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Research Collection

Doctoral Thesis

Verortungen von Wissen Die Räume und Sammlungen der Universität 1575-1700

Author(s): Grämiger, Gregory

Publication Date: 2014

Permanent Link: https://doi.org/10.3929/ethz-a-010402159

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ETH Library Gregory Grämiger

VERORTUNGEN VON WISSEN Die Räume und Sammlungen der Universität Leiden 1575–1700

DISS ETH 22375 DISS ETH 22375

VERORTUNGEN VON WISSEN DIE RÄUME UND SAMMLUNGEN DER UNIVERSITÄT LEIDEN 1575–1700

Abhandlung zur Erlangung des Titels

DOKTOR der ETH ZÜRICH

vorgelegt von

GREGORY GRÄMIGER Dipl. Arch. ETH

geboren am 8. Februar 1980 von Mosnang SG

Angenommen auf Antrag von

PD Dr. Lothar Schmitt Prof. Dr. Eric Jorink Prof. Dr. Philip Ursprung

2014

Dank

Auf der vorhergehenden Seite fehlt der Name von Andreas Tönnesmann, denn mein ver- ehrter Doktorvater konnte die letzte Niederschrift der Arbeit leider nicht mehr lesen. Ohne seine Initiative, Inspiration und stete Förderung wäre die vorliegende Arbeit nicht verfasst worden. Ihm gebührt mein erster und grösster Dank. Lothar Schmitt danke ich nicht nur für die Übernahme des Referats, sondern auch für die durchgehende Unterstützung während vieler Jahre der Forschung und Niederschrift. Eric Jorink danke ich für seine Expertise und für die Übernahme des Koreferats. Philip Ursprung half mit seinem Gutachten in Stunden der Not, wofür ich ihm meinen Dank aus- sprechen möchte. Bereichert wurde die Arbeit durch das Interesse und das Fachwissen von Susanne Rau, Anne Goldgar, Tim Huisman, Gerda van Uffelen, A.J.F. Gogelein, Kasper van Om- men, Anton van der Lem, Arend Pietersman, dgtlclassicist, Volker Remmert und Joachim Wolschke-Bulmahn. Bibliothekare der ETH Zürich, der ZB Zürich, der Universitätsbiblio- thek in Leiden, des Nationaal Herbariums in Leiden sowie verschiedener Bibliotheken in Oxford, Padua und anderswo haben unzählige Kilogramm an Büchern und Archivalien besorgt und zugänglich gemacht. Der ETH Zürich verdanke ich nicht nur lehrreiche und erfüllende Jahre des Studiums, sondern auch wunderbare Kolleginnen und Kollegen: Niklas Naehrig, Britta Hentschel, Doris Wirz-Gasperetti, Ita Heinze-Greenberg, Nadia Göntem-Wachtel, Katrin Eberhard, Alexander Markschies, Tilo Richter, Ulf Schulte-Umberg, Ivan Bocchio, Petra Röthlisberger, Lukas Zurfluh, Gregor Harbusch, Christina Farragher und vielen anderen bin ich herzlich verbunden. Viele liebe Freundinnen und Freunde ausserhalb der Hochschule wussten gekonnt, mich nicht nur für notwendige Pausen vom Schreibtisch fernzuhalten, so beispielsweise Marchet Saratz, Dominique Meier, Christoph Dubler, Nicole Leuthold, Cornel Stäheli, Ro- ger Gerber, Jonas Winkler, Benno Agreiter, Victor Willi, Dennis Guggenheim, Jelena Gavric, Dana Guzman und natürlich Paolo und Tamara Stolfo. Andrea Srdic unterstützte mich und das Projekt in der Anfangsphase. Barbara Kühne ermöglichte eine glückselige Zeit der Nie- derschrift. Für fortwährende Unterstützung danke ich meiner ganzen Familie, insbesonde- re natürlich meinen Eltern. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet.

III

Zusammenfassung

Die Universität der niederländischen Stadt Leiden, 1575 während der Befreiungskriege gegen die Habsburger gegründet, errichtete als eine der ersten Lehranstalten nördlich der Alpen spezifische Bauten für Forschung und Lehre. Neben einer Bibliothek, dem Speicher des Wissens par excellence, wurden schon bald weitere Räume der Forschung erstellt. Dem überlieferten Wissen in der Bibliothek stellte sich das Buch der Natur zur Seite, das in empirischer Weise untersucht werden musste. Ein botanischer Garten versammelte Pflan- zen aus allen Ecken der bekannten Welt, die man zunächst als Heilmittel verstand, immer mehr aber um ihrer selbst willen gesammelt und untersucht wurden. Eine benachbarte Galerie ergänzte das Reich der Pflanzen mit mineralischen und tierischen Kuriositäten, die meistens ebenfalls aus fremden Ländern stammten. Ein anatomisches Theater diente der Erforschung des menschlichen Körpers. Mittels einer bewussten Inszenierung anatomi- scher Präparate und Gegenständen der Kunst verwies es zudem auf die Endlichkeit allen Lebens. Eine Sternwarte ermöglichte schon bald den ungestörten Blick auf einen weiteren Teil des als göttliche Schöpfung wahrgenommenen Universums. Später gesellten sich ein chemisches Laboratorium und ein physikalisches Theater dazu, die der Durchführung von Experimenten dienten. Zudem ergänzten eine Fecht- und Ingenieurschule, die unterhalb der Bibliothek eingerichtet wurden, das theoretische Wissen durch die Unterweisung in der Handhabung von Waffen, was dem frühneuzeitlichen Ideal von arte et marte ent- sprach. Die vorliegende Arbeit widmet sich diesen Räumen und ihren Sammlungen. Sie er- klärt, wie diese Räume zu definieren sind und weshalb sie errichtet wurden. Desweiteren wird beantwortet, von wem und wie die Räume genutzt wurden, wobei die Analyse der Zugänglichkeit und der Reglementierung im Umgang mit den gezeigten Exponaten aufzei- gen soll, wie die Objekte sowohl geschützt als auch studiert werden konnten. Neben weite- ren gesellschaftlichen und sozialen Aspekten übte auch die nachvollziehbare Anordnung der Objekte eine entscheidende Rolle auf die Praxis der wissenschaftlichen Arbeit aus. Im Gegensatz zu Idealordnungen, wie sie auf dem Papier erdacht werden können, muss bei der tatsächlichen Disposition der Objekte auch die Architektur der Räume berücksichtigt werden. Die Ordnung der Exponate im Raum kann deswegen als architektonische Aufgabe verstanden werden. Sie hatte zum Ziel, den Nutzer eine Hilfe in ihrer Forschungstätigkeit zu bieten. Besonders im Falle der Bibliothek und des botanischen Gartens spielte die gute Nachbarschaft der Objekte eine entscheidende Rolle. Überlieferte Kataloge erlaubten, die Anordnung der Bücher und Pflanzen detailliert zu rekonstruieren und zu analysieren, um Einblicke in das damalige Verständnis über das gedruckte Wissen und die wahrgenomme- ne Welt der Pflanzen zu erhalten. Die Kataloge selbst bildeten nicht nur die Grundlage der Rekonstruktion, sondern wurden ihrer selbst wegen ausgiebig analysiert und diskutiert, zeigen sie doch auf, wie die räumliche Ordnung in einen papierenen Katalog übertragen werden konnte – und vice versa. Die verschiedenen Räume dienten zudem nicht nur der wissenschaftlichen Forschung und Lehre. Vielmehr wurden sie auch symbolisch gestaltet und verstanden. Durch die bewusste Gegenüberstellung der Exponate erhielten sie einen symbolischen Mehrwert. Zudem verwies auch die bauliche Hülle selbst meist auf litera- rische und ideelle Topoi. Neben diesen unterschiedlichen Aspekten von Räumlichkeiten möchte die vorliegende Arbeit zudem aufzeigen, wie die verschiedenen Einrichtungen parallel genutzt wurden, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und wie sie in ihrem Zusam- menhang verstanden wurden.

V

Summary

The University of Leiden in the was established in 1575 during the war of in- dependence against the Habsburgs. It was one of the first institutions north of the Alps to construct specific buildings for teaching and research. Besides a library—the space of knowledge par excellence—other institutions were soon erected. The traditional wisdom written in books and manuscripts was complemented by the Book of Nature, in which the natural world could be studied in an empirical manner. A botanical garden brought to- gether a vast number of plants from all edges of the known world. These plants were initial- ly understood as medicinal substances but were more and more collected and studied for their own sake. An adjacent gallery complemented the plants with other curiosities from near and far. An anatomical theatre was used to gain knowledge about the human body. Anatomical specimens and pieces of art, which were exhibited there, demonstrated the finiteness of all things. An astronomical observatory allowed to explore another part of the godly creation. A laboratory of chemistry and a theatre of physics were added shortly after- wards to offer a space for conducting experiments. In addition, a fencing and an enginee- ring school were established underneath the library, completing the theoretical wisdom with the practical force of arms, which corresponded to the ideal of arte et marte. This thesis explores those spaces and their collections. It shows why those institutions were erected and how they can be defined. In addition, it describes by whom and how those establishments were used. Matters of access and rules of conducts were crucial for simultaneously displaying and protecting the exhibits. Questions of surveillance and other social aspects arose in all spaces and often led to fundamental problems in conducting scientific research. Also, the comprehensible spatial distribution of the objects played an important role in making the collections accessible and usable. However, a theoretically ideal order could not be easily translated into a factual one, which had to take into account the actual building and its furniture. The spatial disposition of the exhibits can therefore be understood as an architectural task. Its goal was to offer guidance for using the collection. The good neighbourhood of the objects played an important part, particularly in the bota- nical garden and the library. Surviving catalogues allowed for reconstructing and analysing the arrangement of plants and books in detail and provided insights into the early modern comprehension of printed wisdom and the perceived world of plants. The catalogues are also discussed for their own sake, because they show how a spatial order could be trans- lated into a written counterpart—and vice versa. The different institutions were not only used in a mere scientific manner but were also understood and designed in a symbolical fashion. Putting intentionally different exhibits next to each other, they obtained an emble- matical surplus. The architecture itself often referred to literary and ideological topoi. Apart from such aspects of spatiality, the thesis shows how the institutions were used simulta- neously and how they were understood in their mutual connections.

VII

Inhaltsverzeichnis

Teil 1 Einleitung: Räume einer Universität 1

Teil 2 Geordnete Überlieferung: Die Bibliothek 13

Teil 3 Arte et marte: Die Fechtschule und die Niederdeutsche Mathematik 201

Teil 4 Memento mori: Das anatomische Theater 221

Teil 5 Das Buch der Natur: Der botanische Garten 285

Teil 6 Sterne sammeln: Das astronomische Observatorium 485

Teil 7 Raum für Experimente: Das chemische Laboratorium und das physikalische Theater 503

Teil 8 Schluss: Die Räume und Sammlungen im Vergleich 517

Anhänge 531

IX

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Teil 1 Einleitung: Räume einer Universität 1

Teil 2 Geordnete Überlieferung: Die Bibliothek 13

Die Bibliothek in der Gewölbekammer 15 Eine Kirche wird Bibliothek 19 Die geplante Möblierung der Bibliothek 26 Entwurf einer räumlichen Wissensdisposition 32 Wissensdisposition zwischen Ideal und Praxis: Der Nomenclator 43 Die Vermehrung des Bestands im Raum und Katalog 49 Verschiedene Alphabete und der Gang ad fontes 57 Ein Büro und ein Kamin 61 Zur Zierde der Bibliothek: Globen, Karten und Portraits 65 Die Bibliothek als Memorialraum: Donationen und Legate 75 Bibliotheca publica: Besitz, Trägerschaft und Zugänglichkeit 87 Das Bibliotheksreglement von 1595 92 Erfindung und Entwicklung des Kettensystems 97 Schlüssel in aller Hände und die Schliessung der Bibliothek 101 Zuwachs an Büchern und Pulten 107 Zustand der Bibliothek vor ihrem Umbau 119 Von stalls und Wandbibliotheken: Oxforder Beispiele 126 Eine Wandbibliothek für Leiden 158 Orientalische Bücher und kleinere Baumassnahmen 173 Die Zweiteilung der Bibliothek: Einbau eines zentralen Regals 179 Die Bestückung des Regals und der Katalog von 1716 187

Teil 3 Arte et marte: Die Fechtschule und die Niederdeutsche Mathematik 201

Die Fechtschule 203 Die Niederdeutsche Mathematik 212

XI Teil 4 Memento mori: Das anatomische Theater 221

Der Bau des anatomischen Theaters 225 Architektonische Vorbilder 232 Ablauf einer Zergliederung 239 Eine moralische Knochensammlung 245 Die Sammlung unter Otto Heurnius 262 Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts 275

Teil 5 Das Buch der Natur: Der botanische Garten 285

Antike Philosophengärten und der Wunsch nach einem Garten 289 Naturalien und Kenntnisse: Die Berufung Paludanus 292 Der Garten in Padua als Vorbild 298 Der Bau des Gartens und die Berufungen Clusius, Cluyt und Pauws 301 Der erste Katalog 1594 und die Gestaltung des Gartens 314 Drei Akteure und ihre Ordnungen von Pflanzen 318 Die alphabetische und andere Ordnungen der Pflanzenwelt 327 Vorbilder der Gartenarchitektur 332 Symbolische Deutungen des Gartens 337 Schutz vor der kalten Jahreszeit 344 Umgestaltungen durch Pieter Pauw 350 Ein öffentlicher Garten und der Schutz vor Diebstahl 358 Der Katalog von Pieter Pauw 374 Rekonstruktion der Ordnung der Pflanzen 382 Montpellier: Gebaute Habitate 402 Der Bau des Ambulacrums 416 Das Ambulacrum als Museum 424 Eine Orangerie und die Früchte der Hesperiden 433 Kataloge der Sammlung und die Nachfolge von Pauw 440 Eine erste Erweiterung und der Garten unter Schuyl und Seyen 446 Pflanzen und Kuriositäten aus der ganzen Welt 452 Ein Präfekt aus Ostindien: Paulus Hermannus 458 Die Vergrösserung des Gartens von 1686 461 Streitereien im Garten 472 Das Museum Indicum 475 Die Entwicklung im 18. Jahrhundert 481

XII Teil 6 Sterne sammeln: Das astronomische Observatorium 485

Die Leidener Sternwarte 489 Exotica im Himmel 497

Teil 7 Raum für Experimente: Das chemische Laboratorium und das physikalische Theater 503

Das chemische Laboratorium 506 Das physikalische Laboratorium 510

Teil 8 Schluss: Zusammenhang und Bedeutung der Räume 517

Anhang 531

Die Texte der Kupferstiche von 1610 531 Der erste Katalog des anatomischen Theaters 538 Bibliographie 541

XIII

Teil 1 Einleitung: Räume einer Universität

Am 8. Februar 1575 zog eine festliche Parade nach antikem Vorbild durch die holländische Stadt Leiden.1 Die Bevölkerung feierte die Einweihung ihrer neuen Universität. Der Tag wurde zum Feiertag erklärt und die Häu- ser entlang der Umzugsroute feierlich geschmückt.2 Startpunkt des Um- zugs war das Stadthaus, Endpunkt der damalige Sitz der Universität, die zunächst im ehemaligen St. Barbara-Kloster eingerichtet wurde. Aus ei- nem Kupferstich wird ersichtlich, dass der Umzug durch die bewaffneten Herren des Militärs angeführt wurde, die auch am Ende der Parade mar- schierten (Abb. 1.1). Dazwischen kamen die einzelnen Lehrgebiete der neuen Universität. Den Anfang der Fakultäten machte die Sacra scriptura, personifiziert durch eine auf einem Wagengespann thronenden Dame, welche durch die vier Evangelisten begleitet wurde. Sie zeigte der Menge eine aufgeschlagene Bibel. Hinter ihr ritt die Iustitia, ihre Waagschale und ein Schwert in Händen haltend, gefolgt von zugehörigen Rechtsgelehrter früherer Zeiten. Die Medicina kam im Anschluss und hielt neben einem Fläschchen auch einen Kräuterstrauch in ihren Händen. Sie wurde umge- ben von Galen und Hippokrates sowie Theophrastus und Dioskurides, die ebenfalls Heilpflanzen mit sich führten. Den Medizinern folgte die Pallas Athene, die zur Schutzgöttin der Universität erklärt wurde und auf einem Pferd ritt. Begleitet wurde sie von Aristoteles, Cicero und anderen antiken Vertretern der Artes Liberales. Dahinter marschierten die gegenwärtigen Vertreter dieser Wissensgebiete, nämlich die ersten Professoren der neu- en Universität. Im Anschluss an einen weiterer Trupp des Militärs brachte ein Schiff, durch Neptun und Apoll gelenkt, die neun Musen in die Stadt.

Eine Universität für Holland Bezeichnenderweise markierte das Militär den Anfang und das Ende des Umzugs und stellte die Universität unter ihren Schutz. Zu den Wissen-

1 Zum Umzug, siehe: Otterspeer 2000, S. 11–20. 2 Bronnen I, (3. Februar 1575), Bijl. no. 14, S. 12*–14*.

1 Abb 1.1 schaften gesellte sich somit die Waffengewalt, was dem damaligen Ide- Der festliche Einzug aller Fakultäten der neuen Uni- al einer guten und tugendhaften Regierung entsprach, bei der litterae versität, beschützt durch et arma zusammenkommen sollten. Auch der Weg der Prozession, der die Vertreter des Militärs und begleitet durch die ers- vom Stadthaus seinen Anfang nahm, zeigte auf, dass die Universität eine ten Professoren. städtische Einrichtung war, die zudem der ganzen Republik dienen sollte, eine Republik, die freilich noch immer in ihren Anfängen und im Kampfe (Anonym, Kupferstich, 3 1575) gegen das Haus Habsburg stand. Schon bald wurde der Mythos geformt, die Gründung der Universität sei ein Geschenk Wilhelms I. von Orani- (Download: Rijksmuse- um, Objektnummer RP-P- en (1533–1584) für die langen Monate, die Leidens Bevölkerung gegen die OB-79.613) spanischen Unterdrücker ausharrte. Und dies, obwohl der spanische Kö- nig Philip II. (1527–1598) de jure der Gründer der Universität war, denn Leiden war auch nach dem siegreichen Aufstand zumindest nominell in seinem Reichs- und Rechtsgebiet.4 Die Universität war somit die Gründung einer erwachenden Repub- lik, die zwingend eine solche Institution benötigte, da Fachkräfte für die spätere Führung des Landes nicht mehr durch die alten Wissensträger – Klöster oder die ältere Universität im südlichen Löwen – ausgebildet werden konnten. Der Staat entdeckte sich als Bildungsträger und versi- cherte sich durch die Etablierung der Universität auch der Köpfe, die für den Aufbau und Unterhalt der Republik benötigt wurden: Theologen, Ge- schichtsschreiber, Juristen, Ärzte aber auch Festungsbauer und Kartogra- fen.5

3 Zur Geschichte der Niederlande, siehe: North 1997; Israel 1995. 4 Grundlegend zur Geschichte der Leidener Universität im 16. und 17. Jahrhundert: Otterspeer 2000; Otterspeer 2002; zusammenfassend: Otterspeer 2008. 5 Reinhard 1999.

2 Die antikisierenden Triumphbögen, die den Umzug schmückten, und die vielen Vertreter römischer und griechischer Gelehrten, die dar- an teilnahmen, spiegelten die späthumanistische Gesinnung wieder, die damals in der Stadt und der Universität herrschte.6 Neben den antiken Autoritäten war es die Heilige Schrift, welche die Formation der Wissens- gebiete anführte. Der christliche Glaube und das Gedankengut des Hu- manismus kreuzten sich, was auch in der Architektur, der Einrichtung und Bedeutung der späteren Bauten offensichtlich wird. Dabei muss erwähnt werden, dass es in Leiden nicht zur Gründung einer dezidiert protestantischen Universität kam, sondern zu einer, die sich das Ideal der Freiheit auf die Fahnen schrieb. Neben den Religions- wirren waren es auch kulturelle und wirtschaftliche Gründe, die zum Aufstand gegen das Haus Habsburg führten, weswegen der Wunsch nach Freiheit und nicht die Durchsetzung einer spezifischen Religionsauffas- sung die gängige These für die Befreiung von den Habsburgern darstellt.7 Erst mit der Dordrechter Synode von 1619 wurde die Glaubensfrage der Niederlande definiert. In der Leidener Universität wirkten zunächst Stu- dierende und Professoren verschiedener Glaubensrichtungen, weswegen sie auch als „Bollwerk der Freiheit“ bezeichnet wurde.

Räume einer Universität Die Prozession verweist darauf, dass Universitäten zu Beginn der frühen Neuzeit noch relativ freie, bewegliche und nicht zwangsläufig sesshafte Einrichtungen waren. Denn im ausgehenden Mittelalter waren sie noch nicht an feste räumliche Einrichtungen gebunden. Es genügte, über ei- nen Raum zu verfügen, den Professor und Studenten für den Unterricht nutzen konnten. Im Zuge der wissenschaftlichen Entwicklung und der In- stitutionalisierung der Lehreinrichtungen kam es jedoch zur Etablierung fester und dauerhafter Sitze von Universitäten.8 Auch in Leiden ist dieser Prozess in den Anfangsjahren erkennbar, denn ihr erster Sitz, das ehe- malige St. Barbara-Kloster und Ziel des Umzugs, blieb nur über wenige Jahre hinweg der Hort der Akademie.9 1581 wurde ein anderes aufgegebe- nes Kloster zum Sitz der Universität auserkoren, das Witte Nonnen-Klos- ter, wo noch heute das Stammhaus der Universität untergebracht ist. Die

6 Hammerstein/Walther 2000. 7 Michael North nennt drei Thesen: 1. Kampf um Freiheit; 2. religiöser Konflikt führ- te zum Aufstand; 3. soziale Revolution des Bürgertums gegen Feudalregime; siehe dazu: North 1997, S. 28–29. 8 Zur Geschichte von Universitäten, siehe: Rüegg 1993–2010. 9 Die Leidener Universität wurde von Beginn an auch als Akademie bezeichnet. Die Begriffe sind im Falle Leidens austauschbar und bedeuten dasselbe. Akademie hier also nicht zu verwechseln mit privaten Vereinigungen von Gelehrten wie der Aca- demia dei Lincei in Rom oder der Royal Society in London.

3 dort eingerichteten Räume dienten den Vorlesungen der verschiedenen Fakultäten. Doch reichten mit den entstehenden Anforderungen an Lehre und Forschung einfache Vorlesungssäle schon bald nicht mehr aus. Die Wis- senschaften beanspruchten zunehmend weitere Räume des Wissens. In Leiden fehlten diese zu Beginn. So hatten die in der Prozession gezeigten vier Fakultäten noch kein wirkliches Zuhause. Noch fehlte ein angemes- sener Ort, um die Heilige Schrift aufzunehmen und mit Werken der zuge- hörigen Exegese zu ergänzen. Auch die Autoren der Jurisprudenz und der Freien Künste konnten noch nicht in einer eigens errichteten Bibliothek studiert werden. Noch gab es kein Laboratorium, um die Erkenntnisse von Galen und Hippokrates empirisch zu erforschen und keinen Garten, um die Heilkräuter des Dioskurides oder Theophrastus zu kultivieren. Es fehlte also an gebauten Instrumentarien der Forschung, die wissenschaft- liches Arbeiten durch ihre architektonische Gestaltung erst ermöglichten. Den Fakultäten auch eine räumliche Heimat zu geben, erreichte die Universität in einem aussergewöhnlichen Bauprogramm, das beispielhaft für die neusten universitären Bautypen war. Neben den bedeutenden Ge- lehrten und dem wirtschaftlichen Aufschwung des ganzen Landes waren es auch diese Räume, welche die junge Universität in den kommenden Jahrzehnten zu einer der besten und ruhmvollsten Lehreinrichtungen Europas machten. Ein visuelles Zeugnis dieser baulichen Leistungen geben vier auf- wendig gestaltete Kupferstiche wieder, die 1610 publiziert wurden und die Bildungsstätten medial in die Welt transportierten (siehe Abb. 1.2).10 Sie müssen deshalb als Werbebilder für die Universität und ihre neuen Ein- richtungen verstanden werden, 11 die zahlreiche Wiederauflagen erfuh- ren und 1611 mit einem Begleittext herausgegeben wurden.12 Denn für die

10 Zeichnung durch Jan Cornelisz. van ’t Woudt (Woudanus, ca. 1570–1615), Kup- ferstich durch Willem Isaacsz. van Swanenburg (1580–1612), Herausgeber Claes Jansz. Visscher (II) (1586–1652). 11 Es ist unklar, ob die Universität die Kupferstiche in Auftrag gab, denn eindeutige Belege fehlen dazu in den Quellen. Auch wurden sie nicht durch den Drucker der Universität herausgegeben, sondern durch Andris Clouck, der aber verschiedene Publikationen herausgab, die sich der Leidener Universität widmete. So beispiels- weise die Schriften von Joannes Meursius, seine Athenae Batavae, sive De urbe Leidensi et Academia virisque claris, qui utramque ingenio suo atque scriptis illus- trarunt, libri duo, Leiden (Andream Cloucquium, et Elsevirios) 1617, die er zusam- men mit den Drucker der Universität verlegte; ferner Joannes Meursius, Icones, Elogia ac vitae Professorum Lugdunensium apud Batavos, quibus addita sunt om- nia Academiae ornamenta summo artificio aeri incisa, Leiden (apud Andrea Clouc- quius) 1617, zudem: Joannes Meursius, Illustris Academia Lugduno-Batava: id est Virorum Clarissimorum Icones, Elogia ac vitae, quae eam scriptis suis illustrarunt, Leiden (apud Andrea Cloucquium) 1613. 12 Transkription der Texte im Anhang der vorliegenden Arbeit.

4 Konsolidierung einer Institution sind neben rechtskräftigen Dokumenten Abb 1.2 Die vier Kupferstiche der auch bauliche und bildliche Bestätigungen von Nöten. Die vier Kupfer- neusten Räume der Leide- stiche zeigen die Bibliothek, den botanischen Garten, das anatomische ner Universität.

Theater sowie die Fechtschule der Universität. Alle wurden gleichzeitig (Zeichnung von: Jan Cor- als Serie publiziert, was darauf hindeutet, dass die Räume nicht nur auf nelisz. van ’t Woudt (Wou- einer funktionalen, sondern auch auf einer symbolischen Ebene innig danus), Kupferstich von: Willem Isaacsz. van Swa- miteinander verbunden waren. nenburg, Herausgegeben Eine gut ausgestattete Bibliothek versammelte schon bald das über- durch: Claes Jansz. Vis- scher (II).) lieferte Wissen. Dieses bildete die Grundlage für den universitären Un- terricht, der zunächst auf Vorlesungen über antike Werke beruhte. Biblio- (Download: Rijksmuse- um, Objektnummern theken waren deshalb die ersten wissenschaftlichen Sammlungsräume RP-P-1893-A-18089, RP- von Universitäten. Über eine eigene und öffentlich zugängliche Bücher- P-1893-A-18091, RP-P- sammlung zu verfügen, war dennoch keine Selbstverständlichkeit. So 1893-A-18588 und RP-P- 1893-A-18590.) schaffte es die Leidener Universität in ihrem ersten Jahrzehnt, ohne eine öffentliche Bibliothek unterrichten und forschen zu können. Der Kupfer- stich zeigt zudem mittels Beschriftung der Pulte, welche Bücher in der Bibliothek verwahrt wurden. Dadurch wird die Ordnung und die Hier-

5 archisierung von Wissen ersichtlich, denn Sammlungsobjekte müssen zwangsläufig in eine räumliche und sinnvolle Ordnung gebracht werden, spiegeln dadurch die Auffassung vom Wissen der Zeit wieder und geben dem Forschenden und Lernenden durch ihre Aufstellung eine Unterstüt- zung bei ihrer Arbeit. Wie bei der Prozession zur Gründung stand auch in der Bibliothek die Sacra scriptura an erster Stelle und wurde von den an- deren Fakultäten gefolgt. Die räumliche Disposition von Wissen soll denn auch in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Mit der Entwicklung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften und ihrer Methoden wurden neue Einrichtungen des forschenden Ar- beitens nötig. Der botanische Garten der Leidener Universität zeugt da- von. Er wurde schon bald mit den Heilkräutern ausgestattet, die in den Traktaten der antiken Autoren diskutiert werden. Die Pflanzen wurden nicht nur mit dem Wissen aus Büchern verglichen, sondern zusehends ihrer selbst wegen erforscht. Das Buch der Natur – neben der Heiligen Schrift die zweite Offenbarung Gottes – musste im Original gelesen wer- den.13 Der Garten hatte dabei ähnliche Aufgaben zu erfüllen wie die Bib- liothek, nämlich die gezeigten Exponate für Forschung und Lehre in eine Erkenntnis gewinnende Ordnung zu bringen. Die Erforschung der Natur benötigte eine andere wissenschaftliche Methodik als das Forschen in- nerhalb der Welt der Bücher. Es ging nicht mehr alleine um „Wissen“, also das Erlernen und Weiterentwickeln von Bekanntem, sondern nun auch um das „Kennen“, also um Erkenntnisgewinn durch sinnliche Erfahrung. Dem Rationalismus stellte sich die Empirie zu Seite.14 Ein anatomisches Theater, welches zeitgleich mit Bibliothek und Garten errichtet wurde, ermöglichte den menschlichen Körper einem breiten Publikum sichtbar zu machen. Man muss es daher – wie auch die anderen Räume, die in dieser Dissertation behandelt werden – als gebau- tes wissenschaftliches Instrument verstehen. Der Ausdruck Theatrum war eine geläufige Metapher sowohl für empirische Wissensräume wie auch für wissenschaftliche Publikationen, geht es doch in beiden Fällen um das Sichtbarmachen von Erkenntnissen.15 Anatomische Theater wur- den meist mit der Lehre im botanischen Garten verknüpft, der damals noch in erster Linie als Medizingarten verstanden wurde. Konnte man im Sommer dort die Heilmittel finden, so konnten während des Winters im anatomischen Theater die entsprechenden Krankheiten untersucht wer- den. Auch auf symbolischer Ebene wurden der Garten und das Theater in Beziehung gesetzt. Darüber hinaus versammelten sowohl das anatomische Theater wie

13 Jorink 2010. 14 Dear 2006. 15 West 2002.

6 auch eine zum Garten gehörige Galerie weitere Objekte des Wissens. Sie ergänzten die schriftliche Überlieferungen und das Reich der Pflanzen mit Exponaten des Tier- und Mineralreiches und menschlicher Artefakte. Die Leidener Universität konnte sich deswegen rühmen, bereits früh über erste museale Sammlungen zu verfügen, die ebenfalls einem breiten Pu- blikum offen standen. Die Objekte wurden mit vorhandenem Wissen aus Büchern verglichen. Neue empirische Erkenntnisse gelangten in Buch- form in die Bibliothek, wo sie als gespeichertes Wissen an kommende Ge- nerationen weitergegeben wurden. Zu diesen Räumen des Wissens gesellte sich in der Serie der Kup- ferstiche eine Fechtschule, die diese Künste des Adels allen zugänglich machte und somit ein fürstliches Bildungsmonopol sprengte. Die Fecht- schule verweist zudem auf den erwähnten Aspekt der litterae et arma. Wurde die Eröffnungsparade symbolisch durch das Militär geschützt, so benötigte die junge Republik tatsächlich ausgebildete Fachkräfte zwecks Verteidigung und Kriegsführung. Schon bald wurde deshalb eine weite- re Lerneinrichtung ins Leben gerufen, die zum Ziel hatte, Festungsbau- er, Landvermesser und andere Ingenieure auszubilden. Die sogenannte „Niederdeutsche Mathematik“, eine der ersten Ingenieursschulen Euro- pas, fand zwischen Fechtschule, Theater und Bibliothek ihre Lokalität. Die Sternwarte, welche bald darauf errichtet wurde, zeigte ein wei- teres Kapitel aus dem Buch der Natur. Denn neben den Objekten auf Er- den musste natürlich ebenso der Himmel erforscht werden. Leiden nahm auch hier eine wegweisende Rolle ein, denn die Sternwarte war eine der ersten in ganz Europa und wurde lange vor Observatorien anderer Uni- versitäten errichtet. Später wurden ein chemisches Laboratorium und ein physikalisches Theater errichtet, die neue Methoden des wissenschaftli- chen Arbeitens ermöglichten.

Der internationale Kontext Leiden liefert zur Analyse dieser neuen wissenschaftlichen Bauaufgaben ein gutes Beispiel, denn die dortige Universität war eine der ersten über- haupt, die über all diese innovativen Institutionen verfügte. Nur diejeni- gen in Padua, Basel und Montpellier besassen bereits vor der Leidener Universität einen botanischen Garten und ein festes anatomisches Thea- ter, wobei die Grösse und Ausstattung dieser Anlagen oftmals noch eher Bescheiden waren.16 Am Ende des 16. Jahrhunderts wurden diese Räume bereits vielerorts eingefordert. In nahezu allen utopischen Schriften der

16 Basel: botanischer Garten 1589, anatomisches Theater 1589; Montpellier: Anfänge eines botanischen Garten 1593, anatomisches Theater 1556; Leiden: botanischer Garten 1594, anatomisches Theater 1593; Padua: botanischer Garten 1545, erstes anatomisches Theater 1584; zweites und noch heute existierendes anatomisches

7 Zeit werden sie erwähnt.17 Und auch in Traktaten zur Wissenschaft oder im Katalog des botanischen Gartens von Padua werden sie gewünscht.18 Doch wurden zunächst für die aufkommenden empirischen Wissenschaf- ten noch keine eigenen und zweckbestimmten Räumlichkeiten angelegt. Die Forschung fand meist auf private Initiative einiger Gelehrter an un- terschiedlichsten Orten statt.19 Im Zuge der Institutionalisierung von wis- senschaftlichen Sammlungen oder Instrumenten wurden auch passende Lokalitäten gebaut, ganz im Sinne des lateinischen instituere, das sowohl „errichten“ wie auch „einrichten“ bedeutet. Die bauliche Hülle und ihre Inhalte waren innig aufeinander abgestimmt. Da die Leidener Universi- tät die Einrichtungen nahezu zeitgleich und unter der Leitung derselben Akteure aufbaute, werden sie zudem besonders gut vergleichbar und die engen wissenschaftlichen und die ideellen Beziehungen der Räume un- tereinander, die die Kupferstiche andeuten, klar erkennbar.

Verschiedene Arten von Räumlichkeiten Die vorliegende Arbeit möchte diese Räume untersuchen. Dabei sollen verschiedene Aspekte von Räumlichkeit analysiert und diskutiert wer- den.20 Zunächst soll die Frage geklärt werden, weshalb diese Bauaufgaben überhaupt aufkamen. In einem weiteren Schritt sollen die Architektur, Ausstattung und Möblierung dieser Räume rekonstruiert und beschrie- ben werden. Es geht zunächst also um den konkreten Bau und dessen Einrichtung. Das konstruktive Gerüst hatte nicht nur zur Aufgabe, die Exponate und Instrumente ordentlich zu verwahren und zu schützen, sondern hat- te ebenso entscheidenden Einfluss auf das Gelingen der darin stattfinden- den Tätigkeit. Wie und durch wen diese Räume genutzt wurden, soll des- halb ebenfalls besprochen werden. Es soll aufgezeigt werden, wer Zugang zu diesen Lokalitäten fand, wie die gezeigten Exponate und Instrumente genutzt werden konnten und wie die Besucher kontrolliert wurden. Die Lokalitäten sollen somit auch hinsichtlich der darin stattfindenden Tätig- keiten und zwischenmenschlicher Interaktion analysiert werden. Eine weitere architektonische Aufgabe bildete die räumliche Disposition der wissenschaftlichen Exponate, beispielsweise der Bücher oder Pflanzen. Denn das Wissen selbst musste verortet werden. Dafür wurde es in eine brauchbare und logische räumliche Ordnung übertra-

Theater 1594; Bologna: botanischer Garten 1568, anatomisches Theater 1595; Da- ten nach: Findlen 2008. 17 Braungart 1989. 18 Bacon 1914; Porro 1591. 19 Shapin 1988; Wohl auch Findlen, Museum; Findlen, Possessing nature… 20 Grundlegend zum Thema „Raum“ in der Geschichtsschreibung: Rau 2013.

8 gen, um es auffinden, analysieren und miteinander vergleichen zu kön- nen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Übertragung der räumlichen Ordnung in papierene Kataloge gelegt. Sie bilden heute nicht nur die Grundlage für die Rekonstruktion der Ordnungen, sondern sind auch ihrer selbst wegen von besonderem Interesse. Da sich die Aspekte der räumlichen Ordnung wissenschaftlicher Exponate besonders gut anhand der Bibliothek und des botanischen Gartens analysieren lassen, fallen die entsprechenden Kapitel länger aus. Die unterschiedlichen Objekte wurden jedoch nicht bloss aufgrund wissenschaftlicher Forschung angeordnet, sondern zeigten durch ihre In- szenierung auch ästhetische, symbolische oder moralische Belange auf. Die besprochenen Orte können deshalb im Sinne Michel Foucaults als Heterotopien verstanden werden, da sie der Welt einen Spiegel vor Augen hielten.21 Sie waren Repräsentations-, Vorstellungs-, Wissens- oder Erin- nerungsräume und weckten bei ihren Besuchern subjektive Bezüge zu anderen Topoi.22 Alle erwähnten Aspekte von Räumlichkeit fanden aber nicht separat und eigenständig statt, sondern durchdrangen und beding- ten sich gegenseitig.

Quellenlage Die Arbeit möchte all eben genannten Aspekte der Räume anhand von Quellen rekonstruieren. Dabei wurden die überlieferten Akten der Uni- versität, die Bilder der Räume, die Kataloge der Sammlungen, Bücher und Briefe der dort lehrenden Professoren sowie Reiseberichte von Be- suchern berücksichtigt, um ein möglichst umfassendes Bild der verschie- denen Bauten, ihrer Sammlungen, deren Nutzung und Interpretation zu ermöglichen. Die anschaulichste Quelle, das errichtete Bauwerk, existiert nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand. Dies ist aber der Normalfall sol- cher Sammlungsräume, da sie sich durch die ständige Akkumulation der Objekte und durch den fortwährenden Wandel der wissenschaftlichen Praxis stets baulich anpassen musste. Eine Untersuchung der Räume ist aber dennoch gerechtfertigt. Die Veränderungen in der Architektur kön- nen dabei aufzeigen, wie sich die forschende Tätigkeit innerhalb der Räu- me entwickelte und welche Vor- und Nachteile aus bestimmten Arten der Einrichtung resultieren. Neben den vier erwähnten Kupferstichen gibt es weitere Abbildungen der Räume. Indes hat sich kein einziger Bauplan überliefert, obwohl in den Quellen immer wieder die Rede davon ist. Hinsichtlich schriftlicher Dokumente ist die Quellenlage ausseror-

21 Foucault 1992. 22 Rau 2013, S. 171–178.

9 dentlich gut.23 Das Dachbouc von Jan van Hout, das durch H.J. Witkam ediert wurde,24 verzeichnet detailliert alle Geschehnisse der Universität für die Jahre 1581 bis 1596. Das Archiv der Kuratoren,25 in weiten Teilen durch P.C. Molhuysen transkribiert,26 bildet die wichtigste Quelle für die kommenden Jahrzehnte, da es Auskunft über Lohnforderungen, Baupro- zesse, Zugänglichkeit oder Nutzungen gibt. Die verschiedenen Kataloge der Sammlungen sind ebenfalls von besonderem Interesse, weil durch sie die Sammlungen detailliert – und oftmals auch ihren räumlichen Zusam- menhang – untersucht und rekonstruiert werden können.27 Zudem wur- den auch Reiseberichte der Zeit berücksichtigt, um damaligen Zeugen das Wort geben zu können. Was nur teilweise berücksichtigt wurde, sind die zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen, die aus Forschungsar- beiten innerhalb dieser Räume resultierten. Das wäre sicherlich lohnens- wert, war aber im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten.

Forschungsstand In den vergangenen drei Jahrzehnten kamen neue Ansätze in der Erfor- schung der Wissenschaftsgeschichte zum Zuge. Wissenschaft wird dabei verstärkt von einem kulturhistorischen Standpunkt aus analysiert. Ihre gesellschaftliche Einbettung, ihre Institutionen und Objekte, ihre Träger und Nutzer, teilweise auch ihre Räume und Lokalitäten, werden dabei in den Betrachtungshorizont eingeschlossen.28 Forschungsarbeiten aus ver- schiedenen Disziplinen haben durch diese Neuauffassung der Wissen- schaftsgeschichte vermehrt Sammlungs- und Wissensräume analysiert und führten zu einer Vielzahl an Publikationen, vor allem zu Kunst- und Wunderkammern.29 Die entsprechenden Kapitel der vorliegenden Arbeit wurden daher relativ kurz gehalten. Die Leidener Naturaliensammlungen sollen aufgrund ihrer spezifischen Merkmale untersucht und ihre Einbin- dung in den Kontext der anderen Wissensräume aufgezeigt werden. Die Bibliotheksgeschichte wurde bislang meist aus Sicht von Bib-

23 Die vorliegende Arbeit verweist wenn immer möglich auf transkribierte Editionen der Quellen. Nur falls solche nicht oder nur unvollständig existieren, wird auf die handschriftlichen Originaldokumente verwiesen. 24 Witkam DZ. 25 AC1. 26 Bronnen. 27 BAR; zudem die Kataloge des botanischen Gartens in Leiden, die im Nationaal Herbarium der Niederlande verwahrt werden. 28 Exemplarisch: Freedberg/Vries 1991; Jardine/Secord/Spary 1996; aus der Perspek- tive eines Geographen argumentiert: Livingstone 2003. 29 Besonders relevant für die vorliegende Arbeit: Findlen 2006; zudem exemplarisch: Findlen 1994; Bredekamp 1993; Impey/MacGregor 1985; Grote 1994; aus der Per- spektive der Theaterwissenschaften argumentiert: Schramm u.a. 2003; Schramm/ Schwarte/Lazardzig 2003; mit Fokus auf die Niederlande: Bergvelt/Kistemaker 1992.

10 liothekaren untersucht, die in erster Linie der Entwicklung des Bestands ihre Aufmerksamkeit schenkten.30 Zwei jüngst erschienene Publikationen widmen sich endlich der bislang vernachlässigten Architekturgeschichte dieser Bauaufgabe.31 Zur Leidener Bibliothek gibt es bereits mehrere Pu- blikationen.32 Die vorliegende Arbeit, die sich explizit und im Detail den erwähn- te Aspekten von Räumlichkeit widmet, kann dennoch Forschungslücken schliessen. Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Frage nach der wis- senschaftlichen Ordnung der Bücher im Raum und Katalog. Zum botanischen Garten in Leiden liegen ebenfalls bereits eine um- fangreiche Publikation33 und verschiedene Aufsätze vor.34 Diese früheren Arbeiten widmen sich verstärkt den Sammlungsgegenständen, analog zu den meisten Bibliotheksforschungen, die sich den Büchern, nicht aber den Räumlichkeiten zuwenden. Die geschichtliche Entwicklung dieser Bauaufgabe wurde bislang noch nicht umfassend bearbeitet.35 Im Zuge meiner Forschungsarbeit stellte ich, wie im Falle der Biblio- thek, die Frage nach der räumlichen Ordnung der Pflanzen in den Fokus. Es wird deswegen nicht die Bestandsgeschichte erläutert, sondern aufge- zeigt, wie der architektonische Raum genutzt wurde, um Pflanzen studie- ren und miteinander vergleichen zu können und nach welchen Kriterien die Pflanzen eine räumliche Ordnung erfuhren. Eine Übersicht über die Geschichte der anatomischen Theater bie- tet Gottfried Richters Arbeit von 193636 und einen Blick auf die Bauaufga- be mit Fokus auf den Niederlanden die Publikation von Jan C.C. Rupp.37 Die erst kürzlich erschienene Dissertation von Tim Huisman bildet das grundlegende Werk zum anatomischen Theater in Leiden.38 Zudem gibt es einen Aufsatz, der vor allem auf den moralisch-erzieherischen Aspekt der Bilder der Sammlung eingeht.39 Im Zuge der Rekonstruktion des The- aters im heutigen Museum Boerhaave erstellte und publizierte A.J.F. Go-

30 Siehe dazu beispielsweise: Buzas 1975; Buzas 1976; Vorstius 1954; Milkau/Leyh 1931–1942. 31 Campbell 2013; Nerdinger 2011. 32 Molhuysen 1905; Hulshoff Pol 1975; Berkvens-Stevelinck 2012. 33 Veendorp/Baas Becking 1938. 34 Leslie Tjon Sie Fat, „Clusius’ garden: a reconstruction“; Florence Hopper, „Clusius’ world: the meeting of science and art“; Lucia Tongiorgi Tomasi und Fabio Garbari, „Carolus Clusius and the Botanical Garden of Pisa“; Erik de Jong, „Nature and art. The Leiden Hortus as musaeum“, alle in: Tjon Sie Fat/Jong 1991; wichtig für die Baugeschichte ist vor allem: Terwen-Dionisius 1980. 35 Einen Ansatz gibt: Tongiorgi Tomasi 2005. 36 Richter 1936. 37 Rupp 1990. 38 Huisman 2009. 39 Lunsingh Scheurleer 1975.

11 gelein 1973 Pläne des Theaters.40 Der Forschungsstand zum anatomischen Theater in Leiden ist des- halb bereits sehr umfangreich. Die vorliegende Arbeit möchte die bau- geschichte des Theaters erneut diskutieren und in den internationalen Kontext stellen. Betreffend der Sammlungsgegenstände wird aufgezeigt, dass die Gerippe, anatomischen Exponate und Bilder keine willkürliche Ansammlung unterschiedlichster Objekte darstellten, sondern gezielt aufeinander Bezug nahmen. Die Eingliederung und der Vergleich des anatomischen Theaters mit den anderen Sammlungen der Universität Leiden zeigt Erkenntnisse, die bislang unbeachtet blieben. Zur Sternwarte wurde bereits im 19. Jahrhundert eine umfassende Publikation geschrieben, die jedoch nicht auf die einzelnen Quellen ver- wies, was im Zuge dieser Dissertation nachgeholt wird.41 Zum physikali- schen Theater und zum chemischen Laboratorium liegen ebenfalls Ar- beiten vor, allen voran diejenige von Gerhard Wiesenfeldt.42 Aufgrund des guten Forschungsstands und dem Fokus meiner Dissertation auf Samm- lungsräume kann ich die Besprechungen dieser Räume kurz fassen. Die Fechtschule und die Niederdeutsche Mathematik blieben bislang weitge- hend unbeachtet.43 Die Geschichte dieser Einrichtungen wird kurz um- rissen und in den Kontext der anderen Räume der Leidener Universität eingebunden, denn auch diese Einrichtungen standen in engem Bezug zu anderen Räumlichkeiten der Universität.

40 Gogelein 1973. 41 Kaiser 1868. 42 Grundlegend zum Thema: Wiesenfeldt 2002; zudem: Lindeboom 1975; Pater 1975; Spronsen 1975. 43 Otterspeer 2000, S. 198–202.

12 Teil 2 Geordnete Überlieferung: Die öffentliche Bibliothek

Bibliotheken sind nach Justus Lipsius so alt wie das geschriebene Wort. Denn die Übertragung des flüchtigen gesprochenen Worts in Schrift kon- serviert es und macht es überlieferbar, wodurch eine Bibliothek in nuce entsteht. Lipsius erklärt ferner, dass der Wunsch nach Schrift aufgekom- men sein musste, als der Mensch zu denken und zu lernen begann, denn diese Fähigkeiten seien nicht von grossem Gebrauch gewesen, hätten die gemachten Erkenntnisse nicht in Buchform für zukünftigen Gebrauch ge- speichert werden können.1 Bücher – und mit ihnen Bibliotheken – hatten und haben seit jeher also zur Aufgabe, Wissen zu Speichern und kom- menden Generationen weiterzugeben. Bibliotheken fallen dabei in ein Paradoxon, wie Peter von Matt er- klärt: Sie liefern die Grundlage für neues Wissen, durch das ihre alten Bestände unter Kritik geraten oder gar negiert werden. Doch bleiben die alten Bestände natürlich nach wie vor in Bibliotheken enthalten, denn niemand weiss, was in Zukunft von Nutzen sein kann. Büchersammlun- gen konservieren somit die Vergangenheit in der Gegenwart, die für die Zukunft nutzbar gemacht werden soll.2 Dieser Widerspruch zwischen verwahren und nutzbar machen, zwischen Lektüre und Weiter- oder Umschreiben des Wissens, führt gleichzeitig auch zu funktionalen Prob- lemen, die nicht zuletzt räumlich gelöst werden müssen. Denn auch die praktischen Aufgaben einer Bibliothek sind janusköpfig. Auf der einen Seite müssen die Bestände geschützt werden, auf den anderen jedoch in die Hände von Lesern geraten, soll eine Bibliothek keine Ansammlung von totem Wissen sein. Die Verwahrung und Weitergabe stellte seit jeher spezifische Anfor-

1 „Sed Bibliothecarum res vetus, &, nisi fallor, cum ipsis litteris adinuenta. Nam simul ac scire & sapere natum est, mox etiam scribere: & istud esse cum fructu non potuit, nisi vt libri adseruarentur & disponerentur, ad præsentium & posterorum vsum.“, Lipsius 1602, S. 9. 2 Matt 2006.

13 derungen an die Räumlichkeiten von Büchersammlungen. Sie mussten die Werke vor den Unbillen der Natur ebenso schützen wie vor diebi- schen Lesern. Doch sind die Leser auch die eigentliche Bestimmung al- ler Bücher. Sie machten ihrerseits Forderungen geltend und wünschten nicht nur eine umfassende Sammlung, sondern auch einen komfortablen Raum und möglichst ungehinderten Zugang zu den Büchern. Dazu soll- ten die Werke möglichst einfach aufgefunden werden können. Bibliothe- ken wurde sogar die Aufgabe zuteil, den Leser auf ihm noch unbekannte Werke aufmerksam zu machen. Die Bände mussten deshalb in eine sinn- volle und nachvollziehbare Ordnung überführt werden, um aufgefunden und gelesen werden zu können. Sowohl dem Katalog wie auch der räum- lichen Anordnung der Bücher kommt hier eine bedeutende Aufgabe zu. Durch den spezifischen Charakter von Büchern und Texten, nämlich der Weitergabe vergangener Ideen, wurden Bibliotheken eine spezifische räumliche Qualität zu teil. In der frühen Neuzeit wurde die antike Idee, dass in solchen Räumen vergangene Autoren eine Stimme erhielten, be- wusst mittels Bildern und anderen Schmuckobjekten in Szene gesetzt und der Raum genutzt, um vergangenen Autoren ein Ort der Memoria zu geben. All diese Aspekte von Räumlichkeit wurden auch in der Leidener Universitätsbibliothek berücksichtigt.

Die Bibliothek als universitärer Sammlungsraum Was kann in einer Bibliothek gespeichert und gelesen werden? Gabriel Naudé gibt die Antwort in seinem Advis pour dresser une bibliotheque, nämlich „Tout ce qui est, qui fut, & qui peut estre En terre, en mer, au plus caché des Cieux.“3 Bücher und Bibliotheken bieten ihren Lesern somit ein Abbild der Welt. Doch mehr als nur das. Der Hinweis auf vergange- ne Zeiten und spekulative Möglichkeiten verdeutlicht, dass Bibliotheken auch verlorene Sachverhalte, Hypothesen oder Fiktionen beherbergen können. Alles, was sich Menschen ausdenken können, kann demnach in schriftlicher Form fixiert und weitergegeben werden. Während vieler Jahrhunderte war dieses überlieferte Wissen die pri- märe Quelle des universitären Unterrichts. Die Texte der antiken Autori- täten wurden den Studenten in Vorlesungen vorgetragen und erläutert. Im Laufe der Zeit errichteten die Universitäten für ihre Professoren und Studenten verschiedene Büchersammlungen, die über die wichtigsten Werke einer jeder Fakultät besassen. Später entwickelten sich diese an- fangs zumeist noch bescheidenen Sammlungen zu zentralen und reich- haltigen Büchersammlungen, die meist allen Mitgliedern der Universität offen standen. Bibliotheken sind deshalb die ersten universitären Samm-

3 Naudé 1644, S. 17.

14 lungen überhaupt.4 Die Möglichkeit des geschriebenen Worts erfuhr in der frühen Neu- zeit jedoch zunehmend auch Kritik. Zwar ermöglichten Bücher auch the- oretische oder fiktive Ideen zu vermitteln, doch ersetzten sie in vielen Be- reichen nicht den Erkenntnisgewinn durch die sinnliche Wahrnehmung der Welt. Das Wissen aus Büchern musste mit den dinglichen Objekten der Welt abgeklärt werden, mehr noch: Die Welt selbst musste studiert und verstanden werden. Dem überlieferten Wissen innerhalb der Bücher stellten sich daher nicht nur in Leiden neue Räume zur Seite, die der em- pirischen Forschung dienen sollten, insbesondere weitere Sammlungs- räume wie der botanische Garten und das anatomische Theater mit ihren Pflanzen, anatomischen Präparaten und anderen dinglichen Objekte. Auch die dort gemachten Untersuchungen führten zu neuen Erkenntnis- sen, die nicht zuletzt wieder in Bibliotheken verwahrt und zukünftigen Generationen zugänglich gemacht wurde, nämlich in Form der gedruck- ten Forschungsresultate. Im folgenden Kapitel soll der Fokus auf der Büchersammlung der Leidener Universität gelegt und aufgezeigt werden, wie das überlieferte Wissen gesammelt und geschützt, aber auch angeordnet und zugänglich gemacht wurde. Ferner soll diskutiert werden, wie der auratische Raum der Büchersammlung interpretiert und gedeutet wurde. Die geschichtli- che Entwicklung der Sammlung, die verschiedenen Zutrittsbestimmun- gen sowie die immer wieder veränderten Möblierung zeigen verschie- dene Konzepte dafür auf, die in vielen Belangen exemplarisch für die Entwicklung frühneuzeitlicher Bibliotheken stehen.

Die Bibliothek in der Gewölbekammer

Die Leidener Universität verfügte zunächst über keine eigene Bibliothek, schon seit ihrer Entstehung jedoch über Bücher. Wilhelm I. von Orani- en vermachte der Universität zur Gründung eine besonders umfangrei- che und wertvolle Bibelausgabe, die Biblia Regia, die zwischen 1569 und 1572 durch Christopher Plantin (ca. 1520–1589) gedruckt wurde, der durch diese Publikation seinen Ruf als hervorragenden Buchdrucker festigen konnte. Sie gibt die biblische Geschichte in fünf Sprachen und dazugehö- rigen Drucktypen wieder. Wenig später konnte Plantin als Buchdrucker der Universität gewonnen werden. Doch war dieses Geschenk nicht ex- plizit als Nukleus einer kommenden Bibliothek gestiftet worden, sondern ein Präsent zur Gründung der Universität. Sie wird aber immer als der

4 Buzas 1975, S. 114–120.

15 Grundstock der Leidener Universitätsbibliothek beschrieben, so auch im ersten gedruckten Katalog von 1595.5 Die Bibel wird in den kommenden Jahrzehnten eine besondere Position innerhalb der Bibliothek innehal- ten: Mit der Signatur 1 versehen, stand sie an erster Stelle der theologi- schen Werke im Regal. Doch fehlte der Bibel zu Beginn noch eine entsprechende Bibliothek, in die sie gestellt werden konnte. Sie blieb vorläufig in Händen des Pro- fessors Guilielmus Feugeraeus (ca. 1535–1613)6. Zwar wurde bereits 1575 unter Punkt 14 der entworfenen Statuten der Universität eine öffentliche Bibliothek gewünscht, die Bücher zu allen Wissensgebieten beinhalten sollte, doch mussten noch viele Jahre verstreichen, bis eine solche reali- siert wurde.7 Auch der Versuch, Buchbestände stillgelegter Klöster nach Leiden zu überführen, blieb fruchtlos.8 Der Verzicht auf eine Büchersammlung war wohl auch den finanzi- ellen Nöten der Universität geschuldet, die in ihren Anfangsjahren noch mit einem sehr kleinen Budget auskommen musste. In den nächsten zehn Jahren wurde deshalb der Wunsch nach einer Universitätsbibliothek nicht mehr laut. Nach Hulshoff Pol war es zu Beginn gar keine dringliche Notwendigkeit für die Leidener Universität, über eine wohlausgestatte- te Bibliothek zu verfügen, da diese nur den ärmeren Studenten dienlich gewesen wäre, denn professionelle Gelehrte hätten über eigene Bücher verfügt.9 So wissen wir nichts über eine Bibliothek im ehemaligen Barba- ra-Kloster, wo die Universität zwischen 1575 und 1581 eingerichtet war, da es eine solche vermutlich nicht gab.10

Die erste Bibliothek in der Gewölbekammer Nach dem Standortwechsel der Universität im Jahr 1581 vom Barba- ra-Kloster in dasjenige der Dominikanerinnen „Witte Nonnen“ an der Ra- penburg, dessen ehemalige Kirche zum sogenannten Akademiegebäude umgestaltet wurde, wurde erneut der Wunsch nach einer Bibliothek laut und von einem Raum gesprochen, der „gedestineert ende begonst es tot bewaernisse van de boucken van de universiteyt“. Ferner solle „in de lib- rarie de vloer, glasen, tafelen, zittens ende cassen tot bewaernisse vande boucken“ erstellt werden.11 Der Raum, von dem hier die Rede ist und in dem die erste Bibliothek der Universität eingerichtet wurde, ist die soge-

5 Siehe dazu beispielsweise: Hulshoff Pol 1975, S. 395. 6 Zu seiner Biographie NNBW, Deel 3, Sp. 398–402. 7 Bronnen I, (1. Mai 1575), Bijl. no. 20, S. 19*–22*, hier S. 21*–22*. 8 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 4; Hulshoff Pol 1975, S. 395. 9 Hulshoff Pol 1975, S. 395–396. 10 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 4; Hulshoff Pol 1975, S. 397. 11 Beide Zitate: Bronnen I, (26. April 1581), Bijl. no. 74, S. 88*.

16 nannte Gewölbekammer.12 Der Raum existiert noch heute und erhielt sei- nen Namen aufgrund der aufwändigen Kreuzgewölbe, die auf vier Säulen ruhen. Er umfasst neun mal neun Meter in der Grundfläche und ist gleich hinter dem Eingang links zu finden. Er liegt im Erdgeschoss, was ein sehr untypischer und auch ungeeigneter Ort für die Unterbringung einer Bib- liothek ist, was auch die Benutzer bald schon merkten. Doch blieb es vorläufig bei dieser Absicht. Denn noch immer verfüg- te die Universität über nahezu keine Bücher, die dort verwahrt hätten wer- den können. 1581 machte Plantin zwar eine Donation von drei Büchern an die Leidener Universität, doch wurden diese Bücher vorerst durch seinen Freund und Leidener Professor Justus Lipsius (1547–1606) verwahrt; von den Büchern fehlt heute jede Spur. Im Zuge dieser Donation wurden auch Stempel und Siegelplatten zur Kennzeichnung der Bücher erstellt, die später noch während Dekaden zur Anwendung kommen sollten. Mit ih- nen wurden die Bücher sowohl auf ihrem Einband als auch im Schnitt als Eigentum der Leidener Universität gekennzeichnet – der Schnitt eignete sich dazu hervorragend, konnte er doch nicht abgetrennt oder heraus- gerissen werden. 1585 wurde erneut beschlossen, primär für die Profes- soren, Doktoren und gemeinen Studenten eine Bibliothek zu errichten, die über die besten Bücher aller Sprachen und Wissensbereiche verfügen solle. Zudem hätten neben dem Prinzen auch andere Personen die Ab- sicht geäussert, Bücher zu stiften. Dazu müsse nun eine geeignete Person als Bibliothekar eingestellt werden, „tot de opzichte, bewaringe ende di- spositie derzelber bibliotheecke“. Jan van der Does d.Ä. (Janus Dousa Sr) (1545–1604)13 wurde dazu auserkoren.14 Der erste Bibliothekar hatte die Aufsicht, den Schutz und die Wahrung der Ordnung zur Aufgabe. Den ersten Grundstock der Bibliothek bildete ein Nachlass. Johannes Holmannus Secundus (1523–1586)15, Professor der Theologie an der Lei- dener Universität, starb im Dezember 1586 und vermachte der entstehen- den Bibliothek seine Bücher.16 Ein Inventar seiner Stiftung hat sich nicht überliefert, sie soll aber 1000 Gulden wert gewesen sein, weshalb Witkam von ein paar hundert Bänden ausgeht.17 Mit diesem Legat kam es zur Er- richtung des lange beabsichtigen Bibliotheksraums. Das Kuratorium ver- langte, den Raum einzurichten und alle weiteren Bücher der Universität dorthin zu bringen, damit die Werke „by elc ennen, des begerende zullen

12 Zu dieser Bibliothek und vor allem der Bestandsgeschichte, siehe: Hulshoff Pol 1975, S. 397–404. WITKAM / MAGNA 13 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 6, Sp. 425–429. 14 Bronnen I, (1. März 1581), Bijl. no. 109, S. 122*–123*, Zitat S. 123*. 15 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 8, Sp. 798–799. 16 Zum Bestand dieser Sammlung, siehe Hulshoff Pol 1975, S. 399–402. 17 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 11.

17 Abb. 2.1 mogen werden gebruyct“.18 Die Bibliothek sollte also eine öffentliche sein Stadtkarte Leidens, 1670. und im Dienste aller stehen. Nun wurde der Raum vom restlichen ehe- Links der Rapenburg das Akademiegebäude mit der maligen Kirchenschiff mit einer Steinwand abgetrennt, neue Glasfenster aufgebauten Sternwar- eingebaut, ein Holzboden ausgelegt, vier Bücherschränke geschreinert – te und dem botanischen Garten samt seinen Galeri- wovon einer offen und drei abschliessbar waren –, zwei Tische aufgestellt en. Rechts der Rapenburg und ein Schloss an der Bibliothekstüre angebracht. Selbst ein Globenpaar die Beginenkirche, in der die Bibliothek, das anato- wurde gekauft, dies obwohl die Bibliothek noch über nahezu keine Bü- mische Theater, die Fecht- cher verfügte, ein Globenpaar aber zur grundlegenden Standardeinrich- schule und die Niederdeut- tung von Bibliotheken gehörte. Die Bibliothek wurde vermutlich am 31. sche Mathematik einge- richtet waren. Oktober 1587 offiziell eröffnet und der Buchdrucker der Universität, Plan- tins Nachfolger und Schwiegersohn Franciscus Raphelengius (1539–1597) (C. Hagen, Lugdunum Ba- 19 tavorum vulgo Leyden, lieferte von nun an regelmässig Bücher. Kupferstich, 1670.) Viel mehr ist über die bauliche Einrichtung der Bibliothek nicht be-

(Download: Regionaal kannt. Sie blieb auch nicht lange in diesen Räumlichkeiten. Denn 1589 Archief Leiden, Signatur wurde die Gewölbekammer als Vorlesungsraum bestimmt und ein Lese- PV362B.) pult und Sitzbänke hineingestellt. In der Forschung wurde diskutiert, ob

18 Bronnen I, (31. Dez. 1586), Bijl. no. 119, S. 138*. 19 Zur Baugeschichte und Einrichtung, siehe: Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Ana- tomie, S. 4–13.

18 die Bücher ab diesem Zeitpunkt in das Wohnhaus des Pedells überführt wurden oder aber in der Gewölbekammer verblieben. Aus dem Haus des Pedells wurden sie nämlich bereits 1587 in die Gewölbekammer und 1593 in die neue Bibliothek in der kurz zuvor umgebauten Beginenkirche überführt. Es ist aber nicht sicher, ob dies kurz zuvor oder bereits 1589 geschah.20 Entscheidend für den Umzug der Bibliothek war – neben dieser funktionalen Doppelbelegung des Raums – sicherlich noch ein weiterer Grund: Die Gewölbekammer liegt im Erdgeschoss und eignet sich des- halb nicht als Bibliotheksraum. Das Kuratorium beschloss deshalb, einen neuen Raum für die Bibliothek zu suchen, da der damalige nicht nur als Vorlesungsraum genutzt wurde, sondern auch „niet bequaem, als te zeer reumatyc“ sei.21 Der Raum war also feucht und kalt, was seiner Lage im Erdgeschoss geschuldet war. Nicht nur fanden Leser – trotz dem einge- bauten Holzboden – keinen Komfort, sondern auch die Bücher waren der Feuchte ausgesetzt, was schädlich für sie war, weswegen Bibliothe- ken meist in einem Obergeschoss eingerichtet wurden. Bereits im St. Gal- ler-Klosterplan kommt die Bibliothek vermutlich deshalb oberhalb des Skriptorium zu liegen und alle italienischen Klosterbibliotheken des Mit- telalters, die James F. O’Gorman untersuchte, lagen ebenfalls auf einem erhöhten Niveau.22 Für die Bibliothek der Universität wurde deswegen ein neuer Raum geschaffen, der bezeichnenderweise in einem Obergeschoss liegen wird.

Eine Kirche wird Bibliothek

Die Gewölbekammer war als Ort der Unterbringung einer Bibliothek ungeeignet, zu feucht und kalt war sie. So wurde beschlossen, eine neue Bleibe für die Büchersammlung zu finden. Dazu auserkoren wurde die ehemalige Kirche des Beginenhofs, die schon davor im Besitz der Uni- versität gewesen war. Die Bücher der Universität fanden somit in einem aufgegebenen Sakralraum ihre Heimat. In der Kirche wurde jedoch nicht nur die Bibliothek eingerichtet, sondern auch das anatomische Theater, später zudem die Fechtschule und die sogenannte „Niederdeutsche Ma- thematik“. Sie wird uns deswegen auch in anderen Kapiteln als architek- turhistorisches Untersuchungsobjekt und Schauplatz wissenschaftlichen Handelns begegnen. Die ehemalige Kirche bildete den Mittelpunkt der

20 Siehe dazu: Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 6; Hulshoff Pol 1975, S. 404. 21 Bronnen I, (26. Nov. 1590), Bijl. no. 148, S. 169*. 22 O’Gorman 1972, S. 18–19.

19 Abb. 2.2 Die Beginenkirche nach ihrem Umbau. Die Biblio- thek wurde im neuen Ober- geschoss eingerichtet, das anatomische Theater in der Apsis und die Fechtschule im Erdgeschoss.

(Zeichnung von J. de Kei- jzer, 1835. UB Leiden, COLLBN Port 315-III N5)

(Scan aus: Berkvens-Steve- linck 2012, S. 27)

Beginenanlage und war entsprechend als „Falibagijnenkerk“ bekannt. Die Kirche, von der noch einige Teile vorhanden sind, lag auf der gegen- überliegenden Seite der Rapenburg, aber dennoch nahe am Akademie- gebäude, war leicht versteckt im Innern der Gebäudestruktur gelegen und besass somit keine Adresse oder Schauseite zur Gracht hin (Abb. 2.1).

Die Kirche vor dem Umbau Bereits am 4. September 1577 wurde sie der Universität zugeschrieben und als Ort der „praelectiones publicae“ gewählt, wo diese bis 1581 gehal- ten wurden.23 Die Bürgermeiser der Stadt und die Kuratoren der Univer- sität hatten nämlich die Vollmacht, Gebäude im Sinne der Universität zu nutzen, in Besitz zu nehmen, umzubauen, oder einzureissen; von allen Möglichkeiten wurde im Laufe der Zeit Gebrauch gemacht.24 Die Kirche

23 Otterspeern 2000, S. 228. 24 „Hebben voorts gegundt ende geoirlofft, gunnen ende oirloven by desen den Bur- gemeesters ende Regierders der voors. stede van Leyde den selven oick gevende volcommen macht ende auctoriteyt, voor zoo veele des noot zy, totter plaetze van de voors. schole tallen tijden te moghen aenvaerden, gebruycken, ende eygenen al-

20 eignete sich aufgrund ihrer schmalen Raumproportionen jedoch nicht zur Unterbringung der ganzen Akademie, wofür die Nonnenkirche ge- wählt wurde. Dennoch wurde sie auch weiterhin für universitäre Zwecke genutzt. Der Chor der Beginenkirche, welcher durch einen Lettner vom restlichen Schiff abgetrennt war, nutzte Hugo Donellus (1527–1591) bis 1587 als Auditorium. In der Kirche wurden auch Disputationen abgehal- ten. Am 22. März 1590 entschied das Kuratorium, dass auf der Empore an der Westseite der Kirche „alle prouven ende Annatomisatien“ durchge- führt werden sollen. Bereits zuvor fanden in der Kirche Zergliederungen zwecks Unterricht der Anatomie statt. So soll bereits 1587 Gerardus Bonti- us (1536–1599)25 eine solche durchgeführt haben, wie auch im Dezember 1589 Pieter Pauw (1564–1617)26 – beide Professoren und ihre Tätigkeiten werden noch ausführlich besprochen.27 Heute stehen nur noch die Aussenmauern der Apsis und der fünf an- schliessenden Traveen. Der verbleibende Innenraum ist 9,75 Meter breit, die Mauern ca. 65 Zentimeter dick und die Strebepfeiler stehen ungefähr 120 Zentimer vor und sind 87 Zentimeter breit. Die fünfseitige Apsis hat einen Radius von ca. 4,7 Metern. Ursprünglich umfasste die Kirche sieben Traveen und hatte an ihrer Westseite einen angebauten Turm. Die Kirche war im Innern 34 Meter lang. Die ursprünglichen Mauern waren ca. 12 Meter hoch, „vande vloer tot het opperste vande balcken“28 und das Dach ragte nochmals ungefähr 10 Meter in den Himmel. Der Turm unbekann- ter Höhe fusste auf zwei Sockeln, zwischen welchen das ca. 2 Meter breite Eingangsportal der Kirche lag (Abb. 2.2)

Der Umbau der Kirche Am 1. März 1591 wurde der Beschluss gefast, die Kirche umzubauen und eine Bibliothek darin einzurichten [prüfen: Molhyusen, Geschiedenis Bib, Bijl. no. 2, S. 70]. Noch war von einem anatomischen Theater keine Rede. Doch spätestens am 17. November 1591 wurde der Beschluss gefasst, ein solches in die Kirche einzubauen, denn an diesem Tag wurde mit dem Zimmermann zwecks Erstellung des Bauwerks eine Unterredung abge- halten, „omme de bibliotheecque ende plaetse voorder anatomie te bou-

sulcke gemeene ofte private plaetze ende huysingen als hemluyden goedtduncken zal, de selffde totte voors. schole accommoderende ende timmerende, oick veran- derende ende tgetimmert demolierende ende affwerpende, zulcx zyluyden bevin- den zullen […]“, Bronnen I, (6. Jan. 1575), Bijl. no. 7, S. 7*–9*, hier S. 8*–9*. 25 Auch Geraert de Bondt, zu seiner Biographie: NNBW, Deel 4, Sp. 196–197. 26 Auch Petrus Pavius oder Pieter Paaw, zu seiner Biographie: NNBW, Deel 4, Sp. 1051– 1053. 27 H. J. Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 14–17. 28 Witkam, DZ I, (Nov. 1591), No. 119, S. 75–76; Witkam, DZ I, (20. März 1595), No. 125, S. 79.

21 Abb. 2.3 Die Pläne für den Umbau von Jan van Hout.

(Zeichnung von Jan van Hout in: AC1.100, Dach- bouc, fol. 190v.)

(Fotografie des Autors.)

wen“.29 Das Theater konnte aufgrund seines kreisförmigen Grundrisses leicht in die Apsis der Kirche gebaut werden und die Bibliothek nutzte das restliche Kirchenschiff. An der Westseite befand sich eine Empo- re („oksaal“), die durch die Turmtreppen erreichbar war und auf deren Höhe der Boden der späteren Bibliothek eingezogen wurde.30 So wurde der Bibliothek einen Raum zugeteilt, der vom feuchten Grund abgehoben war und die Sammlung schützte. Zudem erlaubt die Kirche mit ihren gro- ssen Fenstern eine ausreichende Beleuchtung. Für den Komfort der Leser wurde sogar ein offener Kamin eingebaut, was die Büchersammlung aber in akute Feuergefahr brachte.

29 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 19; Witkam, DZ I, (9. Juni 1592), Nr. 186, S. 132. 30 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 16.

22 Jan van Hout (1542–1609)31, Sekretär der Universität, enger Freund des Bibliothekars und gewissermassen der Bauleiter, fertigte eine Skizze der Umbauarbeiten an, um die für die Trennwand zwischen anatomi- schem Theater und Bibliothek notwendigen Steine zu berechnen (Abb. 2.3). Im aufgerissenen Querschnitt werden vier Bauabschnitte gezeigt. Der erste umfasst die ersten 7 Fuss (2.2m), wo die projektierte Mauer eine Breite von 3 Steinen aufweisen sollte. In diesem Abschnitt sollte der Kel- ler sowie das Büro des anatomischen Theaters zu liegen kommen. Der nächste Abschnitt umfasst die Höhe einer Roede (3.8m). In dieser Zone wurden später die Ränge des anatomischen Theaters errichtet und darauf der Boden der Bibliothek eingezogen, der das Kirchenschiff in zwei gleich hohe Partien teilte. Just in der Raummitte lag auch die alte Empore der Kirche. Der nächste Abschnitt geht bis zu den Dachbalken und umfasste eine Mauer mit einer Breite von Steinen und einer Höhe von 1 Roede und 7 Fuss (6m). Dieser Abschnitt trennte die Bibliothek vom anatomischen Theater. Die Separierung der beiden Räume innerhalb des Dachaufbaus wurde durch eine Mauer von 1,5 Steinen Stärke geschaffen. Die Höhe des Daches wird nicht angegeben. An der Westseite der Mauer – zur Biblio- thek hin – wurde besagter Kamin mit dazugehörigem Schornstein einge- baut. Im Mai 1592 war die Mauer fertiggestellt.32 Im Grundriss fand die Mauer an der Stelle des alten Lettners ih- ren Platz, Reste davon konnten als Fundamente genutzt werden. Die Anatomie umfasste demnach die Apsis und die anschliessende Travee, wodurch das runde Theater einfach eingebaut werden konnte. Für die Bibliothek stand der Raum oberhalb des eingezogenen Bodens zur Verfü- gung, welcher sechs Joche umfasste und somit ca. 25 Meter lang und 9,8 Meter breit war. Der Boden der Bibliothek wurde durch Jan van Hout wie folgt projek- tiert und dementsprechend umgesetzt. Fünf schwere Querträger („bin- ten“) kamen zwischen den Fenstern zu liegen und somit genau dort, wo aussen die Strebepfeiler das Gewicht abtragen konnten. Die Querträger lagerten auf hölzernen Konsolen. Auf sie kamen Längsträger („ribben“) zu liegen, die 13 Fuss (4m) lang, 5 Daumen (13cm) hoch und ebenso breit waren. Auf diese Träger wiederum wurde der eigentliche Fussboden der Bibliothek in Form einfacher Holzlatten („pruysse deelen“) gelegt.33 Die Unterseite des Bodens ist aus der Abbildung der Fechtschule und derje- nigen der Englischen Kirche ersichtlich (Abb. 3.2 und 3.5). Durch den Einbau eines zusätzlichen Bodens mussten natürlich

31 Zu seiner Biographie, NNBW, Deel 2, Sp. 608–612. 32 Die Skizze in AC1.100, Jan van Hout, Dachbouc, fol. 190v; siehe dazu: Witkam, DZ III, Bijlage Bibliotheek en Anatomie, S. 21–22. 33 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 19 und S. 22–23.

23 auch die alten Kirchenfenster zweigeteilt werden. Der Glasmacher liefer- te 12 Fensterrahmen für die Bibliothek und deren 7 für das anatomische Theater. Die Fenster der Bibliothek waren „elc groot 63 voeten“ (6,2m2). Unterhalb der Kirche, wo später die Fecht- und Ingenieurschule ein- gerichtet wurden, wurden nur 8 Fenster von ungefähr 45 „voet“ (4,4m2) verbaut.34 Auch das Dach wurde im Frühjahr 1593 gewartet, um ddie Bü- chersammlung zu schützen.35 Im Innern wurde die Bibliothek vermutlich durch ein Tonnengewölbe überdeckt. Die Bibliothek wurde über die sehr engen und unkomfortablen Turmtreppen erreicht, mussten diese doch in einem Raum mit einer Grundfläche von nur 1.55m auf 1.9m untergebracht werden.36 Die beiden Treppenläufe des Erdgeschoss führten über dem Portal der Kirche so zu- sammen, dass eine einzige Türe den Zugang zur Bibliothek bildete, wie aus einer Rechnung des Schlossers hervorgeht. Dieser fertigte ein dop- peltes Schloss für das Kirchenportal sowie ein einfache Schloss „ande bovendeuren vande trap diemen opcomt“, also für die eigentliche Ein- gangstüre in den Bibliotheksraum.37 Da diese Treppen für eine öffentli- che Bibliothek nicht als ausreichend empfunden wurden, beschloss das Kuratorium kurz vor der Eröffnung der Bibliothek, „inden zuytwesthouc te maecken een fraye gemackelicke trap“, eine freie und bequeme Treppe also.38 Nach Witkam ist es aber fragwürdig, ob diese Treppe ausgeführt wurde. Er erklärt, dass Gerard Riemersma in seinem Testament vom 2. Juli 1770 eine „naauwe en ongemakkelijke wenteltrap na de bibliotheecq“ erwähnt, eine enge und unkomfortable Wendeltreppe.39 Da der projek- tierte Treppenbau in den späteren Unterlagen auch nicht mehr erwähnt wird, ist anzunehmen, dass er nicht erstellt wurde. Auf der Turmspitze sollten Kreuz und Wetterhahn zunächst dem Löwen und Wappen der Stadt weichen und die Kirche somit visuell dem Stadthaus angebunden werden, wo eine analoge Bekrönung aufgebaut war. 40 Doch wurde wenig später beschlossen, eine kupferne Pallas Athene auf die Spitze der Kirche zu stellen, die visuell der Stadt verkündete, dass von nun an in dieser alten Kirche die Weisheit hauste.41

Eine Bibliothek in einem ehemaligen Sakralraum Doch wie stand es um die Sakralität des alten Kirchenraums? Im Zuge der

34 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 19 und S. 24–25. 35 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 23–24. 36 Abmessungen nach Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 14–16. 37 Witkam, DZ III, (1. Nov. 1594), Nr. 208, S. 152–153. 38 Witkam, DZ III, (20. März 1595), Nr. 127, S. 82. 39 Witkam, DZ I, (20. März 1595), Nr. 127, S. 82. 40 Witkam, DZ IV, Anmerkungen auf S. 48. 41 Witkam, DZ IV, (2. Aug. 1591), Nr. 970, S. 49.

24 Reformation wurden in Leiden viele Kirchen profanisiert. Auch Klöster und andere christliche Gemeinschaften wurden aufgelöst und ihre nun leerstehenden Bauten umgenutzt. Die Leidener Universität fand zunächst all ihre Lokalitäten in solchen säkularisierten Bauten, die sie benutzte und teilweise bis zur Unkenntlichkeit der alten Nutzung umgestaltete. Nach Calvin waren Kirchen weder Heimstätten Gottes noch solle man ihnen eine verborgene Heiligkeit zuschreiben. Somit negierte er, dass Räume an und für sich sakral sein können. Vielmehr stellte er den Mensch in den Fokus und erklärte: „Denn wir sind doch selbst Gottes wahre Tempel“.42 Auch für Martin Luther war der Ort des Gottesdiensts nicht entscheidend, es war die Gemeinschaft und der Gottesdienst, die zählten. Heinrich Bullinger (1504–1575) verstand zunächst eine Kirche noch immer als Sakralraum, da in ihr Gottes Wort gelesen wurde, änderte diese Auffassung später aber ab und sagte, es sei die Gemeinde, die den Ort heilig mache.43 Eine Kirche sollte den auch einfach und zweckmässig eingerichtet werden, oder, wie Antoine Cathelan in den 1550er meinte: „It is just like the interior of a college or school; benches everywhere and a pulpit in the middle for the preacher“.44 Die Bibliothek, das anatomische Theater, die Fechtschule und die Niederdeutsche Mathematik fanden alle im ehemaligen Kirchenbau der Beginen ihre Lokalität. Es war die bauliche Hülle von Interesse, die man einer neuen Funktion übergab. Im Falle der Bibliothek wurde auf jegliche Referenz bezüglich der früheren Funktion des Baus verzichtet. Die Ein- richtung erfolgte dem bibliothekstypischen Formen der Zeit. Auch in Rei- seberichten wurde die Unterbringung der Bibliothek in einer alten Kirche nur höchst selten erwähnt. Balthasar de Monconys (1611–1665) ging gar soweit, dass er bei der Beschreibung des anatomischen Theaters, das ja in der Apsis der Kirche lag, meinte: „les fenestres sont grandes iusques à la voute, comme celles d’vne Eglise.“45 Die jüngere Forschung hat aber auch gezeigt, dass es eine strikte Di- chotomie der weltlichen und der sakralen Sphäre gar nie gab. Innerhalb von Kirchen konnten stets verschiedene Zonen des Sakralen gefunden werden. Und auch wenn eine Kirche in nachreformatorischer Zeit nicht mehr per se heilig war, so wurde in ihr dennoch weiterhin Gott gefeiert.46 Schwerhoff erklärt, die ganze Welt werde im protestantischen Glauben sakralisiert, „die eine Auratisierung bestimmter Räume verzichtbar er-

42 Grosse 2005, S. 64. 43 Rau 2008; Schwerhoff 2008; Grosse 2005, S. 65–66. 44 Grosse 2005, S. 76. 45 Monconys 1666, S. 151. 46 Coster/Spicer 2005.

25 schienen ließ.“47 [S. 48–49] Die bauliche Hülle hatte somit keinerlei sak- rale Bedeutung mehr. Falls von einer Sakralität innerhalb dieser Räum- lichkeiten gesprochen werden darf, so lag es an den dort stattfindenden Handlungen. In den Artikeln des Dordrechter Konvents von 1619, mittels dem das Glaubensbekenntnis der Niederlande vereinheitlicht wurde, wurde auch die Manifestation Gottes auf Erden definiert. In erster Linie findet sich diese in der Heiligen Schrift wieder (Artikel 3–7). Desweiteren zeigt sie sich aber auch in dinglichen Objekten. So im menschlichen Körper, der nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde (Artikel 8–11) sowie in der göttli- chen Schöpfung (Artikel 12). Neben der Heiligen Schrift musste also auch die göttliche Schöpfung untersucht werden. Schwerhoff erklärt denn auch, man verstünde „in der protestantischen Position keine Profanie- rung, keine Verweltlichung, sondern eine Verschiebung der Koordinaten des Sakralen in der Welt bzw. in die Welt.“48 Die Schöpfung Gottes konnte also überall stattfinden. In der ehemaligen Beginenkirche wurden Forschungseinrichtungen eingebaut, die einer solchen Untersuchung der göttlichen Kreation und Überlieferung dienten. In der Bibliothek wurde die Heilige Schrift – an herausragender Stelle – verwahrt und gelesen, die im Zuge der Refor- mation die Grundlage des Glaubens bildete. Im angrenzenden anatomi- schen Theater widmete man sich der Untersuchung seiner Schöpfung, insbesondere des menschlichen Körpers. Das anatomische Theater wird deshalb mittels zahlreicher Einrichtungsgegenständen auf die biblische Geschichte und das Leben nach dem Tod verweisen. Und auch innerhalb des botanischen Gartens wurde die göttliche Schöpfung gesammelt und erforscht, was sich im Grundriss der Anlage zeigen wird. Nicht zuletzt wurde der Bibliotheksraum für die eigene Memoria genutzt, was vor der Reformation in erster Linie durch Stiftungen an Kirchen geschah, nach der Reformation aber woanders stattfinden musste. Die Bibliothek eige- nete sich dazu hervorragend.

Die geplante Möblierung der Bibliothek

Nach Fertigstellung des Rohbaus musste die Bibliothek natürlich auch möbliert werden.49 Sie folgte dabei dem zeittypischen Ideal einer Pultbi- bliothek mit angeketteten Büchern. Dieser Typus der Bibliotheksmöblie- rung entstand im Mittelalter und galt noch im ausgehenden 16. Jahrhun-

47 Schwerhoff 2008, S. 48–49. 48 Schwerhoff 2008, S. 48. 49 Zur Möblierung siehe auch Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 27.

26 dert als Standardlösung universitärer Büchersammlungen. Die Ketten schützten die Bücher vor Diebstahl, fixierten aber auch ihre Ordnung und die Leser konnten dank diesem Bibliothekstypus die Bücher frei konsul- tieren. Der räumlichen Ordnung der Bücher kam dabei eine besondere Aufgabe zu, mussten sie doch auch ohne die Hilfe eines Bibliothekars gefunden werden können. Die Aspekte der Zugänglichkeit, der Ordnung der Bücher und der Erfindung des Kettensystems werden in späteren Ka- piteln noch ausführlich besprochen. Wie aus einer ersten Skizze der Bibliothek hervorgeht, sollte die Bibliothek mit acht Pulten bestückt werden (Abb. 2.6). Und tatsächlich lieferte der Schreiner zunächst auch acht Pulte. Sie waren 11.5 Fuss lang (ca. 3.6m) und bestückt „met lessenaers ende cassen om de boecken daer inne te stellen“, also mit einer Regalfläche oberhalb einer Leseflä- che. Sie verfügten zudem über Sitzbänke.50 Die Länge der Pulte ergab sich aus den Dimensionen des umgebauten Kirchenschiffs. Denn der Innen- raum der Bibliothek war 31 Fuss breit (9,8m), der Kamin seinerseits 8 Fuss breit (2,5m), der Abstand zwischen Kamin und Wand betrug somit genau 11.5 Fuss (3,6m), was der Länge der Pulte entsprach.51 Der Kamin sollte durch die Länge der Pulte visuell eingerahmt und als Endpunkt in Sze- ne gerückt werden. Denn die Pulte sollten zwischen den Fenstern direkt an den Wandflächen zu liegen kommen und quer in den Raum stehen, wie es üblich für Bibliotheken der Zeit war. Nur dort konnten sie diekt an der Wand stehen, denn die Brüstungen der Fenster waren deutlich tiefer, als der Kupferstich von 1610 vermuten lässt und auch andere Bilder und Quellen zeigen. Als mehr Pulte zur Verwarung der Bücher benötigt wur- den, mussten sie etwas in den Raum gerückt werden, wie der Kupferstich von 1610 illustriert, denn ansonsten wären sie direkt an die Fenster gestos- sen, die oftmals undicht waren.52 Die geplanten acht Pulte sollten deshalb zwischen den Fensterflä- chen quer in den Raum gestellt werden und lagen somit ca. 2,8m weit auseinander. Die Sitzbänke mussten daher vor den Pulten zu liegen kom- men und waren – wie der Wortlaut der Rechnung suggeriert – mit ihnen verbunden.53 Ob diese ursprünglichen Pulte bereits über die Höhe ver- fügten, die im Kupferstich von 1610 gezeigt wird und die ein Lesen im Ste-

50 Witkam, DZ I, (24. Mai 1595), Nr. 209, S. 154–157, hier S. 155. 51 Die Breite des Kamins kann durch die verbauten Rippen ermittelt werden. Es wur- den 22 reguläre und – beim Kamin – 8 kürzere Rippen verbaut, der Kamin war somit 31 Fuss / 30 Rippen x 8 Rippen = 8,2 Fuss breit. 52 In den Akten des Kuratoriums finden sich in häufig und regelmässig Kosten für die Erneuerungen der Fenster. 53 Witkam ging davon aus, dass die Sitzbänke hinter den Pulten angebracht waren und somit für die Konsultation der Bücher des nächsten Pults bestimmt waren, was aus erläuterten Gründen unwahrscheinlich ist.

27 Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Keller Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

Abb. 2.4 hen ermöglichten, wie es später auch gehandhabt wurde, ist indes aus Rekonstruktion der umge- den Quellen nicht ersichtlich. Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage bauten Beginenkirche und Schon früh wurden zudem zwei grosse Tische gefertigt und bereits der geplanten Möblierung der Bibliothek. im November 1593 in Rechnung gestellt. Beide waren 13 Fuss (4m) lang und besassen gedrehte Füsse, ganz so also, wie einer im Kupferstich von (Planzeichnung des Autors 54 nach den Zeichnungen und 1610 dargestellt ist, auch wenn dieser etwas kürzer erscheint. Die Tische Angaben in: Witkam DZ; erlaubten, die kleinformatigen Bände, die im Gegensatz zu den Folianten Gogelein 1973.) nichtZUSTAND angekettet waren, 1594 bequem (GEPLANT) studieren zu können, oder Globen dar- ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL auf abzustellen, wie es der Kupferstich von 1610 demonstriert. Die kleinformatigen Bände mussten in abschliessbaren Schränken Englische Kirche ab 1644

54 Witkam, DZ I, (12. Nov. 1593), Nr. 199, S. 146.

28

Keller

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644 verwahrt werden, da sie aufgrund ihrer Grösse nicht angekettet werden konnten. Zum einen diente dazu ein Kasten, der bereits vor dem Umbau der Kirche für sie bestimmt war und nun in die neuen Räumlichkeiten umgezogen wurde. Er wurde südlich neben den Kamin an die Trenn- wand zur Anatomie gestellt.55 Vermutlich handelt es sich um denselben Schrank, der später eine Rückwand und vier abschliessbare Türen erhielt. Der Schreiner fertigte zudem drei neue Schränke an, „dienende tot de boecken in 4o, 8o ende 16o“, die wohl mit den in Rechnung gestellten sechs Regalbrettern ausstaffiert wurden und somit über je drei Abteilungen für die verschieden grossen Bände verfügten.56 Ein späterer Arbeitskatalog beweist, dass die Bücher tatsächlich innerhalb der Schränke nicht nur nach Fachgebieten sondern auch nach Formatgrössen aufgestellt wur- den.57 Vermutlich wurde einer davon vor die zweite Wandfläche neben dem Kamin gestellt und die anderen entlang der westlichen Stirnseite der Bibliothek. Neben Pulten für die Folianten mussten also auch zwei Tische so- wie vier kleinere Schränke in der Bibliothek untergebracht werden. Die beiden grossen Tische standen aufgrund ihrer Länge von vier Metern vermutlich längs im Raum. Wegen dieser zusätzlichen Möbel und ihrer Aufstellung blieben pro Wandseite nur vier Wandflächen für die Pulte frei, was die Anzahl acht erklärt. Durch die projektierte Aufstellung wollte der Entwerfer ein einheitliches und praktisches Prinzip der Möblierung verwirklichen, das – obwohl die Bibliothek in einen bestehenden Bau un- tergebracht wurde – dem Bibliothekstypus der Zeit entsprach (Abb. 2.4).

Angekettete Bücher Aus den Abrechnungen geht hervor, wie die Pulte im Detail aussahen und wie die Folianten angekettet wurden. Zwischen Lese- und Regalflächen wurden eiserne Stangen angeschraubt, die mittels eines Schlosses gelöst werden konnten.58 Die Stangen nahmen Ringe auf, an denen Ketten be- festigt wurden, deren andere Ende an Metallplatten mit den Buchdeckeln der anzukettenden Folianten festgemacht wurden. Zunächst wurden 407 kupferne Ketten geliefert,59 bald darauf zusätzliche 50 Stück, um über ei- nen Vorrat für künftige Bucherwerbe zu verfügen.60 Die Ketten kosteten 9 Stuyvers pro Stück, was – hochgerechnet auf die Bibliothek – eine er-

55 Witkam, DZ I, (12. Nov. 1593), Nr. 4234, S. 145; Witkam, DZ I, (7. Dez. 1593), Nr. 200, S. 146–147. 56 Witkam, DZ I, (24. Mai 1595), Nr. 209, S. 154–157, hier S. 155. 57 BAR.C4. Dieser Katalog wird noch ausführlich besprochen. 58 Witkam, DZ I, (9. Aug. 1595), Nr. 5025, S. 158–159, hier S. 159. 59 Witkam, DZ I, (30. Juni 1595), Nr. 210, S 157–158. 60 Witkam, DZ I, (10. Okt. 1595), Nr. 5041, S. 160.

29 Abb. 2.5 Die Platzierung und Anket- tung der Bücher

(Rekonstruktionszeich- nung nach H.J. Witkam, DZ 1, S. 81.)

(Scan aus: Berkvens-Steve- linck 2012, S. 32.)

hebliche Summe ergab. Kleinformatige Bücher gab es schon für weniger Geld als eine solche Kette kostete.61 Die Metallplatten an den Buchrücken hingegen waren sehr günstig, 100 Stück kosteten bloss 3 Gulden und 15 Stuyvers.62 Wohl aufgrund der hohen Preise für die Ketten wurden die Bücher in Leiden auf eine recht ungewöhnliche Weise ins Regal gestellt, nämlich kopfüber und mit ihrem Rücken zum Leser.63 Aufgrund dieser Aufstellung wiesen die Bücher eine kopfüberstehende Signatur auf. Die Metallplaket- te, mit denen die Ketten verbunden waren, befestigte man an der oberen Kante des Rückdeckels und möglichst nahe am Rücken. Aufgrund der umgekehrten Platzierung des Buches musste der Leser es nur herauszie- hen, drehen und auf der Lesefläche platzieren und schon lag es in rich- tiger Orientierung vor ihm. Dieses Vorgehen hatte einen entscheidenden Vorteil: da die Metallöse des Buchs und der Ring der Metallstange nahe beieinander lagen, bedurfte es nur einer sehr kurzen und somit günstigen Kette. Zudem diente dies auch der Handhabung des Buches, konnten so die Ketten doch weniger einfach durcheinander geraten (Abb. 2.5).

Einbände Die Bücher waren also nicht wie auf dem Kupferstich von 1610 mit ihrem

61 Die Kosten für Bucheinkäufe der Leidener Bibliothek in: Witkam, DZ I, S. 86–117. 62 Witkam, DZ I, (24. Mai 1595), Nr. 156, S. 109–111, hier S. 109. 63 Grundlegend dazu: Witkam, DZ I, S. 80–82.

30 Schnitt nach vorne in die Regale gestellt, sondern zeigten den Lesern ih- ren Rücken. Der Kupfersteher wollte hier vermutlich die Bibliothek no- bilitieren, denn aufwändig eingebundene Bücher mit metallenen Klam- mern wurden tatsächlich so verwahrt, hätten diese beim Herausziehen der Bücher doch die Einbände beschädigt. Die Bücher der Leidener Bi- bliothek aber waren keineswegs aufwendig eingebunden, sondern sehr einfach. Es waren meist simple weisse Ledereinbände mit Schnüren statt Klammern zum Schliessen der Bücher. Aufwändig und einheitlich gestaltete Buchumschläge wurden in barocken Wandbibliotheken zum Standard, bildeten sie doch die Raum- hülle, weswegen angestrebt wurde, sie mit dem Mobiliar in Einklang zu bringen. Indessen sah man auch in verschiedenfarbigen Einbänden Vor- teile, konnten so doch die einzelnen Werke leichter ausgemacht werden. So schrieb Sir Thomas Tresham (1534–1604), der einer englischen Kollegi- enbibliothek eine grössere Anzahl Bücher vermachte:

„Likewise for coloring the Leaues etc. The more diuersitye of colou- res and differences, be it in the couerings, false coverings, leaffes or stringes, the better will the same serue for distinguishing between booke and booke, and wthall fitt all other vses so well, as if they had alonely ben of one coloure.“64

Bucheinbände konnten deshalb zwischen den Polen der Repräsentation oder der praktischen Nutzbarkeit der Wissensbestände einer Bibliothek schwanken. Die Leidener Sammlung war primär auf ihren Inhalt aus- gelegt und nicht auf prestigeträchtige Einbände. Vor allem mussten die Einbände wohl günstig sein, was der schwierigen finanziellen Lage der Universität geschuldet war. Das Geld floss somit in die Vermehrung der Wissensbestände und nicht in die Umhüllung der Bücher.

Eine mittelalterliche Bibliothek Die Leidener Bibliothek entsprach in Bezug auf ihr Mobiliar und der Si- cherung des Bestands mittels Ketten ganz dem Typus der Zeit, auch wenn dieses System bereits im Mittelalter erfunden wurde. Noch 1640 wird Jo- seph Furttenbach in seiner Architectura recreationis eine Pultbibliothek für einen fürstlichen Palast vorschlagen,65 in einer Zeit, in der sich bereits die Wandbibliothek als neuer Typus durchsetzte. Erst ungefähr 150 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks kam es durch die einfachere Produktion und den resultierenden Anwachsen der Bestände zu neuen Formen der

64 Zitiert nach: Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries in the Sixteenth Century“, in: Ker 1985, S. 379–436, hier S. 435. 65 Furttenbach 1988, S. 56–57 und Tafel Nr. 18.

31 Möblierung von Bibliotheken. Als Besonderheit muss die stehende Lage der Bücher in einem auf- gesetzten Regal erwähnt werden, in welchem die Bücher zudem kopfüber gelagert wurden. Denn im Mittelalter und bis lange in die frühe Neuzeit hinein besassen die Lesepulte über keine gesonderten Ablageflächen für Bücher. Die handgeschriebenen Kodizes lagen direkt auf den Leseflächen bereit. Solche Lesepulte haben sich in den Niederlanden in Zutphen er- halten. Erst im Laufe der frühen Neuzeit ging man dazu über, zusätzlichen Stauraum zu schaffen, indem man meist unterhalb der Leseflächen Abla- gen einbaute, wo die Bücher aber noch immer liegend und nicht stehend ruhten. Ein Beispiel dafür, das die ursprüngliche Möblierung bis heute behalten hat, ist die Biblioteca Malatestiana in Cesena, welche zwischen 1447 und 1452 durch Matteo Nuti (unbekannt–1470) für Novello Malatesta (1418–1465) errichtet wurde. In Zutphen wie in Cesena laufen die eisernen Stangen, an welchen die Buchketten befestigt wurden, unterhalb der Le- sepulte durch, in Leiden hingegen oberhalb. Was sich ebenfalls bereits im Mittelalter entwickelte, war ein Ver- zeichnis aller in einem Pult verwahrten Bücher. Auch in Leiden wurde dies eingebaut. Damit die Leser die Bücher rasch und einfach auffinden konnten, wurden die Pulte mit Tafeln („berdekens“) versehen, die ein Re- gister aller in einem Pult befindlichen Bücher aufnahmen.66 Damit der Leser das gesuchte Buch auch möglichst rasch und einfach auffinden konnte, bedurfte die Büchersammlung natürlich einer räumlichen Ord- nung. Die Katalogisierung der Bücher wurde denn auch eine dringliche Aufgabe, die es zu lösen galt.

Entwurf einer räumlichen Wissensdisposition

Justus Lipsius erklärt zu Beginn seiner Bibliotheksgeschichte: „BIBLIO- THECA tria significat, Locum, Armarium, Libros.“ 67 Bereits das Wort Bib- liothek zeigt somit die enge Verknüpfung von Raum, Mobiliar und Buch auf, die in Bibliotheken herrscht. Die Architektur einer Bibliothek muss nicht nur den Rohbau und die Möblierung, sondern auch die räumliche Disposition der Bücher berücksichtigen. Der Rohbau muss genügend Licht in die Bücherhalle bringen, das Mobiliar auf die architektonische Hülle abgestimmt sein, dem Leser Komfort ermöglichen und die Bücher sicher verwahren können. Die Bücher bilden gewissermassen die Grund- bausteine einer jeden Bibliothek. Die einzelnen Elemente sind innig mit-

66 Witkam, DZ 1, (24. Mai 1595), Nr. 209, S. 154–157, hier S. 155. 67 Lipsius 1602, S. 9.

32 einander verbunden, in einer Kettenbibliothek sogar wortwörtlich. Die Bücher müssen in ihr nicht nur versammelt und sicher verwahrt, sondern auch dem Leser zugänglich gemacht werden, weshalb sie in eine räumli- che Ordnung überführt werden müssen. Die räumliche Disposition des Wissens ist neben der Erstellung ei- nes Raums und passenden Mobiliars ebenfalls eine architektonische Aufgabe. Es gilt, die Bücher aufgrund verschiedener Faktoren im Raum zu arrangieren. Dabei müssen neben äusseren Kriterien wie der Format- grösse oder der Beschaffenheit des Einbands auch innere Aspekte der Bü- cher berücksichtigt werden. Zudem sollte die Architektur und Systematik einer Bibliothek auch spätere Anschaffungen aufnehmen können, ohne die Ordnung der Bücher zu gefährden. Da eine Bibliothek alle diese Ord- nungskriterien zu berücksichtigen hat, zudem auch auf ihr Mobiliar und ihre bauliche Hülle Rücksicht nehmen muss, sind die resultierenden Lö- sungen immer Kompromisse. In den kommenden Kapiteln sollen diese Problematiken und Lösungen diskutiert werden, wobei im Folgenden auf die Ordnung der Bücher nach inneren Kriterien fokussiert werden soll.

Die räumliche Ordnung von Wissen In mittelalterlichen Bibliotheken wurden die Bücher an die Lesepulte an- gekettet. Die Idee dahinter war in erster Linie natürlich, dass keine Bücher gestohlen wurden. Doch entstand diese Praxis auch aus dem Wunsch ei- nes freien Zugangs zu Literatur. Da die Bücher ja angekettet waren, muss- ten sie nicht in verschlossenen Schränken verwahrt und beim Bibliothe- kar nachgefragt werden, sondern konnten frei durch den Leser aufgesucht werden. Pultbibliotheken sind deshalb Freihandbibliotheken. Damit der Leser die Werke aber auffinden konnte, mussten diese in eine logische und nachvollziehbare Ordnung gebracht werden. Ein Katalog war indes nicht von Nöten, da die Pulte meist über Indizes verfügten, die das Wis- sensgebiet und die verwahrten Werke bekannt gaben, so auch in Leiden. Die Ketten der Bücher sicherten zudem die Ordnung. Die gewünschte Ordnung der Bücher ergab sich in erster Linie aus deren Inhalt. Denn ein Buch ist mehr als ein dingliches Objekt. Die in ihm enthaltene Schrift trägt Informationen, Geschichten, Ideen, Zahlen, Fak- ten oder anderes. Diese innere Welt der Bücher gilt es zu berücksichtigen, möchte man eine Bibliothek in eine verständliche Ordnung überführen. Denn wie sucht und findet man eine Information in einer Bibliothek? Man geht in den passenden Raum, stellt sich vor das Regal mit dem gesuchten Wissensgebiet, findet das gewünschte Werk, schlägt das Inhaltsverzeich- nis auf und blättert zur entsprechenden Seitenzahl. Dann liest man. Die Disposition von Wissen hat somit entscheidenden Einfluss dar-

33 auf, wie leicht in einer Bibliothek ein Werk gefunden und gelesen werden kann. Dennoch sollte eine ordentliche Aufstellung von Literatur mehr ermöglichen, als eine gewünschte Textstelle möglichst schnell und ein- fach zu finden. Der Leser soll vielmehr von „der guten Nachbarschaft der Bücher“, wie Aby Warburg sie definierte,68 profitieren. Beim Aufsuchen ei- nes Werks wird der Leser also – sozusagen im Vorbeigehen – auf weitere Werke hingewiesen, die er vielleicht gar nicht suchte noch kannte, aber von grossem Nutzen für seine wissenschaftliche Arbeit sein könnten. Die Ordnung musste deswegen den Bedürfnissen der Leser angepasst sowie verständlich und nachvollziehbar sein.

