von all ihren herzerweichenden Versuchen eben nicht erweichen ließ. Die Beispiele, die ich bewusst aus einem Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts genommen habe, mögen als Belege für meine Grundthese ausreichen: Im Mittelalter dienten Emotionen in öffentlichen Ritualen als Zeichen, die je- weils eine sehr rationale Botschaft übermittelten. Zorn signalisierte hierbei sowohl die Entschlossenheit zum Konflikt, als auch die fehlende Bereitschaft, einen Konflikt zu beenden. Er wurde wie andere Emotionen gerade in der Öffentlichkeit aufgeführt. Aus solchen Ausdrucksformen auf die echten Ge- fühle derjenigen zu schließen, die sie zeigten, ist jedoch ein Anachronismus, da der Echtheitsanspruch, der heute an Emotionen gestellt wird, dem Mittel- alter fremd war. Dennoch sind – das sei offen angesprochen – die benutzten Beispiele nicht repräsentativ für alle Zeiten des Mittelalters. Man hätte nicht in jedem Jahr- hundert dieser Zeit so dicht „aufgeführten Zorn“ finden können. Dies hängt schlicht und einfach mit der Tatsache zusammen, dass der Zorn natürlich in jedem Lasterkatalog des Mittelalters zu den Todsünden gezählt wird.22 Dies wiederum hat zur Konsequenz, dass in den Jahrhunderten, in denen der geistliche Einfluss auf die Mächtigen in der Überlieferung besonders stark dominiert und wir von ihren Taten so gut wie ausschließlich durch die Ver- mittlung von Klerikern und Mönchen hören, der Zorn dieser Mächtigen nur dann beschrieben wird, wenn man ihnen den Vorwurf der Sündhaftigkeit

21 Siehe hierzu Belege in Gerd Althoff, „Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Kon- fliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft“, in: ders., Spielregeln der Politik, S. 99–125. 22 Vgl. aktuell Christoph v. Flüeler/Martin Rohde (Hrsg.), Laster im Mittelalter. Vices in the Middle Ages (Scrinium Friburgense. Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg, Bd. 23), Berlin 2009.

15 Gerd Althoff: Aufgeführte Gefühle machen will. Das gibt es, aber nicht eben sehr häufig. Ich habe in einem Buch über Kai- ser Heinrich IV. ausgiebig von der Beobachtung Gebrauch gemacht, dass Zeitgenossen ihm immer wieder den Vorwurf machten, zornig zu sein. Auf diese Weise brachten sie nämlich ihre Kritik an seinem unköniglichen Verhal- ten zum Ausdruck.23 Einen König als christlichen Herrscher positiv darzu- stellen, bedeutete nämlich, ihn nie als vom Zorn übermannt zu zeichnen. Das hat dazu geführt, dass es nach der Merowingerzeit, in der uns der Zorn noch wie eine Herrschertugend begegnet, lange keine Herrscherdarstellung mehr gab, in der der Zorn die königlichen Handlungen dominierte.24 Erst im 12. Jahrhundert ändert sich dies signifikant: Nun wird der zornige König wieder darstellbar, ohne dass dies den Vorwurf der Sündhaftigkeit impliziert – im Gegenteil. Durch eine Verschiebung der Kardinaltugenden, die vom Herrscher erwartet wurden – die Verpflichtung zur iustitia, zur Ge- rechtigkeit, drängte diejenige zur clementia, zur Milde, in den Hintergrund –, erst durch diese Verschiebung wurde der gerechte Zorn des Herrschers so- zusagen vom Laster zur Tugend. Nach dem Vorbild des Gotteszorns, wie er gerade im Alten Testament immer wieder zu finden ist25, konnte und musste nun auch der Herrscher des 12. Jahrhunderts zornig reagieren, wenn er mit Ungerechtigkeit konfrontiert wurde. Dies hat gerade Friedrich Barbarossa mit einigen schauspielerischen Fähigkeiten in den unterschiedlichsten Situa- tionen getan – oder vorsichtiger gesagt: Verschiedene Autoren haben seine Reaktionen so dargestellt. Einer Echtheitsprüfung hat man seine Emotionen jedoch sicher nicht unterworfen, sie erfüllten ihre Funktion auch dann, wenn sie lediglich aufgeführt waren.

