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Heidi Süß

‚Modus Mio‘ und lila Scheine – Konstruktionsmodi von Rap-Männlichkeit in Zeiten rapider Kommerzialisierung

1 Einleitung

Über Geld spricht man nicht? Von wegen! Es gibt wohl kaum ein gesellschaftliches Feld, des- sen Akteur_innen so häufig und vor allem so unverhohlen über Geld sprechen wie die Prota- gonist_innen der deutschsprachigen Rap-Szene. Die Bezugnahmen auf den allseits ersehnten Reichtum kommen dabei ganz unterschiedlich daher, sind mal mehr, mal weniger codiert und weisen die deutschsprachige Rap-Szene einmal mehr als multikulturelle, mit sämtlichen Sprach- registern vertraute Sprechgemeinschaft aus. Während die einen ihre Wünsche in den buntes- ten Farben zum Ausdruck bringen (z. B. „braun, grün, gelb, lila“ von 18 Karat, „lila Scheine“ Dr. Heidi Süß (Foto: Bettina Steinacker). von KC Rebell), geht es andernorts schlichtweg um’s „Geld machen“ (Songtitel u. a. von Capital andere von Batzen, Patte, Cash oder Flouz1 (z. B. Bra oder Kianush), und zwar möglichst schnell „Rhythm & Flouz“ von Celo&Abdi). Ganz in der (vgl. „Schnelles Geld“ z. B. von Schwester Ewa Tradition des US-amerikanischen Vorbilds ste- oder Sero El Mero). Wollen die einen „para, hend, bildet sich die offen kapitalistische Moti- para, para“ oder „money, money, money“ (vgl. vation vieler Rapper_innen aber auch bereits in „Geld, Geld, Geld“ von Krime), rappen wieder der Namensgebung dutzender Szene-Labels ab.