Die Ordnung universitärer Büchersammlungen Bibliotheken spiegeln aufgrund der Anordnung der Bücher eine spezifi- sche Auffassung von Wissen wieder. Die Architektur der Bibliothek wird somit selbst zu einem lesbaren Text. Die Wissensgebiete sind dabei natür- lich nicht starr, sondern einem steten Wandel unterlegen, der sich dem Stand des Wissens und der Auffassung von Wissen einer jeden Zeit und eines jeden Trägers anpasst. Bibliotheken zeigen deshalb durch die Auf- stellung der Bücher das Verständnins von Wissenschaften ihrer Erbauer.69 Die Ordnung universitärer Büchersammlungen folgte meist dem Curriculum des Studiums. Universitätsbibliotheken wurden deswegen in die drei Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin eingeteilt, zudem weitere Bereiche für die Grundlagenfächer und die Septem Artes Liberales eingerichtet. Anfänglich waren universitäre Büchersammlun- gen in der Regel noch nicht zentral organisiert und in einem einzigen Raum untergebracht. Vielmehr besass jede Fakultät oder jedes Kollegi- um eine eigene Büchersammlung. Mit der Zeit kristallisierte sich die Bi- bliothek der Artisten oder der Theologen als die bedeutendste Bücher- sammlung heraus und wurde langsam zu einer Zentralbibliothek für die gesamte Hochschule. Dies verdankte sich nach Buzas der Tatsache, dass „die meisten Magister der Artistenfakultät zugleich Studenten der Theo- logie waren, wodurch der Bücherbedarf der beiden stärksten Fakultäten weitgehend identisch war.“70 Später wurden die Büchersammlungen der beiden weiteren Fakultäten – Jurisprudenz und Medizin – in denselben Räumlichkeiten untergebracht, was zu einer einzigen, zentralen Biblio- thek der gesamten Universität führte. Dieser Ursprung allgemeiner Uni- versitätsbibliotheken blieb in der Aufteilung der Wissensgebiete aufgrund der Fakultäten ersichtlich.71

68 Stockhausen 1992, S. 75–90. 69 Duft 1968. 70 Buzas 1975, S. 116. 71 Buzas 1975, S. 116; Milkau, Band III, S. 224.

34 Abb. 2.6 Die erste Skizze der Bib- liothek und der systemati- schen Einordnung der Bü- cher.

(AC1.40, f. 79r)

(Fotografie des Autors)

Erste Skizze der Leidener Bibliothek Aufgrund der innigen Verschmelzung von Buch und Raum musste man sich auch in Leiden schon früh Gedanken darüber machen, wie die Bib- liothek möbliert und die Bücher in eine räumliche Ordnung übertragen werden sollte. Die erste überlieferte Skizze der Bibliothek zeigt diesen Sachverhalt deutlich (Abb. 2.6).72 Aufgezeichnet wurden acht Rechtecke, die in zwei Spalten angeordnet sind. In die Rechtecke wurden verschie- dene Wissensgebiete, Bücher oder Autoren geschrieben. Sie können des- halb sowohl als Plan der Bestückung verschiedener Pulte, als auch als Einteilungen eines Katalogs der Büchersammlung verstanden werden. Es handelt sich gewissermassen gleichzeitig um einen schematischen Grundriss und um einen projektierten Standortkatalog. Diese nehmen – wie der Name schon sagt – starken Bezug zur räumlichen Verteilung der Bücher und verweisen deshalb auf die Architektur der Bibliothek. Die Zeichnung ist somit beides, sowohl Skizze der zukünftigen Einrichtung als auch Entwurf einer räumlichen Wissensordnung, da diese in kohären- ter Beziehung standen, waren die Bücher doch am Mobiliar angekettet. Der erste gedruckte Katalog wird denn auch die Ideen, die in der Skizze enthalten sind, weitgehend übernehmen. Wie wurden die Bestände der jungen Bibliothek in Raum und Kata-

72 AC1.40, f. 79.

35 log verteilt? Den Rechtecken der Skizze wurden verschiedene Wissens- gebiete zugeteilt. Im ersten Rechteck – und somit im ersten Bücherpult – sollte die Heilige Schrift in verschiedenen Ausgaben und Sprachen ver- wahrt werden, mitsamt der dazugehörigen Auslegungen einiger Autoren. Diese Abteilung wurde darüber hinaus mit einem „Aleph“ gekennzeich- net, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Das hebräische Alphabet eignete sich natürlich hervorragend, die theologischen Schrif- ten zu kennzeichnen, wurde doch die Heilige Schrift in diesem Alphabet verfasst. In der linken Spalte folgen in einem zweiten Rechteck – gekenn- zeichnet mit dem zweiten Buchstaben des hebräischen Alphabets, einem „Bet“ – die Werke der Kirchenväter. Das mit einem „Gimmel“ versehene dritte Pult sollte die „Patres, Concilia, Scriptores locorum controversu & communium“ beinhalten. Innerhalb des Bereichs der Theologie wurden also Unterabteilungen erstellt, die von der Bibel über die Kirchenväter zu den Kommentatoren führen und somit einer Chronologie und Wissens- hierarchie folgen. Die Leidener Universitätsbibliothek bezog sich dabei auf einen Kanon der Aufschlüsselung theologischer Literatur, wie er be- reits im frühen Mittelalter definiert und angewendet wurde.73 Mit dem vierten Pult der linken Spalte wird ein Wechsel zu einem anderen Wissensgebiet vollzogen, von der Theologie zur Philosophie. Entsprechend wird dieses Rechteck mit einem Buchstaben eines neuen Alphabets versehen, mit einem kleinen lateinischen „a“, was auf die römi- sche Antike mit ihren Autoren verweist. In diesem Pult sollten die Werke der „Philosophi Graeci & Latini“ verwahrt werden. Dass die Philosophie auf die Theologie folgt, entspricht nicht der damaligen Hierarchie der Wissensgebiete. Die drei Hauptfakultäten der Universität, also die Theo- logie, Jurisprudenz und Medizin, stellten natürlich auch in Leiden die am meisten geschätzten Wissensbereiche dar. Und auch in der projektierten Bibliothek auf der Skizze wurde diese Reihenfolge eingehalten. Denn im ersten Rechteck der zweite Spalte finden wir die Jurisprudenz, welche mit einem grossen lateinischen „A“ gekennzeichnet wurde. Darauf folgt in der zweiten Spalte – und in der Logik der damaligen Hierarchie – die Medizin, deren Rechteck mit einem griechischen „Alpha“ versehen wurde. Nach der Medizin folgen die Grundfächer. Auf die Geschichte – versehen mit einem kleinen „a“ – folgen die Werke der Literatur und Mathematik, ihrer- seits versehen mit einem kleinen, kursivgesetzten „a“. Die beiden letzten Fächer teilen sich einen Pult, was der Möblierung der Bibliothek, die wie- derum Bezug auf den ehemaligen Kirchenbau nahm, geschuldet ist und bereits einen ersten Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit zeigt. Die Hierarchie der Wissensgebiete setzt sich also von oben nach

73 Löffler 2005, S. 26–30.

36 unten durch. Beide Spalten müssen parallel berücksichtigt werden. Die Hauptfächer – Theologie, Jurisprudenz und Medizin – stehen vor den Grundlagenfächern – Philosophie, Geschichte, Literatur und Mathema- tik. Die Disposition des Wissens, der Wissensleiter, vollzog sich deshalb räumlich, von oben nach unten.

Wissensordnung und Studienplan Die Struktur spätmittelalterlicher Bibliothekskataloge – und somit auch die Wissenssystematik – war angepasst an die Fakultäten der Universi- täten. So auch in Leiden. Dort musste zuerst die Lateinschule besucht werden, wo propädeutisches Wissen vermittelt wurde. Latein und Grie- chisch, zudem auch Rhetorik und Logik wurden dort gelehrt, was grob den Sieben Freien Künsten entsprach. Diese waren dem mittelalterlichen Kanon nach in das Trivium und Quadrivium eingeteilt. Das Trivium um- fasste die Fächer Grammatik, Rhetorik und Dialektik, beinhaltete also die Fächer der Sprache. Das Quadrivium hingegen setzte sich aus Arithme- tik, Geometrie, Musik und Astronomie zusammen, Fächer also, die sich der Mathematik widmen.74 Nach einem Zulassungsexamen konnte die Leidener Studenten sich in die Universität einschreiben lassen und die Artistenfakultät besuchen. Nach Abschluss dieser Fakultät mit Prüfung zum „magister in artibus“ konnten die drei höheren Fächer – Theologie, Jurisprudenz und Medizin – studiert werden und anschliessend die Pro- motion zum Doktor angestrebt werden.75 Die entworfene Wissenseinteilung für die Leidener Bibliothek, die später auch ausgeführt wurde, folgt diesem Schema. Die Spitze stellt die Bibel sowie die dazugehörige Exegese und weitere Schriften der Theolo- gie dar. Jurisprudenz und Medizin folgen auf der rechten Seite. Die Artis- tenfächer der Geschichte und Philosophie bilden die Mitte des Wissens- kanons. Dass die Geschichte ein eigenes Pult erhielt, und nicht etwa die Physik, die Ethik oder die Geographie, war wohl dem besonderen Interes- se an diesem Fachgebiet geschuldet, das in Leiden im Zuge des Humanis- mus herrschte. Die Literatur und die Mathematik wurden zu Beginn noch in einem gemeinsamen Pult geplant und standen zuunterst auf der Wis- sensleiter. Sie stehen für das Trivium mit seinen mathematischen sowie für das Quadrivium mit den sprachlichen Fächern. Das Pult verwahrte somit die Literatur der Sieben Freien Künste und stand deshalb zuunterst auf der Wissenshierarchie. Auch in Leiden war diese Einteilung jedoch nicht beständig, sondern wurde im Laufe der Zeit verändert, wie im Zuge der vorliegenden Arbeit aufgezeigt werden soll.

74 Musik wurde im Sinne einer Lehre von Proportionen verstanden und war somit ebenfalls ein Fachgebiet der Mathematik. 75 Zum Studienverlauf der Leidener Universität, siehe: Otterspeer 2000, S. 221–242.

37 papierene Bibliotheken Die Frage nach der Ordnung von Wissen wurde gerade in der frühen Neu- zeit intensiv diskutiert. Der Buchdruck sorgte für eine weite Verbeitung von Literatur. Einen Überblick über die vorhandenen Werke zu wahren, erschwerte sich zusehends. Zudem wurde die Frage nach der Ordnung des Wissens laut, musste man dem Leser doch vermehrt eine Hilfestel- lung reichen, um die Masse an Literatur nicht nur überblicken, sondern auch nutzen zu können.76 Conrad Gesner (1516–1565), der neben bibliothekarischen vor allem auch naturhistorische Interessen hatte, unternahm in der Mitte des 16. Jahrhunderts den Versuch, ein Gesamtverzeichnis aller jemals verfassten Schriften aufzustellen und wählte dazu den Titel Bibliotheca universalis. Er fertigte also eine papierene Bibliothek an. Das Wort Bibliotheca erfuhr in der frühen Neuzeit – neben Raum, Mobiliar und Buchbestand – eine weitere Bedeutung, denn es bezeichnete auch Bücher, die eine Auflis- tungen von geschriebenen Werken beinhalteten. Sie trugen oftmals das Wort Bibliotheca im Titel, konnten aber auch mit Thesaurus, Corpus oder Catalogus überschrieben werden.77 Ein Bibliothekskatalog zeigt ebenfalls eine Auflistung von Büchern, die zwar nicht eine theoretische Idealliste, sondern ein Abbild einer realen Büchersammlung wiedergibt, kann aber dennoch als eine solche papierene Bibliothek verstanden werden. Konrad Gesner wollte also eine Universalbibliothek auf Papier aus- arbeiten, und alle Schriften sollen darin verzeichnet werden. Seine Bib- liotheca universalis ist zweigeteilt. Der erste Teil listet alle Bücher nach alphabetischer Folge der Autorennamen auf, ohne die Thematik der Werke zu berücksichtigen mit dem Ziel, ein Inventar des gesamten über- lieferten Wissens zu erstellen. Die Liste umfasst rund 3000 Autoren und 10’000 Titel. Dabei werden weder Thematik noch andere Kriterien be- rücksichtigt. Die alphabetische Reihenfolge isoliert die Werke von ihren Kontexten, gliedert sie in eine ihnen fremde und nachträglich auferlegte Ordnungssystematik. Der Leser fand dank der alphabetischen Auflistung nur Werke, deren Titel, Inhalt und vor allem deren Autor er zuvor bereits kannte. Die alphabetische Auflistung der Bücher reichte deswegen nicht aus, um dem Leser eine Hilfestellung bei der Suche nach Literatur zu er- möglichen und alle gesammelten Werke zugänglich zu machen. Im zwei- ten Teil seiner Universalbibliothek, den sogenannten Pandekten, gliedert Gesner deshalb die Werke thematisch nach Wissensgebieten. Er verortet das Wissen darin in sogenannte loci communes. Er teilt das Wissen nicht in verschiedene, isolierte zueinander ste-

76 Dies und folgendes nach: Zedelmaier 1992. 77 Siehe dazu: Chartier 1993.

38 Abb. 2.7 Konrad Gesners Aufteilung und Hierarchisierung des Wissens in 21 Bereiche.

(Conrad Gesner, Biblio- theca universalis […] Par- titiones Theologicæ, Pan- dectarum […], Zürich (Froschoverus) 1549, ohne Paginierung.) (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel)

(Donwload: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, http://diglib.hab.de/dru- cke/199-4-theol-2f-2/start. htm?image=00018)

hende Abteilungen auf, sondern erstellt ein ganzes Wissenssystem, indem die einzelnen Fakultäten in Beziehung zueinander stehen, das in einem Baumdiagramm dargestellt wird und die Hierarchisierung von Wissen zeigt (Abb. 2.7).78 Das gesamte Wissen oder die „Philosophia“, die neben den Wissenschaften auch die Künste im Sinne von Fertigkeiten umfasst, wird zunächst in zwei Abteilungen gespalten, wobei die eine das vor- bereitende Wissen („Præparantes“), die andere das wesentliche Wissen („Substantiales“) aufnehmen. Das vorbereitende Wissen wiederum wird in die Glieder „Necessarias“ und „Ornantes“ aufgeschlüsselt. So verfährt Gesner weiter, bis er zu seinen einundzwanzig Wissensbereichen gelangt, die aufgrund des Weges hierarchisiert und bewertet wurden. Den Anfang der Reihe macht die Grammatik, der bezeichnender- weise die Ziffer 1 zugewiesen wird. Denn ohne Grammatik kein Zugang zu weiterem Wissen, ja nicht einmal zu den Texten der Bücher. Sie wird gefolgt von den weiteren Fächern des Triviums, welches durch einen As- pekt der Poesie ergänzt wurde. Im Anschluss daran folgt das Quadrivium.

78 Zu dieser Darstellungsform, siehe: Siegel 2009.

39 Die letzten drei Fächer bilden, dem mittelalterlichen Kanon folgend, die Jurisprudenz, Medizin und Theologie, die mit der Ziffer 21 versehen wur- de. Zwischen den Sieben Freien Künsten und den universitären Haupt- fächern, den „Substantiales“, teilte Gesner das Wissen in unterschiedli- che Teilgebiete ein. So finden wir bei den „Ornantes“ die Wissenszweige der Poesie, die Geschichte, Geographie, und weitere Fachbereiche; sie entsprachen denjenigen Fächern, die zur Erlangung der Magisterwürde Voraussetzung waren. Der Wandel der Klassifizierung von Literatur, wie sie in Leiden unter Heinsius geschah, wird auch im Gliederungssystem Gesners offensichtlich. Denn sie wird bei ihm doch sowohl als Erweite- rung des Triviums wie auch bei den Ornantes eingefügt, weswegen nach Gesner die Literatur mehr ist als eine blosse Notwendigkeit, weswegen sie zweifach verzeichnet wurde. Gesners papierene Bibliothek sollte auch als Grundlage für tatsäch- liche Bibliotheken dienen. Nicht nur konnten durch sein Verzeichnis gewünschte Werke ausfindig gemacht und gesammelt werden, auch die räumliche Ordnung der Bücher konnte aufgrund seines Klassifikations- systems vorgenommen werden. Gesner schrieb selbst in seinem Vorwort, dass man dafür nur die Standorte der Bücher in seiner gedruckten Biblio- thek verzeichnen müsse.79 In der Leidener Bibliothek wurden beide Teile der Bibliotheca universalis verwahrt,80 die Gedanken Gesners waren also bei der Errichtung der Bibliothek bekannt. Auch im nächsten Jahrhundert folgte man grob dieser Einteilung des Wissens, wie sie auch zur Mitte des 16. Jahrhunderts vorherrschte und nach welcher auch die Leidener Bibliothek eingerichtet wurde. So erklär- te Gabriel Naudé (1600–1653) in seiner einflussreichen Schrift Advis pour dresser une bibliothèque von 1627, die beste Art der Aufstellung sei

„celuy qui est le plus facile, le moins intrigué, le plus naturel, vsité, & qui suit les Facultez de Theologie, Medecine, Iurisprudence, Histoire, Philosophie, Mathematiques, Humanitez, & autres, lesquelles il faut subdiuiser chacune en particulier, suiuant leurs diuerses parties“81

Und noch 1702 war diese frühe Ordnung der Leidener Bibliothek noch kei- nesfalls veraltet, denn Friedrich Christian Feustking klassierte das Wissen in seiner Neu-eröfnete Bibliothec von 1702 nach den Abteilungen Theolo-

79 Hans Widmann, „Nachwort zur Neuauflage derBibliotheca universalis“, in: Gesner 1966, S. V. 80 Siehe BAR.C2h, Petrus Bertius, Nomenclator, Philosophi Plvteo „alpha“, S. 69 (nach- trägliche Paginierung). 81 Naudé 1644, S. 131–132.

40 gie, Jurisprudenz, Medizin, Geschichte, Philosophie und Literatur.82

Der räumliche Zugang zu Wissen Nicht nur in der papierenen Bibliothek von Conrad Gesner wurde das Wissen hierarchisiert, sondern auch im Raum der Leidener Bücher- sammlung. Denn in Pultbibliotheken ist der systematische Katalog zu- gleich Standortkatalog, die Hierarchie des Wissens wird deswegen in den Raum übertragen. In der Skizze wie im realisierten Katalog steht die Theologie an oberster Stelle, die Grammatik an unterster. Doch kam es zwischen Katalog und Raum zu einer anderen Abfolge der Wissenszwei- ge. Denn im Katalog wurde die Theologie als erstes Wissensgebiet aufge- führt, im Raum stand sie aber im hintersten Regal. In der gedruckten Wis- sensordnung wird die Theologie daher durch die erste Stelle geehrt, im Raum hingegen durch ihre räumliche Lage als Endpunkt allen Wissens. Das Beherrschen der Grammatik war grundlegend, um die Werke der Bi- bliothek überhaupt studieren zu können. Die Bücher zum Erlernen des Lesens und Schreibens waren dementsprechend gleich hinter der Türe und im Eingangsbereich der Bibliothek eingeordnet worden. Der Leser musste diese Werke passieren, wollte er zu höheren Stufen in der Wis- senshierarchie aufsteigen. Die drei Hauptfakultäten waren den auch am Ende des Raums untergebracht und bildeten die Spitze des Wissens, allen voran die Bibel. Der räumliche Zugang zu den Werken der Bibliothek korrespondier- te also auch mit dem intellektuellen Zugang. Die räumliche Anordnung der Bücher entsprach zugleich dem Curriculum der Universität und so- mit dem zeitlichen Verlauf des Studiums. Die Abfolge wurde im Fachbe- reich der Theologie aber auch gedreht. So stand die Bibel als Ziel am Ende der Bibliothek, doch bildete sie auch die Quelle für Kommentatoren. Die Werke der Kirchenväter und weitere exegetischen Schriften wurden – von ihr gewissermassen ausgehend – in den vorderen Pulten verwahrt.

Die Ordnung auf dem Papier und im Raum Die beiden Teile von Konrad Gesners Bibliotheca universalis zeigen zu- dem ein Hauptproblem auf, nämlich die Frage, nach welchen inneren Kriterien der Bücher diese geordnet werden sollten. Nicht nur waren die thematischen Fachbereiche diskutierbar und passten sich der Zeit an, es gab weitere Kriterien, nach denen die Bücher geordnet werden konnten. Beispielsweise nämlich, wie im ersten Teil der Bibliotheca universalis, alphabetisch nach Autorennamen. Gabriel Naudé empfahl darum, zwei verschiedene Kataloge parallel anzulegen und den einen nach Sachge-

82 Schneider 2000, S. 150.

41 bieten zu ordnen, den zweiten hingegen alphabetisch nach Autoren zu gliedern. Der Zürcher Theologe, Orientalist und Bibliothekstheoretiker Johann Heinrich Hottinger (1620–1667), der einen Ruf nach Leiden erhielt doch kurz nach seiner Abreise ertrank, besagter Hottinger hingegen woll- te die Bibliothek in noch vielfältigere Ordnungen überführen, wie bereits der Titel seines Werks anzeigt. In seinem Bibliothecarius quadripartitus von 1664 forderte er nämlich zur Erstellung folgender Kataloge auf: einem Catalogus chronicus, einem Catalogus logicus, also einem Realkatalog, einem Catalogus theologicus, ferner einem Catalogus grammaticus sive alphabeticus und zu guter Letzt einem Catalogus topographicus.83 Bücher können deswegen nach Sprachen, Zeit und Raum, nach Thema oder reli- giösen Aspekten geordnet werden. Nach Ilse Schunke können systematische Ordnungen von Bücher- sammlungen in drei Hauptgattungen aufgeteilt werden. Zum einen in das wissenschaftliche System, das ein Abbild der Auffassung von Wissen- schaft wiedergibt, den Interessen und Forderungen der Gelehrten folgt und daher eng an den Studienplan geknüpft ist. Konrad Gesner Biblio- theca universalis steht dafür beispielhaft. Als zweite Gattung nennt sie das philosophisch-enzyklopädische System, das deutlich theoretischer und abstrakter ist. Für das Bibliotheks- wesen ist diese Systematik weniger relevant, denn es zeichnet sich durch philosophische anstelle praktischer Ideen aus. Als Beispiel dafür nennt sie die Systematik Francis Bacons (1561–1626), der das Wissen aufgrund menschlicher Fähigkeiten gliedert: Gedächtnis, Phantasie und Verstand bilden bei ihm die Wurzeln allen Wissens, wobei dem Gedächtnis die Geschichte und Naturgeschichte, der Phantasie die Poesie, und dem Ver- stand die Theologie, Physik, Metaphysik, Medizin, Ethik, Logik und Politik zugeordnet werden. Die grundlegende Einteilung nach Bacon findet sich noch im 18. Jahrhundert in der Encyclopédie von Denis Diderot (1713–1784) und Jean Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) wieder. Die dritte Gattung stellt nach Schunke das bibliothekarische System dar, welches sich – im Gegensatz zum philosophisch-enzyklopädischen System – durch einen praktischen Zugang auszeichnet. Die Einteilung des Wissens folgt bei diesen den besonderen Gegebenheiten einer jeden Bi- bliothek und berücksichtigt ihren Bestand ebenso wie ihre Räumlichkei- ten. Neben den inneren Werten der Bücher werden hier also auch äussere Kriterien berücksichtigt. Die Ordnung von Bibliotheken steht deswegen zwischen gedachter Idealordnung und ihrer tatsächlichen Realisierbar- keit im Raum.84

83 Schneider 2000, S. 153, Anmerkung 58. 84 Schunke 1927.

42 Die Ordnung einer Bibliothek stellt somit immer eine Verunklärung gedachter Ideale dar. Ihre Ordnung nach inneren Kriterien der Bücher muss auf die Wünsche ihrer Leser und auf den vorhandenen Bestand ab- gestimmt sein. Auch kann im Raum – im Gegensatz zu Katalogen – nur eine Ordnungsweise durchgängig realisiert werden. Die Bücher können nicht zugleich chronologisch und thematisch auf einem Regal stehen, was auf den vielen Seiten eines papierenen Katalogs geht und wie bespro- chen auch gefordert wurde. Die räumliche und realisierte Anordnung der Bücher nach ihren inneren Werten ist also bloss eine von vielen erdenkli- chen Ordnungen. Wie noch besprochen wird, kann es auch zu Mischun- gen verschiedener Ordnungsschemata kommen. Die Klassifikationsmus- ter konnten nämlich kombiniert und innerhalb einer grösseren Ordnung andere Kriterien für eine Untergruppe gewählt werden. Doch müssen bei der Realisierung gedachter Idealordnungen wei- tere Aspekte berücksichtigt werden, nämlich auch die äusseren Kriterien der Bücher: ihre Formatgrösse, ihre Einbände, ihre Art der Herstellung oder ihre Kostbarkeit, also ihre Beschaffenheit als dingliche Objekte. Zu- dem hatten auch der Raum, seine Möblierung oder der Schutz der Bü- cher vor Diebstahl und anderen Gefahren entscheidenden Einfluss auf die Ordnung der Bücher. Die reale räumliche Verteilung der Bücher muss neben den inneren Werten der Bücher also auch äussere Kriterien be- rücksichtigen, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll.

Wissensdisposition zwischen Ideal und Praxis: Der Nomenclator

Bücher sind nicht bloss Träger von Informationen, die in eine Systema- tik übertragen werden sollen, sondern auch dingliche Objekte. Sie sollen oder können somit auch nach äusseren Kriterien geordnet werden, also beispielsweise nach ihrer Grösse oder nach der Beschaffenheit ihres Ein- bands, ja selbst nach ihrer Farbe oder anderen ästhetischen Kriterien. Ferner können sie auch in Handschriften und Drucke eingeteilt werden, was häufig geschah, um die wertvollen handgeschriebenen Unikate von den günstigeren und in mehreren Kopien erhältlichen Drucken zu tren- nen. Auch der Zeitpunkt der Erwerbung oder der Verlagsort kann als Kri- terium einer Ordnung dienen. Ersterer führt zur Erstellung eines numerus currens. Der Wunsch nach einer möglichst logischen Aufteilung des Buchbe- stands aufgrund innerer Kriterien, also aufgrund einer Idealordnung des Wissens, stand in ständigem Konflikt zu diesen äusseren Charakterzügen der Bücher, die ebenfalls berücksichtigt werden mussten. Die räumliche

43 Ordnung von Bibliotheken stellt deshalb meist einen Kompromiss ver- schiedener Ansätze dar. Nicht zuletzt hat auch die Möblierung der Bibliothek entscheiden- den Einfluss auf die Ordnung der Bücher – und vice versa. In der bespro- chenen Skizze der Leidener Universitätsbibliothek wird dies bereits er- sichtlich, obwohl sie noch ein sehr einfacher und reduzierter Entwurf ist. So mussten sich die beiden Fachbereiche Literatur und Mathematik noch ein Pult teilen, da der Raum nur die Unterbringung von acht Pulten er- laubte, die restlichen Pulte aber bereits bestückt waren. Die Ordnung der Bücher musste somit auch die gegebenen Räumlichkeiten berücksichti- gen.

Überführung der Bücher Das Kuratorium beschloss nach seinem Besuch der Bibliothek am 20. März 1595 nicht nur die Erweiterung des Mobiliars, sondern auch die Be- stückung der Regale.85 Dass die Wendeltreppe des Turms für ein Hoch- tragen der gesamten Büchersammlung denkbar ungeeignet war, wurde bereits im November 1593 erkannt, als beschlossen wurde, die kleinfor- matigen Bände in die Bibliothek zu bringen. Der Zimmermann wurde damit beauftragt, in der Nordwest–Ecke des Bibliotheksbodens eine Luke einzubauen und der Korbflechter fertigte zwei Körbe an, in welchen die Bücher an Seilen in die Bibliothek gezogen wurden.86 Vermutlich wur- de auch das Mobiliar durch diese Luke in die Bibliothek gebracht.87 Die Bibliothek war somit möbliert, die Bücher wurden überführt und nach der besprochenen Skizze eingeordnet. Das Kuratorium beschloss ferner, die eingereihten Bücher in Form eines Katalogs zu publizieren, „die ten dienste van der Universiteyt mogen werden gebruyct“.88 Doch der Druck des Katalogs musste schnell gehen, was sich noch heute an seinem Auf- bau zeigt.

Der Nomenclator Der sogenannte Nomenclator89 – der erste gedruckte Katalog einer ins-

85 Witkam, DZ I, (20. März 1595), Nr. 125, S. 79–80; Witkam, DZ I, (20. März 1595), Nr. 126, S. 80–82. 86 Witkam, DZ I, (12. Nov. 1593), Nr. 4234, S. 145–146; Witkam, DZ I, (7. Dez. 1593), Nr. 200, S. 146–147; Witkam, DZ I, (3. Juni 1595), Nr. 35, S. 157. 87 Solche Luken kamen bereits im Mittelalter Im Kirchenbau zur Anwendung. 88 Witkam, DZ I, (20. März 1595), Nr. 125, S. 79–80. 89 Petrus Bertius, Nomenclator avtorvm omnivm, quorum libri vel manuscripti, vel ty- pis expressi exstant in Bibliotheca Academiæ Lvgdvno-Batavæ: cum epistola de ordi- ne eius atque vsu, Leiden (apud Franciscum Raphelengium) 1595; ein Reprint seiner zweiten und leicht erweiterten Auflage wurde 1995 herausgegeben: Nomenclator: the first printed catalogue of Library (1595), mit einem Vorwort

44 titutionalisierten Bibliothek überhaupt90 – wurde zur Eröffnung der Bi- bliothek am 24. Mai 1595 herausgegeben (Abb. 2.8). Eine zweite und erweiterte Ausgabe erfolgte nur wenige Monate darauf und behandelt bereits deutlich mehr Pulte, Bücher und ergänzende Verzeichnisse.91 Ver- fasst wurde der Katalog nicht durch den Bibliothekar Janus Dousa, der just in diese Moment im Ausland weilte, sondern durch Petrus Bertius (1565–1629), dessen Interessen breit gestreut waren, weswegen er sich als Stellvertreter bestens eignete.92 Gedruckt wurde der Katalog durch in der Universitätsdruckerei in einer Auflage von 625 Exemplaren. Am 17. Juni 1595 erhielt der Drucker und Hebräischprofessor Franciscus Raphelengi- us – der Nachfolger und Schwiegersohn Plantins – dafür 62 Gulden und 15 Stuivers.93 Die Bibliothek umfasste im Jahre 1595 442 Bände.94 Der Nomenclator beinhaltet nicht ein durchgängiges und einheitli- ches Register aller Bücher, sondern mehrere Listen. Denn die erwähnten Probleme in Bezug auf die Disposition nach inneren und äusseren Krite- rien und – damit innigst verbunden – aufgrund des Mobiliars führten in Leiden zu einer Parzellierung des Bestands. Nach einem Vorwort werden im Nomenclator zuerst die grossformatigen Folianten aufgeführt, die den Fakultäten entsprechend in die Pulte geordnet wurden. Es folgt der „In- dex librorum minore formâ in 4to octavo & 16o.“, die Auflistung aller klein- formatigen Werke also, die in den abschliessbaren Schränken gelagert wurden, da ihre geringe Grösse ein Anketten verhinderte. Der Nomenclator übernahm die wesentlichen Aspekte der frühen Skizze. So blieb die Auffächerung der Wissensgebiete bestehen. Im eben- falls zur Eröffnung erschienen Regelwerk der Bibliothek steht, sie sei nach „de verdeelinge der Boecken naer de faculteyten ende consten / volgende de Inventarisen daer van gemaeckt“.95 Die frühe Skizze war somit wohl die Grundlage für die Möblierung und Verteilung der Bücher im Raum, die nun wiederum in Form des Katalogs auf Papier herausgegeben wurde. Die Ausarbeitung eines Katalogs und die Verteilung der Bücher geschah also im Wechselspiel. Im Nomenclator wurde die erzielte Aufstellung der Bücher auf Papier übertragen.

von Ronald Breugelmans und einem alphabetischen Autorenindex von Jan Just Wit- kam, Leiden (Leiden University Press) 1995. 90 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 41; es folgten in den Niederlanden schon bald Katalog der Stadtbibliothek 1608, Katalog der Stadtbibliothek Amsterdam 1612. 91 Datierung wohl kurz nach 11.8.1595. 92 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 1, Sp. 320–323. 93 Ronald Breugelmans, Introduction, in: Nomenclator. The First Printed Catalogue of Leiden University Library (1595), Leiden (Leiden University Press) 1995, unpagi- niert. mit Verweis auf: Witkam, DZ I, S. 111–112. 94 Nach Berkvens-Stevelinck 2012, S. 25. 95 Die sogenannte Ordonnantie in lesbarer Qualität abgedruckt in Hulshoff-Pol, S. 408, Abb. 7.

45 Abb. 2.8 Titelblatt des ersten ge- druckten Katalogs einer Universitätsbibliothek.

(BAR.C2h, Nomenclator)

(Fotografie des Autors)

Die in der ersten Skizze bereits präsente Idee, im Katalog die Wissens- gebiete und in der Bibliothek die Pulte mit Buchstaben aus verschiedenen Alphabeten zu kennzeichnen, wurde angewendet. Es kam dabei jedoch zu kleinen Veränderungen: Die Medizin trat das griechische „Alpha“ den Philosophen ab und erhielt im Gegenzug das lateinische kleine „a“, was auch durchaus sinnvoll war, lagerten dort doch deutlich mehr Schriften, die in Griechisch verfasst waren. Die „Litteratores“ beanspruchten die Frakturschrift. Das hinzugefügte Pult der Mathematik – in der Rangfolge vor der Literatur stehend, die deswegen den Anfang macht – erhielt das grosse A einer niederländischen Civilité-Schrift. Diese Schriftart war ge- wissermassen die Druckschrift der niederländischen Umgangssprache. Die Mathematik wurde somit als praktisches Handwerk gekennzeichnet. Parallel dazu sollte in der zukünftigen Ingenieursschule – der sogenann- ten „Niederländischen Mathematik“ – , der Unterricht in praktischer Ma-

46 thematik ebenfalls in der geläufigen Umgangssprache, dem Niederländi- schen, stattfinden.

Pulte und ihre Bücher Die räumliche Lage der Bänke wird aus dem Nomenclator nicht ersicht- lich. Sie muss jedoch bekannt sein, um die Verteilung des Wissens inner- halb der Bibliothek rekonstruieren zu können. Im Falle der Leidener Bi- bliothek können wir glücklicherweise auf andere Quellen zurückgreifen, um die Disposition der Bücher zu ermitteln: Zum einen die erste Skizze der Bibliothek, zum anderen der Kupferstich von Woudanus, der mit- tels der Beschriftung der Pulte anzeigt, wie die Pulte und Fachgebiete im Raum lagen. Da die Signaturen der Bücher eindeutige Bezeichnungen von Stand- orten haben, nämlich immer der Buchstabe für das Pult, die Nummer für die Lage an der Kette, kann die Bibliothek zumindest für die auf den Bän- ken ausliegenden Folianten bis ins kleinste rekonstruiert werden. Etwas anders verhält es sich wohl mit den kleinformatigen Büchern. Sie wer- den im Nomenclator in die verschiedenen Wissensbereiche eingeteilt. Vermutlich wurden innerhalb des abschliessbaren Schrankes jeweils ein oder mehrere Regalbretter einzelnen Fachgebieten zugeordnet und diese Regalbretter mit den Wissensgebieten beschriftet. Da uns hier aber eine bildliche Quelle fehlt, wie auch die Nummerierung der einzelnen Bücher, können wir keine Aussage zur Lage der einzelnen Werke machen. Fraglich ist, über wieviele Pulte die Bibliothek damals verfügte. Denn die Mathematik und die Literatur wurden in zwei verschiedenen Abtei- lungen abgehandelt. Dem Katalog zufolge standen also 9 Pulte im Raum, doch zeigt die Abrechnung des Schreiners einen anderen Sachverhalt auf. Denn es wurden zunächst nur acht Pulte geliefert, kurz darauf vier wei- tere. Wie noch gezeigt wird, reichten die Pulte nämlich schon bald nicht mehr aus, um den anwachsenden Bestand aufzunehmen. Später würden dreizehn Pulte verzeichnet werden, also noch immer eines mehr, als aus den Abrechnungen des Schreiners hervorgeht. Es ist deswegen denkbar, dass sich die Mathematik und die Literatur noch immer ein Pult teilten, dieses aber im Katalog als zwei selbstständige Einheiten ausgegeben wurde. Eine Verwahrung zweier Wissensgebiete in nur einem Pult hätte zwangsläufig zu Problemen der Klassifizierung und Katalogisierung so- wie möglicher späterer Erweiterungen geführt. Innerhalb der Pulte wurden die Bücher nicht nach einem weiteren und durchgehenden Ordnungskriterium eingeräumt, denn sie wurden weder thematisch, noch nach Autorennamen oder nach anderen durch- gehenden Kriterien geordnet. Doch wurde zumindest im Fachbereich der Medizin versucht, die Werke desselben Autors nebeneinander zu stellen,

47 beispielsweise die verschiedenen Tierbücher Conrad Gesners.96 Zudem wurden besonders wertvolle oder relevante Werke an erster Stelle aufge- führt. Im Pult der Medizin finden wir dort Vesalius De humani corporis fabrica – wohl kein Zufall, war das anatomische Theater der Universität doch gleichzeitig erstellt worden wie die Bibliothek.97 Im ersten Pult der Theologie wurde die durch Plantin herausgegebene und durch Wilhelm von Oranien der Bibliothek vermachte Biblia Regia verwahrt.98 Dass in- nerhalb der Pulte die Bücher nicht nach einem nachvollziehbaren System eingeordnet wurden, lag wohl an dem noch bescheidenen Buchbestand, der auch ohne eine solche Subordnung leicht überschaubar blieb. Diese erste Ordnung der Bücher wird – aufgrund der Ketten und den verteil- ten und auf den Buchrücken vermerkten Signaturen – noch für viele Jahre gültig bleiben. Nach den Folianten werden im Nomenclator die kleinformatigen Bände aufgeführt. Diese wurden in den abschliessbaren Schränken an den Stirnseiten der Bücherei verwahrt, da sie durch ihre geringe Grö- sse nur schwierig an Pulte hätten angekettet werden können. Die Ka- talogisierung dieser kleinformatigen Bände berücksichtigte wiederum die Einteilung nach denselben Fakultäten, die auch bei den Pulten zur Anwendung kamen. Doch kam es auch hier innerhalb dieser Einteilung zu keiner weiteren Ordnung der Bücher aufgrund innerer Kriterien. Sie sind weder alphabetisch, noch thematisch geordnet. Doch wurden zu- meist die Quart- vor den Oktavformaten aufgelistet, was auf die Art und Weise der Verstauung im Regal hinweist, verfügten diese doch über drei Regalflächen, die wohl unterschiedlich hoch waren, um die Bücher mög- lichst platzsparend und nach Grösse geordnet aufnahmen, was auch ein späterer Katalog bezeugt.99 Der Buchbestand der Leidener Bibliothek wurde somit in mehrere Teile aufgespalten und in verschiedenen Möbeln verwahrt. Es war in ers- ter Linie das äussere Kriterium der unterschiedlichen Formatgrösse, das dazu führte. Die Büchersammlung konnte deswegen also weder im Raum noch im Katalog in eine durchgehende und schlüssige Einheit überführt werden. Der Nomenclator wurde daher vielmehr zu einer Auflistung verschiedener Verzeichnisse, gewissermassen zweier Kataloge in einem Band, mit oftmals derselben Auffächerung des Bestands in dieselben Wissensgebiete. Es kam also zum Konflikt zwischen der gedachten Ideal- ordnung und ihrer Umsetzung in die Realität, da das Buch als physisches Objekt ebenfalls Ansprüche geltend machte.

96 BAR.C2h, Nomenclator, S. 53 (nachträgliche Paginierung). 97 BAR.C2h, Nomenclator, S. 53 (nachträgliche Paginierung). 98 BAR.C2h, Nomenclator, S. 13 (nachträgliche Paginierung). 99 Witkam, DZ I, (24. Mai 1595), Nr. 209, S. 154–157, hier S. 155; BAR.C4.

48 Zugang zum Wissen In der Forschung wurde die Frage formuliert, weshalb überhaupt ein Ka- talog gedruckt wurde. Denn die Titel der in den Pulten untergebrachten Bücher konnten auch ohne Katalog gefunden werden, wiesen die Pulte neben dem Wissensgebiet doch auch Inhaltsangaben auf. Jedes Pult war mit einem Index versehen, der das Wissensgebiet und die Bücher erfass- te, der Buchrücken zeigte neben der Signatur auch den Titel und Autor. Der Leser fand durch die klar ersichtliche räumliche Ordnung der Bü- chersammlung auch ohne Katalog das gewünschte Werk. Der Grund für den Druck eines Katalogs lag – neben repräsentativen Aspekten, die sicherlich auch eine Rolle spielten, wie spätere Dokumente belegen – in der Aufteilung des Bestands. Denn die kleinformatigen Bän- de waren in einen Schrank gesperrt und deswegen weder visuell ersicht- lich noch frei zugänglich. Ein Katalog war also – zumindest für die klein- formatigen Werke – zwingend von Nöten. Die Aufteilung der Buchbestände hatte somit Auswirkungen auf die praktische Nutzbarkeit der Bibliothek. Der Katalog wie auch die Samm- lung waren zweigeteilt. Der Leser musste also jeweils beide Sektionen durchkämmen, wollte er wissen, ob ein Werk in den Pulten oder den ab- geschlossenen Schränken vorhanden war. Zudem wiesen die kleinforma- tigen Werke einen anderen Grad an Zugänglichkeit auf, als die angekette- ten Bände. So musste die Bücher nicht bloss zuerst im Katalog aufgesucht werden, sondern auch der Schrank aufgeschlossen werden. Der Leser benötigte also einen Schlüssel zu diesen Schränken oder musste eine Person darum bitten, sie aufzuschliessen. Er konnte nicht einfach an ein Regal laufen und das gewünschte Werk konsultieren. Kleinformatige Bücher fanden deswegen wohl weniger Beachtung. Sie wurden damals ohnehin grundsätzlich als weniger relevant und wich- tig erachtet, als ihre grossformatigen Gefährten. Der erschwerte Zugang zu ihnen half aber nicht, sie in den Fokus zu rücken. Die aus praktischen Nöten erzwungene Zweiteilung der Bibliothek liefert aus all diesen Grün- den ein Beispiel dafür, dass die Einrichtung einer Bibliothek durchaus Einfluss auf das Leseverhalten hat und über diesen auch auf die Aneig- nung und Produktion von Wissen.

Die Vermehrung des Bestands im Raum und Katalog

Die zur Eröffnung mit Büchern bestückten Pulte reichten schon bald nicht mehr aus, um den schnell anwachsenden Buchbestand aufzunehmen. Das Kuratorium wünschte sich deswegen bereits vor der Eröffnung der

49 Bibliothek vier zusätzliche Pulte.100 Neben dem Mobiliar musste auch der Nomenclator erweitert werden, wozu er nur wenige Monate nach seinem ersten Druck eine zweite Auflage erfuhr. Die zwei verschiedenen Auflagen des Nomenclators ermöglichen zu rekonstruieren, wann welche Bücher in die Bibliothek gelangten. Dazu muss der Katalog als drucktechnisches Endprodukt verstanden und seine einzelnen Bestandteile detailliert un- tersucht werden, um den Druckprozess rekonstruieren zu können. Aufgrund der steten Bestandsvermehrung sollte die räumliche Dis- position der Bücher einer Bibliothek so angelegt sein, dass auch zukünf- tige Werke, die in die Bibliothek gelangen, leicht in die vorhandene Wis- sens- und Ordnungssystematik eingeordnet werden können. Auch die Leidener Bibliothek hatte von Beginn an damit zu kämpfen, wie ihr Kata- log bezeugt. Den bereits zur Eröffnung der Bibliothek gestaltete sich die räumliche Disposition der verschiedenen Bücher äusserst komplex. Die Probleme der Verstandsvermehrung kamen noch hinzu.

Die Bestückung der Regale und der Druck des Nomenclators Jede Lage eines Buches ist unabhängig druckbar, so auch beim Nomen- clator. Dies wurde bei der Herstellung des Katalogs genutzt, um vermut- lich möglichst rasch und parallel zur Einrichtung der Bibliothek einen Katalog drucken zu können. Vermutlich wurden die Bücher anhand der ersten Skizze in die verschiedenen Regale eingeordnet, dann verzeichnet und diese Zusammenstellungen dem Drucker gebracht. Dieser druckte die Teilverzeichnisse meist auf eine gesonderte Lage, die später zu einem ganzen Katalog zusammengebunden wurden, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die erste Lage A des Nomenclators umfasst auf drei Bögen den Ti- tel und den ersten Teil des Vorworts. Die folgende Lage B, bestehend aus zwei Bögen, beinhaltet den Rest des Vorworts sowie den Pluteo „Aleph“ und den ersten Teil des Pluteo „Bet“. Die nächste Lage C besteht aus zwei Bögen aus dickerem Papier und behandelt ebenfalls das zweite Pult der Theologie. Die nächste Lage D besteht wiederum aus zwei Bögen und beinhaltet den Rest des Pultes sowie den ganzen Pluteo „Gimmel“; die beiden letzten Seiten bleiben leer. Da diese ersten Lagen sowohl das Vor- wort als auch alle plutei der Theologie umfassen, wird ersichtlich, dass diese ersten vier Lagen zusammen konzipiert und gedruckt wurden. Die Verzeichnisse der verschiedenen Pulte werden ohne Unterbruch auf den einzelnen Seiten und Lagen fortgeführt, erst zum Schluss kommt es zu aus dem Druckprozess resultierenden Leerseiten.

100 Witkam, DZ 1, (20. März 1595), Nr. 126, S. 80; Witkam, DZ 1, (24. Mai 1595), Nr. 209, S. 154–157.

50 Das nächste behandelte Wissensgebiet, die Jurisprudenz, wurde auf einer separaten Lage E gedruckt, welche nur einen Druckbogen um- fasst, wobei nur die ersten zwei Seiten bedruckt wurden, die letzten zwei hingegen leer blieben. Die gleiche Systematik gilt auch für die Lage F, in der die Bücher der Medizin verzeichnet sind und ebenfalls zwei Leersei- ten beinhaltet. Die Bücher zur Geschichte folgen in der Lage G, die zwei Druckbögen umfasst und eine Leerseite am Ende besitzt. Die Werke der Philosophen folgen in Lage H, welche zwei Druckbögen umfasst und zwei Leerseiten aufweist. Die Bücher der Mathematik hingegen finden wiede- rum auf nur einem Druckbogen der Lage I Platz, wobei bloss zwei der vier Seiten benötigt wurden. Es folgen die „Litteratores“, die ebenfalls auf einem Druckbogen und auf nur zwei Seiten verzeichnet werden konnten. Die anschliessende Lage L listet alle kleinformatigen Bücher aller Wis- sensgebiete auf. Es wird daraus ersichtlich, dass anscheinend zu Beginn noch der Versuch unternommen wurde, einen durchgängigen Katalog ohne Leer- seiten zwischen den Lagen anzufertigen, denn das Vorwort und die Ti- tel der Theologie wurden kombiniert gedruckt. Danach aber weisen die einzelnen Lagen jeweils nur noch ein Wissensgebiet oder Pult auf, oder behandeln kleinformatige Bände sowie die Werke der Universitätsange- hörigen. Bezogen auf die Räumlichkeiten der Bibliothek kann man sagen, dass die gedruckten Lagen eine enge Verbindung mit dem Mobiliar der Bibliothek eingehen: Die Lagen verzeichnen in der Regel jeweils die Wer- ke, welche in einem spezifischen Möbel der Bibliothek gefunden werden konnten. Dieser fragmentierte Aufbau des Katalogs resultierte deswegen durch den Ablauf, in welchem die Bibliothek und ihre plutei mit Büchern bestückt und handschriftlich katalogisiert wurde, nämlich Wissensgebiet für Wissensgebiet oder Möbelstück für Möbelstück. Diese einzelnen Ver- zeichnisse konnten dann dem Drucker gebracht werden, der den Katalog daraufhin nach und nach, Lage für Lage, druckte. Die einzelnen Lagen können als eigenständige kleine Heftchen verstanden werden, die jeweils ein Wissensgebiet beschreiben. Der Katalog ist dadurch – ganz wie die Bibliothek – eine Ansammlung verschiedener Wissensteile zu einem zu- sammenfassenden Ganzen. Die Aufteilung der Buchproduktion in einzelne Abschnitte, die nachträglich zusammengebunden wurden, war usus der Zeit. Bände be- standen oftmals aus verschiedenen Werken, einzelne Werke ihrerseits vielmals aus einzelnen sogenannten Büchern, die natürlich wiederum auf gesonderte Lagen gedruckt wurden. Bereits im Mittelalter, als Bü- cher noch von Hand geschrieben wurden, nutzte man dieses Vorgehen. So wurde beispielsweise das Anfertigen einer Kopie eines Werks in ver-

51 schiedene Abschnitte geteilt, wobei verschiedene Schreiber (sogenann- ten stationarii101) für einzelne Teile zuständig waren. Die Produktionszeit konnte so entschieden verkürzt werden. Die resultierenden Lagen wur- den erst danach zu einem Buch zusammengebunden.102

Erweiterung des Katalogs und des Mobiliars Die beiden Auflagen desNomenclators verweisen auf eine Grundprob- lematik aller Bibliotheken: Sie haben immer mit dem Anwachsen ihrer Buchbestände zu kämpfen und versuchen durch Erweiterung der Re- galfläche dieses Problem zu lösen. So auch in Leiden. Die Erweiterung musste jedoch innerhalb der zuvor vorgenommenen Möblierung und innerhalb der Systematik des Katalogs von statten gehen können. Wis- sensordnung, Katalog und Möblierung der Bibliothek mussten also einen Aufbau vorweisen, der in sich erweiterbar war. Die Beschriftung der ver- schiedenen Pulte mittels Buchstaben verschiedener Alphabete machten diese ebenfalls leicht erweiterbar. Denn wurde ein zusätzliches Pult in ei- nem Bereich benötigt, konnte es einfach mit dem folgenden Buchstaben des passenden Alphabets gekennzeichnet werden, ohne das die anderen Pulte neu beschriftet werden mussten. Aus der Abrechnung des Schreiners wird ersichtlich, dass die ur- sprüngliche Planung mit acht Pulten bereits vor der Eröffnung der Bib- liothek als nicht ausreichend erachtet wurde, weswegen vier weitere ge- nau gleich grosse Pulte geliefert wurden.103 Denn zwei Monate vorher, am 20. März 1595, stattete das Kuratorium der werdenden Bibliothek einen Besuch ab und beschloss, „datmen mitten eersten meerder bancken zal doen maecken“.104 Die zusätzlichen Pulte seien aber nicht bloss für die vorhandenen Bücher notwendig, sondern auch für solche, die später hin- zukommen würden. Das Kuratorium spricht gar von eingeplanten Freif- lächen, die später belegt werden sollten – in dieser Voraussicht hatten sie bereits vorher einen Vorrat an Ketten angelegt. Denn ein Problem, mit dem jede Bibliothek zu kämpfen hat, ist die stete Vermehrung des Buch- bestands und damit einhergehend, eine stete Raumnot. Das Kuratorium tat also gut daran, von Anfang an genügend Raum für Bücher bereitszu- stellen. Geliefert wurde deswegen vier zusätzliche Pulte, die Bibliothek ver- fügte somit über zwölf Möbel für Folianten. Zwei davon hatten keine Sitz-

101 Stationarii waren unter der Kontrolle der frühen Universitäten stehende Lohn- schreiber, die Schriften meist lagenweise, schnell und kostengünstig vervielfältig- ten. 102 Buzas 1975, S. 141. 103 Witkam, DZ I, Nr. 209 (24. Mai 1595), S. 154–157, hier S. 155. 104 Witkam, DZ 1, Nr. 126 (20. März 1595), S. 80–82, hier S. 80.

52 bänke, was auf die beginnende Raumnot in der Bibliothek verweist. Sie standen zuvorderst im Raum, also nahe dem Eingang, vermutlich, weil dort aufgrund der nahen Tische keine Sitzbänke angebracht werden konnten.105 Ein weiteres Problem ergab sich durch die Aufstellung zusätz- licher Pulte. Sie mussten in den Raum verschoben werden, durften sie doch nicht unmittelbar an die Fenster stossen, um mögliche Witterungs- einflüsse zu verhindern. Wie auf dem Kupferstich von 1610 zu erkennen ist, stehen die Pulte tatsächlich im Raum und überdecken den freien Blick auf den Kamin just um dieselbe Distanz, wie sie von der Wand weggerückt wurden. Was der Kupferstich hingegen falsch darstellt, ist die Höhe der Fensterlaibungen. Sie waren deutlich tiefer. Hier wollte wohl der Künstler keine Überschneidung von Fensterflächen und Mobiliar darstellen, wes- wegen er die Laibungen über die Höhe der Pulte anhob.106 Die architekto- nische Einheit des Raums wurde also bereits zur Eröffnung der Bibliothek durch die Erweiterung von Buchbestand und Möblierung beeinträchtigt.

Die zweite Ausgabe des Nomenclators Da in der Regel jede Lage des ersten Katalogs jeweils ein Fachgebiet um- fasste, dieses jedoch meist auf wenigen Seiten aufgeführt werden konn- te, entstanden wie besprochen vielerorts Leerseiten. In der Forschung wurden diese als eingeplanter Raum für künftige Erweiterungen inter- pretiert.107 Tatsächlich war es üblich, Leerseiten in Arbeitsexemplare von Bibliothekskatalogen einzubinden, wie es auch in Leiden in kommenden Kopien des Bibliothekars der Fall sein wird.108 Doch scheinen die Leersei- ten im Nomenclator eher ein in Kauf genommenes Resultat des Druck- prozesses zu sein, die später aber tatsächlich für Erweiterungen genutzt werden konnten. Im Falle der Theologie, wo im Katalog mehr Platz benötigt wurde, als auf den letzten beiden Leerseiten vorhanden war, wurde eine zusätzli- che Lage gedruckt und eingebunden. Darin werden die neu hinzugekom- menen Bücher der Theologie sowie ein ausführlicher Index zum Werk Monumenta s. patrum orthodoxographa aufgeführt. Die Lage weist eine

105 „waer van de twee voorste, die sonder bancken zijn“, Witkam, DZ I, (24. Mai 1595), Nr. 209, S. 154–157, hier S. 155; Witkam ging davon aus, dass sie bei den Wandflä- chen des Kamins standen, weswegen er annahm, die Sitzbänke eines Pults würden für die Konsultation der Bücher des nächsten Pults genutzt werden, was aber auf- grund der Abstände zwischen den Pulten kaum realistisch erscheint. 106 Falls die Fenster tatsächlich so hoch gelegen hätten, hätte die spätere Wandbiblio- thek deutlich einfacher und effizienter eingerichtet werden können, hätten doch die Wandregale durchgehend unterhalb der Fenster Platz gefunden (siehe Kapitel Wan- bibliothek). 107 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 35. 108 Für Beispiele der Leidener Bibliothek siehe BAR.C4, BAR.C5, BAR.C6 oder BAR.C7; zudem weiter unten.

53 falsche Beschriftung auf, wurde sie doch nach der Lage D eingebunden und müsste deshalb als Lage DD und nicht mit CC beschriftet sein [FN, Hulshoff-Pol]. Diese Möglichkeit der Erweiterung mittels zusätzlicher Lagen war von Beginn an gegeben, umfasste doch jede in der Regel nur ein Wissensgebiet. Die Verzeichnisse neuer Pulte konnten auf separate Lagen gedruckt, an der gewünschten Stelle eingefügt und der Katalog da- nach zusammengebunden werden – analog also, wie die Bestückung des Raums mit neuen Pulten vonstatten ging. Eine zweite Möglichkeit der Erweiterung fand ebenfalls Anwendung, nämlich die Veränderung einzelner Lagen. Dabei wurden sie in der Dru- ckerei jedoch nicht neu gesetzt und gedruckt, sondern wohl auf bereits gedruckte Bögen zurückgegriffen, deren leergebliebene Restseiten ge- schickt genutzt wurden: Auf diese wurden kleine Blätter eingeklebt, auf denen die zusätzlichen plutei und Bücher verzeichnet werden konnten (Abb. 2.9). Am 11. Oktober 1595 wurde an den Buchdrucker Thomas Bas- son (1555–1613) ein kleinerer Lohn ausbezahlt, weil er nicht nur die Er- gänzungen druckte, sondern auch dabei half, verschiedene „appendix stucken te snijden en te helpen pappen“.109 Es ist somit denkbar, dass die zweite Auflage desNomenclators nicht durch Raphelengius gefertigt wur- de, sondern durch besagten Thomas Basson. Er zog bald nach der Grün- dung der Universität nach Leiden, in Erwartung besserer Einkünfte und leistete für die Universitätsbibliothek viele Dienste.110 Dies geschah in den Wissenbereichen der Jurisprudenz, der Geschichte und der Philosophie, die alle einen zusätzlichen Pluteus erhielten und über genügend Leersei- ten verfügten, um die eingeklebten Papiere aufzunehmen.

die Erweiterung des Mobiliars Analog zum Katalog konnte auch das Mobiliar der Bibliothek relativ ein- fach erweitert werden. So fanden einige Bücher Platz in bereits vorhande- nen Pulten und wurden entsprechend einfach hinter die letzten Bücher eingeordnet. Da die Bücher von Beginn an eine Laufnummer erhielten, die ihre Aneinanderreihung fixierten, war es nur schwer möglich, Werke zwischen dem Bestand einzugliedern. Auch die Ketten stellten sich ei- nem einfachen Eingliedern in den Bestand in den Weg. Die Leidener Bib- liothekare begnügten sich also damit, die neuen Werke einfach zuhinterst einzugliedern, was zu einer Aufstellungspraxis führte, in welcher die Bü- cher nach Erwerbsdatum geordnet und mit einer Laufnummer versehen waren. Hier half der Verzicht auf eine systematische Einordnung der Bü- cher innerhalb der Regale. Da sie weder thematisch, noch alphabetisch

109 Molhuysen 1905, S. 15, mit Verweis auf Dachbouc, 10. Oktober 1595. 110 Hoftijzer/Ommen 2008, S. 83.

54 Abb. 2.9 Eine Seite des Nomencla- tors mit nachträglich einge- klebter Ergänzung, die hier Bücher des alten und neu- en Pultes behandelt.

(BAR.C2h, Nomenclator)

(Fotografie des Autors)

eingereiht waren, kam es nicht zum Problem, dass Bücher inmitten beste- hender Reihen eingeordnet werden mussten. Der Verzicht auf eine Ord- nung ermöglichte es, die Bücher einfach nach Erwerbdatum zuhinterst ins Regal stellen zu können. In der zweiten Auflage des Nomenclators fin- den wir denn auch solche Ergänzungen innerhalb bestehender Pulte.111 Zudem konnten weitere Pulte einfach in den Raum gestellt werden, ganz so, wie im Katalog einfach neue Lagen gedruckt werden konnten. Auch betreffend der Pulte bot die Verwendung der Alphabete eine logi- sche und einfache Erweiterbarkeit. Denn da jedes Fachgebiet über ein besonderes Alphabet und dadurch über eine eigene Unterordnung ver- fügte, konnten Pulte nicht bloss am Ende der ganzen Sammlung hinein- gestellt werden, sondern auch am Ende eines jeden Fachgebiets. Jedes

111 Beispielsweise BAR.C2h, Nomenclator, S. 69 (nachträgliche Paginierung).

55 Fachgebiet war gewissermassen eine Bibliothek en miniature und des- halb unabhängig von den anderen Wissensgebieten frei erweiterbar. Die verwendeten Alphabete boten also neben memorativen oder symboli- schen Aspekten auch eine praktische Grundlage der Bestückung und Er- weiterung des Mobiliars. In den Akten der Universität finden sich noch weitere Angaben zu Erweiterungen des Mobiliars. So bestellte der Bibliothekar Paulus Merula (1558–1607),112 Janus Dousas Nachfolger, zwei weitere plutei,113 deren Kauf das Kuratorium im November 1598 beschloss.114 Im August 1601 sowie im November 1601 benötigte Merula nochmals je zwei Pulte.115 Anschei- nend wurden jeweils zwei Pulte gekauft, ein weiterer Hinweis darauf, dass die Bibliothek wohl immer über zwei identische Pultreihen verfüg- te, die angegebene Anzahl Pulte im Nomenclator also nicht der tatsäch- lichen Möblierung entsprach. Die wachsenden Buchbestände machten natürlich auch den Kauf von zusätzlichen Ketten notwendig,116 mussten die neuen Bücher doch ebenfalls gesichert werden. Weitere Ankäufe von Pulten wurden nach Merulas Tod und durch das Kuratorium nicht ver- zeichnet. Neben dem Kupferstich von 1610 werden auch die kommenden Kataloge zeigen, dass die Anzahl der Pulte beständig wuchs, solange der Bibliotheksraum noch freie Flächen aufwies. Danach musste eine neue Lösung gefunden werden, die noch besprochen wird. Der neuaufgelegte Nomenclator listet zudem zwei weitere Bücher- sammlungen auf, die besonders verzeichnet wurden. Das erste zusätzli- che Verzeichnis, welches auf der Lage M gleich hinter den kleinforma- tigen Bänden ihren Platz fand, listet alle Werke auf, die durch Leidener Professoren oder der Universität nahestehende Gelehrte verfasst wurden. Durch die besondere Erwähnung und Aufstellung dieser Bücher wollte man nicht nur den Gelehrten eine Reverenz erweisen, sondern auch den Ruf der Universität steigern. Der Nomenclator hatte zur Aufgabe, die- sen medial in der ganzen Welt zu mehren, listete er doch nicht bloss die gutausgestattete Büchersammlung der Leidener Bibliothek auf, sondern auch die publizierten Erkenntnisse der Gelehrten der Universität. Analog zu diesen Werken wurden schon bald zahlreiche Portraits in der Biblio- thek aufgehängt, die neben internationalen vor allem Gelehrte der Lei- dener Universität zeigten. Das zweite Verzeichnis listet all jene Werke auf, die der Universität durch Donationen vermacht wurden.

112 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 2, Sp. 902–904. 113 Hulshoff Pol 1975, S. 447 (Appendix B, Memorandum II, Punkt 1). 114 AC1.20, f. 53v. 115 Hulshoff Pol 1975, S. 449 (Appendix B, Memorandum VII, Punkt 5 sowie Appendix B, Memorandum VIII, Punkt 4, S. 449). 116 Hulshoff Pol 1975, S. 449 (Appendix B, Memorandum VII, Punkt 3).

56 Verschiedene Alphabete und der Gang ad fontes

Die unterschiedlichen Alphabete, die den verschiedenen Pulten und Wis- sensgebieten zugeteilt wurden, eigneten sich hervorragend für die Erwei- terung von Mobiliar und Katalog. Zudem gaben sie dem Leser eine Hil- festellung beim Memorieren von Literatur und deren Standorten. Doch neben diesen praktischen Aspekten verwiesen sie auch das grundlegende Wesen von Bibliotheken, übten also auch auf symbolischer Ebene eine Funktion aus.

Sprachwissenschaftliche Forschung in Leiden In der frühen Neuzeit setzten es sich die Forscher zur Aufgabe, möglichst originalgetreue Editionen der überlieferten Werke zu erarbeiten. Es wurde erkannt, dass Texte im Laufe der Zeit korrumpiert wurden und fehlerhaft waren. Gerade Übersetzungen stellten zwangsläufig eine Gefahrenquelle dar. Der Theologe und Orientalist Johann Heinrich Hottinger (1620–1667) meinte zur Originalsprache: man trinke das Wasser am sichersten an der Quelle.117 Es waren also verschiedene Sprachen und Schriften zu erler- nen, wollte man das überlieferte Wissen möglichst originalgetreu studie- ren. Zudem wurden immer wieder fremdsprachige Texte entdeckt, die zuvor unbekanntes Wissen enthielten. Anthony Grafton schreibt über das Interesse an verschiedenen Spra- chen: „Etymology, and the history of languages in general, was one of the most fashionable sub-disciplines of sixteenth-century scholarship.“118 Die Wertschätzung für die vielfältige Sprachlandschaft der Welt war vor allem in den protestantischen Länder gern gesehen. In katholischen Ländern hingegen setzte man primär auf Latein, hatte also ein eher monolingu- ales Verständnis.119 Das Interesse an fremden Alphabeten und Schriften war auch innerhalb der Leidener Universität weit verbreitet. So erforsch- te Bonaventura Vulcanius (1538–1614)120 ausgestorbene Sprachen und ihre Schriftzeichen, beispielsweise diejenige der Goten oder die Hiero- glyphen.121 Bei seiner Arbeit wurde er vermutlich durch Joseph Justus Scaliger unterstützt.122 Dieser untersuchte ebenfalls die gotische Spra- che, zudem aber auch „Samaritaans en Ethiopisch, en was een pionier

117 Aloys Bömer, „Von der Renaissance bis zum Beginn der Aufklärung“, in: Milkau/ Leyh 1931–1942, Band 3, S. 286–462, hier S. 366. 118 Anthony Grafton, Joseph Scaliger. A Study in the History of Classical Scholarship, Ox- ford 1983, Band 1, S. 117, zitiert nach: Hal 2010, S. 389. 119 Hal 2010, S. 392. 120 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 10, Sp. 1143–1145. 121 siehe dazu: Hal 2010; sowie Dekker 2010; Ommen/Cazes 2010, Nr. 34, S. 120–123, Nr. 35, S. 123–125 sowie Nr. 41, S. 141–143. 122 Hal 2010, S. 398.

57 op het terrein van de papyrologie en de vergelijkende taalwetenschap.“123 Besonderes Interesse hatte Scaliger für die Geschichte der Menschheit, die er bis zu ihren Anfängen rückdatieren wollte.124 Jacobus Golius’ (1596- 1667)125 Interesse an Mathematik und Astronomie zwang ihn, die arabi- sche Sprache zu erlernen, um an die Erkenntnisse orientalischer Autoren in diesem Wissensbereich zu gelangen, die er empirisch auf der durch ihn errichteten Sternwarte überprüfen und ergänzen konnte. Der Anatom Otto Heurnius (1577–1652),126 der zeitweilige Präfekt des anatomischen Theaters, stellte eine Mumie in die anatomische Sammlung. Diese wies eine Inschrift in Hieroglyphen auf und auch er wollte dieses Zeichensys- tem „dekodieren“, um an das aufgeschriebene Wissen zu kommen. In Leiden führten die vielfältigen Forschungsinteressen der Profes- soren zum Aufbau verschiedener Spezialsammlungen innerhalb der Bi- bliothek. Scaliger vermachte ihr seine Sammlung wertvoller und seltener orientalischer Manuskripte. Und Golius’ Interesse an arabischen Schrif- ten hatte den Aufbau einer orientalischer Sammlung zur Folge. Es lagen also tatsächlich Werke in verschiedensten und möglichst originalgetreu- en Sprachen in der Bibliothek bereit, wie es die Schriften andeuten. Das Interesse an fremden Sprachen war also zur Zeit der Druckle- gung des Katalogs und der Einrichtung der Bibliothek in Leiden vorhan- den und führte wohl zur Verwendung dieses Systems. Die verschiede- nen Buchstaben verwiesen deshalb auf die wissenschaftliche Ideale und Praktiken, wie sie an der Leidener Universität gefunden werden konnten.

Verlorenes Wissen Die mannigfachen Buchstaben deuteten aber auch auf die Vielfalt an Sprachen der Menschheit. Diese nahm nach der biblischen Überlieferung mit Babel ihren Anfang.127 Das Motiv und die Erzählung waren in Leiden bekannt. Gerade in der nordeuropäischen Malerei war zum Ende des 16. Jahrhunderts der Turmbau zu Babel ein beliebtes Bildmotiv, das auf die menschliche Hybris verwies, ein Thema, das im anatomischen Theater mittels verschiedener Objekte gezeigt wurde. Ein Kupferstich des Turm- baus zu Babel wurde dort durch Otto Heurnius aufgehängt (Abb. 2.10). Die biblische Erzählung des Turmbaus und der folgenden Sprachverwir- rung gab anlass zu ethnologischen, linguistischen, historischen und an- deren wissenschaftlichen Untersuchungen. Es wurde angenommen, dass

123 Otterspeer, Band 1, S. 207. 124 Grundlegend zum Thema: Grafton 1983–1993. 125 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 10, Sp. 287–289. 126 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 4, Sp. 747–748. 127 Zu Babel, siehe: 1. Mose 11; zudem im Neuen Testament: Apg 2.6. Flavius Josephus schrieb ca. 100 n.Chr. eine erweiterte Darstellung und Interpretation, welche für das Mittelalter entscheidend war.

58 vor der Sprachverwirrung alle Menschen in derselben Sprache redeten, Abb. 2.10 die zudem noch Elemente der göttlichen Ursprache, die Adam mit aus Der Turmbau zu Babel und die darauf folgende Sprach- dem Paradies nahm, enthielt. Das Interesse an historischen Sprachen lag verwirrung. Kupferstich, auch darin begründet, dass man durch sie näher an die göttliche Sprache der im anatomischen Thea- ter ausgestellt wurde. Adams und somit näher an das göttliche Wissen kam.128 Denn mit der Ur- sprache ging auch das Urwissen verloren. Die Geschichte des Turmbaus (Entworfen durch: Karel van Mander; Kupferstich verwies daher wie die Erzählung des Garten Edens vom Verlust von Wis- von: Zacharias Dolendo; sen, der aus der Ursünde resultierte.129 Das anatomische Theater und der Gedruckt durch: Jacob de Gheyn II.; Herausgegeben botanische Garten verwiesen durch ihre Gestaltung und den gezeigten durch: Willem Jans und Objekten ebenfalls auf diese Ideen, wie noch besprochen wird. Willem Jansz. Blaeu; 1597– Eine zusätzliche Serie von Kupferstichen des anatomischen Theaters 1600.) veranschaulichte die menschlichen Zeitalter, wie sie durch die Autoren (Download: Rijksmuseum der griechischen und römischen Antike – Hesiod, Ovid und andere – be- Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-1889-A-14189.) schrieben wurden. Die darin geschilderte Geschichte der Menschheit führte von einem paradiesischen Urzustand, dem Goldenen Zeitalter, ausgezeichnet durch Treue und Gerechtigkeit und ewigem Frühling, in die Zeit der Autoren, dem Eisernen Zeitalter, das durch Trug, Schuld und Krieg geprägt war.130 Sowohl die biblische Geschichte wie auch die ge-

128 Jorink 2010, S. 60. 129 Siehe dazu: Bennett/Mandelbrote 1998, besonders S. 103–106. 130 Hesiod, Werke und Tage, Zeilen 106–201; Ovid, Metamorphosen, Kapitel 3.

59 nannte Erzählung antiker Autoren schilderten somit einen paradiesähn- lichen Urzustand der Menschheit, der verloren ging. In der biblischen Er- zählung kamen mit der Vetreibung aus dem Paradies Krankheit und Tod in die Welt, zudem harte Arbeit und Schmerzen. Wissensideale der frühen Neuzeit verwiesen oftmals auf die Anfän- ge der Menschheit, wo Adam das göttliche Wissen mit aus dem Paradies nahm. Doch ging dieses Wissen, die prisca scientia, im Laufe der Ge- schichte langsam verloren und wurde nicht überliefert wurde. Die erwähnten Geschichten erzählten die Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft, die der Verlust von Wissen, Tugenden und Mo- ral zur Folge hatte. Die Aufgabe des Überlieferns von Erkenntnis ist aber just diejenige aller Bibliotheken. Auch wenn die Geschichte Babels nicht ungeschehen gemacht werden konnte, so wurde dank der Bibliothek zu- mindest der Versuch unternommen, Texte aller Sprachen an einem Ort zu versammeln, um die zersplitterten Teile des Wissens wieder zusam- menzubringen.

Wissen zusammentragen und verwahren Vor dem sicheren Verwahren von Wissen müssen Bibliotheken dieses natürlich zuerst einmal zusammentragen. In der frühen Neuzeit wollte man diese Aufgabe auch auf dem Papier erfüllen. Den Anfang machte Conrad Gesner, der seiner Auflistung aller bekannter Werke den Namen Bibliotheca Universalis gab. Weitere solcher Büchersammlungen folgten, die oftmals auch eine Geschichte der Menschheit darstellten. So ordne- te John Bale (1495–1563) seine Auflistung 1548 chronologisch und hatte nichts anderes zum Ziel, alle Werke „per omnes aetates a Iapheto san- ctissimi Noah filio, ad annum domini M.D.XLVIII“ aufzuführen.131 Auch Georgius Koenig unternahm einen solchen Versuch und schrieb seine Bi- bliotheca Vetus et Nova, in der Werke aller Herren Länder und Sprachen aufgelistet wurden und zwar „à prima Mundi origine ad Annum usq; M.DC.LXXIIX.“ Es wurde somit zumindest ideell angestrebt, alles Wissen seit der Zeit der Vertreibung aus dem Paradies zusammenzutragen. Der Glaube an eine paradiesische Ursprache und ein ebensolches Wissen war in der frühen Neuzeit ein bestimmendes Motiv in der Literatur zur Biblio- theksgeschichte. Die Kennzeichnung der Bibliothekspulte mit Buchstaben verschie- dener Sprachen war somit mehr als eine praktische Hilfe. Sie machte die Bibliothek zu einem lesbaren Zeichen, das auf die Arbeitspraxis und die vielfältigen Werke verwiesen, die in ihr gefunden werden konnten. Fer- ner verwies sie auf die Geschichte der Menschheit, auf die Suche nach

131 Chartier 1993, S. 42.

60 ursprünglichem Wissen und auf die Gefahren, die Hybris und der Verlust der Überlieferung bargen. Die antike Gedächtniskunst – ars memoriae oder Mnemotechnik ge- nannt – machte sich auch erdachte Architekturen zu Nutze, in die das zu memorierende Wissen räumlich verteilt und in ihr gedanklich erschlos- sen werden konnte. Durch diese Methodik ging das Auswendiglernen einfacher und effektiver von der Hand.132 Eine Bibliothek kann als reales Modell der Mnemotechnik verstanden werden, ordnet sie das Wissen doch ebenfalls räumlich an. Die räumliche Ordnung der Bücher ermög- lichte somit nicht bloss ein rasches Auffinden, sondern auch ein Aneig- nen der vorhandenen Literatur eines jeden Fachbereichs. Die Bestückung der Pulte mit Buchstaben verschiedener Alphabete eignete sich hervor- ragend dazu, da sie es den Studenten ermöglichte, die Standorte und In- halte der Pulte mit einem grafischen Symbol in Verbindung zu bringen. Die Benutzer konnten dadurch besser memorieren, wo welche Bücher eingeordnet waren. Später diskutierte man gar, ob die Pulte mit kleinen Portraits von stellvertretenden Gelehrten aller Wissensgebiete versehen werden soll- ten, was eine zusätzliche Hilfe beim Auffinden eines Buches gegeben hät- te.133 Die Verknüpfung des Antlitzes von Autoren mit ihren Werken, also von Portraits und Büchern, war ein gewünschtes Ideal von Bibliotheken der frühen Neuzeit, das noch besprochen wird.

Ein Büro und ein Kamin

Im Sommer nach der Eröffnung der Bibliothek standen laut der Rech- nung des Tischlers zwölf und laut dem Nomenclator dreizehn Pulte in der Bibliothek. Zudem die vier Schränke, die die kleinformatigen Bände oder die Werke der Leidener Gelehrtenwelt beinhalteten und vermutlich an den Stirnseiten der Bibliothek standen. Auch die zwei grossen Tische, die bereits sehr früh geliefert wurden, befanden sich wohl noch immer in der Bibliothek. Auf ihnen standen wohl die beiden Globen der Bibliothek. Doch kamen schon bald weitere Ausstattungen hinzu.

Das studiolo des Bibliothekars Petrus Bertius wünschte sich im Vorwort des Nomenclators nicht nur Bil- der und Globen für die Bibliothek, sondern auch ein Studierzimmer für den Bibliothekar, welches somit zur Eröffnung der Bibliothek noch fehl-

132 Yates 1966. 133 Hulshoff Pol 1975, S. 416, zudem S. 446–448 (Appendix B, I, item 2a und Appendix B, V, item 7).

61 te.134 Es muss bereits bald darauf errichtet worden sein und findet das ers- te Mal unter der Präfektur Merulas in den Akten Erwähnung.135 Das Büro lag vermutlich an der westlichen Stirnseite der Bibliothek und wird im Kupferstich von 1610 nicht gezeigt. Der Kupferstich zeigt uns nämlich nur vier der sechs Fenster der Bibliothek, wodurch offensichtlich wird, dass der gesamte Eingangsbereich nicht dargestellt wurde. Vermutlich nahm das Büro die Breite eines Joches ein, da es ja über ein Fenster verfügen musste, und war somit ungefähr vierzehn Quadratmeter gross. Er benutzte diesen Raum, um darin spezielle und vor allem kostba- re Werke zu versammeln. Dazu dienten ihm auch zwei Schränke, die an der Nordseite des Büros standen.136 Die Werke der Leidener Universitäts- bibliothek wurden also auch aufgrund ihrer Seltenheit und Kostbarkeit geteilt und in besonderen Schränken verwahrt. Das Büro diente wohl zu- dem als Rückzugsort des Bibliothekars. Es war wahrscheinlich der Raum, in dem die Neuanschaffungen registriert und in Arbeitskataloge verzeich- net wurden. Ferner wollte Merula kurzzeitig die Globen in diesem Büro schützen, was ihm aber aufgrund der Nachfrage nach ihnen verwehrt blieb.137 Das Büro bestand zunächst nur aus Trennwänden. Die raren Werke waren nicht sonderlich gut geschützt, denn über diese Wände wurde ver- botenerweise hinübergeklettert. Merula forderte deswegen beim Kurato- rium eine Überdachung seines Kontors, was gutgeheissen und eingebaut wurde.138 Dies war vermutlich dem Umstand geschuldet, dass die Biblio- thek zumindest anfangs zu jeder Tages- und Nachtzeit und nicht nur zu den Amtszeiten des Bibliothekars durch die Studenten besucht werden konnte, da viele von ihnen kopierte Schlüssel besassen. Unter der Präfek- tur von Daniel Heinsius (1580–1655)139 war die Bibliothek hingegen meh- rere Jahre lang geschlossen und stand nach ihrer Wiedereröffnung nur noch in Anwesenheit von Überwachern offen. Heinsius benutzte dabei die Schreibstube und die angrenzenden Schränke noch immer wie sein

134 BAR.C2h, Petrus Bertius, Nomenclator, Letzte Seite Vorwort, S. 12 (nachträgliche Pa- ginierung). 135 Zum Büro des Bibliothekars: Hulshoff Pol 1975, S. 420–421. 136 Untertitel seines handschriftlichen Katalogs: „Register van alsulcke Boucken ende andere dinghen in de welcke beneffens eenighe groote stucken (als sijn Biblia Re- gia, Thalmud Babylonicum, Bibliotheca Patrum, Oceanus Iuris ende dierghelijcke) voornamelick bestaet de weerdigheyd van de Bibliotheque opghericht tot behouff ende gherijff van de professoren ende de lidtmaten van de Univesiteyt in de Stadt Leyden; meest al bestedet, ende berustende aldaer off het Cantoor off in de twee Cassen aen de Noordsijde van het voors. Cantoir.“ in: Rariorum Biblioth. Acad. Lud- gdun. Catalogus, BAR.C3, S. 1 (nachträgliche Paginierung); Transkribiert in Huls- hoff Pol 1975, S. 454, Anmerkung 127. 137 Hulshoff Pol 1975, S. 448 (Appendix B, VI). 138 Siehe dazu: Hulshoff Pol 1975, S. 447 (Appendix B, II). 139 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 2, Sp. 554–557.

62 Vorgänger Merula, um darin wertvolle und noch nicht verzeichnete Wer- ke zu lagern. In seinen Bibliothekskatalogen werden diese Werke denn auch unter eigenen Rubriken verzeichnet.140 Scheinbar aber baute er zwi- schenzeitlich die Überdeckung des Büros aus, vielleicht um es heller zu machen. Denn im Mai 1632 bat er das Kuratorium um die Finanzierung einer neuen Abdeckung, um sein Arbeitszimmer vor Staub zu schützen – was nicht gerade für die Sauberkeit der übrigen Bibliothek spricht.141 Mit dem Umbau der Bibliothek zu einer Wandbibliothek wurde wohl auch das Büro aufgegeben. Wir finden keine weiteren Nachrichten darüber in den Akten und auch in späteren Katalogen wird es nicht mehr erwähnt.

Der offene Kamin, oder: Feuer in Bibliotheken Die Bibliothek der Leidener Universität verfügte über eine doch relativ selten in Büchersammlungen anzutreffende Besonderheit: einen offenen Kamin. Die erste Bibliothek in der Gewölbekammer wurde als „zu feucht und rheumatisch“ empfunden. Feuchte führte aber nicht nur zu körper- lichen Umwohlsein und schränkte deshalb ihre Benutzbarkeit ein, son- dern war zudem auch schädlich für Bücher, weswegen die geschlossenen Schränke von Bibliotheken häufig durch luftdurchlässige Drahtgeflechte ersetzt wurden.142 Die Möglichkeit der Bibliotheksnutzung in der frühen Neuzeit war neben den politischen Aspekten der Zugänglichkeit auch abhängig von natürlichen Gegebenheiten, insbesondere Licht und Wärme waren ent- scheidende Faktoren. Reichten die naturgegebenen Umstände nicht aus, musste auf Feuer zurückgegriffen werden, was die Büchersammlung un- mittelbar einer Gefahr aussetzte, denn Bücher sind brennbar. In erster Linie wurde natürlich genügend Licht benötigt, um die Bü- cher lesen zu können. Des Nachts kamen teilweise Kerzen zum Einsatz. So empfahl Humbertus de Romanis (um 1195–1277), der ein einflussrei- ches Traktat zu den Aufgaben eines Bibliothekars schrieb, „Kerzen für nächtliche Studien“ an der Hand zu haben.143 Doch meist waren diese strengstens verboten, beispielsweise in der Bodleian Library in Oxford, in deren Gesetzen Bodley explizit untersagt, jegliche Flamme in die Biblio- thek zu bringen. Die Öffnungszeiten richteten sich deshalb dem natürli- chen Stand der Sonne und waren im Sommer anders als im Winter.

140 „ALII LIBRI RARIORE, MAXIMA EX PARTE IN LITERIS. FERE omnes magnorum virorum manu annotati, & conscripti: qui iuxta Musæum servantur“ sowie „LIBRI QVI IN MVSEO HACTENVS DISPOSITI FVERVNT“, im Katalog: Heinsius 1623, S. 113, und S. 146; die erste Rubrik auch in: Heinsius 1640, S. 142. 141 AC1.22, f. 80r (12. Mai 1632). 142 Diese Regale hatten auch den Vorteil, dass die Bücher sichtbar blieben, siehe: Hane- butt-Benz 1985, S. 108. 143 Romanis 1978, S. 50.

63 Abb. 2.11 Neben dem Licht war die Wärme ein nicht zu unterschätzendes Kupferstich der Bibliothek, Kriterium für die Benutzbarkeit einer Bibliothek. Im Laufe der Neuzeit 1610. wurden an bestehende Bibliotheken oftmals kleinere und beheizbare Le- (Kupferstich von Willem seräume angebaut. Ulrich Johannes Schneider argumentiert gar, dass der Isaacsz. van Swanenburg nach einer Zeichnung von Lesesaal just hier seinen Ursprung fand, weil man den beheizten und so- Jan Cornelisz. van 't Woudt mit feuergefährdeten Saal des Lesens doch vom Ort des Verwahrens der und herausgegeben durch 144 Andries Clouck, 1610.) Bücher trennen musste. Die Gefahr, welche Feuer für Bibliotheken darstellte, war auch den (Download Rijksmuseum Leidener Professoren selbstverständlich bewusst. Lispius schrieb – wie Amsterdam, Objektnum- mer: RP-P-1893-A-18092.) Petrarca vor ihm – über die Feuersbrunst, welche die Alexandrinische Bi- bliothek in kürzester Zeit zerstörte und erklärte: „O thesaurum, sed in re æternâ non æternum!“145 Sein Leidener Kollege Bonaventura Vulcanius verfasste ein kleines Gedicht darüber, wie er einst in Spanien ein Feuer in- nerhalb einer Bibliothek zu löschen vermochte.146 Der Bibliothekar Pau- lus Merula war gegenüber einer möglichen Feuersbrunst gelassener ein-

144 Schneider 2010, hier vor allem S. 160–164. 145 Lipsius 1602, S. 12. 146 Ommen/Cazes 2010, Nr. 43, S. 146–148, hier S. 147.

64 gestellt, in Sachen Komfort jedoch wollte er keine Abstriche hinnehmen. Er empfand auch die neue Bibliothek in der Beginenkirche noch immer als zu feucht und erbat deshalb das Kuratorium, „etlicke tonnen turffs“ zu kaufen, also ein Brennstofflager für die Bibliothek anzulegen, um „somwi- jlen aldaer te vueren ende vochtigheyt te weeren zoo veel meugelick is.“147 Dass das Anlegen eines Brennstofflagers in einer Büchersammlung keine so gute Idee war und die Bibliothek durch den offenen Kamin akut ge- fährdet war, erkannten die Kuratoren spätestens nach einem Grossbrand im Akademiegebäude im November 1616. Sie inspizierten danach die Bi- bliothek und stellten fest, dass diese nicht nur über einen offenen Kamin, sondern auch über eine grössere Menge an Torf verfügte und ordneten an, dass das gelagerte Brennmaterial sofort weggeschafft werden müsse. Zudem verboten sie jegliches Feuer innerhalb der Bibliothek. Von nun an war keine Flamme, nicht einmal eine brennende Kerze mehr in der Bib- liothek erlaubt. Ferner durfte die Bibliothek nur noch durch persönlichen Einlass des Bibliothekars betreten werden.148 Die Bibliothek war somit im Winter wieder unbeheizt und kalt, was zu erheblichen Einschränkung in ihrer Nutzbarkeit während dieser Monate führte. Die angrenzenden Räume der Anatomie sowie der Fechtschule mit- samt der Niederdeutschen Mathematik wurden hingegen nicht inspiziert oder mit Beschlüssen versehen. Das Theater, welches bloss durch eine re- lativ dünne Mauer von der Bibliothek getrennt war und selber über wert- volle Exponate verfügte, wurde danach denn auch weiterhin beheizt.149 1627 überlegte man sich gar, im Keller der Anatomie ein Brennstofflager zu errichten.150 1648 war der Kamin des anatomischen Theaters noch im- mer in Gebrauch und blieb es vermutlich auch.151

Zur Zierde der Bibliothek: Globen, Karten und Portraits

Bereits die Bücher und ihre Aufstellung machten den Leidener Biblio- theksraum zu einer lesbaren Architektur. Und auch wenn ein bekanntes Diktum besagt, dass die schönste Zierde der Bibliothek ihre Bücher seien – die jedoch niemals nur als blosse Dekorationselemente gesammelt wer- den sollten – und deshalb weitere Dekorationselemente obsolet wären, so fand man schon früh in Bibliotheken Ausschmückungen, die ihr beson-

147 Hulshoff Pol 1975, S. 446–447, (Appendix B, I, Punkt 5), hier S. 447. 148 Bronnen II, (22. Nov. 1616), S. 73. 149 AC1.22, (21. Nov. 1629), f. 11v; AC1.24, (8. Juni 1648), f. 99r–99v; zudem Huisman 2009, S. 46. 150 AC1.22, (21. Nov. 1627), f. 11v. 151 AC1.24, (8. Juni 1648), f. 99r–99v.

65 deres Wesen unterstrichen.152 Dazu gehörten neben wissenschaftlichen Instrumenten vor allem auch Portraits oder Büsten berühmter Autoren der Geschichte. Auch in Leiden war dies der Fall. Petrus Bertius erwähnt denn auch in seinem Vorwort zum Nomenclator, welche Elemente zur Zierde der Bibliothek er sich wünscht:

„Superest vt de augendâ eâ ornandàque, de legibus ferendis, de Ta- bulis Cosmographicis, Sphæris, imaginibus doctoru atque illustrium virorum (nam hæc veterum Scholarum & Bibliothecarum ornamen- ta olim fuisse testes sunt Eumenius Rhetor, & in Epistolis suis ad At- ticum M. Tullius [Cicero]) deque Musæo Bibliothecarij maturè des- piciatis.“153

Tatsächlich zierten alle gewünschten Gegenstände – Abbildungen von Gelehrten, Globen und Karten – schon bald darauf den Leidener Bücher- raum. Manche der geforderten Objekte waren indes bereits vor der Pub- likation des Nomenclators im Besitz der Bibliothek. Auf dem Kupferstich von 1610 sieht man diese Objekte neben den Lesern, den Pulten und den Büchern. Doch wieso fanden sie ausgerechnet innerhalb von Bibliothe- ken ihren Platz? Und waren sie blosses Dekorum oder auch von prakti- schem Nutzen?

Globen Globen gehörten zur Standardausstattung frühneuzeitlicher Bibliothe- ken.154 Sie wurden meist paarweise, bestehend aus einem Himmels- und einem Erdglobus, aufgestellt. Im Kupferstich von 1610 werden links und rechts im Bild je ein Globenpaar gezeigt. Sie flankieren die Bildränder und rahmen durch ihre zeittypische symmetrische Anordnung den Wis- senskosmos innerhalb der Pulte ein. Ihre Inszenierung auf vielen Dar- stellungen von Bibliotheken des 16. und 17. Jahrhunderts, wo sie meist symmetrisch oder an zentraler Lage gezeigt werden, verdeutlicht, dass sie neben der Funktion als wissenschaftliche Instrumente auch symbolische Bedeutung hatten, denn sie verwiesen auf die Wissenswelten innerhalb der Bücher. Doch nicht bloss im Innern schmückten Globen Bibliotheken. Auch am Aussenbau von Bibliotheken waren sie ein häufiges Sujet. So setzte beispielsweise der Architekt Hermann Korb (1656–1735) seiner Biblio- theksrotunde (1705–1713) in Wolfenbüttel einen Globus auf; der Wissens- kosmos der elliptisch angeordneten Buchregale im Inneren scheint sich

152 Schreiner 1975. 153 Bertius 1595, f. B2v. 154 Warncke 1992.

66 um diesen zu Drehen. Auch bei der Wiener Hofbibliothek (1722–1737) von Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656–1723) zieren zwei Globen das Dach und zeigen bereits im Aussenbau dem städtischen Publikum den Wissenschatz, der in ihren Räumen verwahrt wird. Globen waren aber mehr als blosse Symbole. Ihre Verwendung als wissenschaftliche Objekte ist ebenfalls im Kupferstich von 1610 darge- stellt. Das Globenpaar zur Linken findet nämlich die Beachtung zweier Gelehrter. Die schützende Haube wurde bei einem der Globen abgenom- men und auf den Tisch gelegt. Die Männer betrachten den Globus einge- hend und diskutieren mögliche Erkenntnisse, was durch ihre Gestik un- terstrichen wird. Die passenden Instrumente dazu – ein Lineal und einen Zirkel zum Ausmessen von Längen, Winkeln oder Flächen – liegen auf dem Tisch bereit oder sind bereits im Einsatz. Globen waren in Bibliotheken also nicht bloss ihrer symbolischen Wirkung wegen beliebt, sondern auch als wissenschaftliche Instrumen- te. Sie konnten dabei anderes als Bücher. Sicherlich nicht zufällig hat der Künstler ein weiteres Abbild der Welt ins Bild gesetzt: Im ersten Pult der Historici – wo tatsächlich geografische Folianten verwahrt wurden – sieht der Betrachter ein aufgeschlagenes Buch, das auf der gezeigten Doppel- seite eine Weltkarte ausbreitet. Doch sobald die Erdkugel oder die Him- melssphäre auf flaches Papier übertragen wird, gehen wichtige Informa- tionen verloren. Karten sind entweder winkel- oder längentreu, nie aber beides, eine Fähigkeit, die den Globen vorbehalten bleibt. Auch stellte sich schon früh die Frage, welcher Erdteil im Mittelpunkt der Karte liegen soll, was Kartographen dazu zwang, stets mehrere Karten in ihren Atlan- ten abzudrucken.155 Geographische Karten stehen somit gewissermassen für die Grenzen der Fähigkeiten von Büchern. Sie erlaubten aber im Ge- gensatz zu Globen, die Welt in verschiedenen Massstäben und somit Ge- nauigkeitsstufen oder Detailgraden darzustellen. Nicht zuletzt aufgrund der Hinwendung zur tatsächlichen Welt im Zuge der Renaissance wurden Globen so beliebte Bibliotheksstücke. Himmels- und Erdgloben waren bereits in der Antike bekannt, doch ka- men in Europa während des Mittelalters nur Himmelsgloben zur Anwen- dung. Die beiden ältesten Himmelsgloben im deutschsprachigen Raum befinden sich noch heute in einer Bibliothek, in der Büchersammlung von Nikolaus von Kues (1401–1464) in Bernkastel; einen Erdglobus besass er indes nicht.156 Denn die Kugelgestalt der Erde blieb zwar im Bewusst- sein der Menschen, doch wurde die Welt im Mittelalter bevorzugt als Ab- bild der biblischen Geschichte dargestellt, wozu sich Karten besser eigne-

155 Krogt 1993, S. 23–24. 156 Muris/Saarmann 1961, S. 43.

67 ten. Sie sind also vielmehr narrative Darstellungen der Schöpfung Gottes und der biblischen Geschichte. Erst in der frühen Neuzeit wurde die Erde objektiviert.157 Das Bild der Erde erfuhr daher eine ähnliche Entwicklung hin zum Beschreibenden und empirisch Überprüfbaren wie die Naturge- schichte oder die Medizin. Mit der Wiederentdeckung der Geographia von Ptolemaeus und den einsetzenden Forschungsreisen kam es Ende des 15. Jahrhunderts zur Produktion von Erdgloben in Europa. Durch die Seefahrt und Entde- ckungsreisen erfuhren Globen ein grosses Interesse. Auf ihnen wurden die neuentdeckten Erdteile oder Sterne, aber auch Handelsrouten oder exotische Tiere und Pflanzen gezeichnet, wie sie auch in den Naturali- ensammlungen der Universität und gar dem Sternenhimmel gefunden werden konnten. Sie spielten zudem auch eine grosse Rolle im Aufbau des Welthandels, waren also auch von ökonomischer und politischer Be- deutung, weswegen das Interesse an Globen primär von Politikern und Händlern ausging und nicht von Gelehrten.158 Es ist deshalb nicht ver- wunderlich, dass die Niederlande mit ihrem weiten Handelsnetz und den dadurch erhaltenen Informationen um 1600 die Führung in der Produkti- on von Globen an sich rissen.159 Die Leidener Bibliothek verfügte von Beginn an über ein Globen- paar, das zunächst in der bescheidenen Gewölbekammer aufgestellt wurde. Am 28. Oktober 1588 wurde Geld gesprochen, um für 73 Gulden 1 Stuyver und 4 Pfenninge je einen Erd- und einen Himmelsglobus für den Gebrauch der Universität zu kaufen.160 1609 erhielt die Bibliothek das Globenpaar aus dem Nachlass Joseph Justus Scaligers.161 Sie ruhten auf dem Schrank mit den durch Scaliger nachgelassenen Schriften, wie auch im Kupferstich gezeigt wird. Dass die Globen in so unerreichbarer Lage verwahrt wurden, was ihre freie Nutzung verhinderte, zeigt die enge Ver- bindung des Nachlasses. Auch zu dieser Privatbibliothek gehörte also ein Globenpaar, weswegen die Manuskripte und Globen auch später, um den Sammlungszusammenhang nicht zu gefährden, gemeinsam verwahrt wurden. In einem handgeschriebenen Arbeitskatalog von 1607 verzeichnete Merula alle Globen und Sphären, die damals in der Bibliothek zu sehen waren.162 Sie umfasst sechs Einträge. Das erste beschriebene Paar ist ein Erd- und Himmelsglobus aus der Werkstätte Gerard Mercators, der zwei-

157 Meyer 1981, S. 13–15. 158 Krogt 1993, S. 19–35. 159 Grundlegend dazu: Krogt 1993. 160 AC1.18,(28. Okt. 1588), fol. 127v; Hulshoff Pol 1975, S. 402; Krogt 1993, S. 242–243. 161 Hulshoff Pol 1975, S. 455, Anmerkung 170. 162 Manuskript BAR.C3, Paulus Merula, Rariorum Bibliothecae Acaemiae Lugduno Ba- tavae, 1607.

68 te Eintrag ein Globenpaar, das Jodocus Hondius der Bibliothek schenkte. Hondius widmete dieses Globenpaar von 1600 sogar den beiden nieder- ländischen Universitäten in Leiden und Franeker, wie aus einer sich dar- auf befindlichen Inschrift hervorgeht:

„Clarissimis Belgii luminibus sapientiae doctrinae et verae pieta- tis officinis Academiae Lugdunensis Batavorum et Franekeriensis, Hos globos ad mathematicas artes promovendas manu propria a se caelatos libentissime dedicat consecratque Jodocus Hondius ann. 1 6 0 0 .“ 163

Im Gegensatz zu Bertius, der die Globen in seinem Vorwort des Nomen- clators bei den Schmuckelementen aufführt, verstand Merula sie wohl primär als wissenschaftliche Elemente, mit denen man arbeiten sollte, was wohl auch seiner Tätigkeit als Geograph und Kosmograph geschul- det war. Er hatte Angst, dass die zwei neuen Globen, die er nach Anfrage an den Globenmacher Hondius von ihm erhielt und die „tot zijner [Hon- dius’] ghedachtenisse ende tot behouff van de Lieffhebbers“164 in die Bi- bliothek gestellt wurden, durch „Kinder oder unerfahrene Studenten“165 beschädigt würden, was zudem anzeigt, dass der Besucherkreis der Bi- bliothek doch recht gross war. Er sah zudem ein, dass er sie nicht in sei- nem Büro einschliessen konnte, ohne Professoren zu erzürnen, die mit den Instrumenten arbeiten wollten. Er schlug dem Kuratorium deswegen vor, eine abschliessbare Kasse zu errichten, in welcher die Globen und anderen Sphären sicher vor „rücksichtslosen Händen“ verwahrt werden könnten und die neben dem Kamin aufgestellt werden sollte. Die Profes- soren würden Schlüssel erhalten, so dass sie weiterhin mit den Globen arbeiten könnten.166 Es wird daraus ersichtlich, dass die Globen tatsäch- lich in Gebrauch waren und wichtige Instrumente auch für die Professo- ren darstellten. Zudem zeigt der Eintrag eine weitere Besonderheit: Die Globen waren scheinbar nicht wie die Bücher angekettet oder eingesperrt und waren deswegen besonders durch Diebstahl gefährdet. Auch später waren die Globen ein begehrtes Gut und die Bibliothek als Ort ihrer Aufstellung angezweifelt. Franz van Schoten, der in der Nie- derdeutschen Mathematik Geometrie lehrte, wollte sie 1649 dort für den Unterricht verwenden; das Kuratorium beschloss jedoch, sie in der Bib-

163 Zitiert nach: Warner 1979, S. 121. 164 Hulshoff Pol 1975, S. 448 (Appendix B, VI, Punkt 1). 165 Hulshoff Pol 1975, S. 448 (Appendix B, VI, Punkt 1). 166 Alle Zitate in diesem Abschnitt nach: Hulshoff Pol 1975, S. 228 (Appendix B, VI, Punkt 1), zudem S. 414 und S. 416–417.

69 liothek zu belassen.167 Erfolgreicher war Jacobus Golius (1596–1667), der die beiden der Universität gestifteten Globen von Hondius in seine 1633 errichtete Sternwarte überführen.168 Original und Modell konnten somit auf dem Dach der Akademie studiert und verglichen werden durfte.

Astrolabien Neben den Globen befanden sich zwei Armillarsphären in der Biblio- thek,169 welche im Kupferstich von 1610 nicht dargestellt sind aber in den meisten Bibliotheken neben Globen aufgestellt wurden. Diese Instru- mente dienen der Darstellung der Himmelskreise und weisen oftmals bewegliche Teile auf, mit deren Hilfe man Gestirne zu verschiedenen Jah- reszeiten im Himmel verorten kann, weswegen sie die starren Himmels- globen ergänzten. Auch sie sind antiken Ursprungs und fanden bereits im europäischen Mittelalter Anwendung.170 Eine der beiden Leidener Sphä- ren folgte dem kopernikanischen Weltbild, war also heliozentrisch, die andere hingegen wurde mit dem Adjektiv „communis“ beschrieben, war also geozentrisch.171 Es waren somit beide Himmelsysteme in der Biblio- thek in Form von Armillarsphären vetreten; die Universität zeigte sich da- durch tolerant in diesem wissenschaftlichen Streitpunkt der Zeit. Die Bib- liothek verfügte darüber hinaus auch über Nikolaus Kopernikus’ Werk De revolutionibus orbium coelestium, wie aus dem Nomenclator ersichtlich wird.172 Der Bibliothekar Merula war indes dem heliozentrischen Weltbild nicht sonderlich wohlwollend eingestellt und negierte dieses, wie aus sei- ner Cosmographia ersichtlich wird.173 Der Streit um das richtige Weltbild wurde aber erst nach Einfluss Descartes wirklich kontrovers diskutiert und diente als Stellungnahme für verschiedene Glaubensansätze bezüg- lich der Trennung oder Verbindung von Gott und Wissenschaften.174

Karten und Stadtansichten Neben Globen wurden in der Bibliothek auch verschiedene kartographi- sche Pläne verwahrt und gezeigt. Aus dem erwähnten Inventar von 1607 geht hervor, dass neben Karten von Petrus Plancius und Jodocus Hondius auch solche von Teilen Europas gekauft oder durch Professoren und pri- vate Spender vermacht wurden; zudem sind auch verschiedene Aufnah- men antiker Bauwerke verzeichnet. Die Liste verfügt über zwölf Einträ-

167 AC1.24, (15. Nov. 1649), f. 154v und 155r. 168 AC1.22, (8. Aug. 1633), f. 118r. 169 BAR.C3, f. 46r. 170 Brockhaus-Enzyklopädie, Band II, Leipzig (F.A. Brockhaus) 2006, Sp. 432. 171 BAR.C3, f. 46r; siehe zudem: Hulshoff Pol 1975, S. 416. 172 Nomenclator, S. 74 (nachträgliche Pagninierung). 173 Merulas Haltung nach: Hulshoff Pol 1975, S. 416. 174 Jorink 2010, S. 16–17; generell zum Thema: Vermij 2002.

70 ge.175 Einige der Karten sind auf dem Kupferstich von 1610 dargestellt und wurden an der im Bild rechts liegenden Wand aufgehängt. Ein weiterer Eintrag im Katalog von 1607 zeigt alle „Caertboucken“, also Kartenbücher oder Atlanten, insgesamt acht Werke. Sie wurden meist der Bibliothek vermacht.176 Ein solches Buch liegt aufgeschlagen im Kupferstich von Woudanus auf dem vordersten Pult zur Rechten. Im Katalog aufgeführt ist auch die Vedute Konstantinopels, die durch Nicolaas van der Wiele, einem Schwiegersohn von Janus Dousa, 1598 der Bibliothek vermacht wurde.177 Gezeichnet hatte sie Melchior Lo- rinck (1526–1583), der in Konstantinopel auf Ogier Ghislain de Busbecq (1522–1592) und seine Gesandtschaft traf, jenem Diplomaten also, der für die Überführung der Tulpe – eine der seltensten und populärsten Pflan- zen des botanischen Gartens, wie noch besprochen wird – nach Europa verantwortlich zeichnete und ausgerechnet dem Botaniker und zeitwei- ligen Leidener Professor Carolus Clusius Tulpensamen schickte.178 Nach dem Kupferstich von 1610 wurde die 11,45 Meter lange und 0,45 Meter hohe Ansicht an die linke Wand gehängt und fand hinter den Pulten, die etwas von der Wand abgerückt standen, eine freie Wandfläche. Wie ge- nau sie dort aufgehängt wurde, ist indes unklar, da die Fensterbrüstungen deutlich tiefer lagen, als im Kupferstich von 1610 gezeigt und eine einfa- che Betrachtung nicht erlaubte. Vielleicht wurde deshalb eine Tafel zur Anbringung der Vedute vor die Fenster gehängt werden. Am 15. Novem- ber 1625 musste das Werk restauriert werden, da es arg in Mitleidenschaft gezogen worden war.179 Vermutlich war der Abstand zwischen Pulten und Wand, welcher auch als Erschliessung zu den Regalen diente, zu klein be- messen und die Vedute im Laufe der Zeit durch vorbeigehende Personen beschädigt worden.

Bilder und Wandfläche Wie die problematische Aufhängung der Stadtvedute zeigt, kommt es meist zwangsläufig zu einem Konflikt, wenn man in Bibliotheken Bilder aufhängen möchte, denn das Anbringen von Bildern benötigt Wandflä- che, die in Bibliotheken meist ein rares Gut ist, sollte diese doch über möglichst viel Regal- oder Fensterfläche verfügen. Bilder sind im Ver-

175 BAR.C3, fol. 44r; abgedruckt in: Hulshoff Pol 1975, S. 412, Abb. 9. 176 BAR.C3, fol. 45r. 177 Zur Vedute: P.F.J. Obbema, „Melchior Lorichs, Het prospect van Constantino- pel (1559)“, online unter: http://bc.ub.leidenuniv.nl/bc/goedgezien/, Eintrag 45 (25.06.2013). 178 Neue deutsche Biographie, Berlin 1987, Bd. 15, S. 164; online unter: http://daten. digitale-sammlungen.de/bsb00016333/image_180 (25.6.2013). Carolus Clusius er- hielt 1569 durch Busbecq Tulpensamen, siehe dazu: Cook 2007, S. 75. 179 Bronnen II, (15. Nov. 1625), S. 125.

71 gleich von sekundärer Bedeutung. Bei Pultbibliotheken wie derjenigen in Leiden war dies meist kein sonderliches Problem, da die Pulte doch quer im Raum und nicht entlang der Wände standen. Die meisten Bilder konnten somit zwischen die Fenster gehängt werden. Doch sobald sich die Aufstellung der Regale entlang der Wände etablierte, hatten Bilder an den Wänden weder Platz noch eine besondere Priorität. Beim Bau der Arts End Library, eine Erweiterung der Duke Humphrey Library in Oxford, sprach sich Thomas Bodley 1612 aus diesem Grund gegen das Anbringen von Landkarten aus, da sie wertvolle Wandfläche besetzen würden, denn „our losse would be greater of so muche roome for bookes, then the bene- fit would proue of 4. or 5. mappes.“180 Als die Universität Leiden die Biblio- thek zu einer Wandbibliothek umgestaltete, wurden die Bilder oberhalb der Schränke platziert, da sie anderswo keinen Platz mehr fanden.

Portraits in Bibliotheken Neben Abbildern der Welt wurden in Leiden auch Bilder gelehrter Per- sönlichkeiten gezeigt. Dass Portraits in Bibliotheken aufgehängt wurden, war um 1600 noch nicht üblich, sondern erst eine jüngst wiederentdeckte Praxis der Antike. So beklagte Lipsius noch 1602 in seinem Buch zur Bib- liotheksgeschichte:

„SED vel præcipuus ornatus, & imitandus, meo iudicio, nõdum ho- die imitatus, sunt Imagines siue & Statuæ doctorum, quas vnà cum libris disponebant.“181

Bibliotheken verfügten davor tatsächlich nur selten über Bilder oder Por- traits. Zwei frühe Renaissancebibliotheken des 16. Jahunderts, die Markus- bibliothek in Florenz und die Bibliotheca Malatestiana in Cesena, wiesen noch keinen bildlichen Schmuck auf, ebenso wenig die Laurenziana von Michelangelo.182 Ein frühes Beispiel für einen mit Portraits von Gelehr- ten ausgeschmückten Wissensraum findet sich im Palast des Federico da Montefeltro (1422–1482) in Urbino (um 1476). Es handelt sich dabei aller- dings nicht um die Bibliothek, welche im Erdgeschoss vermutlich eher praktisch als pompös eingerichtet war, sondern um sein privates Studio- lo. Gezeigt wurden dort in der Wandzone oberhalb der illusionistischen Intarsien achtundzwanzig Portraits alter und neuer Gelehrter.183 Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden Bibliotheken mit einem aufwändigen Bildprogramm versehen. Es waren vorzugsweise Büchersammlungen,

180 Wheeler 1926, Brief No. 221 (15.01.1612), S. 220. 181 Lipsius 1602, S. 29. 182 Tönnesmann 2013, S. 60–79. 183 Roeck/Tönnesmann 2005, S. 165–171, hier S. 166; Tönnesmann 2013, S. 60–79.