23 Vgl. Gerd Althoff, Heinrich IV. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darm- stadt 2006, bes. S. 106 ff. 24 Vgl. dazu Gerd Althoff, „Ira Regis. Prolegomena to a of Royal Anger”, in: Barbara H. Rosenwein (Hrsg.), Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca/London 1998, S. 59–74. 25 Vgl. allg. Ralf Miggelbrink, Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualität einer ungeliebten bibli- schen Tradition, Freiburg, Basel, Wien 2000.

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Erst ein moderner Anspruch hat – wie gesagt – dazu geführt, dass wir „aufgeführte Emotionen“ nicht mehr uneingeschränkt akzeptieren, sondern erwarten, dass die gezeigten Ausdrucksformen unseren wirklichen Gefühlen entsprechen. Gleichwohl sind wir stetig in Versuchung, Emotionen aufzu- führen, weil dies auch heute noch eine wirkungsvolle Art ist zu kommunizie- ren. Nur darf man heute nicht mehr zugeben, dass man die Windstärke der Emotionen erhöht, um Eindruck zu schinden. Diese Erfahrung machten vor einigen Jahren Abgeordnete der CDU, die sich verabredet hatten, im Bundesrat Zorn und Empörung über ein Geset- zesvorhaben der damaligen rot-grünen Bundesregierung aufzuführen – und das dann auch ganz ähnlich taten wie Nikita Chruschtschov. Zunächst erziel- ten sie mit ihren gespielten extremen emotionalen Reaktionen, die Empörung signalisierten, zwar die beabsichtigte Wirkung großer öffentlicher Aufmerk- samkeit. Als einer von ihnen, der saarländische Ministerpräsident Peter Mül- ler, dann aber zugab, dass man die Reaktionen am Vorabend verabredet, also Zorn und Empörung gespielt hatte, wandte sich die öffentliche Meinung ge- gen sie: So etwas tut man heute nicht.26 Das war im Mittelalter anders, wie ich hier mit wenigen Beispielen zu zei- gen versucht habe. Wie immer bei Historikern ließen sich die Beispielreihen aber leicht verlängern: In Ritualen des Mittelalters oder allgemeiner in der öffentlichen Kommunikation – das ist meine grundsätzliche Botschaft – wur- de eine große Windstärke der Emotionen deshalb erwartet oder geradezu ge- fordert, weil dies die Eindeutigkeit der Aussagen erhöhte und sich so die Menschen auf das Gezeigte besonders verpflichteten. Die Ausdrucksformen schufen oder verstärkten die bindende Wirkung; ob diese Formen mit der wahren Gesinnung übereinstimmten, war uninteressant. Wir sollten also vorsichtig sein, wenn wir in mittelalterlichen Texten mit extremen emotionalen Ausdrucksformen konfrontiert werden, die auf den

26 Dieser Skandal ereignete sich im März 2002 im Rahmen des Streits über die Verabschie- dung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat; zur Wertung in der Öffentlichkeit vgl. folgenden Artikel aus Spiegel Online vom 25.03.2002: „Zuwanderung. Peinliches Possen- spiel“ (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,188998,00.html, 18.1.2010).

17 Gerd Althoff: Aufgeführte Gefühle ersten Blick auf eine hohe Windstärke der Emotionen weisen. Menschen weinen dort verzweifelt, toben hemmungslos oder lassen ihrem Zorn auf an- dere Weise freien Lauf, jubeln und freuen sich andererseits aber auch über- schwänglich, so dass wir uns immer wieder irritiert fragen, was das Ganze bedeutet. Gerade wenn dies öffentlich und in einem rituellem Zusammenhang pas- siert, ist aber die Wahrscheinlichkeit groß, dass hier Verhaltensweisen be- schrieben werden, die speziellen Konventionen verpflichtet waren. Diese Konventionen verlangten unmissverständliche Aussagen, und diese Unmiss- verständlichkeit erreichte man dadurch, dass man eine große emotionale Er- regung aufführte. Damit hatte man sich aufs Stärkste auf die Aussagen fest- gelegt, die man in dieser Weise gemacht hatte. Dies galt für den Zorn, der sich als rituelles Drohmittel besonders eignete; es galt aber auch für eine Vielzahl anderer Emotionen, die man in der ge- schilderten Weise aufführen konnte, und damit dem Gegenüber, sei es ein feindliches oder freundliches, signalisierte, wie es um das gegenwärtige Ver- hältnis stand. Dieser scheinbare Überdruck der Ausdrucksformen schuf Ge- wissheiten, die entweder Vertrauen bildeten oder aber als Warnsysteme fun- gierten, die Schlimmeres zu verhüten in der Lage waren. Solche Gewissheiten benötigte ganz sicher besonders eine Gesellschaft, die sich noch nicht wie die unsrige auf eine strikte Hierarchie der Normen, die dem Zusammenleben zugrundeliegen sollte, geeinigt hatte. Dass sie zudem über kein Gewaltmonopol verfügte, erwähne ich als letzten Punkt, um die Stimmigkeit meiner Argumentation zu unterfüttern: Es war lebensgefährlich, den Zorn des Anderen misszuverstehen, auch wenn es ein aufgeführter Zorn war.