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Analog zu ‚Cash Money Records‘ oder ‚Young eine besondere Bedeutung zuzukommen, zählt Money Entertainment‘ (beide USA) gibt es in die Kritik an der Musikindustrie doch zu den Deutschland HipHop-Labels wie ‚I luv money am häufigsten wiederkehrenden Themen in records‘, ‚Alles oder Nix‘, ‚German Dream‘ oder (europ.) Raptexten (vgl. sog. ‚scene discourse‘, ‚Selfmade Records‘. Von Künstlernamen wie Androutsopoulos/Scholz (2002:10)) und ist Milionar, Moneyboy, Joey Bargeld, Dollar John, überdies – besonders im US-amerikanischen Gold Roger, Plusmacher oder 18 Karat ganz zu Raum – eng mit dem Authentizitätsdiskurs des schweigen. HipHop verwoben. Um das zu verstehen, lohnt Woher aber kommt das exzessive und überaus ein Blick in die Geschichte des HipHop. (Männ- unverblümte Streben nach finanziellem Reich- liche) HipHop-Identitätsarbeit nämlich muss tum im Rap? Wie geht diese (Markt-)Systemkon- aus einer postkolonial und intersektional infor- formität mit dem historischen Geworden-Sein mierten Perspektive gedacht werden, die die der einst widerständigen Subkultur zusammen Verschränkung von Geschlechterkonstruktionen und wie kommt es, dass marginalisierte – weil mit weiteren Kategorien wie race und class be- migrantische – Männlichkeiten à la rücksichtigt. eine Logik affirmieren, die erneut Marginalisie- Mit der zunehmenden Kommerzialisierung rung und Ungleichheit generiert, anstatt diese US-amerikanischer Rapmusik in den 1990er-Jah- kritisch infrage zu stellen? Eine Spurensuche. ren fanden sich Schwarze Rapper_innen schon bald in einem komplexen Identitätsdilemma wie- 2 „Ideale sind wie Koks, ein Teil bleibt der. Zwar verschaffte der übermäßige Erfolg von immer am Geldschein kleben“2 – Rap vielen der ehemals deprivilegierten Protago- HipHop-Subjekte zwischen Authen- nist_innen erstmalig Zugang zu ökonomischem tizität und Ausverkauf. Ein historisch Kapital und sorgte für eine nie dagewesene informierter Rundumblick Sichtbarkeit Schwarzer Musik, Lebenswelten und Ästhetiken in der US-amerikanischen Gesell- Auch wenn es die/den Normalo-Rapmusik-Kon- schaft. Als Nährboden dieses Erfolgs und seiner sument_in von heute verwundern mag: Mit dem mehrheitlich weißen Käuferschicht waren jedoch Lobgesang auf das große Geld, wie er heute ge- schnell rassistische und sexistische Stereotype fühlt 90 % der Raptexte im Musik-Mainstream ausgemacht, wie u. a. die US-amerikanische Ge- kennzeichnet, kam man in der Geschichte der schlechterforscherin Peoples konstatiert: HipHop-Kultur nicht immer ungestraft davon. „Mainstream rap music is most easily com- Im Gegenteil sahen sich kommerziell orientierte modified because it represents ideas of black- und/oder erfolgreiche Rapper_innen noch vor ness that are in line with dominant racist and gar nicht allzu langer Zeit schnell