72 die einen ausgesprochen repräsentativen Charakter besassen. Die Bib- liothek des Vatikans oder die Markusbibliothek in Venedig zeugen von dieser Entwicklung. Bibliotheken des Barocks sollten dann oftmals ein raumübergreifendes Bildprogramm aufweisen, dass thematisch eng mit der Wissenswelt der Bücher verbunden war.184

Portraits der Leidener Bibliothek Die Leidener Universitätsbibliothek verfügte über keinen raumübergrei- fenden Bilderschmuck, doch wurden schon früh einzelne Karten, Vedu- ten und Portraits aufgehängt. Neben Lipsius forderte auch Petrus Bertius in seinem Vorwort das Anbringen von Portraits zur Zierde der Bibliothek. So sehen wir im Kupferstich von 1610 an zentraler Lage über dem Kamin die beiden Prinzen Wilhelm und Moritz von Oranien, also der Befreier der Republik und Gründer der Universität zusammen mit seinem Sohn und Nachfolger. Der Künstler des Kupferstichs wandelte dabei das Por- trait von Moritz von Oranien leicht ab, wohl um die Symmetrie zu wahren, denn in Realität (heute hängt es im Akademiegebäude) ist es gespiegelt und etwas kleiner als dasjenige seines Vaters. Über den Bildern befanden sich die Wappen der Dargestellten. Beide Portraits schenkte Prinz Moritz im Jahre 1598.185 Die Staatsmänner schauen von zentraler Lage auf den Buchbestand und die Leser, das Wissen wurde „unter die Observanz des Staats gestellt.“186 Herrscherbilder sind nach Oexle immer Bilder der Re- präsentation von Macht, Legitimierung und Autorisation.187 Doch nicht nur die abgebildeten Prinzen und ihre zentrale Lage machen deutlich, dass die Universität und ihre Bibliothek staatliche Institutionen waren. Auch der Bildtypus verweist auf den öffentlichen Charakter, denn es sind ganzfigurige Darstellungen von Herrschern, weswegen sie zur Gattung des Staatsportraits gehören, die im 16. Jahrhundert entstand.188 Neben den beiden ranghöchsten Politikern wurden auch Por- traits von – vorzugsweise niederländischen – Gelehrten aufgehängt. Die meisten dieser Bilder waren Schenkungen, oftmals von Verwandten der Dargestellten, was den Wunsch erkennen lässt, ihre Familienangehörigen in Erinnerung zu bewahren. Ein Portrait des Erasmus von Rotterdam erhielt die Universität bereits 1597, also nur zwei Jahre nach der Eröffnung der Bibliothek und dem Wunsch von Bertius, die Bibliothek mit Bildern zu schmücken. Weitere Portraits folgten und neben Erasmus fanden auch Scaliger, Casaubonus, Raphelengius oder Ramsaeus einen Patz in

184 Siehe dazu beispielsweise: Schneider 2000, S. 143–161. 185 Kersen-Halbertsma/Ekkart/Waal 1973, Kat. Nr. 22 und Kat. Nr. 49. 186 Erben 2011, S. 176. 187 Oexle 1984, S. 391. 188 Siehe dazu beispielsweise: Ahrens 1990.

73 der Bibliothek. Das Kuratorium kaufte 1612 einige Portraits. Vermutlich waren es die Bilder von Johannes Heurnius, Franciscus Junius, Janus Dousa Sr., Janus Dousa Jr. und Justus Lipsius. Die Bibliothek zeigte also vor allem Bilder von Angehörigen ihrer Universität – analog zu den Schriften Universitätsangehöriger, die in einem speziellen Schrank verwahrt wurden. Die Bibliothek wurde so zu einer Ruhmeshalle der Lei- dener Akademie.189

„Wo Stumme eine Stimme erhalten“ Es müsse für die antiken Leser äusserst reizvoll gewesen sein, so Lipsi- us, von den Büchern aufzuschauen und in das Antlitz der dazugehörigen Autoren blicken zu können. Laut Lipsius entstand der Brauch, Bibliothe- ken mit Statuen oder Bilder auszuschmücken, im antiken Rom. Er ver- weist – wie Bertius – auf antike Autoren, beispielsweise auf Vergil, Seneca oder Plinius, die just diesen Sachverhalt und das resultierende Entzücken schilderten. Plinius d.Ä. war es aber, der den Humanisten der Renaissan- ce einen Gemeinplatz zur Beschreibung von Bibliotheken lieferte, welche Lipsius ebenfalls zitierte.190 Plinius d.Ä. schrieb nämlich:

„Non est praetereundum et novicium inventum, siquidem non ex auro argentove, at certe ex aere in bibliothecis dicantur illis, quorum inmortales animae in locis iisdem locuntur, quin immo etiam quae non sunt finguntur, pariuntque desideria non traditos vultus, sicut in Homero evenit.“191

Der lateinische Begleittext zum Kupferstich von 1610 der Leidener Biblio- thek zitiert Plinius d.Ä. nahezu wörtlich:

„Conspiciuntur praeterea effigies tum Invictißimi Principis supra- dicti, & Mauritij de Nassau, &c. tum etiam aliorum præstantium virorum & Professorum, quorum animi immortales in ijsdem locis loquuntur, aliaque id genus plura.“

Auch der Poet und zeitweilige Bibliothekar Daniel Heinsius nutzte diesen Gedanken in einem griechischen Epigramm, dass er in seinem Katalog der Bibliothek abdruckte. Er beschreibt darin die Bibliothek als einen

„heiligen Ort der Freude, einen Tempel der Freiheit, wo die im- mer-lebenden Sterblichen und die immer-sprechenden Stille der

189 Grundlegend zu den Portraits: Kersen-Halbertsma/Ekkart/Waal 1973. 190 Lipsius 1602, S. 30. 191 Plinius, Naturalis historia, 35, II, 9.

74 Verstorbenen hausen; ein Palast noch schöner als denjenigen des mächtigen Croesus, und wo das Kind der Phainarete [Sokrates] und die Söhne des Aristoteles fortleben".192

In Bibliotheken erhielten die verstorbenen Gelehrten eine Stimme. Denn das aufgeschriebene Wort konserviert die flüchtige gesprochene Sprache und macht es überlieferbar. Dies gilt insbesondere für unsere phoneti- sche Zeichensprache. Die Gedanken und die Stimme vergangener Auto- ren werden somit durch den Leser zu neuem Leben erweckt. Die Bücher und die Portraits standen in enger Beziehung, gaben doch beide Wesens- züge der Gelehrten wieder. Versammelt in nur einem Raum und mittels der räumlichen Beziehung von Wort und Bild konnten beide Aspekte der repraesentatio – also die Stimme und das Antlitz der Autoren – gleichzei- tig erlebt werden. Die Portraits verwiesen daher, ähnlich der Globen, auf das Wesen einer Bibliothek und die in ihr verwahrten Wissensschätze, die geweckt und aktiviert werden konnten. Die Leser traten durch die Texte und die Bilder in einen Dialog mit den Autoren.

Die Bibliothek als Memorialraum: Donationen und Legate

Bibliotheken verwahren in der Vergangenheit gemachte Gedanken für die Zukunft. Sie sichern aber nicht nur die Gedanken der Autoren, son- dern sorgen auch für die Erinnerung an sie. Bibliotheken ermöglichen ihnen somit „als Tote unter den Lebenden zu verweilen“ (Oexle). Bilder wie Bücher dienten der Repräsentation von Personen oder Ideen. Das la- teinische Wort repraesentatio bedeutet aber nicht bloss die bildliche oder schriftliche Wiedergabe oder Darstellung einer Person oder eines Sach- verhalts, sondern – nach Gadamer – „es heißt jetzt [in der christlichen Zeit] Vertretung. […] Repraesentare heißt Gegenwärtigseinlassen […].“193 Als Orte der aktiven Nutzung vergangener Ideen eigneten sich Bib- liotheken trefflich als Lokalitäten der retrospektivenMemoria . Nicht bloss Autoren blieben in Erinnerung, sondern auch Privatpersonen konnten durch Donationen von Büchern dasselbe erfahren. Bücherstiftungen sind Memorialstiftungen, denn dsie sollen den Stifter nach dessen Tod in Erin- nerung der Lebenden behalten soll.194 Die Leidener Bibliothek war indes nicht der einzige Raum der Uni- versität, der sich der Frage des Lebens nach dem Tod widmete. Denn

192 Ins Deutsche übertragen nach der englischen Übersetzung in: Hulshof Pol, S. 423. 193 Gadamer 1960, S. 134, Anmerkung 2. 194 Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Stuttgart (J.B. Metzler) 2005–2012, hier Band 8, Spalte 325ff.

75 diese wurde auch im anatomischen Theater mittels seiner Funktion und Ausstattung mit zahlreichen Vanitas-Objekten thematisiert. Die dort ge- zeigten Objekte propagierten ein moralisches Leben im Diesseits für eine Erlösung im Jenseits. Es war somit eine prospektive Absicherung des Le- bens nach dem Tod.

Donationen und Legate Schenkungen von Büchern an Bibliotheken waren bereits im Mittelalter eine gängige Praxis. Die Stifter wurden dabei auf den Titelblättern na- mentlich erwähnt. Humbertus de Romanis wollte, dass in geschenkten Bücher verzeichnet werde, wer das Buch für seine Seele gestiftet habe.195 Die Schenkungen kamen also der unsterblichen Seele, dem Seelenheil, zugute. Neben der Eintragung des Spenders wurden in Bibliotheken auch Donatorenbücher oder -listen aufgestellt. In der frühen Neuzeit kam es ebenfalls zu Schenkungen. Nicht nur für Universitätsbibliotheken, son- dern auch für Kloster- und vor allem Ratsbibliotheken waren diese sehr wichtig; letztere wurden fast ausschliesslich aus Stiftungen gespeist. Bei Universitäten war es zudem durchaus üblich, dass neben Professoren vor allem ehemalige Studenten Bücher vermachten, was auch in Leiden geschah.196 Von den Fellows der Oxforder Colleges wurde gar verlangt, dass sie nach ihrem Tod oder Eintritt in ein Kloster ihre Privatbücher den Kollegien überlassen.197 Die Professoren konnten durch Buchlegate ihren Lehrauftrag gewissermassen auch nach ihrem Tod wahrnehmen, die ehe- maligen Studenten hingegen dazu beitragen, dass künftige Generationen wie sie selbst eine wohlausgestattete Büchersammlung für das eigene Studium und Fortkommen nutzen konnten. Thomas Bodley erkannte, dass je grösser der Ruhm einer Büchersammlung, desto einfacheres ist, an Donationen zu kommen: „For I haue euer bin persuaded, that the bet- ter credit it [the library] carieth, for stoare and worthe of bookes, the soo- ner most men will be drawen, not onely to affect it, but to aduaunce and enriche it, with some of their best and rarest Autours“.198 Auch in Leiden waren Donationen häufig. Bereits das erste Buch der Bibliothek kann gewissermassen als Memorialstiftung verstanden werden, wenn auch der Spender zugleich der Begründer der Univer- sität war und auch von diesem historischen Ereignis im Kampf um die Freiheit der Republik ein Zeignis ablegen wollte. Wilhelm I. von Oranien vermachte der Bibliothek zu ihrer Gründung eine Bibel und agierte nicht

195 Diese Praxis beschreibt Humbertus de Romanis bereits für das 13. Jahrhundert, sie- he: Romanis 1978, S. 48. 196 Buzas 1975, S. 142–143; zu Leiden: Hulshoff Pol 1975, S. 413. 197 Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries before 1500“, in: Ker 1985, S. 301–320. 198 Wheeler 1927, Brief No. 6 (27. März 1602), S. 11–14, hier S. 11.

76 bloss als Donator, sondern gar als Fundator. Als erste wirkliches Legat gilt die Stiftung von Johannes Holmannus (1523–1586) nach seinem Tod 1586, obwohl dessen Witwe später Ansprüche geltend machte und nach klei- neren Zuschüssen gar eine jährliche Rente erhielt,199 was die Universität im Ganzen 1950 Gulden kosten sollte.200 Erst nach dieser Spende erhielt die Bibliothek ihren ersten Raum. Diese beiden frühen und grosszügigen Donatoren werden deshalb im Begleittext des Kupferstiches von 1610 er- wähnt, wo ferner erklärt wird, dass die Bibliothek zudem dank Spenden „von vielen anderen trefflichen Gelehrten und ansehnlichen Herren und Personen“ an Bücher komme, „deren Namen zur ewigen Erinnerung“ Er- wähnung finden würden, womit explizit auch die memorative Funktion von Stiftungen hingewiesen wird:

„van alle Boucken diemen weet te becomen/ mede voornementli- cken door vele verscheydene giften/ ende Legatien/ als in ’t beginsel der stichtinge geschiet is/ door zijne Princel. Excell. Hooch-loflicker ghedachtenisse/ Wilhelm Prince van Orangien,&c. als mede van den seer eerwaerdighen/ ende in Godt-geleerden man/ Ioh. Holmannis secundus, ende van vele andere treffelicke/ Gheleerde/ ende aen- sienlicke Heeren ende persoonen/ welckers namen aldaer tot een eewige gedachtenisse uytghedruckt staen/“

Als die Bibliothek ihre neue Behausung in der Beginenkirche bezog und eröffnet wurde, trat sie auch in das Bewusstsein der städtischen Bevölke- rung. Die neue und grosszügige Architektur förderte die Bereitschaft zum Spenden von Büchern. In der zweiten Auflage desNomenclators wurden die Spenden in chronologischer Reihenfolge auf einer eigenen Lage ver- zeichnet.201 Zudem wurde schon bald eine Donatorentafel angefertigt. Durch die öffentliche Bekanntmachung der Spenden und Spender wur- den diese einem breiten Publikum bewusst, was nicht bloss dem Ruhm der Donatoren einträglich war, sondern auch die Motivation zu weiteren Gaben steigerte. Die Büchergeschenke, die mit der Eröffnung der Bibliothek immer zahlreicher wurden, verdeutlichen, dass die Bibliothek nicht bloss eine universitäre Einrichtung, sondern auch im Bewusstsein der städtischen

199 Ansprüche und finanzielle Unterstützung von Witwen verstorbener Professoren waren indes keine Seltenheit, stellten gewissermassen eine Hinterbliebenenversi- cherung dar, sind in den Akten durchgängig zu finden und werden im Zuge der vor- liegenden Arbeit öfters diskutiert. 200 Zu diesem Legat, siehe: Hulshoff Pol 1975, S. 399–402. 201 „INDEX LIBRORVM Qui ex donatione & liberalitate aliena BIBLIOTHECÆ publicæ Academiæ Lugduno-Batavæ inserti sunt.“ BAR.2h, Nomenclator, S. 97 (nachträgli- che Paginierung).

77 Bevölkerung verankert war. Vermutlich trug der öffentliche Charakter der Leidener Universitätsbibliothek, die sich auch als städtische oder gar re- publikanische Einrichtung verstand, dazu bei, dass die Bürger der Stadt willig waren, der Allgemeinheit ihren Dienst zu erweisen und Donatio- nen vermachten. Zudem wurde nach Eröffnung der Bibliothek in der umgebauten Kirche die Ratsbibliothek vom Stadthaus in die Universitäts- bibliothek übertragen. Dousas Versuch, eine vergessene Bibliothek des Hofs van Holland aus Den Haag nach Leiden zu überführen, scheiterte hingegen. Der Hof vermachte der Bibliothek aber wenigstens einen heb- räischen Talmud. Weitere Spenden aus allen Städten und Provinzen der jungen Republik folgten, ja selbst fremde Länder vermachten der jungen Bibliothek Bücher.202

Paulus Merula Die im Begleittext zum Kupferstich von 1610 erwähnten Geschenke an die Bibliothek kamen nicht zuletzt aufgrund des Bibliothekar Paulus Merula zustande, der in seiner zehnjährigen Amtszeit grossen Erfolg hatte, Dona- tionen aus der Bevölkerung für die Bibliothek zu erbitten.203 Denn neben Professoren und Studenten schenkten zahlreiche Aussenstehende der Bi- bliothek Bücher, aber auch Bilder, Globen oder einen Alligator. Zur Motivation und zum Gedenken fertigte Merula eine Donatoren- liste an.204 Diese Tafel, auf der die Namen aller Spender und geschenkter Bücher eingetraten und vierteljährlich aktualisiert wurden, hängte man in der Bibliothek auf. Merula strebte dabei aber nicht nur die Erinnerung an die Spender an, sondern er beabsichtigte natürlich auch, mittels dieser Tafel an neue Spenden zu gelangen: „om alzoo alle andere die op ver- scheyden tijden de Biblioteque zullen comen visitieren, stilzwijgende te vermanen ende te porren tot het lofflick verstercken van de voirzeyde Bi- blioteque“.205 Seine Strategie war von Erfolg gekrönt. Er konnte Schenkun- gen im Wert von 1000 Gulden einwerben, was er dem Kuratorium stolz mitteilte – und im Anschluss daran nach einer Lohnerhöhung fragte.206 Die Spender wurden später auch in Form eines gedruckten Donatorenka- talogs207 namentlich erwähnt, Kopien desselben wurden Bittschriften bei- gelegt.208 Der Leidener Medizinprofessor Pieter Pauw scheiterte hingegen,

202 Hulshoff Pol 1975, S. 409–414. 203 Transkription des Begleittexts im Anhang. 204 Hulshoff Pol 1975, S. 446 (Appendix B, I, Punkt iiij) und S. 447 (Appendix B, II). 205 Hulshoff Pol 1975, S. 446 (Appendix B, I, Punkt iiij). 206 Hulshoff Pol 1975, S. 447 (Appendix B, III). 207 (ohne Autor), Catalogus principvm, civitatvm, et singvlariorvm, qui donatione vel inter vivos vel mortis caussa, bibliothecam pvblicam, in Academia Lugduno-Batava institutam, liberaliter ditarunt, Leiden (ex officina Ioannis Paetsij) 1597. 208 Hulshoff Pol 1975, S. 413.

78 als er versuchte, bei der städtischen Bevölkerung Pflanzendonationen zu erbitten mit der Absicht, diese in einem Donatorenbuch zu verzeichnen. Denn Pflanzen wiesen nicht wie Bücher den Aspekt des Verwahrens und Wiederbelebens von Vergangenem auf, sondern mahnten durch ihre ei- gene Sterblichkeit an die Vergänglichkeit allen Lebens.

Das Legat Scaliger Nicht nur Donationen von lebenden Personen wurden der Bibliothek ver- macht, sondern auch solche von Verstorbenen, was wiederum anzeigt, dass die Spender durch ihre Geschenke nicht bloss Ruhm und Ehre in der Gegenwart, sondern auch ihr Andenken nach ihrem Tod sichern woll- ten. Vor allem verstorbene Professoren vermachten der Bibliothek ihre privaten Büchersammlungen, die zum Teil besonders in Szene gesetzt wurden. Die wohl berühmteste und wichtigste Stiftung hinterliess Joseph Justus Scaliger (1540–1609), der bereits vor seinem Tod einer der berühm- testen Gelehrten seiner Zeit war und mittels seiner fama und gloria sein Gedenken zu Lebzeiten prospektiv sicherte.209 Er wurde an die Leidener Universität berufen, als diese durch den Abzug von Justus Lipsius einer ihrer bekanntesten Professoren verlor, weswegen Scaliger als weitere Be- rühmtheit der gelehrten Welt zu einem hohen Lohn angeworben werden konnte. Den Ruf der Leidener Universität vergrösserte er ungemein und lockte zahlreiche Studenten an, obwohl er – wie Carolus Clusius – kei- nerlei Vorlesungen halten musste. Er verstarb 1609, kümmerte sich zuvor aber um die Erinnerung an seine Person, indem er der Bibliothek seine wertvollsten Bücher, vor allem Werke orientalischer Autoren, vermachte und der Universität auch nach seinem Tod damit zu Ruhm und Ehre ver- half.210 Testamentsvollstrecker waren Joost und Franchoys Raphelengius. Sie sollten die hinterlassenen Schriften Scaligers Lieblingsschüler und damaligen Bibliothekar Daniel Heinsius überbringen. Andere Bestände seiner Privatbibliothek wurden an Privatpersonen vermacht oder in einer Auktion verkauft; der Auktionskatalog listet 1883 Einträge auf.211 Heinsius wurde beauftragt, für die Handschriften einen speziellen Schrank schrei- nern zu lassen und dem Kuratorium ein Doppel des anzufertigen Inven- tars zu überliefern. Noch 1615 forderte das Kuratorium Daniel Heinsius auf, ihnen Testament und Katalog Scaligers abzuliefern, „om’t allen tyden denzelven te mogen Confereeren“.212 Der Aspekt der Erinnerung fand so- mit sogar den Weg in die Akten des Kuratoriums. Weiters wurde beschlos-

209 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 5, Sp. 660–667. 210 Zu diesem Legat, siehe: Hulshoff Pol 1975, S. 426–429. 211 Ommen/Cazes 2010, Nr. 46, S. 155–156, hier S. 156 212 AC1.20, (7./8. Mai 1615), f. 356r und 356v, hier f. 356v.

79 sen, am Pfeiler neben Scaligers Grab in der „Vrouwekerk“ zum Geden- ken an den verstorbenen Gelehrten eine „eerlycke inscriptie“ in Stein zu meisseln.213

Kirche und Bibliothek als Memorialräume In den Akten werden folglich zwei Räume erwähnt, in denen zukünftig an den verstorbenen Scaliger erinnert wurde: der Ort seines Grabes in der „Vrouwekerk“ sowie die Bibliothek der Universität, wo künftig sein Nach- lass stehen sollte. Sein Gedächtnis wird also in einem sakralen und einem profanen Raum evoziert. Sakralräume dienten vor der Reformation als bevorzugter Ort von Memorialstiftungen. Stiftungen und Wissenschaft waren über lange Zeit nicht miteinander verbunden. Dies änderte sich erst relativ spät und entstand mit den Gründungen von Universitäten. Nach der Reformation „wurde das Gut der frommen Stiftungen häufig für Schulzwecke umgewidmet“.214 Gleichzeitig wurden in protestanti- schen Kirchen Kapellen- und Altarstifte aufgegeben und als Zeuge eines falschen Glaubens deklariert. Epitaphe hingegen gehörten zur Ausstat- tung reformierter Kirchen dazu.215 Auch Bilder von Stiftern wurden mit der Reformation aus dem Kirchen ausgeschieden, da sie nun zum „Inbe- griff einer falschen und zu überwindenden Religiosität“ wurden.216 Doch war das Konzept der Memoria in der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts zu tief verwurzelt, um es einfach abzuschaffen.217 Grössere und wertvolle Stiftungen jedoch, mit denen sich der Stifter Nachruhm sichern konnte, bedurften nun allerdings eines neuen Raums. Möglicherweise diente die Leidener Bibliothek dazu, diesem Bedürfnis gerecht zu werden und Stif- tungen einem Publikum zu zeigen.

Schrank, Schriften, Globen und Portrait Wie wurde das Legat des berühmten Gelehrten, welches nach Hulshoff Pol „of the greatest importance to the Library’s prestige“218 war, in Szene gesetzt? Zahlreiche Reiseberichte beschreiben es und verbreiteten es da- mit medial in die Welt. Auch der Kupferstich von 1610 zeigt das Legat und das sogar deutlich grösser, als es in Realität war, gewissermassen in ei- ner Bedeutungsperspektive. Selbst in den wenigen Zeilen des Begleittexts zum Kupferstich wird explizit auf das Legat Scaliger und den Aspekt einer ewigen Erinnerung hingewiesen:

213 Bronnen I, S. 183, Akte vom 8./10.2.1609; die Kirche wurde 1819 zerstört, der Epi- taph seither in der Pieterskerk. 214 Borgolte 2012, S. 414. 215 Beyer 2008, S. 82 sowie S. 96–97. 216 Oexle 1984 S. 429. 217 Oexle 1984 S. 429. 218 Hulshoff Pol, S. 426.

80 „door den doorluchtigen/ wijt beroemden/ ende Hoochgeleerden Heer Iosephus Scaliger, die de voornoemde Biblioteecke deser werelt overlijdende/ van uytnemende schoone Boucken, soo van Griecksche met de Hant-gheschrevene als van andere in boven verhaelde talen/ beneffens noch van Æthiopische, Persische, ende Armenische, Bou- cken grootelycks verryckt heeft/ staende aldaer/ met seeckere op- schrifte in een besondere Casse, tot zynder eewiger Lofende gedach- tenisse/“

Versorgt waren die nachgelassenen Schriften in einem besonderen Kas- ten, der im Kupferstich rechts zu sehen ist. Versehen war der doppeltürige und abschliessbare Schrank mit dem Wappen Scaligers und der Inschrift „Legatu Josephi Scaligeri“.219 Der Schrank war, wie aus Katalogen ersicht- lich wird, mit verschiedenen Regalflächen bestückt. In den folgenden Ka- talogen wurde das Legat nämlich immer gesondert ausgewiesen und als Einheit separat aufgeführt, wohl nicht nur, um den Bestand als Einheit zu bewahren, sondern ebenso, um auch im Katalog auf den Nachlass explizit hinzuweisen. Die Werke wurden zuerst nach Sprache, danach nach Grö- sse – Folio, Quart- und Oktavformat – verteilt. Die Manuskripte wurden besonders gelagert und ebenfalls nach Sprachen, nicht aber nach Grösse, geordnet.220 Über der Arcae Scaligeranae mit ihren durch Scaliger gesam- melten orientalischen Manuskripten hing hinter den gestifteten Globen sein ebenfalls vermachtes Portrait, welches zwar erst nach seinem Tod durch die Erben in die Bibliothek überführt wurde, aber von Scaliger aus- drücklich gewünscht war (Abb. 2.12).221 Die Bestandteile des Nachlasses entgingen auch einem Besucher nicht: „Ook een afbeelding met het wa- pen van Scaliger met een bysondere casse van sijn testament.“222 Inschrift und Wappen nennen eine Person und Familie, der Schrank verwahrt die durch Scaliger gesammelten Schriften, und ein Portrait gab zudem das Antlitz des Verstorbenen wieder. Es entstand eine umfassende Repräsentation des verschiedenen Gelehrten. Seine nachgelassenen Ma- nuskripte zeigen gewissermassen sein Forschungsinteresse und waren sein persönliches Arbeitsmaterial. Die Früchte seiner Arbeit waren die in Marginalien verfassten Kommentare in den Manuskripten und die pub- lizierten Bücher, die ebenfalls in der Bibliothek auffindbar waren. Durch

219 Sicht- und lesbar auf dem Kupferstich von 1610. 220 Der Anfang machte Daniel Heinsius, der ja für die Überführung des Nachlasses zu- ständig war, wozu er einen ersten Katalog anfertigte, der später gedruckt wurde, sie- he: Heinsius 1612. 221 Zum Portrait Scaligers, siehe: Ommen 2010, hier S. 107; zudem: Kersen-Halberts- ma/Ekkart/Waal 1973, Kat. Nr. 30. 222 Zitiert nach: Wijhe 1926, S. 22.

81 Abb. 2.12 Das zum Legat Scaligers gehörende Portraits der be- rühmten Gelehrten.

(Gemälde von Daniel Ha- giensis, 1604; UBL, Signatur Icones 30.)

(Download: Digital special collection, Universitätsbib- liothek Leiden.)

diese „spricht“ der verstorbene Gelehrte noch immer zum Leser. Es kam zu einer „Selbstverewigung in Büchern und Büchersammlungen.“223 Zu- dem war auch sein Antlitz aufgrund des vermachten Portraits gegenwär- tig. Scaliger war also in Wort und Bild repräsentiert. Erst der räumliche Zusammenhang dieser Objekte schaffte eine umfassende Repräsentation der Person Scaligers.

Eine Sammlung als Einheit bewahren Dass Nachlässe in ihrem Zusammenhang bestehen blieben, war stets auch im Interesse ihrer einstiger Besitzer. Eine umfangreiche Bibliothek aufzubauen, ist eine langwierige Aufgabe, das Resultat zeigt eine kohä- rente und emotional aufgeladene Sammlung ganz nach den Wünschen ihres Erschaffers und ist nicht nur ein Lebenswerk, sonder sogar ein Teil der eigenen Identität. Die Übergabe einer solchen privaten Büchersamm- lung an eine institutionelle Bibliothek soll garantieren, dass dieses Werk

223 Buzas 1975, S. 121.

82 bestehen bleibt. Denn nur zu oft wurden Bibliotheken nach dem Tod ih- res Besitzers in ihre Bestandteile aufgelöst und die einzelnen Bücher mit- tels einer Auktion verkauft und in alle Winde zerstreut. Was dabei verlo- ren geht, ist just der Mehrwert, den die einzelnen Bücher durch ihre „gute Nachbarschaft“ erhalten und sie in ein sinnvolles Ganzes einbindet, das mehr wert ist als die Summe der einzelnen Teile. Wie im Falle einfacher Donationen kamen also die Stiftungen von ganzen Sammlungen nicht bloss dem gemeinen Nutzen zu gute, sondern erfüllten auch eigennützige Absichten des Spenders.224 Die Leser der Bib- liothek konnten aufgrund einer zusammenhängend bestehenden Privat- sammlung nicht bloss durch das Wissen der Bücher, sondern auch durch ihre Zusammenstellung und Ordnung profitieren, das Lebenswerk des Stifters konnte somit nach seinem Tod weiterhin aktiv genutzt werden. Gleichzeitig erlaubte die Stiftung einer ganzen Büchersammlung an eine öffentliche Institution, dass nicht nur die Kodizes erhalten, sondern auch ihr ehemaliger Besitzer in Erinnerung blieb.

Ruhm für die Leidener Bibliothek Der Nachlass Scaligers war für den Ruhm der Leidener Bibliothek ebenso wichtig wie die erfolgreiche Berufung dieses Gelehrten. Scaligers Ruhm – und somit auch der Ruhm der Leidener Universität – blieb in Form seines Nachlasses über seinen Tod materiell erfahrbar. Auf dem Kupferstich von 1610 ist die Bewunderung dargestellt, die Besucher seinem Legat gegen- über zeigten. Zwei Besucher scheinen in ein Gespräch involviert zu sein, wobei der eine mit der Hand auf den Schrank zeigt und mit der ande- ren Hand seine erläuternden Worte gestisch untermalt. Auch der Zuhö- rer zeigt mit seinem Finger auf den Nachlass des berühmten Gelehrten, wodurch dem Betrachter des Kupferstichs das Legat ebenfalls vor Augen geführt wird. Und tatsächlich war der Nachlass Scaligers eine Sehenswür- digkeit, die durch viele Besucher besichtigt wurde.225 So beispielsweise die aus Italien kommenden Brüder Giulio und Guido de Bovio:

„Questa [la biblioteca publica], levatone il prezioso legato fattole dal gran Scaligero dei suoi manoscritti di diverse lingue orientali, non contiene nè quantita nè qualità tale di libri, che la possino rendere superiore alle altre, che in ogni parte si trovano.“226

Vielleicht handelt es sich bei den dargestellten Personen um einen Gast, dem der besondere Schrank durch einen angehörigen der Universität –

224 Buzas 1975, S. 121. 225 Hulshof Pol, S. 426. 226 Zitiert nach: Brom 1915, hier S. 149.

83 den Bibliothekar womöglich – präsentiert wird. Denn auch solche Situa- tionen müssen üblich gewesen sein, wie aus anderen Reiseberichten der Zeit hervorgeht. Noch im Jahre 1683, als die Bibliothek bereits umgestaltet war, wurde dieser besondere Schrank zur Schau gestellt:

„In the publick Library, they shew’d us a good Collection of Manu- scripts in the Oriental Languages, left to the University by Joseph Scaliger and Jacobus Gotius [sic]; amongst which there are, as I am inform’d, divers curious Pieces, well worth translating.“227

Daraus wird ersichtlich, dass die Donation Scaligers nicht nur den Scho- laren in Erinnerung behielt, sondern auch seine Lehrzeit an der Leide- ner Universität. Einen solch gelehrten und berühmten Mann unter ihren Professoren zu haben und nun über seinen Nachlass zu besitzen mehrte auch den Ruhm der Universität. Entsprechend wurden ja alle Werke der Leidener Professoren zu Beginn in einem gesonderten Schrank aufge- stellt.

Das „Legat“ von Vulcanius Scaliger blieb nicht der einzige, der die besondere Wertschätzung und In- szenierung seines Nachlasses erfuhr. Sein Hinterlassenschaft diente ge- wissermassen als Modell für kommende Legate – und weckte wohl den Wunsch zahlreicher Gelehrten, die eigene Sammlung neben derjenigen des berühmten Scaliger zu sehen. Bonaventura Vulcanius (1538–1614)228 ging einen etwas weniger spendablen Weg als Scaliger, erreichte aber ähnliches. Denn nur teilweise schenkte er seine Bücher und Manuskripte der Bibliothek, die meisten liess er sich bezahlen.229 Bereits im Oktober 1587 erwarb die Universität für ihre entstehende Bibliothek 52 Bücher von Vulcanius für 354 Gulden. Er nutzte die Gele- genheit, der Bibliothek ein Manuskript eines Werksvon Demosthenes zu schenken, dass jedoch gar nicht ihm gehörte.230 In drei späteren Aukti- onen in den Jahren 1589, 1610 und nach seinem Tod 1615 wurden seine Bücher durch Louis Elzevier (1540–1617)231 – der seine Laufbahn in Leiden als Buchverkäufer begann, Pedell der Universität wurde und später die Druckerei der Universität übernahm – an den Mann gebracht. Die Auk- tionskataloge zeigen auf, dass Vulcanius in der ersten Versteigerung die

227 Veryard 1701, S. 8. 228 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 10, Sp. 1143–1145. 229 Hulshoff Pol 1975, S. 429. 230 Ommen/Cazes 2010, Nr. 25, S. 98–101, hier S. 99; Ommen 2010, S. 103–119, hier S. 105. 231 Zu seiner Biographie, NNBW, Deel 9, Sp. 238.

84 ihm weniger bedeutenden Werke verkaufte. Er war wohl wegen eines fi- nanziellen Engpasses gezwungen, einige seiner Bücher zu verkaufen. Die durch ihn hochgeschätzten und auch persönlicheren Werke hingegen behielt er bis zu seinem Tod, wonach sie durch seine Erben verkauft wur- den.232 Das Kuratorium beschloss vor allem der griechischen Schriften wegen die verbleibenden Bücher von Vulcanius zu erstehen und bezahlte dafür 1200 Gulden.233 Am 8. Februar 1615 erhielten die Erben zudem 125 Gulden für ein Portrait ihres verstorbenen Familienmitglieds, welches die Kuratoren „op de bibliotheecque te hangen“234 wollten. Das Bild wurde durch Vulcani- us selbst der Bibliothek vermacht, der Betrag war also eher eine wohl- wollende Spende als eine eigentliche Bezahlung. Kasper van Ommen vermutet wohl zu Recht, dass die Spende des Portraits unmittelbar dem Vorbild Scaligers folgte.235 Analog dazu wurde es über der Arca Vulcanii aufgehängt. Auch dieser Nachlass wurde in Katalogen, seinem speziellen Standort entsprechend, separat verzeichnet. So hatte auch Vulcanius sich seinen Nachruf mittels mehrerer Objekten und analog zu Scaliger gesi- chert – er und seine Erben gingen dabei aber nicht einmal leer aus.

Ausbleiben der Donationen und spätere Stiftungen Als die Bibliothek während einiger Jahrzehnte geschlossen war, blieben die Spenden zumeist aus. Dieser Umstand ist wohl kaum bloss der Er- werbspolitik des damaligen Bibliothekar Daniel Heinsius geschuldet, der primär gezielt die nach seiner Meinung erforderlichen Bücher anschaffte und sich nicht auf ungewisse Spenden zufälliger Titel verliess. Zusätzli- che Donationen hätte er sicherlich nicht abgelehnt, sondern als Supple- ment gerne angenommen. Vielmehr hinderte wohl auch das Ausblei- ben von Lesern durch die Schliessung der Bibliothek, dass Donationen getätigt wurden. Denn Donationen müssen wahrgenommen werden, sollen sie die Stifter in Erinnerung behalten. Die Studenten führten bei der Schliessung der Bibliothek deshalb das Argument ins Feld, die Stif- ter hätten sicherlich keine Bücher vermacht, falls diese nicht einsehbar und gebraucht würden, war dies doch eine ihrer Absichten.236 Eine unzu- gängliche, ungenutzte, nicht öffentliche Bibliothek verhinderte das aktive Gedenken an die Spender, denn in einer geschlossenen Bibliothek waren nicht bloss die Bücher nicht lesbar, sondern ebensowenig die Liste der

232 Zu den Auktionen: Ommen/Cazes 2010, Nr. 46, S. 155–156 sowie Nr. 47, S. 156–157. 233 AC1.20, (8. Nov. 1614), f. 350v; Bronnen II, (Akte vom 8.11.1614), S. 55; Ommen 2010, S. 106. 234 AC1.20, (8. Febr. 1615), f. 354r; Bronnen II, (Akte vom 8.2.1615), S. 59. 235 Zum Portrait: Ommen 2010, S. 107–109; Ommen/Cazes 2010, Nr. 2, S. 42–45. 236 AC1.41, No. 87 (undatiert, doch folgte der Beschluss vom 8. Febr. 1606 wohl diesem Schreiben).

85 Donatoren. Dennoch kamen auch später weitere Donationen und Legate in die Leidener Bibliothek, teilweise wiederum komplette Privatsammlungen, die als Einheit verwahrt und präsentiert wurden. So zum Beispiel das Le- gat Levinus Warners (1618–1665),237 der der Bibliothek seine in Konstanti- nopel gesammelten orientalischen Schriften vermachte. Noch 1715 wurde dem Vorbild Scaligers nachgestrebt. Jacobus Perizonius (1651–1715),238 der zuvor an der Leidener Universität Geschichte, Griechisch und Rhetorik unterrichtete, hinterliess dieser seine Manuskripte und Bücher unter der Bedingung, „dat die op de geseyde Bibliotheeq apart moeste worden op- geslooten ende dat daarboven gestelt wierd sijn portrait benevens een inscriptie ter materie dienenden.“239 Perizonius wollte vermutlich nicht bloss in Erinnerung bleiben, sondern sich auch in die Reihe berühmter Gelehrter stellen und damit seinen Nachruhm mehren. Donationen und Stiftungen konnten auch nachträglich vergrössert werden. So überbrachte der Sohn des Leidener Theologieprofessors Jo- hannes Coccejus (1603–1669)240 im Jahre 1675 die gedruckten Werke sei- nes Vaters in die Leidener Bibliothek. 1707 schenkte er erneut eines von dessen Werke, das erst ein Jahr zuvor publiziert wurde241 unter der Bitte, „dat deselve nevens andre wercken van syne vader op de Publycq Bib- liotheeq mogten geplaast werden.“242 Die Erinnerung an seinen Vater soll also auch dieses erst später publizierte Werk bewahrten. Eine der grössten Anschaffungen der Leidener Universität war ein Nachlass, für dessen Unterbringung gar die Bibliothek umgebaut werden musste. Auch Isaac Vossius (1618–1689)243 wollte seine private Bücher- sammlung als Einheit verwahren, wozu seine Erben sie en bloc verkauf- ten. Die Leidener Bibliothek, die diese Sammlung erwarb, wird sie aber in ihre Bestandteile aufsprengen und ihrer Bibliothek überführen; nur noch ein eingeklebter Hinweis in den einzelnen Bänden machte den Leser auf Vossius als Vorbesitzer aufmerksam.

237 Zu seiner Biographie: NNBW, Deel 10, Sp. 1153–1154. 238 Zu seiner Biographie: NNBW, Deel 5, Sp. 467–469. 239 Bronnen IV, (8. Mai 1715), S. 277–278, hier S. 278. 240 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 1, Sp. 616–618. 241 Es handelte sich um folgendes Werk: Johannes Coccejus, Opera anekdota theologica et philologica, Amstelodami (Prostant apud Jansonio-Waesbergios, Boom & Goet- hals) 1706–1707. 242 AC1.29, (1. Febr. 1707), f. 430. 243 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 7, Sp. 1519–1525.

86 Bibliotheca publica: Besitz, Trägerschaft und Zugänglichkeit

Die Bibliothek der Leidener Universität wurde – auch während ihrer Schliessung und Unzugänglichkeit – häufig alsBibliotheca publica be- zeichnet. Doch was meint dieser Begriff? Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass der Begriff „Öffentlichkeit“ noch heute verschiedene Bedeutungen hat. Gerd Schwerhoff vertritt zudem die Ansicht, dass die moderne von der vormodernen Öffentlichkeit zu unterscheiden sei.244 Die Enzyklopädie der Neuzeit nennt zum Begriffpublicus drei Sphären: die des Staatlichen, die des Gemeinschaftlichen und die des Offenen, also nicht Geheimen. „Gemein“ war das deutsche Synonym für das la- teinische publicus. Gegenbegriffe waren „geheim“ oder „verborgen“, so- wie „sonderlich“.245 Dies entspricht in etwa der Argumentation von Jürgen Habermas, der drei grundlegende Aspekte der Öffentlichkeit beschreibt: Politik, Besitz und Zugang.246 Neben der Zugänglichkeit der Räume und Bücher kann der Begriff somit auf den öffentlichen statt privaten Träger der Büchersammlung verweisen.247 Justus Lipsius erklärte ja bereits, dass das Wort Bibliothek neben dem Bau auch die Bände selbst meint. Darüber hinaus verweist der Begriff hinsichtlich einer universitären Bibliothek auch darauf, dass sie die Bibliothek der gesamten Schule war und nicht bloss einer Fakultät dienlich sein sollte, also die „gemeine“ Büchersammlung war.

(Staatlicher) Besitz Der Begriff publicus kann folglich auf die Eigentumsverhältnisse und die Sphäre des Staates verweisen. Im Gegensatz zu einer Privatbibliothek haben wir es mit einer gemeinschaftlichen und institutionalisierten Bü- chersammlung zu tun, was entscheidend für die Herausbildung von Öf- fentlichkeit ist. Denn der Begriff verweist stets auch auf die Sphäre des Staates, im Gegensatz zum Privaten, was sich abseits davon abspielt. Die Bibliothek wurde von Beginn an durch die Universität getragen, welche wiederum eine städtische, ja sogar staatliche Institution war. Im Nomen- clator wird die Büchersammlung denn auch als „Bibliothek der Akademie

244 Zum aktuellen Stand der Forschung, siehe: Schwerhoff 2011; Jürgen Habermas be- schreibt den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ – seine grundlegende Arbeit zum Thema – für die Zeit ab dem Aufkommen der Aufklärung; eine Klärung der frühneu- zeitlichen Öffentlichkeit mittels seiner Thesen ist daher nur eingeschränkt möglich, siehe: Habermas 1990. 245 Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Stuttgart (J.B. Metzler) 2005–2012, hier Band 10, Sp. 550; zudem: Hölscher 1978, mit Fokus auf die Jurisprudenz. 246 Habermas 1990. 247 Siehe dazu auch: Hulshoff Pol 1975, S. 407–409.

87 der Stadt Leiden“ bezeichnet, die Bibliothek war also der Universität und diese der Stadt Leiden zugeordnet. Entscheidungsgewalt über alle Belan- gen der Universität und ihrer Bibliothek – beispielsweise die Zugänglich- keit oder der Einkauf von Büchern – hatte das Kuratorium, bestehend aus Vertretern der Universität und Bürgermeistern der Stadt, also Professoren und Politiker. Das Kuratorium tagte zeitweilig in den Sphären der Öffent- lichkeit, nämlich im Stadthaus von Leiden und nicht fortwährend inner- halb eigener Räumlichkeiten,248 was wiederum anzeigt, dass die Schule eine öffentliche Einrichtung und Aufgabe war. Die Bibliothek war also zugleich eine universitäre wie kommunale Institution und somit eine öf- fentliche Angelegenheit. Im Kupferstich von 1610 wird die Büchersamm- lung denn auch als Bibliotheca Lugduno-Batava überschrieben, also als Bibliothek der Stadt Leiden, die Universität wird indes nicht mehr explizit erwähnt. Auch der Katalog von Daniel Heinsius von 1623 trägt dieselbe Bezeichnung im Titel.249 Zudem wurde die Universität – wenigstens zu Be- ginn – als Einrichtung für die ganze neue Republik verstanden. Der Staat hatte sich zur Aufgabe genommen, eine Büchersammlung aufzubauen und den Studenten zur Verfügung zu stellen. Die Bibliotheca publica war somit eine institutionalisierte Einrichtung des Staats und deswegen öf- fentlich, eine res publica. Von Beginn an wollte man staatlichen Buchbesitz in die Leidener Bibliothek inkorporieren. Dousas Versuch, Buchbestände des Hofs von Holland in Den Haag nach Leiden zu überführen, scheiterten zwar, weist aber dennoch darauf hin, dass die Leidener Bibliothek eine landeswei- te Institution war. Der Hof vermachte der Bibliothek später einen Thal- mud.250 Die Bürgermeister der Stadt Leiden beschlossen am 24. Juni 1595, also kurz nach Eröffnung der Bibliothek in der Beginenkirche, ihre Bü- cher, die im Rathaus gelagert wurden und seit eh und je „secreet geweest sijnde“, also nur für ihren Gebrauch bestimmt waren, der Universitäts- bibliothek zu schenken. Sie sollten aber gekennzeichnet werden.251 Die Überführung der Ratsbibliothek in die universitäre Sammlung zeigt an, dass die dortige Bibliothek als öffentliche Einrichtung verstanden wurde. Die Stadt Leiden und die Republik Holland waren also die Träge- rinnen der Bibliothek. Holland war schon sehr früh ein republikanisch geführter Staatenbund. Dennoch verwiesen die erwähnten Staatspor-

248 Beschrieben beispielsweise durch Uffenbach: „Die vierte Kammer [im Stadthaus] ist der Curatoren van der Universiteyt Kaamer, die Schildereyen in diesem Zimmer, als der Plutfond, über der Thüre die Pallas, über dem Camin die Weißheit, und dann die Decke sind alle von Theod. van der Schuer [(1634–1707)] gemacht.“ Uffenbach 1754, S. 401. 249 „Catalogus Bibliothecae publicae Lugduno-Batavae“, siehe: Heinsius 1623. 250 Hulshoff Pol 1975, S. 407. 251 Witkam, DZ I, Nr. 129 (14. Juli 1595), S. 83–84.

88 traits der beiden Prinzen auf die Initianten der Bibliothek in Form dieser Staatslenker. Laut Habermas sei denn auch die vorbürgerliche Öffent- lichkeit eine „repräsentative Öffentlichkeit“ gewesen, welche meist den Fürsten in den Fokus stellte.252 Im Falle der Niederlande darf wohl gesagt werden, dass diese Form einer adligen Öffentlichkeit der Repräsentation weniger stark ausgeprägt war, als anderswo in Europa.

Zentral- und Fakultätsbibliotheken Der Begriff publicus in Zusammenhang mit einer universitären Bibliothek kann neben dem Aspekt des Staatlichen auch darauf hinweisen, dass es sich um die Hauptbibliothek der Universität handelte, also um die allge- meine und vor allem „gemeine“, also öffentliche Zentralbibliothek. Im Gegensatz dazu gibt und gab es in Universitäten Büchersammlungen, die eng an spezifische Fakultäten geknüpft waren und die deswegen nicht „gemein“, sondern „besonders“ – der deutsche Gegenbegriff zu publi- cus253 – waren. Wie bereits erwähnt waren die Buchbestände einer Universität zu- nächst nach Fakultäten geteilt und fanden in den jeweiligen Räumlich- keiten der Fakultäten ihren Platz. Die Theologen, Juristen, Mediziner und Studenten der Artistenfächer verfügten deshalb über eigene Bibliotheken, die nur den Angehörigen ihrer Fakultät offen standen. Mit der Zeit wur- den die Buchbestände aber zentral organisiert und in nur einem Raum untergebracht; die Aufteilung der Pulte nach Fakultäten zeugt von die- ser Entwicklung.254 Es entstand eine zentrale Bibliothek, die der Gemein- schaft zugänglich war, weswegen sie innerhalb der Universität zu einer öffentlichen Bibliothek wurde. Bibliotheken einzelner Fakultäten gab es aber auch danach noch. So auch in Leiden, wo es neben der allgemeinen Universitätsbibliothek wei- tere Büchersammlungen gab. Das Kollegium der Theologie verfügte wohl über die zweitgrösste Büchersammlung der Universität, die zu Beginn noch aus wenigen Bibeln bestand, schon bald aber anwuchs.255 So wur- den 1623 Bücher gekauft und eingebunden.256 Der Pedell der Universität erhielt erst 1631 freien Zugang, was anzeigt, dass die Büchersammlung keine öffentlich-zugänglich war.257 Die Bücher lagen auf verschiedenen Regalen und Pulten und waren zudem angekettet,258 was darauf hinweist,

252 Habermas 1990; Schwerhoff 2011, S. 9. 253 Hölscher 1978, hier S. 415. 254 Buzas 1975, S. 115; Miklau/Leyh 1931–1946, Band 3, S. 224. 255 Hulshoff Pol 1975, S. 437. 256 AC1.21, (8. Nov. 1623), f. 141v. 257 AC1.22, (18. Nov. 1631), f. 47v. 258 Bronnen II, (9. Febr. 1645), S. 296; AC1.23, (29. Juni 1646), f. 320v; AC1.24, (10. Juni 1653), f. 289v–290r.

89 dass vermutlich die Leserschaft nicht immer überwacht war und die Kol- legiaten die Bibliothek möglicherweise frei nutzen konnte, wie dies in England der Fall war. Im Jahre 1685 war es um die Bibliothek aber relativ schlecht bestimmt und der lückenhafte Bestand musste gefüllt und kata- logisiert werden.259 Auch die Juristen verfügten über eigene Bücher. Der Präfekt der Universitätsbibliothek Paulus Merula kaufte Bücher für die Ju- risten ein, welche in ihrem Auditorium angekettet werden sollten.260 Und auch die Mediziner besassen fachspezifische Literatur in eigenen Räum- lichkeiten. Im Ambulacrum des botanischen Gartens wurden Bücher verwahrt und angekettet und Otto Heurnius kaufte für das anatomische Theater gleich eine ganze Bibliothek zusammen. Zumindest diese Bü- chersammlung gelangte im 19. Jahrhundert in den Besitz der allgemeinen Universitätsbibliothek.261 Ob die Niederdeutsche Mathematik über eige- ne Bücher verfügte, ist unklar, jedoch anzunehmen.262

Zutritt zum Raum der Bibliothek Bekanntlich hat eine Bibliothek nicht bloss zur Aufgabe, Wissen zu sam- meln und sicher zu verwahren, sie muss dieses Wissen auch zugänglich machen, soll sie keine tote Ansammlung von Büchern sein. Die aktive und möglichst ständige Nutzung der Bücher unterscheidet sie deswegen von reinen Archiven, die in erster Linie nicht der Konsultation von Doku- menten dienen, sondern ihrer Verwahrung. Dies führt bei jeder öffent- lichen Bibliothek aber zwangsläufig zu einem Konflikt. Das Wesen der Bibliothek ist janusköpfig: Auf der einen Seite muss sie ihre Schätze und deren Ordnung sicher verwahren, um sie der Nachwelt weitergeben zu können, auf der anderen Seite aber sollen sie in die Hände von Lesern gelangen und genutzt werden. Neben einer klaren Definition des Kreises der Leser und ihrer Überwachung durch das Personal kann auch die Ge- staltung und Möblierung einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die angesprochenen Aufgaben von Zeigen und Verwahren zu erfüllen. Eine freie Zugänglichkeit in die Räumlichkeiten der Büchersamm- lung wird ebenfalls mit dem BegriffBibliotheca publica evoziert. Wie aber gezeigt wurde, ist dies nur ein Aspekt von vielen. Habermas schrieb hin- sichtlich der Zugänglichkeit von öffentlichen Bauten: „[…] sie müssen nicht einmal für den öffentlichen Verkehr freigegeben sein; sie beherber- gen einfach Einrichtungen des Staates und sind als solche öffentlich.“263

259 AC1.28, (8. Dez. 1685), f. 14r. 260 Hulshoff Pol 1975, S. 448 (Appendix B, Punkt 5, Artikel 2); zudem Bronnen I, (9. Febr. 1604), S. 156. 261 Hulshoff Pol 1975, S. 438–439. 262 Hulshoff Pol 1975, S. 442. 263 Habermas 1990, S. 54.

90 Natürlich ist für eine öffentliche Büchersammlung die Zugänglich- keit dennoch entscheidend. Der Kupferstich von 1610 gibt Hinweise da- rauf. Im Bild sind keine Frauen zu sehen – im Gegensatz zu den Darstel- lungen des Garten oder der Anatomie, jedoch analog zur Fechtschule –, was anzeigt, dass sie hauptsächlich durch die Studenten und andere Mitglieder der Universität genutzt wurde. Man kann deshalb von einer geschlechterspezifischen Öffentlichkeit sprechen. Die Bibliothek scheint auch weniger von Reisenden besucht worden zu sein als der botanische Garten sowie das anatomische Theater, die deutlich häufiger beschrieben wurden, was aber auch der Mode der Zeit und dem einfacheren visuellen Zugang zu den dort verwahrten und spektakulären Kuriositäten geschul- det sein kann. Merulas Angst aber, dass die Globen durch „Kinder oder unerfahrene Studenten“ beschädigt werden könnten, zeigt auf, dass den- noch der Kreis der Besucher von Anfang an relativ gross war. Abschliessend kann gesagt werden, dass es in der frühen Neuzeit eine Vielzahl an Teilöffentlichkeiten gab.264 So hatten die Angehörigen der Leidener Universität – zumindest meist, war die Bibliothek doch lange ge- schlossen – Zugang zu ihrer Bibliothek. Zudem durften aber auch hohe Politiker der Republik die Büchersammlung aufsuchen. Und ausgewie- senen Mitgliedern der respublica litteraria war der Zugang zur Bibliothek ebenfalls nicht verschlossen, wie aus Reiseberichten hervorgeht.

Zugang zur Literatur Nicht zuletzt herrschten auch nach dem Eintritt in den Leidener Biblio- theksraum noch immer verschiedene Grade an Zugänglichkeit zu Lite- ratur, denn der Türschlüssel war nicht das einzige Instrument, das die Bücher schützte. So wurden die kleinformatigen Bände in einem ver- schlossenen Schrank verwahrt.265 Und auch die Manuskripte und Nach- lässe waren in speziellen Kästen verschlossen und mussten beim Biblio- thekar angefragt werden. Die an die Pulte geketteten Büchern hingegen waren frei auffind- und einsehbar. Entsprechend ihrer Verwahrung und Handhabung erhielten Bib- liotheksbestände oft verschiedene Bezeichnungen. So war der Bestand spätmittelalterlicher Bibliotheken häufig zweigeteilt.266 Die an Pulte ge- ketteten Kodizes wurden als Bibliotheca publica bezeichnet. Die wertvol-

264 Zum Aspekt der Teilöffentlichkeiten, siehe: Schwerhoff 2011, vor allem S. 8; Rau 2011, vor allem S. 59–60. 265 Dass es sich tatsächlich um verschiedene Schlüssel handelte, wird aus einem Ein- trag ins Dachbouc vom 15. Sept. 1595 ersichtlich, siehe: Molhuysen1905, S. 17; siehe zudem die Ordonanncie zur Eröffnung der Bibliothek, die auf den folgenden Seiten besprochen wird. 266 O’Gorman 1972, S. 16; neben publica und secreta wurden die Bestände auch magna und minor oder parva genannt.

91 leren und spezieller Bestände wurden hingegen sicherer verwahrt und leihweise herausgegeben; da sie nicht öffentlich auslagen, nannte man diesen Bestand Bibliotheca secreta. Sie waren durch den Benutzer nicht selbstständig konsultierbar, lagen somit „verborgen“ und „abgesondert“, zwei Gegenbegriffe zu publicus.267 Analog kann gesagt werden, dass in der Leidener Bibliothek die angeketteten Folianten frei zugänglich und somit öffentlich waren, die kleinformatigen Werke hingegen mussten angefragt werden, waren also geheim statt gemein. Folglich ist der Aspekt der Zu- gänglichkeit und somit der Öffentlichkeit einer Bibliothek in hohem Mas- se abhängig von ihrer Architektur. Neben all diesen Faktoren, die den Weg zum Buch regulierten, muss- te es natürlich auch gelesen werden können. Da die meisten Bücher der Leidener Bibliothek in Latein verfasst waren, verfügten in erster Linie nur Gelehrte über diese Fähigkeit. Die normale städtische Bevölkerung blieb aufgrund ihrer mangelnden Sprachfähigkeiten aussen vor.268

Das Bibliotheksreglement von 1595

Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie es um die Zugänglichkeit der Leidener Bibliothek stand. Laut den Statuten der Universität aus dem Jahre 1575 wurde angestrebt, eine Büchersammlung zu errichten, zu der gleichermassen Studenten wie auch Professoren Zugang haben sollten.269 Auch bei der Berufung von Jan van der Does d.J. (Janus Dousa Jr) (1571– 1596)270, der nach seinem Vater zum Bibliothekar gewählt wurde, wurde der Publikumskreis definiert: „van de doctoren, professoren ende studen- ten, denwelcken hy voor allen anderen zal doen ende laeten dervan heb- ben openinge ende tgebruyc“.271 Die Bibliothek sollte somit primär allen Angehörigen der Universität zur Verfügung stehen. Doch bereits zur Eröffnung der neuen Bibliothek in der Beginenkir- che veränderte man den Kreis der Leser entscheidend und die frühen Ide- ale wurden schon bald verwässert oder ausser Kraft gesetzt. Verantwort- lich für die Bibliothek und ihre Benutzungsordnung war das Kuratorium der Universität, das aus Bürgermeistern der Stadt und gewählten Profes- soren der Universität bestand. Die Studenten hatten somit kein direktes Mitspracherecht, was sich auch hinsichtlich der Vergabe von Schlüsseln

267 Hölscher 1978, S. 415. 268 Hulshoff Pol 1975, S. 409. 269 Bronnen I, (1. Mai 1575), Bijl. no. 20, S. 19*–22*, hier S. 21*–22*; Berkvens-Stevelinck 2012, S. 39. 270 Zu seiner Biographie: NNBW, Deel 6, Sp. 429–430. 271 Bronnen I, (11. Juli 1593), Bijl. no. 214, S. 266*–268*, hier S. 268*; zudem: Molhuysen 1905, S. 12.

92 zeigen wird. Politiker aus verschiedenen Teilen der jungen Republik woll- ten ebenfalls Zugang und auch Theologen, also Vertreter der geistlichen Macht, gelangten zu Schlüsseln.

Das Bibliotheksreglement zur Eröffnung 1595 Neben dem Nomenclator wurde zur Eröffnung der Bibliothek am 24. Mai 1595 ein Reglement publiziert (Abb. 2.13).272 Denn jede institutionalisier- te Sammlung, die einem grösseren Publikum dienlich sein sollte, musste zwangsläufig eine Nutzungsordnung verfassen, um sicherzustellen, dass die Sammlung zweckgemäss gebraucht und nicht beschädigt wurde, damit auch zukünftige Leser von ihr profitieren konnten. Bei einer Pri- vatbibliothek mit nur einem oder wenigen Nutzern muss natürlich kein Reglement ausgearbeitet werden. Dies war auch dem Oxforder Bibliothe- kar Thomas Bodley bewusst, als er in den Entwurf der Statuten seiner öf- fentlichen Bibliothek schrieb:

„FORASMUCH as Experience hath made it apparent in the course of Men’s Actions, that no publick Institution nor Foundation whatsoe- ver, wherein a Multitude hath Interest, and where Continuance is re- quired, can produce those good Effects, for which the same was first intended, except the dissolute Demeanours of ill affected Persons be judiciously restrained, by force of Statutes and Provisoes to encoun- ter their Dirsorders“.273

Die Leidener Kuratoren taten also gut daran, ebenfalls ein Reglement für ihre Büchersammlung herauszugeben. Diesem wurde ein kurzes Vor- wort vorangestellt, das auf die Aufgaben und die Kosten der Bibliothek hinweist. Darin wird erklärt, dass die Bibliothek eine beachtliche Summe gekostet habe – gegen 8000 Gulden – und dass sie nun dem Nutzen und Dienst der Universität übergeben werde. Die Bücher seien geordnet und angekettet in die Kästen gestellt worden, der Katalog gedruckt und die Bi- bliothek somit bereit für den Gebrauch.

Verteilung der Schlüssel Hinsichtlich der Zugänglichkeit ist laut dieser Ordonnancie beschlossen worden, allen ordentlichen und ausserordentlichen Professoren einen Schlüssel zur Bücherkammer zu geben. Im kommenden Herbst wur- den 25 Schlüssel für die Bibliothekstüre und 26 Schlüssel für die Bücher-

272 Bronnen I, (24. Mai 1595), S. 93 und Bronnen I, (24. Mai 1595), Bijl. no. 299, S. 343*– 344*; abgebildet in: Hulshoff Pol 1975, S. 408, Abb. 7. 273 Bodley 1967, hier S 65–66.

93 Abb. 2.13 Das erste Reglement zur Benutzung der Bibliothek und zur Verteilung der Schlüssel, welches zur Er- öffnung der Büchersamm- lung publiziert wurde.

(aus: Elfriede Hulshoff Pol, „The library“, in: Th.H. Lunsingh Scheurleer und G.H.M. Posthumus Meyjes (Hg.), Leiden University in the seventeenth century. An exchange of learning, Lei- den (Universitaire Pers) 1975, S. 408, Abb. 7)

schränke gefertigt, die „zullen werden uytgedeelt“.274 Im Falle des botani- schen Gartens, der nahezu zeitgleich eröffnet wurde und dessen Gesetze später in Stein gemeisselt über seinem Eingang zu lesen waren, sollten nur die Professoren der Medizin einen Schlüssel erhalten. Denn ähnlich den Büchern einer Fakultätsbibliothek dienten die Pflanzen des Gartens in erster Linie den Professoren mit entsprechenden Spezialkenntnissen, während in der zentralen Bibliothek Bücher zu jedem Fachbereich gefun- den werden konnten. Nicht nur hatten alle Interesse daran, sondern alle verfügten auch über die Fähigkeiten, die Sammlung sinnvoll zu verwen- den. Neben den Professoren wurden auch den Mitgliedern des Kurato-

274 Witkam, DZ I, (15. Sept. 1595) No. 5032, S. 159.

94 riums, dem Regenten und Subregenten des Kollegiums und den Magist- raten der Stadt Schlüssel ausgegeben, was wiederum auf den staatlichen Charakter der Büchersammlung verweist. Jan van Hout gab wenig später Schlüssel an Mitglieder des Hofs von Holland in Den Haag – nicht zuletzt aufgrund des geschenkten Talmuds – und anderen dort ansässigen Insti- tutionen.275 Und auch die geistliche Welt in Form der Kirchendiener der Stadt Leiden erhielt einen Schlüssel zur Bibliothek.276 Dies unterstreicht den öffentlichen und staatlichen Charakter der Bibliothek. Christiane Berkvens-Stevelinck schreibt dazu: „This symbolic gestures emphasised the national character of Leiden University. […] Leading institutions and individuals in the Republic could regard the library as their own: after all, they had the keys to it.“277 Wer nach diesen Bestimmungen aber keinen Schlüssel zur Biblio- thek erhielt, waren die Studenten. Sie gingen vorerst leer aus oder konn- ten die Bibliothek – zumindest offiziell – nur in Anwesenheit eines Pro- fessors oder anderen Schlüsselinhabers nutzen. Wer also einen Schlüssel besass, konnte frei über sie verfügen, alle anderen waren auf den Einlass durch einen Dritten angewiesen. Denn es fehlten zunächst auch allge- meine Öffnungszeiten der Bibliothek. Diese wurden erst später definiert, ein Punkt, der im Reglement vom 24. Mai 1595 noch „in Bedenken gehal- ten“ wurde.278

Artikel der Ordonnancie Die Bestimmungen zum Besitz eines Schlüssel und der Benutzung der Bi- bliothek wurden mittels Regeln genau festgelegt. Punkt 1 der Ordonnancie besagt, die Empfänger von Schlüsseln dürfen diese Schlüssel weder an- deren Person aushändigen, noch Kopien davon anfertigen lassen. Es mag zunächst erstaunen, dass dies explizit verboten werden musste. Doch nach eingehender Analyse der Zutrittsbestimmungen in Universitätsbi- bliotheken der Zeit verwundert es nicht, dass das Kopieren und Verteilen von Schlüsseln reglementiert werden musste, weil es tatsächlich geschah. Der zweite Punkt des Reglements besagt, dass die Besitzer von Schlüsseln weitere Personen nur dann in die Bibliothek lassen dürfen, wenn sie selbst anwesend blieben und sicherstellen würden, dass keine Bücher beschädigt und dass alle zugeschlagen und am richtigen Platz versorgt würden. Die Studenten und alle anderen interessierten Personen konnten deswegen in Begleitung eines Professors oder anderen Schlüs-

275 AC1.41, (14. Juli 1595), No. 22; Bronnen I, (14. Juli 1595), S. 93. 276 Bronnen I, (9. Nov. 1603), S. 152. 277 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 39. 278 „[…] twelck in bedenckinge gehouden wordt […]“, Bronnen I, (24. Mai 1595), Bijl. no. 299, S. 343*–344*, hier S. 344*.

95 selbesitzers, der ihnen wohlgesinnt war, die Bibliothek nutzen. Die Be- gleitperson sollte zudem die Aufgabe des Überwachens übernehmen – denn einen Aufseher hatte die Bibliothek damals noch nicht. Punkt 3 legte fest, dass die kleinformatigen Bücher, die in den abge- schlossenen Schränken verwahrt wurden, nur einzeln herausgenommen und gelesen werden durften. Zudem mussten sie nach der Lektüre sofort wieder versorgt werden. Dieser Artikel hatte wohl zum Zweck, eine Un- ordnung auf den Arbeitstischen und den Schränken zu verhindern, ver- eitelte aber zudem – wie die Fixierung der Folianten – die vergleichende Lektüre verschiedener Werke. Zudem sollte die Beschränkung auf nur ein Werk vermutlich ermöglichen, Buch und Leser einfacher zu kontrollie- ren, um Diebstähle zu verhindern. Der folgende Paragraph bestimmte, dass keine Bücher aus der Bib- liothek genommen werden durften. Der nächste Punkt erklärte, falls die Besitzer von Schlüsseln andere Personen in den Raum führten, sie nach deren Verlassen alle Kästen und die Türen abschliessen mussten. Ferner wurde geregelt, dass sie bei Verlassen der Stadt oder bei ihrem Tod durch die Erben die Schlüssel retournieren sollten; falls dies nicht geschehe, würden sämtliche Schlösser und Schlüssel auf ihre Kosten ausgetauscht. Der letzte Artikel erklärte, dass Öffnungszeiten noch zu definieren sei- en.279

Ausgeliehene und kopierte Schlüssel Die Studenten hatten somit keinen freien Zugang zur Bibliothek, wuss- ten sich aber gegen diese einschneidende Beschränkung der Nutzungs- möglichkeit zu helfen. Sie liehen sich Schlüssel von Professoren und liessen sie kopieren.280 Die Studenten waren dabei vermutlich auf die wissentliche Mithilfe der Professoren angewiesen. Doch was führte die Professoren dazu, das unterzeichnete und rechtsgültige Reglement zu missachten, den Studenten die Schlüssel auszuhändigen und diese ko- pieren zu lassen? Und wieso wurde ein solches Vorgehen im Reglement explizit erwähnt, gewissermassen gar heraufbeschworen? Es war usus der Zeit, dass Studenten freien Zugang in Bibliotheken erhielten – zumindest in jene Bereiche, deren Bände mittels Ketten gesichert waren – und die Leidener Professoren wollten ihren Schützlingen wohl diesen nicht ver- wehren. Vermutlich verdankt sich der Typus der Kettenbibliothek sogar diesen Umständen. Denn um eine freie und unbeaufsichtigte Nutzung gewährleisten zu können, war zum Schutz des Bestands eine entspre- chende Möblierung der Bibliothek zwingend notwendig: die an Pulten

279 Eine Kopie dieser Ordonanncie wird in BAR.R1 verwahrt. 280 Siehe dazu Berkvens-Stevelinck 2012, S. 37–39; Hulshoff Pol 1975, S. 410.

96 angeketteten Bücher.

Erfindung und Entwicklung des Kettensystems

Studenten durften in der Regel natürlich die Bibliothek ihrer Universität nutzen, wurden sie doch primär für ihren Gebrauch errichtet. Das Ket- tensystem verdankt sich dieses Umstandes, denn wo viele Nutzer Zugang zur Büchersammlung finden sollten und dieser Nutzerkreis nicht relativ gleichbleibend und überschaubar war, mussten die Bücher vor Dieb- stahl geschützt werden. Das Anketten der Bücher stellte eine pragmati- sche Lösung dar, übernahm doch in erster Linie die Ketten den Schutz der Bücher, und nicht das Schloss der Bibliothekstüre. Die Leser mussten aufgrund der Ketten auch nicht zwangsläufig überwacht werden. Zudem ermöglicht das System ein individuelles und einfaches Auffinden der gewünschten Werke, war ihr Standort doch durch die Ketten fixiert. Die Bände konnten deswegen auch nicht falsch zurückgestellt werden, was die Ordnung der Bücher garantierte. Die Entstehung von Signaturen und Standortkatalogen war wohl Resultat einer freien Benutzung, mussten die Bücher doch auch ohne Hilfe eines Bibliothekar aufgefunden werden können.281 Kettenbibliotheken sind deshalb Freihandbibliotheken. Die Ursprünge der Kettenbibliothek wurde in der Forschung bereits öfters diskutiert, eine eindeutige Antwort blieb indes aus. Es werden zwei Thesen vertreten: zum einen, dass die Kettenbibliothek in Klöstern er- funden wurde und später durch die Universitäten übernommen wurde, zum anderen die gegenläufige Entwicklung, dass sie zunächst in akade- mischen Büchersammlungen zum Einsatz gekommen sei und die Klös- ter sie erst im Spätmittelalter nach Öffnung ihrer Bibliotheken übernah- men.282 Die zweite These scheint die plausiblere zu sein, wie im folgenden gezeigt werden soll. Vermutlich ist es aber müssig herauszufinden, ob es nun eine klösterliche oder universitäre Bibliothek war, die zuerst das Ket- tensystem einführte. Nicht die Frage nach dem „wo“, sondern nach dem

„warum“ ist entscheidend.

Mitteralterliche Bibliotheken Das Kettensystem wurde während des Mittelalters in Klöstern über lan- ge Zeit nicht benötigt, ebenso wenig wie ein spezieller Lesesaal. Für die Aufbewahrung der Bücher reichte ein verschliessbarer Raum; oftmals wurden sie in der Sakristei oder der Schatzkammer verwahrt. Häufig

281 Buzas 1975, S. 146. 282 Vorstius 1954, S. 22.

97 reichte sogar bloss eine abschliessbare Bücherkiste aus, waren die Bestände doch sehr bescheiden.283 Die Regelung der Klosterbibliotheken folgte im Mittelalter dem monastischen Tagesablauf. Bei den Benedikti- nern wurden die Bücher jeweils zu Beginn der Fastenzeit ausgeteilt und wieder eingezogen. Bei den Augustinern durften die Mönche Bücher am Morgen ausleihen und mussten sie am Abend retournieren. Einen eigen- ständigen Lesesaal gab es ebenfalls noch nicht. Die Mönche konnten die erhaltenen Bücher in ihren Zellen oder im Kreuzgang studieren.284 Doch die Praxis des Lesens ist einem steten Wandel unterzogen, was zu neuen Formen der Bibliothekseinrichtung führte.285 Studierten die Be- nediktiner ein Werk noch ein ganzes Jahr über, so dienten die Bücher als Grundlage für eine gründliche Kontemplation über den Text und darü- ber hinaus über Gottes Werk und Wesen. Die Bücher selbst, Bewahrer des Glaubens, wurden hochgeschätzt und die Literatur äusserst gründlich be- trieben. Bei den Dominikanern und den frühen Universitäten wurde aber ein anderer Umgang mit dem Buch praktiziert. Hier bildete das rasche und komparative Lesen von Texten den Weg zur Erkenntnis. Humbertus de Romanis forderte, dass die Gemeinschaft der Brüder die gewünsch- ten Werke schnell („in promptu“) zur Hand hatten.286 Das prompte An- bieten vieler Werke konnte nur dank einer neuen Bibliotheksarchitektur gewährleistet werden, dem Kettensystem, weswegen das Verständnis von Lektüre und daraus abgeleitet der Umgang mit dem Buch entscheiden- den Einfluss auf die Einrichtung von Bibliotheken hat.287 Neben veränderten Lesegewohnheiten spielte auch der Kreis der Nutzer eine entscheidende Rolle in der Entstehung des Kettensystems. Sicher ist, dass es ab dem Zeitpunkt notwendig wurde und Verbreitung fand, als eine erweiterte Zugänglichkeit zu einer Anonymisierung des Pu- blikums führte und die Bücher deswegen geschützt werden mussten. Dies fand im ausgehenden 13. Jahrhundert seinen Anfang, und zwar zugleich in Kloster- wie in Universitätsbibliotheken. James F. O’Gorman weist in seiner Studie zur Architektur italienischer Klosterbibliotheken288 darauf hin, dass sich dort die beiden vorherrschenden Sphären der Bildung – Klöster und Bibliothek – mischten. Laut ihm beginnt die Geschichte der modernen Bibliotheksarchitektur mit spezifischen baulichen Lösungen im späten 13. Jahrhundert.289 Damals öffneten sich die Klosterbibliothe-

283 Campbell 2013, S. 106–107. 284 Buzas 1975, S. 149–150. 285 Grundsätzlich zum Thema: Hanebutt-Benz 1985. 286 Clanchy 1979, S. 130. 287 Clanchy 1979, S. 130–131. 288 Wobei laut O’Gorman Bibliotheken des Mittelalters und der frühen Neuzeit eigent- lich gleich waren, siehe: O’Gorman 1972, S. 15. 289 O’Gorman 1972, S. 4.

98 ken einem grösseren Publikum, meist Studenten der neugegründeten Universitäten, die von den bestehenden Büchersammlungen des Klerus’ Gebrauch machen wollten, da die Universitäten in ihren ersten Jahren oftmals noch nicht über einen angemessenen Besitz an Büchern verfüg- ten. Sobald sich das claustrum – was neben Kloster auch Schranke oder Verschluss bedeutet – öffnete, mussten auch dort die Bücher an Ketten gelegt werden. Es entstanden Referenzbibliotheken, die zur Absicherung ihrer Bestände die Kodizes an die Pulte ketteten. Im Kloster St. Emmeram in Regensburg entstand bereits 1346 ein Bibliotheksraum, der mit 32 Pul- ten eingerichtet wurde, wobei die hohe Anzahl der Pulte darauf hinweist, dass dort die Bücher auch angekettet wurden.290 Eine entscheidende Rolle in der Verbreitung des Kettensystems dürf- te Humbertus de Romanis (um 1195–1277), der zeitweilige Generalmeister der Dominikaner, gespielt haben, der bereits 1270 Referenzbibliotheken mit auf Pulten angeketteten Büchern forderte.291 Er wünschte einen si- cheren, gut ventilierten und vor Wasser geschützten Raum, in welchem die Bücher mit Signaturen versehen und in einem Katalog verzeichnet wohlgeordnet in hölzernen Möbeln (armarium) stehen sollten. Der Bib- liothekar sollte die Bibliotheken zu definierten Zeiten öffnen. Der durch ihn beschriebene Buchbestand ist indes zweigeteilt. Wichtige Referenz- bücher, die beständig in Gebrauch waren, sollten angekettet werden, „so dass die Gemeinschaft der Brüder sie zur Hand haben können“.292 Weni- ger häufig benötigte Werke sollen hingegen gesondert gelagert werden, durch den Bibliothekar ausgeliehen werden, der darüber natürlich genau Buch zu führen habe. Nach dieser Propagation wurde das Kettensystem auch durch andere Ordensgemeinschaften langsam übernommen und zum Standard von Klosterbibliotheken der frühen Neuzeit.293 Die durch Humbertus de Romanis definierten Regeln behielten in der frühen Neu- zeit ihre Gültigkeit. Und auch die Leidener Bibliothek folgte grundsätzlich noch diesem Regelwerk.

Mittelalterliche Universitätsbibliotheken Studiert hatte Humbertus de Romanis an der Sorbonne in Paris,294 die in der Sekundärliteratur oft als Erfinderin der Kettenbibliothek genannt wird. Ob die Universität damals bereits eine Bibliothek mit angeketteten Büchern besass und Humbertus de Romanis dort dieses Aufstellungs- prinzip erstmals sah, ist ungewiss. Überliefert ist dieses System innerhalb

290 Buzas 1975, S. 37. 291 Romanis 1978, S. 47–50; zudem: O’Gorman 1972, S. 4. 292 Romanis1978, S. 49. 293 O’Gorman 1972, S. 4. 294 Lexikon des Mittelalters, Band V, Sp. 209.

99 der Sorbonne erst in einer Akte von 1289. Damals eröffnete die Sorbonne nämlich ihre neue Bibliothek, die indes zweigeteilt war, in eine Biblio- theca publica und eine Bibiotheca secreta. Die erste war in einem grossen Raum untergebracht, in der die Bücher angekettet auf Pulten zur freien Konsultation lagen: „Nota eciam quod anno Domini M°CC°LXXX°IX° fuit primo institutum librarium in domo ista pro libris cathenatis ad com- munem sociorum utilitatem.“295 Die kleine Bibliothek hingegen war eine Leihbibliothek. Die Einrichtung der Bibliothek entsprach also den Vor- stellungen, die auch Humbertus de Romanis kurz zuvor verfasste. Das University College in Oxford folgte 1292 dem Pariser Beispiel und teilte seine Büchersammlung in eine Referenz- und eine Leihbibliothek. Für die Bibliothek des Merton College wird das Kettensystem erstmals in einem 1339 geschenkten Buch bestätigt und vermerkt, das Buch sei „ad incathenandum in loco communi et inde non transferatur ad usus pri- uatos nisi de communi consencu scolarium predictorum qui presentes fuerint in collegio eorundem“.296 Es wird daraus ersichtlich, dass der Raum der Büchersammlung ein gemeiner, öffentlicher war („in loco communi“) und dass dieses und andere Bücher, wie weitere Akten belegen, jederzeit dort auffindbar sein sollten. Weitere Universitätsbibliotheken mit angeketteten Büchern folgten. Dank den angeketteten Büchern konnte auch mit dem Schlüssel zum Bi- bliotheksraum grosszügig umgegangen werden. So wurde in Wien 1443 ein Reglement für die Benutzung der neuerrichteten Artistenbibliothek verfasst. Es besagt, dass die Mitglieder aller Fakultäten gegen eine Gebühr einen Schlüssel zum Bibliotheksraum erhielten – darin waren die Bücher angeketteten und somit vor Diebstahl geschützt. Die Ausleihe von Bän- den war ebenfalls möglich, bedurfte aber der Zustimmung des Dekans sowie der Hinterlegung eines Pfandes.297 Die Universität in Freiburg im Breisgau folgte dem Wiener Beispiel: dort wurden ebenfalls Schlüssel ausgeteilt und die angekettet Bücher waren frei konsultierbar.298 Auch die universitäre Büchersammlung in Ingolstadt konnte um 1500 dank der Vergabe von Bibliotheksschlüsseln selbstständig besucht werden.299 Abschliessend kann also gesagt werden, dass es der erweiterte Kreis der Leser war, der zur Einführung des Kettensystems und dadurch auch zum Bau spezifischer Räumlichkeiten führte, mussten die vielen Pulte doch in einem eigenen Raum aufgestellt werden. Die Bibliothek wurde

295 Glorieux 1965–1966, Band I (Robert de Sorbonne), S. 240. 296 Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries before 1500“, in: Ker 1985, S. 301–320, hier S. 303–30, Zitat S. 304. 297 Buzas 1975, S. 117. 298 Buzas 1975, S. 119. 299 Buzas 1975, S. 119–120.

100 somit zum Ende des 13. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Bauaufga- be, wie es O’Gorman beschrieb. Zudem erlaubten die Ketten der Refe- renzbibliothek, dass die Leser freien Zugang zu den dort verwahrten Wer- ken hatten – und oftmals einen Schlüssel erhielten. Nicht zuletzt war das neue System auch dem neuen Leseverhalten angepasst, dass die rasche Konsultation verschiedener Werke erlaubte.

Schlüssel in aller Hände und die Schliessung der Bibliothek

Es entsprach dem usus der Zeit, dass universitäre Bibliotheken mit dem Kettensystem eingerichtet wurden und sie frei durch die Studenten kon- sultiert werden konnten, weswegen sie häufig einen Schlüssel zur Bücher- kammer erhielten. Daher erstaunt es kaum, dass die Leidener Professo- ren das Reglement von 1595 nicht allzu eng sahen und an ihre Studenten Schlüssel aushändigten, wollten sie doch einfach diese gängige Praxis ihren Schülern ermöglichen. Es war auch dem Kuratorium bewusst, als sie im Reglement explizit das Verbot definierten, Schlüssel zu verteilen oder gar Kopien davon anfertigen zu lassen, dass sie von zeittypischen Gewohnheiten abwichen.

Eine Bibliothek in Unordnung Die Studenten fanden also schon bald mittels kopierter Schlüssel unbe- grenzten Zugang in die Bibliothek. Trotz der Fixierung durch die Ketten kam es jedoch innerhalb weniger Jahre zu einer grossen Unordnung der Büchersammlung. Dies entging auch dem Kuratorium nicht, wie in einer Akte vom Februar 1597 festgehalten wurde. Nach dem Tode des Bibliothe- kars Jan van der Does jr. notierten sie, dass viele verschiedene Leute – so auch Studenten – mittels kopierter Schlüssel freien Zugang zur Bibliothek hatten und diese in Unordnung geraten sei. Die Bücher wären „verwor- pen, verstrooyt ende ook te bedugten was dat eenige metter tyd verloo- ren zoude werden tot grote nadeel van de voorsz. Universiteit“.300 Es wäre deswegen von Nöten, dass eine Person zum neuen Präfekten und zudem zum Aufseher der Bibliothek berufen werden sollte. Erstmals finden wir hier also den Wunsch nach einer Aufsicht in den Räumen der Leidener Bibliothek, was zuvor nicht vorgesehen war. Ihre Wahl viel auf Paulus Merula (1558–1607), der Jurist, Historiker, Geograph und Geschichtsschreiber der Generalstaaten war301 und zu- dem nahe der Bibliothek wohnte, was wohl ein Hauptargument für seine

300 AC1.20, (24. Febr. 1597), f. 30v–31r, hier f. 30v. 301 Dieses Amt übernahm auch später meist der Bibliothekar der Leidener Universität.

101 Wahl war, da er so immer erreichbar sei und die Bibliothek aufschliessen könne.302 Zudem wurde nun erstmals über Öffnungszeiten gesprochen. Merula sollte sich zweimal pro Woche in der Bibliothek aufhalten und die Aufsicht übernehmen. Die Schlüssel sollten wiederum den Professo- ren ausgeteilt werden, doch diesmal gegen deren Unterschrift in einem Register.303 Die Wiederinstandsetzung der in Unordnung gebrachten Bü- chersammlung besorgte indes nicht Merula, sondern Petrus Bertius, der die Bibliothek und ihre Ordnung wohl am besten kannte, erstellte er doch den Nomenclator. Für die Wiederherstellung der Bibliothek wurde er am 12. Mai 1597 mit 150 Gulden entlohnt.304 In einer folgenden Sitzung vom 12. Mai 1597 legte man fest, dass alle Schlüssel der Bibliothek, auch die der Professoren, zurückgefordert und eingezogen werden sollten. Zudem sollten die Schlösser der Biblio- thek ausgewechselt werden. Die neuen Schlüssel sollten nicht mehr den Professoren ausgehändigt werden – wie noch wenige Wochen zuvor be- schlossen wurde – sondern einzig im Besitz des neuen Bibliothekars Me- rula verbleiben. Falls ein Professor wünsche, die Bibliothek zu nutzen, so müsse er nun den Bibliothekar oder jemanden seiner Familie aufsuchen und um Einlass in die Bibliothek bitten. Dieser Aspekt war wohl bereits bei der Wahl Merulas zum Bibliothe- kar berücksichtigt, wohnte er doch im Beginenhof und somit nahe der Bibliothek. Die Nähe des Präfekten zum Sammlungsraum spielte auch beim botanischen Garten eine entscheidende Rolle, wurde doch ein Wohnhaus in unmittelbarer Nähe des Gartens für den Aufseher frei zur Verfügung gestellt. Merulas Nachfolger als Bibliothekar, Daniel Heinsi- us, wird dessen Wohnung übernehmen, wobei das Kuratorium die Miete bezahlen wird.305 Die Nähe des Bibliothekar zur Büchersammlung wurde indes bereits im Mittelalter gewünscht, ebenso definierte Öffnungszei- ten.306 Und auch der Präfekt und der Hortulanus des botanischen Gartens erhielten Wohnung nahe ihrer Einrichtung, um nicht nur stets Besucher herumführen, sodern auch ständig die Pflanzen pflegen zu können. Die allgemeinen Öffnungszeiten der Bibliothek wurden nun ebenfalls genau definiert: jeweils am Mittwoch und Samstag von zwei bis vier Uhr nachmittags, wenn keine Vorlesungen gehalten wurden, sollte die Bibliothek – auch den Studenten – offenstehen. Merula, der nach dem Beschluss vom Februar 1597 ebenfalls zu diesen Zeiten in der Bibliothek

302 Zur Frage weshalb Merula und nicht Bertius berufen wurde, siehe Berkvens-Steveli- nck 2012, S. 41. 303 AC1.20, (24. Febr. 1597), f. 30v–31r. 304 Bronnen I, (12. Mai 1597), Bijl. no. 316, S. 373*–374*. 305 Bronnen II, (8. und 9. Mai 1618), S. 80–81. 306 Romanis 1978, S. 50.

102 zu sein hatte, wurde ein Aufseher an die Seite gestellt, der gewährleisten sollte, dass keine Bücher „wechgenommen ofte verduystert“ würden. Es handelte sich dabei um den „schafmeester in den Collegie der Theologi- en“, Franck Willems. van Dubben.307 Er wurde im kommenden Jahr mit 50 Gulden für die Aufsicht und das Aufräumen der Bibliothek entlohnt.308 Die Studenten hatten nun erstmals offiziellen Zugang zur Bibliothek der Universität, aber bloss noch während der Öffnungszeiten, hatten sie doch nun keine Schlüssel mehr – zumindest vorerst. Im Sommer 1597 protestierten die Professoren über das neue Regle- ment und wünschten sich erneut Schlüssel zur Büchersammlung. Das Kuratorium kam dieser Bitte nicht nach und wies darauf hin, dass der Zu- gang auch für die Professoren dank Merula jederzeit gewährleistet sei. Sie erteilten Merula zudem den Auftrag, „niemand vande Heeren Professo- ren willende gaan opte voorsz Boeckkamer acces daar toe te weigeren“.309 Ob Merula seine Funktion als Pförtner willentlich missbrauchte und ihm unliebsame Professoren absichtlich nicht in die Bibliothek liess, wie man aus dieser Akte herauslesen könnte, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Die Professoren protestierten im Winter 1598 erneut. Sie verlangten wie zuvor in den Besitz von Schlüsseln kommen. Der Senat der Universität sollte ein Formular entwerfen, das von den Empfängern der Schlüssel zu unter- zeichnen sei, so dass der Bibliothek „keinen Schaden oder Verminderung von Büchern“ zustossen würde (Abb. 2.14).310 Am 8. Juni 1598 wurde der Beschluss getroffen, dass die Professoren wiederum gegen Unterschrift die Schlüssel zur Bücherkammer erhalten sollen, doch diesmal unter et- was verschärften Bedingungen: Sollte jemand seinen Schlüssel entliehen, dann müsse er selbst für die Kosten der zu wechselnden Schlösser und Schlüssel aufkommen. Der Betrag würde direkt vom Lohn abgezogen.311

Schliessung der Bibliothek In den kommenden sieben Jahren finden sich in den Akten keine Infor- mationen über unbefugte Vergaben von Schlüsseln. Ebenfalls ist nicht belegt, dass ein Professor die Kosten für neue Schlüssel und Schlösser tatsächlich zahlen musste. Vermutlich aber fanden die Schlüssel wiede- rum – trotz des unterzeichneten Scheins und der möglichen finanziellen Haftung – ihren Weg in die Hände der Studenten. Denn in der Sitzung vom 7. und 8. November 1605 wurde beschlossen, die Bibliothek ganz zu

307 Die Beschlüsse in: Bronnen I, (12. Mai 1597), Bijl. no. 316, S. 373*–374*, hier S. 373*. 308 Bronnen I, (8. Mai 1598), S. 114. 309 AC1.20, (11. und 12. Aug. 1597), f. 34v.; zudem Bronnen I, (12. Mai 1597), S. 102 und Bronnen I, (11. Aug. 1597), S. 102. 310 AC1.20, (9. Febr. 1598), f. 41v. 311 Bronnen I, (8. Juni 1598), S. 112.

103 Abb. 2.14 schliessen. In den Akten finden wir keinerlei genauen Erklärungen wes- Begehrtes Gut. Skizze der halb, es heisst dort nur lapidar: „Is meede geresolveerd dat om te voor- Schlüssel zur Bibliothek und Entwurf der zu unter- coomen de ongeregeltheid inde Bibliothecque gebruikt dezelve voorts zeichnenden Empfangsbe- aan zal blyven geslooten.“312 Dadurch verlor der Aufseher der Bibliothek stätigung. seinen Nebenerwerb. Für die bereits geleisteten Dienste erhielt er die (AC1.100, Jan van Hout, ausstehenden 50 Gulden.313 Denn eine Bibliothek ohne Leser bedurfte Dachbouc, f. 229r.) keiner Überwachung.

(Fotografie des Autors) Die Studenten waren über diesen Beschluss natürlich alles andere als erfreut. Einige von ihnen erbaten das Kuratorium am 21. November, also bloss zwei Wochen nach Schliessung der Bibliothek, die Bibliothek wieder zur gewohnten Zeit zu öffnen. Sie schrieben, die Bibliothek sei noch immer verschlossen, so dass niemand die Bücher gebrauchen kön- ne, was ein grosser Nachteil für alle Studenten sei. Zudem widerspräche dies dem Wunsch der Donatoren, die grosszügigerweise der Bibliothek Bücher vermachten, damit ebendiese auch gelesen würden.314 Donatoren konnten also auch nach ihrem Ableben noch immer sozialen und juristi- schen Einfluss ausüben. Dagegen sprach, dass einige Bücher durch Stu- denten mutwillig in Mitleidenschaft gezogen worden seien.315 Die Biblio- thek blieb vorerst geschlossen. Doch vermutlich versäumte das Kuratorium, mit der Schliessung auch die Schlösser der Bibliothek zu wechseln. Studenten fanden noch immer mittels ausgeliehener oder kopierter Schlüssel inoffiziellen Zu-

312 Bronnen I, (7. und 8. Nov. 1605), S. 160. 313 AC1.20, (21. Nov. 1606), f. 147r. 314 AC1.41, No. 87 (undatiert, doch folgte der Beschluss vom 8. Febr. 1606 wohl diesem Schreiben). 315 „[…] die moetwillicheit by enige aen de boecken gepleecht[…]“, siehe Bronnen I, (8. Febr. 1606), S. 167.

104 gang in die Bibliothek. Dem wurde im Sommer 1607 erneut ein Riegel vorgeschoben. Mit der Berufung von Daniel Heinsius (1580–1655)316 als Nachfolger des verstorbenen Merula wurden wiederum die Schlüssel eingezogen und die Schlösser verändert. Doch wurden abermals neue Schlüssel gegen Eid und Unterschrift ausgegeben.317 Wiederum war der Erfolg dieser Aktion von äusserst kurzer Dauer, denn am 8. Mai 1608 sah sich der neue Bibliothekar gezwungen, die Schlösser schon wieder aus- zuwechseln. Diesmal sollten die Schlüssel nur noch durch Auftrag und Wissen des Kuratoriums an wenige ausgewählte Personen ausgegeben werden.318 In derselben Sitzung machten zudem die Professoren der Me- dizin den Wunsch geltend, einen Schlüssel für den botanischen Garten zu erhalten.319 Die Bibliothek blieb indes bis 1630 geschlossen.

Nutzung während der Schliessung Zumindest offiziell, denn es gibt mehrere Anzeichen dafür, dass die Bi- bliothek auch nach ihrer Schliessung noch immer rege besucht wurde. Wie die folgenden Kapitel zeigen, wurden noch immer Bücher gekauft – manchmal auf ausdrücklichen Wunsch der Professoren – und katalogi- siert, was darauf hinweist, dass die Bibliothek in Gebrauch war. Zudem erhielten einige ausgewählte Professoren wiederum einen Schlüssel zur Büchersammlung, so beispielsweise Golius, der „een sleutel, niet alleen vande publicque bibliotheque der Universiteyt, maer ook van seeckere kasse opte selbe bibliotheque staende, inde welcke de arabische boecken, bij hem ut Levanten gebracht, opgesloten sijn.“320 Und auch die Studenten Scaligers fanden – wie später sein Legat – Zugang zur Bibliothek. Daniel Heinsius übernahm auf Kosten der Universität die Wohnung Merulas, die nahe der Bibliothek war.321 Vermutlich war auch hier aus- schlaggebend, dass er durch die nahe Lage der Wohnung zur Bibliothek diese öfters aufschliessen konnte. 1622 wurde er damit beauftragt, eine Bi- bliotheksordnung (leges) in seinen zu verfassenden Katalog zu drucken,322 was er zwar nicht tat,323 was aber dennoch darauf hinweist, dass die Bib- liothek genutzt wurde. Auch das Ausbessern der Vedute Konstantinopels im Jahr 1625, welche in Mitleidenschaft gezogen war, deutet darauf hin, dass die Bibliothek nach wie vor frequentiert wurde.324

316 Zu seiner Biographie: NNBW, Deel 2, Sp. 554–557. 317 AC1.20, (30. Aug.–1. Sept. 1607), f. 156r (Berufung Heinsius als Nachfolger Merulas). 318 AC1.20, (8. Mai 1608), f. 169v. 319 AC1.20, (8. Mai 1608), f. 170r. 320 AC1.22, (7. Febr. 1630), f. 19r. 321 Bronnen II, (8. und 9. Mai 1618), S. 80–81. 322 AC1.22, (9. Nov. 1622), f. 119r–119v. 323 Im Katalog von 1623 fehlen die Gesetze, siehe: Heinsius 1623. 324 Bronnen II, (15. Nov. 1625), S. 125.

105 Einen eindeutigen Hinweis gibt uns ein Beschluss, der nach dem Brand des Akademiegebäudes im Jahre 1616 durch das Kuratorium ver- fasst wurde. Darin steht – neben den bereits erwähnten Beschlüssen zum Schutz der Bibliothek vor Feuer – dass niemand mehr ohne den Präfekten oder einer Vertrauensperson in die Bibliothek gelassen werden solle. Und ferner, dass niemand mehr den Schlüssel zur Bibliothek ohne das Wissen des Kuratoriums und des Bibliothekars erhalten solle.325 Heinsius wurde wenige Monate später dazu aufgefordert, dem Kuratorium einen Schlüs- sel zur Bibliothek auszuhändigen und seinen eigenen keiner Person aus- zuleihen.326 Diese Beschlüsse zeigen zumindest indirekt an, dass noch immer relativ grosszügig mit dem Schlüssel zur Bibliothek umgegangen wurde. Die Bibliothek war aus all den erwähnten Gründen nur offiziell geschlossen und unzugänglich – tatsächlich wurde sie aber ständig durch verschiedene Personen genutzt und dazu mit neuen Büchern ausgestat- tet.

Wiedereröffnung der Bibliothek In der Sitzung vom 9. Februar 1630 diskutierte das Kuratorium, ob die Bib- liothek nicht wieder zweimal pro Woche geöffnet werden sollte und zwar „voor den gemeenen studenten“,327 also für die allgemeinen, gewöhnli- chen Studenten, ein weiterer Hinweis darauf, dass die Bibliothek wäh- rend der Schliessung durchaus für einzelne Studenten offen stand. Eine öffentliche Büchersammlung bedurfte aber wieder der Überwachung der Leser, weswegen Jacob van Driel den Posten des Bibliotheksaufsehers übernahm, um dafür zu sorgen, dass „aen de boecken geene mishande- linge en werde gedaen ende voorts deselve boecken van ’t stoff ende an- ders reynigen“.328 Während die Bibliothek geschlossen war, wurde auch kein Kustode benötigt.329 Das Kuratorium wolle diese Ideen mit dem Bib- liothekar Daniel Heinsius besprechen, der die Wiedereröffnung als „seer dienstich ende noodich“ betrachtete.330 Es wurde bestimmt, die Bibliothek wieder zweimal wöchentlich zu öffnen und Jacob van Driel zu einem Ge- halt über 80 Gulden einzustellen.331 Nach dessen Tod im Jahre 1633 wur- de Adrian Arentsz. Vosbosch, ebenfalls zum Reinigen und Überwachen der Bücher, so dass diese „niet en werden mishandelt noch beschadicht“

325 Bronnen II, (22. Nov. 1616), S. 73–74. 326 Bronnen II, (8.–10. Febr. 1617), S. 78. 327 Bronnen II, (9. Febr. 1630), S. 150. 328 Bronnen II, (9. Febr. 1630), S. 150. 329 Weder im Archiv des Kuratoriums noch in den Rechnungsbüchern wird deshalb ein solcher erwähnt, siehe dazu: Hulshoff Pol 1975, S. 425. 330 Bronnen II, (9. Febr. 1630), S. 150. 331 Bronnen II, (9. Febr. 1630), S. 150.

106 zu einem Lohn von 100 Gulden eingestellt.332 Doch bereits im Sommer 1635 wurde ein Nachfolger als Kustode angeheuert, ohne Nennung eines Grundes.333 Es ist deshalb zumindest denkbar, dass die Leistungen Adrian Vosboschs ungenügend waren. Pieter de Vogel, Vosboschs Nachfolger, ar- beitete aber zu den gleichen Konditionen für längere Zeit an der Seite von Daniel Heinsius und überwachte die Leser.334 Während vieler Jahre besass selbst er, der die Sicherstellung der Bücher zur Aufgabe hatte, keinen ei- genen Schlüssel zur Bibliothek, was er 1639 ändern wollte.335

Zuwachs an Büchern und Pulten

Ein Grundproblem von Bibliotheken ist seit jeher das beständige An- wachsen der Buchbestände. Die Bibliothekare befinden sich stets in ei- nem Konflikt zwischen Neuerwerb und daraus resultierender Raumnot. Bibliotheken sind deshalb meist ein sich stetig wandelndes architektoni- sches Gebilde. Es gibt kaum eine Bibliothek, die nicht laufend in Raumnot geriet und deswegen erweitert werden musste. Nur noch wenige Biblio- theken sind deshalb in ihrem originalen Zustand und mit ihrer ursprüng- lichen Möblierung überliefert. Auch in Leiden war dies der Fall. Mit dem Umzug in die Beginen- kirche verfügte die Bibliothek zwar über einen relativ grossen Raum, der noch viele Jahrzehnte für die Verwahrung der Bibliothek genügen sollte. Auch die Möblierung mittels Pulte konnte durch einfache Erweiterungen noch lange Zeit genutzt werden. Erst nach der Zeit von Daniel Heinsius als Bibliothekar wurde die Büchersammlung grundlegend umgestaltet. Seine Amtszeit ist geprägt durch eine reiche Erwerbspolitik, die nur zu oft die vom Kuratorium vorgegeben Kosten sprengten. Am Ende seiner Amtszeit kam das bewährte Pultsystem der Bibliothek an seine Grenzen, trotz erfolgter baulicher Erweiterungen, die den Vergleich zum englischen stall system nahelegen. Nach seiner Amtszeit war die Bibliothek restlos voll und auch ziemlich in Unordnung geraten, weswegen eine neue Ein- richtung angestrebt und verwirklicht wurde.

Daniel Heinsius Als Merula 1607 starb, wurde Daniel Heinsius zum Präfekt der Bibliothek

332 AC1.22, (8. und 9. Febr. 1633), f. 100r–100v, hier 100v. 333 AC1.22, (21. August 1635), f. 186r–186v. 334 1644 erhielt er eine Lohnerhöhung über 25 Gulden, AC1.23,(24. Mai 1644), f. 237r. 335 AC1.23, (16. Juni 1639), f. 39.

107 Abb. 2.15 Daniel Heinsius, Humanist, Poet, Professor und Biblio- thekar der Leidener Univer- sität von 1607–1655.

(Anonym, Öl auf Leinwand, 68cm auf 55cm. UBL Ico- nes 61.)

(Scan aus Berkvens-Steveli- nck 2012, S. 58.)

gewählt (Abb. 2.15).336 Unter Eid verprach er „de Bibliothecque te verzor- gen, de boeken te bewaaren, de Bibliothecque tegens regen ende wind verhoeden ende voorts alles te doen dat een goed ende getrouw Biblio- thecaris schuldig is ende behoord te doen.“337 Heinsius verfügte über be- sonderes Interesse an Literatur, legte Werke klassischer Autoren wieder auf und verfasste selber Gedichte, war sogar „einer der belangreichsten neolateinischen Dichter seiner Generation“.338 Bereits als Student der Leidener Universität fielen Vulcanius, Dousa und vor allem Scaliger die philologischen Fähigkeiten von Heinsius auf. Er erhielt deshalb schon 1603 einen Lehrauftrag für Literatur, später den Lehrstuhl für die griechi- sche Sprache und danach denjenigen der Geschichte. Heinsius wurde schon bald der Lieblingsschüler Scaligers und es verband sie eine grosse Freundschaft. So war es Scaliger, der sich für die Berufung von Heinsius

336 Zur Biographie von Daniel Heinsius: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 59–60; Otterspeer 2000, S. 208–209. 337 AC1.20, (30. Aug.–1. Sept. 1607), f. 156r. 338 Otterspeer 2000, S. 208.

108 als Bibliothekar einsetzte.339 Der Lehrer starb in den Armen seines Schü- lers, der eine Leichenrede verfasste und sich um den Nachlass des gelieb- ten Professors kümmerte, wie bereits diskutiert wurde.340 Dass ausgerech- net Scaligers Studenten während der Zeit der offiziellen Schliessung der Bibliothek Zugang zu ihr fanden, war wohl auch der engen Verbunden- heit der beiden geschuldet. Daniel Heinsius wurde am 1. September 1607 Bibliothekar und er- hielt eine entsprechende Lohnerhöhung.341 Der neugewählte Bibliothe- kar erklärte in einer Rede, wie er die perfekte Bibliothek definieren würde, nämlich als Ort, wo die Leser ihre Lektüre geniessen könnten und umge- ben wären von den besten Autoren der Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Philosophie und den klassischen Künsten.342 Zudem schrieb er ein grie- chisches Epigramm über diesen

„heiligen Ort der Freude, einen Tempel der Freiheit, wo die im- mer-lebenden Sterblichen und die immer-sprechenden Stille der Verstorbenen hausen; ein Palast noch schöner als denjenigen des mächtigen Croesus, und wo das Kind der Phainarete [Sokrates] und die Söhne des Aristoteles fortleben"343

Der erste Katalog von Heinsius Welche Werke nach Heinsius in diesem Tempel der Weisheit und Freu- de gefunden werden sollten und wie dieser eingerichtet sein sollte, dar- über gibt beispielsweise der erste Katalog Auskunft, der durch Heinsius herausgegeben wurde. Er trägt den Titel CATALOGVS LIBRORUM BIB- LIOTHECÆ LVGDVNENSIS344. Weder ein Verlag noch ein Datum sind angegeben, Ort und Zeitpunkt der Drucklegung bleiben somit im Dun- keln. In der Forschung wird angenommen, dass er 1612 publiziert wurde, da in diesem Jahr der Leidener Buchdrucker Jan Paets Jacobsz. für den Druck eines Bibliothekskatalogs bezahlt wurde.345 Heinsius wurde 1615 durch das Kuratorium aufgefordert, Testament und Katalog von Scaligers

339 Bronnen I, (30. Aug.–1. Sept. 1607), S. 175; Hulshoff Pol 1975, S. 423 verweist auf: Epp. (L.B. 1627), S. 715. 340 Otterspeer 2000, S. 208. 341 Heinsius erhielt verschiedene Lohnerhöhungen: über 100 Gulden, AC1.20, (8. Mai 1608), f. 169v; Am 17. August wurde sein Bibliothekarslohn auf 200 Gulden gesetzt, AC1.20, (17. Aug. 1608), f. 171v; weitere 50 Gulde: AC1.20, (8. Febr. 1615), f. 354v; Heinsius war aber zudem auch Professor, die Lohnerhöhungen können also auch daraus resultieren. 342 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 61; die Rede wurde später in den Kataloge 1612 und 1640 gedruckt und bereits 1607 eigenständig publiziert. 343 Übersetzung nach: Hulshoff Pol 1975, S. 423, griechische Transkription ebenda. 344 Heinsius 1612. 345 Hulshoff Pol 1975, S. 423.