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Literatur Altenburg, Detlef / Jarnut, Jörg / Steinhoff, Hans-Hugo (Hrsg.): Feste und Fei- ern im Mittelalter (Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes), Sigmaringen 1991 Althoff, Gerd: „Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendi- gung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft“, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 99–125 Althoff, Gerd: „Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommuni- kation in mittelalterlicher Öffentlichkeit“, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 229–257 Althoff, Gerd: Heinrich IV. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2006 Althoff, Gerd: „Ira Regis. Prolegomena to a History of Royal Anger”, in: Bar- bara H. Rosenwein (Hrsg.), Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca/London 1998, S. 59–74 Althoff, Gerd / Stollberg-Rilinger, Barbara: „Rituale der Macht in Mittelalter und Früher Neuzeit“, in: Axel Michaels (Hrsg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2007, S. 141–177 Anon.: „Zuwanderung. Peinliches Possenspiel“ in: Spiegel Online vom 25.03.2002 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,188998,00.html, 18.1.2010) Chronica regia Coloniensis, ed. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 18), Hannover 1880 Dinzelbacher, Peter: Warum weint der König? Eine Kritik des mediävisti- schen Panritualismus, Badenweiler 2009 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psy- chogenetische Untersuchungen, Bd.2, Frankfurt a. M. 198914 Emmel, Hildegard: Art. „Empfindsamkeit“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 2, Basel, Stuttgart 1972, Sp. 455 f.

19 Gerd Althoff: Aufgeführte Gefühle

Flüeler, Christoph v. / Rohde, Martin (Hrsg.): Laster im Mittelalter. Vices in the Middle Ages (Scrinium Friburgense. Veröffentlichungen des Mediävisti- schen Instituts der Universität Freiburg, Bd. 23), Berlin 2009 Garnier, Claudia: Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittel- alterlichen Reich (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2008 Goetz, Hans-Werner (Hrsg.): Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999 Görich, Knut: Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politi- sches Handeln im 12. Jahrhundert (Symbolische Kommunikation in der Vor- moderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2001 Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistes- formen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlan- den, Stuttgart 19659 Löther, Andrea: Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipa- tion, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit (Norm und Struktur. Stu- dien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 12), Köln, Weimar, Wien 1999 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982 Miggelbrink, Ralf: Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualität einer unge- liebten biblischen Tradition, Freiburg, Basel, Wien 2000 Morena, Otto: Historia, ed. Ferdinand Güterbock (MGH SS rer. Germ. N.S. 7), Berlin 1930 Rosenwein, Barbara H.: Emotional Communities in the Early Middle Ages, London 2006 Ottonis et Rahewini Gesta Frederici I. imperatoris, ed. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 46), Hannover 1846 Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), Stuttgart, Weimar 1996 Schenk, Gerrit Jasper: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmit- telalterlichen Reich, Köln, Weimar, Wien 2003

20 Passions in Context I (1/2010)

Schwedler, Gerald: Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen – Rituale – Wir- kungen (Mittelalterforschungen, Bd. 21), Ostfildern 2008 Spieß, Karl-Heinz: Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelal- ter, 2., verb. und erw. Aufl., Stuttgart 2009 Vincent-Buffault, Anne: Histoire des larmes. XVIIIe-XIXe siècles, Paris, Marseille 1986 Weinfurter, Stefan: „Der Papst weint. Argument und rituelle Emotion von Innocenz III. bis Innocenz IV.“, in: Spielregeln – Gewohnheiten – Konventio- nen. Kolloquium aus Anlass des 65. Geburtstags von Gerd Althoff, hrsg. von Hermann Kamp und Claudia Garnier, Darmstadt 2009, S. 69–80 Schnell, Rüdiger: „Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung“, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173–276 Taubman, William: “Did he Bang it? Nikita Khrushchev and the Shoe”, in: New York Times v. 26. 07. 2003 (http://www.nytimes.com/2003/07/26/opinion/26iht- edtaubman_ed3_.html, 18.1.2010) Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M. 1995

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