mit dem sog. sexist ideologies; it has economic potential only ‚Sell-out‘-Vorwurf konfrontiert, ein subkultureller because it works hand-in-hand with long estab- Todesstoß, der die jeweilige Zielperson qua Ab- lished ideas about the sexual, social, and moral sprache von realness schnell zur Persona non nature of black people. In other words, the im- grata diskreditierte. So geschehen etwa im Jahr ages of black male violence and aggression that 2005, als der selbst ernannte ‚King of Rap‘ Kool dominate mainstream rap music are highly mar- Savas seinem ehemaligen Schützling und musi- ketable in America because of already existing kalischen Weggefährten mit dem Track ideologies of racism that long ago named the ‚Das Urteil‘ für einige Jahre von der deutschspra- black male as supreme aggressor and physical chigen HipHop-Bildfläche fegte. In dem Song and sexual threat. Similarly, the images of sex- hieß es u. a.: „Ihr setzt Erfolg über Realness, ually available black women that pervade rap setzt Cash über Freunde“ oder auch „du warst music are marketable because of already ex- weg, weit weg in der Popwelt, der Rapper der isting ideologies that designated black women Dieter Bohlen den Cock3 hält, bald gibt’s Kopf- as hypersexual and morally obtuse.“ (Peoples geld, du bist verrückt, du willst zurück, wer bist 2008: 24) du nur? Warst L.O.V.E.4 und jetzt wieder HipHop, Die Vereinnahmung Schwarzer Kultur durch eine du Missgeburt?“. weiße Industrie und Mehrheitsgesellschaft, der 2 Fatoni & Dexter ‚Authentizi- tät‘ (2015). Dass sich (mehr oder weniger) politische Sub- fehlende Einfluss auf die ‚eigenen‘ Images und und/oder Jugendkulturen vom Wesen her einer Repräsentationen sowie der kommerzielle Ach- 3 cock (engl./vulg.) = Schwanz. Vereinnahmung durch die Mehrheitskultur er- tungserfolg weißer, privilegierter Vorort-Rapper wehren wollen, sich durch die Abgrenzung und wie Vanilla Ice führten dazu, dass die Idee der 4 L.O.V.E. war ein sehr poppi­ ger Rap-Song, den Eko Fresh Rebellion gegen diese ja gerade erst herausbil- Authentizität nicht nur an Bedeutung im HipHop damals mit Freundin und den, mag zu den Allgemeinplätzen der Cultural gewann, sondern auch eng mit der ‚race-question‘ R&B-Sängerin Valeska releaste und der es im Jahr 2004 auf Studies und Jugendkulturforschung gehören. verknüpft wurde. Anders ausgedrückt: Rap – für Platz 16 der Charts schaffte. Im Bereich HipHop scheint dem Thema jedoch viele ohnehin ‚black cultural expression‘ – wurde

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Abb. 1. Suppport Claims of Authenticity

Semantic Dimensions Real Fake Social-physological staying true to yourself following mass trends Racial Black White Political-economic the underground commercial Gender-sexual hard soft Social-locational the street the suburbs Cultural the old school the mainstream