109 Legat abzuliefern, was auf einen späteren Zeitpunkt hindeuten kann.346 Denn laut Berkvens-Stevelinck war das Legat Scaligers der Grund für den neuen Bibliothekskatalog.347 Heinsius erhielt bereits 1609 die Aufgabe, ein akkurates Inventar des Nachlasses seines Mentors und Freundes anzufer- tigen.348 In seinem ersten Katalog befindet sich ein Verzeichnis aller Wer- ke, die durch Scaliger gestiftet wurden. Die Schriften wurden dabei zuerst nach Sprachen klassifiziert: Hebräisch, Arabisch, Altsyrisch, Äthiopisch, Russisch und Lateinisch, danach aufgrund ihrer Grösse. Die der Bibliothek geschenkten Bücher wurden nicht mehr separat verzeichnet. Wie erwähnt, erhielt die Bibliothek nahezu keine Geschen- ke während der Amtszeit von Daniel Heinsius, war sie doch geschlossen. Zudem fanden auch die Werke Leidener Professoren und Gelehrten kei- ne spezielle Auszeichnung, ihre Werke wurden in die regulären Bestände der Bibliothek eingefügt, was eine einfachere Nutzung erlaubte, aber der Repräsentation der Gelehrsamkeit der Leidener Universität abträglich war. 349 Viele Publikationen Leidener Professoren fanden nicht den Weg in die Bibliothek, so dass in der Biographie zum Mathematikprofessor steht, seine Werke wären selten und nicht einmal die Leidener Bibliothek besässe sie.350 Selbst die Werke von Heinsius waren untervertreten.351 Verändert wurde zudem die Bezeichnung der Pulte. Neu wies nicht mehr jedes Fachgebiet einen Buchstaben eines besonderen Alphabets auf, sondern alle Pulte wurden einheitlich mit lateinischen Grossbuchsta- ben versehen. Jedes Fachgebiet erhielt dadurch folgende Art der Signatur: Fachgebiet, Pult mit lateinischen Grossbuchstaben und die Nummer des Buches. Vermutlich lag der Grund in der einfacheren Drucklegung des Katalogs. Die Leidener Universität folgte nun auch in der Vergabe von Sig- naturen dem damaligen Standard, der meist die Pulte mit einem Buchsta- ben, die Regalbretter, falls vorhanden, mit einer Nummer und das Buch mit einer weiteren Nummer versah.352 Innerhalb des Katalogs findet man eine leicht geänderte Abfolge der Wissensgebiete. Den Anfang machte nach wie vor die Theologie, gefolgt von der Jurisprudenz und Medizin. Es schlossen die Geschichte, die Li- teratur – an neuer Stelle – und dann die Philosophie an. Seltsamerweise fehlt die Mathematik, die den Abschluss bilden sollte. Im Kupferstich von

346 AC1.20, (7./8. Mai 1615), f. 356r und 35v, hier f. 356v. Ebenfalls denkbar ist, dass der Katalog in mehreren Abschnitten gedruckt wurde. 347 Zu den Katalogen von Heinsius, siehe: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 65–67, hier S. 65. 348 Bronnen I, (8./10. Febr. 1609), S. 183. 349 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 65. 350 (C. de Waard in NNBW, Deel 7, S. 1155), zitiert nach Hulshoff Pol 1975, S. 431. 351 Hulshoff Pol 1975, S. 431. 352 Buzas 1975, S. 146.

110 1610 wird diese Neuverteilung ebenfalls gezeigt: Die Literatur fand zur Linken zwischen der Theologie und der Philosophie ihren Platz, an deren Anschluss die Mathematik zu stehen kam, die im Katalog wohl schlicht- weg vergessen.

Die Bibliothek als Spiegel ihres Bibliothekars Die Literatur stand somit an verbesserter Lage innerhalb der Wissenshi- erarchie. Sie war die Lieblingsdisziplin von Daniel Heinsius, der ja selber Gedichte verfasste. Er rückte also die Werke seiner Vorbilder um eine Stu- fe hinauf. Dabei trennte er die Verbindung von Sprache und Mathematik auf. Denn im Pult der Literatur waren gewissermassen die Werke des Tri- vium verwahrt, also Grammatik, Rhetorik und Dialektik, das zusammen mit dem Quadrivium, bestehend aus Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, die Sieben Freien Künste bildete, die mittelalterliche Grund- lage jedes Lernens und vieler Bibliotheken. Es kam also zu einer Neuori- entierung des Wissenskanons. Wie zur Eröffnung der Bibliothek bereits die Geschichte und die Philosophie über eigene Pulte verfügten und da- durch eine ausgewiesene Wertschätzung erfuhren, so war es nun die Li- teratur, die wohl primär durch die persönlichen Interessen des Bibliothe- kars gewürdigt wurde, eine Ehrerbietung erfuhr, die sich auch räumlich manifestierte. Vergleichen wir die Wissenshierarchie der Bibliothek mit dem Pres- tige der Lehrstühle, finden sich auch dort Analogien. Denn die Literatur war beispielsweise nach wie vor weniger hoch angesehen als die Ge- schichte. Heinsius eigene Karriere bezeugt dies: Nach dem Ruf auf den Lehrstuhl für Literatur (1603) und denjenigen für Griechische Sprache (1605) erhielt er den Lehrstuhl für Geschichte (1613), den er bis zu seinem Tod bekleidete.353 Die Abfolge von Heinsius Karriere entspricht somit der hierarchischen Verteilung der Bücher innerhalb des Katalogs und des Bi- bliotheksraums. Heinsius verfolgte eine andere Erwerbspolitik als Merula. Er kaufte bevorzugt auf dem Markt nach seinem Anspruch ein, weswegen er auf Donationen und deren spezielle Kennzeichnung getrost verzichten konn- te. Nicht nur zeigte die räumliche Verteilung der Bücher sein persönli- ches Interesse, auch die durch ihn erworbenen Bücher für die Bibliothek zeugen davon. Denn sowohl in der räumlichen Stellung wurde der Fach- bereich der Literatur aufgewertet, wie auch durch den Kauf literarischer Werke, was nicht immer im Einklang mit den Wünschen des Kuratoriums stand. So kritisierten die Herren des Kuratoriums im Mai 1615 neben den überaus hohen Kosten von 1300 Gulden, die aus den ausschweifenden

353 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Band 2, Sp. 554–556.

111 Bucheinkäufen des Bibliothekar resultierten, auch die erworbenen Wer- ke. Neben Büchern, die angeblich bereits in der Bibliothek waren, be- schaffte er auch französische und wohl literarische Werke, die laut dem Kuratorium „unnötig und auch unnütz“ waren.354 Die durch Heinsius so geschätzte Literatur hatte indes nicht nur in der Leidener Bibliothek einen schweren Stand. Thomas Bodley war gegenüber Büchern, die in vernakulären Sprachen verfasst wurden, kritisch eingestellt. Literarische Werke fand man in der Bodleiana zu Beginn nur äusserst selten: nur 3 von ca. 5000 Titel waren literarische Bücher.355 Im Katalog von 1612 werden 21 Pulte aufgeführt und somit ein Pult weniger als im Kupferstich von 1610. Im Katalog fehlt aber der Fachbe- reich der Mathematik, weswegen angenommen werden darf, dass zur Drucklegung des Katalogs 22 Pulte im Raum standen.356 Der Raum muss damals schon nahezu voll besetzt gewesen sein, denn die Anzahl der Pulte vergrösserte sich in den kommenden Jahrzehnten vor dem Umbau zur Wandbibliothek nur noch um drei Pulte. Natürlich wuchs der Buch- bestand im gleichen Zeitraum um einiges mehr, doch da der Raum der Bibliothek begrenzt war und keine weiteren Pulte hineingestellt werden konnten, musste bald auf eine andere Lösung zurückgegriffen werden, wie noch besprochen wird.

Kosten universitärer Sammlungen Nach dem ersten Grosseinkauf über 1’300 Gulden verwies das Kuratori- um den Bibliothekar in die Schranken und sprach ihm von nun an ein jährliches Budget von 400 Gulden für den Kauf von Büchern zu.357 Hein- sius wurde zudem damit beauftragt, alle neu erworbenen Bücher in ei- nen gedruckten Katalog einzutragen,358 eine Bitte, die des Öfteren aus- gesprochen werden musste und an die sich Heinsius nur selten hielt. Er konnte aber nur während weniger Jahre sein Budget von 400 Gulden frei einsetzen. Denn am 9. November 1619 wurde beschlossen, dass Heinsius alle künftigen Erwerbungen dem Kuratorium mitzuteilen habe, ein Be- schluss, an den sich Heinsius aber ebenfalls nicht hielt.359 Der Bibliothekar war indes nicht der einzige, der für teures Geld und zum Missfallen des Kuratoriums seine Sammlung erweiterte. Im derselben Sitzung wurde auch der Anatomist Otto Heurnius ermahnt,

354 „onnodig ende ook onnut“, AC1.20, (7./8. Mai 1615), f. 356r–v. 355 Philip 1983, S. 32–33. 356 Der Kupferstich gibt die gleiche Anzahl Pulte pro Wissensgebiet wie der Katalog wieder. 357 AC1.20, (7./8. Mai 1615), f. 356r–v; zu den Bucheinkäufen siehe: Hulshoff Pol 1975, S. 429–430. 358 AC1.20, (8./9. August 1615), f. 358r. 359 Bronnen II, (9. Nov. 1619), S. 88.

112 die Sammlung des anatomischen Theaters nicht ohne vorherige Zustim- mung des Kuratoriums zu erweitern360 und auch er hielt sich nicht daran so dass beide wenige später erneut ermahnt werden mussten.361 Ferner wurde auch der damalige Präfekt des botanischen Gartens, Aelius Ever- hardus Vorstius (1565–1624), gerügt, da er für 100 Gulden Pflanzen aus Spanien und Portugal hatte kommen lassen. Auch er sollte in Zukunft keine Einkäufe ohne vorheriges Wissen des Kuratoriums tätigen.362 All- gemein wollte das Kuratorium zu jener Zeit besser über alle möglichen Ausgaben Bescheid wissen. So verfügten sie ebenfalls, dass keine Repara- turen und Bauarbeiten an den Gebäuden der Universität ohne vorherige Bekanntgabe durchzuführen seien.363 Wissenschaftliche Sammlungen kosteten Geld, vor allem, wenn be- sonders seltene, aber notwendige Bücher, Pflanzen oder andere Expona- te angeschafft werden mussten. Konnten die Mediziner hinsichtlich der Pflanzen und anderen Raritäten wenigstens zu Beginn noch von einem freien Austausch innerhalb der respublica litteraria profitieren, mussten Bücher als Produkte des Handels auf dem Markt gekauft werden. Diese Anschaffungen waren zugleich aber notwendig, um den Studierenden und Forschenden die Mittel zur Untersuchung ihres Sachgebiets sicher- zustellen und zugleich den Ruhm der Universität zu mehren. Das Kurato- rium hatte die Entscheidungsgewalt über alle Ausgaben der Universität.364 Die finanzielle Lage der Universität war relativ ausgeglichen, kleinere Überschüsse wechselten sich mit kleineren Verlusten ab, grossen finanzi- ellen Spielraum gab es aber nicht. Für das Jahr 1619 wies die Bilanz einen kleinen Gewinn von ca. 500 Gulden auf.365 Grössere, nicht einkalkulierte Kosten konnten somit also durchaus zu roten Zahlen führen.

Der Katalog von 1623 Im Mai 1620 beauftragten die Kuratoren Heinsius zum wiederholten Mal, alle neuerworbenen Bücher auf eingebundenen leeren Seiten in einem Exemplar des jüngsten Katalogs zu verzeichnen. In diesen Katalog sollten auch jene Werke aufgeführt werden, die ausgeliehen wurden, mitsamt der Namen der entsprechenden Personen. In Zukunft durfte Heinsius aber keine Bücher mehr ausleihen,366 was anzeigt, dass er dies tatsächlich des Öfteren tat. Sein Nachfolger Antonius Thysius (1603–1665) vermisste

360 Bronnen II, (9. Nov. 1619), S. 88. 361 AC1.21, (8./9. Mai 1620), f. 50v. 362 AC1.21, (8./9. Mai 1620), f. 49r. 363 AC1.21, (7. Febr. 1620), f. 28r–28v. 364 Clotz 1998, S. 94. 365 Zu den Finanzen, siehe: Clotz 1998, S. 88–106, hier Grafik S. 91. 366 AC1.21, (8. und 9. Mai 1620), f. 51r.

113 Jahrzehnte später noch immer einige Bücher.367 Ein halbes Jahr später war der Katalog noch immer ausstehend und die Kuratoren forderten Hein- sius erneut auf, ihn endlich anzufertigen. Sie erinnerten ihn daran, we- der Bücher ohne ihr Vorwissen zu kaufen noch auszuleihen.368 Doch der Katalog blieb aus, weswegen das Kuratorium erneut den Wunsch nach einem neuen und gedruckten Katalog äusserte, der bis zu ihrer nächs- ten Sitzung produziert werden und zudem über ein Bibliotheksreglement verfügen sollte.369 Heinsius erklärte seine Bedenken und dass er dem Wunsch in der kurz bemessenen Zeit nicht nachkommen könne. Das Kuratorium gab ihm daraufhin eine klare Handlungsanweisung: Er solle die Bibliothek in Ordnung bringen und „[…] alle de voors. boecken per classes, pluteos et numeros in behoorlicke ordre te redigeren, en alsdan daer van te mae- cken eene pertimente catalogus […].“370 Zuerst mussten also wiederum die Bücher im Raum geordnet werden – was wohl nicht oder nur unzurei- chend der Fall war –, um dann ein Abbild dieser Ordnung in einen Kata- log überführen zu können.371 Der Katalog wurde 1623 herausgegeben und trägt den Titel CATA- LOGVS BIBLIOTHECÆ PVBLICAE LVGDUNO-BATAVAE. Heinsius wird indes weder als Autor noch als Herausgeber genannt und erscheint nur als Verfasser einer Rede am Ende des Katalogs.372 Sämtliche Bücher in den Pulten und den abschliessbaren Schränken werden nach Fakultäten geordnet aufgeführt, überdies die Nachlässe von Vulcanius und Scaliger, die ja ebenfalls in einem spezifischen Möbel verwahrt wurden, sowie andere orientalische Werke und Manuskripte aufgelistet. Zudem werden jene Bücher wiederum nach Fakultäten geordnet aufgeführt, die im Büro des Bibliothekars untergebracht waren. Der Bestand war also nach wie vor in verschiedenen Möbeln und Orten verwahrt, weswegen er auch im Katalog versprengt aufgelistet wurde. Die Leser mussten immer noch vor verschiedene Verzeichnisse studieren. Der Katalog gibt wiederum ein gutes Bild vom Zustand der Biblio- thek. So verfügte die Büchersammlung zu diesem Zeitpunkt über 23 Pul- te, also bloss über eines mehr als gut zehn Jahre zuvor, der Werke der Lite-

367 Hulshoff Pol 1975, S. 432. 368 AC1.21, (9. November 1620), f. 93r; Zusammenfassung in Bronnen II, S. 97. 369 Die gewünschten leges fehlen im Katalog von 1623, siehe [Daniel Heinsius], CATA- LOGVS BIBLIOTHEVÆ PVBLICAE LVGDUNO-BATAVAE, Leiden (ex officinâ Isaaci Elzeviri) 1623. 370 AC1.21, (9. November 1622), f. 119r–119v, Zitat f. 119r. 371 AC1.21, (9. November 1622), f. 119r–119v. 372 [Daniel Heinsius], CATALOGVS BIBLIOTHEVÆ PVBLICAE LVGDUNO-BATAVAE, Leiden (ex officinâ Isaaci Elzeviri) 1623.

114 ratur aufnahm.373 Die Literatur konnte ihren verbesserten Platz behalten.

Weitere Einkäufe Doch erwarb Heinsius weitere Werke, was er auch weiterhin ohne die Zu- stimmung und sehr zum Missfallen des Kuratoriums tat. Am 9. Mai 1624 sahen sie sich erneut genötigt, eine Rechung von verschiedenen Leide- ner Buchhändlern zu bezahlen. Der Ton der Akte weist dabei eine zuvor unbekannte Schärfe auf. Das Kuratorium besagte, sie würden „noch voor dese mael“ zahlen.374 Der listige Heinsius fand jedoch wieder einen Weg einzukaufen, ohne das Kuratorium vorab um Geld zu fragen. Er verkaufte Dubletten – wie bereits erwähnt, wurde er zuvor kritisiert, nicht nur unnötige, son- dern auch bereits vorhandene Werke gekauft zu haben375 –, um vom Erlös fehlende Werke zu erwerben. Auch dieses Vorgehen entging dem Kurato- rium jedoch nicht, denn sie erhielten die von Heinsius unterzeichneten Rechnungsbelege eines Verkäufers und verboten ihm, diese Praxis ohne ihr Vorwissen zu tätigen. Auf doppelte Bücher aufmerksam gemacht, ga- ben sie Heinsius den Auftrag, ein Inventar aller Dubletten der Bibliothek anzufertigen.376 Der Verkauf doppelter Exemplare war indes eine gängige Praxis, die bereits im Mittelalter angewendet wurde. So empfahl bereits Humbertus de Romanis, man solle ältere Ausgaben mit neueren und bes- seren Editionen ersetzen.377 Und auch in der Bodleiana in Oxford wurde dies gehandhabt. Dort wurde gar eine Erstausgabe eines Werks von Wil- liam Shakespeare verkauft, um durch eine neuere Edition ersetzt zu wer- den.378 Das Bewusstsein vom Wert sogenannter Erstauflagen war noch nicht vorhanden. Vielmehr versprachen die neuen Editionen bessere, das meinte zumeist originalgetreuere Ausgaben bekannter Werke. Auch später folgte Heinsius nicht den Bestimmungen des Kura- toriums. In der Sitzung vom 8. Februar 1639 sahen sich die Herren er- neut mit einer durch Abraham und Bonaventura Elsevier vorgelegten Bücherrechnung über 70 Gulden konfrontiert und beschlossen die Rechnung vorerst nicht zu bezahlen,379 sehr zum Missfallen der beiden Händler, die persönliche finanzielle Einbussen fürchteten. Das Kuratori- um beschloss aber alsbald, auch für diesen Einkauf noch einmal aufzu-

373 Die Pulte wurden wie folgt auf die Wissensgebiete verteilt: 7 für Theologie, 5 für die Jurisprudenz, 2 für die Medizin, 4 zur Geschichte, 3 für Literatur, 1 für die Philoso- phie, 1 für Mathematik. 374 AC1.21, (9. Mai 1624), f. 146r; Bronnen II, (9. Mai 1624), S. 117. 375 AC1.20, (7./8. Mai 1615), f. 356r–v. 376 AC1.22, (12. Mai 1632), 76r–76v und f. 80v. 377 Romanis 1978, S. 48. 378 Philip 1983, S. 59. 379 Bronnen II, (8. Februar 1639), S. 234.

115 kommen.380 Zwei Jahre später drohten die Kuratoren jedoch, dass Hein- sius, solle er in Zukunft weiterhin ungefragt Bücher einkaufen, dafür selber aufkommen müsse; Heinsius hatte zuvor erneut unbefugt Bücher erworben.381 Mit den Elseviers war Heinsius gut befreundet, weswegen sie ihm wohl trotz seiner immer schlechteren Bonität immer wieder Bücher auf Kredit brachten. Heinsius aber forderte gleichzeitig nicht sein Recht ein, von allen bei ihnen gedruckten Büchern ein Belegexemplar kosten- los zu erhalten.382 Der Beschluss, dass die Drucker der Universität jeweils ein Exemplar der Bibliothek abzuliefern hatten, wurde spätestens 1602 gefasst.383 Die ganzen Streitereien kulminierten mit dem nächsten unangekün- digten Einkauf. Heinsius erstand zwei weitere Bücher384 für 62 Gulden. Das Kuratorium weigerte sich nun, die Rechnung zu bezahlen,385 worauf- hin einen Tag später die Brüder Elsevier das Kuratorium zum Begleichen einer Rechnung über jetzt sogar 188 Gulden aufforderten, da sie bereits zuvor Bücher an die Bibliothek geliefert hatten. Die Kuratoren schickten die Rechnung an Heinsius weiter.386 Doch sie war auch Monate später noch immer ausstehend. Ein letztes Mal zeigte das Kuratorium Herz und bezahlte die Rechnung. Falls Heinsius je wieder Bücher einkaufen wür- de, ohne die Kuratoren zuvor zu informieren, sollen diese den Verkäu- fern zurück gesandt werden. Über diesen Beschluss sollen zudem auch alle Buchverkäufer, bei denen Heinsius einkaufte, durch den Pedell in- formiert werden. Heinsius erhielt diesen Beschluss zudem schriftlich.387 Dieser letzte und schärfere Beschluss tat wohl seine Wirkung, denn von nun an lassen sich keine Akten mehr zu undeklarierten Einkäufen durch Heinsius finden. Jahre später bat er das Kuratorium um einen fes- ten Etat, um mit diesem neue Bücher für die Bibliothek zu erwerben, doch wurde er ihm nicht zugesprochen.388 Im folgenden August blieb sein Begehren in Verhandlung, wurde aber aufgeschoben389 und auch später offensichtlich nicht gutgeheissen. Im folgenden Jahr wurden den beiden einkaufswilligen Professoren Heinsius und Heurnius, welche ihre Samm- lung nur zu oft ohne Absprache erweiterten, sogar finanzielle Zuschüsse

380 AC1.23, (16. August 1639), f. 42r. 381 AC1.23, (24. Mai 1641), f. 93v. 382 Hulshoff Pol 1975, S. 431. 383 Bereits unter Paets, siehe: AC1.20, (8. September 1602), f. 104r–105r. 384 „Theodoreti opera gracie et Latine in fol. 3. vl.“ sowie „Aldroander de Monstris in fol.“ 385 AC1.23, (9. Febr. 1643), f. 181v; Zusammenfassung in Bronnen II, (9. Febr. 1643), S. 275. 386 AC1.23, (10. Febr. 1643), f. 184r. 387 Bronnen II, (30. Aug. 1643), S. 277. 388 Bronnen III, (8. Februar 1649), S. 28; laut Hulshoff Pol im Mai. 389 AC1.24, (16. August 1649), f. 147v–148r; zudem Hulshoff Pol 1975.

116 an ihren Lohn gestrichen.390 Die Konsequenz aus diesen Budgetkürzun- gen war nach Hulshoff Pol, dass es in den letzten Amtsjahren von Heinsi- us zu nahezu keinen Bucheinkäufen mehr kam, was in grösseren lacunae von Büchern resultierte, die nur schwer wieder wett zu machen gewesen seien.391

Aufstockung der Pulte Die Bucheinkäufe führten natürlich zu einer beachtlichen Bestandsver- mehrung und zu einer steten Veränderung der Möblierung, wie aus ei- nem Arbeitskatalog von Daniel Heinsius ersichtlich sind. Am 14. Juni 1633 wurde Heinsius beauftragt, in einen Katalog von 1623 Leerseiten einbin- den zu lassen, auf welchen er alle Neuerwerbungen verzeichnen sollte. Dieser solle „inde kasse vanden Curateuren der voors Universiteyt“, also im Stadthaus, verwahrt werden, schien also als ein Inventar für das Kura- torium gedacht gewesen zu sein, wohl um den Buchbestand überprüfen zu können.392 Heinsius kam diesem Wunsch zunächst nicht nach, weswe- gen er am 7. August 1634 erneut dazu aufgefordert wurde.393 Ein Jahr spä- ter wurde der Ruf nach einem neuen Katalog laut und Heinsius erklärte, dass er für die Anfertigung eines neuen gedruckten Katalogs zwei bis drei Monate an Zeit benötigen würde.394 Dazu erstellte er 1635 einen Arbeitskatalog.395 In der Universitätsbi- bliothek Leiden ist eine Kopie davon einsehbar. Das Original befand sich in der Universitätsbibliothek München und wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört.396 Heinsius persönlich versah das Titelblatt mit sei- nem Namen, dem Ort Leiden sowie der Jahreszahl 1635. Die auf den Leer- seiten eingetragenen Ergänzungen und Verbesserungen wurden in den folgenden gedruckten Katalog übernommen, der am 8. Juni 1635 – wohl nach Erhalt des Arbeitskatalogs – vom Kuratorium eingefordert wurde.397 Der Arbeitskatalog zeigt, wie Heinsius mit den Büchern der Bib- liothek und ihrer Verteilung in den Möbeln umging. Was wird aus den handschriftlichen Ergänzungen von 1635 ersichtlich? Durch die beständi- gen Einkäufe waren die Regalflächen der Pulte schon bald voll besetzt. Da der Raum der Bibliothek jedoch begrenzt war, konnte Heinsius nur noch zwei zusätzliche Pulte in ihm unterbringen; es waren nun 24 Pulte. Hein-

390 Bronnen III, (14. Febr. 1650), S. 38–39. 391 Hulshoff Pol 1975, S. 430. 392 AC1.22, (14. Juni 1633), f. 114v–115r. 393 AC1.22, (7. August 1634), f. 156r–156v. 394 AC1.22, (8. Juni 1635), f. 178r–178v. 395 Siehe dazu: Bronnen II, (4. Nov. 1636), S. 207. 396 Diese Angaben nach den handschriftlichen Eintragungen auf dem Vorsatz des re- produzierten Katalogs, Leiden UB, Signatur BAR.C4; zu diesem Katalog: Biedl 1938. 397 AC1.22, (8. Juni 1635), f. 178r–v.

117 sius musste aufgrund dieser Raumnot eine andere Lösung finden, um die Neuerwerbungen verstauen zu können. Er setzte dabei auf zusätzliche Regale, die unterhalb der Leseflächen montiert wurden. Diese Regale wurden im Katalog jeweils mittels eine durchgezogenen Linie und dem Wort „Infra“ vermerkt. Sie ermöglichten, den Stauraum jedes Pults auf einfache Art und Weise zu verdoppeln. Ein ähnliches Vorgehen führte in englischen Bibliotheken bereits Jahrzehnte zuvor zur Entstehung des so- genannten stall systems. Alle Pulte der Theologie erhielten eine zusätzliche Ablagefläche, sowie die letzten drei der fünf Pulte der Jurisprudenz, zudem das zweite Pult der Medizin, drei Pulte der Historici, beide Pulte der Literatur, und das erste Pult der Philosophie ebenso wie dasjenige der Mathematik. Im ganzen wurden somit 18 zusätzliche Regalflächen in insgesamt 24 Pulten eingebaut, eine beachtliche Steigerung der Stellfläche. Ersichtlich wird, dass nicht alle Pulte gleichmässig erweitert wurden. Scheinbar wurde jeweils nur dort ein zusätzliches Regal eingebaut, wo ein solches erfor- derlich war. Ästhetische Kriterien wie eine gleichartige Möblierung der Bibliothek schienen keine Rolle gespielt zu haben. Heinsius teilte zudem die Pulte und Regale auch neu ein. So trat die Literatur eines ihrer Pulte ab, dafür erhielt die Geschichte und die Phi- losophie ein zusätzliches Pult. Desweiteren wurden in verschiedenen Fachgebieten ganze Abschnitte von Büchern von der oberen auf die un- tere Regalfläche verlegt. Teilweise wurden die Kodizes eines Pults auf ein folgendes verschoben. Scheinbar versuchte Heinsius mit diesen Mitteln, eine gute und gleichmässige Verteilung der Bücher zu erzielen.

Der Katalog von 1640 Das Kuratorium wollte ausdrücklich, dass der neue gedruckte Katalog ein Verzeichnis aller orientalischer Werke beinhalten sollte, die Jacobus Golius aus der Levante nach Leiden brachte.398 Der Katalog erschien 1636 bei Elsevier,399 war aber – zumindest was die arabischen Werke anging – von so schlechter Qualität, dass der Buchdrucker und nicht etwa der Bibliothekar um seinen Ruf fürchtete.400 Es wurde kurz darauf beschlos- sen, ein neues Verzeichnis der orientalischen Schriften anzufertigen und dem Katalog von 1636 einzubinden.401 Das Resultat war der Katalog von 1640. Verzeichnet werden in ihm nicht nur die Folianten in den Pulten

398 AC1.22, (8. Juni 1635), f. 178r–v; Golius druckte jedoch bereits 1630 ein solches, sie- he Jacobus Golius, Catalogus rarorum librorum quos ex Oriente nuper advexit et in publ. bibliotheca incl. Leydensis Academiae deposuit Jac. Golius, Paris (ohne Verle- ger) 1630. 399 Heinsius 1636. 400 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 69. 401 Bronnen II, (9. Febr. 1638), S. 223.

118 und die Kleinformate in den Schränken, sondern auch die Legate von Scaliger und Vulcanius sowie – in zweifacher Form – die orientalischen Manuskripte von Golius und andere Manuskripte.402 Zudem wird auch erwähnt, dass einige besonders wertvolle Bücher noch immer nahe dem Büro des Bibliothekars verwahrt wurden.403 Im Katalog sind die angebrachten Regalflächen verzeichnet. Jedes Pult mit Erweiterung erhält deswegen den Verweis „INFRA“ und da- nach die Auflistung der dort verwahrten Bücher. Aus dem Katalog wird ersichtlich, dass seit 1635 nur das erste Pult der Jurisprudenz mit einer zusätzlichen Erweiterung bestückt wurde. Doch erhielt die Theologie ein neues Pult, das wohl mehr schlecht als recht in den mittlerweile schon sehr vollen Raum passte und der mit einer unteren Regalfläche verse- hen war. Noch immer waren nicht alle Pulte einheitlich mit zusätzlichen Regalflächen versehen. Der Katalog von 1640 listet 3117 Werke auf – seit der Eröffnung der Bibliothek in der Beginenkirche hatte sich der Buchbe- stand demnach also in etwa versechsfacht.404 Der zur Verfügung stehende Raum blieb jedoch derselbe. Die Bibliothek war mittlerweile voller Pulte, weswegen schon bald eine neue Lösung gefunden werden musste.

Zustand der Bibliothek vor ihrem Umbau

Heinsius erhielt 1649 erneut den Auftrag, einen vollständigen Katalog der Bibliothek anzufertigen, damit die Bestände überprüft werden können.405 In der gleichen Sitzung wurde auch der Präfekt des botanischen Gartens aufgefordert, ein Inventar seiner Raritäten zu erstellen.406 Das Kuratorium wollte also wissen, was in den Sammlungsräumen ihrer Universität ge- funden werden konnte. Beide Vorsteher mussten ein Jahr später erneut beauftragt werden, die entsprechenden Verzeichnisse zu erstellen, stan- den diese doch noch immer aus.407 Heinsius kam dieser Bitte aber auch nach einer dritten Ermahnung nicht nach.408 Das Kuratorium stattete 1652 der Bibliothek in Anwesenheit des Bi- bliothekars einen Besuch ab.409 Es erkannte Handlungsbedarf, denn die

402 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 69. 403 „ALII LIBRI RARIORES, maxima ex parte in Literis: fere omnes magnorum virorum manu annotati, & conscripti: qui juxta Musæum servantur.“, BAR.C4, Heinsius 1640, S. 142. 404 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 67. 405 AC1.24, (16. Aug. 1649), f. 147v–148r. 406 AC1.24, (16. Aug. 1649), f. 148v. 407 AC1.24, (6. Sept. 1650), f. 189v–190r. 408 Bronnen III, (1. Dec. 1650), S. 43. 409 AC1.24, (8. Febr. 1652, f. 250r.

119 Büchersammlung war in einem chaotischen Zustand. Das Kuratorium beauftragte Heinsius abermals damit, bis zur nächsten ordentlichen Sit- zung endlich den dringend benötigten Katalog aller Bücher und Manu- skripte in und ausserhalb der Schränke anfertigen, um danach weitere Beschlüsse betreffend der Bibliothek und „für den Dienst der Universität“ fassen zu können.410 Die Erstellung des geforderten Katalogs blieb jedoch aus. Denn Heinsius war damals bereits sehr alt und gesundheitlich ange- schlagen. Sein Professorenkollege und früherer Student Antonius Thysius (1603–1665)411 kam ihm zwecks Erstellung des Katalogs zur Hilfe. Nur drei Monate nach dem Besuch des Kuratoriums erbat er wohl deswegen bei diesem einen Schlüssel für die Bibliothek, was ihm zugesprochen wurde, für „syn eygen gebruyck alleen ende aen niemant anders voort en lee- n e .“ 412 Am 9. Februar des folgenden Jahres gab Heinsius bekannt, dass er aufgrund seines hohen Alters und seiner Schwäche das Amt des Biblio- thekars nicht länger wahrnehmen konnte und deswegen eine Nachfolge gesucht werden sollte.413 Das Kuratorium beschloss, dass Heinsius seinen Lohn bis zu seinem Lebensende erhalten solle. Thysius wurde durch das Kuratorium der Universität zum Bibliothecarius publicus gewählt. Auf ein Honorar für diese Aufgabe musste er aber verzichten, solange dieses an Heinsius ausbezahlt werde. Er solle zudem dafür sorgen, so das Kurato- rium, dass die Bibliothek gesichert, geordnet und sauber gehalten werde, wofür ihm Pieter de Vogel helfen solle, der nunmehr bereits seit ungefähr zwei Jahrezehnten als Kustode der Bibliothek beschäftigt wurde.414 Sei- ne dringlichste Aufgabe war laut dem Kuratorium die Fertigstellung des begonnenen Katalogs.415 Dazu würde es aber nie kommen, denn anstel- le eines gedruckten Katalogs zeichnete Thysius für die Umgestaltung der Leidener Bibliothek verantwortlich. Ein Katalog reichte wohl nicht aus, um die Ordnung und weitere Gebrauchstauglichkeit der Bibliothek ge- währleisten zu können und die Büchersammlung wurde zu einer Wand- bibliothek umgebaut.

Zustand der Bibliothek Thysius übernahm eine Bibliothek, die in einem ungeordneten, ja sogar chaotischen Zustand war. Zeuge davon ist just jener Arbeitskatalog, mit welchem Heinsius und Thysius arbeiteten. Es ist ein Katalog des Jahres 1640, in den leere Seiten für handschriftliche Ergänzungen eingebunden

410 AC1.24, (8. Febr. 1652), f. 256v. 411 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 5, Sp. 924–925. 412 AC1.24, (15. Mai 1652), f. 261r–261v, hier f. 261v. 413 Bronnen III, (9. Febr. 1653), S. 74. 414 Bronnen III, (26. Aug. 1653), S. 76–77. 415 Bronnen III, (26. Aug. 1653), S. 76–77; zum Katalog auch: Molhuysen 1905, S. 23–24.

120 wurden.416 Heinsius verzeichnete zunächst die durch ihn neuerworbe- nen Bücher, wenn auch durch die Budgetkürzungen und Restriktionen des Kuratoriums zum Ende seiner Amstzeit nur wenige gekauft werden konnten. Thysius versuchte später den Bestand vollständig zu erfassen, die Lage der Bücher zu notieren, oder vermisste und beschädigte Werke zu verzeichnen. Er benutzte den Katalog bis zu seinem Tode 1665 und ver- wendete ihn auch für die Umgestaltung der Bibliothek. Aus dem Katalog wird ersichtlich, dass noch immer gleich viele Pulte in der Bibliothek standen wie bereits 1640, nämlich 25. Der Raum liess wohl keine weiteren Pulte zu. Auch die Regalflächen der einzelnen Pulte wurden in der Regel nicht vergrössert. Nur die beiden ersten Pulte der Theologie erhielten eine zusätzliche Regalfläche. Da diese bereits zuvor mittels eines unter der Lesefläche liegenden Bords bestückt wurden, mussten die Erweiterungen woanders ihren Platz finden, nämlich ober- halb der ursprünglichen Kästen. Die Bücher auf den hinzugekommenen Regalflächen wurden entsprechend unter dem Eintrag supremo pluteo im Katalog verzeichnet.417 Folgende Pulte waren in der Bibliothek vor ihrem Umbau vorhan- den. Die Theologie besass acht Pulte mit zusätzlich eingebauter Regalflä- che, wobei zwei die erwähnten Aufsätze erhielten. Fünf Pulte waren der Jurisprudenz zugewiesen, vier davon verfügten über eine zusätzliche Ablagefläche. Die Medizin hatte 2 Pulte inne, eines davon erweitert. Die Geschichte fünf Pulte, wobei drei erweitert wurden. Zwei Pulte enthielten die Werke der Philosophie, wobei eines mit einem Zusatz versehen war. Die Mathematik hatte noch immer nur ein erweitertes Pult und die Lite- ratur zwei, wobei beide vergrössert waren (Abb. 2.16).

Fehlende, ausgeliehen und zerstörte Bücher Die verschiedenen Arbeitskataloge zeigen, dass Daniel Heinsius seine Büchersammlung stets nur bedingt im Griff hatte (Abb. 2.17). So fehlten bereits 1635 viele Bücher – trotz ihrer Ketten. Nur zu oft steht neben Buch- titeln Vermerke wie „deest“ oder „deficit“, was den Verdacht nahe legt, dass Besucher verschiedene Werke unbeachtet mitgehen liessen. Andere waren beschädigt und Seiten wurden aus Werken gerissen.418 Auch Thysius konnte verschiedene Bücher nicht mehr auffinden. Sie erhielten im Arbeitskatalog von 1640 ebenfalls den Vermerk „deest“. Teilweise tauchten sie später wieder auf und das „deest“ wurde daraufhin durchgestrichen, meist ohne Nennung eines Grundes, manchmal aber

416 BAR.C4; siehe dazu auch: Hulshoff Pol 1975, S. 432–434. 417 Ein pluteo medio wird auch genannt, doch handelt es sich dabei wohl das ursprüng- liche Regal, das nun in der Mitte lag. Siehe BAR.C4, S. 3 (nachträgliche Paginierung). 418 siehe die Einträge in Heinsius 1623/1635.

121 Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Keller Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

Abb. 2.16 auch mit. So wurde beispielsweise ein Werk auf einem falschen Pult ge- Rekonstruktion, Schnitt Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage 419 420 und Grundriss der Biblio- funden oder zwei andere in Schränken mit Handschriften aufgespürt. thek, Zustand vor ihrem Es wurden auch Werke ausgemacht, die falsch klassifiziert waren und bei- Umbau, darunter die Engli- 421 sche Kirche. spielsweise nicht zur Jurisprudenz sondern zur Theologie gehörten. Ein Band eines Werkes wurde zu den dazugehörigen Teilen verschoben, die (Planzeichnung des Autors Sammlung also teilweise auch neu organisiert.422 nach den Zeichnungen und ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH Angaben in: Witkam DZ; ZUSTANDDie Ordnung innerhalb VOR derUMBAU abschliessbaren Schränke war bestän- WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Gogelein 1973.) diger. Bei den kleinformatigen und anderen, in separaten Kästen ver- Englische Kirche ab 1644

419 BAR.C4, S. 37. 420 BAR.C4, S. 7, S. 68. 421 BAR.C4, S. 29. 422 BAR.C4, S. 51.

122

Keller

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644 wahrten Büchern werden solche Einträge nur äusserst selten genannt. Es scheint also, dass die Bücher, welche in Schränken verschlossen wurden und damit der unmittelbaren Kontrolle des Bibliothekar ausgesetzt wa- ren, verschont blieben von Diebstahl und Zerstörung, wurden sie doch durch den Bibliothekar ausgeteilt und wieder eingezogen – mit einer zu- mindest möglichen Prüfung der Werke. Nur drei kleinformatige Werke der Mathematik waren unauffindbar. Der Vorteil einer überwachten Aus- gabe wird denn auch nach dem Umbau zur Wandbibliothek eingesetzt. Die meisten der als „vermisst“ bezeichneten Werke wurden wohl ge- stohlen. Doch auch Heinsius trug an den Lücken im Bestand Mitschuld, denn er lieh viele Bücher aus. Hulshoff Pol erwähnt die Geschichte zwei- er Manuskripte, die aus der Bibliothek verschwunden waren und in ver- schiedenen Katalogen als vermisst verzeichnet wurden. In einem Fall konnte sie aufzeigen, dass Daniel Heinsius selbst und im Wissen, dass es sich um ein Manuskript der Bibliothek handelte, dieses aus der Bibliothek schaffte. Zudem nutzte er Leerseiten der seltenen Handschrift – es han- delte sich dabei um ein Werk von Prokopios – für eigene Notizen.423 Eines der raren Werke, die eigentlich sicher im Büro des Bibliothekar verwahrt wurden, konnte erstaunlicherweise ebenfalls nicht aufgefunden werden. Der handschriftliche Hinweis besagt, es werde beim Ratsherrn Willem van der Goes (1613–1686)424 vermutet.425 Van der Goes war der Schwie- gersohn von Daniel Heinsius und erhielt vermutlich viele Werke aus der Bibliothek zur Ausleihe nach Hause.426 Heinsius’ grosszügiger Umgang im Verleihen von Büchern war wahrscheinlich auch dem Kuratorium be- wusst, als sie einen Katalog einforderten, der „alle de boucken staende op de publycque bibliotheque van dese Univ. off deselve toebehoorende“427 verzeichnen sollte, alle Bücher also, die in der Bibliothek vorhanden waren oder ihr zugehörten, implizit aber nicht in ihren Räumlichkeiten lagerten. Thysius rief später all jene Werke zurück, die von Professoren ausgeliehen wurden.428 Nach Übernahme der Präfektur wollte er auch an eine durch Heinsius verfasste Liste aller ausgeliehenen Werke kommen, wobei es fragwürdig ist, ob eine solche jemals angefertigt wurde.429 Nur zu oft findet man bei den angeketteten und frei zugänglichen Folianten Hinweise auf mutwillige Beschädigungen wie: „seer verseert“, „wtgescheurt van fol. 288“, „op verscheyden plaetsen gescheurt“, „Seer mishandelt ontrent de figuren“, „schandelyck de alder beste figuren wtge-

423 Hulshoff Pol 1975, S. 426. 424 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 8, Sp. 618–629. 425 BAR.C4, S. 146 (ursprüngliche Paginierung). 426 Hulshoff Pol 1975, S. 432. 427 Bronnen III, (1. Dez. 1650), S. 43. 428 Bronnen III, (8. Aug. 1656), S. 116. 429 Bronnen III, (8. Nov. 1653), Bijl. No. 686, S. 26*; ferner: Hulshoff Pol 1975, S. 432.

123 Abb. 2.17 sneen“, „wt het titelbladt de plaet wtgesneen“ oder „De heele griexe text Der Arbeitskatalog von 430 Heinsius und Thysius, mit wtgescheurt en schandig getracteert“ (Abb. 2.18). Opfer von Beschädi- Eintragungen von neuen, gungen wurden besonders häufig Bücher mit Illustrationen. Aus einem beschädigten und vermiss- ten Büchern. Rechter Hand Atlas wurden „De Caerten op veel plaetsen wtgescheurt“, die benachbarte das Verzeichnis der drit- geographische Publikation ebenfalls „schandig gescheurt“431 und auch ten Ablagefläche des ersten eine Inkunabel eines Werks von Ptolemäus wurde ihrer Karten beraubt.432 Pults der Theologie. Neben den Titel sind die Laufnum- Nicht mal die Werke von Leidener Professoren wurden verschont, denn mern verzeichnet. aus dem reich illustrierten Pflanzenbuch Rariorum plantarum historia

(Daniel Heinsius (mit Ja- des Leidener Botanikers Carolus Clusius wurden gar mehrere Dutzend cobus Golius), Catalogvs Seiten herausgerissen: „wtgescheurt van fol. 61 tot 109“.433 bibliothecæ pvblicæ lug- duno-batavæ, Lvgd. Bata- vorvm (ex officina Elsevir. Fehlender Komfort Acad. typograph.) 1640, un- Doch wieso stahlen die Studenten Bücher oder rissen Seiten aus ihnen paginiert bis S. 39; Hier der Arbeitskatalog von Heinsi- heraus? Sicherlich ermutigte die mangelnde Überwachung sie dazu, zu- us und Thysius, UBL, Signa- dem waren die herausgerissenen Illustrationen wertvoll und konnten nur tur BAR.C4.) schwer kopiert werden. Doch spielte wohl auch ein zweiter Grund eine (Fotografie des Autors.) wichtige Rolle, nämlich der Komfort der Bibliothek. Denn falls eine Bi-

430 BAR.C4, S. 1; BAR.C4, S. 1; BAR.C4, S. 12; BAR.C4, S. 20; BAR.C4, S. 21; BAR.C4, S. 32; BAR.C4, S. 52. 431 BAR.C4, S. 54. 432 BAR.C4, S. 57. 433 BAR.C4, S. 41.

124 bliothek die perfekten Arbeitsbedingungen bietet, lange Öffnungszeiten Abb. 2.18 Im Arbeitskatalog verzeich- aufweist und sich die Leser gerne darin aufhalten, schwindet wohl auch nete Misshandlungen an das Verlangen, Bücher zu stehlen. In Leiden war dies sicherlich nicht ge- Büchern. geben. Denn die alte Möblierung erlaubte nur ein unbequemes Arbeiten (Daniel Heinsius (mit Ja- mit den Büchern. Die Bibliothek wurde im Winter nicht mehr geheizt und cobus Golius), Catalogvs war somit kalt. Die Unordnung der Bücher in vollgestellten und unregel- bibliothecæ pvblicæ lug- duno-batavæ, Lvgd. Bata- mässig erweiterten Regalen bot sicherlich auch keine Hilfe beim Lesen vorvm (ex officina Elsevir. und Exzerpieren. Zudem mussten die Studenten stehen, weil die Pulte Acad. typograph.) 1640, un- paginiert bis S. 39; Hier der keine Sitzbänke besassen, was auf Dauer sicherlich unbequem war. Und Arbeitskatalog von Heinsi- auch die Öffnungszeiten von nur zwei mal zwei Stunden pro Woche wa- us und Thysius, UBL, Signa- tur BAR.C4.) ren äusserst dürftig. Aus all diesen Gründen lag der Diebstahl eines Buches oder einer (Fotografie des Autors.) benötigten Textstelle wohl nahe, um diese dann bequem und zu jeder Ta- ges- und Nachtzeit in der geheizten eigenen Stube studieren zu können. Möchte eine Bibliothek möglichst wenig Bücher durch Diebstahl verlie- ren, so muss sie deswegen – neben einer guten Überwachung – auch für komfortable Arbeitsbedingungen sorgen.

Eine bauliche Lösung muss gefunden werden Die Büchersammlung war zum Ende der Amtszeit von Heinsius durch- einander geraten. Der Buchbestand wuchs von 442 Bänden im Jahr der

125 Eröffnung auf 3117 Bänden im Jahr 1640 an,434 während die Bibliothek aber noch immer als mittelalterliche Pultbibliothek eingerichtet war. Mit dem Anwachsen der Buchbestände kamen laufend neue Pulte in den Raum der Bibliothek, bis dieser so vollgestellt war, dass keine weiteren Pulte hereingebracht werden konnten. Der Bibliothekar war deswegen dazu gezwungen, wo immer notwendig zusätzliche Regalflächen einzubauen. Dies führte in Leiden zu einer Lösung vergleichabr mit jener, die in England Schule machen sollte und als stall system bezeichnet wird. Die Leidener Bibliothek vermochte jedoch mit ihrem uneinheitli- chen Mobiliar auch ästhetisch nicht mehr zu überzeugen. Dazu waren verschiedene Bücher falsch eingeordnet, andere wurden beschädigt oder gar gestohlen. Diese Probleme waren ein direktes Resultat der Innenein- richtung der Bibliothek, denn die Leser konnten zwischen den eng beiei- nander stehenden Pulten nur schwer überwacht werden. Betrachten wir den Kupferstich von 1610 wird dies deutlich: Selbst von einem erhöhten Standpunkt aus kann der Betrachter nur schwer die Hüte der Lesenden zwischen den Regalen ausmachen. Die Büchersammlung bedurfte aus diesen Gründen dringend einer neuen Möblierung. Thysius wird denn auch als erste Amtshandlung eine Umgestaltung vornehmen und die sie zu einer Wandbibliothek umfor- men. Dieses System vermochte zwar deutlich mehr als eine blosse Über- wachung der Leser zu ermöglichen, musste dabei aber auch die Vorzüge der Kettenbibliothek aufgeben, wie in einem kommenden Kapitel auf- gezeigt werden soll. Die Evolution der Bibliotheksarchitektur von mit- telalterlichen Pultbibliotheken über das sogenannte stall system hin zur frühneuzeitlichen Wandbibliothek kann besonders gut an Beispielen in Oxford veranschaulicht werden, weshalb der Blick im folgenden Kapitel auf die britische Insel gelenkt werden soll.

Von stalls und Wandbibliotheken: Oxforder Beispiele

Die aufgestockten Regale der Leidener Universitätsbibliothek glichen ei- ner Bibliotheksmöblierung, die im ausgehenden 16. Jahrhundert in Eng- land aufkam und danach im angelsächsischen Raum zum beliebtesten Typus avancierte: das sogenannte stall system.435 Es zeichnet sich dadurch aus, dass auf mit Leseflächen versehenen Pulten ein Bücherregal zum stehen kommt, das mehrere Ebenen umfasst und in dem noch immer angekettete Bücher verwahrt werden. Die aufgebauten Regale sind dabei

434 Siehe die Tabelle in: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 67. 435 Grundlegend zur englischen Bibliotheksgeschichte: Leedham-Green/Webber 2006.

126 meist beidseitig bestückbar, was die Aufnahmekapazität pro Pult noch- mals verdoppelt. In der Mitte zweier stalls befindet sich meist ein Fenster sowie eine Sitzbank für den Leser. In der Forschung ist unklar, wo das stall system das erste Mal zur An- wendung kam, vielleicht wurde es auch an mehreren Orten parallel entwi- ckelt. Der Weg hin zu diesem System kann jedoch einfach nachvollzogen werden. Er war dem zunehmenden Bedarf an Stauraum geschuldet und entsprach in etwa der Entwicklung der Leidener Universitätsbibliothek. Besassen frühe Pultbibliotheken mit angeketteten Bücher noch einfache, meist schräge Leseflächen, auf denen die Kodizes flach und angekettet auslagen, so verfügten spätere Pulte oftmals bereits über eine separierte Ablagefläche unterhalb der Leseflächen, weswegen hier bereits deutlich mehr Bände pro Pult versorgt werden konnten. In Leiden wurden die Bü- cher vergleichbar gelagert. Das zunächst einfache Regal wurde oberhalb der Lesefläche angebracht und die Bücher fanden stehend darin Platz, was nochmals einen effizienteren Umgang mit dem Regalraum erlaub- te. Die fortwährende Erweiterung des Buchbestandes führte nicht nur in Leiden zum Problem, dass der Bibliotheksraum irgendwann keine zu- sätzlichen Pulte beherbergen konnte, weswegen das Mobiliar selbst um- gestaltet werden musste: die Pulte erhielten zusätzliche Regalflächen, das stall system entstand. Auf dem Kontinent setzte sich im 17. Jahrundert hingegen eine wei- tere Einrichtungsform durch, die sogenannte Wandbibliothek. Wie der Name bereits sagt, werden in ihr die Bücher in Regalen untergebracht, die entlang der Wände stehen. Die Entwicklung hin zu diesem Typus hat verschiedene Ursachen. Zum einen eignet es sich hervorragend zur räumlichen Inszenierung des Wissens. Der Leser wird durch die Bücher umschlossen und geniesst einen panoptischen Blick auf die vorhande- ne Literatur. Im Gegenzug konnte aber auch der Leser einfacher über- wacht werden, wie das Leidener Beispiel zeigen wird. Zudem ermöglicht es, Bände jeden Formats im selben Möbel zu verwahren. Und auch auf die Praxis des Lesens hatte diese Einrichtungsform entscheidenden Ein- fluss: Als negative Auswirkung hatte der Leser meist keinen freien Zugang zu den Büchern, musste diese also beim Bibliothekar nachfragen. Positiv hingegen war, dass der Leser die Bücher, da der Ort der Verwahrung nicht mehr dergleiche war wie derjenige des Lesens, mehrere Bücher verschie- dener Fachgebiete zugleich und vergleichend an einem zentralen Lese- tisch betrachten konnte.

Die Bibliothek des Merton College Die Bibliothek des Merton College war eine der frühesten Bibliotheken,

127 in die das stall system eingebaut wurde – wenn nicht gar die erste.436 Dass Kollegium ist eines der ältesten englischen Colleges und wurde bereits 1263 durch Walter de Merton gegründet.437 Schon früh verfügte das Kolle- gium über eine Büchersammlung, die zunächst in einer einfachen Kiste verwahrt wurde – solche Kisten waren im Mittelalter durchaus geläufig und stellen die kleinstmögliche Form eines Bibliotheksmöbels dar, eine Bibliothek in nuce gewissermassen.438 Denn mittelalterliche Bibliotheken verfügten nur selten über mehr als 500 Bände. Das Beispiel im Merton College zeigt jene Bestandteile, die eine solche Bücherkiste in der Regel aufwies. Sie ist solide gebaut, mit Schlössern versehen und steht auf klei- nen Füssen, damit keine Feuchtigkeit die wertvollen Bücher beschädigen kann. Solche Kisten liessen sich überall aufstellen, weswegen ein eigener Bibliotheksraum für eine solch kleine Büchersammlung nicht notwendig war. 439 Bereits 1284 erhielt die Büchersammlung jedoch einen eigenen Raum, dessen Lage nicht überliefert ist. Er verfügte über Fenster mit Glas- scheiben, über Lesepulte mit Sitzbänken sowie – wohl zum Komfort der Lesenden – über Schilfmatten auf dem Boden. Da es sich um eine Prä- senzbibliothek handelte, wurden die Bücher angekettet, was erstmals für das Jahr 1339 überliefert ist.440 Zunächst erhielten nur die graduierten Stu- denten des Kollegiums einen Schlüssel zur Bibliothek. Bücher aus einem zweiten Bestand durften ein Jahr lang ausleihen werden, wie es in den frü- hen Colleges und mittelalterlichen Klöstern üblich war.441 Die Versorgung der Kollegiaten mit Literatur folgte also dem zeittypischen Zweiklang aus Präsenz- und Leihbibliothek, wie er beispielsweise auch an der Sorbonne in Paris zur Anwendung kam. Mit dem Bau des Mob Quads erhielt die Bibliothek die Räumlichkeiten, in denen sie noch heute zu finden ist. Neben der Bibliothek wurde auch die sogenannte Treasury errichtet, die der sicheren Verwahrung von Wertgegenständen und Dokumenten diente. Dieser Bau, den man als Ar- chiv bezeichnen kann, wurde ganz aus Stein errichtet, selbst die Dach- konstruktion ist in Massivbauweise erstellt worden. Grund dafür war der

436 Zum Forschungsstand der Frage nach dem Ursprung des stall systems, siehe: Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries in the Sixteenth Century“, in: Ker 1985, S. 379– 436, hier vor allem S. 390–392; unter Kritik geriet die noch immer ausführlichste Pu- blikation zum Thema: Streeter 1931. 437 Zur Geschichte des College siehe: Martin/Highfield 1997, zur Bibliothek des 13. Jahrhunderts S. 74–92. 438 Eine solche mittelalterliche Bücherkiste hat sich im Merton College erhalten, siehe: Martin/Highfield 1997, S. 77. 439 Zu dieser und anderen Bücherkisten, siehe: Campbell 2013, S. 79–80. 440 Zur Baugeschichte, siehe: Martin/Highfield 1997, S. 88–92. 441 Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries before 1500“, in: Ker 1985, S. 301–320, hier S. 302–304; Martin/Highfield 1997, S. 51, S. 77, und S. 79.

128 Schutz der Sammlung vor Feuer. Die Lage im ersten Obergeschoss sicher- te die Archivalien zudem vor dem feuchten Erdreich. Da diese – im Ge- gensatz zu den Büchern der Bibliothek – nicht stetig konsultiert werden mussten, verfügt der Bau kaum über Fenster. Er ist gewissermassen ein Repositorium, aus dem die Dokumente genommen werden mussten, um sie betrachten zu können. Ganz anders hingegen die Bibliothek. Da sie nicht bloss die sichere Verwahrung der Bücher zur Aufgabe hatte, sondern auch einen angemes- senen Raum für das Lesen bereitstellen musste, wurde sie grundsätzlich anders ausgebildet als das Archiv. Untergebracht wurde die Bücher- sammlung im West- und Südflügel desMob Quads, welcher zwischen 1371 und 1378 erstellt wurden. Die Bibliothek läuft somit über Eck. Zugang in die Büchersammlung fanden die Leser über einen Eingang im Innenhof und über eine Treppe, die in das erste Obergeschoss führt, wo sie unter- gebracht wurde um die Bestände wiederum vor Feuchtigkeit zu schützen. Ein grosszügiges Vestibül in der Gebäudeecke führt in die beiden Seiten- flügel, wo jeweils in der Mittelachse ein Korridor die verschiedenen Pulte erschliesst. Beleuchtet wird das Vestibül durch zwei grosse übereck ge- stellte Fenster, die zugleich den Endpunkt beider Korridore bilden. Die Pulte stehen heute wie früher orthogonal zur Wand. Da das Gebäude von Anfang an die öffentliche Präsenzbibliothek mit angeketteten Büchern beherbergen sollte, konnte hier eine dieser Nutzung entsprechende Architektur ausgebildet werden. Die Bedürfnisse der Bibliothek fanden eine bauliche Lösung. Zwischen die Pulte wurden einfache Lanzettfenster gesetzt, um den Lesern genügend Licht zu bieten. Nahezu alle neuen und zweckerrichteten Bauten, die mit quergestellten Regalen oder Lesepulten versehen wurden, besassen eine solche Abfolge von Möbel, Fenster, Möbel und so fort. Die von Beginn an mit bemalten Gläsern versehenen Fenster sind im Merton College ungefähr einen hal- ben Meter breit. Sie liegen mit Achsabständen von ca. 170cm (5ft. 6in.) auch sehr nahe beieinander. Zwischen den Fenstern und ihren geneigten Leibungen befinden sich Wandstücke von ca. 65cm (2ft.) breite.442 Beide Flügel besassen zunächst 7 Fensterachsen, weswegen sie vermutlich mit jeweils 12 doppelseitigen Pulten zwischen den Fenstern und 4 einseitigen Pulten an ihren Stirnseiten bestückt wurden, was dem späteren Aufstel- lungsprinzip des 16. Jahrhunderts entspräche.443 Die ursprünglichen Pulte verfügten noch nicht über einen geson-

442 Masse nach Grundrissplan und Text aus: Streeter 1931, S. 132; die Datierung der einzelnen Fenster ist indes unklar, siehe dazu: Sherwood/Pevsner 1974, S. 163. 443 Der Südflügel wurde später erweitert. In der Forschung ist manchmal die Rede von 14 Pulten, was aber die Problematik der Stirnseiten nicht berücksichtigt. Martin/ Highfield 1997, S. 89–90.

129 Abb. 2.19 derten Stauraum, weshalb die Bände flach auf ihnen ruhten. Dies wird Eine Metallplatte zur An- aus früher verwendeten Titelangaben ersichtlich, die nicht auf den Buch- kettung der Manuskrip- te, wie sie auch in der ur- rücken oder -schnitten angebracht wurden, sondern auf den vorderen sprünglichen Bibliothek Buchdeckeln.444 Vorhandene Kettenspuren bezeugen dies ebenfalls. Die des Merton College zur An- wendung kamen. Kette eines jeden Buches wurde an einer mit einer Wölbung versehenen Metallplatte befestigt, die an der unteren Kante des rückwärtigen Buch- (Umzeichnung eines mit- telalterlichen Manuskripts deckels befestigt wurden, was ein übliches Vorgehen in Oxforder Kolle- des New College in Oxford, gienbibliotheken war. Die Metallstangen, welche die Ketten mit den Pul- MS. New Coll. 49.) ten befestigten, waren wohl unterhalb der Leseflächen angebracht Abb.(

(Scan aus: Neil Ripley Ker, 2.19).445 Books, Collectors and Lib- Die Bibliothek wurde also vermutlich mittels zweiseitiger einfacher raries. Studies in the Me- dieval Heritage, heraus- Lesepulte bestückt, wie sie heute noch beispielsweise in Zutphen besich- gegeben durch Andrew G. tigt werden können. Sie erklären auch den geringen Abstand zwischen Watson, London und Ron- ceverte (The Hambledon den Fenstern, benötigten die Pulte doch kaum Raum. Dazwischen sass Press) 1985, S. 329.) der Leser auf einem einfachen Brett ohne Rückenlehne, so dass er sich beiden Pulten zuwenden konnte. Wenn auch jedes Buch noch immer ei- nen festen Platz und eine zugeteilte Lesefläche erhielt, so konnten dank der zweiseitigen Bespielung zumindest die Sitz- und Fensterflächen opti- miert werden, bediente doch ein Fenster und eine Bank zwei Seiten, wes- wegen nur halb so viele Fenster und Sitzbänke eingebaut werden muss- ten, als es bei einseitigen Lesepulten der Fall gewesen wäre. Dies führte zu einer besseren Ausnützung des vorhandenen Raums. Sowohl die Lese- pulte wie auch die Sitzbänke waren an einem in Längsrichtung verlaufen- den Träger festgemacht, so dass sie immobil waren und ihr Gewicht über den Träger auf die ganze Länge des Baus verteilt abgaben.446 Daraus wird ersichtlich, wie innig bei diesem Bibliotheksneubau die Architektur, ihre Durchfensterung, die Möblierung, ja selbst die Ankettung

444 Streeter 1931, S. 134. 445 Neil Ripley Ker, „Chaining from a Staple on the Back Cover“, in: Ker 1985, S. 327–330. 446 Streeter 1931, S. 134–139.

130 der Bücher miteinander verknüpft waren. Die Achsabstände zwischen Fenster und deren Breite lassen sich direkt von den Dimensionen eines lesenden Menschen und der Grösse eines liegenden Folianten ableiten. Die Fenster geben dem Leser das nötige Licht zum Lesen, die Möblierung dazwischen ermöglicht ihm ein komfortables Studium. Bei der Erstellung des Mauerwerks und seinen Öffnungen musste die Möblierung der Bib- liothek somit bereits ausgedacht gewesen sein, bedingen sich doch beide Teile gegenseitig. Die Bibliothek ist deshalb bereits am Aussenbau deut- lich zu erkennen. Auch zur dieser Bibliothek erhielten die Studenten der höheren Fa- kultät einen Schlüssel, 1484 wurden die Studenten der Artistenfächer in den Kreis der Leser aufgenommen. Daneben wurden Bücher noch immer ausgeliehen.447 Die Bestände der Bibliothek wuchsen wie üblich an und der Platz auf den Pulten war natürlich begrenzt. Neil Ripley Ker ermit- telte, dass die Pulte höchstens 40 kleinere Bücher aufnehmen konnte, in der Regel aber weniger verwahrten. Eine häufige Methode, um in vollen Bibliotheken an neuen Raum zu kommen, die auch im Merton College angewendet wurde, war der Verkauf von älteren und – nicht zuletzt auf- grund der aufkeimenden Religionswirren – von nicht mehr respektierten Werken. Nur selten gelesene Werke konnten zudem von den Pulten der Referenzbibliothek genommen und anderswo gelagert werden.448

Der Umbau zum stall system Die Bibliothek des Merton College besass in der Mitte des 16. Jahrhunderts knapp über 500 Bände. Im Jahre 1583 wurde Henry Savile (1549–1622) zum Warden, also zu Leiter des Kollegiums, ernannt.449 Damals gelangten auch zwei grössere Nachlässe in die Bibliothek und brachten das Fassungsver- mögen der Möbel an ihre Grenzen. Savile sah sich gezwungen, die Bib- liothek mit ihrem nunmehr doch bereits sehr alten und nicht mehr aus- reichenden Mobiliar umzubauen.450 Ab 1589 wurde deshalb der westliche Flügel der Bibliothek mit neuen Möbeln ausgestattet (Abb. 2.20 und 2.21). Savile musste dabei den vorhandenen Raum mit seiner Durchfensterung berücksichtigen. Er ersetzte die Lesepulte durch neuartige, die über auf- gesetzte Regale mit zwei Ablageflächen verfügten, welche doppelseitig bestückbar waren und somit den früheren zweiseitigen Lesepulten ent- sprachen, aber deutlich mehr Bände aufnehmen konnten. Die beiden

447 Neil Ripley Ker, „The Books of Philosophy distributed at Merton College in 1372– and 1375“, in: Ker 1985, S. 331–378. 448 Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries in the Sixteenth Century“, in: Ker 1985, S. 379–436. 449 Martin/Highfield 1997, S. 157–198. 450 Zum Umbau der Bibliothek siehe: Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries in the Sixteenth Century“, in: Ker 1985, S. 379–436, hier S. 427–429.

131 Abb. 2.20 Grundriss der Merton Col- lege Library, der die enge Verknüpfung von Mobiliar und Gebäude zeigt.

(Scan aus: John Willis Clark, The Care of Books, Cambridge (Cambridge University Press) 1901, Fig. 81, S. 180.)

ersten und letzten Pult beider Flügel wurden ihrer Lage entsprechend nur einseitig bespielbar gestaltet. Später wurden durch den Einbau zusätzli- cher Regalbretter Stauraum gewonnen. Streeter geht davon aus, dass die Sitzbänke der alten Einrichtung übernommen wurden.451 Savile richtete somit das stall system in seiner Bibliothek ein, von wo aus es schon bald kopiert wurde. Savile musste dabei auf einen Raum Rücksicht nehmen, der speziell für das Pultsystem errichtet wurde und nur eine quergestellte Möblierung zuliess. Die stalls fielen dabei etwas breiter aus als die früheren Lesepulte, mussten sie doch neben den Regalen auch angebaute und nun auskra- gende Leseflächen besitzen. Die einzelnen Buchten der Bibliothek ma- chen heute einen etwas beengten Eindruck, resultiert ihr Achsmass doch aus der Möblierung mittels einfacher Lesepulte ohne Regale. Die Durchfensterung des Raumes wurde kurz darauf als nicht mehr ausreichend empfunden. Wie Streeter aufzeigt, konnten die Fenster wäh- rend der Einrichtung mit einfachen Lesepulten noch den ganzen Raum über diese hinweg in diffuses Licht tauchen, was die hohen stalls aber verhinderten.452 Als 1623 auch der Südflügel der Bibliothek nach Vorbild des Westflügels mit stalls eingerichtet wurde, baute man deshalb je zwei grosse Gauben („dormers“) in die beiden Dächer der Flügel ein. Auch die Ankettung der Bücher musste verändert werden, da die Bücher nun mit ihrem Schnitt nach aussen stehend in den Regalen ver-

451 Streeter 1931, S. 134–142. 452 Streeter 1931, S. 140.

132 Abb. 2.21 Westflügel der Bibliothek des Merton College mit den durch Henry Savile einge- richteten Stalls.

(Photographie: H. W. Taunt, 1899)

(Scan aus: John Willis Clark, The Care of Books, Cambridge (Cambridge University Press) 1901, Fig. 82, unpaginierte Seite.)

wahrt wurden. Die alten Manschetten hätten die Bücherdeckel und –rü- cken beim Herausziehen der Bände beschädigt, weswegen sie nun an der vorderen Kante des Buchdeckels ihren Platz fanden. Die neuen Metall- klammern an den Büchern, an welchen die Ketten fixiert wurden, fanden nun an der vorderen Kante der Buchdeckel ihren Platz.453 Dies entsprach der üblichen Methode der Zeit. Die Signaturen und Titelangaben wurden auf dem Schnitt der Bücher vermerkt. Die Bücher wurden nach wie vor den Fakultäten entsprechend im Raum verteilt, die Libri artium im Westflügel, die Libri theologiae auf der Südseite des zweiten Flügels, die Libri medicinae und Libri jurisprudenti- ae ihnen gegenüber. Innerhalb der Fachgebiete war die Grösse der Bände entscheidend für ihre Disposition, um möglich haushälterisch mit dem Raum der neuen Regale umzugehen. Die kleinsten Bücher wurden wie in Leiden in Schränken verschlossen.454

Schlussbemerkungen zum stall system Aufgrund seiner Entstehungsgeschichte muss das stall system als Weiter- entwicklung der Pultbibliothek verstanden werden, wie die Bibliotheken des Merton College oder der Universität Leiden bezeugen. Zum einen blieb der Wunsch erhalten, eine Präsenzbibliothek mit nach Fakultäten geordneten und angeketteten Büchern zu errichten. Neben dieser beibe-

453 Neil Ripley Ker, „Chaining from a Staple on the Back Cover“, in: Ker 1985, S. 327–330; Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries in the Sixteenth Century“, in: Ker 1985, S. 379–436, hier S. 428. 454 Martin/Highfield 1997, S. 161.

133 haltenen Praxis der Buchverwahrung hatte aber auch die Architektur ent- scheidenden Einfluss. Wie im Falle des Merton College ersichtlich wird, definierte die bauliche Hülle mit ihrer Durchfensterung eine Möblierung im Innern, die mittels quergestellter Möbel operieren musste. Die Aufstel- lung von Regalen entlang der Wände wäre im Merton College undenkbar. Hinsichtlich der Lesepraxis hatte das neue System keinerlei Auswirkun- gen. Noch immer konnten Bücher frei aufgesucht und konsultiert wer- den, durch ihre Ketten aber wurde das vergleichende Lesen verschiede- ner Werke verhindert. Die Bibliothek des Merton College richtete als frühe, wenn nicht ers- te, das stall system ein und wurde zum Vorbild für weitere Oxforder Kol- legienbibliotheken, die allesamt mit Platzproblemen zu kämpfen hatten. St. John’s (1595–1598), Queen’s College (1596–97), All Souls (1598), Corpus Christi (1604) oder das Magdalen (1610) folgten.455 Die Bibliothek des Mer- ton College diente zudem als Vorbild für die wohl wichtigste englische Bibliothek der Zeit, die diese Einrichtungsart überall in England bekannt machte und sie zum Typus angelsächsischer Bibliotheken werden liess, nämlich die Universitätsbibliothek in Oxford, nach ihrem Neuerschaffer Bodleiana genannt, von der im Folgenden die Rede sein soll.

Die Bodleiana vor Bodley Im Jahre 1598 schrieb Thomas Bodley (1544–1612), zeitweiliger Fellow des Merton College, dem Vice-Chancellor der Universität Oxford und erklärte, er würde die Bibliothek der Universität, die in Vergessenheit geraten war, auf eigene Verantwortung und Kosten wieder aufbauen.456 Zum Einsatz dazu kam das Geld seiner nur zwei Jahre davor geehelichten Gattin, einer äusserst wohlhabenden Witwe.457 Die Oxforder Universität hatte zur jener Zeit keine eigene Bibliothek inne. Die Lesewünsche der Studenten wur- den durch die Bibliotheken der Colleges erfüllt, wo sie auch ab der Mitte des 16. Jahrhunderts den gössten Teil ihres Unterrichts erhielten.458 Dies war jedoch nicht immer der Fall, denn eine Zentralbibliothek der Univer- sität wurde schon früh durch Thomas Cobham (gestorben 1327), Bischof von Worcester, gegründet. 1367 erhielt sie ihre Bleibe in einem neuerrich- teten Raum über dem Old Congregation House neben der Church of St. Mary the Virgin und wurde mit Sitzbänken und Lesepulten ausstaffiert.459

455 Neil Ripley Ker, „Oxford College Libraries in the Sixteenth Century“, in: Ker 1985, S. 430–431; auf Seite 428, Fussnote 4 deutet Ker darauf hin, dass bereits 1585–86 Bü- cher in Regalen oberhalb der Pulte im New College gelagert wurden, wobei die dor- tige Bibliothek erst 1602–1603 mit stalls eingerichtet wurde. 456 Wheeler 1927, No. 1 (23. Febr. 1597), S. 4–5. 457 Philip 1983, S. 7. 458 Philip 1983, S. 6. 459 Myres 1968, S. 163.

134 Doch reichte dieser Raum nicht aus für die grosszügigen Stiftungen, die Humphrey of Lancaster, der ersten Duke of Gloucester (1390–1447), zwi- schen 1439 und 1444 der Bibliothek vermachte. 279 Manuskripte schenkte er der Universität und gab Aussicht auf weitere umfangreiche Spenden. Die grosszügige Donation führte zu einem weiteren Bibliotheksbau, denn die Universität beschloss, einen solchen über der Divinity School zu er- richten.460 Der Bau wurde wegen Finanzierungsschwierigkeiten erst 1489 fertiggestellt und die Bücher umgesiedelt. Noch heute trägt der Raum Duke Humphreys Namen.461 Die Bibliothek wurde aber nur schlecht bewirtschaftet, was einer- seits den guten College-Bibliotheken geschuldet war, andererseits auf finanzielle Nöte der Universität zurückzuführen ist. Der Todesstoss der Sammlung kam mit der Reformation, als die nun unliebsamen Bücher „von der Kette gelassen und verschenkt oder verkauft“462 wurden. Auch die Möbel schaffte man heraus und so war die Bibliothek bereits Mitte des 16. Jahrhunderts völlig leergeräumt.463 Bei Renovationsarbeiten in den 1960er Jahren wurde ersichtlich, wie die Duke Humfrey’s Library vor ihrer Zerstörung und Bodleys Neuerrich- tung ausgestattet war (Abb. 2.22). Wie damals üblich wurde auch sie mit zweiseitigen Lesepulten bestückt, die quer zwischen die Fenster gestellt wurden. Sie besassen jedoch keine zugehörigen Sitzbänke und die Le- ser mussten – wie in Leiden – die Bücher stehend studieren. Die Höhe der Bänke gab Anlass zu Spekulation, ob sie unter den Leseflächen über zusätzliche Regalflächen verfügten, was aber nicht mit Sicherheit gesagt werden kann und unwahrscheinlich ist.464 Die alte Duke Humfrey’s Library war somit eingerichtet wie eine typische Bibliothek des Mittelalters.

Thomas Bodley und die Duke Humfrey’s Library Thomas Bodley wollte 1598 den leerstehenden Raum mit neuem Mobiliar ausstatten, Bücher ankaufen und die Zukunft der Bibliothek durch eine jährliche Dotation absichern.465 Auch im Falle der Bodleiana kann man deshalb von einer Stiftung sprechen, wenn auch hier nicht nur wenige Bücher oder ein bestimmter Nachlass vermacht wurden, sondern eine

460 Zur Baugeschichte, siehe: Gillam 1998. 461 Philip 1983, S. 5–6; eine detaillierte Baugeschichte und Bauaufnahme liefert: Myres 1968. 462 Anthony Woods, zitiert in: Philip 1983, S. 6. 463 Philip 1983, S. 6; nur noch 13 Manuskripte der ersten Bibliothek können heute aus- findig gemacht werden, siehe: N. R. Ker, „The Chaining, Labelling, and Inventory of Manuscripts belonging to the Old University Library“, in: BLR, Volume 5, Number 4, October 1955, S. 176–180. 464 Myres 1968, S. 162–163, zudem Fig. 4 und Plate XLIV. 465 Philip 1983, S. 2.

135 Abb. 2.22 Rekonstruktionszeichnung der mittelalterlichen Duke Humfrey’s Library.

(Scan aus: Stanley Gillam, The Divinity School and Duke Humfrey‘s Library at Oxford, Bodleian Library, Oxford 1998, S. 27.)

ganze Bibliothek. Bodley erreichte mit seiner Stiftung mehr als Scaliger oder Vulcanius, denn sie trägt noch heute seinen Namen und behält ihren Erbauer in Erinnerung. Er setzte bei der Neugestaltung der ehrenwerten Bibliothek auf das neue stall system und erwies als zeitweiliger Fellow des Merton College diesem und seinem Freund Henry Savile die Reverenz. Die Verbindung Bodleys zum Kollegium ging gar so weit, dass in der dortigen Kapelle nicht nur das Epitaph von Henry Savile sondern auch dasjenige von Thomas Bodley aufgestellt wurde, der dort seinem Wunsch nach begraben liegt. Thomas Bodley wird darauf als Begründer einer wichtigen Bibliothek dar- gestellt: Umgebend von Athene und Personifikationen der Sieben Freien Künste schaut seine Büste aus einer Ädikula, deren Pilaster und Kapitelle aus Büchern geformt sind.466 Kurz vor seinem Beschluss, die Bibliothek wieder zu errichten, di- nierte Bodley ausgiebig mit Henry Savile im Merton College, wo er si- cherlich auch das jüngste Werk seines Freunds besichtigte und sich zum Wiederaufbau der Duke Humfrey’s Library inspirieren liess.467 In der For- schung wurde diskutiert, ob nicht die Leidener Universitätsbibliothek die Inspirationsquelle für seine Neuerrichtung war, da Bodley von 1589 bis 1596 in diplomatischem Dienst in den Niederlanden weilte.468 Gewiss wa- ren die Leidener Universität und einige ihrer Mitglieder Thomas Bodley

466 Zur Verbindung von Thomas Bodley und dem Merton College, siehe: H.W. Garrod, „Sir Thomas Bodley and Merton College“, in: BQR, Vol. VI, Nos. 70–71, S. 272–273; zum Grabmal John Woodward, „The Monument to Sir Thomas Bodley in Merton College Chapel“, in: BLR, Volume 5, Number 2, S. 69–73. 467 Martin/Highfield 1997, S. 160. 468 Bachrach 1952.

136 bekannt, doch ob er auch von den nur wenige Jahre vor seiner Abreise stattfindenden Neubaumassnahmen Bescheid wusste, verschweigen uns die Quellen. Sicherlich übte aber die neu eingerichtete Bibliothek des Merton College und deren Erbauer entscheidenden Einfluss aus, denn Bodley schrieb in einem Brief an die Oxforder Universität:

„I doe hold it very requisite, that some few [also ein Gremium] should be deputed […] to consider for the whole, of the fittest kinde of fac- ture of deskes, and other furniture: And when I shall come to Oxford […] I will then aquaint the self same parties, with some notes of a platforme, which I and Mr Savile haue conceaved heere between vs: so that meeting all togeather, we shall soone resolve vpon the best, aswell for shewe, and statly forme, as for capacitie and strength and commoditie of Students.“469

Thomas Bodley beriet sich also mit seinem Freund Henry Savile bezüg- lich des Bibliotheksmobiliars. Dieser stand ihm nicht nur beratend zur Seite, sondern stellte gar Holz für das Mobiliar zur Verfügung.470 Ian Phi- lips nimmt sogar an, dass die Einrichtung des Merton Colleges direkt übernommen wurde und dabei nur auf die Grösse der Duke Humfrey’s Library angepasst wurde (Abb. 2.23). 471 Die Duke Humfrey’s Library ist mit ihren 86 Fuss Länge und 32 Fuss Breite472 äusserst grosszügig bemessen, da die Raumdimensionen bereits durch die Divinity School vorgegeben waren.473 Sie verfügte seit jeher über je zehn Fenster pro Längsseite. Die Fensterbreite und die Zwischen- wandflächen ergaben sich wiederum aus der darunterliegenden Theolo- gieschule, wobei in der Bibliothek jeweils zwei Fenster pro Achse liegen, im Gegensatz zu bloss einem im Erdgeschoss.474 Analog zur Bibliothek des Merton Colleges wurden zwischen den Fenstern zwei mal acht dop- pelseitig bespielbare stalls quer in den Raum gestellt. Die Ausmessungen der stalls, die hier über drei Regalflächen verfügten, fielen aufgrund des Raumangebots grosszügig aus.475 Platzprobleme ergaben sich im Gegen- satz zum Vorbild des Merton Colleges nicht, war der angetroffene Bau doch bereits generös bemessen. Die Stirnseiten des Baus wurden an der westlichen Seite mit zwei einseitigen stalls bestückt. In den stalls wurden später die grossformatigen Bücher angekettet.

469 Wheeler 1927, Brief No. 3 (19. März. 1597), S. 6. 470 Wheeler 1927, Brief No. 3 (19. März. 1597), S. 6. 471 siehe dazu auch: Philip 1983, S. 7–8. 472 Streeter 1931, S. 200. 473 Streeter 1931, S. 204. 474 Streeter 1931, S. 207. 475 Sie besitzen eine Länge von 11ft. 3in, siehe dazu: Streeter 1931, S. 204.

137 Abb. 2.23 Duke Humfrey’s Library mit den durch Bodley ein- gerichteten Stalls, an deren Stirnseiten die sogenann- ten Tables, heutiger Zu- stand.

(Scan aus: Stanley Gillam, The Divinity School and Duke Humfrey’s Library at Oxford, Oxford (Bodleian Library) 1998, unpaginier- te Seite.)

Für die kleinformatigen Bände musste wiederum ein anderer Ort der Verwahrung gefunden werden. Für sie erstellte man zwei kleinere „closets“ – abschliessbare Reduits –, die an der östlichen Stirnseite ein- gerichtet wurden. Auch hier mussten die Leser diese Bestände beim Bi- bliothekar erbitten. Sie lagen somit ganz am Ende des Raums, denn die- ser wurde bis zum Bau des Selden End über eine Treppe am Westende erschlossen.476 Doch bereits nach kurzer Zeit reichte dieser Raum nicht mehr aus, um kleinere oder besonders wertvolle Bände zu beherbergen, weswegen zwischen 1604 und 1608 über der Stirnseite im Westen eine Ga- lerie eingebaut wurde.477

Bücher und Bibliothekar Nach der Möblierung der Bibliothek, die im Juni 1600 abgeschlossen war, musste sie natürlich mit Büchern bestückt werden.478 Thomas Bodley er-

476 Streeter 1931, S. 202. 477 Letters Bodley to James, Brief No. 127 (10. April 1605), S. 134–135, zudem Anmer- kung 1, S. 135. 478 Philip 1983, S. 8.

138 klärte im ersten Brief an seinen zukünftigen Bibliothekar Thomas James (ca. 1573–1629):

„Within this fortnight, I trust, I shall haue ended with my carpenters, ioniers, caruers, glasiers, and all that idle rabble: and then I goe in hand, with making vp my barres, lockes, haspes, grates, cheines, and other gimmoes of iron, belonging to the fastning and riuetting of the bookes: which I thinke I shall haue finished, within two or three mo- nethes.“479

Bodley begann nun „to busy my selfe and my frendes about gathering in Books, of such as will bee benefactours“.480 Tatsächlich konnte Bodley viele Donationen und vor allem Geldspenden einwerben. Seine Freunde halfen ihm zudem, auf dem ganzen Kontinent Bücher für die neue Biblio- thek zu erwerben und nach London zu senden, wo Bodley wohnte und weswegen er nur sehr selten in Oxford anzutreffen war.481 Was ihm zunächst fehlte, war ein kompetenter Bibliothekar, den er in der Person Thomas James’ fand, der sich damals dem Katalogisieren von Manuskripten in Collegebibliotheken in Cambridge und Oxford widmete. Darüber hinaus qualifizierte er sich, da er unverheiratet war, was lange Zeit ein Einstellungskriterium für Bibliothekar der Bodleiana war, denn „Marriage is too full of Domestical Impeachments“, so Bodley.482 Thomas James wurde am 13. April 1602 zum offiziellen Bibliothekar der neuen Bi- bliothek gewählt. Über die weitere Geschichte der Bibliothek sind wir äu- sserst gut informiert, da die Briefe, die der in London weilende Thomas Bodley an Thomas James schrieb, überliefert sind.483 Bodley schickte je- doch nicht nur Briefe nach Oxford, sondern auch jede Menge Bücher, die sein neuer Bibliothekar katalogisieren und einräumen musste.

Printing the Tables: Der erste katalog Thomas Bodley bat bereits 1599 den damals noch in Cambridge weilen- den Thomas James, die dortigen Bibliotheken zu untersuchen hinsicht- lich „their orders, in placing and disposing their librarie bookes: whether they doe it, by the Alphabet, or according to the Faculties“.484 Diese Frage hatte auch bei der Erstellung des ersten Katalogs der Bodleiana nichts an Aktualität eingebüsst. Denn dem Bibliothekar fiel natürlich auch die Auf-

479 Wheeler 1926, Brief No. 1 (24. Dez. 1599), S. 1. 480 Philip 1983, S. 8. 481 Philip 1983, S. 8–10. 482 Bodley 1967, S. 66. 483 Wheeler 1926. 484 Wheeler 1926, Brief No. 1 (24. Dez. 1599), S. 1; Ian Philip, S. 11.

139 gabe zu, einen Katalog zu erstellen, was Bodley in seinen späteren Statu- ten wie folgt beschrieb:

„An other chief Point of the Keeper’s Charge, is to range all his Books, as well of the bigger as lesser fold, according to their Faculties; to as- sign to every Faculty their Catalogues and Tables; and to dispose of every Table the Authors therein named, according to the Alphabet: Where besides the Author’s Name, and the Title of his Work, he must be mindful to express, in what kind of Volume the same was Printed, with a Note of the Place, and Year of that Edition.“485

Dieser Passus aus dem ersten Entwurf Thomas Bodleys für die Statuten der Bibliothek beschreibt wohl eher den 1605 gedruckten als einen noch anzufertigenden Katalog, wurden die Statuten doch erst 1608 skizziert.486 Betrachten wir nämlich den ersten Katalog,487 so finden wir all die er- wähnten Elemente wieder.488 Thomas Bodley schickte bereits gebundene Bücher aus London nach Oxford, wo sie alle, grossformatige wie kleinformatige Bände, durch Thomas James zunächst den einzelnen Fakultäten zugewiesen wurden. Den Fakultäten ihrerseits wurden verschiedene stalls und andere Möbel zugeteilt. Die grossformatigen Werke verteilte der Bibliothekar auf die einzelnen stalls, um sie anschliessend alphabetisch einzuordnen und an- zuketten, wobei den einzelnen Regalbrettern der stalls Buchstaben des Alphabets zugewiesen wurden. Die grundsätzliche Einteilung nach Fa- kultät und Alphabet wird denn auch im ausführlichen Titel des Katalogs erwähnt. Diese Ordnung wurde daraufhin zunächst auf Papier übertra- gen und die so entstandenen Listen an den entsprechenden Pulten ange- schlagen. Bodley und James nannten diese Indizes „tables“. Zudem wollte Thomas Bodley anzeigen, „in what kind of Volume“ das Werk gedruckt war, womit eine Buchnummer gemeint war. Neben dem Autorennamen und Buchtitel wurden auch Publikationsort und –jahr vermerkt. Die Bibliothek wurde am 8. November 1602 offiziell wiedereröffnet. Bodley und James beschlossen kurz darauf, einen Katalog der Bibliothek zu drucken, um ihr einerseits zu mehr Ruhm zu verhelfen und anderer- seits dem Wunsch der Leser nach einem Katalog nachzukommen (Abb. 2.24). Denn diese konnten zwar – wie in Leiden – die Folianten in den

485 Bodley 1967, S. 73. 486 Wheeler 1926, Brief No. 163, S. 172–173, zudem Anmerkung 3. 487 James 1605. 488 Zu diesem Katalog, siehe: Wheeler 1928; G. W. Wheeler, „Preparation of the First Printed Bodleian Catalogue“, in: BQR, Vol. III, No. 27, 1920, S. 46–50; G.W. Wheeler, „Bodleian Catalogues of the Seventeenth Century, in: BQR, Vol. 1, No. 8, 1915, S. 228–232, hier S. 228–229; Philip 1983, S. 12–14.

140 stalls mittels der handschriftlichen Indizes auffinden, die kleinformatigen Abb. 2.24 Titelseite mit Inhaltsangabe Bücher jedoch nicht. In der Forschung wurde diskutiert, ob der Leide- des ersten gedruckten Ka- ner Nomenclator möglicherweise als Vorbild für den jüngeren Oxforder talogs der Bodleian Library sowie eine dazugehörige Katalog diente, was aber aufgrund der fehlenden Quellen und der Unter- Seite. Kreuzverweise sind schiede hinsichtlich ihrer inneren Struktur negiert werden muss.489 mit Asterisken und Absatz- Die Verbindung zwischen räumlicher und katalogischer Disposition zeichen versehen. der Bodleiana war eng. Zur Erstellung des Katalogs druckten Bodley und (Scan aus: Ian Philip, The James schlichtweg die handschriftlichen Listen der stalls. 490 Thomas Bod- Bodleian Library in the se- venteenth and eighteenth ley bezeichnete dieses Vorgehen in einem Brief an Thomas James lapidar centuries, Oxford (Claren- als: „printing the tables“.491 Der Katalog wurde im Quartformat gedruckt, don Press) 1983, Abb. 5 und 6, unpaginiert.) verfügt über eine Seitengrösse von ungefähr 16.5cm auf 8cm und ist so- mit deutlich grösser als der Leidener Nomenclator. Auch dies geschah mit Absicht, wurden die einzelnen Blattseiten durch den Drucker doch auch separat und einseitig gedruckt, um die handschriftlichen Listen der „Tables“ durch die neuen gedruckten zu ersetzen. Wheeler hat aufgezeigt, dass die überlieferten Rahmen, die an den Stirnseiten der stalls hängten,

489 Philip 1983, S. 11. 490 G. W. Wheeler, „Preparation of the First Printed Bodleian Catalogue“, in: BQR, Vol. III, No. 27, 1920, S. 46–50. 491 Wheeler, Letters Bodley to James, Brief No. 65 (15. Jan. 1603), S. 72.

141 genau achtzehn solcher Blätter aufnehmen und damit die Bestände der achtzehn in einem solchen Möbel beinhalteten Regalbretter abhandeln konnten.492 Deswegen durfte auf jeder Seite des Katalogs nur jeweils ein Regal behandelt werden, wodurch weite Teile leer blieben. Der Leidener Nomenclator konnte so nicht genutzt werden, lief die Abhandlung der Pulte doch über mehrere Seiten hinweg. Zudem wurden – zumindest teil- weise – auf einer Seite mehrere Pulte besprochen. Der Oxforder Katalog war somit zweifach in der Bibliothek vorhanden: sowohl als gebundener Kodex wie auch verteilt entlang des Raums.493 Die räumliche Disposition des Wissen und diejenige innerhalb des Katalogs entsprachen sich so- mit. Darüber hinaus definierte die Architektur der Bibliothek den Katalog auch in Bezug auf seine typographische Gestaltung. Die Architektur des botanischen Gartens in Leiden hatte ebenfalls entscheidenden Einfluss auf die Einteilung seines Katalogs und vice versa, wie wir noch sehen wer- den. Architektur und Kataloge wurden also auch andernorts in Einklang miteinander konzipiert. Doch war der Katalog nicht ein blosser Standortkatalog. Denn je- der stall und somit jeder Standort war einer Fakultät zugewiesen. Zudem wurden innerhalb der Regale die Bücher alphabetisch nach Autoren- namen geordnet. Wir können deshalb von einem Standort-, Sach- und Autorenkatalog in einem sprechen. Dies hatte den Vorteil, dass ein Leser auf einfache Art ein gewünschtes Werk auffinden konnte, musste er doch nur das Sachgebiet und den Autorennamen wissen, um mittels einer Buchnummer das gewünschte Werk rasch ausmachen zu können. Die Signaturen sind nach folgendem Prinzip aufgebaut.494 Das Fach- gebiet wird in der Kopfzeile des Katalogs angezeigt. Mittels eines Gross- buchstabens wird auf den Anfangsbuchstaben des Autorennamens ver- wiesen, eine anschliessende Nummer zeigte das Regalbrett an und eine weitere die Buchnummer. Wollte ein Leser beispielsweise Carellus’ Ephe- merides lesen, so fand er es bei den Artistenbüchern im Regal C auf dem sechsten Regalbrett als achtes Buch stehen, die Signatur war entspre- chend C.6.8 . Da den verschiedenen Regalen Buchstaben des Alphabets zugeord- net waren, blieben viele Regale mehrheitlich unbesetzt. Das Regal Y der Theologie beispielsweise verfügte bloss über ein einziges Werk. Bei den kleinformatigen Bänden war die Verknüpfung mit zugewiesenen Regal-

492 Die Regale verfügten vertikal über drei Bretter, die horizontal in drei Abschnitte unterteilt waren. Ein stall umfasste zwei solcher Möbel und besass somit achtzehn Regalbretter; siehe dazu: G. W. Wheeler, „Preparation of the First Printed Bodleian Catalogue“, in: BQR, Vol. III, No. 27, 1920, S. 46–50, S. 46–47 und Fussnote 1. 493 Philip 1983, S. 14. 494 Siehe dazu G.W. Wheeler, „Bodleian Press-Marks in Relation to Classification“, in: BQR, Vol. I, No. 10, 1916, S. 280–292 sowie BQR, Vol. I, No. 11, 1916, S. 311–322.

142 brettern weniger strikt, was zu einer flexibleren und ökonomischeren Einordnung führte, da so die Bestände auf den Regalen je nach Platzbe- darf verschoben werden konnten.495 Die alphabetische Einordnung nach Autorennamen brachte aber für den Bibliothekar ein grösseres Problem mit sich. Denn kamen neue Bücher hinzu, mussten diese ebenfalls nach dem Alphabet und somit meist inmitten der bestehenden Reihen einge- gliedert werden. Die Laufnummer der Bücher war aber bereits bestimmt. In Leiden war die Eingliederung neuer Werke deutlich einfacher zu hand- haben. Denn auch dort haben wir es mit einem gemischten Katalog zu tun, der in erster Linie nach Standorten und Fachgebieten geordnet war und ohne alphabetische Gliederung auskam. Die neuen Bände konnten deshalb einfach am Ende jedes Regals eingeräumt und mit einer neuen Laufnummer versehen werden, was unbeabsichtigt zur Erstellung eines Katalogs nach Erwerbsdatum führte. Thomas James hatte mit weiteren Problemen zu kämpfen. So ent- schied sich Bodley in London oftmals, verschiedene Werke zusammen- zubinden, um Kosten und Ketten zu sparen – die einzelnen Werke sol- cher Sammelbände wurden im Buchschnitt durch einen Farbauftrag erkennbar gemacht.496 Was Bodley dabei aber nicht beachtete, war die alphabetische Folge der Autorennamen. Thomas James musste deswe- gen Kreuzverweise in seinen Katalog einbauen, da einige Werke aufgrund des Zusammenbindens nicht am richtigen Ort zu stehen kamen, so dass sie durch die suchenden Leser auch nicht aufgefunden werden konnten. Die Verweise auf solche Werke kennzeichnete der Bibliothekar mit einem Absatzzeichen, dem entsprechenden Titel sowie der passenden Signatur. Dazu kamen noch die kleinformatigen Werke der behandelten Autoren, die ebenfalls durch Kreuzverweise aufgeführt werden. Diese versah der Bibliothekar mit einem Asterisk, dem Titel, einer Grössenangabe und ih- rer Signatur . Des Weiteren stellte sich die Frage, wie mit Sammelwerken umge- gangen werden sollte, da diese ja durch mehrere Autoren verfasst wur- den. Als die Druckbögen bereitlagen, erkannte Bodley, dass viele Bücher fehlten. Die Autoren der Sammelwerke wie die erst später verzeichneten Werke wurden alle in einem grossen Appendix abgehandelt. Wohl aus all diesen Komplikationen war der zweite Katalog, den Thomas James 1620 drucken liess, gänzlich anders gegliedert. Er war ausschliesslich alphabe- tisch nach Autorennamen geordnet.497

495 G.W. Wheeler, „Bodleian Press-Marks in Relation to Classification“, in: BQR, Vol. I, No. 10, 1916, S. 280–292, hier S. 283–285. 496 Wheeler 1926, Brief No. 143 (Aug. 1605), S. 149–150, hier S. 149 und Fussnote 3. 497 James P.R. Lyell, „King James and the Bodleian Library Catalogue of 1620“, in: BQR, Vol. VII, No. 79, S. 261–283.

143 Zugänglichkeit Wie stand es um die Zugänglichkeit der Bibliothek? Aus den skizzierten Statuten wird ersichtlich, dass der Bibliothekar die einzige Person war, die einen Schlüssel zur Bibliothek erhielt. Er musste sie jeweils aufschliessen und während der Öffnungszeiten anwesend bleiben, wohl um die Leser versorgen und überwachen zu können. Die Bibliothek war prinzipiell täg- lich geöffnet und nur am Sonntag („Sabbath“) sowie an wichtigen Feierta- gen geschlossen. Die Öffnungszeiten richteten sich nach den Jahreszeiten und dem Sonnenstand, durfte doch kein künstliches Licht in Form von Kerzen oder ähnlichem gebraucht werden. So war sie täglich von acht bis elf Uhr morgens geöffnet, im Sommer zudem von zwei bis fünf Uhr nach- mittags, im Winter hingegen von ein bis vier Uhr nachmittags. Während der Nacht durfte sie durch niemanden betreten werden, da dies zwangs- läufig die Gefährdung der Bücher durch Kerzen oder ähnlichem zur Folge hätte. Falls der Bibliothekar die definierten Öffnungszeiten nicht einhalte, würde er mit einem Lohnabzug bestraft werden, so die Statuten.498 Auch der Kreis der Leser wurde genau definiert. Bodley schrieb dazu:

„That no Man shall enjoy the Freedom there of Study, but only Doc- tors and Licentiats of the Three Faculties, Batchelors of Divinity, Masters of Arts, Batchelors of Physicks, and Law, Batchelors of Arts of two Years standing, and all other Batchelors“499

Zu diesem Kreis an Studenten der höheren Klassen kamen die Donato- ren sowie ranghohe Politiker, die Lords of Parliament, sowie deren Söhne. Wollte eine andere Person die Bibliothek nutzen, durfte er dies nur in Be- gleitung einer dazu qualifizierten Person – eine ähnliche Regel also wie sie in der Ordonnance der Leidener Bibliothek definiert wurde. Ausgerech- net der spätere Bibliothekar der Leidener Universität Johann Friedrich Gronovius musste diese restriktiven Regelung befolgen und beschwerte sich 1639 mit den Worten: „where am I to find men willing to waste time to sit with me for three or four hours studying my fingernails?“500 Under- graduates aber erhielten, wie zuvor in College Libraries durchaus üblich, keinen Zugang zur Büchersammlung. Bodley erklärte den Grund für die- se Einschränkung. Denn falls die Bibliothek allen offen stünde, so würden die vielen Besucher bloss „daily pestering all the Room, with their gazing; and babling, and trampling up and down, may disturb out of Measure the

498 Bodley 1967, S. 77–81. 499 Bodley 1967, S. 94. 500 „Ubi reperiam ego homines, qui ita male perdire tempus velint, ut mihi per tres quatuor horas conferenti adsideant, & ungues meos observent.“ Zitiert nach: Philip 1983, S. 36 (Englisch) und S. 121, Anmerkung 53 (Latein).

144 Endeavours of those that are studious.“501 Die Bibliothek sollte also ein ruhiger Ort des Studiums sein. Um dies und anderes zu erreichen, definierte Bodley einen Schwur, den alle Be- sucher der Bibliothek vor ihrem ersten Eintritt in die Bibliothek leisten mussten, was auch heute noch praktiziert wird. Er zielte nicht nur darauf ab, eine ruhige Arbeitsatmosphäre zu gewährleisten, sondern war auch dazu bestimmt, Mobiliar und vor allem die Bücher zu schützen.502 Insbe- sondere war Folgendes nicht gestattet: „[…] embezling, changing, razing, defacing, tearing, cutting, noting, interlining, or by voluntary corrupting, blotting, blurring, or any other manner of mangling or misusing, any one or more of the said Books […]“.503 Just jene Misshandlungen an Büchern also, die in Leiden geschahen und Heinsius und Thysius gezwungen wa- ren, im Katalog zu vermerken. Die Bücher mussten vor Ort gelesen werden und durften unter kei- nen Umständen ausgeliehen werden.504 Doch ausgerechnet Thomas Bod- ley lieh Werke aus – und zwar keinem geringeren als seinem Freund Hen- ry Savile.505 Selbst nach Anfertigung der Statuten liess er davon nicht ab, worauf er seinem Bibliothekar schrieb: „For it can not but seeme absurd & a very mere mockerie, that a carefull prouider for good orders & statutes, should becom [the] first breaker of the chiefest constitutions.“506 Er erklär- te jedoch, dass er grössere Geschenke durch Henry Savile erwarte, was sein Vorgehen rechtfertige und was tatsächlich auch eintraf.

Arts End Die Duke Humfrey’s Library stand somit nur graduierten Studenten offen. Dass Nichtgraduierte keinen freien Zugang zu Bibliotheken fanden, war indes keine Besonderheit. Sie waren zumindest im Mittelalter noch von der Benutzung der Bibliotheken ihrer Colleges ausgeschlossen, da sie in Vorlesungen unterrichtet wurden und währenddessen selber Bücher der zu lernenden Texte anfertigten. Aber ihre Lehrer, darunter auch graduier- te Studenten (bachelors und masters) benötigten natürlich Bücher, wes- wegen sie Schlüssel zu den Büchersammlungen erhielten507 und weswe- gen auch – wie in der Duke Humfrey’s Library – Bücher der Artistenfächer versammelt waren. Bereits 1608 machte sich Thomas James für die Errichtung einer

501 Bodley 1967, S. 94. 502 Bodley 1967, S. 96–98. 503 Bodley 1967, S. 97. 504 Bodley 1967, S. 84–86. 505 Wheeler 1926, Brief No. 43 (Juli 1602), S. 50; Brief No. 174 (20. Okt. 1608), S. 181; Brief No. 196 (16. Jan. 1611), S. 201–202. 506 Wheeler 1926, Brief No. 183 (30. März 1610), S. 187–188, hier S. 188. 507 Martin/Highfield 1997, S. 75.

145 Sammlung „for the younger sort“ stark, wofür Thomas Bodley aber nur wenig übrig hatte. 508 Vermutlich kam dem Bibliothekar diese Idee, da Thomas Bodley nur wenige Monate zuvor beschloss, seine Bibliothek zu erweitern und dafür die Umgebung der Divinity School ausmessen liess.509 Im Mai 1610 war die Planungsphase soweit vorangeschritten, dass der Bau beginnen konnte. Bodley verpflichtete dafür dieselben Handwerker, die kurz zuvor eine südliche Erweiterung des Merton Colleges, den Fellow’s Quad, erstellt hatten.510 Geldgeber für das Neubauprojekt wurden in ei- nem Donatorenbuch verzeichnet.511 Die Grundsteinlegung fand am 19. Juli 1610 statt512 und Henry Savile übernahm die Bauleitung, da Bodley in London weilte. Die Erweiterung wurde im Sommer 1612 nach langen Ver- zögerungen und hohen Mehrkosten fertiggestellt.513 Der Aussenbau war ganz dem Kontext verpflichtet, weswegen er in gotischen Formen ausge- führt wurde. Der Bau stand tatsächlich den Studenten der Artistenfächer offen, weshalb er noch heute Arts End genannt wird.

Stalls im Arts End Nach einer frühen Planzeichnung des Arts End – datiert auf 1610 – soll- te es zunächst mit dem stall system eingerichtet werden (Abb. 2.25).514 Der skizzierte Grundriss zeigt den neuen Baukörper an der nördlichen Stirnseite der Duke Humfrey’s Library und der Divinity School, der mit diesen bestehenden Bauten eine T-Form bildet. An seiner nördlichen Längsseite, dem Durchgang zur Duke Humfrey’s Library entsprechend, ist bereits das später tatsächlich so gebaute zentrale Fenster eingezeichnet. Die beiden Stirnseiten des neuen Flügels wurden jedoch mit jeweils drei schmalen Fensteröffnungen geplant, die der Belichtung klassischer stalls dienen sollten. Diese sollten rechtwinklig zu den Stirnseiten und somit längs im Raum zu stehen kommen. Die Belichtung der Bücher wäre bei dieser Lösung äusserst dürftig ausgefallen, da die Tiefe von zwei stalls und der grosse Abstand der beiden Stirnseiten wohl kaum ausreichend Licht für ein komfortables Lesen in den Raum gebracht hätte. Die stalls quer zur Längsachse aufzustellen, wie in den englischen Bibliotheken üblich, ging ebenfalls nicht, war die eine Seite doch bereits durch die bestehen- de Duke Humfrey’s Library besetzt und konnte deswegen keine Fenster aufnehmen. Die Skizze zeigt, dass die gängige Praxis der Versorgung mit

508 Wheeler 1926, Brief No. 177 (20. Dec. 1608), S. 183 (auch Zitat); Philip 1983, S. 21. 509 Wheeler 1926, Brief No. 171 (23. Aug. 1608), S. 178–179. 510 Wheeler 1926, Brief No. 184 (16. Mai 1610), S. 189–190; Martin/Highfield 1997, S. 192. 511 Wheeler 1926, Brief No. 185 (19. Juni 1610), S. 190–191, hier S. 191. 512 Wheeler 1926, Brief No. 189 (15. Aug. 1610), S. 194–195, zudem Fussnote 1; 513 Philip 1983, S. 21. 514 Aylmer 2002, S. 45–46, Bildlegende S. 45.

146 Abb. 2.25 Frühe Skizze des Arts Ends der Bodleian Library, die zu Beginn noch mit Stalls eingerichtet werden soll- te, 1610.

(Bodleian Library, MS. Wood F.27, f. 41v–42r.)

(Scan aus: Ursula Aylmer (Hg.), Most Noble Bodley! A Bodleian Library An- thology, Oxford (Bodleian Library) 2002, S. 45.)

Literatur durch angekettete Bücher noch immer ein gültiger Wunsch war. Doch verhinderte die Architektur der Erweiterung die Einrichtung mit ty- pischen stalls, weswegen eine andere Lösung gefunden werden musste. Ein weiteres Problem kam hinzu, mit dem alle Pultbibliotheken je- ner Zeit zu kämpfen hatten: die Aufteilung der Bestände in gross- und kleinformatige Bücher. Diese war ein direktes Resultat der Entwicklungs- geschichte von Pultbibliotheken, die noch vor dem Buchdruck entstan- den. Wissenschaftliche Manuskripte waren meist in Kodizes im Folio- format und somit einheitlicher Grösse gebunden und eigneten sich zum Anketten. Doch durch die Möglichkeiten des Buchdrucks und der zuneh- menden Popularität kleinformatiger Kodizes kamen immer mehr klein- formatige Bücher in Bibliotheken, weswegen die Möblierung angepasst werden musste, stellten doch die Bücher die Grundbausteine einer jeden Bibliothek dar.515 Thomas Bodley war kleinformatigen Werken gegenüber zunächst kritisch eingestellt und wollte eher auf die in seinen Augen seriöseren Folianten setzen, weswegen die „Grates“ an der östlichen Stirnseite des Baus, wo die kleineren und besonders wertvollen Bände gelagert wur- den, bescheiden dimensioniert waren und nur sehr kurz genügend Platz boten. Schon bald musste daher eine neue bauliche Lösung gefunden werden. Zunächst hatte Bodley und James die Idee, Kästen unterhalb der Fenster zu platzieren.516 Sie wurde aber bald darauf verworfen und man

515 Campbell 2013, S. 121–127. 516 Wheeler 1926 Brief No. 92 (13. Juni 1604), S. 97–98, hier S. 98; Wheeler 1926, Brief No. 94 (20. Juni 1604), S. 100.

