Krankheitsbezogenes Abschiebungsverbot Hinsichtlich Afghanistans
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VG Augsburg, Urteil v. 01.10.2018 – Au 5 K 17.32950 Titel: Krankheitsbezogenes Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans Normenketten: AsylG § 3, § 4 AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c Leitsatz: Auf im Herkunftsstaat vorhandene und grundsätzlich zugängliche Behandlungsmöglichkeiten kommt es nicht an, wenn diese wegen der insbesondere bei Vorliegen einer PTBS bzw. schwergradigen depressiven Episode im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung auf Grund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind. (Rn. 63) (redaktioneller Leitsatz) Schlagworte: Afghanistan, Hazara aus ..., Einreise auf dem Landweg, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), keine Anknüpfung an asylrechtlich-relevantes Merkmal geltend gemacht, subsidiärer Schutz (vernein), Abschiebungsverbot (bejaht), fachärztliche nachgewiesene multiple psychische Erkrankung, Anforderungen an ärztliche Atteste, Asyl, Taliban, Aufenthaltsverbot, Gruppenverfolgung, Retraumatisierung, Depression Fundstelle: BeckRS 2018, 24572 Tenor I. Der Bescheid des Bundesamtes für ... vom 10. Mai 2017 wird in Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Afghanistans vorliegt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 3/4 und die Beklagte zu ¼. Gerichtskosten werden nicht erhoben. III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Tatbestand 1 Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Anerkennung als Asylberechtigter, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzstatus bzw. die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). 2 Der am ... 2000 in ... (Afghanistan) geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger mit Volkszugehörigkeit der Hazara und schiitischem Glauben. 3 Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger im Oktober bzw. November 2015 erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er unter dem 18. Januar 2016 Asylerstantrag stellte. Eine Beschränkung des Asylantrages gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht. 4 Die persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 10. April 2017 durch einen Sonderbeauftragten für Minderjährige. 5 Der Kläger trug hierbei vor, er und seine Familie hätten im Heimatdorf immer wieder Probleme mit Nomaden (...) gehabt. Daher seien sie in die Stadt ... gezogen. Dort habe der Vater eine Bäckerei betrieben. Als sein Vater krank geworden sei, habe der Kläger vermehrt in der Bäckerei gearbeitet. Man habe zwei Paschtunen als Kunden gehabt, die regelmäßig mehrere Brote gekauft hätten. Bei einer Abholaktion für die bestellten Brote sei die Polizei gekommen und hätte einen der Paschtunen verhaftet. Der Paschtune habe dem Kläger gedroht, ihn umzubringen. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen. Am nächsten Morgen sei der Kläger erneut mit seinem Vater in die Bäckerei gegangen. Als der Kläger kurzzeitig in die hinteren Räume gegangen sei, um Wasser zu holen, seien Schüsse in der Bäckerei zu hören gewesen. Als die Angreifer geflohen seien, habe er seinen Vater erschossen am Boden liegen sehen. Der Kläger sei daraufhin nach Hause gelaufen und habe von dort aus seinen Onkel verständigt. Dieser habe ihn darauf verwiesen, dass der Angriff von Seiten der Taliban ausgegangen sei. Die Taliban seien der Auffassung, dass die Familie mit der afghanischen Regierung zusammenarbeiten würde. Sein Onkel habe für den Kläger ein Taxi organisiert. Zunächst sei der Kläger in die Provinz Nimrus gefahren. Von dort aus sei er weiter in den Iran gereist. 6 Für das weitere Vorbringen des Klägers wird auf die über die Anhörung gefertigte Niederschrift des Bundesamtes verwiesen. 7 Mit Bescheid des Bundesamtes vom 10. Mai 2017 wurden die Anträge des Klägers auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). Nr. 3 des Bescheids bestimmt, dass dem Kläger auch der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor (Nr. 4). Der Bescheid fordert den Kläger in Nr. 5 auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Weiter wurde bestimmt, dass der Kläger auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei. Nr. 6 setzt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest. 8 Zur Begründung der Entscheidung führt das Bundesamt u.a. aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorliegen. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Ungeachtet dessen, ob man dem Vorbringen des Klägers Glauben schenke, sei der Kläger darauf zu verweisen, bei einer vermuteten Gefahr seitens der Taliban in ... einen Ortswechsel innerhalb Afghanistans vorzunehmen. Der Verweis darauf, dass die Taliban einen überall in Afghanistan suchen und finden würden, sei pauschaliert und unglaubwürdig. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Der Kläger habe schon in Bezug auf seine eigene Erlebnissphäre nicht schlüssig und substantiiert dargelegt, in welcher Weise er von Gefahren individuell konkret betroffen oder bedroht sei. Auch bei Wahrunterstellung der gemachten Vorträge ergäbe sich kein Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes; der Kläger müsse sich auf die vorhandenen staatlichen Schutzmöglichkeiten in Afghanistan verweisen lassen. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Da es sich beim Kläger um einen jungen, körperlich gesunden und arbeitsfähigen Mann handle, sei grundsätzlich davon auszugehen, dass er in Afghanistan das erforderliche Existenzminimum erlangen könne. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei vorliegend angemessen; Anhaltspunkte für eine kürzere Fristfestsetzung seien weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich. Der Kläger verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen seien. 9 Auf den weiteren Inhalt des Bescheides des Bundesamtes vom 10. Mai 2017 wird ergänzend verwiesen. 10 Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Vormund des Klägers am 13. Mai 2017 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt. 11 Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 15. Mai 2017, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg eingegangen am 22. Mai 2017, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt, 12 Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für ... Referat ... vom 10. Mai 2017, zugestellt am 13. Mai 2017, Gz.:, verpflichtet festzustellen, dass der Kläger Asylberechtigter ist und ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 Halbs. 1 AsylG zuzuerkennen; hilfsweise, dem Kläger subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf Null zu befristen. 13 Zur Begründung der Klage ist mit Schriftsatz vom 30. Mai 2017 ausgeführt, dass der Kläger schiitischer Hazara sei. Die Hazara seien in Afghanistan seit Jahren wiederholt Diskriminierungen ausgesetzt. Es komme zu Entführungen und Tötungen. Hierbei handle es sich auch nicht um lokale Einzelfälle. Vor allem die Taliban seien erklärte Gegner der Hazara und Schiiten. Am stärksten gefährdet seien männliche Hazara. Überdies habe der Kläger einen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzstatus, da in Afghanistan ein stark ausgeprägter innerstaatlicher Konflikt herrsche. Die Lage in Afghanistan sei nach wie vor instabil. Die Taliban hätten ihre Position in den letzten Jahren erneut