Quelle: McLeod (1999: 138ff.): Authenticity claims within hip-hop discourse. als originär Schwarze (Musik-)Kultur zurücker- Ausübung seiner Ausdrucksformen Strukturele- obert und festgeschrieben. Eine Distanzierung mente und Prinzipien aktueller kapitalistischer (‚disassociate‘) vom eigenen ‚Schwarz-Sein‘ Ordnungssysteme“, wie Bock/Meier/Süss (2007: dagegen barg das Risiko, sich Vorwürfe um 320) formulieren. Als „Kultur des Machens und Ausverkauf (‚sell-out‘) und gleichsam Verrat an Produzierens“ (Klein/Friedrich 2003: 38) sind der eigenen, afroamerikanischen Community HipHop-Subjekte aller Generationen seit jeher einzuhandeln (McLeod 1999: 141). Die seman- angehalten, sich auf irgendeine Art und Weise tischen Dimensionen ‚racial‘ und ‚political-eco- zu engagieren, denn „in der Verpflichtung, aktiv nomic‘ finden sich folgerichtig auch in der zu sein, besteht die normative Kraft des Fakti- viel zitierten HipHop-Authentizitätsmatrix des schen“ (ebd.). Auch das Prinzip des style spiegelt Kommunika­tionswissenschaftlers McLeod aus die Subjektivierungslogik der Szene wider, gilt es dem Jahr 1999 wieder (siehe Abb. 1). ‚Weiß‘ und diesen doch in ständigem Wettbewerb weiterzu- ‚kommer­ziell(sein)‘ gelten hier als ‚fake‘, eben- entwickeln und dabei größtmögliche Originalität so wie ‚the mainstream‘ auf der kulturellen und und Individualität zu erreichen (zum style vgl. ‚following mass trends‘ auf der sozial-psycholo- auch Menrath 2001). gischen Ebene (vgl. ebd.: 139). Während sich das quasi-obligatorische Produk- Dass dieser feldspezifische Maßstab angesichts tiv-Sein in prä-kommerziellen Zeiten eher idea- der rapide fortschreitenden Kommerzialisierung listisch begründete und aus der Liebe zur Kultur von Rapmusik und der engen Verquickung hege­ heraus entsprang (vgl. ‚The golden era‘), läutete monialer Männlichkeit mit ökonomischem Kapi­ der Siegeszug des hypermaskulinen Gangsta-­ tal schon bald semantischen Verschiebungen Subgenres einen sukzessiven Sinneswandel anheimfallen würde, war abzusehen … ein: Produktiv-Sein folgte nunmehr einer öko- nomischen Logik. „Get Rich or Die tryin“ heißt 3 HipHop und Kommerz – eine ambiva- nicht nur das Debütalbum von Gangsta-Rapper lente Beziehung? Über Gangsta-Rap, 50Cent aus dem Jahr 2003, sondern begann sich Männlichkeit und soziale Ungleichheit auch zum szeneübergreifenden Credo zu ent­ wickeln. Was war passiert? Zunächst mal eine Klarstellung: Der Glaube, Der US-amerikanische Soziologe Michael P. Jeffries die jugendlich-naive, genuin anti-kommerzielle hat sich intensiv mit den Männlichkeitskons- Idealisten-Gemeinde des HipHop sei gänzlich truktionen Schwarzer (Gangsta-)Rapper zwi- unfreiwillig und nur unter größtem Widerstand schen Authentizität und Kommerzialisierung in die grausamen Fänge der neoliberalen Ver- beschäftigt und macht den Mythos des Ameri- wertungsmaschinerie geraten, kommt nicht nur can Dream als wirkmächtiges Narrativ in diesem einer Verklärung des HipHop gleich, sondern Spannungsfeld aus. Gut 60 % der Schwarzen verkennt auch den Modus der feldspezifischen US-Amerikaner_innen beispielsweise glaubten Subjektkonstitution. Denn ungeachtet seines nicht an Diskriminierung als ungleichheitsgene- emanzipatorischen Potenzials oder seiner zu- rierenden Faktor, etwa auf dem Wohnungsmarkt. weilen subversiven Inhalte stand HipHop nie im „[T]he folk are blinded by their belief in the Widerspruch mit kapitalistischen Logiken und ‚American Dream‘ and intoxicated by conspic- zielt auch nicht per se auf die Abschaffung ge- uous consumption“, formuliert Jeffries (2011: sellschaftlicher Ungleichheit. „Vielmehr enthält 71), für den der immense Erfolg einiger weniger HipHop durch seine immanente Flexibilität, Inno­ US-Rapper die bestehende strukturelle Ungleich- vationsfähigkeit, seiner Medien- und Marken­ heit nur noch mehr zu verschleiern hilft: affinität und seiner Wettbewerbspraxis in der