147 beschloss, eine Galerie an der westlichen Stirnseite über dem Eingang zur Bibliothek einzubauen, die vermutlich über offene Regale verfügte517 – auch in Leiden würde später eine solche Galerie eingezogen werden. 1610 wurde die Vereinbarung mit der Stationer’s Company getroffen, wonach die Bodleiana von jedem in England gedruckten Buch ein freies Pflichtex- emplar erhielt, woraufhin immer mehr kleinformatige und englische Werke in die Bibliothek kamen.518 Der Platz auf der Galerie reichte schon bald nicht mehr aus, um die anwachsenden Bestände kleiner Bücher auf- nehmen zu können.519 Für das Arts End musste also eine bauliche Lösung gefunden wer- den, die sowohl die architektonische Hülle wie auch den immer grösser werdende Bestand kleinformatiger Bücher zu berücksichtigen hatte. Im März 1611 teilte Bodley seinem Bibliothekar eine Planänderung mit und ferner, dass Henry Savile ihn dabei beriet und das neue Projekt guthiess: „and aboue many others, Sir Henry Sauiles is to me, as the iudgement of a mason.“520 Henry Savile setzte somit nicht bloss eines der ersten stall system in die Realität um, sondern empfahl Bodley zudem die Errichtung einer der frühesten Wandbibliotheken. Aus einem Brief vom 12. Juli 1611 wird deutlich, dass die Regale entlang der Wände zu liegen kommen soll- ten:

„SIR, Yow doe rightly conceaue my meaning, which is to winne as muche roome, as we may conueniently for stowage of bookes: which was the only reason that moued me, to haue the newe walle raised higher then the old, by two or three foote.“521

Bodley beschloss also, die Raumhöhe des Arts Ends bezüglich der Duke Humfrey’s Library anzuheben, damit dank der resultierenden grösseren Wandfläche mehr Bücher Platz finden konnten, was zwangsläufig auf eine Wandbibliothek hinweist. In einem Brief vom 15. Januar 1612 disku- tierte Bodley die Inneneinrichtung mit seinem Bibliothekar. Dabei sprach er sich gegen das Anbringen von Karten aus, da diese nur Platz benötigen würden, der besser für Bücher genutzt würde. Denn Wandflächen waren in diesem Bibliothekstypus ein rares Gut und mussten in erster Linie mit Regalen oder Fenstern besetzt werden; für Bilder oder ähnliches hatte man nun keinen Platz mehr.

517 Wheeler 1926, Brief No. 127 (10. April 1605), S. 134–135; Wheeler 1926, Brief No. 222 (27. Jan. 1612), S. 222–223, hier S. 223. 518 Philip 1983, S. 21. 519 Wheeler 1926, S. 178, Anmerkung 1. 520 Wheeler 1926, Brief. No. 206 (22. März 1611), S. 210. 521 Wheeler 1926, Brief No. 214 (12. Juli 1611), S. 215.

148 Wenige Tage später erklärte Bodley seine Überlegungen zur Tiefe der einzelnen Regalbretter. Bodley hatte die Idee, Oktav- und Quartformate auf gleich tiefen Regalbrettern zu versorgen, „as a booke in 4to. might co- nueniently be placed behinde a booke in 8o. for the gaining of rowme“.522 Er hatte somit die Idee, Bücher zweireihig in den Regalen zu versorgen, um den Raum optimal ausnutzen zu können.523 Die daraus resultieren- den Probleme der Ordnung waren ihm dabei bewusst, er nahm sie aber für zusätzlichen Raum in Kauf:

„I knowe it were the best course, to sette them alle single vpon their shelues: but yet because in time to come, yow may be againe, as nowe yow are, scanted of roome, it behooueth vs to cast our plot- tes in suche sort, as the vttermost aduantage of roome my be taken, when necessitie shall enforce vs.“524

Diese Idee Bodleys wurde aber nicht umgesetzt – wohl aufgrund der Ant- wort seines Bibliothekars, den er um seine Meinung bat. So gab Bodley am 24. Juli 1612 zu, dass „As touching the height of your shelues aboue the gallerie, there can no body better iudge what is fitte then your self.“525

Das gebaute Arts End Das Arts End wurde im Sommer 1612 fertiggestellt.526 Eine frühe und ex- akte Darstellung des Baus findet man in der Oxonia Illustrata von David Loggan (1634–1692), eine Publikation, die in grossen Kupferstichen die Bauten Oxfords präsentiert.527 Unter der Darstellung des Arts Ends befin- det sich jene des Selden End, einer zusätzlichen Erweiterung, die im Wes- ten zwischen 1634 und 1637 erstellt wurde (Abb. 2.26). Die beiden Erwei- terungsbauten veranschaulichen auch die architektonische Entwicklung der Wandbibliothek, wie noch kurz besprochen wird. Der Betrachter des dargestellten Arts End blickt nach Westen und sieht die eine Hälfte des Raums, während die vordere mittels eines ein- gezeichneten Grundrisses erklärt wird und mehrheitlich der gezeigten entspricht. Die Stirnseiten weisen zwei grosszügige Fensterflächen auf,

522 Wheeler 1926,Brief No. 222 (27. Jan. 1612), S. 222–223, hier S. 222. 523 Nach Wheeler hätte die vorgeschlagene Tiefe von 9 inches dazu aber kaum ausge- reicht, siehe: Wheeler 1926,Brief No. 222 (27. Jan. 1612), S. 222–223, hier Anmerkung 1, S. 223. 524 Wheeler 1926, Brief No. 222 (27. Jan. 1612), S. 222–223. 525 Wheeler 1926, Brief No. 226 (24. Juli 1612), S. 226. 526 Philip 1983, S. 21. 527 David Loggan, Oxonia illustrata, sive Omnium celeberrimae istius universitatis col- legiorum, aularum, bibliothecæ Bodleianæ, scholarum publicarum, Theatri Sheldo- niani; : nec non urbis totius scenographia, Oxoniae (E Theatro Sheldoniano) 1675,

149 Abb. 2.26 die den Raum beleuchten. Mittig gelegen befindet sich der Durchgang in Arts End (1610–1612) und die Duke Humfrey’s Library, deren stalls man erkennt. Er wird durch ein Selden End (1634–1637) der Bodleian Library. Globenpaar flankiert, die typischerweise als zentrales und symbolisches Element diesen Platz einnehmen. Thomas Bodley war indes Globen ge- (David Loggan, Oxonia il- lustrata […], Oxford (E The- genüber äusserst kritisch eingestellt und wollte sie öfters verkaufen, um atro Sheldoniano) 1675.) mit dem Erlös Bücher erwerben zu können, was aber durch die Nachfrage

528 (Fotografie des Autors.) der Studenten vereitelt wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite dieses Durchgangs befindet sich ein Fenster mit ungefähr gleicher Grösse – eine weitere Analogie zur Bibliothek des Merton College, endeten dort die Korridore zwischen den stalls doch ebenfalls in grosszügigen Fenstern. Die grundlegenden Dimensionen und Elemente des Baus wurden bereits in die besprochene frühe Skizze des Baus eingezeichnet. Nur die beiden Stirnseiten mussten an den neuen Innenausbau angepasst werden, wo- bei die kleinformatigen und an die stalls angepassten Fenster aufgegeben wurden und durch ein einzelnes und grosszügig bemessenes Fenster je Seite ersetzt wurde, das formal demjenigen der Längsseite entspricht.

528 Zu den Globen, siehe: Wheeler 1926, Brief No. 6 (12. Juni 1612), S. 6–7; Brief No. 7 (17. Juni 1601), S. 8; Brief No. 144 (13. Aug. 1605), S. 150–151; Brief No. 175 (1. Dez. 1608), S. 181–182; Brief No. 176 (14. Dez. 1608), S. 182 sowie Brief No. 177 (20. Dez. 1608), S. 183.

150 Die Möblierung wurde grundlegend geändert. So sieht der Betrach- ter zur Linken und Rechten des Durchgangs die neuen Bücherregale, die an die Wand gestellt wurden und bis unters Dach reichen. Die oberen Re- gale sind mittels einer Galerie erreichbar. Die Wandregale gehen dabei um die Ecke, sind somit an allen vier Wänden zu finden und fassen den ganzen Raum mit Büchern ein. Zwei elaborierte Wendeltrepen führen auf die beiden Galerien der Westseite. Die Treppen benötigen erstaunlich wenig Raum und entspre- chen somit dem Credo von Thomas Bodley, nach welchem möglichst viel Raum für die Unterbringung der Bücher angestrebt wurde. Wie die östli- chen Galerien erschlossen wurden, ist indes unklar, fehlen dort doch ent- sprechende Wendeltreppen und auf dem Kupferstich Loggans sind keine solchen verzeichnet. Es ist durchaus denkbar, dass nur die Galerien der Westseiten über Treppen verfügten, denn Bodley schrieb: „Astouching the staires to be made in the newe enlargement, if yow shall finde it suf- ficient, to haue onely 2. cases, if the rest of my frindes doe all concurre, I could like it farre better then fower.“529 Die Wendeltreppen der Westseite sind Rekonstruktionen des 19. Jahrhunderts, welche dank einer detail- lierten Beschreibug und Abbildung in Zacharias von Uffenbachs Reise- journal angefertigt werden konnten, der von ihnen entzückt war: „[…] einer artigen Treppe, die zart und wohl gemacht ist, das sie keinen Raum einnimmt[…]“.530 Die beiden Treppen werden durch Holzgitter und ab- schliessbaren Türen gesichert. Denn auf der Galerie lagerten die kleinfor- matigen Bände, die offen und unangekettet auf den Regalen ruhten und nur durch den Bibliothekar oder einen Gehilfen – im Bild auf der linken Galerie stehend – herausgegeben wurden. Gelesen wurden sie wohl auf den Leseflächen der unteren Pulte oder – wie im Bild links gezeigt wird – am Fenster stehend und die tiefe Laibung nutzend. Den einen zentralern Lesetisch besass dieser Raum – im Gegensatz zu anderen Wandbibliothe- ken – nicht. Die in den unteren Regalen verwahrten Werke waren hingegen grossformatige Bände, welche nach wie vor angekettet wurden und durch die Leser frei aufgesucht werden konnten. Zu diesem Zweck wurden zwi- schen den dünnen Holzsäulen, welche die Galerie tragen, Sitzbänke ein- gebaut. Auf ihnen konnte der Leser die Bücher konsultieren, die auf einer Lesefläche unterhalb der Regale aufgeschlagen werden konnten, was im Kupferstich ebenfalls gezeigt wird, wo verschiedene Personen – in den ty- pischen Talaren der Angehörigen der Universität – Werke lesen oder gera- de aus den Regalen ziehen. Zudem werden noch weitere Besucher abge-

529 Wheeler 1926, Brief No. 220 (1. Jan. 1612), S. 219–220. 530 Uffenbach 1754, S. 91–92, zudem Fig. I.

151 bildet, die an ihren Kleidern ersichtlich nicht Angehörige der Universität waren und deswegen zeigen, dass auch universitätsfremde Besucher die Räumlichkeiten besuchen konnten.

Wandregal und architektonische Hülle Die Inneneinrichtung des Arts End verschmilzt noch nicht mit der sie umgebenden Architektur. Denn die Regale sind noch vor die eigentliche Wand gestellt und vermitteln das Bild eines späteren Einbaus. Und tat- sächlich wurde zuerst der Rohbau erstellt und erst danach die Möblie- rung eingebaut, was zu einigen unschönen Stellen und Problemen führ- te. Die geschwungenen Konsolen der Dachträger enden beispielsweise in den Regalen, die an diesen Stellen keine Bücher aufnehmen können. Die- ses Problem war Bodley schon im Sommer 1611 bewusst, denn er schrieb: „The corbels, as I was promised by the carpenters & rM Alderman, should be so contriued, as they should be litle hindrance, to the placing of book- e s .“ 531 Rohbau und Möblierung standen sich hier gewissermassen im Weg und fanden noch nicht zu einer architektonischen Einheit. Vergleichen wir das Arts End mit dem wenige Jahrzehnte später er- stellten Selden End (1634–1637) wird offensichtlich, dass sich der Typus der Wandbibliothek in der Zwischenzeit auch architektonisch konkreti- sierte. Denn hier sind die Regale offensichtlich nicht mehr vor die Wand gestellt, sondern erscheinen, als wären sie in die Wand intergriert. Archi- tektur und Ausstattung verschmelzen zu einer Einheit. Die Bücher fin- den somit nicht in Regalen vor der eigentlichen Architektur ihren Platz, sondern in ihr. Sie bilden zudem die Raumhülle der Bibliothek. Das erste Beispiel, dass über diese räumliche Qualitäten verfügte, war die Ambrosi- ana in Mailand, wo die Regale bereits die raumdefinierende Schicht sind. Hinsichtlich der Nutzung aber entsprach das Selden End noch immer dem Arts End, denn auch hier wurden Folianten in den unteren Regalen angekettet und die kleinformatigen Bände auf einer Galerie platziert.

Umordnung der Bücher und Manuskripte Im neuen Arts End fanden die Folianten der Artistenfächer ihren Platz, war sie doch auch für Studenten dieser Fächer bestimmt. Die dadurch freigewordenen stalls der Duke Humfrey’s Library konnten danach auf die Hauptfakultäten – Theologie, Jurisprudenz und Medizin – verteilt werden. Resultat dieser Neuorganisation des Wissens war, dass es nun einen Flü- gel gab, der dezidiert den nichtgraduierten Studenten gewidmet war und einen zweiten, der die Bücher der weiterführenden Fakultäten bereithielt. Ein kleineres Problem ergab sich durch die Lage des Arts End. Denn der

531 Wheeler 1926, Brief No. 214 (12. Juli 1611), S. 215.

152 Eingang zu beiden Sammlungen geschah noch immer über das Treppen- haus am Westende der Duke Humfrey’s Library, weswegen alle Studenten der ersten Jahre durch sie schreiten mussten, um an ihre Bücher zu ge- langen. Die kleineren Bände wurden ebenfalls transferiert und fanden nun alle auf der Galerie des Arts End Platz. Die freigewordene Galerie nutz- te Thomas James, um die schon lange durch ihn angestrebte und durch Bodley verhinderte Absonderung der Manuskripte von den gedruckten Bücher, die damals Seite an Seite in den stalls standen, zu vollziehen, was aber längerfristig rückgängig gemacht wurde. Denn Brian Twyne (1581– 1644), „the first Keeper of the Archives“, protestierte. 532 Sein Hauptargu- ment war, dass durch diese Neuplatzierung den Studenten der freie Zu- gang zu diesen Werken verwehrt wurde, was Thomas Bodley aber immer wollte, denn die Manuskripte „should be of as free and common use as might be“. 533 Man solle gar die grösseren Oktavformate von der Galerie herunterbringen, so dass die Studenten auch diese einfacher konsultieren könnten und der Unterbibliothekar Entlastung erfahre. Zudem erklärte er, dass der gedruckte Katalog nun nicht mehr funktioniere, da er Abbild ei- nes anderen Zustand war. Desweiteren führte er auch klimatische Bedin- gungen auf und erklärte, die resultierenden Leerstellen in den stalls sei- en unschön anzusehen. Auch würden die Manuskripte, noch immer mit Ketten ohne Funktion versehen, durch den ständigen Transport leichter beschädigt. Weiter wies er darauf hin, dass sich manche Manuskripte mit gedruckten Werken einen Einband teilen. Bei manchen sei es ferner nicht ersichtlich, ob sie gedruckt oder von Hand geschrieben seien.534 Die Möglichkeiten, die der Neubau zur Verfügung stellte, brachte also auch eine veränderte Aufstellung der Bestände mit sich. Doch jede Neuorganisation der Bestände hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lesepraxis. In diesem Fall war die freie Erreichbarkeit der zuvor angeket- teten Manuskripte nicht mehr gegeben, musste sie nun doch beim Biblio- thekar angefragt werden.

Zur Architektur einer Wandbibliothek Die erste Erweiterung der Bodleiana gilt als frühestes Beispiel einer Wand- oder Saalbibliothek in England. Doch wie soll man eine Wandbib- liothek definieren?535 Regale mit darin verwahrten Kodizes, die an Wände gestellt wurden, gab es seit dem beginnenden Mittelalter. Abbildungen

532 Folgendes nach: G.W.W., „“Free Access“ in 1613“, in: BQR, Vol. IV, No. 44, 1924, S. 192–198. 533 G.W.W., „“Free Access“ in 1613“, in: BQR, Vol. IV, No. 44, 1924, S. 192–198, hier S. 196. 534 G.W.W., „“Free Access“ in 1613“, in: BQR, Vol. IV, No. 44, 1924, S. 192–198, hier S. 196. 535 Zur Definitionsfrage, siehe: Campbell 2013, S. 121–127.

153 Abb. 2.27 Stalls und Wandregale, Grundriss der Oxforder Bo- dleiana.

(Scan aus: Burnett Hill- man Streeter, The Chained Library: A Survey of Four Centuries in the Evolution of the English Library, London (Macmillan) 1931, S. 201.)

privater studioli zeigen dieses Prinzip der Möblierung.536 Vermutlich liegt die Wurzel der Wandbibliothek in solchen privaten Büchersammlungen, die ja ihre Bestände nicht anketten mussten und daher schon früh offe- ne Wandregale einsetzen konnten.537 Auch die Bibliothek von Federico da Montefeltro in Urbino besass Wandregale, doch dienten ihre Räumlich- keiten im Erdgeschoss eher dem Verwahren der Bücher als ihrer Konsul- tation.538 Dass öffentliche und grössere Bibliotheken diese Form der Möblie- rung wählten, kam indes erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf. In der Forschungsliteratur wird meist der Escorial (1575–1585) als das erste Bei- spiel einer Wandbibliothek erwähnt. Ein weiterer Bibliotheksbau, der als Initialbau des Typus angesehen wird, ist die Ambrosiana (eröffnet 1609) in Mailand. Und auch Thomas Bodley’s Arts End wird (1610–1612) im- mer wieder als ein Gründungsbau des wall system herangezogen, auch wenn er diese revolutionäre Einrichtung öffentlicher Bibliotheken der al- ten Form der Verwahrung weitgehend anpasste. Sie alle teilten formale Charakteristiken, die zur Definition einer „Wandbibliothek“ ausschlag- gebend sind. Sie sind gross, verfügen alle über offene Regale, die entlang der Wände aufgestellt sind und möglichst ununterbrochen durchlaufen, sodass der Eindruck eines Raumes, der ganz von Büchern besetzt ist, ent- steht, was im Begriff „Wandbibliothek“ zum Ausdruck kommt. Ein grundlegender architektonischer Konflikt entstand in solchen Bibliotheken, mussten die Wandflächen doch nun sowohl über Fenster- wie auch Regalflächen verfügen. Denn vor Erfindung des elektrischen

536 Siehe dazu: Thornton 1997, vor allem S. 68–69; Liebenwein 1977. 537 Campbell 2013, S. 133. 538 Tönnesmann 2013, S. 60–79.

154 Lichts war es stets eine Notwendigkeit von Bibliotheksbauten, über mög- lichst viele Fenster zu verfügen. Konnte beim stall system noch eine innige Verschränkung von Mobiliar und Fenstern erzielt werden, gestaltete sich dies bei Wandbibliotheken deutlich schwieriger. Eine Möglichkeit, um diesem Problem Herr zu werden, war die Ausbildung einer Abfolge aus Regalen und dazwischenliegenden Fenstern, wie sie beispielsweise im Escorial anzutreffen ist. Spätere Bauten bildeten häufig eine Fensterzone aus, die oberhalb der Regalen zu liegen kam, weswegen beide Zonen un- unterbrochen durchlaufen konnten. Ein Beispiel dafür ist die Trinity Col- lege Library in Cambridge (1676–1695) von Christopher Wren. Auch auf das Dekor von Bibliotheken wirkte sich dieser Konflikt aus, denn Bilder beanspruchten ebenfalls Wandfläche. Bodley verzichtete bewusst auf das Anbringen von Karten, wollte er doch keine Wandfläche dafür opfern. Die Bücher wurden in Wandbibliotheken selbst zur bestimmenden Zierde der Räume. Die Gründe zur Entstehung öffentlicher Wandbibliotheken539 sind an der Bodleiana in Oxford ablesbar. So war es in erster Linie das Problem der zunehmenden Anzahl kleinformatigen Bände, die eine neue Form der Möblierung bedingten. Kleinformatige Bücher wurden vor allem aus ökonomischen Gründen gedruckt, waren sie doch günstiger als ihre grossformatigen Pendants. Die sinkenden Preise von Büchern wirkte sich auf die Architektur von Bibliotheken aus. Im Gegensatz zu Manuskripten, die als Einzelstücke rare und wertvolle Güter waren, mussten Bücher nun nicht mehr mittels Ketten gesichert werden, was ebenfalls für offene Re- gale spricht. Neben diesen pragmatischen Aspekten führte wohl auch der Wunsch einer räumlichen Inszenierung des Wissens zur Entstehung der Wandbibliothek. Frühe Enzyklopädien trugen oftmals das Wort Theat- rum im Titel. Mit dem Begriff wurden in der frühen Neuzeit nicht bloss Orte bezeichnet, an denen Dramen aufgeführt wurden, sondern er wurde darüberhinaus verwendet, um das Sammeln, Ordnen und Inszenieren jeglicher Exponate zu bezeichnen.540 Solche papierenen Wissensthea- ter fanden in Sammlungsräumen eine Umsetzung, beispielsweise in der Wandbibliothek. Denn nun stand der Leser inmitten von Bücherregalen, umgeben von den Wissensbeständen, auf die er einen theatralen Blick geniessen konnte. Die Bestände erschlossen sich nicht mehr wie in einer Pultbibliothek sukzessive während des Durchschreitens des Raums, son- dern sofort und in ihrer Gesamtheit. Doch nicht nur die Bücher waren in einer Wandbibliothek zur Schau gestellt, sondern auch die Leser, die sich

539 Campbell 2013, S. 121–137. 540 Zur Theatermetapher, zu „Schauplätzen des Wissens“ und zur Wissensperformanz, siehe die von Helmar Schramm herausgegebene Reihe Theatrum Scientarium.

155 nun nicht mehr zwischen den Pulten den Blicken des Bibliothekar entzie- hen konnte. Die Überwachung des Leser war somit ebenfalls ein Grund zur Entstehung der Wandbibliothek, wie die Bibliothek der Universität Leiden zeigen wird. Diese neue Einrichtungsform ging meist einher mit der Aufgabe des Kettensystems. Durch den Wegfall der Kette kam es zu einer neuen Praxis des Lesens. Der Ort der Verwahrung und der Konsultation der Bü- cher trennte sich. Die meisten Wandbibliotheken verfügten über zentrale Lesetische, auf denen der Benutzer Werke aus verschiedenen Regalen nach seinem Wunsch nebeneinander stellen und lesen konnte. Der Le- setisch ist denn auch ein wesenhaftes Element einer Wandbibliothek. Musste beispielsweise ein Werk der Theologie mit einem der Jurispru- denz verglichen werden, war der Leser nicht mehr wie in einer Ketten- bibliothek gezwungen, Exzerpte anzufertigen und seinen Standort zu wechseln, sondern konnte zeitgleich und an nur einem Arbeitsplatz die Werke studieren. Komparatives Lesen wurde erst dank dem Verzicht des Ankettens von Büchern möglich.

Zur Lesepraxis im Arts End Die Bücher wurden im Arts End in offenen Regalen entlang der Wände verwahrt, weswegen sie wohl zu recht als frühneuzeitliche Wandbib- liothek bezeichnet wird. Doch entsprach sie hinsichtlich ihrer Nutzung noch immer mittelalterlichen Bibliotheken. Bodley und Savile über- führten die mittelalterliche Praxis des Lesens in den neuen Typus der Wandbibliothek. Der Bestand blieb nämlich – wie in der Duke Humfrey’s Library – zweigeteilt, wobei die kleinformatigen Bände nachgefragt wer- den mussten, die grossformatigen Pendants dank ihrer Kette zur freien Benutzung bereitlagen, aber vor Ort konsultiert werden mussten. Ein pa- ralleles Lesen verschiedener Werke war deshalb im Arts End nicht mög- lich, weswegen sie auch nicht über einen zentralen Lesetisch verfügte. Die beiden Stirnseiten des Arts End können gar als überdimensionierte stalls verstanden werden, verfügten sie doch über alle Elemente, die die- ses System auszeichnen: zwei mit Lese- und Sitzflächen versehene Regale mit angeketteten Büchern und zwischenliegendem Fenster. Zudem können diese Beobachtungen eine Antwort darauf geben, ob Henry Savile oder Thomas Bodley eine europäische Wandbibliothek zum Vorbild hatten, oder nicht – auch wenn diese Frage nicht abschliessend beantwortet werden kann. Vermutlich war dies nicht der Fall. Wandregale als Möbel der Buchverwahrung waren den beiden bekannt und kamen in den „Grates“ und vermutlich auch auf der Galerie der Duke Humfrey’s

156 Library zum Einsatz.541 Ferner kannten beide bereits die Möglichkeit ei- ner vertikalen Bestandstrennung mittels einer Galerie. Die beiden Bib- liotheksbauer mussten ihren Blick somit nicht auf den Kontinent lenken, um die Lösung des Arts End erarbeiten zu können.

Weitere Räume des Wissens Kurz vor seinem Tod initiierte Bodley ein weiteres Bauwerk, nämlich den School Quadrangle, dessen Rohbau zwischen 1613 und 1619 unter der Leitung Henry Saviles errichtet wurde.542 Die dreiflügelige Anlage wurde an das Arts End angebaut und verfügt über drei Stockwerke. Die ersten beiden Etagen beherbergten zunächst Vorlesungsräume der verschiede- nen Fakultäten, das dritte hingegen war als zukünftiges Büchermagazin vorgesehen und mit einer Bilderfolge verziert, die – wie die Bücher der Bibliothek – eine Wissensystematik zum Thema hatte.543 Die einzelnen Fächer des Wissens fanden im School Quadrangle eine räumliche Umsetzung, denn dort wurden Vorlesungsräume für Geo- metrie, Arithemtik, Sprachen, Metaphysik, Logik, Astronomie, Rhetorik, Jurisprudenz, Musik, Naturphilosophie, Grammatik, Geschichte, Ethik und Medizin eingerichtet. 1624 wurde zudem ein anatomisches Theater eingeweiht. Das Theater musste dabei aber die vorgegebene und für diese Bauaufgabe wohl kaum ausreichende Raumhöhe berücksichtigen. Schon bald fanden darin Naturalien – teilweise aus der Bodleiana stammend544 – ihren Platz und machten aus der Anatomieschule das erste naturhisto- rische Museum der Oxforder Universität, das aber laut Ole Borch (1626– 1690) gegenüber der Leidener Sammlung deutlich abfiel.545 Die Univer- sität verfügte zudem ab 1621 über einen botanischen Garten mit typisch vierteiligem Grundriss.546 Empirische Forschung hielt also auch in Oxford Einzug. Dass die empirische Forschung bereits bei der Eröffnung der Duke

541 Die dortige Galerie war bloss 4 ft. 5 in. tief, was eine andere Möblierung kaum zu- liess, siehe: Wheeler 1926, Brief No. 222 (27. Jan. 1612), S. 222–223, vor allem Anmer- kung 3, S. 223. 542 Siehe dazu: Philip 1983, S. 23–25; Martin/Highfield 1997, S. 163; Sherwood/Pevsner 1974, S. 260–262. 543 Zum Fries, siehe: J.N.L. Myres, „The Painted Frieze in the Picture Gallery“, in: BLR, Volume 3, Number 30, October 1950, S. 82–91; J.N.L. Myres und E. Clive Rouse, „Further Notes on the Painted Frieze and Other Discoveries in the Upper Reading Room and the Tower Room“, in: BLR, Volume 5, Number 6, October 1956, S. 290–308; J.N.L. Myres, „Thomas James and the Painted Frieze“, in: BLR, Volume 4, Number 1, April 1952, S. 30–51; und abschliessend: M.R.A. Bullard, „Talking Heads: The Bodlei- an Frieze, Its Inspiration, Sources, Designer and Significance“, in: BLR, Volume XIV (1991–1994), S. 461–500. 544 Gunther 1925, S. 248–251. 545 Gunther 1925, S. 242–279. 546 Sherwood/Pevsner 1974, S. 267–268.

157 Humfrey’s Library bekannt war, wird aus einem Briefwechsel zwischen Thomas Bodley und Francis Bacon ersichtlich. Dieser schickte ihm näm- lich 1605 eine Kopie seines Advancement of Learning, in dem die empiri- sche Forschung propagiert wird. In einem Begleitbrief schrieb er schmei- chelnd, Bodley habe „built an ark to save learning from deluge“.547 Bodley antwortete in einem späteren Schreiben: „I am one of that crew that saye there is and we possesse a farr greater holdfast of Certainteie in your Scien- ces, then you by your discourse will seeme to acknowledge“ und ferner: „I my selfe like a Caryors horse cannot bawke the beaten way in which I have bene trayned.“548 Die beiden vorhandenen Wissensparadigmen der Zeit – überliefertes Wissen und empirische Erkenntnis – prallten hier ex- plizit aufeinander. Durch den Briefwechsel wird offensichtlich, dass beide Methoden bereits als eigenständige Wege wissenschaftlichen Arbeitens wahrgenommen wurden. Sie erhielten auch in Oxford eigene Räume.

Eine Wandbibliothek für Leiden

Wandbibliotheken traten ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert einen Sie- geszug durch ganz Europa an. Schon bald darauf war das Kettensystem des Mittelalters überholt. Gabriel Naudé erklärte bereits 1627 die Pultbi- bliothek als veraltet und schrieb in seinem Advis pour dresser une biblio- thèque: „les livres ne se mettent plus sur des pulpitres à la mode ancienne, mais sur des tablettes qui cachent toutes les murailles“.549 Wie besprochen wurde, hatte auch in Leiden die alte Bibliothek ausgediehnt. Auch sie wur- de zur Wandbibliothek umgestaltet. Neben Aspekten der einheitlichen Buchverwahrung, der Möglichkeit des komparativen Lesens oder der theatralen Inszenierung des Wissens war es aber vor allem der Wunsch der Überwachung, der in Leiden zu dieser baulichen Lösung führte.

Die Bibliothek vor ihrem Umbau In Leiden erbte Antonius Thysius d.J. (1603–1665)550 von seinem Vorgän- ger Daniel Heinsius eine Bibliothek, die in chaotischem Zustand war. Ihr Raum war vollgestellt mit Pulten, die teilweise mit zusätzlichen Regalen versehen wurden, teilweise aber auch nicht. Sie wies somit kein einheit- liches stall system aus, sondern besass verschiedenartige Möbelstücke, weswegen sie auch ästhetisch nicht mehr überzeugen konnte. Die Ord- nung der Bücher ergab sich aus dem Einkaufsprozess und war voller Feh-

547 Philip 1983, S. 3. 548 Beide Zitate nach: Philip 1983, S. 3 549 Naudé 1644, S. 147–148. 550 Zur Biographie, NNBW, Deel 5, Sp. 924–925.

158 ler. Viele Werke wurden vermisst, selbst der Bibliothekar hatte Schwie- rigkeiten, bestimmte Werke überhaupt aufzufinden. Andere waren beschädigt, wie aus seinem Arbeitskatalog hervorgeht.551 Die Architektur der Bibliothek – Resultat zahlreicher pragmatischer Umbaumassnahmen ohne Gesamtkonzept – verhinderte somit eine gute Nutzbarkeit ihres Be- stands. Und mehr noch: Da der Raum mit hohen Pulten vollgestellt war, konnten die Leser kaum überwacht werden. Die zahlreichen gestohlenen oder misshandelten Bücher waren das Resultat. Thysius machte sich deswegen als eine seiner ersten Amtshand- lungen für eine Neumöblierung der Bibliothek stark. Wie oftmals in der Geschichte der wissenschaftlichen Räume der Universität folgte auch hier ein baulicher Impuls durch die Neubesetzung der Präfektur. Thysius setzte dabei auf die nun auch in öffentlichen Bibliotheken angewandten Wandregale, wie sie im Arts End und Selden End zum Einsatz kamen, um seine Bibliothek neu zu möblieren.

Neueinrichtung der Leidener Bibliothek Im November 1653 wurden dem Kuratorium die Pläne zum Umbau der Bibliothek präsentiert, die sie zur Realisierung empfahlen. In den überlie- ferten Dokumenten – die erwähnten Zeichnungen fehlen – werden neben den baulichen Massnahmen vor allem Aspekte zur Sicherheit erläutert. Die neuen Regale sollen „rontsom plaetse van de bibliotheque“552 gestellt, die Bibliothek somit als Wandbibliothek eingerichtet werden. Als Beson- derheit aber sollen sie „met een heck affgeschut“553 werden. Zwischen den Leser und Bücher wurde also eine Balustrade eingebaut, womit eine Zone für den Leser und eine Zone für den Bibliothekar und seinen Kusto- den räumlich abgeschieden wurden. Die Bücher waren aufgrund dieser Balustrade vom Leser getrennt. In der Mitte des Raums wurde ein zent- raler Lesetisch eingerichtet, „in sulcker vougen, dat de selve boucken het wechdragen ende schenden niet lichtelyck meer onderwurpen souden si- jn“.554 Die Lesenden waren somit im ständigen Blickfeld des Bibliothekar und konnten Bücher weder stehlen noch beschädigen. Aus Sicht des Bib- liothekars und seines Kustoden waren es die Leser und nicht die Bücher, die eingezäunt wurden. Die alten Pulte wurden somit aus der Bibliothek entfernt und durch neue Regale ersetzt. Die Architektur der alten Beginenkirche forderte aber weiterhin ihren Tribut. Die Regale wurden nachträglich in einen vorhandenen Raum gestellt, verschmolzen also mit dem umgebenden

551 BAR.C4. 552 Bronnen III, (8. Nov. 1653), S. 79. 553 Bronnen III, (8. Nov. 1653), S. 79. 554 Bronnen III, (8. Nov. 1653), S. 79.

159 Bau nicht zu einer Einheit – wie beispielsweise im Selden End –, sondern blieben als vor die Wand gestellte Möbel ersichtlich – wie im Arts End. Zudem konnten sie aufgrund der vorhandenen Öffnungen nicht durch- gängig den Raum umspielen, sondern fanden nur zwischen den Fenstern Platz. Nun kam es auch in Leiden hinsichtlich der Aufhängung von Bil- dern zu einem Konflikt mit der bespielbaren Wandfläche. Die Bilder und Portraits mussten durch die Umstellung der Möblierung ebenfalls neu platziert werden, waren die Wandflächen nun doch anderweitig besetzt. Sie wurden über die Regale gehängt, wo die Streben der Dachbalken an die Wand stiessen und die Unterbringung von Wandregalen nicht erlaub- ten. Die Gelehrten, die dank der Bücher eine Stimme erhielten, zeigten somit auch nach dem Umbau ihr Antlitz den Lesern. Die Globen fanden nun wohl in der Mittelzone ihren Platz, denn auch sie gehörten noch im- mer zur Standardausrüstung der Bibliothek und wurden nun von den Büchern, deren Inhalt sie gewissermassen repräsentieren, umgeben. Das Büro des Bibliothekars wurde scheinbar aufgegeben. Zumindest taucht es nicht mehr in den Akten oder in den Katalogen auf. Vermutlich musste der Bibliothekar nicht mehr darüber verfügen können, da er ja dank der Schranke sowieso einen Ort besass, der nur ihm zugänglich war. Leider hat sich kein Bild dieses Zustands der Bibliothek erhalten, die Abbildung von 1712 vermittelt dennoch ein recht gutes Bild, blieben die Regale ent- lang der Wände doch auch nach dem Einbau eines Zentralen Regals 1691 erhalten. Zudem konnte aufgrund der schriftlichen Quellen wiederum eine Rekonstruktionszeichnung erstellt werden (Abb. 2.28).

Bestückung der Regale Die Umbauarbeiten müssen innerhalb weniger Monate von statten ge- gangen sein. Am 9. Februar 1654 konnte das Kuratorium die Bibliothek mit ihren neuen Regalen bereits besuchen. Der Zimmermann Aryes van Myssenbrouck sowie der fabryck (vermutlich Arent van s-Gravesande, da dieser zu jener Zeit Stadtbaumeister Leidens war555) stellten je eine Rech- nung aus556 und Thysius bezahlte eine weitere Handwerkerrechnung.557 Der Bibliothekar wurde damit beauftragt, die Bücher in die neuen Regale zu ordnen.558 Das Kuratorium beauftragte Thysius nach Inspektion der neuen Einrichtung,559 sie aus den geschlossenen Schränken heraus- zunehmen, sie zu prüfen, um sie danach „mede in ordre neffens d’andere

555 Zu seiner Biographie und Werk, siehe: Kuyper 1980, S. 89–96; NNBW, Deel 1, Sp. 972. 556 Zimmermann: AC1.25, f. 21v (vermutlich 8. Juni 1654); Fabryck: AC1.25, f. 35r–v (vermutlich 9. Nov. 1654). 557 AC1.25, f. 50r (24. Febr. 1655). 558 Bronnen III, S. 87 (9. Febr. 1654). 559 Molhuysen verstand unter „ordre“ fäschlicherweise das neue Reglement, siehe Bronnen III, S. 87, Anmerkung 1.

160 Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der KellerZwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

te stellen in de opene kassen“.560 Die gedruckten Bücher der Bibliothek Abb. 2.28 Rekonstruktionszeichnung Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage fanden somit erstmals eine Aufstellung im selben Möbelstück. Die vorhe- der Leidener Wandbiblio- rige Aufteilung des Buchbestands aufgrund der verschiedenen Format- thek. In der Mitte die Zone der Leser, rundherum und grössen war nun nicht mehr notwendig, konnten die neuen Wandregale durch eine Balustrade ge- doch alle Bücher in sich aufnehmen. trennt die Zone des Biblio- Das Kuratorium verlangte jedoch ausdrücklich, dass die Manuskrip- thekar. Die Regale wurden entlang der Wände aufge- te zwar geprüft, aber auch in Zukunft in ihren abschliessbaren Spezial- stellt. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU schränken verschlossen werdenWANDBIBLIOTHEK sollten,561 weswegen beispielsweise 1654 die ZENTRALREGAL (Planzeichnung des Autors Arca Scaligerana weiterhin in Englischeder Bibliothek bestaunt Kirche werden abkonnte. 1644 In nach den Zeichnungen und der Abbildung von 1712 sind diese Schränke an der West- und Eingangs- Angaben in: Witkam DZ; Gogelein 1973.)

560 Bronnen III, S. 87 (9. Febr. 1654). 561 Bronnen III, S. 87 (9. Febr. 1654).

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Keller

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644 seite dargestellt. Es darf angenommen werden, dass sie bereits 1654 und somit schon vor dem Umbau dort standen. Durch die Aufgabe des Büros des Bibliothekar konnten beide Wandflächen an der Westseite zur Aufstel- lung der Schränke genutzt werden, die nicht zwingend eine Absonderung mittels der Balustrade bedurften, da sie ja zugesperrt werden konnten. Der Raum im Osten der Bibliothek diente wohl als neuer Arbeitsbereich des Bibliothekar und war durch eine Balustrade abgetrennt. Auch die Neuordnung der Bücher ging rasch über die Bühne. Der Kustode erhielt dafür in der zweiten Hälfte des Jahres 1654 eine zusätz- liche Vergütung über 25 Gulden für das Einsortieren der Bücher.562 Wie gingen Thysius und sein Helfer dabei vor? Die alten Signaturen auf den Buchrücken hatten, da sie ja abhängig von ihrem Standort und Mobili- ar waren, ausgedient. Zur Erstellung der neuen Signaturen verwendete Thysius denselben Katalog, in welchem er zusammen mit Heinsius den Buchbestand aktualisierte.563 Den Bänden wurden durchgehende Lauf- nummern zugewiesen, die im Katalog handschriftlich eingetragen wur- den.564 Der Bibliothekar und sein Kustode gingen dabei äusserst pragma- tisch vor. Zuerst schritten sie einfach die Pulte der alten Bibliothek ab und gaben jedem Werk eine fortlaufende Nummer in der Reihenfolge, wie sie auf den Pulten lagen. Die Pulte eines jeden Fachs wurden zusammenge- fasst und bildeten eine Zahlenreihe. Mit dem Wechsel von einem Wis- sensgebiet auf ein anderes wurde erneut mit der Nummer 1 begonnen. Die Folianten eines jeden Wissensgebiet wurden somit durchgehend nummeriert und als Einheit verzeichnet. Daraus resultierte, dass die neuen Signaturen nicht mehr auf den Standort oder die Möblierung der Bibliothek Rücksicht nahmen, aber dennoch ihrer früheren räumlichen Verteilung entsprechend in die neu- en Wandregale überführt wurden. Die Werke des Pult A standen somit auch nach dem Umbau vor denjenigen des Pults B. In der Theologie wur- de die Abfolge von der Bibel über die Kirchenväter hin zu Kommentaren und weiteren theologischen Werken übernommen. Durch die Übernah- me der alten räumlichen Ordnung in die neuen Regale waren die Bücher auch nach ihrer Neuaufstellung noch immer nach ihrem Erwerbsdatum geordnet, war dies doch das einzige Kriterium zur Aufstellung innerhalb der Pulte. Die kleinformatigen Bände wurden analog mit Laufnummern verse- hen. Thysius übernahm auch hier die Ordnung, die er in den Schränken

562 „[…] affnemen ende herstellen van alle de boucken der voors. Bibliothecque sedert de veranderinghe vande ordre […]“, AC1.25, f. 29v–30r (zwischen 17. Aug. und 9. Nov. 1654). 563 BAR.C4. 564 Hulshoff Pol 1975, S. 433.

162 vorfand. Erst aus diesem Katalog wird ersichtlich, dass sie bereits in den alten Schränken nicht nur nach ihren Fachgebieten, sondern auch nach ihren Grössen verteilt eingeordnet waren. Die abschliessbaren Schränke besassen von Beginn an unterschiedlich hohe Regale, wie die Abrechnung des Schreiners von 1595 zeigt.565 Zudem sieht man, dass auch Folianten in diesen Schränken verwahrt wurden.566 Thysius erstellte für jedes Fachge- biet und danach für jede Grösse – falls vorhanden für Folio, immer für Quart- und Oktavformate – eine neue durchgehende Nummerierung.567

Die Ordnung der Bücher in den neuen Wandregalen Daraus wird ersichtlich, wie die Bücher in den neuen Regalen verwahrt wurden, nämlich nach ihren Fakultäten verteilt und nach ihren Grössen geordnet. Vermutlich wurden verschiedene Büchergestelle den einzelnen Fachgebieten zugewiesen, die Regalbretter in unterschiedlichen und den Formaten entsprechenden Höhen eingesetzt und darauf die entsprechen- den Bücher mit durchgehenden Laufnummern eingeordnet. Ein Regal verfügte somit über Werke der Theologie, wobei wohl auf den untersten Borden die Folianten standen und darüber die Quart- und Oktavformate gelagert wurden, was dem usus der Zeit entsprach. Denn meist folgten die Regale von Wandbibliotheken diesem Schema, bei dem die grösseren und schwereren Werke möglichst nahe am Boden verwahrt wurden, die leichteren Kleinformate jedoch in der Höhe, wo sie dank ihres geringen Gewichts auch von einer Leiter aus einfach aus dem Regal gezogen wer- den konnten. Doch Feustking erklärt in seiner Publikation Neu-eröffne- te Bibliothec von 1702, diese Aufstellung schütze auch die besonders vor Diebstahl gefährdeten kleinformatigen Bücher, da diese in den oberen Regalen nur schwer durch diebische Hände erreichbar seien.568 Da die Bücher nun nicht mehr kopfüber gelagert wurden, orientier- ten sich die neuen Signaturen an den Texten der Bücher. Doch nicht in allen Fällen wurden die Bücher der Schrift entsprechend in die Regale gestellt. Beispielsweise die 1490er Ausgabe von Ptolemaeus’ Geographia, die zwar die neue Laufnummer 174 erhielt, diese aber weiterhin kopfüber trug. Vermutlich nutzte Thysius hier und anderswo bereits vorhandene Titelangaben und ersetzte nur die alte Nummer, weswegen die verdrehte Orientierung erhalten blieb. Thysius nutze den Umbau also nicht, um die Bücher neu im Raum zu ordnen. Verschiedene Gründe dafür können ausgemacht werden. Es

565 Witkam, DZ I, Nr. 209 (24. Mai 1595), S. 154–157, hier S. 155. 566 Beispielsweise Felix Platters De corporis humani structura et usu libri III von 1583, das ungefähr 30cm hoch ist. 567 BAR.C4. 568 Schusky 1979, S. 130.

163 waren wohl vorab pragmatische, die zu einem solch einfachen Vorgehen führten. So konnte der alte Katalog, mit den neuen Laufnummern verse- hen, nach wie vor genutzt werden. Zudem geschah die Umräumung und Inventarisierung rasch und unkompliziert, was in einer kurzen Bauzeit und Schliessung der Bibliothek resultierte. Durch die Befreiung der Bücher von ihren Ketten waren sie nicht mehr an ihrem Standort fixiert. Auch die neuen Signaturen in Form einfa- cher Laufnummern verwiesen nicht mehr an einen Standort. Die Bücher besassen somit nicht mehr einen fest zugewiesenen Platz, weswegen sie auf den Regalen gerückt werden konnten. Falls ein Fachgebiet über seine Regalfläche hinauswuchs, konnte deshalb leichter ein Teil auf ein ande- res Regal ausgelagert werden, ohne zu einer Unordnung oder zu einem Widerspruch mit der Systematik zu führen.569 Der Vorteil dieser gewon- nenen Flexibilität wurde durch die Laufnummer aber gewissermassen wieder negiert, konnten die Bücher doch nur en bloc verschoben werden. Noch immer konnten diese definierten Reihen nämlich keine Bände zwi- schen ihre Reihen lassen, ohne der Stringenz der Laufnummern entge- genzuwirken. Die räumliche Ordnung der Bücher musste zudem nicht mehr of- fensichtlich und von jedermann durchschaubar sein. War eine klare und nachvollziehbare Anordnung der Bücher in einer Kettenbibliothek doch dem Umstand geschuldet, dass die Leser freien Zugang zu den Werken hatten, sie also auch ohne die Hilfe eines Bibliothekars auffinden können sollten, so änderte sich dies grundlegend mit der Umgestaltung zu einer nicht mehr frei zugänglichen Wandbibliothek. Nun reichte es völlig aus, wenn der Bibliothekar oder der Kustode das gewünschte Werk ausfindig machen konnte, was mithilfe der einfachen Laufnummern gegeben war. Durch die Umgestaltung der Bibliothek wurde zusätzlicher Stau- raum gewonnen. Das Kuratorium erkannte nach dem Umbau, dass „noch ettelicke goede boucken ontbreken, daer toe noch bequame plaetse open is“ und dass deshalb neue Bücher angeschafft werden sollten. Thysius wurde dank dem Umbau wieder ein jährliches Etat über 300 Gulden zum Kauf von Büchern zugesprochen.570 Die nun nicht mehr benötigten Ket- ten wurden verkauft und der Erlös dafür verwendet, um Bücher aus dem Nachlass von Hieronymus de Backer für 250 Gulden zu kaufen.571 Der Ket- tenverkauf brachte aber gut 30 Gulden weniger ein, weswegen das Kura- torium für die Differenz aufkam.572 Als eine seiner ersten Amtshandlun- gen wollte Thysius analog zur Bibliothek in Utrecht und der Bodleiana ein

569 Milkau, Band 3, S. 363. 570 Bronnen III, (5. März 1654), S. 89–90. 571 AC1.25, (8. Juni 1654), f. 22r. 572 AC1.25, (zwischen 17. Aug. und 9. Nov. 1654), f. 31r–31v.

164 Belegexemplar eines jeden gedruckten Werks der Republik kostenlos und eingebunden für die Leidener Bibliothek erhalten;573 zuvor waren nur die Buchdrucker der Universität zur Abgabe von Belegexemplaren verpflich- tet.

Das Reglement der Wandbibliothek Aufgrund ihrer neuen Einrichtung musste die Bibliothek ein neues Regle- ment betreffend ihrer Benutzung erhalten, was schon in der Planungs- phase beachtet wurde.574 Die Zone des Bibliothekars und Kustoden, wel- che durch das Geländer von derjenigen des Lesers getrennt wurde, durfte nicht betreten und das Geländer nicht übersprungen werden. Das Wissen, welches in Wandbibliotheken inszeniert wurde, war somit in der Leide- ner Bibliothek für den Besucher zunächst nur visuell verfügbar, nicht aber physisch, war er doch mittels einer Schranke davon getrennt. Er musste, wie das Reglement erklärt, das gewünschte Buch unter Nennung seines Namens beim Kustoden anfragen, der das gewünschte Exemplar aus dem Regal nahm und über die Schranke reichte, worauf der Leser es auf dem zentralen Lesetisch – und durch den Kustoden überwacht – studieren konnte. Ein weiterer Punkt der neuen Ordnung wollte die unerfreulichen Erfahrungen von zerrissenen oder gestohlenen Büchern für alle Zeit ver- hindern, denn er besagt, die Bücher dürfen weder zerrissen, befleckt oder gestohlen werden. Wer dem zuwider handle, müsse eine hohe Geldstrafe zahlen. Und natürlich sei in der Bibliothek Ruhe zu wahren. Die Bibliothek übernahm die gewohnten Öffnungszeiten und stand mittwochs und samstags offen. Ausserhalb der Öffnungszeiten und mit Einverständnis des Bibliothekars sowie in Anwesenheit des Kustoden konnte die Bibliothek ebenfalls aufgesucht werden, dem Kustoden muss- te dann aber ein Trinkgeld bezahlt werden.575 Das Reglement wurde im November 1654 gedruckt und dem akademischen Senat übergeben.576 Thysius rief zudem alle Bücher zurück, die von Professoren ausgeliehen worden sind.577

Die neuen Aufgaben des Kustoden Auch die Anforderungen an den Kustoden änderten sich durch die Neu- möblierung grundlegend, mussten nun doch nicht mehr nur die Bücher gereinigt und die Leser überwacht werden, sondern die Bände auch aus

573 Bronnen III, S. 78 (8. Nov. 1653), zudem: Bronnen III, Bijl. no. 686, S. 26* (8. Nov. 1653). 574 Bronnen III, (8. Nov. 1653), S. 79. 575 Zum Reglement siehe: Bronnen III, S. 87 (9. Febr. 1654); Bronnen III, S. 95 (9. Nov. 1654); und vor allem: Bronnen III, S. 34*–35*, Bijl. no. 695 (Febr. 1655). 576 Bronnen III, S. 95 (9. Nov. 1654); AC1.25, f. 21v (undatiert). 577 Bronnen III, (8. Aug. 1656), S. 116.

165 den Regalen herausgenommen und später ordentlich versorgt werden. Diese Aufgabe war zuvor in keinem Reglement definiert worden, weswe- gen angenommen werden kann, dass der Kustode keinen Zugriff auf die Bestände der geschlossenen Schränke hatte, diese Aufgabe also dem Bi- bliothekar zufiel. Walter de Haes bewarb sich für die Neubesetzung der Stelle des Kustoden und erklärte, er bringe alle Fähigkeiten mit, die in der neuen Bibliothek gefordert wären. So verfüge er – der als Buchhändler bestens mit Literatur vertraut war – über das notwendige Wissen, um die Bücher aller Fakultäten unterscheiden und um dieselben, falls in Unordnung gebracht, wieder ordentlich verräumen zu können. Denn die Bücher waren ja nun von der Kette gelassen, ihre Ordnung daher nicht mehr fi- xiert. Zudem könne er viele Sprachen, was wichtig sei, um fremdländi- sche Studenten über die Bibliothek und die darin befindlichen Bücher informieren zu können. Denn nun mussten die Studenten ja die Bücher beim Bibliothekar oder ihrem Kustoden mündlich erbitten und konnten sie nicht mehr frei konsultieren. Als weiteren Beweis für seine Fähigkeiten gab er dem Kuratorium zudem ein Büchlein mit verzeichneten „defec- ten“ in Büchern der Bibliothek, die er vermutlich während der Umräu- mung der Bücher erstellte. Aus all diesen Gründen wurde er „tot Custos off bewaerder ende opsiender“ der Bibliothek eingestellt.578 Er erhielt da- für 150 Gulden pro Jahr, „om daer voor de boucken inde voors. Bibliothe- que te reynigen ende voor misbruycken ende schenden te bewaren“, was ein grosszügiges Honorar war, erhielt der Bibliothekar doch bloss 50 Gul- den mehr zu seinem Professorengehalt. Der neue Kustode musste aber nicht bloss am Mittwoch und Samstag, wenn die Bibliothek geöffnet war, anwesend sein, sondern – dem Reglement entsprechend – auch an den anderen Tagen erreichbar sein, um gegen ein Trinkgeld auch ausserhalb der Öffnungszeiten besondere Gäste hereinzulassen.579 Opfer der Umgestaltung der Bibliothek wurde der langjährige Biblio- theksdiener Pieter de Vogel, der nach knapp zwei verdienstvollen Deka- den in derselben Sitzung entlassen wurde.580 Selbst seine Bitte, als zweite Hilfskraft eine Anstellung zu finden, wurde abgeschlagen.581 Aufgrund der Neuorganisation der Bibliothek wurden wohl seine Fähigkeiten betref- fend Ausgabe und Einordnung der Bücher neuerdings als unzureichend betrachtet.

578 AC1.25, f. 9r–v (9. Februar 1654); AC1.25, f. 21v (Datum fehlt). 579 AC1.25, f. 12r (5. März 1654); Bronnen III, S. 34*–35*, Bijl. no. 695 (Febr. 1655); zu- dem Hulshoff Pol 1975, S. 432. 580 AC1.25, f. 12r (5. März 1654). 581 AC1.25, f. 20r (Datum fehlt)

166 Zugänglichkeit Der Schutz der Bestände änderte sich grundlegend durch die Neumöblie- rung als Wandbibliothek. Denn nun standen die Bände in offenen Rega- len und nur noch das Schloss der Türe schützte die wertvollen Bücher. Die Bibliothek durfte deswegen laut dem Reglement nur noch in Anwe- senheit des Kustoden – und somit eines Überwachers – betreten werden. Desweiteren definierte das Kuratorium die Handhabung des Bibliotheks- schlüssels in strenger Weise: Weder Thysius noch der Kustode dürften ihn irgendjemanden geben oder ausleihen.582 Zudem wurde er erneuert, denn der Schlosser der Universität stellte für getane Arbeit in der neuen Bibliothek im Jahre 1656 eine Rechnung.583 Golius erhielt wiederum einen Schlüssel für die orientalischen Manuskripte, mit der ausdrücklichen Bit- te, keine davon ohne Beleg auszuleihen.584 Doch machte sich bereits Interesse an der neueingerichteten Biblio- thek breit. „Praesident ende Raden over Hollandt, Zeelandt ende West- vriesland“ wollten nämlich einen Schlüssel für die neuen Bibliotheks- schlösser, um „t’ allen tijden ende t’ haren believen eenen vryen op ende toegangh tot de voors. Bibliotheque te mogen hebben“585 und beriefen sich dabei auf die Akte vom 14. Juli 1595, in welcher ihnen ein Schlüssel ausgehändigt wurde. Das Kuratorium äusserte folgende Bedenken und zeigt damit die Gefahren, welchen die Bücher in den offenen Regalen nun ausgesetzt waren:

„waer op sijnde geconsidererrt, dat hier bevoorens, als de boucken op de Bibliotheque noch aen ketenen geslooten waren, deselve ecter soo door al te liberale communicatie van de sleutelen als anderssints seer sijn gescheurt ende geschent geworden, oock sommige ontdra- gen, daer van men niet minder pericule soude loopen nu de voors. boucken op eene andere maniere los sijn gestelt, ende dat daerom oock ’t voors. slot verandert ende de sleutel van dien alleenlick aen den bibliothecaris vertrout is“.586

Sie machen also deutlich, dass bereits früher, als die Bücher noch ange- kettet waren, durch einen zu freien Umgang in der Vergabe der Schlüs- sel diese nicht bloss beschädigt, sondern trotz der Ketten auch gestohlen wurden. Nun seien die Bücher aber, da sie in offenen Regalen ruhen, be-

582 Bronnen III, S. 95 (9. Nov. 1654). 583 AC1.25, (8. Mai 1656), f. 82v; dies geht auch aus einer weiteren Akte hervor, Bronnen III, (7. Mai 1657), S. 128–129, hier S. 128. 584 Bronnen III, S. 116 (8. Nov. 1656). 585 Bronnen III, S. 128–129 (7. Mai 1657), hier S. 128. 586 Bronnen III, S. 128–129 (7. Mai 1657), hier S. 128.

167 sonders gefährdet; deshalb wären die Schlüssel der Bibliothek erneuert und nur dem Bibliothekar anvertraut worden. Das Kuratorium beschloss denn auch, keinen Schlüssel auszuteilen, dafür den Bibliothekar oder stellvertretend den Kustoden damit zu beauftragen, den Politikern zu al- len Zeiten Eintritt zu gewähren.587

Behelfs- und Arbeitskataloge der Wandbibliothek Leser und Bücher waren bezeichnenderweise mittels einer Schranke ge- trennt. Der Kustode nahm eine Vermittlerrolle ein, in etwa so, wie es in späteren Magazinbibliotheken der Fall war, kann man den abgeschrank- ten Bereich doch als Bücherlager verstehen, das zwar visuell sichtbar, aber nicht betretbar war. Nicht mehr die räumliche Ordnung des Wissens, sondern der Katalog ebnete nun den Weg zur Literatur. Dem Katalog kam somit eine entscheidende Rolle zu. Seine Aufga- ben änderten sich indes. Der Leser musste noch immer möglichst rasch ein gesuchtes Werk in ihm auffinden können, doch interessierte in die Angabe des Standorts nicht mehr. Das Auffinden des gewünschten Werks übernahm nun ja der Kustode oder der Bibliothekar, die als einzige wis- sen mussten, wie und wo die Werke gelagert wurden. Der Katalog musste somit kein Standortkatalog mehr sein und konnte nach anderen Organi- sationsprinzipien gegliedert werden. In Leiden dauerte es noch Jahre, bis ein neuer Katalog, der diese Umstände berücksichtigte, gedruckt wurde. Zunächst kam wohl der Ar- beitskatalog von Thysius mit den neuen Laufnummern zum Einsatz oder eine analog angefertigte Kopie für die Leser.588 Der Katalog folgte somit in seinem Aufbau noch der alten Möblierung, war er doch ein Abbild derselben. Die Leser waren deswegen gezwungen, sich wiederum durch die verzeichnete und aufgegebene Bibliotheksmöblierung zu kämpfen, um ein gewünschtes Exemplar auffinden zu können. Dabei half die -ur sprüngliche thematische Zuweisung der Pulte zumindest ein wenig. Thysius starb 1665. Sein Nachfolger wurde Johann Friedrich (Jo- hannes Fredericus) Gronovius (1611–1671),589 der wie sein Vorgänger ei- nen Lohn von 200 Gulden erhielt.590 Gronovius machte sich daran, einen neuen Katalog zu erstellen.591 Vermutlich ist der überlieferte Arbeitskata- log das Resultat des Wunsches der Kuratoren im Jahr 1668, einen neuen Katalog zu drucken, denn die Bibliothek sei „verciert ende vermeerdert, sonder dat echter sulcx tot renommé der Universiteyt aen de geleerde luy-

587 Bronnen III, S. 128–129 (7. Mai 1657). 588 BAR.C4; eine Reinschrift davon ist mir nicht bekannt. 589 Zu seiner Biographie, siehe NNBW, Deel 1, Sp. 989–992. 590 Bronnen III, (8. Febr. 1665), S. 200. 591 Gronovius’ Arbeitskatalog: BAR.C5; siehe zudem: Hulshoff Pol 1975, S. 435.

168 den is bekent“.592 Sie beabsichtigten also, durch den Druck eines aktuellen Abb. 2.29 Der Arbeitskatalog von Katalogs die Bestände bekannt zu machen und der Universität zu mehr Gronovius. Links die ein- Prestige zu verhelfen. gebundenen Seiten mit der Zunächst übertrug Gronovius die durch Thysius in seinem Arbeits- entworfenen alphabeti- schen Aufreihung der Wer- katalog handschriftlich verzeichneten Buchtitel und Nummern in ein ei- ke, rechts die erste Seite der genes Arbeitsexemplar und ergänzte diese durch Akquisitionen, die un- Medizin mit den von Thy- sius übernommenen Lauf- ter seiner Präfektur zustande kamen. Er fertigte also gewissermassen eine nummern. Reinschrift an. Den kleinformatigen Büchern hingegen verlieh er keine (Daniel Heinsius (mit Ja- Laufnummer, weswegen dieser Katalog kaum tatsächlich in Gebrauch cobus Golius), Catalogvs war. Zusätzlich jedoch – und wohl in Hinblick auf den gewünschten Kata- bibliothecæ pvblicæ lug- log – fertigte er auf eingebundenen Seiten alphabetisch nach Autorenna- duno-batavæ, Lvgd. Bata- vorvm (ex officina Elsevir. men sortierte Listen der Werke an, die er mit den durch Thysius definier- Acad. typograph.) 1640, un- ten Laufnummern versah.593 Er nahm somit den 1674 gedruckten Katalog paginiert bis S. 39; Hier der Arbeitskatalog Gronovius’, mit seiner alphabetischen Reihenfolge bereits vorweg (Abb. 2.29). UBL, Signatur BAR.C5.)

(Fotografie des Autors.) Spanheims Katalog von 1674 Das Werk von Gronovius zu vollenden und endlich einen gedruckten Katalog der neuen Wandbibliothek herauszugeben, gelang 1674 durch

592 Bronnen III, (8. Aug. 1668), S. 217–218, Zitat S. 217. 593 Theologie in Folio, BAR.C5, zwischen S. 26 und S. 27; Jurisprudenz in Folio, BAR.C5, zwischen S. 38 und S. 39; Literatur in Folio, BAR.C5, zwischen S. 70 und S. 71; sowie Medizin in Folio, BAR.C5, zwischen S. 152 und S. 153.

169 Friedrich Spanheim jr. (1632–1701),594 der 1672 zum Nachfolger des ver- storbenen Gronovius bestimmt wurde.595 Nur einen Monat nach seiner Berufung machte er dem Kuratorium bekannt, dass die Bibliothek noch immer über keinen aktuellen Katalog verfüge, sondern nur über einen aus dem Jahre 1640, der nicht dem gegenwärtigen Mobiliar entspräche. Zudem seien einige Werke nicht verzeichnet, andere vermisst, und ferner, „dat de boeken tegenwoordigh op een geheele andere ordre als wel voor- heenen stonden gerengeert; dat daromme de voors. catalogue in veele re- specten was inutyl gewerden“.596 Es müsse deshalb ein neuer Katalog ge- druckt werden. Das Kuratorium unterstützte diesen Beschluss natürlich und sprach Spanheim die entsprechenden Mittel zu, um auch Hilfskräfte beschäftigen zu können. Damit die Anfertigung des Katalogs einfacher von statten gehen könne, beschloss das Kuratorium zudem, die Witwe des verstorbenen Gronovius zu bitten, dessen Arbeitskatalog an Span- heim auszuhändigen. Zudem solle sie auch alle Bücher zurückgeben, die ihr verstorbener Gatte aus der Bibliothek mit nach Hause nahm. Auch alle anderen Personen mussten nach diesem Beschluss ausgeliehene Werke der Bibliothek retournieren.597 In nur zwei Jahren schaffte es Spanheim mithilfe der durch Gronovi- us erstellten handschriftlichen Listen, den Katalog zu drucken. Zudem er- hielt er Unterstützung durch Abraham van Berkel,598 der “onder de opsight van heer bibliothecarus in een Catalogus vervat en ordine Alphabetico gerecenseert hadde“ und dafür 315 Gulden erhielt.599 Der Katalog nennt dennoch Spanheim als Verfasser – welcher 200 Gulden für seine Mühen erhielt600 – und trägt den Titel: Catalogus bibliothecæ publicæ lvgdvno-ba- tavæ noviter recognitus. Accessit Incomparabilis thesaurus librorum orien- talium, præcipue mss. Gedruckt wurde er in der Universitätsdruckerei der Elseviers (Abb. 2.30).601 Der Katalog teilt die Werke zunächst nach ihren Fachgebieten und Grössen ein, um sie dann alphabetisch nach Autorennamen zu ord- nen. Selbst die Biblia Regia, immerhin der Nukleus der Bibliothek und Geschenk Wilhelms I. von Oranien, wird deswegen einfach unter B ein- geordnet.602 Auch Vesalius’ De humani corporis fabrica büsste die erste Stelle im Fachbereich der Medizin ein und wurde unter V auf die hinte-

594 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 10, Sp. 955–956. 595 Bronnen III, (7. März 1672), S. 259; Bronnen III, (7. Okt. 1672), S. 262. 596 Bronnen III, (8. Nov. 1672), S. 265–266, hier S. 265. 597 Bronnen III, (8. Nov. 1672), S. 265–266. 598 Zu seiner Biographie, siehe: Schoneveld 1983, Appendix I, S. 130–131. 599 AC1.26, (8. Febr. 1674), S. 612; Bronnen III, (8. Febr. 1674), S. 287. 600 AC1.26, (8. Nov. 1674), S. 672–673. 601 Spanheim 1674. 602 BAR.C6, S. 6.

170 ren Plätze verwiesen. Beide Werke behielten jedoch den ersten Platz auf Abb. 2.30 Spanheims Katalog von den Regalen. Noch immer verfügten sie – wie bereits im Nomenclator von 1674. Alphabetische Rei- 1595– über die Signatur 1 ihres Fachbereichs, denn Spanheim übernahm henfolge der Bücher und die vorhandenen und durch Thysius erstellten Signaturen.603 die Einteilung nach For- matgrösse. Die räumliche und die katalogische Verteilung der Bücher gescha- hen somit aufgrund verschiedener Ordnungskriterien. Der Katalog nutz- (Scan aus: Berkvens-Steve- linck 2012, S. 94.) te die Möglichkeit einer alphabetischen Ordnung nach Autorennamen, während die Bücher im Regal noch immer dieselbe Verteilung aufwiesen, die Thysius mittels ihrer direkten Überführung aus den alten Pulten er- reichte. Der Katalog war nun nicht mehr ein papierenes Abbild der räum- lichen Ordnung der Bücher. Durch die Trennung des Katalogs von den realen Gegebenheiten der Bibliothek konnten Möglichkeiten eines papierenen Katalogs genutzt werden, ohne durch den tatsächlichen Bestand eingeschränkt zu werden. So wird im Katalog von 1674 an erster Stelle der Folianten der Medizin der Eintrag Actuaris, Latinè, apud Henricum Stephanum 1568 verzeichnet und mit der Laufnummer 7 versehen. Er verweist auf einen lexikalischen Sammelband, nämlich die Medicae artis principes Graeci, in dem Ab- handlungen verschiedener Autoren versammelt wurden. Spanheim hat- te also den gleichen Konflikt wie Thomas James und Thomas Bodley, die

603 BAR.C6, S. 101.

171 ebenfalls einen Weg für die Eingliederung von Sammelbänden in einen alphabetischen Autorenkatalog finden mussten. In Oxford wurden die einzelnen Autoren von Sammelwerken im Appendix abgehandelt.604 In Leiden wurden hingegen alle Autoren eines Sammelwerks an ihrer Stelle im Alphabet aufgeführt und auf das gleiche Werk und somit auf die glei- che Buchnummer verwiesen, beispielsweise auf der gleichen Seite unter Eadem [Æginatæ (Pauli)] Latinè, apud Henr. Stephanum 1568,605 denn Paulus Aeginatus war neben dem sogenannten Actuarius, was einen un- bekannten Schreiber des antiken Roms bezeichnet, ein weiterer Autor des Sammelwerks. Dieser Eintrag erhielt somit ebenfalls Laufnummer 7. Der Katalog konnte deswegen Werke, die nur einfach in der realen Bü- chersammlung vorhanden waren, mehrmals auflisten, um dem Leser ein einfacheres Auffinden gewünschter Werke zu ermöglichen.

Bibliotheca Thysiana Der Umbau zur Wandbibliothek und der Einbau einer hölzernen Schran- ke wurde in Leiden schon bald von einer anderen Bibliothek übernom- men. Der Rechtsgelehrte Johannes Thysius (1622–1653),606 der nicht Verwandt war mit dem Bibliothekar der Universität, aber in Leiden ausge- bildet wurde, stiftete testamentarisch seine Bibliothek an die Algemein- heit. Für ihren Bau und Unterhalt sprach er einen ansehnlicher Teil seines grossen Vermögens zu. Man kann deswegen von einer Memorialstiftung in besonders grossem Umfang sprechen, weil hier nicht bloss eine Bü- chersammlung vermacht wurde, sondern ihr gar ein ganzes Haus errich- tet wurde. Der Architekt Arent van ’s Gravesande, der bereits für den Um- bau der Universitätsbibliothek verantwortlich zeichnete, wurde mit dem Bauvorhaben beauftragt. Der Bau kam sehr teuer zu stehen und kostete rund 14’500 Gulden. Der Architekt wendete dabei dieselbe Lösung an, wie er sie kurz zuvor auch für den Umbau der Leidener Bibliothek angewen- det hatte, und stellte die rund 2000 Bände in Regalen entlang der Wände auf und trennte sie vom Leser mittels einer Balustrade. Die Bibliothek ist heute in ihrem ursprünglichen Bau vorhanden. Da es sich um eine Stiftung handelte, die später nur in sehr geringem Mas- se ergänzt wurde, kam es zu nahezu keinen baulichen Veränderung. Die Bibliothek ist der einzig erhaltene spezifische Bibliotheksbau der Nieder- lande aus dem 17. Jarhundert.607

604 James P.R. Lyell, „King James and the Bodleian Library Catalogue of 1620“, in: BQR, Vol. VII, No. 79, S. 261–283; Wheeler 1928. 605 BAR.C6, S. 101. 606 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 5, Sp. 925–926. 607 Zur Bibliothek, siehe: Hoftijzer 2008, mit Angaben zu weiterführender Literatur.

172 Orientalische Bücher und kleinere Baumassnahmen

Die Leidener Bibliothek legte im Laufe des 17. Jahrhunderts eine Samm- lung orientalischer Schriften an, mit denen sie sich an die Spitze der Ge- lehrsamkeit in diesem Fach setzen konnte. Im Verlauf der frühen Neu- zeit wurde nämlich erkannt, dass viele Schriften antiker Autoren nur noch in arabischer Übersetzung vorhanden waren. Der Weg zur Quelle führte deshalb über orientalische Manuskripte. Zudem waren arabische Gelehrte in Bezug auf verschiedene Fachgebiete (Medizin, Mathematik oder Astronomie beispielsweise) deutlich weiter als ihre europäischen Kollegen. Auch aus diesem Grund wurde es entscheidend, diese Werke zu beschaffen. Die Universität liess sich den Erwerb orientalischer Manu- skripte einiges kosten. Neben den Einkäufen spielten auch Donationen eine wichtige Rolle. Da zudem die Sprache der Werke beherrscht werden musste, brauchte man qualifizierte Personen, um die Bücher anschaffen, aber auch lesen zu können. Die orientalischen Manuskripte waren per se bereits eine Rarität, gewissermassen exotische Objekte, die der Zierde und dem Ruhm der Büchersammlung dienten. Nicht zuletzt wurde die arabische Sprache auch im aufkommenden internationalen Handel be- nötigt.608

Grundstock der orientalischen Sammlung Neben den regulären Bucheinkäufen wurden schon früh Spezialsamm- lungen angelegt, allen voran diejenige von Werken aus dem Morgenland. Bereits kurz nach der Gründung der Universität war das Studium orien- talischer Schriften fester Bestandteil des universitären Lebens. Orienta- lische Bücher wurden aber nicht bloss gelesen, sondern auch gedruckt, wozu Franciscus Raphelengius – der zweite Buchdrucker der Universität und Professor für die hebräische Sprache – arabische Typen schneiden liess. Auch Thomas Erpenius (1584–1624)609, einer der ersten Professoren für Orientalistik, errichtete eine orientalische Druckerei. Aus diesen Dru- ckereien wurden die Früchte der Studien in orientalischer Sprache ge- druckt. Mit dem Legat Scaligers wurde der Grundstock einer Sammlung orientalischer Werke gelegt und stolz zur Schau gestellt.610 Erpenius wollte Scaligers Beispiel folgen, und seine Manuskripte der Universitätsbiblio- thek vermachen. Sie sollten in einem Schrank neben der Arca Scaligera- na verwahrt werden. Das Beispiel Scaligers zog also Nachahmer an, die ebenfalls mittels einer Spende und wohl durch die Nähe zum Nachlass dieses berühmten Gelehrten Nachruhm geniessen wollten. Aufgrund ei-

608 Grundlegend zum Thema: Brugman 1975; zudem Hulshoff Pol 1975, S. 426–429. 609 Zu seiner Biographie, NNBW, Deel 8, Sp. 495–496. 610 Zum Aufbau der Sammlung, siehe: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 67–69.

173 nes Rechtstreits mit seinen Nachkommen kam es aber nicht dazu.611

Jacobus Golius und seine Büchersammlung Als Nachfolger von Erpenius wurde Jacobus Golius (1596–1667) zum Pro- fessor der orientalischen Sprachen berufen, der zudem auch als Profes- sor der Mathematik an der Leidener Universität beschäftigt war.612 Golius’ Interesse an orientalischen Sprachen lag nämlich in erster Linie nicht an den Sprachen selbst, sondern den Werken, die er durch das Erlernen der Sprachen lesen konnte. Er interessierte sich primär für die Mathematik und die Kosmologie, musste aber den Umweg über orientalische Schrif- ten gehen, um in Europa verschollene oder korrumpierte Texte antiker Autoren sowie neuer arabischer Gelehrter lesen zu können.613 Golius war es, der seine aus Texten gewonnenen Einsichten über den Aufbau des Himmels empirisch überprüfen wollte und dafür eine Sternwarte auf dem Dach der Akademie errichten. Vor seiner Berufung an die Leidener Universität reiste er von 1622 bis 1624 in diplomatischer Mission nach Marokko und brachte einige Ma- nuskripte zurück. Kurz nach seiner Berufung bezahlte ihm die Universi- tät eine vierjährige Reise in den mittleren Osten, von wo er 1629 über 200 Manuskripte in die Leidener Bibliothek überführte, die knappe 1200 Gul- den kosteten.614 Verglichen mit den äusserst bescheidenen Mitteln, die dem Bibliothekar Daniel Heinsius zur Verfügung standen, oder dem jähr- lichen Etat über 300 Gulden für den Einkauf von Büchern eine stattliche Summe Geld. Bereits 1630 druckte Golius ein Verzeichnis dieser Schrif- ten.615 Später wurden die orientalischen Werke auch in den Katalogen von Heinsius aufgeführt. 1637 wurden weitere orientalische Manuskripte für eine Summe von 700 Gulden gekauft. Die Universität liess sich also die Anschaffung orientalischer Manuskripte einiges kosten und veräusserte dafür gar ein Stück Land.616 Auch in den kommenden Jahren kaufte Golius unzählige Bücher aus der Levante.617 Beim Kauf orientalischer Werke berücksichtigte Golius auch die Sel- tenheit der Werke, wodurch sich die Universität wohl einen Vorsprung im Wettbewerb mit anderen Bildungseinrichtungen oder Büchersammlun-

611 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 67–69. 612 Zu seiner Biographie, NNBW, Deel 10, Sp. 287–289; zu seiner Sammlung: Witkam 1980a. 613 Brugman 1975, S. 208. 614 Bronnen II, (21. Nov. 1629), S. 146–147. 615 Golius 1630. 616 AC1.22, (9. Febr. 1635), f. 165r–v; Bronnen II, (23. Okt. 1637), S. 217. 617 Bronnen II, (9. Febr. 1639), S. 234–235; AC1.23, (15. Aug. 1639), f. 40r; Bronnen II, (9. Febr. 1640), S. 246; Bronnen II, (14. Aug. 1640), S. 248; AC1.23, (1. Nov. 1640), f. 76r–77r; Bronnen III, (3. Dez. 1647), S. 9.

174 gen sichern und den Ruhm ihrer wertvollen Büchersammlung mehren wollte. Als durch Siahijn Kandi, ein armenischer Christ aus Aleppo, der in Leiden weilte, verschiedene Werke angeboten wurden, war es ihre Selten- heit, die Golius explizit erwähnte, denn diese Schriften würden „in geene publycque Bibliotheque van het christenrijck, voor soo veel bekent is, ge- vonden werden“.618 Wie im botanischen Garten und den Naturaliensammlungen exo- tische und fremde Objekte einen besonderen Reiz ausübten und be- vorzugt gesammelt wurden, so galt dieselbe Curiositas für orientalische Schriften. Es ging nicht bloss um ihren Inhalt. William Clarke schreibt, dass Bücher – analog zu den Naturalien – „monstrosities“ seien, Objekte, die per se zur Schau gestellt würden: „as monstrosities the books partake of an economy of the rare. Their materiality, including their covers (from which they are well judged), has a nature and a history independent of their contents, authors and ends.“619 Exotische Exponate waren deshalb eine besondere Zierde, weswegen die Pflanzen des Gartens, die Skelette des anatomischen Theaters aber auch die Bücher der Bibliothek in den Akten häufig als „cieraet“ bezeichnet wurden. Besucher der Sammlungen nannten teilweise im gleichen Atemzug Kuriositäten wie die Knochen ei- nes Walfisches, ägyptische Mumien oder arabische Manuskripte.620

Eine „Privatsammlung“ orientalischer Bücher Die Sammlung, die Golius innerhalb der Leidener Bibliothek aufbaute, war zunächst eng an seine Person gebunden. Von Beginn an besass er einen Schlüssel, „niet alleen vande publicque bibliotheque der Universi- teyt, maer ook van seeckere kasse opte selbe bibliotheque staende, inde welcke de arabische boecken, bij hem wt Levanten gebracht, opgesloten sijn“.621 Nach dem Umbau der Pult- zur Wandbibliothek erhielt Golius die erneuerten Schlüssel zur Bibliothek und zu den orientalischen Ma- nuskripten. Damals flog zudem auf, dass er einige Manuskripte mit nach Hause genommen hatte. Er versprach aber, sie zu retournieren und in Zu- kunft keine weiteren auszuleihen.622 Golius – und nicht etwa Heinsius, Thysius oder Gronovius – war der eigentliche Bibliothekar der orientalischen Manuskripte. So bat Golius seit jeher direkt das Kuratorium um Geld für den Einkauf orientalischer Schriften. Nun überwachte er ebenso selbstständig die Arbeiten Kandis, der für ihn orientalische Schriften kopierte und die Arbeiten des Kusto-

618 Bronnen III, (8. Aug. 1657), S. 129–130, hier S. 129. 619 Clark 2000, S. 191. 620 Veryard 1701, S. 8. 621 AC1.22, (7. Febr. 1630), f. 19r. 622 AC1.25, (8. Nov. 1656), f. 89r.

175 den, der sie einband.623 Als Golius 1667 starb, liess er eine Sammlung ori- entalischer Manuskripte in der Bibliothek zurück, die obwohl „alle veele duysenden waerdich sijnde aen niemant op dese Universiteyt en konnen dienst dien“. Die wertvollen Schriften konnten somit schlichtweg nicht gelesen werden. Das Kuratorium sah sich deshalb gezwungen, so schnell wie möglich einen neuen Professor für orientalische Sprachen zu beru- fen,624 was aber erst 1680 gelang.625 Zudem wurde offensichtlich, dass er sich nicht an sein Versprechen gehalten und noch immer viele Bücher zu sich nach Hause genommen hatte, die nun in der Bibliothek vermisst wurden. Golius hatte nämlich nicht nur intellektuell als einziger Zugang zu den Werken, sondern auch ganz praktisch: Er besass nämlich den einzigen Schlüssel zum Schrank der Manuskripte.626 Doch um die Bücher konsultieren zu können, muss- te auch die sprachlichen Fähigkeiten vorhanden sein. Golius besass im Falle der orientalischer Werke als einziger beides: einen Schlüssel zum Schrank und die sprachlichen Fähigkeiten. Es war deswegen gewisserma- ssen seine private Schriftensammlung.

Warners Legat Zwei Jahre vor Golius’ Tod vermachte einer seiner früheren Schüler der Bibliothek eine äusserst bedeutende Sammlung arabischer Schriften. Levinus Warner (1619–1665)627 begab sich nach seinen Studien an der Leidener Universität 1644 nach Konstantinopel, wo er, trotz einem Ruf nach Leiden im Jahre 1648, bis zu seinem Tod verblieb. Die hinterlassene Schriftensammlung vermachte er seiner Alma mater.628 Du Moertier, der mit Warner in Smyrna weilte, beschrieb, letzterer habe bereits sehr viel Geld für türkische, arabische und persische Manuskripte und andere Ku- riositäten ausgegeben, die offensichtlich von nur geringem Nutzen seien für alle ausser ihm selber und Professor Golius aus Leiden.629 Bereits den Zeitgenossen war somit klar, dass nur wenige Personen überhaupt Ge- brauch von diesen Schriften machen konnten. Diese Sammlung bestand aus annähernd 1000 Manuskripten sowie

623 Bronnen III, (18. Sept. 1658), S. 140. 624 AC1.26, (5. Mai 1668), S. 219 625 Brugman 1975, S. 214. 626 „[…] uytte kasse der voorschreven Orientaelsche boucken inde publycque biblio- theecq vermist werden, ende daer ontrent synde overwogen dat niemant eenigen toegang totte voors kassen behalven den voorn heer Gool, als alleen daer van de sleutels machtich sijnde en heeft gehadt […]“, AC1.26, (5. Mai 1668), S. 220. 627 Zu seiner Biographie, NNBW, Deel 10, Sp. 1153–1154. 628 Zur Überführung der Bücher, siehe: Bronnen III, (10. April 1666), S. 204–205; Bron- nen III, (8. Mai 1667), S. 211–212; Bronnen III, (18. Febr. 1669), S. 229; Bronnen III, (11. April 1669), S. 230; Bronnen III, (8. Febr. 1670), S. 240. 629 Brugman 1975, S. 214.

176 über 200 gedruckten Werken und stellte zu jener Zeit die grösste Donati- Abb. 2.31 Die verzeichneten Werke in 630 on dar, die der Leidener Bibliothek je vermacht wurde. Zur Erstellung Arabischer, Persischer und eines Inventars mussten die Professoren auf fremde Hilfe setzen. Theo- Türkischer Spraches des Legats von Levinus Warner. dorus Petraeus, ein Gelehrter aus Amsterdam sowie ein armenischer Eine Abschnitt des Katalogs Christ namens Sahin Candy wurden zur Ordnung der Bücher und zur von 1674.

Erstellung eines Katalogs angestellt. Zumindest die Titel der unzugäng- (Scan aus: Berkvens-Steve- lichen, fremdsprachigen Werke sollten zudem ins Lateinische übersetzt linck 2012, S. 92.) werden, obendrein Synopsen erstellt werden.631 Die Früchte dieser Arbeit fanden als separaten Teil im Katalog von 1674 Beachtung, was bereits auf dem Titelblatt vermerkt wurde (Abb. 2.31). Sie wurden neben den Legaten von Scaliger und Vulcanius verzeichnet. Während der Erstellung des Katalogs waren sie noch im Akademie- gebäude untergebracht632 und kamen im Frühjahr 1669 in die Bibliothek. Verwahrt wurden sie in einem speziellen Bücherschrank als Einheit, zum Gedenken an den Stifter.633 Aufgestellt wurde der Schrank – analog zum gedruckten Katalog – neben den Legaten von Scaliger und Vulcanius. Ver-

630 Siehe zu diesem Legat: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 91–93. 631 Bronnen III, S. 221–222; Bronnen II, S. 222; Bronnen III, (5. Aug. 1669), S. 233. 632 „in eene bysondere kasse in de bovenkamer der Academie“, Bronnen III, (5. Aug. 1669), S. 233. 633 Bronnen III, (8. Febr. 1669), S. 228; Bronnen III, (18. Febr. 1669), S. 229.

177 mutlich besetzten diese Schränke nun den grössten Teil der westlichen Stirnseiten der Bibliothek, weswegen der Raum für die lateinischen und griechischen Manuskripte und andere Preziosen knapp wurde.

Kleinere Baumassnahmen Um Raum zu schaffen, wurde eine Galerie an der westlichen Seite ober- halb des Eingangs der Bibliothek eingezogen. Wann sie genau eingebaut wurde, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Sie wurde aber 1674 mit einer Balustrade versehen. Auf ihr wurden Manuskripte verwahrt. In Leiden kam somit dieselbe architektonische Lösung zur Anwendung, die auch in der Duke Humfrey’s Library vorhanden war. Es ist durchaus denkbar, dass die Galerie aufgrund von Warners Nachlass eingebaut wurde und Gronovius sich das Oxforder Beispiel zum Vorbild nahm, das er prsön- lich kannte. 1684 wurden die Schränke der Galerie mit Türen versehen, die mit einem Gitter aus Kupferdraht versehen waren, das so dicht bei- sammen sein sollte, „dat de muysen ende diergelijck ongediert daer van mogen werden geweert.“634 Die Manuskripte waren aber noch 1702 in Ge- fahr, denn sie wurden zwar nicht von Mäusen, aber von Bücherwürmern gefressen (Abb. 2.32).635 Nahezu gleichzeitig kam ein weitere Problem hinzu: Die Bibliothek hatte ein leckes Dach. Bereits 1628 musste das Dach der Bibliothek erneu- ert werden, da es nicht mehr dicht war und dadurch die Bücher in akute Gefahr brachte. Der Zimmermann Jan van Banchem wurde durch Daniel Heinsius damit beauftragt, das Dach von innen „met wageschot“ zu be- kleiden, wofür mit Kosten über 400 Gulden gerechnet wurde.636 1682 war erneut Handlungsbedarf dringend nötig, weswegen ein Plan ausgearbei- tet wurde.637 Es musste das gesamte Dach renoviert werden. Das Kurato- rium wollte die Kosten zu zwei Dritteln an die Universität und zu einem Drittel an die Stadt verteilen. Dafür trat die Akademie einen Raum ab, der zuvor für die „Niederdeutsche Mathematik“ gebraucht und als „Cyffer- school“ bezeichnet wurde.638 Während des Umbaus durften die Bücher natürlich nicht beschädigt werden. Jacob [Jacobus] Roman (1640–1716),639 Stadtarchitekt Leidens und „architect van Sijn Majesteyt van Groot Brit- tanjen“, hatte einen Plan auszuarbeiten.640 Die Bibliothek bekam nicht nur ein neues Dach, sondern auch eine neue Decke.641 Zudem erhielt der

634 Bronnen IV, (22. Febr. 1684), S. 28. 635 „seer door de Worm syn geschonden geworden“, AC1.29, (6. Dez. 1702), f. 304. 636 AC1.21, 215r (8./9. Februar 1628). 637 AC1.27, (29. Aug. 1682), f. 186v–187r. 638 AC1.27, (8. Sept. 1682), f. 187v. 639 Siehe zu seiner Biographie und Werk, siehe: Kuyper 1980, S. 178–186. 640 AC1.27, (8. Mai 1683), f. 206v. 641 AC1.27, (Dec. 1684), f. 235r.

178 Kustode Geld für das Umräumen von Büchern, was vielleicht aufgrund Abb. 2.32 642 643 Der Bücherwurm: Nicht der Baustelle von Nöten war. In den Quellen ist von einem „verwulft“ bloss eine ernsthafte Be- die Rede, also von einem Gewölbe, weswegen angenommen werden darf, drohung für Bücher, son- dass die Bibliothek vor und nach ihrem Umbau mit einem Tonnengewöl- dern auch ein frühes Unter- suchungsobjekt unter dem be überdeckt war, wie auf der Darstellung von 1712 gezeigt wird. Mikroskop.

(aus: Robert Hooke, Micro- graphia: Or Some Physio- Die Zweiteilung der Bibliothek: Einbau eines zentralen Regals logical Descriptions Of Mi- nute Bodies Made By Mag- nifying Glasses : With Ob- Die Leidener Bibliothek blieb – abgesehen von diesen kleineren Umbau- servations and Inquiries thereupon, London (Mar- arbeiten – in ihrem durch Thysius erreichten Zustand bis 1691 bestehen. tyn) 1665, zwischen S. 206 Durch den Ankauf einer grösseren Privatbibliothek musste der Raum und S. 207) aber neu bestückt werden. Es handelte sich dabei um die private Bücher- (Download: Herzog August 644 sammlung von Isaac Vossius (1618–1689), der ein berühmter niederlän- Bibliothek Wolfenbüttel; discher Gelehrter und zeitweiliger Bibliothekar der Königin Christina von http://diglib.hab.de/dru- cke/38-2-phys-2f/start.htm) Schweden (1626–1689) war. 1670 siedelte er nach England über, wo er 1689 starb und eine gewichtige und wertvolle Bibliothek hinterliess. Wie viele private Büchersammlwe wollte er die Einheit seiner Bibliothek durch de- ren Überführung in eine Institution sicherstellen. Seinem letzten Willen entsprechend suchten seine Erben einen Käufer, der die gesamte Biblio- thek übernahm. Angefragt wurde zunächst die Universität Oxford, neben der Leidener Universität seine zweite Alma mater. Die dortigen Gelehrten berechneten ihren Wert auf 30’000 Gulden, vorausgesetzt, alle erwähnten Bücher seien vorhanden. Doch konnten sich die Erben nicht mit den dor- tigen Gelehrten einig werden, weshalb die Büchersammlung der Leide- ner Universität angeboten wurde.645 Der damalige Bibliothekar Friedrich

642 AC1.27, (18. Dec. 1684), f. 231v–232r. 643 AC1.27, (8. Mai 1683), f. 206v. 644 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 1, Sp. 1519–1525; zudem: Jorink/Miert 2012, darin vor allem den Aufsatz zu seiner Bibliothek: Astrid C. Balsem, „Collec- ting the ultimate scholar’s library: The Bibliotheca Vossiana“, in: Jorink/Miert 2012, S. 281–309. 645 Philip 1983, S. 61.

179 Spanheim berechnete zusammen mit Jacobus Gronovius (1645–1716), der Sohn der früheren Bibliothekars,646 und Jacobus Triglandius (1652–1705), Professor für Theologie,647 ihren Wert aufgrund eines übersandten Kata- logs auf 33’000 Gulden und das Kuratorium beschloss im September 1690 den Kauf der Bibliothek für diese Summe.648 Gut möglich, dass sie einige Manuskripte, die eigentlich bereits ihr Eigentum waren, miterwarben, denn Vossius hatte Jahre zuvor Handschriften der Leidener Universitäts- bibliothek ausgeliehen, doch nie retourniert.649

Überführung der Bibliothek Bereits zuvor, am 8. August 1690, besuchte das Kuratorium die Biblio- thek, um dort einen Platz für die Verwahrung der Vossianischen Bücher- sammlung zu finden.650 Doch blieb dieser Besuch erfolglos, da Spanheim unabgemeldet im Ausland weilte und die Kuratoren keine Schlüssel zu den geschlossenen Schränken hatten, worauf sie – vermutlich brüskiert – erklärten, Spanheim solle in Zukunft bekanntgeben, falls er ins Ausland verreise und ihnen die Schlüssel der Büchersammlung aushändigen.651 Das Kuratorium dachte zunächst wohl noch, dass in den vorhandenen Schränken genug Platz sei, um die neuen Bücher und Manuskripte ver- wahren zu können. Doch dem war nicht so. Denn die Bücherladung aus England um- fasste 34 grosse Kisten, wovon 27 mit gedruckten Büchern, 5 mit Manu- skripten und zwei mit je einem Globus gefüllt waren – ein Globenpaar gehörten also auch bei dieser Privatbibliothek zur Ausstattung dazu.652 Diese umfangreiche Sammlung konnte nie und nimmer in der bestehen- den Einrichtung der Leidener Bibliothek untergebracht werden, weswe- gen sie erweitert werden musste. Auch ergaben sich logistische Probleme zum Überführen und Einräumen der Bücher. Sie sollten deswegen bereits in England in der Ordnung des beigelegten Katalogs verpackt werden.653 Und so stach das niederländische KriegsschiffReigersbergh am 8. Oktober mit der Bibliotheca Vossiana an Bord in See. Nach ihrer Ankunft in Leiden knappe zwei Wochen später wurde be- schlossen, die Kisten in geschlossenem Zustand in den Raum der Uni-

646 Sohn des früheren Bibliothekars und Professor für griechische Sprache und Ge- schichte, siehe: NNBW, Deel 1, Sp. 986–989. 647 Professor der Theologie und Philologe, siehe: NNBW, Deel 6, Sp. 1284–1285. 648 Zu dieser Büchersammlung und den resultierenden Umbauarbeiten, siehe: Berk- vens-Stevelinck 2012, S. 97–107. 649 AC1.27, (20. und 21. Okt. 1683), f. 218–219r; Bronnen IV, (29. Mai 1684), S. 28; Bron- nen IV, (8. Mai 1686), S. 46. 650 Bronnen IV, (8. Aug. 1690), S. 75. 651 Bronnen IV, (31. Aug. 1690), S. 78. 652 Bronnen IV, (7. Okt. 1690), S. 81. 653 Bronnen IV, (21. Okt. 1690), S. 84.

180 versitätsbibliothek zu bringen. Denn ein vorheriges Auspacken hätte die Bibliothek in Unordnung bringen können. Zum Hochtragen der Kisten musste eine neue Luke „van bequame grooten“ in den Boden der Bib- liothek gesägt werden, da die vorhandene zu klein war. Zudem sollte ein neues Schloss in die Bibliothekstüre eingebaut werden, damit niemand die Bibliothek betreten könne, solange die Kisten noch unausgepackt wa- ren.654 Die Bibliothek wurde daraufhin geschlossen und war nicht mehr für den allgemeinen Gebrauch zugänglich. Ferner wurde der Zimmer- mann der Universität beauftragt, Holzplanken in die Bibliothek zu schaf- fen, um auf diesen die gelieferten Bücher ausbreiten zu können.655 Der „secretaris“ Van den Bergh, Gronovius und Spanheim wurden damit beauftragt, den Inhalt der Kisten sodann anhand der beigeleg- ten Listen zu überprüfen und die Zahl „der boecken in folio, quart en in minori forma“ zu ermitteln. Danach sollten die Bücher den Fakultäten entsprechen angeordnet und mit Vossius’ Katalog verglichen werden.656 Dies dauerte aber länger als geplant, weswegen die Professoren für meh- rere Tage von jeglichen Lehrverpflichtungen befreit wurden und man be- schloss weitere Personen zu verpflichten.657

Pläne für den Umbau Dringend benötigt wurde natürlich auch eine neue Einrichtung der Bib- liothek. Erneut wurde Jacob Roman (1640–1716),658 nach Leiden gerufen, um „een bequame plaetse te despiceren tot het stellen der gerequireerde boeckekassen.“659 Am 11. November gingen die Kuratoren in die Biblio- thek, um eine mögliche Lösung der Einrichtung zu finden.660 Eine Woche später legte der Architekt einen Plan zum Umbau der Bibliothek vor. Das Kuratorium bat ihn darauf, so schnell wie möglich die anfallenden Kosten zu berechnen.661 Doch erst am 22. Januar 1691 besuchten die Kuratoren zusammen mit dem Architekten die Bibliothek, um dessen gezeichneten Plan „in loco“ zu prüfen. Die Bauaufgabe wurden nun den Bürgermeis- tern übergeben, die für die Ausführung eintreten sollten.662 In der Zwischenzeit wurde bekannt, dass die eingekaufte Bibliothek deutlich weniger wert war, als ausgemacht wurde, ja selbst weniger als die erste bereits bezahlte Rate über 21’000 Gulden. Denn am 14. Mai 1691

654 Bronnen IV, (21. Okt. 1690), S. 84. 655 Bronnen IV, (7. Okt. 1690), S. 81–82. 656 Bronnen IV, (8. Nov. 1690), S. 84. 657 Bronnen IV, (11. Nov. 1690), S. 85–86. 658 Siehe zu seiner Biographie und Werk, siehe: Kuyper 1980, S. 178–186. 659 Bronnen IV, (8. Nov. 1690), S. 84. 660 AC1.28, (11. Nov. 1690), f. 142v; Bronnen IV, (11. Nov. 1690), S. 85. 661 AC1.28, (18. Nov. 1690), f. 145r–145v; Bronnen IV, (18. Nov. 1690), S. 86. 662 AC1.28, (22. Jan. 1691), f. 147r–147v; Bronnen IV, (22. Jan 1691), S. 86.

181 konnten Spanheim, Gronovius und Triglandius einen Bericht ihrer Über- prüfung abgeben und aufzeigen, dass einige Bücher vermisst wurden und viele Manuskripte fehlten oder beschädigt waren.663 Der Preis der ge- lieferten Bücher und Manuskripte wurde auf je 5’000 Gulden geschätzt, zusammen also bloss ein Drittel der ausgehandelten 33’000 Gulden. Auch die leicht höhere Schätzung durch drei hinzugezogene Buchhänd- ler brachte keine Beruhigung. Was daraus resultierte, war ein längerer Rechtsstreit. Die Bibliotheca Vossiana aber verblieb in Leiden und ne- ben den Manuskripten mussten auch ihre 3984 gedruckten Bände in den Räumlichkeiten der Bibliothek untergebracht werden. Der Buchbestand hatte sich seit dem letzten gedruckten Katalog von 1674 auf 9413 Bücher nahezu verdoppelt. 664 Am 21. August 1691 wurde beschlossen, den Entwurf des Architekten verwirklichen zu lassen.665 Doch nur zwei Wochen später kam es zu ei- ner Planänderung. Denn der Bürgermeister und Schatzmeister der Stadt Leiden Johannes Jeroensz. van der Marck (1643–1694) hatte die Bibliothek besucht, den Entwurf des Architekten geprüft und mit den Bauarbeitern gesprochen. Die Maurer hatten ihm erklärt, dass zu dieser Jahreszeit auf- grund des Regens nur ein ungenügendes Werk vollbracht werden und der Entwurf des Architekten deswegen nicht verwirklicht werden könne. Van der Marck hatte daraufhin selber zum Stift gegriffen und ein Projekt ausgearbeitet, das er dem Kuratorium unterbreitete. Die Kuratoren wa- ren von dem neuen Entwurf sofort angetan, versprach er doch deutlich weniger zu kosten, gleich viel Raum für Bücher zu generieren und zudem einfacher realisierbar zu sein als derjenige des Architekten.666 Beide Planzeichnungen haben sich nicht überliefert. Van der Marcks Idee wurde realisiert und ist uns deswegen bekannt. Das Projekt des Ar- chitekten Jacob Roman hingegen nicht. Die Sorge der Maurer vor Regen und die hohen Baukosten lassen aber erkennen, dass wohl grössere Um- baumassnahmen geplant waren und nicht nur im Innenraum eine neue Möblierung projektiert wurde. Ganz anders hingegen der ausgeführte Entwurf. Eingebaut wurde nämlich nichts anderes als ein zentrales und längs in den Raum gestelltes Regal, das beidseitig bestückbar war, wie uns ein Kupferstich von 1712 zeigt.

Beschreibung des Raums Der Stich illustriert die Publikation Les delices de Leide, welche als Neu- auflage von Orlers Beschrijvinge der stad Leyden von 1614 verstanden wer-

663 Bronnen IV, (14. März 1691), S. 91–92. 664 Siehe dazu: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 101–105. 665 AC1.28, (21. Aug. 1691), f. 165v; Bronnen IV, (21. Aug. 1691), S. 95. 666 AC1.28, (8. Sept. 1691), f. 166r–166v.

182 den kann.667 Sie ist eine der äusserst spärlichen bildlichen Quellen zur Gestalt der Bibliothek und daher als Informationsquelle von besonderer Bedeutung (Abb. 2.33 und Abb. 2.34). Der Betrachter blickt gegen Westen, also vom Kamin weg und zum Eingang der Bibliothek hin. Der Bibliotheksraum ist mit dem auch in den Quellen erwähnten Tonnengewölbe versehen. Gezeigt werden fünf der sechs Fensterachsen der Bibliothek. Zwischen den Fenstern sind die al- ten Wandregale zu sehen, die 1653/54 eingebaut wurden, über welchen jeweils zwei Portraits hängen. Mitten im Raum steht das doppelseitig be- stückbare Regal, das die Bibliothek in der Mittelachse teilt. In den unteren Reihen ruhten die Folianten, in den oberen die leichteren Kleinformate. Die Regalflächen scheinen nicht in horizontale Abschnitte unterteilt ge- wesen zu sein, sondern durchzulaufen. Eine Balustrade trennt das Regal und seine Bücher von den Besu- chern der Bibliothek. Die Balustrade musste natürlich wegen des Einbaus neu angelegt werden, stand das zentrale Regal doch dort, wo früher die Lesetische und die Zone der Benutzer waren. Nach Eintritt in die Biblio- thek konnte der Leser nach links oder rechts gehen. Den Lesern wurde nun beiderseits des doppelseitigen Regals ein Bereich zugewiesen, der neu bis zu den Fenstern reichte. Die älteren Wandregale mussten deswe- gen gesichert werden, weswegen sie mit Flügeltüren versehen wurden, die ihrerseits mit einem Drahtgitter die Bücher nicht nur vor Mäusen, sondern vor allem vor diebischen Händen schützten. Die Leser konnten die Bücher auch an den Fenstern studieren, wozu in den Laibungen Le- setische eingezogen wurden, falls diese nicht schon immer vorhanden waren. Zur Rechten sehen wir nicht nur zwei lesende Besucher, sondern auch eine Sitzbank, die vor das Fenster gestellt wurde. Auf der linken Seite des Regals ist ein Lesetisch mit einer langen Sitzbank dargestellt, an dem ein Benutzer gerade ein Buch studiert. Gleich hinter der Balustrade und nahe dem Betrachter sind auch alle Globen gezeigt, die in der Bibliothek verwahrt wurden, und die noch immer mit Hauben vor Staub geschützt wurden. Der Betrachter der Zeichnung steht gewissermassen in der abge- grenzten Zone des Bibliothekars. Die letzte Fensterachse wurde dem Bibliothekar und den Kustoden zugewisen, die sicherlich auch die Trennwand zur Anatomie nutzten, um Tische, Regale oder ähnliche Ar- beitsbereiche für sie bereitzustellen. Im Hintergrund sehen wir die ein- gebaute Galerie, auf welcher die Manuskripte in ebenfalls mittels Metall- gittern verschlossenen Regalen ruhten. Darunter, links im Bild, können geschlossene Kästen ausgemacht werden, die mit Wappen geschmückt

667 Delices 1712, zwischen S. 150 und S. 151.

183 Abb. 2.33 waren und die Legate vo Scaliger, Vulcanius und Warner sowie andere Das eingebaute zweiseitige Spezialsammlungen verwahrten. Regal inmitten der Biblio- thek. Zustand 1712. Zwei Kustoden werden benötigt (aus: [ohne Autor], Les de- lices de Leide […], Leiden Die Einräumarbeiten dauerten lange, doch am 13. April 1695 konnte die (Peter van der Aa) 1712, zwi- Bibliothek endlich wieder für alle Studenten geöffnet werden.668 Die Bi- schen S. 150 und S. 151.) bliothek war wie zuvor jeweils am Mittwoch und Samstag von zwei bis (Scan aus: Berkvens-Steve- vier Uhr nachmittags geöffnet.669 Explizit erklärte das Kuratorium, beide linck 2012, S. 106.) Kustoden, die ebenfalls bei den Einräumarbeiten geholfen hatten,670 sol-

668 AC1.28, (13. April 1695), f. 261v–262r; laut Berkvens-Stevelinck bereits 1693, was aber nicht den Quellen entspricht. 669 Bronnen IV, (12. Febr. 1709), S. 117*–120*. 670 AC1.28, (8. Nov. 1695), f. 269r–269v.

184 Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der ZwischengeschossKeller Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

len von nun an anwesend sein, um „ten eynde op alles mogten naauw Abb. 2.34 reguard nemen, & vigilieren dat aldaer geen disorderes met scheuren van Rekonstruktionszeich- Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage nung der Bibliothek mit 671 boeken ofte andersints werden gepleegt.“ eingebautem Zentralregal. Schon vor der Eröffnung der Bibliothek machte sich das Kuratorium Die Zone des Bibliothekar lag von nun an mitten im Überlegungen zum Amt des Unterbibliothekars. Zunächst suchte es nach Raum, diejenige der Le- einem neuen Kustoden. Durch den Tod Jacob Voorns, vormals Kustode ser entlang der Fenster. Die Wandregale mussten des- der Anatomie und der Bibliothek – seit dem 7. Aug. 1682 waren beide Äm- halb geschlossen werden. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ter an nur eine Person vergebenZENTRALREGAL –, musste das Amt neu besetzt werden. Die Kuratoren erkannten, dass sich durch den Einbau des zentralen Re- (Planzeichnung des Autors Englische Kirche ab 1644 nach den Zeichnungen und gals die Aufgaben des Unterbibliothekars vermehrten. Die Zusammen- Angaben in: Witkam DZ; legung beider Ämter war nicht mehr möglich, weswegen sie getrennt Gogelein 1973.)

671 AC1.28, (13. April 1695), f. 261v–262r, hier f. 262r.

185

Keller

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644 wurden. Gerrit Blancke wurde als Kustode der Anatomie zu einem Lohn von 200 Gulden im Jahr angestellt. Für das Amt des Unterbibliothekars bewarben sich mehrere Leute. Die Wahl fiel indes einfach aus, denn es wurde beschlossen Jan Voorn, den Sohn des Verstorbenen, zu engagie- ren. Dieser kannte den Arbeitsplatz seines Vaters bestens, vertrat er die- sen doch während seiner Krankheit. Auch er erhielt jährlich 200 Gulden ausbezahlt.672 Doch innerhalb der nächsten vier Monate wurde man sich eines Pro- blems bewusst. Da das zentrale Regal den Raum unterteilte, war es un- möglich, dass eine Person beide Raumhälften gleichzeitig im Blick haben konnte. Die künftigen Besucher würden sich einer ständigen Kontrolle entziehen können, weswegen ein weiterer Überwacher angeworben wer- den musste, „om aldus te praevenieren het scheuren van bladeren, ende andere insolentien, by de Studenten in’t schenden selfs van eenige van- de considerabelste Boecken, nu eenige jaren herwaerts gepleeght“.673 Der Schock der durch Thysius wenige Jahrzehnte zuvor aufgefundenen und zerstörten Bücher war also nicht vergessen. Als zweiter Überwacher der Leser wurde Johannes Verbessel zu einem Lohn von gleichfalls 200 Gul- den engagiert. Um sicherzustellen, dass tatsächlich auch immer beide Überwacher anwesend waren, wurde ein zusätzliches Schloss in die Bibliothekstüre eingebaut und den beiden Kustoden verschiedene Schlüssel ausgehän- digt. Sie mussten somit jeweils zu zweit die Bibliothek auf- und zuschlie- ssen. Zudem erhielten sie beide das Recht, der Bibliothek Bücher zu ver- kaufen und Werke gegen Bezahlung einzubinden, denn beide Kustoden waren hauptberuflich Buchhändler – es wurden somit wiederum Perso- nen gewählt, die den Umgang mit Büchern aus eigener Erfahrung kannten und sich deshalb für die Herausgabe und das Einordnen der angefragten oder retournierten Titel eigneten.674 Der Einkauf der Bücher von Vossi- us und der resultierende Einbau des zentralen Regals führten also auch zu deutlich höheren Kosten im Unterhalt der Büchersammlung. Waren zuvor die Ämter des Bibliotheks- und Anatomie-Kustoden zusammenge- legt, bedurfte es nun insgesamt dreier Personen, was die Lohnzahlungen von 200 Gulden auf 600 Gulden im Jahr verdreifachte.675

672 AC1.28, (26. April 1692), f. 187r–188r. 673 AC1.28, (14. Aug. 1692), f. 198v–199r, hier f. 198v. 674 AC1.28, (14. Aug. 1692), f. 198v–199r; beides fand statt, siehe: AC1.29, (8. Febr. 1701), f. 236; AC1.29, (1. Febr. 1704), f. 339. 675 Die Lohnzahlung betrug zuvor für beide Ämter 200 Gulden im Jahr, siehe dazu den Beschluss vom 17. Mai 1682; siehe dazu: AC1.44, Buch vom 27. Sept. 1696, S. 81; zudem: Bronnen IV, (27. April 1699), Bijl. No. 936, S. 71*–74*.

186 Die Bestückung des Regals und der Katalog von 1716

Die Eingliederung der Vossiana dauerte auch aufgrund des Rechtsstreits sehr lange und es mussten noch einige Jahre verstreichen, bis ein aktu- eller Katalog der Bibliothek gedruckt wurde. Über den Sinn und Zweck dieses Katalogs entstand ein Streit. Erst 1716 kam ein neuer Katalog der Bibliothek heraus, der von allen Möglichkeiten eines papierenen Kata- logs Gebrauch machte. Im folgenden soll dieser besprochen, seine inne- re Ordnung erklärt, die räumliche Ordnung der Bücher diskutiert, sowie aufgezeigt werden, wie sich die Hierarchie des Wissens wandelte.

Einordnen der Bücher Während der Einbauarbeiten des neuen Regals lagen die gekauften Bü- cher offen in der Bibliothek. Das Kuratorium berief zum Schutze der ordentlich ausgebreiteten Bände keinen geringeren als Herman Boer- haave (1668–1738), der kurz zuvor promovierte und später einer der be- deutendsten Wissenschaftler der Niederlande wurde. Zudem wählte man ihn 1709 zum Präfekten des botanischen Gartens.676 Er überwachte wäh- rend der Bauarbeiten zusammen mit dem Sohn des Kustoden die Biblio- thek.677 Der Einbau ging schnell von statten und nur einen Monat später, im November 1691, war der Bibliothekar mit seinen Helfern bereits damit beschäftigt, die Bücher „in haer faculteyt“ ins neue Regal einzuräumen. Aufgrund der herrschenden Kälte wurden ihnen erlaubt, Kessel mit glü- henden Kohlen in die Bibliothek zu schaffen, um den Abschluss der Ar- beit nicht zu verzögern – es dauerte aber noch Jahre, bis eine definitive Ordnung der Bücher errichtet war.678 Da durch den Einkauf einer ganzen Bibliothek nun zwangsläufig verschiedene Werke doppelt in der Bibliothek vorhanden waren, wurde beschlossen, jene Dubletten mit den grössten Makeln auszuscheiden und in einer öffentlichen Auktion zu verkaufen. Auch hier unterstützten Boer- haave sowie die beiden Kustoden den Bibliothekar.679 Beim Einräumen der Bücher half zudem ein Religionsflüchtling aus Frankreich, ein gewis- ser Casimir Oudyn.680 Aufgrund des anhaltenden Rechtsstreits aber wur- den die doppelten Werke erst viel später tatsächlich veräussert, denn erst 1707 wurden unvollständige oder anderweitig beschädigte Bücher durch

676 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 6, Sp. 127–141; zudem: Knoeff 2002. 677 AC1.28, (18. Okt. 1691), f. 168v–169r. 678 AC1.28, (23. Nov. 1691), f. 172v; Bronnen IV, (23. Nov. 1691), S. 96. 679 AC1.28, (14. Aug. 1692), f. 199r; Boerhaave erhielt einen Lohn von 200 Gulden, siehe: Bronnen IV, (3. Nov. 1692), S. 107. 680 AC1.28, (18. Sept. 1692), f. 199v.

187 Pieter van der Aa verkauft,681 was 1750 Gulden einbrachte.682 Doch gingen die Einräumarbeiten nur sehr langsam von statten und die Bibliothek blieb über Jahre geschlossen. Die Studenten beklag- ten sich denn auch, dass dies ihre Ausbildung behindere. Das Kuratori- um beschloss daraufhin, Spanheim solle so rasch wie möglich die Bib- liothek wieder wie vormals öffnen. Im Mai 1693 wurde ausgemacht, um den Abschluss der Einräumarbeiten zu beschleunigen, dass Spanheim die Bücher von Vossius mit einem „V“ kennzeichnen und einfach unter die bereits vorhandenen einreihen sollte;683 auch dies erfolgte wohl erst nach 1705, als der Rechtstreit geklärt werden konnte und die Vossianische Bibliothek definitiv in Leiden verblieb. Die Überprüfung der Manuskripte und Bücher dauerte über ein Jahr, wobei neben Spanheim auch Gronovius, Triglandius und der Sekretär Van den Bergh beschäftigt wurden. Die Studenten beklagten wiederholt, dass die Bibliothek geschlossen war. Spanheim wollte also die Bibliothek so schnell wie möglich in Ordnung bringen und wiedereröffnen. Er fragte das Kuratorium, nach welchen Ordnungskriterien die Bücher und Manu- skripte verteilt werden sollten. Die Antwort kam am 8. Dezember 1694. Es wurde beschlossen, alle Bücher der Vossianischen Bibliothek in nur einer Seite des zentralen Regals zu lagern. Die Manuskripte sollten in- des nicht umdisponiert werden und in ihrem Schrank verbleiben. Ferner sollten alle ausgeschiedenen Bücher und Doubletten gesondert gelagert werden – wohl bis zur Beendigung des Rechtstreits und ihrer anschlie- ssenden Veräusserung. Die restlichen Bücher sollten nach den Fakultäten verteilt werden, wobei dem ausgearbeiteten Konzept des Bibliothekar ge- folgt werden soll.684 Casimir Oudyn und die beiden Kustoden unterstütz- ten ihn und erhielten eine Entlöhnung.685 Somit scheint die erworbene Büchersammlung 1694 zunächst in nur einer Seite des Regals unterge- bracht gewesen zu sein. Vermutlich war rasches Handeln gefordert, da die Studenten beklagten, die Bibliothek sei noch immer geschlossen. Zu- dem hinderte der Rechtstreit mit den Erben Vossius’ die endgültige Ein- ordnung der neuen Bücher in den Bestand. Die Lagerung der gesamten Bibliothek in einer Regalseite stellte somit die einfachste Lösung der bei- den Probleme dar. Doch schon bald wurde sie zerstückelt und mit dem Bestand der Leidener Bibliothek vermischt und die Bücher mittels eines Exlibris als aus dem Legat Vossius stammend gekennzeichnet (Abb. 5.18).

681 AC1.29, (8. Febr. 1706), f. 407–408; AC1.29, (29. Mai 1706), f. 417; AC1.29, (12. Jan. 1706), f. 425. 682 AC1.29, (1. Febr. 1707), f. 432; danach kamen nochmals 210 Gulden hinzu, siehe: Bronnen IV, (8. Nov. 1707), S. 233. 683 Bronnen IV, (26. Mai 1693), S. 113. 684 Zur Ordnung, siehe auch: AC1.28, (15. Nov. 1694), f. 240v. 685 Bronnen IV, (8. Dez. 1694), S. 123–124.

188 Die Büchersammlung wurd so aus ihrem Sinnnzusammenhang gerissen und in die Bestände der Leidener Bibliothek intergriert.

Der lange Weg zum gedruckten Katalog Der Katalog von 1674 war durch den Ankauf der Vossianischen Bibliothek im Jahre 1690 natürlich auf einen Schlag veraltet, da der Buchbestand sich annähernd verdoppelte.686 Doch wollte man mit dem Druck eines neuen Katalogs noch abwarten, bis der Rechtsstreit entschieden war, was 1705 geschah.687 Der Auftrag zum Druck eines neuen Katalogs gab das Kurato- rium im Mai dieses Jahres an Spanheims Nachfolger Wolferdus Senguer- dius (1646–1727), der zunächst für drei Jahre angestellt wurde und 200 Gulden im Jahr erhielt.688 Als eine erste Amtshandlung musste auch er bei den Erben seines Vorgängers Manuskripte anfordern, die letzterer nach Hause nahm, aber nie retourniert hatten.689 Als Vorbilder für den neuen Katalog wurden diejenigen der Univer- sitäten von Oxford und Cambridge bestimmt, zudem sollte er im Folio- format erscheinen. Gedruckt sollte der Katalog bei einem Leidener Buch- händler werden.690 Nach Berkvens-Stevelinck waren die Kataloge der englischen Universitäten Referenzkataloge und weit verbreitet und stell- ten gewissermassen eine papierene Universalbibliothek dar, die mit eige- nen Büchersammlungen verglichen werden konnten, um fehlende oder neue Drucke ausfindig zu machen. Das Kuratorium hatte somit zum Ziel, diesem Beispiel zu folgen, den Katalog ihrer Bibliothek zu einer neuen Referenz zu erklären und der Universität somit zu Ruhm und Ehre zu ver- helfen. Auch für Buchdrucker war diese Aufgabe interessant. Pieter van der Aa erklärte sich im Juni 1705 dazu bereit, den Katalog auf seine Kos- ten zu drucken. Freie Belegexemplare sollten der Universität überbracht werden. Den Inhalt sollten Senguerdius und Gronovius erstellen.691 Jan Voorn, der Unterbibliothekar, half ebenfalls mit.692 Senguerdius erhielt wohl zwecks Erstellung des Katalogs auch die Inventare der erworbenen Büchersammlung, die zuvor der Sekretär Van der Bergh verwahrte.693 Da die gekaufte Bibliothek ja unvollständig war, benötigten sie auch die Liste

686 1674 besass die Bibliothek 5429 Titel, 1690 deren 9413, siehe: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 105. 687 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 117. 688 Zu seiner Berufung, siehe: AC1.29, (8. Aug. 1701), f. 248; AC1.29, (22. Aug. 1701), f. 252. 689 Bronnen IV, (1. Feb. 1701), S. 191; noch Jahre später waren Werke ausstehend, siehe: AC1.29, (8. No. 1706), f. 422–423; AC1.29, (12. Januar 1706), f. 425. 690 Bronnen IV, (23. Mai 1705), S. 219–220. 691 Bronnen IV, (17. Juni 1705), S. 220; Bronnen IV, (8. Nov. 1707), S. 233. 692 Er erhielt dafür eine Summe von 100 Gulden, siehe: AC1.29, (8. Aug. 1709), f. 521. 693 Neben diesem Inventar auch mehrere Bücher und den Schlüssel eines Schranks, siehe: Bronnen IV, (22. Jan. 1705), Bijl. no. 957, S. 103*–104*.

189 der fehlenden Werke, die ihnen ebenfalls an die Hand gegeben wurde.694 Im November 1707 war der Entwurf des Katalogs schon weit fortge- schritten. Doch wollte nun Pieter van der Aa, der Buchdrucker, bei der Gestaltung des Katalogs mitreden und über dessen Format und Gliede- rung bestimmen können, was die Kuratoren unterstützten.695 Sie hatten wohl eindeutig einen erfolgreichen Verkauf des Katalogs im Visier. Der neue Katalog sollte also nach den Ideen des Verlegers erstellt werden. Van der Aa hatte dabei ein anderes Ziel als Senguerdius und Gronovius, die einen Katalog für die tägliche Arbeit innerhalb der Bibliothek vor Augen hatten, weswegen ein Streit entbrannte. Senguerdius und Gronovius wei- gerten sich, von ihrem Entwurf abzulassen. Wohl um den Verleger um- zustimmen, erwähnte Senguerdius die Möglichkeit, ihren entworfenen Katalog ins Niederländische zu übertragen,696 was sicherlich Geld einge- brächt hätte, aber nie geschah. Das Kuratorium versuchte mit Geld die Professoren zu bekehren und für eine Neuordnung des Katalogs gewin- nen zu können. Falls dies nicht gehe, sollte Van der Aa die Aufgabe an Joannes Faius übertragen, so das Kuratorium.697 Für viele Jahre blieb der Druck daraufhin brachliegen. Berkvens-Stevelinck geht davon aus, dass Senguerdius und Gronovius nicht mehr für die Erstellung des Katalogs arbeiteten.698 Aus den Akten geht aber hervor, dass Senguerdius noch 1711 damit zu tun hatte – was aber auch seiner Rolle als Präfekt der Bibliothek geschuldet sein kann.699 Und auch im Titel des Katalogs werden er und Gronovius erwähnt. Weiteres Personal zur Erstellung des Katalogs wur- de gefunden, nämlich Professor Johannes Heyman (1667–1737)700 und Carolus Schaeff. Heyman war als sprachbegabter Orientalist für die ara- bischen und anderen fremdsprachigen Manuskripte zuständig, wofür er einen Schlüssel der Schränke erhielt.701 Er wurde in erster Linie angestellt, um die orientalischen Manuskripte ins Lateinische zu übersetzen und ge- druckt zu publizieren.702 Schaeff seinerseits war für die hebräischen Ma- nuskripte zuständig.703

Arbeitskataloge Wie Senguerdius und Gronovius die Bücher organisieren wollten, ist in-

694 AC1.29, (1. Febr. 1706), f. 405. 695 Bronnen IV, (8. Nov, 1707), S. 233. 696 AC1.29, (7. Dez. 1707), f. 464–465. 697 Bronnen IV, (15. April 1710), S. 247–248. 698 Siehe zu diesem Streit und zum Katalog: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 117–119. 699 Bronnen IV, (7. Nov. 1711), S. 254–255. 700 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 9, Sp. 361–362. 701 Bronnen IV, (19. März 1711), S. 253; Bronnen IV, (7. Nov. 1711), S. 254–255. 702 Bronnen IV, (12. Jan. 1707), S. 226. 703 Bronnen IV, (7. Nov. 1711), S. 254.

190 des unklar. Sie benutzten für die Ausarbeitung ihres neuen Katalogs ein Exemplar desjenigen von 1674. Ihre Eintragungen – vermutlich von neuen Signaturen der Bücher – machten sie handschriftlich neben die gedruck- ten Titel der Bücher. Aufgeschlüsselt waren die Signaturen mit jeweils ei- nem von zwei Buchstaben, der vielleicht die Regalseite deklarierte, sowie mit einem griechischen Buchstaben und einer spezifischen Buchnum- mer. Die Systematik dieser Signaturen konnte aber nicht ausgemacht werden. Scheinbar wurden die Bücher weder thematisch, noch alphabe- tisch nach Autorennamen, noch aufgrund ihrer Grösse sortiert. Nach dem Verkauf der doppelten Bücher und vermutlich auch erst nach der Kritik des Buchhändlers wurden weitere Signaturen neben die Titel geschrieben, die aus einfachen Nummern bestehen. Es sind diejeni- gen Nummern, die auch im Katalog von 1716 neben den Titeln stehen. In BAR.C10 hat sich zudem eine Liste erhalten, die diese neuen Nummern verzeichnet und auf die Seitenzahlen des Katalogs von 1674 verweist, wo die Werke aufgeführt waren. Zudem wurden dort die Werke erwähnt und verzeichnet, die aus der Vossianischen Bibliothek überführt wurden und ebenfalls eine neue Nummer erhielten, also spätestens damals unter die zuvor vorhandenen Bücher eingereiht worden waren. Auch betreffend dieser Nummern konnte keine Systematik der Aufstellung ausgemacht werden. So erhielt Bauhins Historia Plantarum die Nummer 7, gefolgt von Vesalius’ Epitome, das vor Clusius’ Rariorum plantarum aufgelistet wird. Vesalius’ De humani coporis fabrica aber, das eigentlich neben dem Epi- tome zu stehen kommen müsste, erhielt die Nummer 15. Ähnliche nicht nachvollziehbare Reihen können gefunden werden. Teilweise blieben die Werke desselben Autors und Inhalts aber in einer Reihe bestehen, bei- spielsweise Gesners Tierbücher mit den Nummern 4–6. Wie die erwähn- ten Werke zeigen, folgte die Vergabe der Nummern weder dem Thema, noch den Autorennamen, noch den Titel.704 Die Signaturen berücksichtigten jedoch die Fakultäten der Bücher sowie ihre Grösse. Denn wiederum war es entscheidend, das zentrale Regal so platzsparend wie möglich zu bestücken. Auch dort wurden die Bücher deshalb auf vermutlich unterschiedlich hohen Regalflächen ver- teilt. Im Katalog von 1716 ist deshalb neben der eigentlichen Signatur (bsp. Med. 7) jeweils auch die Grösse verzeichnet, da die Signaturen für jede Formatgrösse zur Anwendung kamen und somit mehrmals vorhanden waren.705 Senguerdius erklärte dem Kuratorium 1709, dass das Reglement der Bibliothek von 1683 mittlerweile völlig veraltet sei und ein neues erstellt

704 Möglicherweise spielte hier die Buchgrösse eine Rolle, was aber nicht überprüft werden konnte. 705 Siehe dazu BAR.C10.

191 werden müsse.706 Nicht einmal eine Woche später lag es bereits vor und das Kuratorium beschloss, es anzunehmen und 200 Exemplare davon zu drucken.707 Es gleicht weitgehend demjenigen von 1683.708 Noch immer konnten die Professoren Bücher für drei Monate ausleihen und noch immer musste der Bibliothekar alle Bucheinkäufe dem Kuratorium mit- teilen. Die Bibliothek war auch weiterhin am Mittwoch und Samstag für zwei Stunden „ten gebruyke van alle persoonen van studie“ geöffnet. Zu dieser Zeit – dies war eine Neuerung im aktuellen Reglement – sollten die beiden Kustoden der Bibliothek anwesend sein, um die Leser zu überwa- chen, worauf sie einen Eid zu leisten hatten.709

Der Katalog von 1716 Im August 1712 erklärte der Verleger Van der Aa, der Katalog sei schon weit gediehen und könne wohl bis zum Mai des nächsten Jahres gedruckt wer- den. In der etwa zur gleichen Zeit bei ihm herausgegebenen Publikation Les delices de Leide erklärte der unbekannte Autor bereits zum Katalog der Leidener Bibliothek: „P. vander Aa, Marchand Libraire de cette Ville, a tout nouvellement imprimé ce Catalogue in folio, que les Savans trouve- ront chez lui, comme aussi des autres Livres rares qu’on ne trouve pas faci- lement.“710 Die finanzeillen Interessen des Verlegers sind nicht anzuzwei- feln. Van der Aa wollte zudem als Drucker der Universität eine Anstellung erhalten, da dieser Posten durch den Tod Abraham Elzeviers (1653–1712)711 unbesetzt war.712 Das Kuratorium lehnte dies zunächst ab, doch nachdem Van der Aa die alte Druckerei des Verstorbenen kaufte und den Katalog herausgab, erhielt er den gewünschten Posten.713 Der Katalog erschien am 8. Mai 1716 „na 8 jaren arbeid“ endlich im Druck. Der neue Drucker der Universität brachte dem Kuratorium einige Exemplare und erhielt ein Prämie von 200 Gulden.714 Der Titel des neuen Katalogs lautet Catalogus librorum tam impressorum quam manuscriptorum Bibliothecae Publicae Universitatis Lugduno-Batavae und verzeichnet Senguerdius, Gronovius und Heyman als Herausgeber. Die Spekulation des Buchdruckers Van der Aa ging jedoch nicht auf, denn 1735 wurden 425 nicht verkaufte Exempla-

706 C1.29, (12. Febr. 1709), f. 495–496. 707 Bronnen IV, (18. Febr. 1709), S. 242; das Reglement in: Bronnen IV, (12. Febr. 1709), S. 117*–120*. 708 Bronnen IV, (31. Mai 1683), S. 7*–9*. 709 Bronnen IV, (18. Febr. 1709), S. 117*–120*. 710 Delices 1712, S. 150. 711 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 9, Sp. 232–233. 712 Bronnen IV, (8. Aug. 1712), S. 260. 713 Siehe dazu: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 119; Bronnen IV, (8. Febr. 1713), S. 266–267; Bronne IV, (8. Mai 1715), S. 278. 714 Bronnen IV, (8. Mai 1716), S. 286.

192 rezum Preis von nur zwei Gulden verramscht.715 Die neue Einrichtung der Bibliothek wird aus dem Katalog nicht er- sichtlich. Denn die räumliche und katalogische Ordnung der Bücher wa- ren völlig voneinander getrennt. Dem Streit um die Gliederung des Ka- talogs lagen zwei unterschiedliche Auffassungen zugrunde. Senguerdius und Gronovius beabsichtigten, einen praktischen Bibliothekskatalog zu erstellen, der primär bei der täglichen Arbeit in der Bibliothek von Nutzen sein sollte. Van der Aa und das Kuratorium hingegen wollten, analog zu den Katalogen der Universitäten von Cambridge und Oxford, eine neue Referenz gedruckter Werke für die respublica litteraria erstellen.716 Nach der Einteilung von Ilse Schunke darf gesagt werden, dass der Bibliothekar einen Katalog aufgrund eines „bibliothekarischen Systems“ wollte, der das rasche und einfache Auffinden der gesuchten Literatur ermöglichte und die Räumlichkeiten der Bibliothek berücksichtigte. Der Drucker aber beabsichtige wohl eher die Erstellung eines Katalogs aufgrund des „wis- senschaftlichen Systems“, das allen Gelehrten der Zeit von Nutzen sein sollte und deswegen auch gut verkauft werden konnte. Der gedruckte Ka- talog der Leidener Universität stand deswegen in der Tradition von pa- pierenen Idealbibliotheken, die keine Rücksicht auf Räumlichkeiten neh- men mussten. Da er aber von einem tatsächlichen Bestand ausging, war er dennoch auch der Katalog einer tatsächlich existierenden Bibliothek, die nicht über alle Titel verfügte. Der Katalog schöpft die Möglichkeiten des papierenen Katalogs voll aus. Denn da die Titel unabhängig von ihrem Standort verzeichnet wurden, konnten sie in vielfältiger und unterschiedlicher Weise katalo- gisiert werden. Die grundlegende Einteilung des Katalogs war noch im- mer durch die Fakultäten der Universität bestimmt. Doch innerhalb der einzelnen Fakultäten wurden weitere Gliederungsebenen eingefügt, die einzelne Aspekte des jeweiligen Wissenszweigs aufzeigten und die Bü- cher nach verschiedenen Kriterien ordneten. So wurden innerhalb der Medizin Bereiche wie die Chemie, die Anatomie oder die Pflanzenkunde eingefügt, das Wissen der Fakultät also in kleinere Bereiche aufgefächert. Innerhalb dieser Unterabteilungen erfolgte die Auflistung der einzelnen Werke alphabetisch nach Autorennamen. Für die Literatur aber wurde ein anderes Prinzip der Gliederung verwendet. Hier erfolgte die Feintei- lung nicht nach spezifischen Fachbereichen, sondern nach der Herkunft der Werke, nach der Geographie also. Nach kosmographischen und an- deren umfassenden Werken wurden diejenigen verschiedener Regionen aufgeführt, in alphabetischer Reihenfolge der Ländernamen. Die Werke

715 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 119. 716 Berkvens-Stevelinck 2012, S. 117–119.

193 Italiens schliesslich erfuhren nochmals eine Unterteilung, in dem die Regionen des Landes aufgeführt wurden, wiederum in alphabetischer Reihe. Lexikalische Werke wurden ebenfalls zusammen verzeichnet und bildeten eine Abteilung, die zuvor noch in keinem Leidener Katalog exis- tierte, dem Leser aber eine Hilfe auf der Suche nach einfachen Zahlen und Fakten ermöglichte. Zudem wurde als Index eine alphabetische Auf- listung aller Autoren mit Verweis auf die Seitenzahlen, wo deren Werke gefunden werden konnten, erstellt. Ein rasches Auffinden eines bereits bekannten Werks aufgrund des Autorennamens war also ebenso möglich wie die Suche nach passenden Werken zu einem bestimmten Thema. Der Katalog war dennoch sowohl ein Autoren- wie auch ein Sachkatalog – nicht aber ein Standortkatalog. Im Katalog konnten nun auch Bücher, die sich nur schwer einem einzigen Bereich zuordnen liessen, mehrmals erwähnt werden. Beispiels- weise Stobaeus Loci communes von 1581; dieses Werk erhielt die Signatur „in fol. Lit. 63“, wird aber nicht bloss innerhalb der Literatur und Geschich- te aufgeführt, sondern auch innerhalb der Bücher der Philosophie.717 Im Gegensatz zur Bibliothek, wo ein Werk immer nur einmal anwesend war und im Gegensatz zu einem Standortverzeichnis, das die räumliche Ord- nung der Bücher wiedergibt, konnte der Katalog also Werke an verschie- denen Positionen verzeichnen. Den Versuch von Thomas James, diesem Problem mittels Kreuzverweisen entgegenzuwirken, haben wir bereits besprochen. Ein weiteres Problem, dem sich Thomas James mit seinem Standortkatalog stellen musste, konnte ebenfalls leicht gelöst werden: dem Problem von mehreren Werken in einem Band. Denn die Werke ei- nes Sammelbandes wurden im Katalog von 1716 einfach mehrfach aufge- führt, wo immer sie passten.

Losgelöst vom Standort Was der Katalog jedoch nicht aufzeigte, war der Standort der Bücher. Dieser erschliesst sich dem Leser nicht. Wie bereits besprochen wurden, gaben die Ersteller des Katalogs den Büchern Signaturen aufgrund ei- ner nicht erklärbaren Logik, die aus der Nennung der Fakultät und einer Buchnummer bestanden (beispielsweise Med. 1). Diese korrespondieren nur teilweise mit der Gliederung des Katalogs. So finden sich im Fachbe- reich der Medizin Werke, die ihrer Signatur nach gar nicht zum Bereich der Medizin gehören. Beispielsweise Camerarius De re rustica, die mit der Signatur „ Phil. 120“ versehen war, aber unter der Medizin im Fachbereich der Botanik und Agrikultur aufgeführt war, nicht aber unter den Büchern

717 Senguerdius/Gronovius/Heyman 1716, S. 167 und S. 257.

194 der Philosophie.718 Die Signaturen geben dennoch einen Hinweis darauf, wie die Werke in den Regalen standen, und zwar nach den Hauptwissenszweigen ver- teilt und nach ihrer Formatgrösse geordnet. Dies wird aus dem Katalog BAR.C10 besonders deutlich, in dem den Büchern ihre neuen Signaturen zugeteilt wurden. Er listet die Werke nach Fakultäten und nach Folianten, Quart-, Oktav- bis hin zu Duodezimalformaten, wobei für jede Grösse die Nummerierung wieder von vorne beginnt. Die Signaturen waren somit mehrmals vorhanden, für jede Formatgrösse einmal. Deswegen musste im Katalog von 1716 jeweils auch die Formatgrösse angegeben werden, was aber nicht unmittelbar neben den Signaturen, sondern hinter den Buchtiteln geschah.

Leser, Katalog und Buch Wie aber kam der Leser zu einem gewünschten Werk? Seit der Aufgabe der Pulte und dem Einbau der Schranke war es den Benutzern der Bib- liothek nicht mehr möglich, frei an die Bücher zu gelangen. Sie mussten sie beim Bibliothekar oder einem Kustoden anfragen. In Les delice de Ley- de wird beschrieben, dass die Kustoden stets anwesend waren und dass sie „fournissent les Livres qu’on leur demande, & dont on voit le Cata- logue sur des balustres, qui regnent tout autour, pour qu’on ne les prenne soi-même.“719 Dem Katalog, der somit just auf der Schnittstelle zwischen Leser und Bibliothekar, nämlich auf der Balustrade, auflag, kam wieder- um eine Schlüsselrolle zu. Die Leser suchten im Katalog nach einem ge- wünschten Werk, erbaten dieses beim Bibliothekar und erhielten es kurz daraufhin ausgehändigt. Somit reichte es vollkommen aus, wenn die Ordnung der Bücher nur dem Bibliothekar und seinen Kustoden ersichtlich und verständlich war. Dieser berücksichtigte neben der eigentlichen Signatur auch die For- matgrösse, die im Katalog ebenfalls verzeichnet wurde, wenn auch nicht unmittelbar neben der Signatur. Dem Leser waren somit die Standorte der Bücher nicht ersichtlich, was vermutlich nicht zufällig geschah. Denn nicht nur die Balustrade schützte die Bücher vor Diebstahl: Wenn sie nicht ausfindig gemacht werden konnten, waren sie auch sicher vor die- bischen Händen. Friedrich Christian Feustking erklärte entsprechend in seiner Neu-eröfnete Bibliothec von 1702, dass die Buchrücken nur mittels einfachen Nummern versehen werden sollten, nicht aber mit den Buch- titeln, damit nur der Bibliothekar den tatsächlichen Standort eines Werks kannte, nicht aber der Leser.720

718 Senguerdius/Gronovius/Heyman 1716, S. 131. 719 Delices 1712, S. 150. 720 Siehe dazu: Schusky 1979, S. 130.

195 Hierarchie des Wissens 1716 Im Sinne eines neuen Referenzkatalogs gibt bereits das Inhaltsverzeich- nis eine Reihenfolge des Wissens an, wie es 1716 als gültig erachtet wurde. Noch immer steht die Theologie am Anfang, gefolgt von der Jurisprudenz und der Medizin. Im Anschluss daran die Philosophie, die Mathematik, die Geschichte zusammen mit der Literatur, dann eine Sektion zu Schrif- ten aus Italien und lexikalische Werke. Danach sind die Spezialsammlun- gen aufgeführt, Handschriften und gedruckte Werke, die in orientalischen Sprachen verfasst wurden und häufig aus Nachlässen standen. Innerhalb der einzelnen Fachbereiche wurde dieses weiter auf- geschlüsselt. So machte in der Theologie die Bibel den Anfang, die ver- schiedenen Ausgaben wurde nach Sprachen geordnet, wobei die mehr- sprachigen Ausgaben den Anfang machten und gefolgt wurden von denjenigen in Hebräisch, Griechisch und Latein, um schliesslich bei den vernakulären Sprachen anzukommen. Somit galt noch immer die Idee ei- nes ursprünglichen Texts, der zu Beginn in einer Urfassung geschrieben und langsam durch die Geschichte bis zur Gegenwart in immer anderen Sprachen verfasst wurde. Im Fachbereich der Medizin findet man die neusten Zweige der Wissenschaften vertreten. Gleich zu Beginn steht die noch junge Che- mie, gefolgt von der Anatomie und der Pflanzenkunde, die ebenfalls als eigenständige Disziplin erkannt und erfasst wurde, aber weiterhin dem Fachbereich Medizin zugeordnet war. Pflanzenkunde wurde somit auch 1716 noch als Teilgebiet der Heilkunde verstanden, war aber im Begriff, sich als eigenständige Disziplin davon zu emanzipieren. Die Kunde der Mineralien und Tieren hat dies bereits vollzogen, weswegen sie unter der Philosophie aufgeführt werden. Die Leidener Universität besass neben den Büchern auch Naturaliensammlungen, die just diese Objekte beher- bergten, nämlich Mineralien, Pflanzen und Tiere. Wie noch besprochen wird, wurden sie in den ersten Jahren des botanischen Gartens als zusam- mengehörige Einheit verstanden und in räumlicher Nachbarschaft gela- gert. Zudem gehörten sie alle zum Fachbereich der Medizin. Bereits das Inhaltsverzeichnis und die Gliederung des Katalogs von 1716 weist hier auf einen grundlegenden Wandel der Wissenschaften hin, wo neue For- schungsgebiete und Disziplinen abgesteckt und definiert wurden. Dass die Mathematik neu an höherer Stelle aufgeführt wurde, als bei- spielsweise die Geschichte und die Literatur, zeigt einen weiteren Wandel an. Im Zuge des Cartesianismus wurde die Mathematik als Grundlage der Forschung verstanden. Auch die Verwendung von Instrumenten – deren Traktate ebenfalls unter Mathematik aufgeführt werden – wurde zuse- hends wichtig für die empirische Erforschung der Natur. Wohl aus diesem

196 Grund wurde der Mathematik, die zuvor innerhalb des Quadriviums ganz unten in der Wissenshierarchie stand, ein Platz gleich hinter der Philoso- phie zugewiesen. Sie verdrängte dabei die Geschichte und die Literatur in die hinteren Ränge. Die Hauptzweige des Humanismus wurden im 17. Jahrhundert also abgewertet, die Literatur nicht mehr als Grundlage des Wissens angese- hen. Auch die antiken Autoren fielen langsam von ihrem Thron. Sichtbar wurde dies in der sogenannten „Querelle des Anciens et des Modernes“, eine Debatte, die um 1700 die Frage nach der Vorbildfunktion der antiken Überlieferung stellte. Die Frage nach der Geschichte stand natürlich seit jeher im Raum, doch entbrannte um 1700 eine regelrechte Debatte dar- um. Die Methode der direkten Betrachtung der Natur mit den resultie- renden neu gewonnenen Erkenntnissen sollte „nun auch für den ganzen Bereich der Kultur geltend gemacht werden.“721 Das Vertrauen in die alten Autoren war somit nicht zuletzt durch die empirische Erforschung der Natur und die daraus gewonnen neuen Erkenntnisse ins Wanken geraten.

Frontispiz Im Frontispiz des Katalogs wird dieser Wandel des Wissens ebenfalls er- sichtlich (Abb. 2.35). Die dort dargestellte Bibliothek war nicht mehr der Ort, wo nur das Wissen der Alten verwahrt und zugänglich gemacht wur- de, sondern auch die neusten Erkenntnisse der empirischen Wissenschaf- ten bereitlagen. Wurde im Nomenclator noch das Bild eines Urprungs- gedanken durch die verschiedenen Buchstaben evoziert, so wurden im Frontispiz des Katalogs von 1716 die aktuellsten Räume der empirischen Forschung in die Bibliothek überführt und in Szene gesetzt. Dargestellt ist ein wahrer Tempel des Wissens, der nichts mit dem realen Bibliotheksbau in Leiden zu tun hat, was auch durch den aufge- zogenen Vorhang gezeigt wird, der die Szene als theatrale Inszenierung erkennbar macht.722 Auf einem hohen Piedestal steht Pallas Athene, resp. Minerva, mitten im Raum. Die Inschrift auf ihrem Postament besagt, es handle sich um die Bibliotheca publica der Leidener Akademie. Im Vor- dergrund sind zwei weitere allegorische Figuren dargestellt, rechts die Prudentia, links die Religio. Die Religio hält dabei ein Buch in Händen, dass eine göttliche Inspiration erfährt, während die Prudentia ihre Klug- heit dem Spiegel der Erkenntnis verdankt. Eine Säulenreihe trennt den zentralen Innenbereich mit den allego- rischen Figuren vom Bibliotheksraum. Die Säulen sind mit Portraits ver- sehen, wobei Namenstafeln zeigen, dass es sich um Gelehrte und Assozi-

721 Zum Thema: Jauss 1971, Zitat Sp. 413. 722 Das Frontispiz folgt hier einem festen Bildtypus, siehe: Felfe 2003.

197 Abb. 2.35 Titelblatt des Katalogs von 1716. Gezeigt wird eine Bib- liothek, die als Ruhmeshal- le der Leidener Gelehrsam- keit in Szene gesetzt wird und die auf weiteren Räu- men des Wissens gründet.

(Wolferdus Senguerdius, Jacobus Gronovius, Johan- nes Heyman, Catalogus librorum tam impressorum quam manuscriptorum Bi- bliothecae Publicae Univer- sitatis Lugduno-Batavae, Leiden (sumptibus Petri vander Aa) 1716, Fronti- spiz.)

(Fotografie des Autors.)

ierte der Leidener Universität handelt; Prinz Wilhelm von Oranien erfuhr unterhalb der Schutzgöttin der Universität in einem grösseren Bildnis eine besondere Stellung. Die Leidener Bibliothek besass ja tatsächlich Portraits ihrer Professoren und Gönner und verwandelten, wie auch im gezeigten Frontispiz, die Bibliothek in eine Ruhmeshalle, wo die aufge- zeichneten Gedanken der Gelehrten verwahrt wurden und durch den Le- ser zu neuem Leben erweckt wurden.

198 Der eigentliche Bibliotheksraum bildet den Hintergrund hinter all diesen allegorischen und symbolischen Zeichen. Er ist mit äusserst ho- hen Wandregalen bestückt. Mittels Durchgängen in angrenzende Räume und durch ein angedeutetes Obergeschoss wird die Grenzenlosigkeit der Sammlung suggeriert. Besucher bestaunen die Regale oder lassen sich Bücher daraus reichen. Es wird gelesen, gewandelt und diskutiert. Der als Zentralbau ausgebildete Raum der Bibliothek steht auf ei- nem Sockel, dessen bildlicher Schmuck auf die neuen Forschungsräu- me der Universität hinweist, nämlich auf das chemische Laboratorium, das anatomische Theater, die Sternwarte und ein mit Sammlungsmöbeln versehener Kabinettsraum, vermutlich eine Apotheke. Das Wissen der Bi- bliothek steht gewissermassen auf diesem Fundament der empirischen Forschung. Sie trägt die Früchte der in diesen Räumen geleisteten For- schung und gibt die gewonnenen Erkenntnisse an kommende Generatio- nen weiter. Die dargestellten Räume wurden in Leiden tatsächlich schon früh in baulicher Form konkretisiert, wie die folgenden Kapiteln zeigen werden. In den äussersten beiden Feldern finden wir Symbole von Musik und Krieg, von arte et marte also, eine Idee, die ebenfalls in Leiden in Bau- ten veortet werden konnte, wie im Folgenden besprochen werden soll.

199

Teil 3 Arte et Marte: Die Fechtschule und die Niederdeutsche Mathematik

Neben Bildern der Bibliothek, des botanischen Gartens und des anatomi- schen Theaters umfasste die Serie der Kupferstiche von 1610 noch einen weiteren Raum der Universität Leiden, nämlich eine Fechtschule, die un- terhalb der Bibliothek eingerichtet wurde. Diese war der Universität zwar angegliedert, blieb von ihr jedoch mehrheitlich unabhängig. Studenten erhielten dort bereits ab 1594 Unterricht in der Kunst des Schwertkampfs. Neben dem Raum der Fechtschule wurde ein weiteres Unterrichtslokal eingerichtet. Dort wurde die „Niederdeutsche Mathematik“ eingerichtet, die 1600 gegründet wurde und ebenfalls eine eigenständige Lehreinrich- tung blieb. In ihr wurden zukünftige Ingenieure für den Aufbau und die Sicherung der jungen Republik ausgebildet, vor allem hinsichtlich der Vermessung des Landes und des Baus von Festungen. Die Schule ergänz- te somit den Unterricht in theoretischer Mathematik mit demjenigen der geometria practica. Sie war eine der ersten – wenn nicht gar die erste – Ingenieursschule Europas und für die junge Republik, die noch immer im Unabhängigkeitskrieg war, eine absolute Notwendigkeit. Denn beide Einrichtungen dienten der militärischen Erziehung und stellten neben die Lehre der Universität die praktischen Fähigkeiten der Kriegsführung. Dies entspricht einem weiteren Ideal der Zeit, nämlich dem Zusammen- spiel von litterae et arma, oder Büchern und Waffen, respektive vonarte et marte, von Wissenschaft und Krieg, die beide erlernt werden mussten, um ein Land tugendhaft und machtvoll zu regieren.1 Der Topos arte et marte wurde denn auch zum Motto von Bibliotheken, welche als „Rüst- kammer des Geistes“ verstanden wurden.2 Die Universität ihrerseits galt als Bollwerk der Freiheit. Der Leidener Professor Bernardus Schotanus

1 Zum Thema, siehe: Brink 2000; Curtius 1948, S. 185–186; zudem: Otterspeer 2008, S. 105–109. 2 Beispielsweise für die Bürgerbibliothek in Zürich, die neben dem Zeughaus eine Se- henswürdigkeit der Stadt war, siehe: Germann 1981.

201 (1598–1652) forderte deshalb 1648 ein Sigel für die juristische Fakultät, auf dem eine Weltkugel zusammen mit einem Buch und einem Schwert abgebildet sein sollte, „betekenende dat de republyquen moeten werden geregeert ende gesterckt met wetten ende wapenen“.3 Und auch eine Ge- denkmedaille zu Ehren des ersten Bibliothekars und Staatsmanns Janus Dousa zeigt ein Buch neben einem Schwert.4 Nicht zuletzt zeigt Pallas Athena, die Schutzgöttin der Leidener Universität, einen ähnlichen Sach- verhalt auf: Sie vereinigt ebenfalls Weisheit und Stärke.

Der räumliche Zusammenschluss von Wissen und Krieg Die Bibliothek im Obergeschoss der ehemaligen Beginenkirche und die Fecht- und Ingenieursschule im Erdgeschoss standen somit nicht nur räumlich in enger Beziehung zueinander, sondern auch ideell. Der räum- liche Zusammenschluss von Sammlungen für Wissenschaft und Kunst mit solchen für die Kriegsführung war den auch ein häufig anzutreffende Konfiguration während der frühen Neuzeit. Bibliotheken wurden oftmals oberhalb von Marställen errichtet, womit sie – neben praktischen Belan- gen, wie Feuerschutz, Nutzung der Wärme oder Sicherung des wertvollen Besitzes – auch auf die genannten Ideale einer starken Herrschaft ver- wiesen. Das Modell „Stall mit Sammlung“ konnte nach Esther Münzbe- rg in ganz Europa gefunden werden. Der Dresdner Pferdestall beispiels- weise kam unterhalb einer Rüstkammer zu liegen. Beide Räume fanden zusammen mit der Kunstkammer des Kurfürsten ein grosses Publikum und wiesen einen musealen Charakter auf. Die Räume dienten somit der Repräsentation des Kunst- und Kriegsverständnis des Herrschers.5 Bibliotheken waren zudem wertvolle Besitze und wurden in der Zeit der Religionswirren aufgrund ihrer intellektueller und religiöse Sprengkraft Opfer der Kriege, von Brand und Verschleppung. Ein räumlicher Zusam- menschluss der Rüstkammer des Geistes mit derjenigen der Waffen war somit sinvoll. Friedrich Christian Feustking lobte denn auch die Lage der Bibliothek des Herzog Augusts in Wolfenbüttel, die an dem „für Feind und Feuer gesichertesten Ort über dem bewehrten Zeug-Hause auff dem Schloss-Platz“ eingerichtet war.6

3 Bronnen III, (17. Aug. 1648), S. 21. 4 Abgebildet in: Berkvens-Stevelinck 2012, S. 16. 5 Münzberg 2007. 6 Schneider 2000, S. 150.

202 Die Fechtschule

Bereits im Lehrplan von 1575 wird die körperliche Ertüchtigung antiker Studenten erwähnt und auf die Gymnasien Griechenlands eingegangen.7 Lipsius sah für die Reform des Heeres der körperliche Drill als Notwen- digkeit an. Die Fechtschule wurde 1594 durch die Privatinitiative von Lu- dolph van Ceulen gegründet. Die Stadtverwaltung gab ihm am 9. Juni 1594 ihre Erlaubnis dazu. Zuvor unterrichtete er diese Kunst bereits in Delft, doch zog es ihn vermutlich aufgrund der vielen Studenten und möglichen Klienten nach Leiden. erhielt sogar ein Monopol be- treffend dieses Unterrichts, verbot die Stadtverwaltung doch 1602 einem Konkurrenten, Fechtkurse anzubieten.8 Es handelte sich hierbei wohl um seinen früheren Assistenten und Pedell der Universität, Pieter Bailly, der entlassen wurde, da er mit Studenten „unsittliche Häuser“ besuchte.9 Die Stadtregierung bot Ludolph van Ceulen am 9. Juli 1594 kostenlos eine pas- sende Räumlichkeit an.10 Die Stadt und die Universität hatten also durchaus Interesse an sei- nem Angebot. Denn Fechten gehörte zu den Fähigkeiten, die damals vor allem beim Adel hoch im Kurs standen. Der Unterricht in Fechten und Voltigieren war fester Bestandteil der sogenannten Ritterakademien, die der Ausbildung des Adels dienten. Universitäten hingegen blieben hin- sichtlich der Vermittlung dieser Fähigkeiten zunächst im Hintertreffen.11 Leiden sicherte sich durch die kostenlose Vergabe einer Lokalität also ei- nes Angebots, das wiederum ihren Ruf mehrte. Der Begleittext zum Kup- ferstich von 1610 erklärt deshalb, die Fechtschule sei:

„[…] alles zum ende derer so sonderlich lust und liebe in der Ritter- lichen Fechtkunst sich zu uben / tragen / extruirt und auffgerichtet. Welche jetziger zeit nichts minder als vorzeiten bey Keyser / Konig / Fursten und Herrn hoch und werth gehalten wirdt.“ […] „Alhie wird beydes Adel und Onadel im Schwerdt / halber Stang / mit zwey Rappieren zugleich / im Rappier und Punger / im Rappier allein / und Foltiesiren exercirt und geubet.“

Die Universität rühmte sich also, dass sie die Künste, welche zuvor nur der Adel und andere Herren hohen Standes erlernen konnten und von diesen

7 Bronnen I, (Juni 1575), S. 39*–43*, hier S. 39*. 8 Katscher 1979, S. 103. 9 Fontaine Verwey 1978, S. 287. 10 Katscher 1979, S. 103. 11 Conrads 1982, S. 59–60.

203 hoch geschätzt wurden, allen anbot. Sie öffnete ein höfisches Bildungs- monopol einer breiteren Schicht der Gesellschaft. Tatsächlich sicherte sich die Universität auch auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle, in dem sie das Fechten zwar nicht in ihr offizielles Curriculum aufnahm, dennoch als zusätzliches Angebot ihren Studenten bereithielt. In Padua – für ein- mal nicht das Vorbild – kam es erst 1608 zur Gründung einer „nuova acca- demia di cavalieri et di cavaleresca disciplina“, die später Academia Delia genannt wurde.12 Der Kupferstich warb somit – wie im Falle des botani- schen Gartens und des anatomischen Theaters – für einen neuen Raum der Bildung, der in Leiden schon früh vorhanden war und mittels wessen sie sich eine führende Stellung in der akademischen Welt sichern konnte. Ludolph van Ceulen wollte zuerst seine Fechtschule im St. Katha- rinen-Gasthaus einrichten, doch haben ihm die Regierenden der Stadt just den Raum unterhalb der Bibliothek und neben dem anatomischen Theater zur Verfügung gestellt,13 was wohl nicht aus rein pragmatischen Gründen geschah. Denn die enge Verbindung von Bibliothek und Fecht- schule amchte auch räumlich die Enge Verbindung von litterae et arma ersichtlich. In Leiden kam es jedoch durch diese räumliche Nähe auch zu prak- tischen Problemen. 1639 beantragte der damalige Knecht der Bibliothek, Pietersz. de Vogel, die Fechtschule solle doch während der Öffnungszei- ten der Bibliothek nicht genutzt werden,14 was darauf hinweist, dass es zu Lärmemissionen kam, die fechtenden die lesenden Studenten stör- ten. Aber auch die Fechtenden wurden gestört, resultierend aus der Nut- zungsdurchmischung der ehemaligen Kirche. So klagte ein Fechtmeister über Professoren, die vor Beginn der Zergliederungen im anatomischen Theater in der angrenzenden Fechtschule umhergingen und die sich dort ertüchtigenden Studenten vertrieben.15 Denn die Fechtschule war über eine Türe mit dem Eingangsbereich des anatomischen Theaters verbun- den (Abb. 3.1).

Beschreibung der Fechtschule Der Kupferstich von 1610 zeigt, wie die Fechtschule aussah und was sich darin abspielte (Abb. 3.2). Dargestellt werden neben dem Raum und sei- ner Einrichtung auch mehrere Studenten. Die meisten von ihnen üben sich im Schwertkampf mit verschiedenen Schwertern und Degen. Auf

12 Conrads 1982, S. 61. 13 Witkam, DZII, Anmerkungen auf S. 84–85. 14 „dat op de daghen en uyren, als de selve bibliotheque is openstaende, voortaen op ’t schermschool daer onder niet gespeelt en sal moghen werden“, AC1.23, (16. Juni 1639), f. 39r. 15 AC1.23, (8. Febr. 1638), f. 6r.

204 Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der 3 gehen 2 Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass. 1

dem Boden war für die Schrittabfolge während des Kampfs eine geomet- Abb. 3.1 Zwischengeschoss Anatomie, darüberDas Erdgeschossdie Balkenlage der umge- rische Figur gezeichnet, welche jedoch durch die Fechtenden im Kupfer- bauten Beginenkirche. stich nicht beachtet wird. Doch auch das Schiessen mit dem Gewehr wird geübt sowie Fahnen geschwungen. Eine Person versucht sich gar auf ei- 1. Eingang zur Fechtschu- le, Niederdeutschen Ma- nem Pferd. Das der Künstler Woudanus die Gefahren des Unterrichts er- thematik und zum anato- kannte und Sinn für Humor hatte, zeigen das fechtende Paar unten rechts mischen Theater; 2. Fecht- schule; 3. Niederdeutsche im Bild: Der linken Person bohrt sich der Degen seines Gegners durch Mathematik. Auge und Schädel. Die genaue Verteilung der Entlang der Wände, unterhalb der nun zweigeteilten früheren Kir- Fenster des Erdgeschosses chenfenster, befanden sich Sitzbänke, auf denen die Studenten wohl ist unklar. Eingezeichnet ist während der Vorführung von Fechtübungen sassen, wie durch die zwei eine Vermutung. in ein Gespräch involvierten Personen gezeigt wird. Oberhalb der Sitz- (Planzeichnung des Autors bank waren zahlreiche Waffen aufgehängt. Die hintere Holzwand trennte nach den Zeichnungen und Angaben in: Witkam DZ; die Fechtschule vom anatomischen Theater, in welches man mittels ei- Gogelein 1973.) nes schrägen Zugangs – links im Bild ist die dazugehörige schiefe Wand ersichtlich – gelangte. Auf diesen Wänden wurden neben Wappen auch Bilder gezeigt, sowie das damalige Signet des Landes, nämlich ein einge- zäunter Garten, der von einem Löwen bewacht wird. Vorne links im Bild sehen wir zudem ein Pferd, auf dem ein Schüler sich im Voltigieren übt. Es musste sich dabei jedoch nicht um ein lebendes Tier, sondern um eine AttrapeKeller handeln, wie sie auch an anderen Universitäten gefunden werden konnten.16 Es ist anzunehmen, dass der Kupferstecher zwingend auf die Reitkunst in seinem Kupferstich verweisen wollte, die ja ebenfalls unter- richtet wurde, und deshalb auch ein Pferd in sein Bild aufnahm. Aufgrund der Transformation der Kriegsführung infolge der neuen Feuerwaffen änderte sich auch die Reitkunst zusehends, weg vom schwe- ren und gepanzerten Ritter hin zum agilen und leichtbewaffneten Reiter.

16 Beispielsweise in Altdorf, dargestellt in einem Kupferstich der Serie „Natürliche Ab- schilderung des academischen Lebens“ von Johann Georg Puschner.

205

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644 Abb. 3.2 Auch kamen neue Pferderassen und Reittechniken zur Anwendung und Kupferstich der Fechtschu- le, die unterhalb der Biblio- das Dressurreiten beim Adeln in Mode. Es wurde bald als notwendige Fer- thek zu liegen kam, 1610. tigkeit dieses Standes angesehen, gehörte also zur Etikette des Hofes. Die-

(Kupferstich von Willem se Fertigkeit wurde in Leiden ebenfalls allen angeboten. Als die beste Zeit Isaacsz. van Swanenburg zum Erlernen der Reitkunst wurden die Studienjahre angesehen, weshalb nach einer Zeichnung von Jan Cornelisz. van ’t Woudt, eine Eingliederung einer Fecht- und Reitschule in eine Universität wiede- 1610) rum sinnvoll war. Die Reitkunst wurde im Zuge dieser Entwicklung zuse- hends auch systematisiert. Neben den Fachausdrücken mussten auch die (Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- verschiedenen Schritte und Abfolgen nach einer klaren Ordnung erlernt mer: RP-P-1893-A-18091.) werden.17 Doch nicht nur das Reiten wurde verwissenschaftlicht, sindern auch die Fechtkunst.

Die Ordnung des Kampfs Auch der Schwertkampf erfuhr einen Wandel weg von einer brachialen Kriegskunst hin zu einer Kampfkunst des Adels mit fixen Regeln. Der

17 Conrads 1982, S. 40–42.

206 leichte Degen ersetzte schon bald das schwere Schwert. Das Fechten un- terlag einer strengen Abfolge von Schritten und Schlägen, die immer mehr auf mathematischen und geometrischen Mustern beruhten, wie die geo- metrische Figur im Zentrum der Leidener Fechtschule deutlich macht.18 Auf dem Boden fand man ein Quadrat, in das ein Kreis eingeschrieben wurde und mit weiteren Verbindungslinien versehen wurde. Die resultie- rende Figur bildeten die geometrische Grundlage für die Schrittabfolge. Sie wurde als „mystischer Zirkel“ bezeichnet. Shakespeare bezeichnete das Fechten aufgrund einer geometrischen Figur als „fencing by the boo- ke of arithmetic“.19 Jene Art des Fechtens spanischer Herkunft war zu jener Zeit äusserst populär. Eine Erklärung der Methodik liefert die gedruckte Académie de l‘espée. Ihr Untertitel besagt:

„ou se demonstrent par reiglés mathématiques sur le fondement d’un cercle mystérieux la theorie et pratique des vraix et iusqu‘à pré- sent incognus secrets du maniement des armes a pied et a cheval“.20

Verfasser dieser äusserst prächtigen Publikation war Girard Thibault (ca. 1574–1627), der nicht nur Fechtmeister, sondern auch in Medizin geschult war und sich als Architekt und Maler betätigte. Er stammte aus Antwer- pen, lebte aber schon bald in verschiedenen Städten der nördlichen Nie- derlande. Am 16. Februar 1622 schrieb er sich für das Studium der Mathe- matik in Leiden ein, wo zu jener Zeit Dirck van Sterbergen die Fechtschule leitete. Es wird aber angenommen, dass Girard Thibault selbst Fechtkurse in Leiden anbot. Schon vor seiner Immatrikulation hatte er Beziehungen nach Leiden und focht beispielsweise mit dem Anatom und Medizinpro- fessor Pieter Pauw.21 In Leiden fand er die Drucker seiner Académie de l’espée, nämlich Bonaventura und Abraham Elsevier, die die Druckerei der Universität unterhielten. Sein Werk ist eines der umfangreichsten Bü- cher zur Fechtkunst und zugleich eines der schönsten. Der grosse Foliant – eine Ausnahme im Werk der Elsevirischen Presse, die eher für klein- formatige Bücher bekannt war – mit vielen doppelseitigen Kupferstichen höchster Qualität zeigt zudem die drucktechnischen Fähigkeiten der Ge- brüder Elsevier. Ein Lobgedicht des Bibliothekaren Daniel Heinsius, wel- ches er anlässlich eines durch Thibault gewonnenen Turniers verfasste, ist zudem in der Publikation abgedruckt.22

18 Fontaine Verwey 1978, S. 284–285. 19 Romeo and Juliet, Act III, Scene 1, zitiert nach: Fontaine Verwey 1978, S. 289. 20 Thibault 1626; in englischer Übersetzung durch John Michael Greer: Thibault 2006. 21 Zu seiner Biographie siehe: Fontaine Verwey 1978, vor allem S. 288–297. 22 Zur Publikation: Fontaine Verwey 1978, S. 305–314.

207 Abb. 3.3 Die Publikation erklärt die Fechtkunst aufgrund des „mystischen Die Erklärung des mysti- schen Zirkels anhand der Zirkels“, welcher aus einem Kreis bestand, in welchen verschiedenene Proportionen des mensch- Quadrate ein- und umschrieben wurden und der mit zahlreichen Diago- lichen Körpers und der nalen, Tangenten und anderen Verbindungslinien bestückt wurde. Diese Länge des Degens. Figur musste zuerst auf den Grund gezeichnet werden, wozu das Schwert (Kupferstich von Johann als Zirkel benutzt werden sollte. Dieses wiederum musste in guter Pro- Gelle in: Girard Thibault, Académie de l’espée […], portion zur physischen Statur des Fechter sein, wodurch auch die resul- Leiden (Bonaventura en tierende Grösse des Zirkel mit den Massen des Fechters verhältnismäs- Abraham Elzevier /Elzeviri- ana) 1626, Tafel 1) sig übereinstimmte. Die proportionale Übereinstimmung von Schwert, Fechter und „mystischen Zirkels“, wird denn auch im ersten Kapitel seines (Donwload: Legermuseum, Delft.) Buchs erläutert. Die verschiedenen Schnittpunkte der eingezeichneten Linien und Kreise geben die Standpunkte an, die der Fechter einnehmen mussten. Solange beide Duellierende die Kreislinie nicht überschritten, konnte die Schwertspitze den Gegner nicht verletzen. Entsprechend den unterschiedlichen Fachgebiten, die Thibault erlernte – neben Fechten die Medizin, Mathematik, Malerei und Archi- tektur – war der „mystischen Zirkel“ aber weit mehr als ein blosses Hilfs- mittel zum Schwertkampf. Thibault erklärt im ersten Kapitel ausführlich und weitschweifend, dass der Mensch das vollkommenste aller Wesen sei und dass sein Körper auf die göttlichen Weisheit und auf den ganzen Kos- mos verweise, zudem auf die vier Elemente und die sieben Planeten. Der

208 menschliche Körper sei so perfekt, dass vergangene und gegenwärtige Ar- chitekten ihn als Grundlage ihres Schaffens wählen würden. Vitruv wird durch Thibault ins Feld geführt und dessen Proportionsfigur gar über ma- thematische Berechnungen mit der Arche Noah in Bezug gebracht, die neben dem Tempel Salomons ebenfalls Erwähnung findet. Auch Plinius wird zitiert, denn dieser besage wie Vitruv, dass der Mensch gleich hoch wie breit sei, strecke er seine Arme aus. Nach dieser doch etwas hochfahrenden Einleitung folgt eine prak- tische Abhandlung über die Proprtionen und Funktionen der einzelnen Körperteile beim Schwertkampf und den Bezug zum „mystischen Zirkel“,

„where the measures and proportions of man are applied to man himself, and to the movements which he makes with his own limbs, where the aforesaid proportions are found, and without which it is impossible for him to perform the least action in the world.“23

Der „mystische Zirkel“ war somit eine geometrische Abbildung der Proportionen und Glieder des menschlichen Körpers (Abb. 3.3). Dem menschlichen Körper entsprächen verschiedene geometrische Figuren. Thibault erwähnt dazu Hippokrates, der erklärte, der menschliche Körper sei ein Kreis, welcher zudem die vornehmste aller geometrischen Figuren sei.24 Thibault erklärt die weiteren Beziehungen zwischen menschlichem Körper und „mystischen Zirkel“, wie sie auch aus verschiedenen Abbil- dungen seiner Académie ersichtlich werden. Er verwendete dabei jedoch andere Längenmasse als Vitruv, denn nicht die Strecke zwischen Nabel und seitlich ausgestreckten Armen ergeben bei ihm die Grundlage des Kreises, sondern diejenige zwischen Nabel und den nach oben hin aus- gestreckten Armen und den beiden entgegengesetzten Füssen.25 Auch die dazugehörigen Quadrate wurde um 45° gedreht, also über diagonal aus- gestreckte Arme und Beine, gebildet. Er erklärt dazu, dass verschiedene Kreise aus dem menschlichen Körper abgeleitet werden könnten, doch dass der seine dem Schwertkampf am meisten entspräche.26

23 Thibault 2006, S. 23. 24 Thibault 2006, S. 23. 25 „Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.“ Vitruv 1991, Buch 3, Kapitel 1, S. 139. 26 Thibault 2006, S. 23.

209 Der menschliche Körper wird somit in eine geometrische Figur über- tragen. Das Fechttraktat Thibaults gibt sich im ersten Kapitel als Untersu- chung des menschlichen Körpers und auch die Abbildungen ähneln eher denjenigen eines mathematischen oder anatomischen Traktats, als de- nen eines Fechtbuches. So erklärt Thibault nach kleineren Ausführungen zur Gestalt einzelner Körperglieder:

„A more complete discussion of this matter belongs to the anatomis- ts, whose business it is to declare the particulars of this noble struc- t u r e “, 27

was den Fechtkampf auch in Beziehung zum anatomischen Theater bringt. Zudem erstaunt es nicht, dass ähnliche geometrische Muster auch für die Gestaltung eines botanischen Gartens eingesetzt wurde, nämlich für denjenigen der Universität Paduas (Abb. 4.2), der noch besprochen wird. Denn ein botanischer Garten war ja zunächst noch ein Medizin- garten, ein Garten also für die Gesundheit des Menschen und deswe- gen innig mit ihm verknüpft. Zudem war er aber auch eine Ansammlung möglichst aller Pflanzen der Welt und stellte – analog zum menschlichen Körper – eine Art Mikrokosmos dar. Nicht zuletzt war es generell einAn- liegen der Renaissance, alles nach geometrischen, dass heisst rational nachvollziehbaren Gesetzen zu gestalten und zu definieren. So wur- den auch Festungsbauten nach regelmässigen Vielecken errichtete. Der Fechtkampf und der Krieg mit grosser Artillerie nutzten also wiederum dieselben geometrischen Grundlagen. Die Fechtkunst aufgrund einer geometrischen Grundlage verblieb aber nicht allzu lange in Anwendung. So schrieb der spätere Fechtmeister der Leidener Akademie, Johannes Georgius Bruchius in seinem Fecht- traktat, dass die alte Manier, die durch Thibault in seinem Buch beschrie- ben wurde, in seinen Tagen nicht mehr in Gebrauch wäre.28

Die Zahl Pi Schwertkampf und Geometrie standen also in engem Bezug zueinander. Ludolph van Ceulen war nicht bloss ein guter Fechter, sondern vollzog auch in Mathematik weitreichende Berechnungen und Erkenntnisse. Er verfasste die Publikation Van de Cirkel, eine Schrift zur Kreiszahl Pi, die nicht nur in den Niederlanden lange als Ludolphsche Zahl bekannt war, bevor sie im 18. Jahrhundert mit dem griechischen Buchstaben Pi (Ab- kürzung für peripheria) bezeichnet wurde.29 Geometrie bildete also nicht

27 Thibault 2006, S. 22. 28 Bruchius 1671, S. 3. 29 Katscher/Schlotter 1983, S. 66.

210 bloss die Grundlage des Fechtens, sondern wurde auch als solche unter- Abb. 3.4 Ludolf van Ceulen, um- sucht und berechnet. Ludolph van Ceulen nutzte für seine Berechnung geben von verschiede- der Kreiszahl dasselbe Vorgehen wie seine antiken Vorfahren: Er schrieb nen Waffen und mit sei- ner Kreiszahl Pi. Zudem regelmässige und somit bestimmbare Vielecke mit möglichst grosser Eck- die Einschreibung geome- zahl in und um eine Kreisfigur, um sich dem Kreisumfang anzunähern trischer Figuren in einen und die Zahl Pi zu bestimmen (Abb. 3.4). Mittels eines Fünfzehnecks, das Kreis zwecks Berechnung von Pi. er 31mal verdoppelte, konnte er für seinen Cirkel die Kreiszahl auf 20 rich- tige Nachkommastellen berechnen. Später erweiterte er sein Resultat auf (Kupferstich von Jacques de Gheyn II, auf dem Ti- 30 31 35 Kommastellen. Diese Zahl fand sich auch auf seinem Epitaph. Lu- telblatt von Ludolf van dolph van Ceulens späteren Erkenntnisse wurden posthum durch seine Ceulen, Van Den Circkel Daer in gheleert werdt te Witwe und durch seinen Schüler und späteren Mathematikprofessor der vinden de naeste Proportie Leidener Universität, , publiziert.32 des Circkels-diameter tegen synen Omloop […], Delft Van Ceulen war in Sachen Mathematik ein Autodidakt und nicht in (Andriesz.) 1596, unpagi- einer Universität ausgebildet worden, weswegen er kein Latein konnte niertes Titelblatt und f. 2r) und seine Schrift in Niederländisch verfasste. Die antiken Autoren musste (Download: Niedersächsi- 33 er in Übersetzungen lesen. Als ernstzunehmender Wissenschaftler hatte sche Staats- und Universi- tätsbibliothek Göttingen.) 30 Katscher/Schlotter 1983, S. 66–67. 31 Ein Replikat ist heute in der Peterskirche; Dijk 2011, S. 14. 32 Katscher/Schlotter 1983, S. 68. 33 Katscher 1979, S. 105.

211 er deshalb bei den Leidener Professoren einen schweren Stand. Joseph Justus Scaliger beschäftigte sich ebenfalls mit der Berechnung der Kreis- zahl, doch war er dabei weniger erfolgreich als Ludolph van Ceulen, der Scaliger auf gemachte Fehler hinwies, was diesen aber missfiel. So negier- te Scaliger Van Ceulens Korrekturen, lachte ihn aus und bezeichnete ihn als einfachen Fechtmeister.34

Die Niederdeutsche Mathematik

Für die junge Republik übernahm die Leidener Universität schon früh die Bildung der intellektuellen Elite des Landes. Theologen, Juristen oder Mediziner brauchte das Land ebenso wie Geschichtsschreiber oder Phi- losophen. Doch benötigte man für den Aufbau und die Verteidigung der jungen Republik weitere Fachkräfte, nämlich „Ingenieure“, die damals be- reits so genannt wurden. Sie stehen somit für das marte, konnten sie doch auch im Krieg eingesetzt werden Festungen bauen, Strassen verlegen oder Landpartien vermessen. Die Schule ergänzte somit den Unterricht der Universität und bildete praktisch-orientierte Ingenieure aus. Dabei kam es aber zu einem regen Austausch zwischen den Herren der Gelehrsamkeit und des Krieges. Denn die antike schriftliche Überlie- ferung innerhalb der Bücher hatte unmittelbaren Einfluss auf die aktu- elle Kriegsführung der Niederländer – und auf deren Erfolg. Die Heeres- reform der Niederländer setzte zum Ende des 16. Jahrhunderts ein und sicherte der Armee der Oranier bald eine führende Stellung im Kriegswe- sen. Das Militär holten sich dabei Rat bei den Gelehrten, und „ein inniges, fruchtbares Verhältnis zwischen Generalstab und Universität entstand.“35 Besonders einflussreich war Justus Lipsius, der die Regierung des Landes auf Klugheit und Tugendhaftigkeit sowie militärischer Stärke (virtus und vis) gründen wollte und dazu eine Heeresreform nach antikem Vorbild forderte. Die erfolgreiche Umgestaltung der Armee wurzelte daher auf griechischen und römischen Schriften zur Kriegsführung, die Gelehrte erforschten.36 Ihre Erkenntnisse, welche mittels der Bücher erlangt wur- den, flossen unmittelbar in die Ausbildung des Heeres. Die Bibliothek sowie die Fecht- und Ingenieursschule ergänzten sich deshalb nicht nur im Ideal einer tugendhaften Regierung, sondern auch in der praktischen Kriegsführung. Die Bibliothek war somit tatsächlich eine Rüstkammer. Die Ingenieurschule wurde am 10. Januar 1610 gegründet und war

34 Katscher 1979, S. 109–111. 35 Oestreich 1957, S. 304. 36 Oestreich 1957, S. 295–321; Oestreich 1989; Hahlweg 1987.

212 eine der ersten, wenn nicht die erste Ingenieurschule in Europa.37 In der Beginenkirche, die noch immer über Freiraum verfügte, wurde für sie ne- ben der Fechtschule einen Raum abgetrennen und mit Bänken und Stüh- len ausgestattet (siehe Plan XY).38 Gründungsvater der Schule war Moritz von Oranien. Aus den Akten geht hervor, dass der Unterricht in der deut- schen Sprache stattfinden sollte, weswegen die Schule „Nederduytsche Mathematique“ genannt wurde. Als Dozenten wurden Simon Fransz. van Merwen (1548–1610) und der Fechtmeister und Mathematiker Ludolph van Ceulen auserkoren. Van Merwen war dabei eher der Praktiker und Van Ceulen der Theore- tiker.39 Van Merwen hatte verschiedene Stellen innerhalb der Stadt Lei- den inne, war unter anderem sogar Bürgermeister, zur Hauptsache aber Landvermesser, Festungsbauer und Ingenieur. Die Lehrfächer sollten nicht nur doziert, sondern auch demonstriert werden und zwar „sowohl in gross, als auch in klein“,40 womit auf die Arbeit auf dem Felde sowie am Modell hingewiesen wurde. Nach Ablauf einer Probezeit wurden die Dozenten fest zum Lohn von je 400 Gulden jährlich angestellt41 und kurz darauf Modelle aus Holz für den Unterricht gefertigt, die im Auditorium verwahrt wurden.42 Aus einer Akte geht hervor, dass beide Dozenten tat- sächlich auch auf dem Feld unterrichteten und für ihre grossen Anstren- gungen eine Lohnerhöhung wünschten, die sie auch erhielten.43 Bei allen guten Entscheidungen hinsichtlich der Ausbildungsstätten und berufenen Professoren, die das Kuratorium im Laufe der Geschichte vollzog, lehnten sie dennoch die Bewerbung einer hervorragenden Fach- kraft ab: Hans Vredeman de Vries bewarb sich zwecks Unterrichts in Archi- tektur und Perspektive und verwies auf seine vielzähligen Publikationen zum Thema, doch befand das Kuratorium eine solche Dozentur als unnö- tig.44 Dieser Entschluss zeigt ebenfalls auf, dass der Unterricht der Schule in erster Linie dem Kriegswesen dienen sollte und nicht die Ausbildung von Architekten zum Ziel hatte. Die Verteilung verschiedener Aspekte des Bauwesens an Architekten und Ingenieure, die sich im Laufe des 18. Jahr- hunderts in Europa durchsetzen wird und spätestens mit der Gründung der École des Ponts et Chaussée 1747 manifest wird, setzte in Leiden also schon früh ein.

37 Bronnen I, (10. Jan. 1600), S. 122; zur Ingenieursschule, siehe: Otterspeer 2000, S. 199–202. 38 Bronnen I, (10. Jan. 1600), S. 122–123. 39 Zu den Biographien der beiden, siehe: Otterspeer 2000, S. 200; Dijk 2011, S. 12–15. 40 Bronnen I, (10. Jan. 1600), S. 122. 41 AC1.20, (8. und 9. Mai 1600), f. 76v. 42 AC1.20, (8./9. August 1600), f. 79r. 43 Zusätzlich 50 Gulden, AC1.20, (10. Febr. 1603), f. 115r–115v. 44 AC1.20, (8. Febr. 1604), f. 128r–128v.

213 Moritz von Oranien beauftragte seinen Ratgeber (1548–1620), einen Lehrplan für die neue Schule auszuarbeiten. Stevin war Physiker, Mathematiker, Erfinder und Ingenieur, befasste sich aber auch ausführlich mit dem Bau von Fortifikationen. Er eignete sich also hervorragend, ein Curriculum für Ingenieure zu definieren.45 Im Pro- gramm wird von Beginn an klar gemacht, dass der Unterricht so schnell wie möglich von statten gehen solle, um rasch an die nötigen Fachkräfte zu kommen, die das Land benötigte. Der Unterricht in Mathematik solle ferner nur so viel beinhalten, wie praktischerweise auch benötigt würde. Zunächst soll auf dem Papier unterrichtet sowie bestehende Bauten ver- messen werden. Nach diesem Grundstudium sollen sich die Studenten der Fortifikation widmen. Die Studenten sollen dabei – neben dem Plan- zeichnen auf Papier und dem Bau von Modellen – auch Anlagen auf dem Felde projektieren und sogar bei tatsächlichen Bauprojekten mithelfen, also handwerklich geschult werden. Ferner solle der Unterricht in der Landessprache stattfinden, da die ausgebildeten Fachkräfte später vor allem mit einfachen Handwerkern zu tun hätten, die weder Latein noch Französisch sprechen würden. Zudem mussten die Anwärter vor Studi- enanfang einen Schwur auf ihre kommenden Dienste für das Land tun. In den Akten folgt eine detaillierte Auflistung der zu erlernenden Fächer (Arithmetik, Geometrie und Fortifikation) sowie die Nennung der ersten Studenten samt ihren Berufen.46 Fortifikationen der Zeit machten ebenfalls Gebrauch von einfachen und klaren geometrischen Formen und bestanden, wie der mystische Zirkel zum Fechten, meist aus Kreisen, die mit weiteren geometrischen Figuren ergänzt wurden. Auch im Bau von Verteidigungsanlagen setzte man auf das Ideal der Geometrie. Der Lehrplan und die Unterrichtssprache machen deutlich, dass die Ausbildung in erster Linie möglichst praktischer Natur sein sollte. Fes- tungsbau wurde als Handwerk verstanden und gründete auf der prakti- schen Geometrie, weshalb sie nicht in die Sphäre des theoretischen ma- thematischen Unterrichts der Universität gehörte.47 Die Wahl Ludolph van Ceulens, der kein Latein beherrschte, stellte deshalb keine Probleme dar. Die „Nederduytsche Mathematique“ hatten jedoch innerhalb der Leidener Professorenschaft einen eher schlechten Ruf. So wurde die Ver- wendung des Niederländischen als Unterrichtssprache lächelnd abgetan und auch die dortigen Dozenten – sie wurden nicht als Professoren titu-

45 Der Lehrplan transkribiert in: Bronnen I, (10. Jan. 1600), Bijl. no. 338, S. 389*–392*. 46 Bronnen I, (10. Jan. 1600), Bijl. no. 338, S. 389*–392*. 47 Zum Verhältnis von Naturphilosophie, Mathematik und Festungsbau, siehe: Büchi 2012.

214 liert – nicht als echte Wissenschaftler angesehen.48

Vergleich zu Ritterakademien Die beiden Einrichtungen – Fechtschule und Ingenieurschule – sowie der zweckorientierte Unterricht in einer Landessprache legen den Vergleich mit Ritterakademien nahe, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstan- den und die Ausbildung des Adels zum Ziel hatten.49 Bereits die Bezeich- nung Ritterakademie zeigt auf, dass das mittelalterliche Adelsbild eines Ritters gepaart wurde mit der Ausbildung an Akademien.50 Der Adel sollte neben dem tugendhaften Regieren vor allem lernen, auf dem Parkett des Hofes sicher aufzutreten. Entsprechend war das Latein nutzlos und wurde durch die Sprache des Adels, das Französische, ersetzt.51 In Leiden wurde später wurden öffentliche Lehrveranstaltungen zu dieser Sprache durch einen Franzosen gehalten.52 Für die Anerkennung des Standes spielten Tugend und Bildung eine gewichtige Rolle, der Adel musste also neben den Waffen auch Bücher kennen. Doch kamen öffentliche Universitäten für die Ausbildung des Adels nur bedingt in Frage, weil sie selbst und die Ziele ihrer Lehre doch nicht standesgemäss waren. An Ritterakademien und anderen Adelskollegien wurden hingegen ritterliche Exerzitien und Elementarbildung vereint gelehrt. Indes kann nicht von einer Segregati- on zwischen Adel und Universität gesprochen werden. In manchen Fäl- len – beispielsweise bei jesuitischen Adelsschulen Oberitaliens – wurde die Ausbildung an öffentlichen Schulen durch angegliederte Akademien ergänzt, in welchen die Adligen im Fechten oder Voltigieren aber auch in Festungsbau und praktischer Geometrie unterrichtet wurden. Die An- gliederung solcher Schulen wurde später auch an deutschen Universitä- ten oftmals gewünscht.53 Leiden kann wohl ebenfalls als ein solches und frühes Beispiel verstanden werden und konnte dank der Fecht- und Inge- nieursschule problemlos die spezifischen Forderungen der Aristokratie bedienen, was der Kupferstich werbewirksam in die Welt transportierte. Einen der ersten und einflussreichsten Lehrpläne für solche Akade- mie schrieb François de la Noue (1531–1591), der 1578 als Feldmarschall an der Seite Wilhelms von Oranien gegen die Spanier kämpfte. Nach zwei Jahren des Kampfs kam er in spanische Gefangenschaft, welche er nutzte, um ein Traktat zu verfassen, das neben Fragen der Politik, Mo- ral und Erziehung des Adels auch heeresreformerische Ansätze beinhal-

48 Dijk 2011, S. 13; Otterspeer 2000, S. 200–201. 49 Siehe dazu: Conrads 1982; Stichweh 1991, vor allem S. 71–76 und S. 262–284. 50 Conrads 1982, S. 15. 51 Stichweh 1991, S. 74–76. 52 Bronnen II, (22. Juni 1641), S. 259. 53 Stichweh 1991, S. 262–284.

215 tete, wie er sie im oranischen Heer kennenlernte. Sein Traktat Discours politiques et militaires wurde 1587 erstmals veröffentlicht.54 Bezüglich der Ausbildung der Nobilität wünschte er sich eine Akademie, die den jun- gen Adligen die unverzichtbaren höfischen Künste wie Reiten, Fechten oder Voltigieren beibringen sollte. Darüber hinaus forderte er – und zwar in der eigenen Sprache und nur hinsichtlich praktischer Notwendigkeit – Unterricht in Moral, Politik, Mathematik, jüngerer Geschichte, Geogra- phie, Befestigungslehre und modernen Sprachen, um sie neben der kör- perlich Ertüchtigung auch geistig zu schulen und auf ihre späteren Ämter an Fürstenhöfen vorzubereiten. Er versprach sich aus körperlichem Drill und Disziplin sowie moralischen Lehren tugendhafte Regierende. Seine Wünsche machten in der Folge Schule und führten zur Errichtung von Ritterakademien in ganz Europa.55 In der Leidener Universität wurden all jene Elemente unterrichtet, die in seinem Traktat formuliert wurden, was nicht zwingend erstaunt, dürfte sein Lehrplan in den Niederlanden bekannt gewesen sein, weil De la Noue doch an ihrer Seite kämpfte. In Leiden kam es aber zu entschei- denden Veränderungen aufgrund der dortigen Gesellschaft. So stand die Fecht- sowie Ingenieurschule nicht nur Adligen offen, sondern der ganzen Bevölkerung, was nicht nur im Begleittext des Kupferstichs, son- dern auch in den Dokumenten zur Ingenieurschule explizit geschrieben steht.56 Bereits in den Burgundischen Niederlanden kam es zu einem Zu- sammenschluss aus der höfischen und einer erstarkenden städtischen Bürgerkultur. Mit dem Aufstand gegen das Haus Habsburg beseitigten die nördlichen Niederlande denn auch just die höfische Monarchie, die ansonsten überall in Europa an Stärke gewann. Alte ständische Frei- heiten sollten dabei nämlich gegen die Zentralisierungstendenzen der spanischen Krone verwahrt bleiben, so auch jene des städtischen Bür- gertums.57 Es erstaunt daher nicht, dass in dieser jungen Republik diese Fertigkeiten, welche anderswo nur durch den Adel erlernt wurden, der ganzen Bevölkerung zugänglich gemacht wurden. Die Lehre des Kampfs war zudem auch eine Notwendigkeit, wollte man die erlangten Freiheiten auch in die Zukunft geniessen.

Die weitere Geschichte bis zur Auflösung der Schulen Die Universität Leiden öffnete mit der Fechtschule also ein Standesmo- nopol des Adles einer breiteren Gesellschaftsschicht und gründete mit

54 Zu De La Nou und frühen Ritterakademien, siehe: Conrads 1982, vor allem S. 28–39. 55 Zum Lehrplan: Conrads 1982, S. 33–34; Stichweh 1991, S. 274. 56 So sollen Franz van Merwen und Ludolph van Ceulen ihre Künste „opentlyck lee- ren“, Bronnen I, (10. Jan. 1600), S. 122. 57 North 1997, S. 15–34.

216 Abb. 3.5 Die Engelse Kerk in der ehemaligen Fechtschule, darüber die Bibliothek.

(Zeichnung von Jacob Tim- mermans, 1787)

(Donwload: Regionaal Ar- chief Leiden.)

der Niederdeutschen Mathematik eine Schule, die in erster Linie der Landesverteidigung dienen sollte. Sie brachte tatsächlich viele Ingenieu- re hervor.58 Ludolph van Ceulen sowie Simon Fransz. van Merwen star- ben beide 1610. Ihr Nachfolger wurde Fransz. van Schooten, welcher bis zu seinem Tod im Jahre 1645 unterrichtete.59 Für seinen fortifikatorischen Unterricht verwendete er wohl das Buch Fortification ou architecture mi- litaire tant offensif que défensif von Samuel Marolois.60 Auch er erstellte mathematische Modelle aus Holz.61 Fransz. van Schooten wollte am Ende seines Lebens, dass sein Sohn Fransz. van Schooten jr. zu seinem Nach- folger ernannt werde,62 was das Kuratorium wenig später guthiess.63 Die- ser lenkte den Kurs der Schule in Richtung Theorie um, ein Fachgebiet, dass ihm, der die Géometrie von Descartes ins Latein übertrug, eher ent- sprach.64 Er wurde denn auch als Professor tituliert, was sein Vater noch beim Kuratorium einforderte.65 Der Titel stand aber keineswegs in Ein- klang mit seinem Lohn, verdiente er doch zunächst bloss 100, ab 1653 250

58 Otterspeer 2000, S. 202. 59 Definitive Berufung: AC1.20, (12. Febr. 1612), f. 325r; AC1.20, (9. Febr. 1613), f. 334r; Lohnerhöhung auf 400 Gulden jährlich: Bronnen II, (9. Febr. 1627), S. 134; Bronnen II, S. 170 (9. Febr. 1632). 60 Otterspeer 2000, S. 201. 61 AC1.20, (7. Aug. 1613), f. 339r–339v; auch Snellius, „richtiger“ Professor in Mathe- matik, liess Modelle aus Holz anfertige, siehe dazu: AC1.20, (8.–11. Febr. 1616), 363r–363v. 62 AC1.22, (9. Febr. 1635), f. 167r. 63 AC1.22, (8. Juni 1635), f. 178v–179r. 64 Otterspeer 2000, S. 202. 65 AC1.20, (8. Febr. 1615), f. 354v.

217 Gulden jährlich.66 Nach seinem Tod im Jahre 1660 wurde sein Stiefbruder Petrus van Schooten nach Überprüfung seiner Fähigkeiten durch den Mathematikprofessor Jacobus Golius zu seinem Nachfolger ernannt.67 Als eine seiner ersten Amtshandlungen gab er ein mathematisches Werk sei- nes Vorgängers und eines von René Descartes heraus.68 Sein Lohn betrug jährlich 200 Gulden.69 Er wurde zudem als „Professor in de Duytsche ende Latijnsche mathesis“ bezeichnet, was bereits darauf hindeutet, dass die Schule immer mehr auch theoretischen Unterricht in Mathematik anbot. Die Idee einer praktischen Schule in der Landessprache hatte sich somit mit der Zeit überlebt, weswegen sie nach dem Tod Petrus van Schootens 1681 geschlossen wurde. Zudem machte die Universität auch finanzielle Gründe geltend und wollte keine weitere Professur bezahlen, weswegen kein Nachfolger berufen wurde.70 Vermutlich übernahmen aber auch die Professoren der Universität zunehmend den Unterricht in Fortifikation. Christian Melder, der 1668 den Lehrstuhl für Mathematik innehielt und den wir noch in Zusammen- hang mit der Sternwarte kennenlernen werden, wollte 1672 ein grösse- res Stück Land kaufen, um darauf praktische Übungen im Festungsbau durchzuführen, denn der Unterricht solle „niet alleen theoretice maer by effective demonstratie“ von statten gehen.71 Wie lange die Fechtschule in der Kirche bestanden hatte, ist unbe- kannt. 1644 erhielt die „Engelse gemeente“ die Lokalität, die „twelck tot de Schermschool voor dezen is gebruyckt geweest en nu ledich staet“,72 dann also bereits leer stand. Die ehemalige Kirche erhielt somit wieder ihre alte Funktion als Ort des Gottesdienstes zurück. Neben dem Gottesdienst wurden auch Vorlesungen durch Henricus Coets in Mathematik gehalten, der auch geometrisch und militärische Übungen im freien druchführte.73 Danach errichtete man hier ein kleines Anatomietheater, in dem auch Vorlesungen zur Mathematik gehalten wurden.74 Zuvor bildete die Fecht- schule zusammen mit der Niederdeutschen Mathematik und der Biblio- thek sowohl in Bezug auf die Lehre wie auch architektonisch das Ideal

66 AC1.24, (9. Febr. 1653), f. 281v–282r. 67 Bronnen III, (7. Aug. 1660), S. 165; zudem: AC1.25, (8. Nov. 1660), f. 225r und AC1.25, (8. Febr. 1661), f. 240v. 68 De concinnanetie demonstrationibus Geometricis ex calculo Algebraico by Francesco a Schooten sowie Geometria Renati Descartes, AC1.25, (8. Febr. 1661), f. 241r–v. 69 Bronnen III, (7. Nov. 1661), S. 173. 70 AC1.27, (8. Mai 1681), f. 149v; Otterspeer 2000, S. 202. 71 Bronnen III, (16. Mai 1672), S. 261. 72 Van Mieris, Beschryving der stad Leyden I, S. 101, zitiert nach Willem Otterspeer 2000, S. 199. 73 AC1.29, (8. Febr. 1703), S. 317; AC1.29, (8. Mai 1706), S. 413–414; AC1.29, (7. Febr. 1704), S. 341; AC1.29, (8. Mai 1704), S. 344; AC1.29, (1. Febr. 1705), S. 364–365. 74 Dies laut dem Tagebuch Albrecht von Hallers, siehe: Lindeboom 1958, S. 42–43.

218 von arte et marte, welches mittels der Kupferstiche auch visuell bezeugt wurde.

219

Teil 4 Memento mori: Das anatomische Theater

Neben der Bibliothek, der Fechtschule und der Niederländischen Ma- thematik wurde in der ehemaligen Beginenkirche ein weiterer Raum der Lehre und der Forschung eingerichtet: das anatomische Theater. Auf- grund seiner kreisrunden Form wurde es in die Apsis der Kirche gebaut. Die Federführung dazu übernahm Pieter Pauw, der sich auch für die Er- richtung des botanischen Gartens einsetzte. Das anatomische Theater diente jedoch nicht nur der öffentlichen Zergliederung menschlicher und tierischer Leichen, sondern beherbergte schon bald eine Sammlung an Skeletten, Naturalien, Kuriositäten, Bildern oder Büchern. Zum anatomischen Theater liegt mindestens seit der Dissertation von Tim Huisman eine Forschungsarbeit vor, die sich auch ausführlich mit den Gegenständen der Sammlung auseinander setzt.1 Das vorliegen- de Kapitel beschränkt sich daher auf Aspekte, die Bezüglich der Archi- tektur des Theaters relevant sind. Es soll zunächst die Baugeschichte und Konstruktion des Theaters erklärt werden und anschliessend der Frage nachgegangen werden, wo mögliche Vorbilder dafür gefunden werden konnten. In Bezug auf die Sammlung soll aufgezeigt werden, wie hier die „gute Nachbarschaft“ von Objekten eingesetzt wurde. Es ging hier nicht – wie im Falle der Bibliothek oder des botanischen Gartens – primär da- rum, eine wissenschaftlich korrekte räumliche Klassifikation der Objek- te zu erzielen. Vielmehr wurden die verschiedenen Exponate durch ihre räumliche Gegenüberstellung in lesbare Zeichen umgewandelt, die ihre Betrachter auch moralisch Belehren sollten. Nicht zuletzt bildete das ana- tomische Theater ein wichtiger Baustein der errichteten Wissensräume der Universität und soll deswegen kontextualisiert werden.

Abgleich von Buch und Köper Die Anatomie war neben der Pflanzenkunde ein weiterer Bereich der Me-

1 Huisman 2009; zudem: Lunsingh Scheurleer 1975.

221 dizin, in dem im Zuge der frühen Neuzeit die empirische Forschung und Lehre aufkam. Die Zergliederung menschlicher Körper entstand erst mit den ersten Universitäten und fester Bestandteil des Medizinunterrichts. Doch auch in der Anatomie diente die sinnliche Untersuchung der Ex- ponate – in diesem Falle menschliche und tierische Körper, zudem die anatomischen Präparate der Sammlungen – zunächst nur der Illustration von überliefertem Wissen aus Büchern. Die antiken Autoritäten wurden vorerst nämlich nicht in Frage gestellt. Vielmehr wurde versucht, ihre Methode des wissenschaftlichen Arbeitens wiederzubeleben. Ad fontes zu gehen bedeutete auch hier zu verstehen, wie die überlieferten Texte verfasst wurden.2 Wie in der Pflanzenkunde so war es auch in der Anato- mie die zunehmende empirische Forschung, die zwar nach dem Vorbild der antiken Autoritäten stattfand, ihr überliefertes Wissen jedoch immer mehr in Frage stellte. Die Mediziner im Zeitalter der Renaissance suchten deswegen auch in Bibliothek nach neuen Erkenntnissen. Texte antiker griechischer und römischer Autoren sollten aufgefunden, ediert, übersetzt und studiert werden. Die Mediziner folgten der zeittypischen Praxis der Humanisten. Wie Jerome Bylebyl erklärt, hatte der Fachbereich der Medizin jedoch ein entscheidendes Problem, nämlich dass „a failure to establish the proper relationship between words and things could have dire consequences for human life and health.“3 Es war also von ausserordentlichem Belang, dass sich den Texten die Objekte zur Seite stellten.

Beginn des praktischen Unterrichts Die praktische Anatomie hatte bereits im ausgehenden Mittelalter einen, wenn auch sehr bescheidenen, Platz im Curriculum der Universität. Un- gefähr einmal im Jahr wurde eine menschliche Leiche zergliedert. Auf- grund der Seltenheit solcher anatomischen Veranstaltungen war noch kein besonderer Raum von Nöten. Es reichte zunächst aus, einfache und temporäre Bauten zu errichten. Die Kompetenzen des Unterrichts waren zunächst auf verschiedene Personen verteilt. Ein Professor las einen Text aus einem antiken Traktat vor und hatte mit der eigentlichen Zergliederung nichts zu tun. Ein De- monstrator verwies auf die durch den Dozenten besprochene Körperstel- le, die durch einen Chirurgen freigelegt wurde. Die Verteilung der Kom- petenzen glich jener innerhalb der Kräuterkunde, wo studierte Mediziner die Apotheker überwachten und ihnen Vorschriften machten, letztere

2 Folgendes nach: Byleby 1979. 3 Byleby 1979, S. 341.

222 jedoch über die Kenntnisse verfügten, die den Gelehrten oftmals fehlte.4 Nach Wiederentdeckung und Publikation der Texte Galens änderte sich diese Praxis. Es waren somit die Schriften des antiken Vorbilds, die den Fachbereich der frühneuzeitlichen Anatomie auf ein empirisches Fundament stellten, wollte man nun doch die Methoden des antiken Vorbilds übernehmen. Vesalius war der Begründer der frühneuzeitlichen Anatomie, die auf umfangreichem Wissen, guten Sprachkenntnissen und zudem auch auf handwerklichem Können beruhte. Er vereinnahmte so- mit alle Fachbereiche, die zuvor noch durch verschiedene Personen aus- geführt wurden. Vesalius lehrte neben anderen Städten Europas auch in Padua. Die dortige Universität wurde aufgrund ihrer berühmten Professoren, der empirischen Forschung und Lehre und – nicht zuletzt – den dafür errich- teten Bauten die renommierteste Universität für das Studium der Medizin in ganz Europa. Die meisten der ersten Medizinprofessoren der Leidener Universität studierten in dieser italienischen Hochschule.5 In Padua wur- de 1584 Fabricius ab Aquapendente (um 1533–1619) zum ersten ordentli- chen Professor der Anatomie berufen. Die empirische Anatomie war spä- testens dann fester Bestandteil der Universitäten. Im selben Jahr entstand in Padua ein erstes festes Theater. Die bauliche Einrichtung erfolgte also Hand in Hand mit der Definierung eines dazu passenden Lehrstuhls. Der Fachbereich der empirischen Anatomie wurde deshalb nicht nur baulich, sondern auch personell institutionalisiert. Padua erhielt dadurch eine Sonderstellung in der Ausbildung angehender Ärzte. Ein ausländischer Student erklärt seine Wahl Paduas als Studienort mit den folgenden Wor- ten:

„Nur wenige oder keiner von uns ist hierher gekommen, bloss um Vorlesungen zu hören, denn alle von uns kamen um auf praktische Weise zu lernen. Uns fehlt es in unseren Heimatländern oder anders- wo nicht an Vorlesungen, und wir haben ebenfalls Bücher zu Hause, die wir ebenso gut dort wie hier lesen können. Es ist das Studium in der Praxis, das uns veranlasste, zu hohen Kosten viele Berge zu überqueren.“6

Wollte die Leidener Universität eine ähnlich gewichtige Stelle in der aka- demischen Welt erreichen, musste sie nicht nur über exzellente Lehrer und die empirische Methoden des Unterrichts und Forschung verfügen,

4 Findlen 1994, S. 261–274; Meier Reeds 1991, S. 24–26 und S. 74–75; Ogylvie 2006, S. 38 und S. 56; sowie das Kapitel zum botanischen Garten der vorliegenden Arbeit. 5 Ridder-Symoens 1989. 6 Zitiert nach: Bylebyl 1979, S. 351.

223 sondern auch über die neuen Bauten, die dazu notwendig waren.

Das Theatrum als Sammlungsraum Das Wort Theater stammt vom altgriechischenthéatron ab, das soviel wie Schaustätte bedeutete. Ein anatomisches Theater war demnach ein gebautes Instrument, das den Zuschauern eine möglichst unbehinderte Sicht auf einen menschlichen Körper ermöglichen sollte. Der Kupferstich von 1610 zeigt das anatomische Theater, wie es im Sommer anzutreffen war, als keine Zergliederungen stattfinden konnten Abb.( 4.7). Die darin eingezeichnete Leiche auf dem Seziertisch ist dabei wegzudenken und dient nur der Illustration der eigentlichen Funktion des Theaters. Denn der Raum war zu jener Jahreszeit eigentlich funktionslos. Es zeugt von der hohen Bedeutung anatomischer Vorführungen, dass für diese ein Raum geschaffen wurde, der eigentlich nur während weniger Wochen im Jahr für seine eigentliche Bestimmung genutzt werden konnte. Das anatomi- sche Theater verfügte aber bereits sehr früh über verschiedene Exponate, dank derer es eines der frühesten öffentlichen Museen der Niederlande wurde. Neben wissenschaftlichen und anatomischen Präparaten – allen voran Skelette, aber auch andere Teile menschlicher und tierischer Kör- per – wurden auch verschiedene Bilder ausgestellt. Die Sammlung wur- de in den folgenden Jahren immer weiter ausgebaut und änderte dabei unter den verschiedenen Anatomen ihren Charakter. Es erfreute sich zu- nehmend an Beliebtheit, wie zahlreiche Reiseberichte zeigen. Das anato- mische Theater hatte aber nicht nur zur Aufgabe, die Besucher nicht nur wissenschaftlich zu Schulen, sondern auch moralisch. Dabei kam es zu einer Umdrehung des Blicks: Der Besucher stand nun nicht mehr in den Reihen, sondern im Mittelpunkt der Anlage und genoss einen panoptischen Blick auf die gezeigten Exponate. Das Wort theatrum diente in der frühen Neuzeit zudem als Bezeichnung für Bü- cher, die dem Leser verschiedenste Sachverhalte vor Augen führen soll- te.7 Der Begriff erfuhr dabei die Bedeutung eines enzyklopädischen Über- blicks eines Sachverhalts. So verwendete Giulio Camillo (1480–1544) das Theater und dessen Architektur als Grundlage einer enzyklopädischen Sammlung von Wissen, über die er vom Zentrum her einen allumfassen- den Blick genoss. Das Wort theatrum konnte somit auch als Ordnungs- modell verstanden werden. Wie im Falle der Bibliothek oder des botanischen Gartens war es auch im anatomischen Theater der Leidener Universität entscheidend, die Exponate in einen sinnvollen räumlichen Zusammenhang zu über- führen. Doch diente die räumliche Ordnung im Falle der Bücher und

7 Schock/Bauer/Koller/metaphorik.de 2008.

224 Pflanzen dem Versuch einer Klassifikation von Wissen, so wurden im anatomischen Theater andere Ideale verfolgt. Auf den ersten Blick scheint kein wirkliches Ordnungsprinzip angestrebt worden zu sein. Viel zu un- terschiedlich erscheinen die Objekte und ihre Bedeutung. So meint Barge zum Kupferstich 1610, die Aufstellung habe nichts methodisches, keine besondere Abfolge, es befänden sich menschliche Skelette neben solchen von Tieren und Vögeln.8 Tatsächlich wurden die Exponate nicht nach wis- senschaftlichen, sondern primär nach moralischen Ordnungskriterien versammelt. Die nachbarschaftliche Beziehung der Objekte führte auch hier zu einem Mehrwert, wurden den anatomischen Exponaten doch Bil- der und Inschriften zur Seite gestellt, die sie zu lesbaren Zeichen mach- ten, wie noch gezeigt werden soll.

Der Bau des anatomischen Theaters

Bereits 1584 beabsichtigte der Leidener Professor Gerardus Bontius (ca. 1536–1599)9 Anatomie empirisch zu unterrichten, wollte dafür aber eine Lohnerhöhung.10 Die Kuratoren vertrösteten ihn vorerst, verboten ihm aber nicht, Zergliederungen in Privatlektionen durchzuführen, was er scheinbar auch tat. Im April 1587 bat er nämlich das Kuratorium erneut um eine Lohnerhöhung und erwähnte, dass er mehrmals auf ausdrück- liches Begehren der Studenten Obduktionen durchgeführt hatte. Die Lohnerhöhung wurde ihm nun zugesprochen. Neben dem Wunsch der Studenten führte wohl auch die Konkurrenz ausländischer Universitäten dazu, dass im April beschlossen wurde, dass Bontius nun auch offiziell im Sommer Pflanzenkunde und im Winter Anatomie lehren sollte.11 Justus Lipsius erklärte kurz darauf in seiner Funktion als Rektor, dass der empi- rische Unterricht der Anatomie durch die Studenten gewünscht werde.12 Eine erste offizielle Zergliederung durch Bontius ist für den darauf folgen- den Winter 1587/1588 überliefert.13 Witkam vermutet, dass die Obduktio- nen von nun an im Chor der ehemaligen Beginenkirche stattfanden, die bereits 1577 in den Besitz der Universität kam und wo zuvor Hugo Donel- lus (1527–1591) unterrichtete.14

8 Barge 1934, S. 15. 9 Zu seiner Biographie, siehe: Van der Aa, Deel 2, S. 868. 10 Grundlegend zum Thema und Folgendes nach: Witkam, DZ III, Bijlage Bibliotheek en Anatomie, S. 28–40. 11 AC1.18, (24. April 1587), f. 195v–196r. 12 „In Medicina lectio Anatomica desideratur a iuventute“, Bronnen I, (24. Aug. 1587), Bijl. no. 134, S. 152*–156*. 13 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 35. 14 Otterspeer, Deel 1, S. 228; Witkam, DZ I, Anmerkungen zu Nr. 158, S. 121.

225 Bontius zur Seite stellte sich Pieter Pauw (Petrus Pavius, 1564–1617),15 der sich 1589 selbst bewarb und als ausserordentlicher Professor der Me- dizin für einige Monate eingestellt wurde. Zunächst sollte er den Studen- ten Pflanzenkunde unterrichten, denn von Anatomie ist in der Akte sei- ner Berufung noch keine Rede.16 Bald darauf errichtete er jedoch nicht nur den botanischen Garten der Universität, sondern zergliederte bereits im Winter 1589 eine erste Leiche. Die Zergliederung fand in der Begi- nenkirche statt, wofür ein Tisch sowie Sitzbänke erstellt wurden.17 In der Kirche wurde somit ein temporäres anatomisches Theater errichtet, wie sie damals üblich waren. Pauws zweite Sektion folgte im November 1591 und wurde „voorde studenten der medicynen ende andere lieffhebberen vande zelve conste“ durchgeführt. Sie wurde somit nicht nur von Ange- hörigen der Universität besucht.18 Zu den auswärtigen Gästen gehörten die Mitglieder der Chirurgengilde, die ebenfalls Interesse an solchen Ob- duktionen hatten. Im März 1590 wurde deswegen durch die städtische Regierung beschlossen, dass auch sie die Beginenkirche für Zergliede- rungen nutzen durften und dass diese von nun an auf der Empore der Kirche stattfinden sollten. Bontius beaufsichtigte – zusammen mit dem Vorsteher der Gilde – die erste Zergliederung der städtischen Mediziner. Es kam somit zur Zusammenarbeit zwischen den Professoren der Univer- sität und den Chirurgen der Stadt, was aufzeigt, dass die Universität auch Aufgaben der städtischen Gemeinschaft wahrnahm.19

Baugeschichte des anatomischen Theaters Am 1. März fiel der Beschluss, in der Beginenkirche eine neue Bibliothek zu errichten.20 Noch war von einem anatomischen Theater keine Rede, doch schon im folgenden November wurde beschlossen, ein solches zu erstellen.21 Das Theater fand in der alten Apsis seinen Platz, die dank ihrer runden Form den Bau auf einfache Art und Weise aufnehmen konnte. Die eingezogene Trennmauer, die am Ort des alten Lettners errichtet wurde, teilte die Kirche. Auf der einen Seite wurde die Bibliothek eingerichtet, auf der anderen das anatomische Theater. Der für letzteres vorgesehene

15 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 4, Sp. 1051–1053; Huisman 2009, S. 32–35. 16 Bronnen I, (9. Febr. 1589), S. 55. 17 Witkam, DZ IV, (28. Nov. 1590), Nr. 947, S. 39; Witkam, (28. Nov. 1590), Nr. 950, S. 41. 18 Witkam, DZ I, (Nov. 1591), Nr. 978, S. 26. 19 Huisman 2009, S. 19–20. 20 Folgendes nach: Witkam, DZ I, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 28–34; unter der Leitung von A.D.F. Gogelein wurde im Museum Boerhaave eine Rekonstruktion des anatomischen Theaters errichtet, die deutlich steiler ausfällt, als das Original war. Im Zuge der Errichtung wurde das historische Theater plangrafisch rekonstruiert, siehe: Goglein 1973; sowohl die plangrafische Rekonstruktion der vorliegenden Ar- beit wie auch der folgende Baubeschrieb folgt beiden Publikationen. 21 Witkam, DZ I, (Nov. 1591), Nr. 119, S. 75–76.

226 Raum verfügte über eine Tiefe von ungefähr neun Metern und über eine Breite von knapp 10 Metern. Zunächst wurde ein 7 Fuss (ca. 2.2m) hoher Raum geschaffen, der später als Keller bezeichnet wurde und wo ein Ar- beitsraum des Anatomen errichtet wurde. Neben diesem Büro wurde ein weiterer Raum geschaffen, der die Gerätschaften Pauws aufnahm. Die Höhe dieses Raums entsprach dem ersten Bauabschnitt der Trennmauer. Über ihm wurde das anatomische Theater errichtet. In der Zwischenzo- ne konnten die Zuschauer in den Pausen herumwandeln. Später wurden dort Exponate gezeigt. Wie viele Fenster diese Zone und der darunterlie- gende Keller aufwiesen, geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor, es waren jedoch welche vorhanden.22 Das eigentliche Theater lag darüber und ruhte auf zwei 7 Fuss hohen Stützen, die mittig im Keller standen. Es bestand aus einer trichterförmi- gen Holzkonstruktion, auf der die Zuschauerränge und Böden errichtet wurden und das relativ einfach in die mehreckige Apsis gebaut werden konnte. Es wurden 12 „noortse balcken“ geliefert, die eine Dicke von ca. 25 mal 45 cm aufwiesen und im Durchschnitt knapp über 6 Meter lang waren.23 Da die Apsis ein halbes Dekagon umfasste, wurden zehn dieser Balken für den Bau der trichterförmigen Unterkonstruktion verwendet, um das Dekagon zu vervollständigen, auf dem das runde Theater errich- tet wurde. Sie ruhten auf den beiden zentralen Stützen auf und verliefen zu den geknickten Wandflächen der Apsis oder zur eingezogenen Trenn- mauer, wo sie auf einer Höhe von 19 Fuss (ca. 6m) auflagerten, was der Hälfte des ursprünglichen Kirchenraums und der Höhe des Bodens der Bibliothek entsprach. Zwei der Balken wurden gekürzt und als Querbal- ken schräg zwischen die Mauern der Kirche und der neuen Trennmauer eingebaut. Sie mussten jene beiden Balken des Theaters tragen, die nicht an den Aussenmauern oder der Zwischenmauer aufliegen konnten.24 Auf diese trichterförmige Konstruktion, die vermutlich gegen 1592 fertiggestellt war, wurden die aufsteigenden Ränge des Theaters gebaut. Winkelförmige Auflager vermittelten zwischen den schrägliegenden Bal- ken und den eingezogenen Böden. Zuunterst wurde der kreisförmige Arbeitsplatz des Anatomen eingebaut, welcher ungefähr 2.2m im Durch- messer aufwies. Der Arbeitsraum wurde durch eine runde Balustrade, die mit einem Türchen versehen war, von den Zuschauern abgetrennt. Zen- trales Element war der Seziertisch, der knapp zwei Meter lang war und somit genau Platz für eine menschliche Leiche bot. Er reichte bis an die Balustrade und besass deshalb abgerundete Stirnseiten. Er konnte dank eines Mechanismus gedreht werden, um allen Zuschauern den Blick auf

22 Witkam, DZ I, (15. Aug. 1594), Nr. 207, S. 152. 23 Witkam, DZ I, (23. Dez. 1591), Nr. 164, S. 123–124. 24 Witkam, DZ III, Bijl. Bibliotheek en Anatomie, S. 29–31.