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„Rappers who rise from the poorest ghettos worden ist, unterscheidet sich das hiesige doing to the privileged class are cast as proof that un- rap masculinity nur geringfügig von US-Rappern derdogs can triumph in American capitalism and à la Jay-Z. Wie eingangs erwähnt ist ‚Para ma- that black people have the capacity and the right chen‘ und das offene Bekenntnis zum sozialen to consume the very best and be counted among Aufstieg by all means necessary auch im gegen- those who are important. MCs [‘Masters of Cer- wärtigen DeutschRap zum quasi-obligatorischen emony’, alternative Bezeichnung für ‚rapper‘, Topos avanciert. Mehr noch: „Gangsta-Rapper Anm. d. Verf.] are marketed as representatives of sind die vermeintlich kompromisslosesten Neo- impoverished communities, giving mainstream liberalen unserer Zeit. Natürlich nicht dessen visibility, audibility, and creative credibility to spiritus rectors, verkörpern und propagieren constituencies that are ignored at best and sie Materialismus und Wettbewerb stärker als dishonored at worst. All of this may inspire a Josef Ackermann, Jürgen Schrempp oder Guido false belief and faith in America’s yet unrealized Westerwelle es je vermögen“, formuliert das promise of equality of opportunity and provide a Autoren­paar Bendel/Röper (2017: 105) beim smoke screen that prevents the folk from recog- Blick auf die aktuelle Szene. nizing and criticizing the structures that impede Angesichts der Sprecherpositionen von Haft- their economic and political progress.“ (Jeffries befehl, KC Rebell, Capital Bra oder Majoe mu- 2011: 71) tet die arglose Affirmation neoliberaler Werte Bei allem Bedauern gegenüber dieser unkriti- um Materialismus, Konkurrenzaffinität oder schen Affirmation versäumt Jeffries es nicht, das Leistungsgerechtigkeit allerdings auch im deut- geradezu geschichtsvergessene, überaus frene- schen Kontext ambivalent an: Viele der diskurs- tische Zelebrieren von Reichtum und Luxusarti- mächtigsten deutschsprachigen Gangsta- und keln – wie wir es vor allem aus dem Gangsta-­ Straßen-­Rapper blicken auf zuweilen dramati- Subgenre kennen – an die Subjektposition der sche Flucht- und/oder Migrationsgeschichten entlang von class und race marginalisierten zurück (vgl. Güngör/Loh 2017). Erfahrungen von Schwarzen Rap-Männlichkeit zurückzubinden: (z. B. antimuslimischem) Rassismus und Diskrimi- Geld, Eigentum und materielle Güter sollen nierungserlebnisse auf dem Arbeits-, Bildungs- das Defizit sozialer Anerkennung und jahrhun- oder Wohnungssektor ziehen sich wie ein roter dertelanger Entmännlichung kompensieren Faden durch das Diskursuniversum DeutschRap. und werden zum Ausweis von Macht und einer Wenngleich von einem beinahe anachronis- wiedergewonnenen (männlichen) und gleich- tisch anmutenden Männlichkeitskult flankiert, sam Schwarzen Souveränität (ebd.). Gelingt entbehren derartige Behauptungen – bei aller es Schwarzen Rappern dann noch, das weiße inszenatorischen und stilistischen Überhöhung – Narra­tiv vom American Dream durch Rückgriff jedoch keineswegs einer empirischen Grund- auf Schwarze Ästhetiken und Kulturtraditio- lage, ist die reale soziale Benachteiligung und nen zu erzählen (‚stylin‘) und trotz Anhäufung Stigmatisierung migrantischer Männlichkeiten in immensen Reichtums in Verbindung zur hood, Deutschland doch eine recht breit und gut er- d. h. zur ‚folk culture‘, zu bleiben, so wird die forschte Tatsache (vgl. u. a. Huxel 2008; Sauer HipHop-Identitätsarbeit an dieser Stelle als real, 2007). Bendel/Röper (2017: 107) beschreiben d. h. als authentisch geglaubt, wie Jeffries im die auf den ersten Blick widersprüchliche Subjek- Rahmen seiner Interviewstudie herausarbeitet tivierungsweise vieler Gangsta-Rapper als ‚neo- (Jeffries 2011: 68ff., vgl. auch Hess 2012). Dem liberales Paradoxon‘. Mit Rückgriff auf Adler und Milliardär und ehemaligen Crack-Dealer Jay-Z Honneth arbeiten die Autoren am Paradebeispiel gelänge dieses Mäandern dabei besonders er- Bushido heraus, dass es sich hier „weniger um folgreich (vgl. auch White 2011: 80ff.) einen bewusst propagierenden Anhänger des Neoliberalismus handelt, sondern dass dieser 4 „Ackern“ vs. „nichts tun“ – neolibe- sich vielmehr als ein marginalisiertes Individuum rale Männlichkeiten und ihre Gegen- darstellt, das sich überkompensatorisch an den spieler_innen im deutschsprachigen geltenden gesellschaftlichen Idealen orientiert“ Rap (ebd.: 128). Die Propagierung eines neoliberalen Wertesys- Weil deutschsprachige Gangsta-Rapper nun ei- tems ist jedoch nicht auf das Subgenre Gangsta-­ nerseits in der Tradition der US-amerikanischen Rap und dessen meist männliche Sprecher Rap-Männlichkeitserzählung stehen und sich in beschränkt. Deutschlands erfolgreichste Spotify-­ ihren Männlichkeitsperformances authentisch zu Playlist für deutschsprachigen Rap trägt nicht ihr verhalten müssen, aber auch weil die neolibe- nur den vielsagenden Namen ‚Modus Mio‘ (= rale Agenda längst zu einer globalen, sämtliche Modus Million), ein Blick auf die Diversität der Lebensbereiche durchdringenden Ideologie ge- dort vertretenen Künstler_innen verrät auch,