227 Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Englische Kirche ab 1644 Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem istDie anzunehmen, Verteilung der dass Fenster auch ist das unklar, da Zwischengeschossdie Quellen verschweigen, einige Fenster wo exakt sie aufwies.eingebaut Fechtschule wurden. Vermutlich aufgrund wie des im KupferstichsPlan eingezeichnet. von 1610, Büro dort Anatom fehlen im FensterKeller bedurfte in einem sicherlich Joch. Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlageaufwies. Fechtschule aufgrund des Englische Kirche ab 1644 alten Kirche die Empore erschlossen, Kupferstichs von 1610, dort fehlen ist anzunehmen, dass sie vom Fenster in einem Joch. Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Abb. 4.1 Vorraum, um die Treppen erschliessen Rekonstruktion des anato- Englische Kirche ab 1644 zu können. Die erklärt auch, weshalb mischen Theaters. die Fechtschule durch die schräge 1. Zuschauerränge im Ober- Wand erschlossen wurde und nicht geschoss; 2. Zwischenge- durch das Hauptportal der Kirche. schoss, darüber die Balken Hier vermutlich 4 Schränke, würde Da die Treppen zur Bibliothek in der des anatomischen Theaters; Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen alten Kirche die Empore erschlossen, 3. Keller; 4. Lagerraum; 5. Kupferstich der Fechtschule nur drei Büro des Anatomen; 6. Ein- ist anzunehmen, dass sie vom gang zum Theater, der Nie- Joche zeigt, nämlich weil die Innenraum her zugänglich waren. Die derdeutschen Mathematik und der Fechtschule. Fechtschule vermutlich nur drei Joche Kirche benötigte deswegen einen 1 besass. Vorraum,Da die Treppen um die zur Treppen Bibliothek erschliessen in der Es ist unklar, wie die Fens- Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ter des Zwischen- und Un- zu können. Die erklärt auch, weshalb tergeschosses verteilt wa- dieist anzunehmen, Fechtschule durch dass siedie vomschräge ren. Eingezeichnet ist eine WandInnenraum erschlossen her zugänglich wurde und waren. nicht Die Vermutung. Kirche benötigte deswegen einen durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke,(Planzeichnung würde des Autors ZudemVorraum, erklärt um die es Treppenauch, weshalb erschliessen der nach den Zeichnungen und Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage gehen Angaben in: Witkam DZ; Kupferstichzu können. Dieder erklärtFechtschule auch, nurweshalb drei Gogelein 1973.) Jochedie Fechtschule zeigt, nämlich durch weil die die schräge FechtschuleWand erschlossen vermutlich wurde nur und drei nicht Joche besass.durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die

Fechtschule vermutlich nur drei Joche 2 besass. Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage

Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage

4 5

Keller 3 6

228

Keller

Keller

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644 Die Verteilung der Fenster ist unklar, da die Quellen verschweigen, wo exakt sie eingebaut wurden. Vermutlich wie im Plan eingezeichnet. Büro Anatom im Keller bedurfte sicherlich Licht. Zudem ist anzunehmen, dass auch das Zwischengeschoss einige Fenster aufwies. Fechtschule aufgrund des Kupferstichs von 1610, dort fehlen Fenster in einem Joch. ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644

Da die Treppen zur Bibliothek in der Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage alten Kirche die Empore erschlossen, ist anzunehmen, dass sie vom Innenraum her zugänglich waren. Die Kirche benötigte deswegen einen Vorraum, um die Treppen erschliessen zu können. Die erklärt auch, weshalb die Fechtschule durch die schräge Wand erschlossen wurde und nicht durch das Hauptportal der Kirche. Hier vermutlich 4 Schränke, würde Zudem erklärt es auch, weshalb der gehen Kupferstich der Fechtschule nur drei Joche zeigt, nämlich weil die Fechtschule vermutlich nur drei Joche besass.

Zwischengeschoss Anatomie, darüber die Balkenlage

5

Keller 4

3 2 1

die gezeigte Leiche zu erlauben. Abb. 4.2 Rekonstruktion des anato- Auf dieser untersten Ebene wurde zudem der erste Zuschauerrang mischen Theaters. erstellt, der ca. 45cm tief war. Es folgten fünf weitere Ränge, die in Stufen 1. Niederdeutsche Mathe- von ca. 37cm in die Höhe führten. Auch diese waren ca. 45cm tief, was matik, davor Eingang zur Fechtschule und zum ana- äusserst knapp bemessen war. Man verzichtete wohl für einen zusätzli- tomischen Theater; 2. Büro chen Rang auf übermässigen Komfort. Die oberste Fläche diente eben- des Anatomen; 3. Keller; 4. Zwischengeschoss, darüber falls als Zuschauerrang, besass aber zur Trennmauer hin eine grössere die Balken des eigentlichen Fläche, da dort die Aussenwände nicht wie in der Apsis tangential verlie- Theaters; 5. Anatomisches Theater. fen, sondern rechtwinklig an das Rund anschloss. Im Ganzen gab es so- mit sieben Zuschauerränge. Es wurde interpretiert, dass die sieben Rän- (Planzeichnung des Autors ge möglicherweise auf die sieben damals bekannten Planeten verwiesen nach den Zeichnungen und Angaben in: Witkam DZ; und ein Abbild des Universums zeigen, in dessen Mitte der menschliche Gogelein 1973.)

229

ZUSTAND 1594 (GEPLANT) ZUSTAND 1612 KUPFERSTICH ZUSTAND VOR UMBAU WANDBIBLIOTHEK 1654 ZENTRALREGAL Englische Kirche ab 1644 Körper zergliedert werde.25 Wahrscheinlicher ist, dass die Anzahl durch den vorgegebenen Raum definiert wurde und es pragmatische Aspekte waren, die zu dieser Einteilung führten, denn der mittlere Kreis musste so gross sein, dass eine Leiche darauf ausliegen konnte und die anschlie- ssenden Ränge waren so bemessen, dass die Zuschauer darauf stehen konnten. Der Kupferstich von 1610 vermittelt ein falsches Bild, denn der vordere Teil des obersten Bodens verlief der Apsis entsprechend nahezu halbrund und nicht rechteckig, war also deutlich schmaler als auf dem Stich gezeigt wird. Wie der Kupferstich jedoch wahrheitsgetreu zeigt, verfügten die un- tersten beiden Zuschauerränge über Sitzbänke, weswegen die hintere Abtrennung verkleidet wurde, um als Rückenlehne dienen zu können. Zudem besassen diese Ränge kleine Türchen, damit sie abgeschlossen werden konnten. Auf den oberen Rängen hingegen standen die Zuschau- er. Sie waren deshalb nicht verkleidet und ermöglichten eine Durchsicht in den unteren Raum und auf die Balken, die im Kupferstich von 1610 teilweise sichtbar sind. Das Zwischengeschoss wurde durch diese luftige Konstruktion zusätzlich belichtet. Eine kurze Treppe führte auf die Arbeitsfläche des Anatomen, denn diese war im Vergleich zum Boden des Zwischengeschoss leicht erhöht, weil sie auf die Balken gebaut wurde. Die Zuschauerränge wurden durch zwei weitere Treppenläufe erschlossen, die von dieser kurzen Treppe ih- ren Anfang nahmen und auf die oberste Ebene führten. Die Tribüne bil- dete somit keinen geschlossenen Kreis aus. Zwischen den beiden Trep- pen wurde 1598 – nachdem Pauw bereits 1594 Instrumente zu erwerben begann26 – ein Instrumentenschrank eingebaut, der die Werkzeuge des Anatomen nicht nur in leichte Erreichbarkeit sondern auch in Szene setz- te.27 Das Theater wurde gegen Ende 1594 fertiggestellt, doch bereits im No- vember 1593 wurde darin eine erste menschliche Leiche zergliedert.28 Das Leidener Anatomietheater war deshalb wenige Monate älter als dasjenige der Paduaner Universität, das noch heute existiert.

Institutionalisierung und Berufe Mit der Errichtung des anatomischen Theaters wurden auch neue Ar- beitsplätze geschaffen, denn die Anatomie war spätestens von nun an ein fester Bestandteil des Unterrichts. Pieter Pauw war vorerst nur temporär angestellt.29 Bereits im Februar 1591 wurde seine befristete Anstellung um

25 Huisman 2009, S. 74. 26 Witkam, DZ.I, (10. Okt. 1594), Nr. 29, S. 23. 27 AC1.20, (10. Aug. 1598), f. 51v. 28 Huisman 2009, S. 27–28. 29 Bronnen I, (9. Febr. 1589), S. 55;

230 ein Jahr bei Lohn von 200 Gulden verlängert. Pauw habe sich stark für den neuen Unterricht in der Anatomie eingesetzt, so das Kuratorium.30 Er erhielt ab 1592 eine ordentliche Professur, nicht zuletzt wohl aufgrund der Errichtung des Theaters, aber auch aufgrund seiner Arbeit im botani- schen Garten und der Schwierigkeit, einen geeigneten Präfekten für den Garten zu finden.31 Pauw unterrichtete somit Anatomie und Pflanzenkunde. Im Garten konnte nur im Sommer unterrichtet werden, wenn die Pflanzen wuchsen und in Blüte standen. Anatomische Vorführungen hingegen konnten nur in der kalten Jahreszeit stattfinden, da ansonsten die Leichen zu schnell verwest wären. Es erstaunt daher nicht, dass es an frühneuzeitlichen Universitäten geläufig war, nur eine Person mit den Lehren der Botanik und der Anatomie zu beschäftigen. So unterrichtete Pauw während des Sommers 1599 um neun Uhr die Anatomie aus Büchern und eine Stunde später die Pflanzenkunde im Garten.32 Pauw konnte sich jedoch für die Anatomie mehr begeistern, als für die Pflanzenkunde.33 Kurz nach Vollendung des anatomischen Theaters wünschte sich Pieter Pauw eine Hilfskraft, die ihm bei der Durchführung der Obdukti- onen helfen sollte. Schon kurze Zeit später hatte Pauw einen geeigneten Famulus anatomicus gefunden.34 Es handelte sich dabei um Aert Pie- tersz., der als Gärtner bei der Errichtung des botanischen Gartens an Pau- ws Seite arbeitete. Aert wurde zunächst für seine Dienste in der Anatomie noch auf einer Tagesbasis entlöhnt und erhielt 1599 eine Lohnerhöhung von 14 auf 18 Stuyvers pro Tag. Der Famulus hatte zur Aufgabe, Leichen nach Leiden zu schaffen, diese vorzubereiten und sich nach der Zerglie- derung um deren Beerdigung zu kümmern. Zudem musste er nach den Zergliederungen die Gerätschaften und Instrumente waschen, die Mes- ser schleifen, die ausgestellten Skelette falls nötig reparieren und generell das anatomische Theater sauber halten.35 Nachdem Pieter Pauw 1598 die Präfektur des botanischen Gartens erhielt, wurden die Famuli zudem als Hortulani beschäftigt.36 Diese Dop- pelfunktion stellte kein Problem dar, da der Garten ja nur im Sommer gepflegt werden musste und die Zergliederungen nur im Winter stattfan- den. Sie erhielten dafür eine feste Vergütung. Die Anstellung war somit zunächst an die empirische Lehre der Medizin und an die Person Pauws

30 AC1.19, (19. Febr. 1591), f. 21v–22r. 31 Witkam, DZ IV, (8. Febr. 1592), No. 1191, S. 172–173. 32 Bronnen I, (1- März 1599), Bijl. no. 330, S. 384*–385*, hier S. 384*. 33 Cook 2007, S. 166. 34 Grundlegend zum Thema: Huisman 2009, S. 28–30; hier zudem Witkam, DZ I, (21. Nov. 1594), Nr. 32, S. 29; Witkam, DZ.I, (8. Febr. 1595), Nr. 33, S. 30. 35 Huisman 2009, S. 28–30; AC1.21, (8. Febr. 1619), f. 22r–22v. 36 AC1.20, (8./9. Aug. 1601), f. 96v.

231 gebunden. Als Pauw starb und die Lehre im anatomischen Theater und dem botanischen Garten auf zwei Personen verteilt wurde, beschäftigte man verschiedene Kustoden. Später übernahmen sie wiederum mehrere Aufgaben, wobei auch die Nähe der Arbeitsorte entscheidend wurde. So arbeitete beispielsweise Hieronymus Meyer sowohl im Garten als auch im angrenzenden physikalischen Theater,37 Stoffel van Carthagen wieder- um im anatomischen Theater und dem Garten, und Jacob Voorn arbeitete sowohl im anatomischen Theater als auch in der Bibliothek.38

Architektonische Vorbilder

Der Bautypus des anatomischen Theaters war relativ neu, entsprechend gab es in den Niederlanden noch keine gebauten Beispiele. Es stellt sich daher die Frage, wer das anatomische Theater entworfen hatte und ob sich der Entwurf an irgendwelchen Vorbildern orientierte. Wie Tim Hu- isman erklärt, war es kaum der Zimmermann Joris Andriesz., der zwar ein fachkundiger Handwerker war, aber nicht wusste, welche Zwecke ein anatomisches Theater erfüllen musste. Vermutlich gab Pieter Pauw nicht bloss den Anstoss zur Errichtung des Theaters, sondern diesem auch sei- ne Form, die danach durch den Zimmermann fachmännisch realisiert wurde.39 Dazu musste er aber nur wenig neu entwickeln. Er konnte viel- mehr Beispiele heranziehen, die er aus Traktaten und der eigenen An- schauung kannte.

Gebaute Vorbilder Pieter Pauw kannte anatomische Theater aus seiner Studienzeit. Er ging, nachdem er zwischen 1581 und 1583 in Leiden Medizin studiert hatte, nach Paris, Rostock und Padua, um an den dortigen Universitäten seine Fähig- keiten zu vertiefen.40 Er war somit einer jener nordeuropäischen Studen- ten der Medizin, die es über die Alpen verschlug, um an den renommier- testen Universitäten mit den neuesten Methoden der Forschung vertraut zu werden. In Padua besuchte er vermutlich jene Zergliederungen, die Fabricius ab Aquapendente (ca. 1533–1619) in einem ersten festen Theater durch- führte, das die dortige Universität zwischen 1582 und 1584 errichtet hatte. Wie dieses Theater aussah, ist nicht überliefert. Vermutlich war es eine einfache und hölzerne Konstruktion, die im ersten Stockwerk des Palazzo

37 AC1.27, (9. Nov. 1676), f. 83r. 38 AC1.27, (7. Aug. 1682), f. 185v–186r. 39 Huisman 2009, S. 25. 40 Huisman 2009, S. 20–21.

232 de Bò, dem Hauptsitz der Paduaner Universität, errichtet wurde. Bereits 1594 wurde sie durch den Theaterbau ersetzt, der noch heute besichtigt werden kann. Neben diesem öffentlichen Theater fand man viele weite- re, die während privater Lektionen genutzt wurden. Die Privatlektionen waren teilweise sogar beliebter als diejenigen im Palazzo del Bò, und die Studenten beteiligten sich an den finanziellen Kosten, die zur Errichtung temporärer Theater anfielen.41 Die Bauaufgabe des anatomischen Thea- ters war in Italien somit nicht neu. Es ist anzunehmen, dass Pieter Pauw verschiedene Beispiele sah und sie zum Vorbild für das Leidener Theater nutzte. Doch wie sahen diese Theater aus? In einem Kupferstich, der in Pauws Publikation De humani corporis ossibus von 1615 publiziert wurde,42 zeigt sich der Leidener Anatom als neuer Vesalius, indem er dessen Titelblatt seiner Publikation De humani corporis fabrica weitgehend kopierte und sich an die Stelle des wohl be- rühmtesten Anatom der frühen Neuzeit setzte (Abb. 4.3 und Abb. 4.4).43 Der Kupferstecher Jacques de Gheyn II., der öfters mit Pauw zusammen- arbeitete,44 stellt für den motivischen Bezug das Leidener Theater sogar kleiner dar, als es tatsächlich war. Doch übernahm Pauw vermutlich nicht nur die neuen Methoden seines Vorbilds, sondern auch die Architektur von dessen Theater. Vergleicht man nämlich die Gestalt der beiden The- ater, lassen sich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede ausmachen. Das Theater auf dem Frontispiz der Publikation von Vesalius verfügt wie dasjenige, welches in Leiden errichtet wurde, über mehrere Zuschauer- ränge, die relativ steil und stufenweise empor steigen. Wie in Leiden sind die Ränge rund ausgebildet und verfügen über einfache Balustraden, hinter denen die Zuschauer stehen. Das Theater ist zudem ebenfalls eine Holzkonstruktion und wird zentral erschlossen. Da Vesalius in ephemeren Theatern sezierte, ist nur sehr wenig über deren tatsächliche Architektur bekannt. Er selbst erklärte jedoch, dass er in Padua und Bologna Theater errichtet hätte, die wie jenes auf dem Fron- tispiz ausgesehen hätten.45 Die einzigen überlieferten Berichte über Zer- gliederungen durch Vesalius stammen von Baldasar Heseler (1508/09– 1567), der 1540 in Bologna solchen beiwohnte. Das damals verwendete Theater diente der Zergliederung von drei menschlichen Leichen und sechs Hunden. Danach wurde es vermutlich wieder abgebaut. Nach He-

41 Klestinec 2004. 42 Pauw 1615, Bild zwischen S. 8 und S. 9; Pauw erhielt für dieses Buch und einen Kata- log des Gartens eine Verehrung und Lohnerhöhung, siehe: AC1.20, (8. Febr. 1615), f. 352r–352v. 43 Der Vergleich bereits in: Cook 2007, S. 164–165. 44 Swan 2005a. 45 Vesalius 1543, S. 548, Anmerkung zur Rechten; siehe zudem: Heseler 1959, S. 306– 307, Anmerkung 1.

233 Abb. 4.3 Pieter Pauw im anatomi- schen Theater in Leiden.

(Kupferstich von Andries Stock nach einer Zeich- nung von Jacques de Gheyn II.)

(aus: Pieter Pauw, De hu- mani corporis ossibvs, Lei- den (ex officina Ivsti à Cols- ter) 1615.)

(Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-OB-22.436)

seler bestand es aus „einem Tisch, um den herum in praktischer und sta- biler Weise vier gestufte Ränge mit runden Bänken errichtet wurde, so dass nahezu 200 Personen der Zergliederung zuschauen konnten.“46 Das Theater in Leiden entsprach in seiner Architektur ebenfalls sowohl dem Bericht wie auch dem Kupferstich. Es ist deshalb denkbar, dass diese Konstruktion die damals vorherrschende Lösung zur Errich- tung anatomischer Theater war und Pieter Pauw solche Bauten während seiner Studienzeit in Italien sah. Vermutlich wurde das Leidener Theater nach diesen frühen italienischen Vorbildern errichtet. Pauw wollte sich auf besagtem Kupferstich daher vermutlich nicht nur als ein Anatom prä- sentieren, der über dieselben Techniken und Methoden wie Vesalius ver- fügte, sondern auch als einer, der ein gleichartiges Theater besass.

46 Heseler 1959, S. 85.

234 Abb. 4.4 Andreas Vesalius in einem hölzernen anatomischen Theater vor antikisierenden Theaterarchitektur. Titelblatt seiner berühm- testen Publikation De hu- mani coprois fabrica, hier dasjenige der Zweitaufla- ge 1555.

(Holzschnitt, Jan Stephan van Calcar zugeschrieben.)

(aus: Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica li- bri VII., Basel (per Ioannem Oporinum) 1555, Titelblatt.)

(Fotografie des Autors.)

Antike Architektur als Vorbild Heseler erklärt in seinem Bericht zu den Lektionen von Vesalius, dass das Theater in jenem Raum errichtet wurde, in dem derRector medicorum üblicherweise gewählt wurde. Es handelte sich dabei um die Kirche San Francesco.47 In der Forschung wurde diskutiert, ob das Frontispiz seiner De humani corporis fabrica diese oder eine andere Kirche im Hintergrund zeigt, oder ob ein Universitätsgebäude dargestellt ist, was jedoch nicht der Fall ist. Vielmehr wird dort eine antikisierende Theaterarchitektur darge- stellt, wie sie beispielsweise am Aussenbau des Kolosseums zu finden ist.

47 Heseler 1959, S. 306, Anmerkung 1.

235 Bereits Vitruv beschreibt die typische Superposition der Säulenordnun- gen vor Rundbögen. Er fordert zudem Säulenhallen, die die Zuschauer während der Pausen als Wandelhallen nutzen konnten.48 Der Zeichner des Titelblatts der Fabrica folgte im Hintergrund des hölzernen Theater- baus diesem Beispiel, überführte die Aussenarchitektur dabei jedoch ins Innere. Das eigentliche Theater, das aus Holz errichtet dargestellt ist, wur- de auf dem Frontispiz der Publikation vor diese mehrgeschossigen Säu- lengänge gestellt. Von den umliegenden Wandelhallen schaut weiteres Publikum auf die Zergliederung. Eine nahezu identisch aussehende Theateranlage wurde von Cesare Cesariano (ca. 1477–1543) publiziert. Er übertrug die Zehn Bücher Vitruvs erstmals ins Italienische, versah den Text mit ausführlichen Kommenta- ren und versuchte, die nicht überlieferten Abbildungen des antiken Trak- tats zu rekonstruieren. Dabei fügte er die Zeichnung einer runden Thea- teranlage ein, die in solcher Form nicht durch Vitruv beschrieben wird. Als Grundlage für diese Ergänzung diente das Kolosseum in Rom, das Cesariano allerdings nicht aus eigener Anschauung kannte.49 Das Am- phitheater fällt bei ihm deutlich schlanker und höher aus, als es in Reali- tät ist, und es verfügt, wie dasjenige auf dem Frontispiz von Vesalius, nicht nur über die typische Abfolge der Säulenordnungen, sondern auch über eine auf der Orchestra stehenden Zuschauertribüne, wie sie bei Vitruv be- schrieben wird (Abb. 4.5).50 Auch in Leiden wird ausdrücklich auf die antike Bauaufgabe rekur- riert, denn der Begleittext zum Kupferstich des Leidener Theaters von 1610 erklärt, es sei „auff die alte Romische art/ in der gestalt eines am- phitheatri“ errichtet worden. Im Zeitalter des Humanismus wurde das Theater nicht nur als Ort der Unterhaltung verstanden, sondern auch als einen der Bildung. Es war der Ort, wo mittels Dramen ein tugendhaftes und moralisches Leben gezeigt wurden. Feste Theater für die Aufführung von Dramen waren in der frühen Neuzeit ebenfalls eine erst kürzlich wie- derentdeckte Bauaufgabe. Mit Andrea Palladios Teatro olimpico von 1585 wurde das erste eigenständige Theater Europas errichtet, nahezu zeit- gleich wie die ersten permanenten anatomischen Theaterbauten.51 Eben- falls am Ende des 16. Jahrhunderts entstanden in London weitere frühe Theaterbauten. Auch wenn sie nur bedingt mit diesen Theaterbauten ver- glichen werden können, so gehören die anatomischen Theater der frühen Neuzeit dennoch zu den Vorreitern dieser wiederentdeckter Bauaufgabe. Das Interesse an antiken Theaterbauten teilte auch Justus Lipsius,

48 Vitruv 1991, Buch 5, Kapitel 9, S. 237–243. 49 Cesariano 1969, S. 82–83, sowie Kommentar S. 23. 50 Vitruv 1991, Buch 5, Kapitel 7, S. 227–235, hier S. 229. 51 Beyer 1987.

236 Abb. 4.5 Das Amphitheater aus Ces- arianos Vitruvausgabe mit der typischen Superposi- tion der Ordnungen vor Rundbögen, im Innern wie am Aussenbau. Zudem eine Zuschauertribüne auf Ebene der Orchestra, die besonders wichtigen Besu- chern vorbehalten ist.

(Scan aus: Cesare Cesaria- no, Vitruvius de architectu- ra, Nachdruck der Ausga- be Como 1521, Herausgege- ben und mit einem Vorwort und Index versehen durch Carol Herselle Krinsky, München (Wilhelm Fink Verlag) 1969, S. 82.)

der eine Publikation zum Thema verfasste, die Pauw besass.52 Die Zehn Bücher von Vitruv und dasjenige über das Amphitheater von Lipsius werden zudem im Nomenclator verzeichnet.53 Pieter Pauw errichtete zu- dem im botanischen Garten ein Bauwerk, das auf antike Vorbilder Bezug nahm. Und auch die Bibliothek nahm Elemente der Antike auf, wie sie durch Lipsius beschrieben wurden. Auch im Falle des anatomischen The- aters wurde somit eine antike Bauaufgabe für die neuesten wissenschaft- lichen Arbeitsstätten wiederbelebt.

Literarische Vorbilder Neben gebauten Beispielen standen Pieter Pauw auch Beschreibungen

52 Huisman 2009, S. 26. 53 Nomenclator, S. 73 und S. 95 (nachträgliche Paginierung).

237 von anatomischen Theatern zur Verfügung. Der um 1500 in Padua leh- rende Alexander Benedictus (ca. 1450–1512) äusserte sich als einer der ersten über die Errichtung anatomischer Theater. Er beschreibt – neben moralischen und praktischen Belangen zur Zergliederung menschlicher Leichen–, dass ein temporäres Theater errichtet werden sollte, äusserste sich aber kaum zu dessen Gestalt. Er erklärt nur, dass es aussehen solle wie die Theater in Rom oder Verona.54 Auch er nahm somit Bezug auf an- tike Bauten. Carolus Stephanus (Charles Estienne, 1504–1564), ein Zeitgenosse von Vesalius, beschrieb 1545 ein ideales anatomisches Theater als halb- runde Anlage aus Holz, die über 15 Zuschauerrängen auf drei Stockwer- ken verfügen sollte. Die Ränge sollten mit Sitzbänken ausgestattet wer- den, die ungefähr 35cm hoch sein sollten. Die drei Stockwerke sollten durch innenliegende Treppen erschlossen werden. Sein beschriebenes Theater liegt dabei im Freien, weswegen es mit einem Segeltuch über- spannt werden sollte. Seine Ausführungen folgten somit eng den Bauten der Antike.55 Doch ein anatomisches Theater muss – im Gegensatz zu solchen, in denen Dramen aufgeführt werden – nicht nur einen Blick auf den gezeigten Körper ermöglichen, sondern einen in ihn. Die Ränge muss- ten deshalb deutlich steiler ausfallen als bei antiken Theatern oder dem Entwurf von Stephanus. Dieser erklärt aufgrund der flachen Zuschauer- ränge seines Theaterentwurfs, man solle die Leiche an Bändern aufhän- gen und in die Höhe ziehen, damit die Zuschauer eine bessere Sicht auf die Körperteile erhalten würden.56 Diese Lösung war kaum praktikabel. Stephanus Idealentwurf wurde deshalb während der frühen Neuzeit nicht umgesetzt. Ein Element antik-römischen Ursprungs übernahm die Universität in Padua jedoch für ihren Theaterbau von 1594, nämlich die innenliegenden Treppen auf die Zuschauerränge, die eine Besonderheit in der Architektur anatomischer Theater darstellen. Pauw kannte die Werke von Benedictus und Stephanus, denn sie werden sowohl im Nomenclator wie auch im Auktionskatalog seiner Pri- vatbibliothek erwähnt.57 In Leiden wurde der drehbare Seziertisch er- stellt, der ebenfalls bereits durch Stephanus beschrieben wurde.58 Bei der Errichtung des anatomischen Theaters in Leiden nahm er vermutlich ne- ben diesen literarischen Empfehlungen auch jene Bauten zum Vorbild, die er in Italien gesehen hatte.

54 Benedictus 1549, S. 577. 55 Stephanus, S. 346–348; eine Rekonstruktion des Entwurfs in: Richter 1936, S. 30–34. 56 Stephanus 1545, S. 347. 57 Bertius 1595; Anonym 1638. 58 Stephanus 1545, S. 347.

238 Ablauf einer Zergliederung

Ein Kupferstich von Bartholomeus Willemsz. Dolendo (ca. 1571–1626) aus dem Jahr 1609 zeigt eine Zergliederung im anatomischen Theater in Lei- den (Abb. 4.6). In einer zweiten Auflage wurde der Stich mit Buchstaben, dazugehörigen Legenden und einem ausführlichen Text in vier Sprachen versehen. Auch dieser Druck, der ein Jahr vor der berühmten Serie er- schien, hatte wohl zur Aufgabe, das Leidener Theater bekannt zu machen und neue Studenten anzuwerben. In der Mitte des Theaters sieht der Betrachter den Anatom vor sei- nem Instrumentenschrank stehen. Auf dem drehbaren Tisch liegt eine Leiche mit aufgeschnittenem Bauch. Daneben wurde ein Buch auf dem Tisch aufgeschlagen, wohl um die Vorlesung damit zu bestreiten. Auch in Leiden kam es somit zur Verknüpfung – resp. zum Abgleich – von überlie- fertem Wissen und empirischer Forschung. Es wurde aber die mittelalter- liche Aufteilung der Kompetenzen in einen Dozenten, einen Zergliederer und einen Demonstrator aufgegeben. Pauw übernahm wie Vesalius alle Aufgaben selbst. Dabei half ihm allein der Famulus, der im Bild rechts von ihm aber ausserhalb der innersten Zone steht und dem Professor eine Schüssel Wasser reicht. Auf den Rängen ist das Publikum dargestellt. Die Zuschauer stehen gedrängt und aufmerksam auf ihren Plätzen. Bärtige Männer sitzen an be- vorzugter Lage in unmittelbarer Nähe zum Seziertisch. Die Zuschauer auf den hinteren Rängen scheinen jünger zu sein, was der Realität entsprach, den es herrschte eine strenge Abfolge der Platzzuteilung. Es sind keiner- lei Frauen auf dem Kupferstich auszumachen, was vermutlich nicht der Wahrheit entsprach, denn anatomische Zergliederungen erfreuten sich auch bei einem städtischen Publikum und bei Laien grosser Beliebtheit. Verschiedentlich wurden anatomische Veranstaltungen der frühen Neu- zeit deshalb als öffentliche Schauspiele interpretiert.59 Während der anatomischen Darbietungen wurden verschiedene Kerzen angezündet. Einige davon sollten die Leiche beleuchten, andere dufteten wohlriechend und sollten den Verwesungsgeruch etwas mil- dern. Dasselbe versprach man sich von wohlriechenden Kräutern, die auf den Boden gestreut wurden. Die Leiche selbst war in der Regel durch zwei weisse Laken verhüllt, so dass sie „niet oneerlyck bllot leit“ und lag auf ei- nem schwarzen Tuch auf dem drehbaren Tisch des Anatomen.60 Während des Winters wurde zudem das anatomische Theater beheizt, was die an- grenzende Bibliothek natürlich auch nach Erlass des Feuerverbots noch

59 Ulbricht 1997; in Bologna fanden Zergliederungen während des Karnevals statt, sie- he: Ferrari 1987. 60 Zitiert nach: Otterspeer 2000, S. 190.

239 immer in Gefahr brachte, zusammen mit den immer zahlreicher werden- den Exponaten des anatomischen Theaters.61 Die Fenster konnten wäh- rend den Zergliederungen geöffnet werden.62

Wer oder was wurde seziert? Im Dezember 1593 baten die Medizinprofessoren der Leidener Universi- tät bei den Regierenden der Provinzen Holland und Westfriesland um die Herausgabe von Leichen im Winter exekutierter Verbrecher zwecks Un- terricht in Anatomie, was ihnen in einer Resolution zugesichert wurde. 63 Im Oktober des folgenden Jahres musste Pauw diese Bitte jedoch erneut stellen, da trotz des Beschlusses noch immer keine Leichen nach Leiden gebracht wurden.64 Die Resolution wurde mehrfach durch den Drucker der Universität gedruckt, den Bittbriefen an die Regierenden der Provin- zen beigelegt und im anatomischen Theater verwahrt.65 Nicht alle Subjekte, die obduziert wurden, waren indes Verbrecher. So zergliederte Pauw im November 1593 die Leiche eines gewissen Hans aus Antwerpen, der plötzlich im Leidener Krankenhaus verstarb und dar- aufhin in das neuerrichtete anatomische Theater überführt wurde.66 Spä- ter wurden auch Kinder zergliedert. Fall keine menschlichen Körper zur Verfügung standen, sezierte man verschiedene Tiere. Zum Teil wurden tierische Körperteile auch zusammen mit menschlichen Leichen seziert und besprochen.67 Vivisektionen von Tieren waren ebenfalls üblich und wurden bereits von Vesalius befürwortet und durchgeführt.68 Selbst Fa- milienangehörige wurden obduziert. So kamen unter Otto Heurnius die Nierensteine seines verstorbenen Vaters Johannes Heurnius in die Samm- lung des anatomischen Theaters, was darauf hindeutet, dass der verstor- bene Professor durch seinen Sohn zergliedert wurde.69 In Montpellier obduzierte Guillaume Rondelet (1507–1566) nicht nur seine verstorbene Schwägerin und Ehefrau, sondern auch eines seiner Kinder, das tot zur Welt kam. In einer öffentlichen Veranstaltung sezierte er zudem die Pla-

61 Huisman 2009, S. 26–31; Orlers 1614, S. 148; der Kamin des Theaters war auch nach dem Verbot von Feuer in der Bibliothek in Betrieb, siehe: AC1.28, (21. Nov. 1629), f. 11v; AC1.25, (8. Juni 1648), f. 99r–99v. 62 AC1.21, (8. Febr. 1619), f. 22r–22v. 63 AC1.19, (30. Dez. 1593), f. 296v–297r. 64 Witkam, DZ.I, (10. Okt. 1594), Nr. 29, S. 23–24; Witkam, DZ.I, (10. Okt. 1594), Nr. 30, S. 24–25. 65 Siehe dazu: Huisman 2009, S. 27–29; sie werden im Inverntar des anatomischen Ver- zeichnis erwähnt, siehe: AC1.228, „Inventaris vande Rariteyten opde Anatomie en inde twee galleryen vandes Universiteyts Kruythoff“. 66 Witkam, DZ.I, (4. Febr. 1594), Nr. 1056, S. 27–28; zudem: Huisman 2009, S. 27–28 sowie Appenidx III, S. 204–205. 67 Huisman 2009, S. 31; so auch bei Vesalius, siehe: Heseler 1959. 68 Pauw 1615, f. 3r. 69 Barge 1934, S. 41.

240 zenta seiner Zwillinge.70 Doch handelte es sich bei der Zergliederung ver- Abb. 4.6 storbener Verwandter kaum um öffentliche Vorführungen, sondern um Darstellung einer Zerglie- derung, 1609. Mit erklären- Obduktionen, welche die Todesursachen klären sollten und im Privaten dem Text. von statten gingen. Häufig wurden sie durch die Verstorbenen selbst ge- (Kupferstich von Bartholo- wünscht. Wie Katherine Park aufzeigt, gehörten solche Obduktionen zu meus Willemsz. Dolendo, den ersten Leichenöffnungen des Mittelalters. Ferner weist sie darauf hin, nach einer Zeichnung von Jan Cornelisz. van ’t Woudt, dass auch Heilige oftmals zwecks Gewinnung von Reliquien zergliedert herausgegeben durch Jacob wurden. Die Obduktion von Menschen war also zumindest dann eine ak- Marcus.) zeptierte Sache, wenn sie im Interesse des Subjekts geschah. Bei öffentli- (Rijksmuseum Amster- dam, Objektnummer RP-P- 70 Le Roye Ladurie 1998, S. 191. OB-9827-00)

241 chen Zergliederungen im Dienste der Wissenschaft ging es aber gerdae nicht im spezifische Besonderheiten von Einzelfällen einzelner Subjekte, denn man wollte dadurch an allgemeine Gesetzmässigkeiten kommen, weswegen andere Personen gewählt werden mussten. Gleichzeitig aber lag der tote Leichnam nackt auf dem Seziertisch und konnte von allen erkannt werden. Die öffentliche Zurschaustellung der Leichen war dabei schlimmer als das Öffnen ihrer Körper.71 Wer sollte also im Dienste der Wissenschaften obduziert werden? Wie Katherine Park argumentiert, ging es in erster Linie darum, an mög- lichst fremde und unbekannte Personen zu gelangen. So erklärte bereits Alexander Benedictus, dass die Leichen aus möglichst entfernten Regi- onen kommen sollten und die Universität in Bologna definierte in ihren Statuten, dass die Leichen aus mindestens 30 Kilometer entfernten Ort- schaften gebracht werden mussten.72 Die frühen Leidener Beispiele be- stätigen dies. Auch hier kamen die Verbrecher aus entfernten Ortschaf- ten und mussten durch den Famulus beispielsweise aus Den Haag oder Delft nach Leiden gebracht werden. Erst später, als es zu Engpässen der Versorgung mit Leichen kam, wurden auch die Körper von in Leiden exe- kutierten Verbrechern obduziert.73 Wie der Fall des einsam verstorbenen Hans aus Antwerpen zeigt, war die Fremdheit des Subjekts entscheidend und nicht die begangenen Verbrechen. Wie Tim Huisman erklärt, erhiel- ten die Subjekte nach dem Sezieren zumindest ein anständiges Begräbnis inklusive Sarg, Zeremonie und Gebet, die durch die Universität bezahlt wurden, was hingerichteten Verbrechern nicht prinzipiell zustand.74

Publikum und Öffentlichkeit Die Zergliederungen wurden von zahlreichen Personen besucht. An Ta- gen anatomischer Vorführungen wurden keine anderen Vorlesungen abgehalten, sie wurden meist sogar für eine Woche unterbrochen.75 Dies änderte sich erst 1627, als die anatomischen Vorführungen auf drei Uhr nachmittags verschoben wurden, damit die Professoren ihre regulären Vorlesungen halten konnten.76 Ab 1630 mussten alle Vorlesungen, selbst jene der Medizin, während anatomischer Aufführungen gehalten wer- den.77 Auch an anderen Universitäten sollten die Zergliederungen durch Studenten aller Fakultäten besucht werden.78

71 Park 1994. 72 Park 1994, S. 12; Benedictus 1549, S. 577. 73 Huisman 2009, S. 99–100. 74 Huisman 2009, S. 28. 75 Kroon 1911, S. 52. 76 Bronnen II, (9. Febr. 1627), S. 134–135. 77 AC1.22, (7. Febr. 1630), f. 17v. 78 Ulbricht 1997, S, 370.

242 Auf dem Kupferstich von 1609 sind ungefähr 200 Personen abgebil- det. Eine spätere Zeichnung, die während einer Aufführung erstellt wur- de, zeigt etwas weniger Menschen.79 Laut Reiseberichten fasste das The- ater bis zu 400 Zuschauer, was allerdings übertrieben scheint.80 Generell geht man davon aus, dass an der Leidener Universität etwa 200 Personen anatomischen Zergliederungen beiwohnten.81 Im Jahr 1612 waren 230 Studenten in Leiden immatrikuliert.82 Bereits die ersten anatomischen Vorführungen, die noch vor dem Bau des festen Theaters stattfanden, wurden von auswärtigen Zuschau- ern besucht, allen voran den Chirurgen der Stadt. Später kamen Personen hinzu, die weder an der Universität studierten, noch in einem medizini- schen Beruf tätig waren. Stephanus schrieb bereits 1545, dass die Zerglie- derungen nicht nur von Medizinstudenten oder praktisch tätigen Chirur- gen, sondern auch von allen anderen „Bewunderern der Natur“ besucht werden sollten.83 Die Zugänglichkeit richtete sich also nach dem Interesse des Publikums, wie es auch beim botanischen Garten der Fall war.

Verteilung der Zuschauer Auf den Rängen herrschte eine klare Hierarchie der Zuschauer. Sie hatten natürlich zum Ziel, den höhergestellten Personen einen möglichst guten Blick auf das Geschehen bieten zu können. In der ersten Reihe und auf gleicher Ebene wie der Anatom sassen die Professoren und der Rektor der Universität sowie „ander treffelicke Personen“. In den folgenden beiden Rängen, die mittels einer Türe abgeschlossen werden konnten, standen die Medizinstudenten und die Chirurgen der Stadt. Die fachkundigen Mediziner erhielten somit nicht nur die Ränge mit der besten Einsicht, sondern solche, die auch räumlich vom Rest des Publikums getrennt wer- den konnten. Ihnen folgten die Studenten anderer Fakultäten sowie an- dere Leute, die „lust ende begheerte hebbende om sulcx te aenschouwen ende te sien.“84 Die fachfremden Zuschauer konnten also nur die schlech- teren Ränge nutzen, die gewissermassen übrig blieben. Die hierarchische Verteilung der Zuschauer nach ihrer gesellschaft- lichen Stellung war indes keine Erfindung der frühen Neuzeit, sondern wurde bereits in Theatern der Antike angewendet. Schon Vitruv be- schreibt, dass in der Orchestra, dem untersten Boden also, wo die Stü- cke aufgeführt wurden, Stufenreihen für die Sitze der Senatoren errichtet

79 Die Zeichnung von Willem Buytewech wird heute im Museum Boijmans van Beun- ingen in Rotterdam verwahrt. Abgedruckt in: Huisman 2009, S. 14–15. 80 Lindeboom 1958, S. 42; 81 Ulbricht 1997, S. 372. 82 Kroon 1911, S. 51. 83 Stephanus 1545, S. 347. 84 Orlers 1614, S. 148.

243 wurden.85 Justus Lipsius berichtet in seiner Publikation zum Kolosseum in Rom über eine Verteilung des Publikums nach der gesellschaftlichen Position, und auch Benedictus und Stephanus erwähnen ein solches Vor- gehen in ihren Traktaten.86 Es war aber nicht nur der Wunsch nach der Wiederbelebung antiker Vorbilder, der zu dieser definierten Verteilung der Zuschauer führte, denn das Publikum sollte somit auch diszipliniert werden. Benedictus äussert sich in seinem Anatomietraktat explizit zur Unruhe der Zuschauer wäh- rend Zergliederungen und fordert Überwacher.87 Und Stephanus erklärt, der Anatom dürfe sich nicht über Lärm und Trubel der Zuschauer bekla- gen, falls er den Ort seiner Aufführung – also ein Theater – nicht sorgfältig einrichte.88 Das erste feste Theater in Padua hatte ausdrücklich zur Aufga- be, die Studenten zu beruhigen, damit der Anatom seine Zergliederun- gen ohne Unterbrechung durchführen konnte. Zuvor, als die Studenten noch frei im Raum standen, kam es nämlich häufig zu Ausschreitungen während der Vorführungen. So berichtet Heseler, dass Vesals mittels der Vivisektion eines Hundes den Studenten das pulsierende Herz und den Blutstrom zeigen wollte, doch „diese verrückten Italiener zogen den Hund an allen Seiten, so dass niemand diese beiden Bewegungen wirklich füh- len konnte.“89 Im neuen Theater im Palazzo del Bò mussten die Studen- ten hingegen still und sitzend den Demonstrationen beiwohnen. Um die Ruhe zu gewährleisten, wurde auch dort eine strenge Verteilung der Per- sonen angestrebt. Die ausländischen Studenten sassen in Padua nach ih- ren Heimatländern gruppiert; die Aufteilung folgte somit der allgemeinen Strukturierung früher Universitäten nach Nationen.90 Die Verteilung der Leidener Zuschauer nach Rang und vor allem Fakultät sicherte ab, dass alle Professoren und Medizinstudenten dem Schauspiel uneingeschränkt folgen konnten, während sich die fachfremden Personen in ihrem Hinter- grund aufhielten und deswegen kaum stören konnten.

Eintrittspreis Noch als das Theater im Bau war, erhielt Pieter Pauw die Erlaubnis, Ein- trittsgelder für den Besuch öffentlicher Zergliederungen zu verlangen. Der Eintrittspreis wurde auf 15 Stuyvers festgelegt. Studenten, Professoren und Chirurgen, also all jene, die ihres Berufs wegen den Sektionen bei- wohnen wollten, waren davon befreit.91 Bei 50 bezahlenden Besuchern

85 Vitruv 1991, Buch 5, Kapitel 7, S. 227–235, hier S. 229. 86 Stephanus 1545, S. 347; Benedictus 1549, S. 577. 87 Benedictus 1549, S. 577. 88 Stephanus 1545, S. 346–347. 89 Heseler 1959, S. 293. 90 Klestinec 2004, S. 390–394. 91 Bronnen I, (18. Oct. 1593), Bijl. no. 256, S. 287*.

244 konnten so gegen 40 Gulden eingenommen werden, was bereits zu einem Gewinn führte, denn eine Zergliederung im Winter 1615 belief sich ohne Beisetzung der Leiche auf knapp 30 Gulden und eine nur wenig später stattfindende kostete bloss etwas mehr als 18 Gulden.92 Die öffentlichen Zergliederungen menschlicher Leichen wurde so zu einem lukrativen Geschäft. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstanden deswegen Strei- tigkeiten zwischen dem Famulus und dem Präfekten des anatomischen Theaters, da beide von den finanziellen Einnahmen profitieren wollten, wie noch besprochen wird. Eintrittsgelder waren bereits um 1500 üblich, denn auch Benedictus erwähnt sie in seiner Publikation und erklärt, die Einnahmen würden verwendet, um die Kosten der Zergliederung zu decken.93 Für die Ver- anstaltungen von Vesalius mussten 20 Soldi bezahlt werden, wobei die Einnahmen auch hier zur Errichtung des Theaters und zur Bezahlung weiterer Ausgaben verwendet wurden.94 Für die Zergliederung weiblicher Leichen wurde in der Regel ein höherer Betrag verlangt. Streng ausgelegt kann deshalb nicht von einer allgemeinen Öffentlichkeit gesprochen wer- den, da durch den Eintritt eine soziale Segregation erzielt wurde. Nur jene Personen, die über ausreichende Mittel verfügten, konnten an den anato- mischen Vorstellungen teilnehmen.95

Eine moralische Knochensammlung

Das anatomische Theater konnte nur im Winter für Sezierungen genutzt werden, im Sommer hingegen war es zunächst funktionslos. Dir Univer- sität betrieb somit einen sehr hohen Aufwand für ein Gebäude, das nur während weniger Wochen im Jahr genutzt werden konnte. Dies verweist auf den hohen Stellenwert der praktischen Anatomie und auf den hohen Besucherandrang, der durch die Zergliederungen geschaffen wurde. Das Theater wurde aber schon bald das ganze Jahr über genutzt, denn es wurde mit anatomischen und anderen Exponaten ausgestattet, die ebenfalls von einem breiten Publikum besichtigt werden konnten. Im Kupferstich von 1609, der eine anatomische Demonstration zeigt, sieht man auf den Galerien neben dem Publikum verschiedene Skelette und ausgestopfte Vögel (Abb. 4.7). Diese standen zunächst tatsächlich auch während der Zergliederungen auf ihren Rängen. Doch hatte der Famulus

92 Bronnen II, (8. Mai 1615), Bijl. no. 468, S. 74*–75*; Bronnen II, (8. Febr. 1616), Bijl. no. 470, S. 77*–78*. 93 Benedictus 1549, S. 577. 94 Heseler 1959, S. 85–87. 95 Siehe dazu: Hölscher 1978, S. 432.

245 zur Aufgabe, während des Winters immer diejenige Skelette in das Aka- demiegebäude zu überführen, die dort für die Vorlesungen über die Kno- chenkunde benötigt wurden.96 Im Katalog des anatomischen Theaters von Otto Heurnius, der ab 1620 erstellt wurde, wird zudem erklärt, dass die menschlichen Skelette während des Winters ins Akademiegebäude überführt wurden und dass einige tierische Knochen ebenfalls dorthin gebracht wurden, um Osteologie zu unterrichten. Unter Heurnius fanden die Zergliederungen somit in einem – zumindest mehrheitlich – leerge- räumten Theater statt. Die Skelette waren mit Kupferdraht zusammenge- bunden und an einer Metallstange befestigt, welche durch die Balustrade des Theaters geführt und festgeschraubt wurde. Für die Aufstellung im Akademiegebäude befanden sich im Keller des anatomischen Theaters eiserne Zylinder, die als Ständer der Skelette dienten, wenn diese in ei- nem Schrank im Vorlesungssaal der Mediziner verwahrt wurden.97

Der Beginn der Sammlung Bereits 1592 kaufte Pieter Pauw neben verschiedenen Instrumenten auch ein menschliches Skelett.98 Er benötigte es für seine öffentlichen Vorlesungen, die im Akademiegebäude stattfanden. Das Skelett wurde im Mai 1594 durch revoltierende Studenten zerstört, als auch die Pflan- zen des Gartens in Mitleidenschaft gezogen wurden.99 Im Oktober sah sich Pauw deswegen gezwungen, ein neues zu erwerben, das nun nicht nur während Vorlesungen, sondern auch während Zergliederungen ge- zeigt wurde.100 Später fertigte Pauw Skelette und andere Exponate selbst an, wofür er 1598 einen kleinen Schuppen an der Südseite der Kirche an- bauen liess, um darin Knochen zu trocknen und zusammen zu fügen.101 Es muss davon ausgegangen werden, dass die meisten der Tiere, deren Skelette später im Theater aufgestellt wurden, zuvor im anatomischen Theater zergliedert wurden. Ein erstes Inventar des anatomischen Theater befindet sich an unge- wöhnlicher Stelle, nämlich im Katalog des botanischen Gartens, der 1601 von Pauw – der damals auch im botanischen Garten unterrichtete – he- rausgegeben wurde. Pauw erklärt in seinem Vorwort, das Theater sei mit Skeletten und anderen Schmuckstücken und Weihgeschenken reich ver- ziert. In dazugehörigen Randnotizen werden die Gegenstände verzeich- net. Der Gartenkatalog ist somit auch das erste Inventar des anatomischen

96 AC1.21, (8. Febr. 1619), f. 22r–22v, hier f. 22r. 97 Kroon 1934, S. 36, S. 37, S. 39 und S. 65. 98 Witkam, DZ.I, (10. Mai 1592), Nr. 1002, S. 26–27. 99 Bronnen I, (22. Mai 1594), Bijl. no. 272, S. 300*–301*. 100 Witkam, DZ.I, (10. Okt. 1594), Nr. 29, S. 23–24. 101 AC1.20, (10. Aug. 1598), f. 51v.

246 Theaters und listet neben menschlichen und tierischen Skeletten (Pferd, Rind, Hirsch, Wolf, Bär, Ziege, Meerkatze, Hundsaffe, Hund, Fuchs, Mar- der, Katze, Otter, Maulwurf, Wiesel, Maus und Storch) auch anatomische Tafeln, Bilder von Tieren, eine menschliche Haut, Walfischknochen und -zähne sowie die anatomischen Instrumente auf.102

Bilder und Objekte Im Folgenden soll gezeigt werden, was Pauw mit seiner Sammlung be- zwecken wollte. Denn neben der Zurschaustellung anatomischer Präpa- rate zur Förderung der Wissenschaft inszenierte er die Skelette in beson- derer Art und Weise, um den Betrachter auch hinsichtlich moralischer Dinge zu unterrichten. Sein Nachfolger Otto Heurnius traf deshalb eine Sammlung an, die mehrfach lesbar war. Er ergänzte sie mit zahlreichen Bildern und anderen Objekten. Es ist dabei jedoch unklar, welche Bilder bereits durch Pauw im ana- tomischen Theater aufgehängt wurden und welche erst unter Heurnius dazu kamen. Wir wissen von einer Anfrage Pauws, 40 Bilder nach Vesalius kaufen zu dürfen – es handelt sich wohl um jene Bilder, die er im Gar- tenkatalog als Tabulis Anatomicis verzeichnete.103 In einem Inventar, das kurz nach Pauws Tod angefertigt wurde, werden 87 Bilder ohne genauere Bezeichnung aufgeführt. Bereits unter Pauw waren somit viele Bilder im anatomischen Theater aufgehängt. Es ist davon auszugehen, dass Pauw vor allem medizinische und anatomische Bilder kaufte und im Theater aufhängte. Im Katalog von Otto Heurnius werden ebenfalls viele Bilder ver- zeichnet und zudem genannt, was darauf zu sehen ist. Das Inventar wur- de von 1620 an, also nur wenige Jahre nach seiner Berufung zum Anato- mieprofessor und Leiter des Theaters, erstellt. Neben Bildern der Medizin – beispielsweise anatomische Illustrationen, Darstellungen der fünf Sin- ne oder der vier Temperamente sowie Allegorien auf gute und schlechte Ärzte – fand man im Theater auch Bilder, die scheinbar nichts mit dem Fachbereich zu tun hatten. Zudem werden in überlieferten Einkaufslis- ten einige Bilder genannt, die Heurnius kaufte.104 Eine ausführliche Inter- pretation und Analyse der Bilder verfasste Theodoor Herman Lunsingh Scheurleer.105 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass die Bilder aber nicht nur aufgrund der gezeigten Motive interpretiert werden können,

102 „* Equi. Bouis. Cerui. Lupi. Ursi. Capræ. Cercopitheci. Cynocephali. Canis. Vulpis. Gulonis. Felis. Lutræ. Talpæ. Mustela. Muris. Ciconiæ. ** Tabulis Anatomicis. Pictu- ris Animalium. Pelle humana. Oßius balena. Dentibus balena. Instrumentis Anato- micis.“, Pauw 1601, f. 3r. 103 AC1.20, (10. Aug. 1598), f. 51v; Pauw 1601, f. 3r. 104 Eine Liste mit Einkäufen durch Heurnius in: Barge 1934, S. 36–37. 105 Lunsingh Scheurleer 1975.

247 sondern dass sie auch hinsichtlich ihres Kontextes gedeutet werden müs- sen. Durch die unmittelbare Nachbarschaft der Bilder mit den anatomi- schen Präparaten wurden letztere zu lesbaren Zeichen.

Das Theater als Museum Welche moralischen Botschaften den Besucher des anatomischen Thea- ters erwarteten, erklärte bereits ein Bibelzitat über der Türe zum Theater, das unter der Darstellung eines Kindes mit Totenkopf angebracht war:

„Ihr aber, die ihr sagt: Heute oder morgen werden wir in diese oder jene Stadt reisen, dort werden wir ein Jahr bleiben, Handel treiben und Gewinne machen, ihr wisst doch nicht, was morgen mit eurem Leben sein wird. Rauch seid ihr, den man eine Weile sieht; dann ver- schwindet er. Ihr solltet lieber sagen: Wenn der Herr will, werden wir noch leben und dies oder jenes tun. Nun aber prahlt ihr voll Über- mut; doch all dieses Prahlen ist schlecht.“106

Ein weiteres Zitat folgte über der nächsten Türe. Dort stand:

„Damit die ein glücklicher Tod beschieden sei, lerne zu leben. Damit du glücklich leben kannst, lerne zu sterben.“107

Der Besucher erfuhr somit bereits auf dem Weg ins eigentliche Theater eine moralische Schulung. Das Theater hatte nämlich nicht nur zur Auf- gabe, einen funktionalen Ort für anatomische Zergliederungen bereitzu- stellen, sondern wollte seine Besucher auch in Hinblick auf das Jenseits zu einem tugendhaften Leben im Diesseits überzeugen. Die Schaustücke dienten dazu, denn sie waren keine reinen wissenschaftlichen Expona- te, sondern wurden durch ihre Präsentation und ihren Kontext moralisch und religiös aufgeladen. So waren menschliche Skelette seit dem Mittelalter als Sinnbilder des Todes bekannt.108 Auf dem Kupferstich von 1610 – und sicherlich auch den Besuchern des anatomischen Theaters – fallen zunächst die ver- schiedenen Skelette auf, die auf den Rängen stehen und gewissermassen die Plätze des Publikums einnehmen. Die Skelette wurden wie lebendig inszeniert und führten meist eine Handlung aus. Sie hielten Gegenstän- de in ihren Händen und traten in einen Dialog mit den Besuchern der

106 Barge 1934, S. 70; im Katalog nur der Verweis auf: Jacobus 4, 13–16. 107 „Ut tibi mors felix contingat, vivere disce. Ut felix possis vivere, disce mori“, Barge 1934, S. 42. 108 Lunsingh Scheurleer 1975, S. 221–222.

248 Sammlung. Durch ihren Standort auf den Tribünen empfingen sie den Abb. 4.7 Ansicht des anatomischen eintretenden Besucher, der nun seinerseits auf der Bühne des Theaters Theaters mit seinen Skelet- stand. Neben verschiedenen menschlichen Skeletten sah er auch solche ten, 1610. von Tieren. (Kupferstich von Willem In den hinteren beiden Ecken, nahe der Trennmauer zur Bibliothek, Isaacsz. van Swanenburg konnten Skelette von grösseren Tieren platziert werden. In beiden Kup- nach einer Zeichnung von Ja Cornelisz. van ’t Woudt ferstichen sehen wir die Gebeine eines Pferds und einer Kuh. Während und verlegt durch Andries das Skelett der Kuh im Kupferstich von 1610 unbesetzt bleibt, wird es im Clouck, 1610.)

Kupferstich von 1609 durch einen Pavian geritten. Auf demjenigen des (Donwload: Rijksmuseum Pferdes sitzt in beiden Kupferstichen ein menschliches Skelett. Der Rei- Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-1894-A-18588.) ter erinnert an jenen der Apokalypse, der Tod und Hunger auf die Welt brachte.109 Zudem findet sich ein ähnliches Motiv im Gemälde „Der Tri- umph des Todes“ von Pieter Breughel d.Ä. Ferner gleicht der Reiter einem verstorbenen Ritter, der einen selbstgefälligen bunten Kopfschmuck trug. Ein verbreitetes Diktum der Zeit erklärte, dass alle Menschen, ob reich

109 Offenbarung 6,8.

249 oder arm, im Angesicht des Todes gleich seien.110 Im Leidener Theater stand dementsprechend der Sinnspruch: „Mors sceptra ligonibus ae- quat“.

Skelette mit Sinnsprüchen Die menschlichen Skelette, die auf den Rängen standen, zeigten eben- falls moralische Sachverhalte auf. Dazu trugen sie meist Fahnen mit ver- schiedenen Aufschriften wie „mors ultima linea rerum“, „nascentes mo- rimur“ oder „principium moriendi natalis est“. Die Skelette übten somit eine Funktion aus, die den beliebten Emblemen der Zeit entsprach, denn auch bei diesen wurde ein Bild durch einen Sinnspruch ergänzt, womit der verborgene Sinn entschlüsselt werden konnte. Laut dem Katalog von Otto Heurnius waren nicht alle Sinnsprüche in Latein verfasst, sondern einige auch im Niederländischen.111 Somit wurden neben den gelehrten Studenten und Professoren auch die einfacheren Besucher hinsichtlich moralischer Belange unterrichtet. Das anatomische Theater kann des- halb auch als eine offene Institution für die Schulung der öffentlichen Moral verstanden werden. Der Kupferstich von 1609 gibt für ein Skelett den Hinweis, dass die- ses als „die schöne Anna“ bekannt sei. Ihr Gerippe trug neben der Fahne einen Kopfschmuck, wohl als Zeichen der Endlichkeit von Schönheit. Ihr gegenüber steht im Kupferstich von 1610 eine wohlgekleidete Dame mit einem mit Federn verzierten Spiegel in der Hand. Eitelkeit, worauf diese Szene hinweist, wurde als Sünde verstanden und das Motiv einer jungen Frau, die in einen Spiegel schaut, aber nur einen Totenkopf sieht, was ein geläufiges Bildmotiv der frühen Neuzeit.112 Ein Sinnspruch eines der Skelette mahnte deshalb: „nosce te ipsum“.

Adam und Eva Auf den Kupferstichen des Theaters sind auch zwei überaus spezielle und aussagekräftige Skelette zu sehen. Mittig im Raum aufgestellt und dadurch ausgezeichnet in Szene gesetzt, waren sie die ersten Exponate, die der Besucher erblickte, sobald er die Stufen ins eigentliche Theater erklomm. Die beiden Skelette bilden eine Figurengruppe. Das zur Linken stützte sich auf einen Spaten ab und streckte den rechten Arm in Richtung der zweiten Figur aus. Diese reichte der ersten einen Apfel, der scheinbar von einem Bäumchen gepflückt worden ist, das mittig zwischen den bei- den stand. Um den Stamm des Baums wand sich eine Schlange, die einen weiteren Apfel in ihrem Maul bereit hielt. Die ikonografische Bedeutung

110 Cook 2007, S. 166. 111 Barge 1934, S. 36. 112 Crowther 2010, S. 95–96.

250 ist offensichtlich und wurde wohl von allen Besuchern sofort erkannt. Es handelte sich um eine Darstellung von Adam und Eva im Paradies und zwar just in dem Moment, als die verbotene Frucht gepflückt und ver- spiesen wurde, was laut der Bibel zur ersten Sünde und der Vertreibung aus dem Paradies führte. Adams Spaten verwies – wie seine Inszenierung in Form eines Skeletts – auf die Konsequenzen des Sündenfalls: Nicht nur musste er sich nun durch harte Feldarbeit ernähren, sondern grub sich mit der begannenen Sünde auch sein eigenes Grab. Der Fall des Menschen wurde jedoch nicht nur hinsichtlich der bib- lischen Überlieferung dargelegt. Es wurden nämlich auch mythologische Figuren der Antike, die wegen Verfehlungen bestraft wurden, in Bildern präsentiert. In einer Serie von Kupferstichen von Jacques de Gheyn II. werden die mythologischen Figuren Phaeton, Ixion, Tantalos und Ikarus allesamt im Fall gezeigt (Abb. 4.8). Der Sturz verweist auf ihre begange- nen Frevel, die Bestrafung und das resultierende Leid oder den Tod. Die Bilder wurden 1619 durch Heurnius gekauft und im anatomischen Thea- ter gezeigt.113 Heurnius stellte der biblischen Geschichte somit die antike Mythologie zur Seite und ermahnte die Besucher – wie Pauw vor ihm – zu einem untadeligen Leben.114

Krankheit, Tod und Erlösung Neben dem Tod gehörten seit der Ursünde auch Krankheiten zur irdi- schen Existenz des Menschen. Es wurde ausgelegt, dass der menschliche Körper in seinem paradiesischen Urzustand perfekt gewesen war und erst durch den Sündenfall korrumpiert wurde, weswegen er überhaupt krank werden konnte. Die Gerippe verwiesen nicht nur auf den Ursprung der menschlichen Krankheiten, sondern auch auf jenen der Medizin. Auch die Funktion des Raums, in dem die Skelette von Adam und Eva standen, wurde so thematisiert, denn das Theater hatte zur Aufgabe, den mensch- lichen Körper hinsichtlich seiner Unvollkommenheit, seiner Krankheiten und seiner Endlichkeit zu untersuchen. Krankheiten und Tod wurden einerseits als Strafe Gottes verstanden, die durch eigene Sünden und die geerbte Ursünde eintraten. Eine andere Interpretation erklärte jedoch, dass Krankheiten ein Zeichen von Gottes Liebe seien, da sie den Menschen durch Reue auf den rechten Lebensweg führten, der letztlich im ewigen Seelenheil enden sollte.115 Die als Adam und Eva in Szene gesetzten Skelette forderten also – wie auch die anderen mit ihren Sinnsprüchen – ihre Betrachter zu einem religiösen und mora- lischen Leben auf, damit sie nach ihrem Tod Erlösung finden.

113 Einkaufsliste in: AC1.43; zudem: Huisman 2009, S. 71. 114 Lunsingh Scheurleer 1975, S. 247–248. 115 Crowther 2010, S. 74–88.

251 Abb. 4.8 Der Fall des Menschen, hier am Beispiel Phaetons, einer der vier mythologi- schen Figuren, die wegen ihrer Frevel bestraft wurden und deren Kufperstiche im anatomischen Theater ge- zeigt wurden.

(Kupferstich aus der Se- rie "De vier vallers" von Hendrick Goltzius nach ei- nem Entwurf von Corne- lis Cornelisz. van Haarlem, 1588.)

(Downlaod: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-OB-10.364.)

Oberhalb der Fenster der Apsis der ehemaligen Kirche und gegen Osten ausgerichtet, wurde folgender Sinnspruch angebracht:

„Victuros agimus semper, nec vivimus unquam. Vivere da recte, da bene Christe mori.“116

Der Spruch wies die Besucher also daraufhin, dass man immer handle, als würde man leben, doch eigentlich nie richtig leben würde und dass nur durch Christus ein richtiges Leben und ein ebensolcher Tod gefun- den werde könne. Der Besucher erblickte somit zuerst eine toter Leich- nam oder die Gerippe von Adam und Eva. Der Blick richtete sich danach empor und fiel auf den Sinnspruch, der wie andere auf das ewige Seelen- heil, das am Ende eines tugendhaften und moralischen Lebens auf den Menschen warte, verwiesen. Und den Weg zu Tugend und Moral zeigten die Skelette mit ihren Sinnsprüchen sowie einige der ausgestellten Bil- der. Der ehemalige Sakralraum der Kirche erhielt somit eine religiöse ge- prägte Bedeutung zurück, die nicht in einer Liturgie endete, sondern den Menschen mittels der gezeigten Schaustücke ein gottesfürchtiges Leben

116 Barge 1934, S. 42; die Inschrift ist ein Zitat aus: Manilius, Buch IV.

252 lernen sollte.117

Abgleich mit biblischer Überlieferung Wie wichtig die religiöse Konnotation der Skelette war, zeigt folgender Be- richt eines Besuchers des Theaters:

„Here were numbered the ribs in two anatomies of a man and a wo- man, and found eleven ribs in a man’s side and twelve ribs in a wo- man’s side.“118

Der Genesis nach wurde Eva aus einer Rippe Adams geschaffen. Im ana- tomischen Theater wurde deshalb eine Rippe aus dem Skelett eines exe- kutierten und zergliederten Verbrechers herausgenommen, um aus des- sem Gerippe jenes von Adam zu schaffen, damit die biblische Geschichte empirisch nachvollzogen und geprüft werden konnte. Die biblische und moralische Lehre war somit entscheidender, als die medizinische, denn Pauw wusste natürlich, dass ein menschlicher Körper – zumindest in der Regel – beidseitig zwölf Rippen aufwies. Er erklärt zudem, dass es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gäbe und erklärte:

„Die direkte Observation zeigt [den Sachverhalt] auf, und sie ist der vertrauenswürdigste Richter, wenn man Sachverhalte erklären muss, so dass es hier keine Notwendigkeit gibt, zurück zur Heiligen Schrift und zum zweiten Kapitel der Genesis zu gehen.“119

Pauw erklärt im folgenden Satz, dass die empirische Betrachtung nur be- dingt die Genesis erkläre, weil darin eindeutig stünde, Gott habe die Frau aus einer Rippe Adams erschaffen, und dass sie deswegen nicht ihre ei- gene Form behalten hätte.120 Pauw hatte somit sichtbar Mühe, seine Er- kenntnisse in Einklang mit der Bibel zu bringen. Dieser Konflikt kommt auch in den Schriften und Exponaten Pauws deutlich zum Ausdruck kommt: In seinem wissenschaftlichen Traktat folgt Pieter Pauw der empi-

117 Dolf Gogelein verglich in einem Gespräch den Sektionstisch und der darüber schwebende Leuchter mit dem Altar und dem Radleuchter einer Kirchen, was die neugewonnene religiösen Bedeutung des ehemaligen Sakralraums nochmals be- tont. Ob diese Objekte jedoch in diesem Sinn gedeutet wurden, verschweigen die Quellen. 118 Brereton 1844, S. 41. 119 „Nec variat hic numerus pro sexus varietate, cum tot sint viris, quot fæminis. docet id autopsia, fidissimus rerum decidendarum iudex. ut ad locum in sacris Genes. 2. recurrere opus non sit.“, Pauw 1615, S. 116. 120 „quamvis is rectè si inspiciatur eï sententiæ non opituletur, quum disertè dicat; Io- vam Deum ex illa quam Adamo detraxerat costa mulierem conformasse; non itaque figuram suam illa retinuit.“, Pauw 1615, S. 116.

253 rischen Erkenntnisse und erklärt, dass Männer gleich viele Rippen haben; im anatomischen Theater hingegen entfernte Pieter Pauw eine Rippe aus dem Skelett des vermeintlichen Adam, um dem Betrachter die biblische Geschichte vor Augen zu führen.

Bezug zum botanischen Garten Das Theater ging sowohl auf funktionaler wie auf symbolischer Ebene eine enge Verbindung mit dem botanischen Garten der Universität ein. Denn die Krankheiten, die man im anatomischen Theater untersuchen konnte und die ein Resultat der Ursünde waren, wurden mittels der Kräuter und anderer Materia medica des Gartens zu heilen versucht. Zudem verwies der botanische Garten durch seine Gestaltung und Funktion auf das Para- dies. Wurde im Garten versucht, den Garten Eden zu rekonstruieren und das Leben des Menschen zu fördern, so diente das anatomische Theater dazu, die Sterblichkeit allen Lebens aufgrund der Ursünde zu themati- sieren. Beides waren also Schauplätze, wo Adam und Eva nachgespürt werden konnte. Der Garten, in dem Pauw im Sommer unterrichtete und in dem die Wunder der Natur ihre Blüten trugen, wurde zudem als lo- cus amoenus verstanden. An seinem zweiten Arbeitsplatz schuf Pauw das Gegenstück dazu: In diesem Raum, in welchem nur während des unwirt- lichen Winters unterrichtet wurde, wenn die Pflanzen des Garten schon lange verwelkt waren, schuf er durch die drastische Inszenierung der Sterblichkeit des Menschen gewissermassen einen locus terribilis.121

Anatomische Illustrationen Die Skelette des anatomischen Theaters verwiesen durch ihre Inszenie- rung auf die Endlichkeit des Lebens. Auch dafür konnte Pauw auf Vor- bilder zurückgreifen. Vermutlich standen hier aber keine dinglichen Exponate zum Modell, sondern Illustrationen aus wissenschaftlichen Traktaten. Denn bereits die ersten anatomischen Publikationen der frü- hen Neuzeit zeigten mit ihren Illustrationen nicht nur den Aufbau des menschlichen Körpers, sondern verwiesen auf moralische Belange, in- dem sie die Skelette als lebendig inszenierten und sie Gegenstände wie Sanduhren oder Spaten in Händen halten liessen. Im Werk von Andreas Vesalius kam dieses Vorgehen ebenfalls zum Einsatz. Der Frontispiz sei- ner Fabrica zeigt sogar ein auf dem Theater aufgestelltes Skelett, das eine Schaufel in Händen hält und somit unmittelbar mit dem Adam der Leide- ner Universität in Beziehung gebracht werden kann.122 Auch in den wissenschaftlichen Traktaten Pieter Pauws findet man

121 Zum Thema, siehe: Garber 1974. 122 Sie dazu beispielsweise: Lunsingh Scheurleer 1975, S. 221–222.

254 Abb. 4.9 Illustration aus Pauws Buch über die Knochen des Men- schen.

(Pieter Pauw, Primitiae Anatomicae de Humani Corporis Ossibus, Leiden (ex officina Ivsti à Colster) 1615, zwischen S. 24 und S. 25.)

(Fotografie des Autors.)

eine Darstellung eines menschlichen Skeletts mit einer Schaufel (Abb. 4.9). Die Illustrationen in seinem Werk Primitiae Anatomicae de Humani Corporis Ossibus von 1615 zeigen tatsächlich die Exponate des Leidener Theaters. Es ist offensichtlich, dass nicht nur Pieter Pauw die Skelette des Theaters untersuchte und in seinem Buch beschrieb, sondern dass sie auch dem Illustrator Modell für seine Zeichnungen standen. Wie Claudia

255 Swan aufzeigt, handelte es sich hierbei vermutlich um Jacques de Gheyn II.123 Die enge Zusammenarbeit zwischen Künstler und Anatom, die an- hand der Exponate des Leidener Theaters stattfand, wird besonders aus den Skelett eines Kindes ersichtlich, das im Leidener Theater verwahrt wurde und welches ein Loch im Schädel aufwies, wie auch im Text und der dazugehörigen Illustration in Pauws Knochenbuch genau beschrie- ben wird.124 Im Leidener Theater erfuhren somit die moralischen Illustra- tionen frühneuzeitlicher Anatomietraktate eine Übertragung in dingliche Objekte, die auf den Rängen des Theaters aufgestellt wurden. Diese dien- ten als Grundlage der wissenschaftlichen Forschung und wurde – zusam- men mit ihrer moralischer Inszenierung – später in Buchform publiziert.

Menschliche Häute Die Sammlung des anatomischen Theaters wies einen Gegenstand auf, der von besonderem Interesse war und auf nahezu allen Kupferstichen des Theaters gezeigt und in den meisten Reiseberichten erwähnt wird. Auf dem Stich von 1609 findet man das Exponat in der linken, auf dem- jenigen von 1610 in der rechten Ecke. Folgende Szene wird dort gezeigt: Ein Mann präsentiert einer gut gekleideten Frau und ihrem männlichen Begleiter die komplette, abgezogene Haut eines Menschen. Keinerlei Öff- nungen sind zu erkennen, wohl aber die Glieder und selbst das Gesicht des Toten, so dass scheinbar die Haut ohne jegliche Spuren abgezogen wurde, was auf das Geschick des Anatomen verweist. Das handwerkliche Können war ein entscheidender Wesenszug frühneuzeitlicher Anatomen, die nun nicht mehr von der Lehrkanzel aus dozierten, sondern selber Hand anlegten. Bereits im Katalog des botanischen Gartens von 1601 wird eine menschliche Haut erwähnt.125 Im Inventar von 1619 werden die Häute zweier Erwachsener und eines Kindes aufgeführt.126 Dasjenige von 1620 erklärt, dass die Häute des Mannes und des Kindes auf einen Rahmen gezogen wurden, während die Haut der Frau vermutlich ohne Rahmen verwahrt wurde.127 Die Häute wurden tatsächlich Besuchern gezeigt und ihnen sogar gereicht, denn Sir William Brereton weiss von ihren hapti- schen Qualitäten zu berichten: „Here are the skins of men and women tanned: a man’s much thicker and stiffer than a woman’s.“128 Und in einem Reisebericht von 1739 wird erklärt:

123 Swan 2005a, S. 56–59. 124 "Cranium infantis rarissimum in quo bregma apertum spectatur", siehe: Barge 1934, S. 40; zudem: Pauw 1615, S. 40 und Illustration S. 41. 125 Pauw 1601, f. 3r. 126 AC1.228, Transkription im Anhang. 127 Barge 1934, S. 42. 128 Brereton 1844, S. 41.

256 „Wir sahen hier 2. Menschen-Häute, deren eine von einem Man- ne, und die andere von einem Weibe genommen war. Man hatte sie eben so gegerbet, wie man es mit andern Leder machet. Eine andere Menschen-Haut war wie Pergament zubereitet.“129

Die Häute wurden also gegerbt und dadurch haltbar gemacht. Sie eigne- ten sich somit – neben Knochen und anderen festen Gegenständen – her- vorragend als beständige Sammlungsgegenstände. Auch ein Darm wur- de vermutlich auf gleiche Weise konserviert und entlang der Trennmauer aufgehängt, wo er in voller Länge Platz fand, „reikende vant suyden tot het noorde, met de Mage daer aen. maer is meest vergaen.“130 Gerbung zur Konservierung war somit nicht für alle Körperteile gleich geeignet. Die Konservierung naturwissenschaftlicher Exponate durchlief während der frühen Neuzeit eine grosse Entwicklung, wobei nicht nur neue Techniken erprobt, sondern auch neue Erkenntnisse zu den Gegenständen gefun- den wurden.131 Neben diesem pragmatischen Aspekt des Haltbarmachens, die zur Aufbewahrung menschlicher Häute führte, war eine abgezogene Haut aber auch ein deutbares Symbol, weswegen sie wohl – neben der Kurio- sität, die sie darstellte – im Kupferstich von 1610 so prominent in Szene gesetzt wurde.132 So verweist eine abgezogene Hat auf verschiedene Über- lieferungen. Die älteste davon ist die Erzählung von Apoll und Marsyas, nach welcher der Satyr Marsyas in solchem Masse von seiner Kunst des Flötenspiels überzeugt war, dass er Apoll zu einem Wettstreit herausfor- derte. Letzterer gewann den Wettbewerb und zog ihm als Strafe für seine Hybris bei lebendigem Leib die Haut ab. Der Mythos wurde von verschie- denen Autoren behandelt, darunter Herodot und Ovid. Eine weitere Häutungsszene der Antike war in Bezug auf die Leidener Sammlung von besonderem Interesse, nämlich diejenige des bestechli- chen Richters Sisamnes, den König Kambyses ebenfalls bei lebendigem Leib häuten liess. Sisamnes Sohn und Nachfolger Otanes musste auf dem Richterstuhl Platz nehmen, auf dem nun die Haut seines Vaters auflag, auf dass er ein rechtsprechender Richter sein würde. Diese Geschichte war vor allem im Norden Europas und besonders häufig in den protes- tantischen Niederlanden in der Kunst präsent. Sie diente dabei vor allem als exemplum iustitiae und fand Anwendung in Gerichtsbüchern, Emb- lemsammlungen und in Gerichtsstuben – so beispielsweise in der wohl

129 Fürst 1739, S. 88. 130 Barge 1934, S. 38. 131 Zu den Techniken der Konservierung wissenschaftlicher Exponate, siehe: Cook 2002. 132 Generell zum Thema:Bohde 2003.

257 Abb. 4.10 Die Verurteilung und Häu- tung des korrupten Richters Sisamnes durch Kambyses (Ausschnitt).

(Kupferstich von Willem Jacobsz. Delff, herausge- geben von Robert de Bau- dous, mit einer Kalligra- phie von Maria Strick-Becq, ohne Datierung.)

(Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- mer: RP-P-1883-A-6992.)

berühmtesten Darstellung der Szene von Gerard David (um 1460–1523) für das Brügger Rathaus. Eine deutlich drastischere Darstellung der Ge- schichte wurde 1550 im Amsterdamer Stadthaus ausgeführt. Die Magis- traten der Stadt gaben einen exekutierten Dieb zur Zergliederung durch Chirurgen frei. Die Haut des Toten wurde dabei sorgfältig abgezogen, ge- gerbt und in das Stadthaus gehängt, damit sie anderen Gesetzesbrechern als Warnung dienen möge.133 Auch im Leidener Anatomietheater wollte man durch die gezeigte Haut auf diese Geschichte hinweisen und den Besucher zu einem recht- mässigen Verhalten anregen. Dazu wurde neben der Haut, die wie in der Geschichte ebenfalls von einem Verbrecher stammte, auch ein Kupferstich gezeigt, der die Geschichte von Sisamnes und Kambyses – zusammen mit derjenigen des gerechten Richters Zaleukos – darstellte und erläuterte (Abb. 4.10).134 Vermutlich wurde er ebenfalls durch Heurnius erworben, da auf seiner Einkaufsliste von einem Bildnis der Justitia die Rede ist, die im wahrscheinlich gekauften Bild mittig die Szene dominiert.135 Das wis- senschaftliche Exponat erfuhr durch die unmittelbare Nachbarschaft zu einem Bild der Geschichte eines Gehäuteten eine direkte Lesbarkeit und

133 Cook 2007, S. 112. 134 Es handelte sich hierbei wohl um den Kupferstich, der durch Willem Jacobsz. Delff angefertigt wurde, siehe: Barge 1934, S. 44. 135 Barge 1934, S. 29.

258 die Haut wurde zum Emblem der parteilosen Rechtssprechung. Der Heilige Bartholomäus wurde ebenfalls gehäutet. Unter den vie- len Bildern, die das anatomische Theater schmückten, findet sich jedoch keine Darstellung dieses Märtyrers, was in den protestantischen Nieder- landen aber kaum erstaunt.136 Auch die Marsyas-Sage war im Theater nicht bildlich präsent, wohl aber in einem Buch der Bibliothek, denn im Anatomiebuch von Vesalius findet sich diese Schindungsszene hinter der Initiale des Buchstaben V.137 Bilder von abgezogenen Häuten wurden zu- dem im Laufe des 16. Jahrhunderts häufig als Frontispiz für anatomische Publikationen verwendet.138

Walknochen und -zähne An der Trennmauer zwischen Anatomie und Bibliothek wurden oberhalb des gegerbten Darms verschiedene Knochen eines Wals aufgehängt, da sie nur dort aufgrund ihrer immensen Grösse genügend Platz fanden. Sie werden im Kupferstich von 1610 nicht gezeigt, dafür in jenem des Jahres 1712 (Abb. 4.14). Es handelte sich dabei um Knochen eines Exemplars, das „anno 1600 strandeten bei Katwijck ende was 60 voeten lanck, 19 hooch, 36 dick“.139 Später wurden einige Teile in den Eingangsbereich der Kirche überführt. Es war aber nicht der erste Wal, der in der Nähe der Stadt Lei- den ans Land gespült wurde. Bereits 1598 strandete nämlich ein solches Tier an der Küste von Berchey, worauf von überall her Menschen herbei strömten, um es zu besichtigen. Carolus Clusius gibt in seiner Publikati- on Exoticorum libri decem ausführlichen Bericht über beide Wale, denn die Tiere wurden auch durch Leidener Professoren besichtigt, untersucht und ausgemessen.140 Danach wurden die Überreste von mindestens ei- nem Exemplar ins anatomische Theater überführt. Doch waren die Knochen und die von Clusius durchgeführte wis- senschaftliche Analyse nicht die einzigen Zeugen, die dieses Tier und sei- ne Strandung dokumentierten. Im anatomischen Theater wurde nämlich auch ein Kupferstich aufgehängt, der die Szene um den Wal von 1601 zeig- te und der 1618 von Heurnius gekauft wurde (Abb. 4.11).141 Im Katalog wird bei der Abhandlung der Walknochen auf diesen Kupferstich ausdrücklich

136 Bohde 2003, hier S. 132–134. 137 Benthien/Gadebusch 2003, S. 86–88. 138 Bohde 2003, S. 131–132 und S. 136–137. 139 Barge 1934, S. 38–39; die im Index verzeichnete Datierung ist falsch, denn der Wal strandete am 19. Dezember 1601. 140 Clusius 1605, S. 131–132. 141 Siehe zum Kupferstich und seiner Bedeutung auch: Lunsingh Scheurleer 1975, S. 236–237.

259 verwiesen, um die Verbindung beider Exponate sicherzustellen.142 Der Zeichner, Jan Saenredam (1565–1607), stellte sich dabei selbst dar, wie er den Wal skizzierte, um dem resultierenden Kupferstich zusätzliche Au- thentizität zu verleihen. Das Tier war somit dreifach in der Beginenkirche vorhanden: zum einen in Form seiner knöchernen Überreste, des weite- ren als wissenschaftliche Beschreibung in der Bibliothek und als drittes in Form einer dokumentarischen Zeichnung der Geschehnisse.143 Zudem konnten die frühen Professoren der Universität noch als Augenzeugen vom Wal und seiner Strandung berichten. Ihre Erfahrungen als Augen- zeugen wurden somit in den verschiedensten Medien verwahrt und den Besuchern präsentiert, ihre wissenschaftlichen Schilderungen erlangten dadurch Authentizität. Clusius hatte aber nicht bloss ein rein wissenschaftliches und de- skriptives Interesse an Walen. Als er 1577 erstmals von gestrandeten Mee- resungeheuern hörte, deutete er dies als böses Omen, möglicherweise so- gar als Zeichen für den schlechten Ausgang des Befreiungskrieges gegen die Spanier.144 Die Strandung des Wals im Jahr 1598 wurde ebenfalls als Bote von zukünftigen politischen Veränderungen aufgefasst.145 Generell interpretierte man ausserordentliche Naturereignisse – wie beispielswei- se auch Kometen oder monströse Geburten – als Zeichen Gottes, da sie sich scheinbar ausserhalb der Ordnung der Welt abspielten. Wale konnten wiederum mit der biblischen Geschichte in Bezug gesetzt werden, insbesondere natürlich mit der alttestamentarischen Er- zählung von Jonas und dem Wal oder dem Leviathan genannten Mee- resungeheuer. Uffenbach besichtigte 1711 die Walknochen im Leidener Anatomietheater. Besonderes Augenmerk schenkte er der Grösse des Schlunds und erklärt:

„Man kan kaum einen Daumen dadurch stecken. Wenn D. Luther dergleichen gesehen hätte, würde er wohl den Fisch, welcher Jo- nam verschlungen, keinen Wallfisch genennet haben, denn es ist unmöglich, daß ein Wallfisch bey so enger passage eine Katze, will geschweigen einen Menschen verschlingen könne.“146

Uffenbach vermochte, da er im Gegensatz zu Luther zumindest die Über-

142 Barge 1934, S. 38: „[Gebeine eines] Walvisch […], dewelke in prent afgheteikent staet op de eerste camer der Anatomie", und S. 64: „14. Den grooten walvisch van Saenre- d a m .“ 143 Zu den Kupferstichen gestrandeter Wale und der Illustration in Clusius’ Exoticorum, siehe: Margócsy 2011. 144 Hunger 1927–1943, Band II, S. 75. 145 Anonym 1599. 146 Uffenbach 1754, S. 439.

260 reste eines Wals auch tatsächlich sehen und sinnlich untersuchen konn- Abb. 4.11 Der gestrandete Wal von te, Kritik an dessen Bibelauslegung zu üben. Damit war er nicht allein. Beverwijk, der betrachtet, Im Zuge des 17. Jahrhunderts und der zunehmenden empirischen Er- vermessen und gezeichnet wird. forschung der Welt kam nämlich nicht nur die Exegese, sondern selbst die Heilige Schrift immer mehr in Kritik. Der Fund neuer, noch nie be- (Zeichnung und Kup- ferstich von Jan Saenre- schriebener Pflanzen, Tiere oder Menschen auf den neuentdeckten Kon- dam,1602.) tinenten führte nicht nur zur Anfechtung der Schriften antiker Autoren, sondern auch zu neuen Auslegungen der Bibel. Selbes zeigt die Proble- (Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- matik um die gleiche Anzahl an Rippen, die Pauw in Zergliederungen von mer: RP-P-OB-4635.) weiblichen und männlichen Leichen feststellen konnte. Das Fundament des Wissens, das innerhalb der Bibliothek verwahrt wurde und dessen Autorität während der Renaissance nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde, geriet deshalb immer mehr ins Wanken.147 Die Zerlegung des Wals und die anschliessende Verwahrung seiner Knochen glich zudem jener mythologischen Erzählung, in der das Mee- resungeheuer Keto – im Begriff, die schöne Andromeda zu verspeisen – durch Perseus getötet wurde. Clusius nennt den Pottwal in seinem Exoti- corum denn auch Cetus.148 Verschiedene antike Quellen berichteten, dass

147 Jorink 2011. 148 Clusius 1605, S. 131–132.

261 Keto anschliessend zergliedert und seine Überreste verwahrt wurden. Pli- nius d.Ä. beispielsweise nennt Rom als Ort der Zurschaustellung seiner Knochen. Im Leidener Theater wurde dezidiert auf diese mythologische Erzählung Bezug genommen, denn ein Kupferstich von Jacques de Gheyn II. wurde dort aufgehängt und gab die Geschichte bildlich wieder.149 Die Knochen des Wals und die dazu passenden und gezeigten Kup- ferstiche wurden somit nicht nur für eine empirische und faktische Un- tersuchung des Tieres genutzt, sondern auch für die Erzählung biblischer oder antiker Mythologien. Erst der räumliche Zusammenschluss der ver- schiedenen Exponate erlaubte eine mehrfache Deutung der Gebeine. Die sinnliche Erfahrung der Objekte führte somit nicht nur zur Entdeckung neuer Erkenntnisse, sondern wurde auch genutzt, um überliefertes Wis- sen und Geschichten sinnlich vor Augen der Zuschauer zu führen. Die Überlieferung erhielt dank der Objekte eine dingliche Präsenz.

Die Sammlung unter Heurnius

Pieter Pauw starb am 1. August 1617. Da er sowohl im Theater, wie auch im Garten unterrichtete, mussten für beide Orte Nachfolger gefunden wer- den. (Aelius) Everardus Vorstius (1565–1624)150 wurde zum Präfekten des Gartens berufen und Reynerus Bontius (1576–1623) übernahm die Vorle- sung der Physicam.151 Mit der Berufung eines neuen Anatomen liess sich das Kuratorium hingegen Zeit. Man beschloss, da es Sommer war, die Be- setzung der Stelle zu vertagen. Zunächst setzten sie auf Henricus Floren- tius (ca. 1574–1648)152, der eine Probezergliederung vornehmen sollte, so- bald eine passende Leiche gefunden werden konnte.153 Anscheinend war er tatsächlich zuerst der Nachfolger Pauws, den im Inventar von 1619 wird oftmals sein Name erwähnt und erklärt, dass einige der anatomischen Präparate von Pauw in seinem Besitz seien.154 Als weiterer Kandidat trat neben den beiden Studenten Hubertus Bijlius und Adrianus Valckenburg auch Otto Heurnius aufs Parkett. Bereits 1601 wurde er der Nachfolger seines Vaters Johannes Heurnius (1543–1601) und lehrte als ausserordent- licher Professor an der Leidener Universität. 1611 wurde er zum ordentli- chen Professor berufen. Mittels eines Wettstreits, bei dem eine Leiche im anatomischen Theater zergliedert werden musste, wurde aus den Kandi-

149 „Andromeda int ront van de Geyn“, Barge 1934, S. 67; ein Abzug des Kupferstichs wird im Rijksmuseum Amsterdam verwahrt, Objektnummer: RP-P-1889-A-15059. 150 Zu seiner Biographie, siehe: Van der Aa, Deel 19, S. 371–373. 151 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 385r–385v; AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 385v–386r. 152 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 4, Sp. 604. 153 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 386r. 154 AC1.228; transkribiert im Anhang.

262 daten der Nachfolger Pauws bestimmt.155 Es war Otto Heurnius, der im Mai 1618 zum Anatom der Leidener Universität berufen wurde und eine Lohnerhöhung von 200 Gulden er- hielt. Falls er keine Zergliederungen vornehmen wollte, so sollten ab- wechselnd Florentius und Valckenburg einspringen, dafür jedoch keinen zusätzlichen Lohn erhalten, sondern nur, was die Studenten dafür zu be- zahlen bereit seien.156 Es wiederholte sich also die Praxis, die bereits im 16. Jahrhundert in Italien herrschte, nämlich dass die Studenten selbst für die Zergliederungen aufkommen mussten. Valckenburg wurde 1623 nach dem Tod von Reynerus Bontius zum ausserordentlichen Professor beru- fen und 1630 zum Ordinarius gewählt. Auch er betätigte sich ab 1624 im anatomischen Theater, was später zu Streitigkeiten um das Lokal führte.157

Eine Büchersammlung für die Anatomie Kurz nach der Übernahme des anatomischen Theaters machte sich Otto Heurnius daran, die dortige Sammlung zu erweitern. Eine überlieferte Abrechnung des Buchhändlers Godfrid Basson vom August 1618 zeugt davon.158 Er kaufte einige der zuvor erwähnten Bilder und wenige Bücher ein. Anschliessend präsentierte er die Rechnung über 123 Gulden und 17 Stuyvers dem Kuratorium. Das Vorgehen von Heurnius war dem Kurato- rium bestens bekannt, denn auch der Bibliothekar Daniel Heinsius kauf- te häufig Bücher ein, ohne das Kuratorium um Erlaubnis zu bitten. Das Kuratorium verbot den beiden, in Zukunft ohne Vorwissen Bücher und andere Objekte für ihre Sammlungen zu erwerben.159 Wie der Bibliothe- kar hielt sich jedoch auch Heurnius nicht daran, denn nur wenige Monate später legte er dem Kuratorium erneut eine Rechnung vor. Aus der über- lieferten Akte wird ersichtlich, was Heurnius einkaufte. Neben wenigen Instrumenten und Bildern – unter ihnen die erwähnten vier fallenden mythologischen Figuren – waren es vor allem Bücher, die er damals bei Godfrid Basson erwarb. Es werden 25 Bände aufgeführt, in denen oftmals mehrere Werke zusammengebunden waren. Die meisten davon behan- delten chirurgische und anatomische Themen.160 Heurnius scheint sich zunächst an den Beschluss des Kuratoriums gehalten zu haben, denn in den Akten finden sich keine weiteren Belege von Bucheinkäufen für das anatomische Theater. Auch die Inventare der Jahre 1620–1628 und 1668 listen nahezu ausschliesslich dieselben Bücher

155 Huisman 2009, S. 43. 156 Bronnen II, (8./9. Mai 1618), S. 81. 157 Siehe dazu: Kroon 1911, S. 58–62; Huisman 2009, S. 44–45. 158 Barge 1934, S. 28–29. 159 Bronnen II, (9. Nov. 1619), S. 88. 160 AC1.43; ohne Paginierung.

263 Abb. 4.12 Otto Heurnius, Vorsteher des anatomischen Theaters von 1618 bis 1652.

(aus: Joannes Meursius, Io- annis Mevrsi Athenæ Bata- væ, sive de vrbe Leidensi & academiâ, virisque claris; qui utramque ingenio suo, atque scriptis, illustrarunt: libri dvo, Leiden (apud Andream Cloucquium, et Elsevirios) 1625, S. 276.)

(Fotografie des Autors.)

auf.161 Wie aus den späteren Katalogen hervorgeht, wurden die Bücher im Büro des Anatomen aufbewahrt, das im Erdgeschoss unterhalb des The- aters lag. Die Bände wurden ihrer Grösse nach verwahrt und erhielten eine Signatur, denn die Reihenfolge der Aufzählung und Nummerierung blieb in allen späteren Verzeichnissen gleich. Zudem wird im Katalog von Heurnius erwähnt, dass er in den Bücher neben ihrer Zugehörigkeit zum anatomischen Theater auch den Zeitpunkt ihres Erwerbs vermerkt hat- te.162

161 Barge 1934, S. 58–61; der Katalog von 1668 in: AC1.228. 162 Barge 1934, S. 60.

264 Heurnius erklärte dem Kuratorium, weshalb der Kauf dieser Bücher notwendig gewesen sei. Zum allerletzten Mal hätte er Bücher erworben, die äusserst wenig gekostet hätten, für den anatomischen Unterricht je- doch unbedingt benötigt würden, denn ohne diese Werke könne keine Demonstration der Anatomie vollzogen werden. Die Bücher erklärten, wie die einzelnen Körperteile fachmännisch zu trennen seien, und hel- fen, das Studenten mögliche Krankheiten zu vermitteln. Zudem woll- te Heurnius mittels der Bücher den Studenten auch die verschiedenen Lehrmeinungen der antiken Autoren darlegen.163 Der Kupferstich von 1609 zeigt ein aufgeschlagenes Buch, das während der Zergliederung ne- ben der Leiche platziert wurde. Der Unterricht in der Anatomie vollzog sich also – wie auch aus den Erklärungen von Heurnius hervorgeht – noch immer im Abgleich mit dem überlieferten Wissen. Pieter Pauw besass eine umfangreiche Privatbibliothek, wie aus dem Katalog deren Verstei- gerung hervorgeht.164 Vermutlich nahm er jeweils eigene Bücher mit, um den Studenten daraus vorzulesen, weswegen er keine universitäre Fach- bibliothek benötigte. Doch wieso wurde in demselben Gebäude, in dem auch die öffent- liche Bibliothek der Universität eingerichtet war, eine weitere Bücher- sammlung geschaffen? Zum einen lag es sicherlich daran, dass – wie bereits erklärt wurde – auch die anderen Fakultäten über eigene Bücher- sammlungen verfügten, die nur den Angehörigen der Fakultät zugänglich waren und fachspezifische Literatur umfassten. Zum anderen jedoch la- gen die Bücher der öffentlichen Bibliothek an Ketten. Nur sehr schwer hätten sie davon gelöst und ins anatomische Theater überführt werden können, um sie zusammen mit den sezierten Leichen zu studieren. Im Katalog der öffentlichen Bibliothek von 1623 werden knapp über 120 Werke der Medizin aufgeführt, während die Sammlung des anatomi- schen Theaters 1620 etwas mehr als 50 Werke in 33 Bänden umfasste.165 Wenige davon tauchen in beiden Katalogen auf, was zumindest ein Indiz dafür ist, dass Heurnius die Bücher der öffentlichen Bibliothek bei seinen Einkäufen nicht berücksichtigte. Heurnius baute sich eine relativ gewich- tige Sammlung an Fachliteratur auf und verliess sich nicht auf die Bestän- de der öffentlichen Bibliothek. Vielleicht muss man seinen letzten Satz in der Argumentation des Einkaufs als Seitenhieb gegen den Bibliothekar verstehen, denn Heurnius erklärt, er hätte keinesfalls unnütze Bücher er- worben, wie dies heutzutage ständig geschehen würde.166 Trotz der Argumente von Heurnius forderten die Kuratoren ihn auf,

163 AC1.43, ohne Paginierung. 164 Anonym 1638. 165 Heinsius 1623; Barge 1934, S. 58–61. 166 AC1.43, ohne Paginierung.

265 in Zukunft weder Bücher noch Instrumente für das anatomische Theater ohne ihr Vorwissen zu erstehen. Zudem sollte er einen Katalog aller Ob- jekte des anatomischen Theaters anfertigen, nämlich „van boucken, ins- trumenten ende sceletten“.167 In derselben Sitzung wurde auch der Bib- liothekar zur Erstellung eines Katalogs aufgefordert. Während sich dieser noch drei Jahre damit Zeit nahm, kam Heurnius der Bitte sofort nach.168

Der Wandel der Sammlung unter Heurnius Die Sammlung, die unter Pieter Pauw im anatomischen Theater einge- richtet wurde, bestand primär aus Skeletten und anderen anatomischen Schaustücken. Diese wurden im obersten Geschoss des Theaters präsen- tiert. Otto Heurnius ergänzte die Sammlung gezielt und berücksichtigte dabei ihre Ausrichtung auf die moralische Erziehung der Besucher, wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde. Doch kamen unter seiner Präfektur auch weitere Objekte in das ana- tomische Theater, allem voran Naturalien, aber auch ethnografische -Ar tefakte. Im Zwischengeschoss, das Pauw anscheinend nicht so benutzte, richtete Heurnius eine Sammlung mit weiteren Naturalien ein, aber auch ethnologische Exponate wurden dort gezeigt, weswegen das anatomische Theater zu einem der ersten Völkerkundemuseen der Niederlande avan- cierte. Pieter Pauw sammelte ebenfalls solche Raritäten, doch verfügte er über einen weiteren Sammlungsraum, in dem diese gezeigt wurden, nämlich in einer Galerie des botanischen Gartens, genannt Ambulacrum. Er konnte innerhalb des Theaters somit dezidiert anatomische Präpara- te zur Schau stellen. Er nutzte die beiden Räumlichkeiten in spezifischer Weise: Im Garten präsentierte er die Vielzahl und Wunder der Schöpfung Gottes, während er im anatomischen Theater einen Raum der Endlichkeit allen Lebens schuf.

Exponate des obersten Geschosses Heurnius verfügte jedoch nur über eine Lokalität. Um seine Neugierde zu stillen, benötigte auch er verschiedenste Kuriositäten, die er zwangsläu- fig im anatomischen Theater verwahrte. Die Naturalien und ethnografi- schen Objekte stellte er primär unterhalb der Ränge des Theaters aus, da der Raum darüber bereits durch die Skelette besetzt war. Auf der obers- ten Ebene stellte er bloss zwei Schränke in die beiden Ecken zwischen Kirchenmauer und Trennwand zur Bibliothek. Im nördlichen Schrank befanden sich verschiedene Skelette und Körperteile, beispielsweise der Schädel und das Skelett eines Kindes neben dem Gerippe einer Maus und

167 AC1.21, (8./9. Mai 1620), f. 50v–51r. 168 AC1.21, (8. Nov. 1621), f. 104v; der Katalog transkribiert in: Barge 1634.

266 der Leber einer jungen Frau. Im südlichen hingegen wurde unter ande- rem der halbe Arm einer Mumie, Steine aus Ägypten, der Schädel eines Mannes sowie verschiedene Nieren- und Blasensteine gezeigt und mit- tels Inschriften dem Betrachter erläutert.

Der Raum unterhalb der Ränge Das Geschoss zwischen dem eigentlichen Theater und dem Keller, wo das Büro und ein Lagerraum eingebaut waren, versah Heurnius mit zahl- reichen Möbeln und Exponaten. Dort platzierte er vier verschiedene Schränke, wobei nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, wo sich diese genau befanden. In späteren Katalogen werden die Standorte der Mö- bel etwas genauer beschrieben.169 Sie standen vermutlich aufgrund der kegelförmigen Konstruktion des Theaters entlang der Wände der Apsis. Die Schränke und die einzelnen Regalbretter wurden mit Buchstaben gekennzeichnet. Zur Konsultation der dort verwahrten Exponate lagen gedruckte Beschreibungen aus.170 Die Besucher konnten anhand der In- ventare und der Buchstaben selbstständig die Schaustücke studieren. Be- sondere Exponate wurden mit zusätzlichen Hinweisen versehen. In einem Schrank, der mit dem Buchstaben C beschriftet wurde, lagerten vor allem Objekte der Natur. Der Besucher fand hier beispiels- weise eine Schlangenhaut, verschiedene Steine, die Därme eines Wolfs und eines Bibers, ein dunkelfarbiges Krokodil, aber auch menschliche Körperteile wie verschiedene Schädel oder ein weiterer Arm einer Mu- mie. Dazu kamen noch einige exotische Artefakte, beispielsweise Ohr- ringe aus Brasilien, ein aus Holz geschnitzter Uhu aus Ägypten, oder ein aus einem Straussenei gefertigter Becher. Somit waren in diesem Schrank Objekte vertreten, die auch im Ambulacrum hätten verwahrt werden können, denn auch dort lagerten solche Exponate der Natur und einige handwerkliche Erzeugnisse. Erik de Jong hat aufgezeigt, dass einige Expo- nate zwischen den beiden Lokalitäten hin und her wechselten.171 Späte- re Naturalien und Artefakte fremder Länder fanden auch ausserhalb der Schränke ihren Platz, wie die Ergänzungen in den Katalogen von 1622 und 1628 zeigen. Auch in einem weiteren Kasten, beschriftet mit dem Buchstaben B, lagerten Naturalien, beispielsweise ein Fisch, der durch Guillaume Ron- delet beschrieben wurde. Rondelet wurde zur Erstellung seiner Publika- tion über Fische von Carolus Clusius unterstützt, der später an der Leide- ner Universität forschte und zuvor bei Rondelet in Montpellier lernte. In diesem Schrank lagerten auch menschliche Gebeine, beispielsweise Teile

169 Transkriptionen und Kopien späterer Kataloge in: Witkam 1980b. 170 Barge 1934, S. 51. 171 Jong 1991, S. 46.

267 eines Oberkiefers. Dieser konnte direkt mit dem Unterkiefer einer ägyp- tischen Mumie in Bezug gesetzt werden, die daneben verwahrt wurde. Ein mumifizierter Oberarm wurde dort ebenfalls gezeigt. Das besondere Interesse von Heurnius an orientalischen und – vor allem – ägyptischen Gegenständen zeigten auch die Exponate des Schranks D. Dort verwahrte er Abbilder der ägyptischen Gottheiten Osiris und Isis. Daneben wurden verschiedene Stücke gezeigt, die Hieroglyphen aufwiesen. Dieser Schrank umfasste nahezu ausschliesslich Gegenstände aus Ägypten.

Der Schrank mit der Mumie Das wichtigste Exponat, das Heurnius zur Schau stellen konnte, stammte ebenfalls aus Ägypten, nämlich „die grosse Mumie“ mitsamt ihres Sarko- phags, die laut dem Anatomen einen „heidnischen religiösen Brauch aus alten Zeiten darstellte“.172 Sie lag in ihrem geöffneten Sarkophag, während der Deckel oberhalb und vertikal aufgestellt wurde. Auf ihm war ebenfalls die Gottheit Isis zu sehen. In diesem Schrank lagen nicht nur die gedruckten Inventare der ge- samten Sammlung aus, sondern zudem auch eine gedruckte Erklärung der Mumie und eine Auflistung aller weiteren Gegenstände, die in die- sem Schrank verwahrt wurden. Es war somit das bedeutendste Ausstel- lungsstück, das wohl auch räumlich im Zentrum der Aufmerksamkeit lag und als erstes von den Besuchern gesehen wurde. Aus späteren Katalo- gen geht hervor, dass dieses Möbel an der Nordseite der ehemaligen Kir- che platziert wurde, also dort, wo die Treppe in das Zwischengeschoss führte.173 Die Mumie wurde, wie viele andere Objekte der Sammlung, als ein pharmazeutisches Mittel betrachtet, sogar als ein aussergewöhnlich wirksames.174 Sie übte eine besondere Faszination auf Heurnius aus, der eine grössere Schrift zu ihr verfasste, die jedoch nie in Druck ging. Im The- ater hing einen erklärenden Text in Niederländisch über ihr, der erklärte, wie die Mumie nach Leiden kam und woher sie stammte, nämlich aus dem Land, „neben dem Nil, von wo Moses durch die Tochter des Pharaos gerettet wurde“.175 Aufgrund ihrer Herkunft und ihres hohen Alters hatten sowohl die Mumie als auch die Inschriften in Hieroglyphen besondere Bedeutungen. Neben der Mumie wurden weitere Gegenstände in diesem Möbel verwahrt, die scheinbar nichts mit ihr zu tun hatten. Der Schrank besass mehrere Fächer, die ebenfalls durchgehend mit den Buchstaben A bis E und AA bis EE gekennzeichnet wurden. Vermutlich handelte es sich um

172 Barge 1934, S. 50. 173 Beispielsweise im Katalog von 1652, siehe: Witkam 1980b, S. 3. 174 Cook 2003, S. 230–231. 175 Zitiert nach: Jorink 2010, S. 287.