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was die Männlichkeitsforschung im Kontext öko- Von Stetten/Wysocki (2017: 249) diskutieren nomischer Globalisierung zunehmend als hege- die Rapper, deren Kapitalismuskritik weit über moniale Subjektivierungsform aller Menschen die Kritik an der ‚eigenen‘ Szene hinausreicht, diskutiert: neoliberale Männlichkeit. deshalb auch als „hegemoniale Gegenmänn- „Neoliberale Männlichkeit konnte sich in allen lichkeit“. gesellschaftlichen Bereichen als zentrale Subjek- Aber auch andernorts geben sich Rapper_innen tivierungsweise absichern und dadurch hegemo- unbeeindruckt vom neoliberalen Produktivitäts- nial, d. h. auch von marginalisierten Männlich- wahnsinn. Während erfolgreiche Mainstream-­ keiten akzeptiert und teilweise ‚gelebt‘ werden. Rapper wie Ufo361 oder Sido ambitioniert über Spezifische Aspekte neoliberaler männlicher das tägliche ‚Ackern‘ im Hamsterrad rappen (vgl. Subjektivierungsweisen wurden also gleichsam ‚Acker jeden Tag‘ von Ufo361 oder ‚Ackan‘ von entgrenzt und verallgemeinert. Die einst in der Sido), sich wieder andere als ‚Anpacker‘ und Ökonomie entworfene Form neoliberaler Männ- ‚Macher‘ inszenieren (siehe bei oder lichkeit entwickelte sich inzwischen zur Subjekti- Beka (ehemals Blut&Kasse)), stellen sich Rapper vierungsform und Lebensweise für alle anderen wie Dexter, Audio88 und Yassin der kapitalisti- gesellschaftlichen Bereiche und Teilsysteme. schen Verwertungslogik bewusst entgegen. Im Neoliberale Männlichkeit ist somit auch nicht Track ‚Dies, Das‘ zum Beispiel werden Album- mehr exklusiv einer kleinen Gruppe von Perso- veröffentlichungen ganz entspannt verschoben, nen vorbehalten, sondern sogar zwingend für Musik zum Selbstzweck aufgenommen oder es alle Menschen, also auch für Frauen und für mar- wird sich mit den Jungs getroffen, „um einfach ginalisierte oder unterworfene Männlich­keiten“ nichts zu tun“. Mit dem Spektrum des ‚Linkspo- (Sauer 2011: 97). litischen Rap‘ oder auch ‚Zecken-Rap‘ gründet Ob weiße Mittelschichts-Rapper wie Bausa oder schließlich ein ganzes Subgenre auf der Kritik Cro, migrantische Männlichkeiten wie Nimo und Dekonstruktion­ kapitalistischer Systeme oder oder weibliche Rap-Acts wie samt zugehöriger Identitäten. Durch die Zurück- Shirin David, Nura oder Loredana: Der grundle- weisung von Dominanz und der offenen Propa- gende Habitus neoliberaler Männlichkeit, den gierung gegenseitiger Solidarität, Fürsorge und Sauer (ebd.) u. a. durch kompetitives Denken und Zusammenhalt bilden die positiven und quee- einen Gestus der Ausgrenzung gekennzeichnet ren Gegenidentitäten von Sookee, Kobito, Lena sieht, materialisiert sich in beinahe allen zeit- Stoehrfaktor oder Sir Mantis das diametrale genössischen Rap-Songs, wird in dutzenden Gegen­stück zur neoliberalen Subjektivierungs- Musikvideos reproduziert und durchzieht auch form im Mainstream-­Rap. Rapper wie Danger Diskursfragmente, die über den quasi-fiktionalen Dan, der sich im Track ‚Sand in die Augen‘ jüngst Raptext hinausweisen, wie z. B. Interviews oder als profeministischer Vater inszeniert, ließen sich Autobiografien (vgl. dazu z. B. Seeliger 2017). dagegen vielmehr mit alternativen Männlich- Ist die deutschsprachige Rap-Szene also zu ei- keitskonzepten wie etwa jenem der sog. caring nem durch und durch ökonomisierten Feld ge- masculinity fassen, wie sie die Männlichkeits- worden? Sind kompetitives Denken, kalkulierte forschung im Kontext der Postwachstumsgesell- Risikobereitschaft, gepaart mit einem Gestus schaft und einer damit einhergehenden Trans- der Ausgrenzung und Entsolidarisierung zu den formation von Subjektivierungsweisen diskutiert neuen Eckpfeilern einer HipHop-Identität 3.0. (vgl. z. B. Heilmann/Scholz 2017): „[C]aring mas- avanciert? Wo sind sie hin, die anti-rassistischen, culinities are masculine identities that reject do- humanistischen Ideale, die kritischen Stimmen mination and its associated traits and embrace und gegenkulturellen Identitätsentwürfe? values of care such as positive emotion, interde- Diktiert vom nachhaltig erfolgreichen Gangsta-­ pendence, and relationality“ (Elliott 2016: 240). Subgenre mag die neoliberale Mentalität zwar den aktuellen Mainstream-Rap dominieren, den- noch gibt es eine Vielzahl von Rap-Sprecher_in- Literatur nen, die sich kritisch gegenüber der kapitalisti- schen Verwertungslogik positionieren und/oder -- Androutsopoulos, Jannis; Scholz, Arno (2002): sich dezidiert an tradierten vorkommerziellen On the recontextualization of hip-hop in Eu- ‚HipHop-Werten‘ rund um Solidarität, Respekt ropean speech communities: a contrastive und Zusammenhalt orientieren (vgl. dazu Klein/ analysis of rap lyrics. In: Philologie im Netz 19, Friedrich 2003: 38ff.). Das Kölner Rap-Duo Huss S. 1–42. Online verfügbar unter: http://web. und Hodn beispielsweise verzichtet nicht nur auf fu-berlin.de/phin/phin19/p19t1.htm (zuletzt eine kommerzielle Vermarktung seiner Produkte, aufgerufen am 04.11.2019). sondern stellt die Parodie der Gangsta-Männ- -- Bendel, Alexander; Röper, Nils (2017): lichkeit gar ins Zentrum seines Rapschaffens. Das neoliberale Paradoxon des deutschen

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Gangsta-­Raps. Von gesellschaftlicher Ent- -- Menrath, Stefanie (2001): Represent what. fremdung und der Suche nach Anerkennung. Performativität von Identitäten im HipHop. In: Seeliger, Martin; Dietrich, Marc (Hrsg.): Hamburg: Argument-Verlag. Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als -- Peoples, Whitney A. (2008). „Under Construc- Kampf um Anerkennung und Integration. Bie- tion“: Identifying Foundations of Hip-Hop lefeld: transcript, S. 105–132. Feminism and Exploring Bridges between -- Bock, Karin; Meier, Stefan; Süss, Gunter Black Second-Wave and Hip-Hop Feminism. (2007): HipHop als Phänomen kulturellen In: Meridians: feminism, race, transnationa- Wandels. In: Bock, Karin; Meier, Stefan; Süss, lism 8 (1), S. 19–52. Gunter (Hrsg.): HipHop meets Academia. Glo- -- Sauer, Birgit (2011): Restrukturierung von bale Spuren eines lokalen Kulturphänomens. Männlichkeit. Staat und Geschlecht im Kon- Bielefeld: transcript, S. 313–324. text von ökonomischer Globalisierung und -- Elliott, Karla (2016): Caring Masculinities: politischer Internationalisierung. In: Bereswill, Theorizing an Emerging Concept. In: Men and Mechthild; Neuber, Anke (Hrsg.): In der Krise? Masculinities 19, Nr. 3, 240–259. Männlichkeiten im 21. Jahrhundert. Münster: -- Güngör, Murat; Loh, Hannes (2017): Vom Westfälisches Dampfboot, S. 80–103. Gastarbeiter zum Gangsta-Rapper. HipHop, -- Sauer, Martina (2007): Integrationsproble- Migration und Empowerment. In: Seeliger, me, Diskriminierung und soziale Benachtei- Martin; Dietrich, Marc (Hrsg.): Deutscher ligung junger türkeistämmiger Muslime. In: Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Aner- Wensierski, Hans-Jürgen von; Lübcke, Claudia kennung und Integration. Bielefeld: transcript, (Hrsg.): Junge Muslime in Deutschland. Le- S. 193–220. benslagen, Aufwachsprozesse und Jugend- -- Heilmann, Andreas; Scholz, Sylka (2017): Car- kulturen. Opladen: Verlag Barbara Budrich, ing Masculinities – gesellschaftliche Transfor- S. 339–356. mationspotentiale fürsorglicher Männlichkei- -- Seeliger, Martin (2017): Autobiografien deut- ten? In: Feministische Studien, Band 35, Heft scher Gangsta-Rapper im Vergleich. In: Seeliger, 2, S. 345–353. Martin; Dietrich, Marc (Hrsg.): Deutscher -- Hess, Mickey (2012): „The Rap Career“. In: Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Aner- Forman, Murray; Neal, Anthony Mark (Hrsg.): kennung und Integration. Bielefeld: transcript, That’s the joint! The Hip-Hop Studies Rea- S. 37–60. der. 2 Aufl., New York/London: Routledge, -- Stetten, Moritz von; Wysocki, Jan (2017): S. 634–654. „Vor dem Retrogott bist du ein Hurensohn“. -- Huxel, Katrin (2008): Ethnizität und Männlich- Die Figur des deutschen Gangsta-Rappers keitskonstruktionen. In: Luedtke, Jens; Baur, aus Sicht des Rap-Duos Huss und Hodn. In: Nina (Hrsg.): Die soziale Konstruktion von Seeliger, Martin; Dietrich, Marc (Hrsg.): Deut- Männlichkeit. Hegemoniale und marginali- scher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf sierte Männlichkeiten in Deutschland. Opla- um Anerkennung und Integration. Bielefeld: den/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich, transcript, S. 241–266. S. 61–78. -- White, Miles (2011): From Jim Crow to Jay-Z. -- Jeffries, Michael P. (2011): Thug Life: Race, Race, Rap and the performance of masculinity. Gender, and The Meaning of HipHop. Chicago: Urbana/Chicago/Springfield: University of Illi- University Press. nois Press. -- Klein, Gabriele; Friedrich, Malte (2003): Is -- Wolbring, Fabian (2015): Die Poetik des Kontakt und Information this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt am deutschsprachigen Rap. Göttingen: V&R uni- Dr. des. Heidi Süß Main: Suhrkamp. press. Interdisziplinäres Graduierten- kolleg ‚Gender und Bildung‘ -- McLeod, Kembrew (1999): „Authenticity Stiftung Universität Hildesheim Within Hip-Hop and other Cultures Threatened Universitätsplatz 1 31141 Hildesheim with Assimilation“. In: Journal of Communica- [email protected] tion 49, S. 134–150.

34 Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW Nr. 45/2019 Dieser Text wird über DuEPublico, dem Dokumenten- und Publikationsserver der Universität Duisburg-, zur Verfügung gestellt. Die hier veröffentlichte Version der E- Publikation kann von einer eventuell ebenfalls veröffentlichten Verlagsversion abweichen.

DOI: 10.17185/duepublico/71957 URN: urn:nbn:de:hbz:464-20200623-155932-8

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