268 einen grossen und aufwändig gestalteten Kabinettschrank, der über zwei Etagen verfügte. In den Fächern wurden verschiedene Naturalien aus In- dien, Amerika und Afrika verwahrt, beispielsweise Schnäbel von Vögeln, verschiedene Früchte und Nüsse exotischer Bäume, fremdartige Steine und weitere Exotica. Viele der in diesem Möbel gezeigten Naturalien be- sprach Clusius in seiner Publikation Exoticorum libri decem von 1605, wie J.A.J. Barge und F.W.T. Hunger aufzeigen konnten.176 Die Objekte waren somit bereits vor der Amtszeit von Heurnius in Leiden, denn Clusius starb bereits 1609. Möglicherweise waren sie zuvor in einer Galerie des Gartens untergebracht, denn im Inventar von 1619 wird erklärt, dass dort „Acht la- den daerinne zijn verscheijdene soorten, ende fatsoenen van hoornen, conchijlien, histrices, cruijden, planten, noten, ende veel schonen raritei- jten“ zu finden waren.177 Einige der exotischen Objekte stammten jedoch sicherlich aus dem Privatbesitz von Heurnius, denn er selbst erklärte, dass manche seiner Naturalien, die er ins anatomische Theater überführte, zu- vor von Clusius beschrieben wurden.178

Keller und Eingangsraum Im Geschoss darunter befand sich das Büro des Anatomen, in dem ne- ben den Büchern weitere Objekte verwahrt wurden. Angrenzend befand sich der sogenannte Keller, der primär der Lagerung verschiedener Mö- bel, Gebrauchsgegenstände und Instrumente diente. Im Raum davor konnten weitere wissenschaftliche Exponate studiert werden, die eben- falls in beschrifteten Schränken verwahrt wurden. Auch im Vorraum zur Anatomie und Fechtschule wurden Bilder und Exponate aufgehängt. Der Raum unter der Treppe zum Theater diente als Lagerraum für andere Ge- brauchsgegenstände. Objekte erhalten Heurnius schaffte es somit, in nur wenigen Jahren alle Räume des ana- tomischen Theaters mit Objekten zu bestücken. Doch wie kam er zu all den Raritäten? Bereits Pieter Pauw und Carolus Clusius setzten schon früh auf die internationalen Handelsbeziehungen der Niederlande, um an Kuriositäten aus Übersee zu gelangen. Diese wurden aber – wie das oben erwähnte Beispiel der gesammelten Früchte, Nüsse und anderer Objekte zeigt – zunächst in der Galerie des botanischen Gartens verwahrt. Auch Pflanzen wurden so beschafft, weswegen die Handelsbeziehungen der Niederlande von besonderer Bedeutung für die Bestückung des bo- tanischen Gartens waren. Pauw besass eine durch die Generalstaaten verfasste Akte, welche die Ostindische Handelsgesellschaft (VOC) dazu

176 Siehe dazu die Anmerkungen in: Barge 1934, S. 52–54. 177 Zitiert nach der Transkription in: Jong 1991, S. 56. 178 AC1.21, (8. Febr. 1623), f. 124r–125v, hier f. 125v.

269 aufgeforderte, Pflanzen und andere Raritäten für den botanischen Garten und das anatomische Theater in Leiden zu beschaffen.179 Nach Pauws Tod überführte sie Heurnius in seinen Besitz.180 Heurnius liess ebenfalls seine Beziehungen spielen, um Kuriositäten zu beschaffen. In der Sitzung vom 9. Februar 1619 wurde nicht nur dis- kutiert, wann Franciscus Merwen, ein Absolvent der Leidener Universi- tät, mit fremden Kräutern und anderen Naturalien aus Ostindien nach Leiden zurückkehren würde, sondern auch, dass zwecks Erhalt weiterer Raritäten an Laurentius de Croix geschrieben werden sollte, der damals in Aleppo weilte.181 Es handelte sich dabei jedoch um einen anderen Kon- takt als jenen, den Golius Jahre später zum Erwerb orientalischer Manu- skripte aus Aleppo nutzte. Nur wenige Tage später sprach Heurnius den Kuratoren gegenüber verschiedene Wünsche aus. Einerseits wollte er, dass der Schornstein der Akademie wieder ordentlich funktioniere und das Dach repariert werde. Zum anderen wünschte er sich, dass die Ost- und Westindischen Han- delskompagnien ihm aus allen Ländern der Welt menschliche Gebeine – wenn möglich Schädel – bringen sollten. Besonderes Interesse hatte er an Stücken aus Patagonien und aus dem Amazonasgebiet, denn er erklär- te, dass dort riesenhafte Personen gefunden werden konnten und solche, die „het aenghesicht in de borst hebben.“182 Tatsächlich fand man in vie- len Reiseberichten zum südamerikanischen Kontinent die Legenden um Riesen und Gestalten, die ihr Gesicht in der Brust hatten. Heurnius wuss- te sicherlich aus solchen Berichten von diesen kuriosen Wesen und woll- te das Geschriebene empirisch überprüfen, ohne selbst nach Westindien reisen zu müssen. Knochen von vermeintlichen Riesen lagerten in späte- ren Jahren tatsächlich im Ambulacrum des Gartens.183 Auch später noch wollte Heurnius Naturalien erhalten, die ihm nur aus Texten bekannt wa- ren, beispielsweise ein Exemplar des Vogels Trochilus, der angeblich die Zähne von Krokodilen putzte, oder ein Exemplar des Vogels Crex, der an- geblich seltsame Geräusche von sich gab. Beide Tiere hatte Herodot be- schrieben.184 Und wie Pauw und Clusius vor ihm, forderte auch Heurnius, dass den Exponaten aus Übersee Zettel beigelegt wurden, auf denen ihre

179 Hunger 1927–1943, Band 1, S. 267; zum Thema generell: Cook 2007. 180 AC1.228, Inventaris van de Rariteyten opde Anatomie en inde twee gallerijen van des Universiteyts Kruythoff, siehe Transkription im Anhang. 181 Bronnen II, (9. Febr. 1619), S. 84. 182 AC1.43 (19. Febr. 1619); teilweise transkribiert in: Huisman 2009, S. 190, Anmerkung 101 und Anmerkung 102. 183 Siehe beispielsweise: (ohne Autor), CURIOSITIES AND RARITIES To be seen In the Gallery of the Garden OF THE Academie of Leyden, (ohne Ort und Datum), S. 6, Nr. 116: „A Giants Bone“. 184 Huisman 2009, S. 52–53.

270 Herkunftsgebiete verzeichnet wurden. Neben den Gebeinen wünschte sich Heurnius auch Urnen aus dem Campus Elysius in Neapel, in denen die Asche der Verstorbenen „tot een sepultare ende ghedachtenisse“ aufbewahrt wurden. Die Urnen hätten gut in seine Sammlung gepasst, waren doch auch sie – wie die Skelette und Mumien – Zeugen von verstorbenen Personen früherer Zeiten. Spä- ter fanden sich tatsächlich einige Urnen, wobei nicht mit Sicherheit ge- sagt werden kann, ob es sich dabei um die gewünschten Exemplare han- delte. In derselben Sitzung bat er zudem das Kuratorium um Erlaubnis, einige Bücher kaufen zu dürfen, was anscheinend gutgeheissen wurde, denn die geforderten Werke waren später in der Bibliothek der Anatomie aufzufinden.185 Den wichtigsten ausländischen Kontakt stellte aber schon bald Da- vid de Leu de Wilhelm dar, der als Händler in Ägypten und Syrien tätig war. 186 Durch ihn erhielt Heurnius die zahlreichen Objekte aus Ägypten, die im Leidener Anatomietheater gezeigt wurden. Die erste Lieferung aus der Levante kam bereits 1620 in Leiden an. Es handelte sich dabei um den mumifizierten Arm und zwei Steinfiguren, die in einem Schrank im Ober- geschoss des Theaters verwahrt wurden. Deswegen ist anzunehmen, dass Heurnius zuerst die dortigen Möbel mit Exponaten füllte und erst in einem späteren Schritt die Zwischenzone mit Schaustücken ausstat- tete.187 De Wilhelm wurde als grosszügiger Spender nicht nur im Katalog erwähnt, sondern auch im Theater selbst. Auf dem Schrank der grossen Mumie und auf jenem, in welchem weitere Objekte aus Ägypten gezeigt wurden, standen Inschriften zu Ehren des Spenders.188 Wie innerhalb der Bibliothek wurden auch im anatomischen Theater Donatoren verzeich- net, um ihnen ein Gedächtnis zu schaffen, vermutlich aber auch mit der Absicht, weitere Stiftungen anzuregen. Einige der Exponate, die Heurnius ins anatomische Theater brachte, stammten aus seinem eigenen Besitz. Im Februar 1623 überreichte er dem Kuratorium eine Liste dieser Objekte und wollte sie der Universität ver- kaufen, was gutgeheissen wurde. Heurnius erhielt 29 Gulden.189 Er hielt sich zudem nicht an das Gebot des Kuratoriums, keine Einkäufe mehr ohne Vorwissen zu tun, denn 1624 musste es ihn erneut rügen.190 Doch nahm die Sammelleidenschaft von Heurnius in den kommenden Jahren rapide ab. In seinem handschriftlichen Katalog werden die Ergänzungen

185 AC1.43 (19. Febr. 1619); AC1.228 (Katalog Van Horne 1668). 186 Folgendes nach: Huisman 2009, S. 51–54. 187 Barge 1934, S. 40–41. 188 Barge 1934, S. 51 (Mumie) und S. 54 („Kasken B“). 189 Die Liste mit Nennung der Preise in: AC1.21, (8. Febr. 1623), f. 124v–125v. 190 AC1.24, (10. Febr. 1624), f. 142r–142v.

271 der Sammlung bis 1628 aufgeführt. Sie stellen im Vergleich zu den Objek- ten, die er in den ersten Jahren seiner Amtszeit anschaffte, eine Margina- lie dar. Huisman vermutet, dass Heurnius ab 1636 zunehmend durch den Unterricht im Spital beansprucht wurde.191 Wichtigstes Schaustück, dass er 1622 verzeichnen konnte, war eine weitere aber kleinere Mumie, die in einem zusätzlichen Schrank verwahrt wurde, der wiederum auch andere Naturalien und Artefakte enthielt.192 Dieser stand laut späteren Katalogen an der Südseite des Zwischengeschosses und somit gegenüber der gro- ssen Mumie.193 Die anderen Neuanschaffungen wurden in den bestehen- den oder ausserhalb von Schränken verwahrt.194 Die Sammlung erfuhr auch in den kommenden Jahrzehnten nur noch kleinere Ergänzungen.

Die Bedeutung der Sammlung Während die Sammlung Pieter Pauws im Obergeschoss des Theaters mehrheitlich so verblieb, wie Heurnius sie antraf, richtete er in den unte- ren Geschossen eine Sammlung ein, die seinen Vorstellungen entsprach. Den Skeletten im Obergeschoss stellte Heurnius im Untergeschoss den Reichtum der Schöpfung Gottes zur Seite, die Pauw vor ihm stattdessen in der Galerie des botanischen Gartens verwahrte. Dort wurden jedoch nicht nur Naturalien, sondern auch unterschiedliche Artefakte aus frem- den Ländern gezeigt, die dank der weltweiten Handelsbeziehungen der Niederlanden überhaupt in seinen Besitz gebracht werden konnten. Die Sammlung mit ihrer Fülle an verschiedensten Objekten entsprach den ty- pischen Wunderkammern der Zeit. Eine der ersten in den Niederlanden errichtete Bernardus Paludanus (Berend ten Broecke, 1550–1633) in Enk- huizen. Bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert wurde versucht, sowohl Paludanus als auch seine Wunderkammer nach Leiden zu holen, was jedoch nicht klappte. Dank weitreichender Beziehungen konnte jedoch selbständig und rasch eine vergleichbare Sammlung aufgebaut werden. Doch lassen sich hinsichtlich der Kuriositätensammlung des anatomi- schen Theaters auch subjektive Interessen von Heurnius ausmachen. Dezidiert wollte Heurnius – wie auch andere Naturkundler der Zeit – Objekte erhalten, die ihm nur aus Schriften bekannt waren, beispielswei- se die durch Herodot beschriebenen Vögel oder die Riesen aus Patagoni- en. Seine Sammelstrategie verfolgte somit das Ziel, diesen Erzählungen die realen Objekte zur Seite zu stellen. Die Raritätensammlung des ana- tomischen Theaters ergänzte somit die Büchersammlung der Bibliothek. Tim Huisman erklärt die Strategie von Heurnius mit folgenden Worten:

191 Siehe dazu: Huisman 2009, S. 123–161. 192 Barge 1934, S. 56. 193 Beispielsweise im Katalog von 1652, siehe: Witkam 1980b, S. 5. 194 Barge 1934, S. 56–58.

272 „Heurnius wanted objects that could function as tangible representations of countries, peoples, animals and plants that were known from the Bi- ble and classical literature,“195was er auch explizit De Leu schrieb, als er ihn bat, weitere Objekte aus jenem Reich zu schicken, das Moses, Hero- dot und Plinius beschrieben hatten.196 Durch die Objekte der Sammlung sollten nicht nur die Beschreibungen von Pflanzen und Tieren auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden, sondern auch der schriftlichen Überlieferung der Geschichte dingliche Objekte aus denselben Zeiten zur Seite gestellt werden. Analog dazu verfuhr er mit der Knochensamm- lung Pauws. Wie Paula Findlen aufzeigt, waren es neben den Schriften vor allem auch dingliche Objekte der Antike, die bereits im 15. Jahrhun- dert besonderes Interesse erfuhren und zur Ausbildung der Renaissance führten.197 Neben Bibliotheken wurden daher auch Kunst- und Raritäten- sammlungen errichtet. Einige der Objekte waren jedoch selbst Träger von Schriften. Es wur- den Stiche von Heringen gezeigt, die Texte und Bilder auf ihnen trugen und in der Galerie des Gartens fand man eine Schlange mit arabischen Schriftzeichen auf ihrer Haut. Zumindest die Heringe wurden als Zeichen Gottes gedeutet.198 Die wichtigsten Träger von Schriften waren jedoch die Gegenstände aus Ägypten mit ihren Hieroglyphen.199 Heurnius erklärte seine Faszination für dingliche Zeugen dieses Landes mit den Worten, Ägypten sei „der urzeitliche Lehrer in allen Zweigen des Wissens“.200 Wie Otterspeer zeigt, war die Sammlung des anatomischen Theaters gewis- sermassen ein Pendant zur Bibliothek, denn einige ihrer Objekte zeugten ebenfalls von der Suche nach einem ursprünglichen Wissen.201 Heurnius’ einzige selbstständige Publikation von 1600 mit dem Ti- tel Barbaricae philosophiae antiquitatum widmete sich der Philosophie antiker und barbarischer Völker. Sie beschäftigt sich mit der Suche nach dem Urwissen der Menschheit, über das Adam verfügte und ihm erlaub- te, alle Tiere, Pflanzen und leblosen Objekte mit ihren richtigen Namen zu bezeichnen. Nach Heurnius gab Adam dieses Wissen an seine Nachkom- men weiter, wobei es Noah durch die Sintflut rettete. Verschriftlicht wur- de dieses Wissen im Glauben der frühen Neuzeit durch den ägyptischen Autoren Hermes Trismegistos in seinem Corpus Hermeticum. Es wurde zunächst vermutet, dass dieser Text aus mosaischen Zeiten stammte. Widerlegt wurde diese Fehlannahme durch Isaac Casaubon (1559–1614),

195 Huisman 2009, S. 52. 196 Jorink 2010, S. 287. 197 Findlen 1998. 198 Lunsingh Scheurleer 1975, S. 237–239; Misson 1698, S. 18. 199 Folgendes nach: Jorink 2010, S. 283–289; Huisman 2009, S. 64–75. 200 Zitiert nach Jorink 2010, S. 285. 201 Otterspeer 2000, S. 193.

273 der mittels einer genauen Textanalyse und -kritik des Corpus aufzeigen konnte, dass der Text nicht vor dem ersten nachchristlichen Jahrhundert entstanden sein konnte.202 Seine Forschungsresultate waren in Leiden sicherlich bekannt. Dennoch glaubte Heurnius wie auch einige seiner Zeitgenossen noch an die Authentizität des Corpus und gab seine eigene Publikation zum Thema 1619 erneut heraus. Heurnius nutzte verschiedene Stücke seiner Sammlung, um auf die- ses Urwissen zu verweisen, denn neben der Schrift des Hermes Trisme- gistos besass er auch dingliche Objekte, die seinem Verständnis nach über das Urwissen verfügen sollten. Denn die Mumien und anderen Objekte aus Ägypten waren nicht nur materielle Zeugen der vormosaischen Zeit, sondern beinhalteten in ihren Hieroglyphen womöglich sogar das alte Wissen selbst, die Prisca sapientia.203 Die damals noch nicht entzifferten Hieroglyphen verstand Heurnius als ein Zeichensystem, das älter war als die hebräische Schrift, die Moses den Menschen brachte. Er deutete sie nicht als Schriftzeichen, sondern als Symbole, die der Ursprache Adams entsprachen, in der Bezeichnung und Bezeichnetes identisch waren.204 Die Auslegung der Inschriften brachte Heurnius in Kontakt mit dem Je- suiten Athanasius Kircher (1602–1680), der nicht nur die Korrespondenz zwischen ihm und Heurnius, sondern auch ein Bild der ägyptischen Urne der Leidener Sammlung in seiner Publikation Oedipus Aegyptiacus ab- druckte (Abb. 4.13). Doch hing auch der Kupferstich des Turmbaus zu Babel im anatomischen Theater, der auf die Entstehung der Vielzahl an Sprachen der Menschheit verwies und im Umkehrschluss aufzeigte, dass die Kenntnis der Ursprache und somit das Urwissen den Menschen ab- handen kam. In der Bibliothek wurde durch die Verwendung verschie- dener Zeichensysteme zur Beschriftung der Pulte und Wissensgebiete ebenfalls auf diese biblische Erzählung und auf die Suche nach unkor- rumpierten Quellentexten verwiesen. Und auch im botanischen Garten kann man Verweise auf dieses Urwissen aus dem Paradies finden, wo Adam noch alle Pflanzen kannte und richtig benennen konnte, was den frühneuzeitlichen Naturforschern besondere Schwierigkeiten bereitete. Ob auch die Besucher in der Mumie und den Hieroglyphen Zeichen des verlorenen Urwissens sahen, ist nicht überliefert. Sie stellten die von Heurnius gezeigten Objekte aber in den Zusammenhang mit den ande- ren Sammlungsstücken, die auf die Endlichkeit des Lebens verwiesen.

202 Grafton 1983; Casaubons war eine der schillerndsten Gelehrten seiner Zeit. Die Uni- versität Leiden zollte ihm ebenfalls ihren Respekt, denn ein Bild von ihm hing in der Bibliothek der Leidener Universität und – etwas skurriler – seine Nierensteine, die Pauw durch einen seiner ehemaliger Schüler aus London erhielt, lagerten im anato- mischen Theater. 203 Jorink 2010, S. 59–60. 204 Grundlegend: Weststeijn 2011.

274 Ein Besucher des Jahres 1636 erklärte: „Wir gingen ferner zum Saal der Abb. 4.13 Eine Graburne aus Ägypten Anatomie, wo man die Skelette vieler Tiere sieht, ferner ägyptische Mu- und die Illustration dersel- mien, antike Götterbilder, Graburnen und Grablampen.“205 Durch die ben in Athanasius Kirchers Oedipus Aegyptiacus. Aufzählung der Skelette, Denkmäler und Grabutensilien wird klar, dass der Besucher die Mumien und Urnen als weitere Hinweise auf die End- (Scan aus: Eric Jorink und lichkeit des Lebens verstand. Dazu passt auch der Wunsch von Heurnius Bart Ramakers (Hg.), Art and Sceince in the Early nach Graburnen aus dem Campus Elysium bei Neapel. Er sammelte so- Modern Netherlands, Zwol- mit auch Objekte, die neben dem verlorenen Urwissen dezidiert auf den le (WBOOKS) 2011, S. 245.) Tod hinwiesen, wie es Pauw bereits vor ihm getan hatte.

Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts

Als Heurnius 1652 starb, wurde Joannes van Horne (1621–1670)206 auf eige- nen Wunsch zum Ordinarius und Nachfolger von Heurnius gewählt und übernahm die Leitung des anatomischen Theaters.207 Wenige Tage darauf wurde er autorisiert, alle Raritäten und Instrumente, die sich im Theater befanden, zu übernehmen. Von allen Objekten hatte zuvor der Diener der Anatomie, Gerrit Courten, einen Katalog erstellt, den er und Van Horne

205 Schottmüller 1910, S. 266. 206 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 7, Sp. 624–624; Huisman 2009, S. 77–79. 207 Bronnen I, (8. Aug. 1652), S. 67; AC1.24, (8. Aug. 1652), f. 265r-265v.

275 unterzeichneten.208 Der Katalog zeigt auf, dass es seit den 1620er Jahren nur noch zu einer kleinen Vermehrung der Schaustücke kam. Die Samm- lung blieb auch in den kommenden Jahren in nahezu dem Zustand, den sie durch Heurnius erfuhr. Eine Abbildung zeigt das Theater, wie es 1712 ausgesehen hatte Abb.( 4.14). Weiterhin standen Skelette auf den Zuschauerrängen, die – zumin- dest teilweise – noch immer Fahnen mit Sinnsprüchen in ihren Händen hielten. Zudem sind die beiden Schränke in den hinteren Ecken sichtbar, die bereits 1620 Heurnius ins Theater geschafft hatte. Der menschliche Darm war nun nicht mehr in seiner vollen Länge ausgebreitet, sondern wurde zu einer Spirale aufgerollt. Darüber sieht man die Walknochen. Von den Decken hingen zahlreiche ausgestopfte Tiere, beispielsweise ein Krokodil, ein Sägerochen oder ein Ameisenbär, der bereits im Katalog von 1652 aufgelistet wird und sich an derselben Stelle befand. Auf der obersten Zuschauerreihe wurden sechs Schränke angebracht, worin hauptsäch- lich Skelette verwahrt wurden. Der oberste Zuschauerrang und die Ar- beitsbühne des Anatomen wurden zudem scheinbar mit einem Hag ver- sehen, vermutlich um den Besuchern den Zutritt auf die Zuschauerränge zu verwehren, um die dortigen Exponate zu schützen, denn diese Ränge waren ja äusserst knapp bemessen. Zudem weist die Schranke darauf hin, dass die beiden Funktionen des Theaters – Museum und Schaubühne von Obduktionen – immer mehr zu eigenständigen Einheiten wurden.

Konservierung menschlicher Leichen Einige der neuen Exponate, die im Theater gezeigt wurden, erhielt Joa- nnes van Horne 1651 von Louis de Bils. Es handelte sich dabei um ver- schiedene Präparate, die einbalsamiert und dadurch langfristig haltbar gemacht wurden. Der neue Anatom erhielt auch einige Skelette von De Bils, welche die alten aus der Zeit Pauws ersetzten. Die alten Skelette wa- ren langsam zerfallen oder wurden „durch unachtsame Hände“ beschä- digt.209 Vermutlich wurden damals auch die Gebeine, welche Adam und Eva darstellten, aus dem Theater entfernt, denn auf dem Kupferstich von 1712 sind sie ebenso wenig aufzufinden, wie in späteren Katalogen der Sammlung. Das wohl wichtigste Exponat, das Van Horne von De Bils erhielt, war eine regelrechte Sensation, nämlich eine ausgestopfte männliche Leiche, komplett mit Bart und Haaren, selbst die Augen des Toten wurden ge- zeigt. Die Leiche sah aus „wie frisch verstorben“, wie Joannes van Horne in einer Inschrift über der Eingangstüre ins Theater erklärte, die zur Ehre

208 AC1.24, (30. Aug. 1652), f. 271r; der Katalog in: AC1.228; transkribiert in: Witkam 1980b. 209 Huisman 2009, S. 85.

276 De Bils aufgehängt wurde.210 Louis de Bils entwickelte nämlich Metho- Abb. 4.14 Das anatomische Theater den, um vergängliche Körperteile zu konservieren. Zuvor konnten im Lei- im Jahr 1712. dener Theater nur feste, getrocknete oder gegerbte Schaustücke gezeigt (Abbildung aus: (ohne Au- werden, beispielsweise Skelette, Nierensteine, die erwähnten menschli- tor), Les delices de Leide, chen Häute oder ausgestopfte Tiere. qui contiennent une de- Die Konservierung von Körperteilen, Tieren oder Pflanzen wurde scription exacte de son an- tiquité, de ses divers ag- während des 17. Jahrhunderts erforscht und verbessert.211 Anatomische grandissemens, de son Exponate sollten ermöglichen, menschliche Körperteile zu präsentie- académie, de ses manufac- tures, de ses curiosités […], ren, ohne dass anatomische Zergliederungen notwendig waren. Einer- Leiden (Pieter van der Aa) seits waren die Sektionen eine zeitaufwändige Angelegenheit, die nur 1712, Bild zwischen S. 82 und S. 83.) im Winter durchgeführt werden konnte, andererseits hatte die Leidener Universität stets Schwierigkeiten, genügend Leichen für ihren Unterricht (Fotografie des Autors.) zu beschaffen. Neue Wege der Konservierung sollten diese Probleme lö- sen. Angefacht wurde die Suche nach Mitteln zur Konservierung nicht zuletzt durch Mumien, die nicht nur in Leiden in Kuriositätenkabinetten

210 Zitiert nach: Cook 2002, S. 230; Huisman 2009, S. 84–87. 211 Folgendes nach: Cook 2003.

277 gezeigt wurden und eine Sensation darstellten, da ihre Körper nicht zer- fielen. Heurnius verwahrte im anatomischen Theater nicht nur die -Mu mien selbst, sondern auch jene Stoffe, die für ihre Herstellung notwendig waren und die er ebenfalls aus Ägypten erhielt.212 Massgeblich beteiligt an der Entwicklung neuer Verfahren zur Kon- servierung menschlicher Körper war Louis de Bils. Durch seine Methoden konnten auch vergängliche Muskeln oder innere Organe haltbar gemacht werden. De Bils Vorgehen glich demjenigen, mit welchem Mumien ein- balsamiert wurden, denn auch er verwendete verschiedene aromatische Harze. Zunächst verschwieg De Bils seine Methoden zur Konservierung menschlicher Körper und wollte Profit daraus schlagen, später wurden sie dennoch bekannt. Die zu konservierende Leiche wurde während mehre- rer Wochen in einer Blechkiste verschlossen und ruhte in verschiedenen Tinkturen aus Alkohol, Gewürzen, Salz und anderen Zusätzen. Auch in Leiden wurde dieses Verfahren später angewendet. Zudem forschte man an weiteren Möglichkeiten der Haltbarmachung. Joannes van Horne und Carel de Maets (1640–1690), der im chemischen Laboratorium arbeitete, sowie die Studenten Jan Swammerdam (1637–1680) und Frederik Ruysch (1638–1731), die beide zu bedeutenden Wissenschaftlern der Niederlan- de wurden, entwickelten weitere Verfahren. Beispielsweise spritzten sie Wachs oder andere Flüssigkeiten in Körperteile, die dann aushärte- ten und selbst feinste Verzweigungen von Gefässen sicht- und haltbar machten. Die anatomischen Präparate von Ruysch wurden besonders bekannt, wohl nicht zuletzt deswegen, weil auch er seine Präparate ähn- lich inszenierte, wie es Pieter Pauw vor ihm getan hatte, dessen Skelette er im Leidener Theater während seiner Studienzeit bewundern konnte.213 Der Engländer Robert Boyle zeigte auf, dass vergängliche Naturalien in Alkohol konserviert werden konnten, eine Methode, die später ebenfalls in Leiden eingesetzt wurde, um verschiedene Exponate in der Galerie des Gartens haltbar zu machen. Die verschiedenen Methoden wurden auch kombiniert, wie die Exponate aus Ruyschs Kabinett zeigten. Doch bereits 1694, als Govard Bidloo (1649–1713) zum Anatomen gewählt wurde, er- kannte man, dass einige der Objekte erneut in einem schlechten Zustand waren. Wohl zum Schutz der organischen Exponate veranlasste Bidloo, dass der Raum verdunkelt werden sollte.214 Das anatomische Theater hatte dabei mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie die Bibliothek. Auch hier mussten die Objekte nicht nur ge- sammelt, sondern auch vor Verlust geschützt werden. Doch waren die anatomischen Präparate oftmals deutlich weniger beständig als die Bü-

212 Barge 1934, S. 66; Witkam 1980b, S. 4 (Katalog 1652). 213 Siehe dazu mit Erwähnung der vorhergehenden Forschung: Roemer 2010. 214 Huisman 2009, S. 110–111; AC1.28, (15. Nov. 1694), f. 240v–241r.

278 cher der Bibliothek. Im botanischen Garten der Universität verschärfte sich dieses Problem noch zusätzlich, denn dort wurden Pflanzen gezeigt, die natürlich nur eine beschränkte Zeitdauer lebten und somit untersucht werden konnten.

Streit um Eintrittsgelder Während Van Hornes Amtszeit kam es zur Frage, ob der Professor der Anatomie oder sein Famulus die Schirmherrschaft über das Theater in- nehabe, denn das anatomischen Theater übernahm ja zwei Funktionen: Einerseits war es der Ort, an dem menschliche Leichen zergliedert wur- den, andererseits aber wurde es immer mehr zu einem selbstständigen Museum. Die Zergliederungen wurden durch den Professor der Anato- mie durchgeführt und kosteten nach wie vor Eintritt. Die Sammlung hin- gegen wurde den Besuchern vom Famulus des Theaters gezeigt, wofür dieser Trinkgelder erhielt. Wie Tim Huisman erklärt, waren beide Perso- nen finanziell vom Theater abhängig, weshalb es zu Streitigkeiten kam.215 Als 1663 Stoffel van Carthagen zum Famulus des anatomischen Thea- ters berufen wurde, war dieser bereits seit 1653 als Hortulanus beschäftigt, wofür er ein jährliches Gehalt bezog. Das Kuratorium beschloss deshalb, für seine Dienste im Theater keinen weiteren Lohn auszubezahlen.216 Er besserte sein Einkommen aber durch die Eintritte auf, die Besucher für die Besichtigung der Sammlung entrichteten. Diese Einnahmen fielen zuvor dem Anatomen zu, der nun beim Kuratorium die finanziellen Einbussen beklagte. Das Kuratorium definierte, dass dem Professor alle Einkünfte aus den Vorführungen der Obduktionen zufielen, während der Famulus die Eintrittsgelder zur Besichtigung der Sammlung behalten durfte.217 Auch unter Van Hornes Nachfolger Carolus Drelincourt (1633– 1697),218 der ab 1670 Professor der Anatomie war, blieb diese Regelung in Kraft. Da dessen Famulus – Hendrik Cramer, der seit 1667 das Amt be- kleidete – oftmals seine Verpflichtungen von Drittpersonen übernehmen liess, musste 1675 ein Reglement ausgearbeitet werden. Nach diesem hatte der Famulus bei den Zergliederungen persönlich anwesend zu sein und zuvor die Leiche vorzubereiten. Das Geld der Vorführungen ging an den Professor, dem es aber frei stand, seinem Diener eine finanzielle Entschä- digung zukommen zu lassen,219 was jedoch aufgrund der Freiwilligkeit vermutlich nie geschah. Die Streitigkeiten waren daher nicht aus der Welt geschafft, denn der Famulus konnte während der öffentlichen Zerglie-

215 Folgendes nach Huisman 2009, 88–91; S. 102–103; S. 116–121. 216 AC1.26, (12. Nov. 1663), S. 66. 217 AC1.26, (15. Jan. 1664), S. 72. 218 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 7, Sp. 384–385; Huisman 2009, S. 98. 219 AC1.27, (15. Mai 1675), f. 28r–29r.

279 derungen keine Geldern kassieren, da das Theater besetzt war und nicht von Besucher besichtigt werden konnte. 1677 klagte er deshalb beim Ku- ratorium und forderte eine finanzielle Entschädigung für die Einbussen und Arbeiten während der öffentlichen Obduktionen. Seine Forderungen wurden jedoch nicht gutgeheissen. Erst 1688 wurde der Anatomieprofessor Anthon Nuck (1650–1692)220 verpflichtet, seinem Famulus Jacob Voorn für jede Zergliederung 25 Gul- den zu übergeben. Jacob Voorn übernahm 1682 dieses Amt, war zuvor jedoch bereits als Kustode der Bibliothek engagiert worden. Das Kurato- rium setzte also wie bereits bei seinem Vorgänger Hendrik Cramer auf einen Famulus, der schon anderweitig ein festes Einkommen erhielt und sparte sich daher eine zusätzliche Lohnzahlung. Auch ihm wurde statt- dessen erlaubt, die Einkünfte aus dem Museum zu behalten.221 Ab 1688 wollte Cramer ebenfalls von den Eintrittsgeldern der Obduktionen pro- fitieren und erhielt für jede öffentliche Zergliederung, bei denen auch er mithelfen musste, 25 Gulden.222 Nach dem Umbau der Bibliothek war eine Zusammenlegung beider Hilfsämter nicht mehr möglich, da der Kustode der Bibliothek nun deut- lich mehr zu leisten hatte als zuvor. Als Jacob Voorn 1692 während den Umbauarbeiten der Bibliothek verstarb, wurde dessen Sohn Jan Voorn zum Kustoden der Bibliothek und Gerrit Blancken zum Famulus der Ana- tomie berufen. Blancken erhielt nun wieder einen festen Lohn. Sowohl der Kustode der Bibliothek wie auch der Famulus der Anatomie erhielten 200 Gulden im Jahr.223 Blancken hatte dabei aber Aussichten auf höhere Einkünfte, da er nach wie vor auch die Eintrittsgelder der Besucher behal- ten durfte und 25 Gulden für jede abgehaltene öffentliche Zergliederung erhielt. Die Bibliothekare hingegen waren neben ihrer Tätigkeit für die Universität als Buchhändler beschäftigt.

Kataloge der Sammlung Als Zusatzverdienst liessen die Famuli der Anatomie verschiedene Sammlungkataloge drucken, die sie den Besuchern verkauften. Bereits früh wünschten Besucher solche Inventare. Als beispielsweise Charles Ogier (1595–1654) im Jahr 1636 die Sammlung des anatomischen Theaters besuchte, wollte er von ihr einen Katalog erwerben, was ihm in Leiden aber verwehrt blieb. Zu seiner Freude fand er ein Inventar des Theaters in einem Buch, das er tags darauf in Den Haag kaufen konnte.224 Es han-

220 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 7. Sp. 914–915. 221 AC1.27, (7. Aug. 1682), f. 185v–186r. 222 AC128, (16. Febr. 1688), f. 62r; AC1.28, (8. Mai 1688), f. 64v–65r. 223 AC1.28, (26. April 1692), f. 187r–188r. 224 Schottmüller 1910, S. 266.

280 delte sich dabei wohl um das Itinerar von Gotfridius Hegenitius (ca. 1596– ca. 1646), das 1630 bei Elsevier gedruckt wurde.225 Darin werden viele der Gegenstände des anatomischen Theaters erwähnt, doch nur sehr wenige des Ambulacrum. Die Nachfrage nach Inventaren der Sammlung bestand also ver- mutlich von Beginn an. Wie aus dem Inventar von Otto Heurnius deut- lich wird, lagen gedruckte Verzeichnisse aller Exponate im anatomischen Theater aus.226 Ob sie verkauft wurden, ist indes nicht überliefert. Der ers- te Famulus, der einen Katalog zwecks eigenen Profits drucken liess, war Hendrik Cramer im Jahr 1670.227 Später wurden Kataloge in Niederlän- disch, Englisch, Französisch und Latein gedruckt, was auf einen weiten Besucherkreis hindeutet. Ein Katalog des Jahres 1687 kostete 4 Gulden. Die verschiedenen Famuli zeichneten sich meist in Form eines Vorworts als Verfasser der Kataloge aus. H.J. Witkam konnte 64 unterschiedliche Kataloge der anatomischen Sammlung ausmachen, die zwischen 1670 und 1761 gedruckt wurden.228 Durch die zunehmende Grösse der Sammlung und die Ausdiffe- renzierung beider Funktionen des Theaters wurde das Amt des Famulus immer wichtiger. Anstatt nur noch eine helfende Hand des Professor zu sein, wurde er gewissermassen zum eigentlichen Leiter der Sammlung, der zwar keine neuen Exponate darin aufstellte, dafür aber Besucher he- rumführte und Kataloge der Sammlung drucken liess. Eine ähnliche Auf- wertung der Nebenämter lassen sich auch in der Bibliothek ausmachen, wo durch das Anwachsen der Sammlung weitere Hilfskräfte benötigt wurden, wie auch im botanischen Garten, wo der Hortulanus ebenfalls immer mehr Macht über den Raum erhielt, was auch dort zu Streitereien zwischen dem Präfekten und dem Kustoden führte.

Bibliothek und Anatomie 1648 erhielt die ehemalige Kirche, die mitten im einstigen Hof der Begi- nen stand, eine Adresse zur Stadt. An der Rapenburg wurde ein Eingangs- portal geschaffen, das die Bibliothek und das anatomische Theater visuell im Stadtbild verankerte (Abb. 4.15). Oberhalb der Inschrift „Porta ingres- sus ad Bibliothecam & Anatomiam A[nno] 1648“ wurde im Tympanon des Portals ionischer Ordnung folgende Szene eingemeisselt: In der Mitte sah der Betrachter einen Anatomen beim Zergliedern einer menschlichen Leiche umgeben von seinen Studenten. Der Seziertisch lag dabei auf Bü-

225 Hegenitius 1630. 226 „Nota, dat after de dootkist van de Mumie, liggen diversche ghedruckte inscriptien van alle de kassen die in theatro Anatomico sijn.“, Barge 1934, S. 51. 227 Abgedruckt in: Witkam 1980b, S. 16–22. 228 Witkam, 1980b.

281 Abb. 4.15 Eingangsportal an der Ra- penburg zur Bibliothek und Anatomie, errichtet 1648. Im Tympanon ruht der Se- ziertisch auf Büchern, wäh- rend eine Leiche zerglie- dert wird und im Hinter- grund die Zuschauerränge sowie ein Skelett des ana- tomischen Theaters gezeigt werden.

(Zeichnung von: J.J. Bly- vaert, 18. Jahrhundert)

(Download: Regionaal Ar- chief Leiden, Objektnum- mer PV14800.1)

chern. Im Hintergrund waren die Ränge des Theaters sowie das aufge- stellte Gerippe eines Tiers zu sehen. Der Künstler des Portals schaffte nicht nur, die beiden öffentlichen Nutzungen der Kirche darzustellen, sondern auch, eine Auffassung der Gelehrsamkeit dem Betrachter vorzuführen. Die Anatomie ruhte dabei auf dem Wissen aus der Bibliothek. Die Werke vergangener Autoren bil- deten die Grundlage des Unterrichts und der Forschung innerhalb des Theaters. Nur ein halbes Jahrhundert später kam es zu einer grundlegen-

282 den Neuinterpretation der Wissenshierarchie, denn das alte Fundament kam durch neue Erkenntnisse zunehmend ins Wanken. Auf dem Fronti- spiz des Bibliothekskatalogs von 1716 ruhen nicht mehr die empirischen Wissenschaften auf dem überlieferten Wissen, die Reihenfolge wurde vielmehr umgekehrt: Das Wissen der Bücher stand nun auf den neuen Lokalitäten der Forschung, unter anderem auf dem anatomischen Thea- ter, welches im Sockel der imaginierten Bibliothek dargestellt wird (Abb. 2.35). Wollte man zu Beginn der frühen Neuzeit durch anatomische Zer- gliederungen das Wissen der antiken Autoritäten noch illustrieren und mit dem tatsächlichen Aufbau des Körpers abgleichen, so sollten nun durch empirische Forschung neue Erkenntnisse erlangt werden, die in Buchform gespeichert in die Bibliothek überbracht wurden, auf dass sie von kommenden Generationen bei ihrer Suche nach neuem Wissen kon- sultiert werden konnten.

283

Teil 5 Das Buch der Natur: Der botanische Garten

Den Büchern der Bibliothek und den Knochen der Anatomie stellte sich eine weitere Sammlung wissenschaftlicher Objekte an die Seite, nämlich die Pflanzen des botanischen Gartens, dessen Errichtung bereits kurz vor dem Umbau der Beginenkirche in Angriff genommen wurde. Die Lei- dener Universität war eine der wenigen Lehrstätten nördlich der Alpen, die bereits im 16. Jahrhundert über eine solche Einrichtung verfügte und dank dem sie sich an die Spitze der Gelehrsamkeit auf dem erwachen- den Gebiet der empirischen Pflanzenforschung stellen konnte. Im Garten wurde eine Vielzahl an Gewächsen versammelt und in einer angrenzen- den Galerie schon bald weitere Naturalien gezeigt. In diesen Räumen la- gerten im Gegensatz zur Bibliothek keine gedachten und aufgeschriebe- nen Ideen und Sachverhalte, die man als überliefertes Wissen bezeichnen kann, sondern physische Objekte der Welt, die eine Grundlage für neue Erkenntnisse bereitstellten. Auch kam im Garten eine andere Methode des Forschens zum Zuge. Nicht mehr das rationale Denken stand hier auf dem Programm, sondern die empirische Untersuchung der Natur. Das „Wissen“ (scientia) wurde durch die „Kenntnis“ (experientia) ergänzt.1

Abgleich zwischen Buch und Natur Die verschiedenen Wissensräume wurden jedoch parallel genutzt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts stammte das Wissen zu Pflanzen noch pri- mär aus Büchern. Die damaligen Traktate basierten zum grössten Teil auf Erkenntnissen antiker Autoren wie Plinius d.Ä., Dioskurides oder Galen. Die frühen Naturhistoriker nutzten zunächst jene Technik, die durch die Humanisten entwickelt wurde, nämlich eine philologische Textkritik. Ad fontes zu gehen bedeutete aber in der Pflanzenkunde nicht nur, möglichst unkorrumpierte Texte der antiken Autoritäten aufzuspüren und zu lesen. Die Pflanzen selbst, die die Grundlage der antiken Schriften bildeten, ge-

1 Dear 2006.

285 wissermassen also die ursprüngliche Quelle waren, mussten identifiziert und untersucht werden.2 Leonhart Fuchs (1501–1566) wollte deswegen alle Pflanzen, die in den Werken von Dioskurides und von Galen erwähnt werden, in Deutschland finden und in seiner De historia stirpium (1542) beschreiben.3 Spätestens mit der Entdeckung neuer Kontinente und exotischer Gewächse wurde offensichtlich, dass die antiken Autoritäten nicht alle Pflanzen kannten, was das bereits erwachende Interesse an der Naturge- schichte nur verstärkte. Pflanzen wurden nun nicht nur als Grundlagen für Heilmittel verstanden, sondern wurden ihrer selbst wegen untersucht. Gleichzeitig kamen die Bücher der Bibliothek in Kritik, unvollständiges oder sogar falsches Wissen zu vermitteln. Das Wissen der Welt musste auch aus diesem Grund auf ein empirisches Fundament gestellt werden, wie der Kupferstich des Bibliothekskatalogs von 1716 andeutet (Abb. 2.35).

Hortus medicus und Hortus botanicus Universitäre Gärten hatten zunächst die Aufgabe, den Menschen Heil- mittel zur Verfügung zu stellen. Heilkräuter waren seit der Antike bekannt und wurden auch im Mittelalter angepflanzt.4 Medizingärten waren so- mit keine Erfindung der frühen Neuzeit. Vor allem Apotheker und Ärzte unterhielten private Gärten und sammelten andere Objekte der Natur, die als Grundlage phamrazeutischer Präparate dienten. Caspar Bauhin (1560–1624) zitiert folgenden Passus aus Galens Schrift im Vorwort seiner Pinax:

„Quisquis (inquit) auxiliorum undique copiam habere volet, omnis materiæ Stirpium, Animalium & Metallorum, tum aliorum terrestri- um corporum, quæ ad Medicinæ usum ducimus, expertus esto, ut ex eis & exacta & notha cognoscat. Deinde, in Commentario quem de Simplicium medicamentorum facultate prodidi, sese exerceat. Nisi enim hoc modo instructus ad præsentis operis præsidia veniat, ver- botenus quidem medendi methodum sciet, opus verò nullum ipsa dignu perficiet.“5

Bauhin erklärt also, dass neben dem Wissen aus Büchern auch die gründ- liche und aus empirischer Erfahrung gewonnene Kenntnis über Pflanzen zwingend notwendig sei. Diese Ideen waren den Kuratoren der Leidener

2 Cook 1996, hier S. 92–95. 3 Swan 2005b, hier S. 233. 4 Stannard 1986. 5 Bauhin 1623, Vorwort an den Leser, unpaginiert; englische Übersetzung in: Meier Reeds 1991, S. 112.

286 Universität nicht fremd. Bereits in den Statuten von 1575 wird erklärt, dass der Unterricht in Medizin anders von statten gehen müsse als jener der anderen Fakultäten. Zukünftigen Ärzten sollten zwar ebenfalls durch Vor- lesungen das Wissen antiker Autoritäten erhalten, zudem aber auch em- pirisch unterrichtet werden. Sie sollten dazu „tierische, pflanzliche oder mineralische Objekte inspizieren, zergliedern, auseinander nehmen und verwandeln“.6 Dazu mussten diese Objekte physisch vorhanden sein, weswegen sie gesammelt wurden. Die empirische Erforschung der Natur zwecks Ge- winnung von Medizin oder der Ausbildung angehender Ärzte brauchte daher neue Lokalitäten mit sich. Man benötigte – neben einem anatomi- schen Theater – ein botanischer Garten, zudem eine Sammlung von Tie- ren, Mineralien, Metallen und anderen Naturalien, die in Leiden in einer Galerie gezeigt wurden. Es ist unklar, wie ein botanischer Garten zu definieren ist, denn bereits Apotheker, Mönche und Mediziner unterhielten Gärten, die verschiedenste Heilkräuter verwahrten. Zu diesen gesellten sich die Ziergärten privater Personen oder des Adels, in denen ebenfalls viele fremdländische Pflanzen wuchsen. Ferner besassen die Naturhistoriker der frühen Neuzeit Gärten, die der empirischen Forschung dienten. Ne- ben dem Zweck der wissenschaftlichen Arbeit ist wohl ein zweiter Faktor entscheidend, um von einem botanischen Garten sprechen zu können, nämlich jener einer öffentlichen Trägerschaft. Denn erst wenn ein Gar- ten institutionalisiert ist und zur Sphäre der Öffentlichkeit gehört, spricht man gemeinhin von einem botanischen Garten. Dabei ist es irrelevant, ob eine Lehranstalt, eine Stadt oder ein Staat den Garten unterhielt. Natürlich konnte die Natur auch auf Feldforschungen untersucht werden, was bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschah. Gärten er- laubten jedoch eine einfachere und bessere Analyse der Pflanzenwelt, denn die in einem Garten versammelten Gewächse konnten ohne auf- wändige Reisen studiert werden, was in einfacher Art erlaubte, verschie- dene Entwicklungsstadien derselben Pflanze zu ergründen. Auch exoti- sche Gewächse fremder Länder und Kontinente konnten gesammelt und betrachtet werden. Pflanzen konnten auch in Zeichnungen oder Herba- rien aufbewahrt werden, was jedoch neben einigen Vorteilen erhebliche Nachteile mit sich brachte. Falls Pflanzen abgezeichnet oder getrocknet wurden, gingen wesentliche Faktoren wie ihr Geruch, ihr Geschmack, ihre natürlich Farbe oder ihre ursprüngliche Haptik verloren. Illustra- tionen und Herbarien ermöglichten jedoch, verschiedene Stadien des Wuchses einer Pflanze unabhängig von der Jahreszeit zu betrachten.

6 Lehprlan in: Bronnen I, Bijl. No. 26, S. 39*–43*, hier S. 42*; zudem: Cook 2007, S. 110.

287 Es war dennoch entscheidend, die Pflanzen lebendig vor sich zu ha- ben, um all ihre sinnlich erfahrbaren Charakteristiken untersuchen zu können. Die Aufstellung verschiedener Pflanzen an einem bestimmten Ort ermöglichte, die Gewächse untereinander vergleichen zu können. Botanische Gärten und andere Naturaliensammlungen waren daher nach Paula Findlen „purpose-built spaces in which scholars could use the best intellectual, instrumental, and manual techniques of science to gain knowledge of the natural world.“7 Botanische Gärten hatten dabei eine ähnliche Aufgabe zu bewältigen wie Bibliotheken. Auch sie mussten die Exponate in eine logische und sinnvolle räumliche Ordnung bringen. Dazu wurden verschiedene Lösungen entwickelt, wie in den folgenden Abschnitten gezeigt wird.

Das Buch der Natur Die Natur wurde darüber hinaus als ein lesbares System aus Zeichen ver- standen, das als „Buch der Natur“ bezeichnet wurde und theologisch ge- deutet werden konnte.8 Denn Gott teilte sich den Menschen auf zwei Ar- ten mit, wie auch in der Dordrechter Synode ausgelegt wurde. In den aus ihr hervorgehenden Akten, die den Glauben der Niederlande definierten, wird im zweiten Artikel erklärt, Gott zeige sich zuerst in der Schöpfung, Er- haltung und Regelung des Universums, das „vor unseren Augen ein hoch elegantes Buch ist, worin alle Kreaturen, Grosse und Kleine, wie Buch- staben uns dazu führen, über das unsichtbare Wesen Gottes zu denken“.9 Als zweite göttliche Offenbarung wurde die Heilige Schrift verstanden. Bereits 1561 wurde in den Niederlanden diese Auffassung der Schöpfung Gottes definiert10 und auch der zeitweilige Bibliothekar der Leidener Uni- versitätsbibliothek, Friedrich Spanheim, erklärte, dass „in diesem Buch der Natur können genauso viele wunderschöne Kombinationen von Ge- schöpfen gefunden werden, wie durch Buchstaben beschrieben werden können.“11 Die Natur wurde also als Buch aufgefasst und war nach Eric Jorink „as such, just like the Bible, the object of exegesis.“12 Der botanische Gar- ten hatte zur Aufgabe, verschiedene Kapitel dieses Buchs der Natur zu versammeln, zu ordnen und lesbar zu machen. Der Garten verwies da-

7 Findlen 2006, S. 273. 8 Grundlegend zum Thema: Jorink 2010. 9 „primo, per creationem, conservationem, atque totius mundi gubernationem: quandoquidem is, coram oculis nostris est, instar libri pulcherrimi, in quo creaturæ omnes, magnæ minoresque, loco characterum sunt, qui nobis Dei invisibilia cont- emplanda exhibent“, Dordrechter Synode 1620, S. 299. 10 Jorink 2010, S. 47. 11 Zitiert nach: Jorink 2010, S. 404–405. 12 Jorink 2010, S. 21.

288 rüber hinaus auf den Garten Eden, wo nach dem Verständnis der Zeit alle Pflanzen wuchsen und wo Adam sie dank des göttlichen Wissens alle kannte und bei ihrem richtigen Namen nennen konnte. Seine formale Gestaltung wurde an diese Ideen angepasst.13

Antike Philosophengärten und der Wunsch nach einem Garten

Neben der christlichen Überlieferung führten auch antike Schriften zum Bau von Gärten. Verschiedene Humanisten fanden Freude an solchen Anlagen, denn in den Büchern ihrer Vorbilder wurden Gärten oftmals beschrieben.14 Die Natur erfuhr bereits in der Antike eine Idealisierung. Homer bevorzugte die liebliche Natur, in der die Nymphen oder Athe- na lebten. Er schilderte zudem Landschaften, an denen ewiger Frühling herrscht und die somit auf ewiges Leben verweisen, ein Topos, der von Ovid für seine Beschreibung des Goldenen Zeitalters aufgenommen wur- de. Plinius d.Ä. und Varro erklärten, dass die Musen in der Natur lebten, weswegen die Natur selbst als Museum verstanden werden könne.15 Der Rückzug aufs Land war in humanistischer Vorstellung für die Musen, die geschäftige und zuweilen auch gefährliche Stadt für sie aber schädlich.16 Zum Ideal wurde der Ort erklärt, der nur der Schönheit und dem Genuss diente, also keine praktische Zwecke verfolgen musste: der locus amoe- nus. In der christlichen Dichtung wurde dieser Topos zur Beschreibung des Paradieses verwendet.17 Wir finden den Begriff auch im Begleittext zum Kupferstich von 1610, in dem der botanische Garten als locus amoe- nus bezeichnet wird. Solche Orte waren Sitze der Poesie und Philosophie. Die griechi- schen Akademien entstanden deswegen in Gärten. Platon widmete seine Lehranstalt, die in einem Garten zu liegen kam, den Musen. Aristoteles und Theophrastus besassen ebenfalls Gärten, die über reichhaltige Pflan- zensammlungen verfügten. Die Ideen der lieblichen Landschaft und der griechischen Philosophengärten wurden durch die römischen Dichter der Antike übernommen und führten zum Bau von Villen, die ebenfalls als Ort der Kontemplation dienten. Gothein schreibt von einer „Rezep- tion griechisch-gymnasialer Anlagen im römischen Villengarten“18 und ferner, Cicero und andere Gelehrte „wollten unmittelbar an den Philoso-

13 Prest 1988; Bennett/Mandelbrote 1998, vor allem S. 43–47. 14 Siehe dazu: Lauterbach 2004. 15 Findlen 1989, S. 60; Jong 1991, S. 37–39; Jong 2000, S. 132. 16 Findlen 1989, S. 61. 17 Curtius 1948, S. 200–205. 18 Gothein 1926, Band 1, S. 90.

289 phengarten der griechischen Blütezeit anknüpfen.“19 Im Mittelalter dien- ten die antik-römischen Villen als Grundlage für den Bau erster Klöster, die als ein eingegrenztes kleines Paradies, als paradisus claustri, verstan- den wurden. Der griechische Philosophengarten, der durch die römi- schen Denker für den Bau von Villen als Grundlage diente, fand somit eine Anwendung bis in die mittelalterlichen Klosteranlagen, wo ebenfalls gelehrt und gedacht wurde. Die ersten Akademien entstanden somit in Gärten, die als Sitz der Musen der philosophischen Tätigkeit dienlich waren. Wir erinnern uns an den festlichen Einzug der Universität, wo Neptun und Apoll die neun Musen auf einem Schiff nach Leiden brachten. Die ganze Akademie wur- de oft als Sitz der Musen verstanden, worauf auch eine Inschrift im Geh- weg vor der Universität verwies: „Musa Coelo Beat“, ein Zitat aus einem Werk von Horaz, das besagte, „die Muse verbietet dem des Ruhmes Wür- digen zu sterben, versetzt ihn unter die Götter.“20 Zudem wurden Tape- ten für das Akademiegebäude erstellt, die neben den Freien Künsten und Apoll ebenfalls die neun Musen zeigen sollten.21 Die Universität tat also auch aus diesen ideellen Gründen gut daran, einen Garten zu errichten.

Der Garten von Justus Lipsius Der Leidener Professor Justus Lipsius war einer jener Humanisten, die einen Garten besassen. Der Garten erhielt er durch das Kuratorium der Universität zur freien Benutzung und durch seine weitläufige Korrespon- denz kam er an exotische Zierpflanzen. Er beschrieb ihn als Ort des Na- turgenusses und verstand ihn als Ort der stoizistischen Philosophie, was ihn unmittelbar in Beziehung zu antiken Philosophengärten setzte. Der Garten diente aber auch als Ort der Unterrichtung seiner Studenten in privaten Vorlesungen. In einer seiner Schriften beschreibt er den idealen Garten als viergeteilt und mit Laubengängen versehen – Motive, die spä- ter im Bau des botanischen Gartens der Universität ebenfalls zum Einsatz kamen. Nach seinem Abzug aus Leiden nutzte Pieter Pauw den Garten wäh- rend der Errichtung des universitären Hortus botanicus.22 Nicht zuletzt übernahm der entstehende Leidener Garten die antike Idee, dass eine Akademie, wenn sie nicht in einem Garten lag, mindestens einen solchen besitzen sollte. Später wurde neben den Garten eine Wandelhalle gestellt, die ebenfalls dezidiert antike Ideale aufnahm.

19 Gothein 1926, Band 1, S. 92. 20 Horaz, IV, 8–9; zum Einzug der Musen und der Inschrift: Jong 2000, S. 132–135. 21 Bronnen I, (7. Okt. 1592), S. 72. 22 Zu diesem Garten, siehe: Witkam 1969; Lauterbach 2004, S. 72–130; Morford 1987.

290 Der Wunsch nach einem Garten Den Anstoss zur neuen Form des empirischen Unterrichts scheint Lipsi- us gegeben zu haben. In seiner Funktion als Rektor erklärte er in einem – wohl zusammenfassenden und retrospektiven – Plädoyer im August 1587, dass der Unterricht in Anatomie von den Jungen gewünscht wür- de.23 Die Kuratoren und Bürgermeister erklärten in ihrer Antwort, in Zu- kunft nicht nur die Anatomie, sondern auch die Kräuterkunde fördern zu wollen.24 Denn die Anatomie und der Unterricht der Pflanzenkunde wa- ren die beiden Seiten derselben Medaille. Anatomie konnte nur im Winter empirisch anhand von Zergliederungen unterrichtet werden, da die Lei- chen ansonsten zu schnell verwest wären, die empirische Pflanzenkunde wiederum konnte nur im Sommer von statten gehen, wenn die Pflanzen wuchsen und in Blüte standen. Allgemein war es an Universitäten nicht unüblich, dass derselbe Professor für beide Fächer zuständig war. Bereits vor diesen Beschlüssen, nämlich im März 1587, trat die Schulleitung mit einer Bitte an die Bürgermeister der Stadt. Sie wollten den Platz hinter der Universität zum Medizingarten umgestalten und ein Wohnhaus für den Präfekten errichten.25 Knapp einen Monat später er- hielt der Medizinprofessor Gerardus Bontius (ca. 1536–1599)26 eine Ge- haltserhöhung, um „by wintertijden int expliceren ende administreren der anathomie, als des zomers int onderwijs van de cruyden den studen- ten inde medecynen.“27 Die Kuratoren waren wohl etwas voreilig, denn ein Garten war damals weder errichtet noch bestückt, ebensowenig ein anatomisches Theater gebaut. Im folgenden Stundenplan der Universi- tät fehlten diese neuen Lehrveranstaltungen noch immer. Bontius un- terrichtete die Prognostica des Hippokrates sowie die Physiologie nach Fernel, also noch immer Wissen aus Büchern statt aus empirischer An- schauung.28 Dennoch: Der empirische Unterricht in Pflanzenkunde und Anato- mie war beschlossene Sache. Im Juli 1587 wurde durch die Bürgermeister der Stadt der Auftrag erteilt, den Kräutergarten auf Kosten der Universi- tät einzurichten. Der Platz wird in diesem Beschluss mit einer Länge von ca. 35m auf 40m angegeben.29 Im Norden wurde das Grundstück durch das Haus und den Hof im Besitze der Hoogeveens begrenzt, im Süden

23 „In Medicina lectio Anatomica desideratur a iuventute“, Bronnen I, (24. Aug. 1587), Bijl. Nr. 134, S. 152*–156*. 24 Bronnen I, (24. Aug, 1587), No. 134, S. 152*–156*, hier S. 153*–154*. 25 Bronnen I, (17. März 1587), S. 51 und Bronnen I, (17. März 1587), Bijl. no. 122, S. 140*–141*. 26 Zu seiner Biographie, siehe: Van der Aa, Deel 2, S. 868. 27 AC1.18, (24. April 1587), f. 195v und 196r. 28 AC1.18, (15. Okt. 1587), fol. 219r. 29 9 roeden und 3 voeten auf 10 roeden und 6 voeten.

291 durch den Nonnensteeg. Im Osten lag das Gebäude der Akademie und das Haus, das der erste Pedell bewohnte und später während eines lan- gen Zeitraums das Wohnhaus des Präfekten des Gartens wurde. Im Wes- ten grenzten einige kleinere Bauten an, die später durch die Universität aufgekauft und zwecks Erweiterung des Gartens abgerissen wurden. In einem dieser Häuser lebte der zweite Pedell der Universität, der es aller- dings nach der Fertigstellung des Gartens an den ersten Präfekten des Hortus botanicus abgeben musste.30 Der Bau des Gartens wurde jedoch weiterhin nicht in Angriff genommen. Es sollte noch bis 1594 dauern, bis der Garten erstellt und mit Pflanzen versehen war und in ihm unterrich- tet werden konnte.

Berufung Pieter Pauws Neben Gerardus Bontius beauftragte das Kuratorium auch Pieter Pauw (Petrus Pavius, 1564–1617)31 damit, die Pflanzenkunde zu unterrichten, weshalb er 1589 zum ausserordentlichen Professor der Medizin berufen wurde. Aus der Akte geht hervor, dass Pauw sich selber beworben hatte.32 Ferner besagt sie, dass die Anzahl der Studenten in der Medizin sehr gross gewesen sei, selbst grösser als jene der Universität im katholischen Lö- wen, weshalb Pauw für eine Zeit von vier bis sechs Monaten versuchswei- se angestellt wurde. Für Pauw sprach zudem, dass er in Leiden studiert hatte.33 Nach Ablauf der Probezeit wurde seine Anstellung verlängert und Pauw erhielt 200 Gulden jährlich. In diesem Beschluss wird erwähnt, dass er auch Anatomie unterrichtete,34 weswegen er beide neuen Zweige des empirischen Medizinunterrichts lehrte. Und auch Gerardus Bontius un- terrichtete weiterhin in diesen beiden Fachgebieten.35 Pauw und Bontius scheinen sich also in diesem Jahr den Unterricht in der Anatomie und der Kräuterkunde geteilt zu haben.

Naturalien und Kenntnisse: Die Berufung Paludanus

Scheinbar reichten die beiden Leidener Professoren nicht aus, um den Unterricht der Pflanzenkunde vollumfänglich abzudecken. Vermut- lich fehlte es sowohl an fundierten Fachkenntnissen in diesem neuen Wissenszweig sowie am eigentlichen Unterrichtsmaterial, nämlich den

30 Witkam, DZ II, (13. Juli 1587), No. 332, S. 18–21, mit Skizze der Situation. 31 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 4, Sp. 1051–1053; Huisman 2009, S. 32–35. 32 Bronnen I, (9. Febr. 1589), S. 55. 33 Bronnen I, (9. Febr. 1589), S. 55. 34 AC1.19, (19. Febr. 1591), f. 21v und 22r; zudem: Bronnen I, (10. Febr. 1591), S. 59. 35 AC1.18, (9. Febr. 1589), fol. 268v–269v.

292 Abb. 5.1 Bernardus Paludanus, Stadtarzt, Sammler und Na- turforscher aus Enkhuizen.

(Kupferstich von Hendrik Bary nach einer Zeichnung von Jan van de Velde II.)

(Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-BI-604.)

Pflanzen. Das empirische Wissen über die Welt der Pflanzen war erst im Entstehen begriffen. Es gab noch keine definierten Lehrgänge, weswegen alle frühen Naturhistoriker mehr oder weniger Autodidakten und gut aus- gebildete Fachkräfte rar waren.36 Das Wissen, über das der künftige Prä- fekt verfügen musste, beruhte auf Kenntnissen, für die es notwendig war, mit möglichst vielen und verschiedenen Naturalien in Kontakt zu gelan- gen. Er musste auch in der Lage sein, seltene und relevante von belang-

36 Egmond 2007, S. 163.

293 losen Objekten unterscheiden zu können, er benötigte also Expertise.37 Wegen all dieser Gründe wurde am 10. August 1591 durch das Ku- ratorium beschlossen, Bernardus Paludanus (Berent ten Broecke) (1550– 1633)38 aus Enkhuizen zum Präfekten des Gartens zu berufen, der seine Dienste anbot (Abb. 5.1).39 Als promovierter Mediziner brachte er die akademische Qualifikation mit sich, die für eine Berufung zum Professor benötigt wurde. Darüber hinaus verfügte er über ein weites Netzwerk zu den führenden Forschern seiner Generation, was ihm erlaubte, an neue Objekte und Informationen zu gelangen. Nicht zuletzt besass er einen eigenen Garten mit vielerlei Pflanzen sowie eine Kuriositätenkammer, die aufgrund ihrer umfangreichen Ausstattung nördlich der Alpen eine absolute Sonderstellung einnahm.40 Ferner wusste er aus eigener Pra- xis, wie man einen Garten anlegte und bewirtschaftete. Das Kuratorium versuchte mit seiner Berufung, alle fehlenden Komponenten für einen funktionierenden Medizingarten und empirischen Unterricht der Natur- geschichte mit einem Schlag zu erhalten. Paludanus nahm die Berufung kurzentschlossen zwei Tage später an.41

Der geplante Garten Das Berufungsdokument zeigt auf, weshalb Paludanus der bevorzugte Kandidat war, welche Objekte man sich erhoffte und wie diese verwendet werden sollten.42 Für seine kommenden Dienste wollte man Paludanus 400 Gulden jährlich bezahlen43 und der Transport der Pflanzen, das An- legen des Gartens und die Bezahlung von zusätzlich benötigtem Perso- nal sollten ebenfalls von der Universität finanziert werden. Die Kuratoren wünschten für den botanischen Garten alle Pflanzen,

„die de zonne, locht ende aerdt des lants eenichsins zullen connen lijden, verdragen ende toelaten, ende hy tot dien eynde in alle oorten des werelts deur zijne bekende ende toegedane vrunden te samen vergaderen zal“.44

Paludanus sollte somit möglichst alle Pflanzen der Welt, die in Leiden ge-

37 Cook 2007, S. 28. 38 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 9, Sp. So. 752–754. 39 Witkam, DZ IV, (10. Aug. 1591), No. 1138, S. 144–145. 40 Grundlegend zum Thema: Egmond 1998; zu seiner Sammlung, siehe: Jorink 2011; Jorink 2010, S. 266–278. 41 Bronnen I, (10. Aug. 1591), S. 62; Bronnen I, (12. Aug. 1591), Bijl. no. 163, S. 180*–181. 42 Folgendes nach: Bronnen I, (10. Aug. 1591) S. 62; Bronnen I, (12. Aug. 1591), Bijl. no. 163, S. 180*–181*. 43 Wenige Tage vorher war von 300 Gulden die Rede, siehe: Witkam, DZ IV, (10. Aug. 1591), No. 1138, S. 144–145. 44 Bronnen I, (12. Aug. 1591), Bijl. no. 163, S. 180*–181*, hier S. 180*.

294 deihen konnten, durch ihn selber oder sein weltweites Netzwerk im neu- en Garten versammeln. Seine wichtige Stellung innerhalb der res publica litteraria war für den Erwerb von Pflanzen entscheidend, was das Kurato- rium wusste und explizit erklärte. Dass der Garten schon kurze Zeit spä- ter auch über Pflanzen verfügen würde, die nur dank neusten baulichen Einrichtungen auch in nördlichen Gefilden gedeihen konnten, übertraf damals noch die Vorstellungskraft der Kuratoren und Bürgermeister. Das Kuratorium sah vor, dass der neue Präfekt von Anfang Mai bis Ende Juli während zwei Stunden pro Tag den Studenten und „liefheb- bers“ den Garten öffnete. Der botanische Garten sollte also von Beginn an einem breiten Publikum offen stehen und nicht bloss dem akademi- schen Unterricht dienen. Der neue Präfekt hatte zudem die Aufgabe, die Pflanzen den Besuchern zu erklären, und zwar nicht bloss

„wie sie nach den alten Autoren genannt werden, sondern ebenso und sonderlich ihre Stärken und Wirkungen und wie sie durch die Menschen gebraucht werden können und ferner, wie sie in ein Werk zusammengebracht gehören.“45

Es stellte sich somit das überlieferte Wissen der antiken Autoritäten den empirischen Erkenntnissen an die Seite. Ferner zeigt der Beschluss, dass der Garten der menschlichen Gesundheit dienlich sein und als ein Hortus medicus eingerichtet werden sollte. Zudem ging es auch um die Frage der Zusammengehörigkeit der Pflanzen, die in den kommenden Jahrzehn- ten besondere Relevanz erfuhr und ihm Garten räumlich gelöst werden musste.

Paludanus’ Wunderkammer Die Kuratoren wollten neben seiner Fachkenntnis und seinen Pflanzen auch die Raritätensammlung von Paludanus in Leiden wissen. Solche Wunderkammern kamen just zu jener Zeit in Mode und bildeten – wie die botanischen Gärten – eine wichtige Grundlage empirischer Forschung. Dem Kuratorium war durchaus bekannt, dass Paludanus dank seiner vie- len Reisen und seiner weitläufigen Korrespondenz eine grosse Anzahl an Naturalien wie Kräuter, Früchte, Tiere, Mineralien, Erden oder Korallen gesammelt hatte, denn seine Sammlung war weit herum bekannt. Diese Exponate und insbesondere die Mineralien sollten während des Winters im Unterricht besprochen werden, denn auch sie wurden als Heilmittel verstanden. Seine Wunderkammer wird in einem Brief von Raphael Pele- cius an Caspar Bauhin wie folgt beschrieben:

45 Bronnen I, (12. Aug. 1591), Bijl. no. 163, S. 180*–181*, hier S. 180*.

295 „An einem Tag besuchte ich Paludanus. […] Er zeigte mir seine Sammlung, die verschiedenste und unzählbare Objekte beinhaltete, dass ich kaum glauben konnte, sie existierten in der Natur. Die Na- tur selbst schien in dieses Haus gezogen zu sein, vollständig und un- verändert, und es gibt nichts in Büchern Erwähntes, das er Dir nicht zeigen kann. Dies ist der Grund, weshalb der grosse Joseph Scaliger alle seine Raritäten (die spektakulär und vielzählig waren) an Palu- danus gab und erklärte: ‚Hier sind Deine Objekte, die ich zu Unrecht besass‘.“46

Joseph Justus Scaliger war also nicht nur hinsichtlich seiner gesammelten orientalischen Manuskripte äusserst grosszügig, die er ja der Universität vermachte. In welcher Mode solche Sammlungen bei Gelehrten damals waren, zeigt an, dass Scaliger ebenfalls eine eigene Kuriositätensamm- lung besass. Die Wunderkammer von Paludanus sollte der Universität einverleibt werden. Man beabsichtigte, für sie im zukünftigen Wohnhaus des Präfek- ten eine „grosse, schöne, herrliche Kammer“ zu errichten.47 Die Kurato- ren versprachen sich von der Pracht der Sammlung und des dafür zu er- richtenden Raums einen hohen Prestigegewinn für Universität und Stadt, denn das zukünftige Wohnhaus sollte laut dem Berufungsschreiben ei- nem grösseren Publikum zugänglich sein. Nicht nur die Studenten sollten in den Wintermonaten dort ein- und ausgehen dürfen und bei Paludanus über die dort versammelten Raritäten unterrichtet werden, sondern auch alle Herren, Staatsleute und andere qualifizierte Personen, die der Samm- lung wegen nach Leiden kommen sollten.48 Aus dieser Formulierung geht hervor, dass die Sammlung nicht jedem offen stand, sondern nur einer Teilöffentlichkeit. Schwerhoff und Rau beschreiben diese als Vorläufer der allgemeinen Öffentlichkeit.49 Neben dem politischen Stand war es der Akte nach vor allem die fachliche Kompetenzen und die geteilte Neugier- de, die entscheidend sein sollten, um Zugang zur Sammlung zu erhalten. Der Eintritt zu solchen privaten Sammlungen erfolgte meist dank Emp-

46 Brief von Raphael Pelecius an Caspar Bauhin, 20. August 1594; zitiert nach der Eng- lischen Übersetzung in: Ogilvie 2006, S. 41. 47 „Voor welcke voors. diensten behalven de bewoninge van zeeckere huysinge, die daartoe tot costen ende lasten vande universiteyt zal werden gebouwt ende toege- rust met zodanige bequaemheyt, dat die voorsien zal zijn van een grote, schoone, heerlicke camer, omme de voors. anwijsingen, vertogingen ende verclaringen te doen“, Bronnen I, (12. Aug. 1591), Bijl. no. 163, S. 180*. 48 „alle heeren, luyden van state of soorte ende andere gequalificeerde personen, die daeromme in dezer stede zullen mogen comen“, Bronnen I, (12. Aug. 1591), No. 163, S. 180*–181*, hier S. 181*. 49 Schwerhoff 2208, S. 8; Rau 2008, S. 60.

296 fehlungsschreiben bekannter Gelehrter.50 Paludanus Sammlung in Enk- huizen war indes – wie es auch in Leiden beabsichtigt wurde – nicht für jedermann zugänglich, „but was a private domain to which only persons of prestige were admitted.“51 Durch die Überführung der Sammlung in die Sphäre der Universität wäre sie institutionalisiert worden. Doch wäre ihr Eigentum im Bereich des Semiprivaten verblieben, was sich auch in räumlicher Hinsicht ge- zeigt hätte. Denn sie sollte im Wohnhaus des Präfekten untergebracht werden und nicht etwa in einem speziell dafür errichteten Bau. Die Ku- ratoren bezogen sich auf den damaligen Typus einer Privatsammlung im Wohnhaus des Besitzers, denn es gab noch kaum Vorbilder öffentlicher Sammlungen. Paula Findlen erklärt deshalb – analog zu den besproche- nen Absichten des Kuratoriums – das Museum sei „at first defined by the domestic, and therefore private, space which it inhabited.“52 Findlen spricht den Universitäten für die Institutionalisierung von Sammlungen und somit für die Entstehung öffentlicher Museen eine entscheidende Rolle zu. Die Errichtung eines tatsächlich öffentlichen Museum, das auch über einen entsprechenden Raum verfügte, geschah in Leiden nur weni- ge Jahre später, als eine Naturaliensammlung in einer Galerie nahe des botanischen Gartens eingerichtet wurde. Die Geschichte der Leidener Universität zeigt demnach exemplarisch, wie generell Sammlungen aus der Sphäre des Privaten in jene des Öffentlichen übergingen.53

Die Absage von Paludanus Doch auf die rasche Zusage von Paludanus folgte schon bald eine Absa- ge. Am 30. August 1591 erhielt das Kuratorium einen unerfreulichen Brief von den Regierenden der Stadt Enkhuizen. Diese ordneten an, dass Palu- danus, den sie als Arzt innerhalb ihrer Stadtmauern benötigten, nicht nach Leiden gehen durfte.54 Auch Janus Dousa, der mit einer Delegation nach Enkhuyzen reiste um mit Paludanus zu sprechen, konnte Paludanus nicht nach Leiden holen.55 In einem Brief vom 29. September 1591 nannte Paludanus einen weiteren Grund für seine Verhinderung: Seine Frau sei nicht bereit dazu, nach Leiden umzusiedeln.56 Im Oktober 1591 versuch- te Dousa nochmals, Paludanus umzustimmen und machte ihn auf sein

50 Findlen 1998, S. 72. 51 Jorink 2010, S. 267. 52 Findlen 1998, S. 69. 53 Zu diesem Thema, siehe Findlen 1998; Findlen 1994, vor allem S. 109 und folgende. 54 Witkam, DZ IV, (30. Aug. 1591), No. 1140, S. 146. 55 AC1.19, (4. Sept. 1591), f. 43r–44r. 56 Witkam, DZ IV, (8. Okt. 1591), No. 1144, S. 147–148.

297 Versprechen aufmerksam.57 Doch kam wenige Wochen später – trotz der Versicherung seines Willens, in Leiden unterrichten zu wollen – die defi- nitive Absage.58 Paludanus blieb in Enkhuizen und mit ihm sein Wissen und seine Kenntnisse, seine Pflanzen und seine Wunderkammer.

Der Garten in Padua als Vorbild

Vor seiner Absage schickte Paludanus zur Erstellung des Gartens zwei Planzeichnungen nach Leiden, auf deren Grundlagen der Garten in Lei- den errichtet werden sollte. Die Zeichnungen, von denen man wusste, dass sie den botanischen Garten in Padua zeigten, wurden kopiert und nach seiner Absage mit dem Schreiben vom 8. Oktober 1591 an ihn zu- rückgeschickt.59 Einer der kopierten Pläne zeigt die vier Quadrate des bo- tanischen Gartens in Padua, nicht aber die umschreibenden kreisförmi- gen Beete.60 Padua besass damals die renommierteste Universität für das Studi- um der Medizin in ganz Europa. Neben Paludanus studierten dort auch die meisten Medizinprofessoren der Leidener Universität und zwar nicht nur, da es für protestantische Studenten einfach war, an dieser betreffend Glaubensfragen toleranten Universität zu studieren, sondern auch, weil man in Padua bereits über die neusten Forschungseinrichtungen für den aufkommenden empirischen Medizinunterricht verfügte.61 Bereits 1545 wurde dort ein botanischer Garten errichtet.62 Im Bereich der Anatomie setzte Padua ebenfalls Massstäbe. Andreas Vesalius (1514–1564), Hierony- mus Fabricius ab Aquapendente (ca. 1533–1619) und andere unterrichte- ten schon früh mittels Zergliederungen menschlicher Körper, wobei dies noch in temporären anatomischen Theatern geschah, denn erst 1594 – und nahezu zeitgleich mit demjenigen in Leiden – wurde in Padua ein festes Theater errichtet.63 Dank der Errichtung eines botanischen Gartens und eines anatomischen Theaters konnte die Universität in Leiden bereits wenige Jahrzehnte später mit der norditalienischen Hochschule gleich- ziehen.

57 Witkam, DZ IV, (8. Okt. 1591), No. 1142; zudem: Witkam, DZ IV, (8. Okt. 1591), No. 1143, S. 147. 58 Witkam, DZ IV, (12. Nov. 1591), No. 1145, S. 148–149, Brief geschrieben am 9. No- vember 1591, empfangen am 12. November 1591; zudem: Witkam, DZ IV, (4. Dez. 1591), No. 1146, S. 149–150. 59 Bronnen I, (26. Sept. 1591), S. 62, Anmerkung 3; Witkam, DZ IV, (8. Okt. 1591), S. 147; 60 Regionaal Archief Leiden, Objektnummer PV12574.2; der andere Plan hat nichts mit dem italienischen Vorbild zu tun. 61 Ridder-Symoens 1989. 62 Zum Garten in Padua, siehe: Minelli 1995; Azzi Visentini 1984. 63 Huisman 2009, S. 33–34.

298 Paludanus’ Wunsch, den Garten in Leiden nach demjenigen in Pa- dua anzulegen, zeigt deutlich, dass dem italienischen Vorbild nachge- strebt wurde. Doch scheint primär eine formale Übernahme der Gar- tenanlage gewünscht worden zu sein, denn im überlieferten Plan sind nur die Formen der Beete verzeichnet, nicht aber die darin wachsenden Pflanzen. Es ging also nicht darum, einen Garten mit derselben Ausstat- tung an Gewächsen oder derselben Klassifikation wie in Padua zu haben, sondern über einen mit ebenso aufwändig gestalteten Pflanzenbeeten.

Die Architektur des Gartens in Padua Die angefertigte Plankopie blieb zunächst verschollen, bis sie 1979 durch Else Terwen-Dionisius im Regionaal Archief Leiden wiederentdeckt wur- de.64 Die Zeichnung war fälschlicherweise als Deckenansicht klassifiziert worden, was nicht erstaunlich ist, denn ähnliche geometrische Formen für solche Bauteile finden sich beispielsweise in den Traktaten von Se- bastiano Serlio (1475–1554) oder anderen Architekten der Renaissance. Der Garten in Padua verfügte über ausgesprochen aufwändig gestaltete Beete, um das Buch der Natur zu ordnen. Eine Ansicht des ursprüngli- chen Zustands zeigt der erste gedruckte Katalog des botanischen Gartens (siehe Abb. 5.2).65 Die vier Felder des Gartens wurden verschieden unter- teilt, doch alle besassen geometrische Grundformen. Bestimmend waren die Figuren des Kreises sowie des Quadrats, dazu kamen weitere Verbin- dungslinien oder Tangenten. Kreis und Quadrat waren Idealformen der Geometrie, weswegen bereits Leon Battista Alberti (1404–1472) kreisför- mige Gärten forderte.66 Generell bestand während der Renaissance der Wunsch, die Natur mittels einer kunstvollen Anlage in eine geometrische Ordnung zu überführen. Die innere Ordnung der Natur sollte durch eine formale Gestaltung gezeigt werden.67 Doch nicht nur Gartenanlagen wurden nach diesen idealen geo- metrischen Grundformen erstellt. Bereits eine zeitgenössische Quelle stellt den Bezug zur Militärarchitektur her und verweist auf die typischen Fortifikationsbauten der Zeit, die auf ähnlichen geometrischen Grund- formen beruhten. Auch Idealstädte der Zeit folgten einem ähnlichen geometrischen Aufbau, wie das Beispiel von Filaretes (Antonio Averlino, ca. 1400–1469) erdachter Stadt Sforzinda oder die realisierten Planstädte der Renaissance verdeutlichen. Durch den kreisrunden Erdwall, der den quadratischen Garten zu Beginn umschloss, wurden auch der Vergleich zu antiken Amphitheater laut, denn auch der Garten in Padua hatte die

64 Siehe dazu: Terwen-Dionisius 1994. 65 Porro 1591. 66 Gothein 1926, Band 1, S. 220. 67 Hennebo/Hoffmann 1965; Jong 2000.

299 Abb. 5.2 Grundriss des botanischen Gartens in Padua, Zustand vor 1591.

(aus: Girolamo Porro (zu- geschrieben), L’Horto dei semplici di Padoua, Vene- dig (Girolamo Porro) 1591.)

Aufgabe, die Pflanzenwelt dem Besucher vor Augen zu führen.68 Doch scheinen weitere Ideen zu dieser Gestaltung geführt zu ha- ben. Die proportionalen Beziehung von Kreis, Quadrat und menschli- chem Körper wurde bereits besprochen, denn auch der mystische Kreis der Fechtschule machte von denselben Figuren und Ideen Gebrauch, um die Kunst des Fechtens mit dem menschlichen Körper und wissenschaft- lichen Idealen der Zeit in Einklang zu bringen. Der mystische Kreis der Fechtschule ähnelt deshalb einem der Felder des botanischen Gartens in Padua (Abb. 5.2 und Abb. 3.3). Auch in Padua konnte der Wunsch, den Garten in proportionalen Verhältnissen des menschlichen Körpers zu er- richten, die Grundlage des Entwurfs liefern, denn der Garten war ja zu- nächst in erster Linie ein Medizingarten, der zur Aufgabe hatte, den Men- schen Heilmittel zur Verfügung zu stellen. Bereits 1552 musste in Padua der flache Wall durch eine hohe Mau- er ersetzt werden, weil Pflanzen aus dem Garten gestohlen wurden. 1591 meldete der damalige Präfekt Giacomo Antonio Cortuso (1513–1603) an Carolus Clusius, der kurz darauf in Leiden tätig wurde, dass der Garten

68 Terwen-Dionisius 1994, S. 119–223; Tönnesmann 2013b.

300 und dessen Beete in einem schlechten Zustand seien und er sich für eine Neugestaltung stark machen würde.69 Es ist anzunehmen, dass der Garten daraufhin in einfachere Beete umgestaltet wurde, denn die geometrisch aufwändigen Formen eigneten sich nur bedingt für eine nachvollziehbare Ordnung der Pflanzen und für eine leichte Pflege und Kultivierung der- selben. Wohl aus ähnlichen Prämissen wurde der Leidener Garten mit re- lativ einfachen Beeten ausgestattet, die nicht nur eine leichte Betrachtung und Pflege ermöglichten, sondern auch eine gleichwertige und somit ob- jektivere Nachbarschaft der gezeigten Pflanzen. Pieter Pauw kannte den Paduaner aus eigener Anschaung, da er an der dortigen Universität stu- dierte.70 Er verzichtete dennoch auf die Übernahme der dortigen Garten- architektur. Zwar wurde die Architektur des Paduaner Gartens nicht über- nommen, dafür aber der Aufbau und die Gestalt seines Katalogs, der für den ersten gedruckten Katalog des Leidener Gartens als Vorbild diente.

Der Bau des Gartens und die Berufungen Clusius, Cluyt und Pauws

Während der längeren Phase der Ungewissheit, ob Paludanus zusagen würde oder nicht, überlegte sich das Kuratorium wohl eine passende Alternative. Denn noch am Tage seiner Absage wurde bereits ein neuer Kandidat diskutiert. Dirk Outgaertsz. Cluyt (ca. 1550–1598) stammte aus Delft und war dort ein angesehener Apotheker.71 Zudem war sein Onkel einer der berühmtesten Ärzte Hollands, Pieter van Foreest (Petrus Fores- tus) (1522–1597), durch den Cluyt dem Kuratorium vorgeschlagen wurde.72 Foreest hatte nicht nur eine familiäre, sondern auch eine geschäftliche Beziehung mit Cluyt, weil er als ehemaliger Stadtarzt von Delft mit dem Apotheker zusammenarbeitete.73 Beispielsweise kaufte Foreest in Cluyts Apotheke verschiedene aromatische Mittel, um den Körper des ermorde- ten Wilhelm von Oranien einzubalsamieren.74 Nach Ogilvie steht die Berufung von Cluyt stellvertretend für einen Wandel in der Geschichte der Naturforschung. Diese trennte sich zu der Zeit langsam von der akademischen Medizin, weswegen es überhaupt denkbar wurde, dass einem Apotheker anstelle eines studierten Arz-

69 Terwen-Dionisius 1994, S. 223. 70 Zu Pauws Biographie und Studienzeit, siehe: Huisman 2009, S. 32–34. 71 Witkam, DZ II, (4. Dec. 1591), No. 310, S. 3; Bronnen I, (4. Dez. 1591), S. 66; der Ein- trag der Absage und derjenige der Berufung stehen im Dachbouk (AC1.100) und im Archiv der Curatoren (AC1.19, (4. Dez. 1591), f. 68v–69v) gleich hintereinander und gehören zur selben Sitzung. 72 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 1, Sp. 884–889. 73 Egmond 1998, S. 63; Houtzager 1997, S. 8–10. 74 Cook 2007, S. 271.

301 tes die Präfektur eines botanischen Gartens angeboten wurde.75 Dieser Wandel scheint aber während der Berufung Cluyts noch nicht vollstän- dig vollzogen gewesen zu sein, denn es wurden Bedenken geäussert, ob Cluyts Fähigkeiten für eine Medizinprofessur ausreichen würden. Insbesondere wurde sein sprachliches Können – vor allem seine Latein- und Griechischkenntnisse – in Frage gestellt.76 Innerhalb des Fachbereichs der Medizin, respektive der Pflanzen- kunde, gab es eine klare Aufteilung der Kompetenzen, die erst im Laufe des 16. Jahrhundert aufgeweicht wurde.77 So waren die Apotheker zustän- dig für die Kenntnis und den Handel mit Kräutern, die studierten Ärz- te hingegen für das theoretische Wissen über deren Heilkräfte. Die Ge- lehrten misstrauten den Kräuterhändlern, da es unter ihnen auch viele Quacksalber gab. Sie kontrollierten deswegen die Apotheker und schrie- ben teilweise vor, wie sie ihre Medikamente anzurühren hatten. Die Be- denken gegenüber Apothekern änderten auch ihre gesellschaftlich be- dingten Kompetenzen. Sie mussten am Ende des 16. Jahrhunderts Latein wenigstens lesen können.78 Im Gegenzug verfügten die Händler aber über empirische Kenntnisse zur Pflanzenwelt, die den meisten studierten Ärz- ten noch fehlten. Sie warfen ihrerseits den studierten Gelehrten vor, sie können nicht einmal die bekanntesten Kräuter erkennen. 79 Die Universitäten und ihre Medizinprofessoren waren auf das Fach- wissen solcher nichtakademischer Experten angewiesen. Jahrzehnte spä- ter wurde in Leiden ein Apotheker als externer Fachmann angestellt, um die Studenten in der Herstellung medizinischer Präparate zu unterrich- ten.80 Die fehlende sprachliche Fähigkeiten Cluyts führten zunächst aber zu Zweifeln über seine Begabung als Lehrer.

Carolus Clusius soll gewonnen werden Das Kuratorium wich auf einen weiteren Kandidaten aus. Carolus Clusi- us (Charles de L'Escluse, 1526–1609)81 wurde zwei Wochen später durch Jan van Hoghelande angeschrieben, um ihm die Präfektur des botani- schen Gartens anzubieten (Abb. 5.3).82 Clusius war in Leiden keineswegs ein Unbekannter. Neben seinem weitreichenden Ruf als Experte in der

75 Ogilvie 2006, S. 38. 76 Zur Gesellschaftsschicht der Halbgelehrten, siehe: Trunz 1995, S. 22–23. 77 Siehe dazu: Paula Findlen 1994, S. 261–272. 78 Ogilvie 2006, S. 56. 79 Meier Reeds 1991, S. 24–26, zur Überprüfung von Apothekern durch Ärzte in Mont- pellier, S. 74–75; zur Überprüfung Amsterdamer Aoptheken siehe: Wijnands/Zeven- huizen/Heniger 1994, S. 9–11; Cook 2007, S. 159–161. 80 AC1.23, (7. Febr. 1642), f. 152r; Bronnen II, (8. Febr. 1642), Bijl. no. 647, S. 339*–340*. 81 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 9, Sp. 150–153; zudem: Hunger 1927–1943. 82 Der Brief scheint nicht überliefert zu sein, wird aber im Antwortschreiben von Clu- sius erwähnt.

302 Abb. 5.3 Carolus Clusius umgeben von verschiedenen exoti- schen Pflanzen und Natu- ralien. Kupferstich von Jac- ques de Gehyn II.

(Carolus Clusius, Rariorvm plantarvm historia, quae accesserint, proxima pagina docebit, Antwerpen (ex offi- cina Plantiniana apud Ioan- nem Moretum) 1601, unpa- ginierte Seite.)

(Download: http://caliban. mpiz-koeln.mpg.de/eclu- se/high/IMG_4118.jpg)

Pflanzenkunde unterhielt er zahlreiche persönliche Beziehungen zu Mit- gliedern der Leidener Universität. Mit Jan van Hoghelande (ca. 1558–1614), einem reichen Aristokraten, führte er eine Brieffreundschaft. Van Hoghe- lande war wie Clusius Pflanzenliebhaber und stolzer Besitzer von Tul- pen.83 Auch Lipsius kannte Clusius aus gemeinsamen Zeiten am Wiener Hof. Im Sommer 1587 bat Lipsius Clusius um Pflanzen für seinen neuer- worbenen Garten, und im Antwortschreiben bedankte sich Clusius bei ihm für eine offerierte Stelle an der Leidener Universität.84 Neben Lipsius und Hoghelande unterhielt Clusius auch eine Freundschaft mit dem frü- heren Leidener Professor Rembertus Dodonaeus (1516/17–1585), den er ebenfalls in Wien kennenlernte. Clusius übersetzte gar dessen einfluss- reiches Kräuterbuch ins Französische und half während seiner Leidener Zeit bei einer Neuauflage mit.

83 Findlen 2002, S. 341, Anmerkung 39, mit Verweis auf: Brief an Clusius, Universitäts- bibliothek Leiden, Vulc. 101, 20 May 1592. 84 Swan 2005a, S. 118 und Fussnote 75, S. 217; Ogilvie 2006, S. 81 und Anmerkung 337.

303 Doch lehnte auch Clusius in seinem Antwortschreiben vom 19. Janu- ar 1592 den Ruf zunächst ab. Er nannte verschiedene Gründe. So bereite selbst sein kleiner privater Garten ihm so viel Mühe, dass er kaum zu sei- nen Studien komme. Zudem fühle er sich nicht in der Lage, Studenten zu unterrichten.85 Aus diesem Brief geht hervor, dass er sich primär für seine wissenschaftlichen Studien und die daraus resultierenden Publikationen begeistern konnte.

Die Berufung Pauws zum Ordninarius Das Problem der Präfektur des Gartens war somit nach wie vor unge- löst. Zudem fehlten die Pflanzen, die für den Unterricht die notwendige Grundlage bildeten. Im März 1592 schrieben die Kuratoren einem Ver- mittler – einem gewissen Franchois Maelson – einen Brief betreffend Cluyt. Es wurde nochmals das Dafür und Dawider seiner Berufung be- sprochen: Zwar sei er ein erfahrener Apotheker, doch fehle ihm der Dok- tortitel, der aber zwingend erforderlich sei, um Präfekt des Gartens wer- den zu können. Man habe deswegen beschlossen, einem Ordinarius der Medizin die Stelle zu übergeben. Zudem wurde noch immer auf Clusius gehofft.86 Cluyt war somit vorerst aus dem Rennen. Der Ordinarius, von dem gesprochen wurde, war Pieter Pauw, der kurz zuvor und vor allem aufgrund „seiner Dienste, Erfahrenheit und Not- wendigkeit in der Anatomie“ zum ordentlichen Professor berufen wurde. Von der Pflanzenlehre ist in der überlieferten Akte jedoch nicht die Rede.87 Es ist wohl kein Zufall, dass dies am Tag der Absage von Clusius geschah. Denn man hielt sich dadurch eine Hintertüre offen, nämlich dass zur Not Pauw den Unterricht in der Botanik wahrnehmen konnte. Diese Aufgabe hatte er ja bereits bei seiner ersten Berufung zum ausserordentlichen Pro- fessor inne.88 Sein neues Gehalt betrug 300 Gulden jährlich.89 Da weder Cluyt noch Clusius zum Präfekten des Gartens berufen wurden, wählte das Kuratorium am 12. Mai 1592 Pieter Pauw zum Versorger des Gartens.90 Er kümmerte sich in den kommenden Jahren um dessen Errichtung.

85 Bronnen I, (8. Febr. 1592), S. 70 und Bronnen I, No. 180, (19. Jan. 1592), S. 193*–195*, hier S. 193*–194*. 86 „gelijc alrede een vande ordinaryse professoren der medicynen ’t zelve bij provisie ende op hope vande comste D. Clusii genouch heeft angenomen“, Witkam, DZ II, (25. März 1592), No. 311, S. 4; siehe auch Bronnen I, (Ende Juni 1592), Bijl. no. 190, S. 203*. 87 Witkam, DZ IV, (8. Febr. 1592), No. 1191, S. 172–173; Der Eintrag steht im Dachbouk nach der Absage von Clusius. Pauw wurde wohl unabhängig davon als Ordinarius vor allem für den anatomischen Unterricht berufen. In AC1.19, (8. Febr. 1592), f. 83r–84v zuerst Berufung von Pauw, dann die Absage von Clusius. 88 Bronnen I, (9. Febr. 1589), S. 55. 89 Witkam, DZ IV, (8. Febr. 1592), No. 1191, S. 172–173, hier S. 173. 90 Bronnen I, (12. Mai 1592), S. 71 sowie Bronnen I, (12. Mai 1592), Bijl. Nr. 188, S. 202*.

304 Spätestens mit der Berufung Pieter Pauws wurde der Bau des Gar- tens wieder in Angriff genommen.91 Pauw pendelte wohl in den kommen- den Jahren zwischen der Baustelle des anatomischen Theaters und jener des botanischen Gartens hin und her. Eine seiner wichtigsten Aufgaben für die Errichtung des Gartens war es, an Pflanzen für den Garten zu ge- langen, denn ohne die privaten Gärten oder die weltweiten Beziehungen von Paludanus, Cluyt oder Clusius fehlten diese noch immer. So wurde Pauw explizit aufgefordert, alle möglichen Gewächse zu sammeln und in den Garten zu setzen.92

Donationen von Pflanzen Um dies in grosser Zahl bewerkstelligen zu können, sollte er persönlich oder brieflich Pflanzenliebhaber dazu auffordern, doppelt oder mehr- fach in ihren Gärten befindliche Pflanzen der Universität zu übergeben. Als Ansporn dazu sollte ein Donatorenbuch angelegt werden, worin die Spender im Gedächtnis bewahrt werden sollten.93 Es sollte also die gleiche Taktik zum Zug kommen, wie in der Leidener Universitätsbib- liothek und in anderen Büchersammlungen: Sowohl die Veräusserung von Dubletten, als auch der Ansporn zu Spenden mittels der Erwähnung der Stifter war eine gängige Praxis von Bibliotheken. Pauw versuchte sie auf die Errichtung einer Pflanzensammlung zu übertragen. Ein Donato- renbuch ist aber nicht überliefert und wird in den späteren Akten nicht mehr erwähnt. Die Bemühung, über Stiftungen aus der Bevölkerung an Pflanzen zu kommen, scheint nicht mehr unternommen worden zu sein. Es ist also anzunehmen, dass der Versuch nicht den gewünschten Erfolg brachte. Denn Pflanzen als Lebewesen eignen sich nur bedingt, um eine blei- bende Erinnerung an die Spender zu stiften. Sie konnten – wie die Do- natoren selbst – sterben, so dass als einziges Zeugnis nur der Eintrag im Donatorenbuch bestehen geblieben wäre. Pflanzen gemahnten gar an die eigene Sterblichkeit und waren ein häufiges Motiv auf Vanitas-Bildern. Anders hingegen die wertbeständigen Bücher, die über Jahre hinweg ak- tiv genutzt werden konnten und nicht zuletzt durch ihren Charakter – der

91 Bereits am 11. Juli 1591 erhielt ein Schreiner Geld für das Ausbessern eines Zaunes im Hof der Universität: „den 11en julii aen het repareren vande schuttinge van den hof“. Noch ist nicht von einem Garten die Rede, doch könnte dieser Eintrag dar- aufhin weisen, dass bereits 1591 einige wenige Pflanzen im Hof der Akademie ge- funden werden konnten und mittels eines Zaunes gesichert wurden. Siehe dazu: Witkam, DZ IV, (28. Mai 1593), No. 1029, S. 69. 92 Bronnen I, (12. Mai 1592), No. 188, S. 202*. 93 Bronnen I, (12. Mai 1592), No. 188, S. 202*; ein Donatorenbuch konnte in den Ar- chiven der Universität nicht ausgemacht werden. Es ist deshalb fraglich, ob dieser Plan tatsächlich umgesetzt wurde und ob die angestrebten Ziele tatsächlich auch eintrafen.

305 Verwahrung und Weitergabe gemachter Gedanken – sich bestens als Me- morialgabe eigneten. Private Stiftungen aus der Bevölkerung an den botanischen Garten blieben aber nicht vollständig aus. Erwähnung erfuhren die wenigen Spender in der Fachliteratur, die durch die Präfekten und Professoren verfasst wurden. So erklärte Clusius in seinem Exoticorum von 1605 nicht nur fremdartige Naturalien, sondern auch, von wem er diese erhielt. Und auch Paulus Hermannus (1646–1695), erwähnte in seinem Pflanzenkata- log die Namen derjenigen, die besonders seltene Exemplare dem Garten vermachten.94 Die meisten Pflanzen erhielten die Präfekten von professi- onellen Kollegen, von Naturhistorikern aus aller Welt. In der Akte steht als weiterer Ansporn, dass sich das Kuratorium für einen solchen Dienst am Gemeinwesen und an der Beförderung des menschlichen Heils erkenntlich zeigen würden, was auf eine mögliche finanzielle Entschädigungen hinweisen kann.95 Der Garten und seine Ge- wächse wurden nicht mehr – wie bei der Berufung Paludanus – als Zierde und ehrenhafte Einrichtung gepriesen, sondern als Notwendigkeit aller, um ein gesundes Leben führen zu können. Denn der Garten war in der Tat ein lebenswichtig, hielt er doch die Heilkräuter bereit, die allen Be- wohnern der Stadt dienten. Pflanzen waren also nicht nur ein Mahnmal für die eigene Sterblichkeit, sondern auch die Grundlage für Medizin, die zu einem möglichst langen und gesunden Leben verhelfen sollten.

Baubeginn Im April 1592 wurde der Platz hinter der Akademie für den Bau des Gar- tens urbar gemacht, der Grund umgepflügt, Steine weg- und frische Erde herangeschafft.96 Wenige Wochen darauf erhielt Pauw – neben Diensten für die Anatomie – 4 Gulden und 10 Stuyvers für das Überbringen und Einpflanzen verschiedener Gewächse in den Garten; ob diese nun Spen- den aus der Bevölkerung waren, ist nicht bekannt.97 Der erst im Entstehen begriffene Garten war wohl noch nicht bereit, diese Pflanzen aufzuneh- men. Laut Witkam fand der eigentliche Unterricht nicht auf der Baustel- le des neuen Gartens statt, sondern im ehemaligen Garten von Lipsius, den Pauw übernommen hatte und in welchem längst zahlreiche Pflanzen wuchsen, die Lipsius nicht zuletzt von Clusius erhalten hatte.98 Am 8. Juni 1592 vermass der Reentmeister den Garten und zeichnete

94 Sie dazu beispielsweise: Hermannus 1687, S. 18. 95 Bronnen I, (12. Mai 1592), Bijl. no. 188, S. 202*. 96 Witkam, DZ IV, (8. April 1592), No. 4178, S. 60. 97 Witkam, DZ I, (10. Mai 1592), No. 1102, S. 26–27, hier S. 26. 98 Siehe die Anmerkungen in: Witkam, DZ I, (10. Mai 1592), No. 1102, S. 26–27, hier S. 27; zudem Witkams Arbeit zum Garten von Lipsius.

306 einen Plan, nach welchem die Gartenanlage erstellt werden soll.99 Im Au- gust wurde Pauws Lohn erhöht und zwar für alle seine Dienste in der Ana- tomie, aber auch für die Übernahme der Aufsicht über den Garten. Kurz darauf reiste Pauw nach Deutschland.100 Wohl während seiner Abwesen- heit überwachte der zweite Pedell Pieter Bailly die Arbeiten im Hof. Der Garten wurde geebnet, umgegraben und mit frischer Erde versehen.101

Die Berufung von Carolus Clusius Der Bau des Gartens schritt somit im Sommer 1592 schnell voran. Doch scheint Pauw weiterhin nicht als ideale Besetzung der Präfektur angese- hen worden zu sein, oder es fehlten noch immer die gewünschten Pflan- zen. So versuchte das Kuratorium erneut, Clusius zu gewinnen. Diesmal unterbreiteten sie ihm einen konkreten Vorschlag und boten ihm 690 Gul- den102 jährlich als Lohn an. Dies scheint gewirkt zu haben, denn in seinem Antwortbrief steht, dass ihn Geld zwar nicht sonderlich interessiere, er es aber dennoch benötige, denn sein Fuss sei lädiert, sein privater Garten müsse bestellt werden und die Sachen für den täglichen Gebrauch würden ebenfalls Geld kosten. Er sei nun bereit, die Stelle anzunehmen. Er müsse sich jedoch noch von vorhandenen Pflichten befreien, so dass er erst im Herbst 1593 nach Leiden kommen könne. In der Zwischenzeit versprach er, einige Pflanzenzwiebeln und -knollen nach Leiden zu senden.103 Die- ser Antwortbrief wurde am 14. Juli 1592 vom Kuratorium besprochen und beschlossen, bis im Herbst auf Clusius zu warten und neben dem Lohn auch die Kosten seiner Reise zu übernehmen.104 Am 12. August folgte das offizielle Berufungsschreiben. Clusius erhielt den Auftrag, im Sommer täglich im Garten die Namen, Kräfte und Wirkungen der Pflanzen zu er- klären sowie im Winter zweimal wöchentlich Mineralien und andere der Medizin hilfreiche Naturalien zu präsentieren und zu besprechen. Von der Überführung von Pflanzen oder Naturalien ist hier nicht die Rede, ganz im Gegenteil zur Berufung von Paludanus. Auch wird Clusius kein Wohnhaus angeboten, nur die Lehrverpflichtungen blieben dieselben.105

99 Bronnen I, (8. Juni 1592), Bijl. no. 189, S. 202*. 100 Er erhielt nun 100 Gulden zusätzlich im Jahr und insgesamt 400 Gulden, siehe: Wit- kam, DZ IV, (8. August 1592), No. 1193, S. 173–174. 101 „ter plaetse daer den cruythoff gemaect wert, de fondamenten uytgeroyt ende op- genomen, ’t zelve pleyn geeffent ommegespit ende mit de caeuwe aerde, vande nie- we (?) [Witkams Fragezeichen] chingele comende, verhoocht hebben, zo op haer compste aen ’t werc, ’t doen vanden arbeyt, als op ’t afscheyden, hem somwijlen ooc laetende vinden buyten opter chingele, om de zelve te meer ende beter voort te stouwen“, Witkam, DZ II, (9. Okt. 1592), No. 343, S. 28. 102 300 sogenannte „Rijksdaalder“ entsprachen 690 Gulden, diese wurden später auch ausbezahlt, siehe: AC1.19, (Oktober 1592), f. 274v–275v, hier 275r. 103 Bronnen I, (Ende Juni 1592), No. 190, S. 203*; AC1.19, (Juni 1592), f. 119r–119vv. 104 Witkam, DZ I, (14. Juli 1592), No. 273, S. 185–186. 105 Bronnen I, (12. Aug. 1592), Bijl. No. 193, S. 204*–205*.

307 Zu jener Zeit verdiente er am Hof des Landgrafen Wilhelm IV. von Hes- sen-Kassel (1532–1592) 60 Florin im Jahr. Dieser verstarb in jenem Som- mer.106 Clusius tat also gut daran, den Ruf anzunehmen. Das Antwortschreiben auf seine Berufung verfasste Clusius im Sep- tember 1592. Noch immer wollte er nicht in der Lehre tätig sein und sich von allen Lehrverpflichtungen frei sprechen lassen, da er alt sei und ein lädiertes Bein habe, weswegen er auf die Hilfe Dritter angewiesen sei. Den Unterricht im Winter lehnte er mit der Begründung ab, dass er sich bezüglich Mineralien und Metallen nicht sonderlich gut auskenne. Er erklärte sich aber dazu bereit, beim Aufbau einer Sammlung zu helfen und seine wenigen mineralischen Stücke unentgeltlich der Universität zu übergeben.107 Er könne erst im Herbst des folgenden Jahres kommen, werde aber versuchen, möglichst viele Knollen und Pflanzen bereits im Frühjahr nach Leiden zu senden.108 In der Sitzung vom 7. Oktober 1592 wurde Clusius angenommen. Seine Ablehnung jeglicher Lehraufträge wird in den Unterlagen nicht thematisiert, wurde scheinbar aber akzep- tiert.109 Ein Brief mit den getroffenen Beschlüssen wurde ihm fünf Tage später zugesandt.110 Daraufhin verfasste Clusius wiederum einen Brief an Hoghelande. Er schreibt, durch den Apotheker Christian Porret erfahren zu haben, dass Pauw im Besitze des Gartens von Lipsius sei und diesen pflege und bewahre, so lange bis der öffentliche Garten der Akademie hergerichtet sei.111 Der Garten der Universität war somit im Herbst 1592 noch immer nicht mit Pflanzen bestückt und der Unterricht fand wohl weiterhin im ehemaligen Garten von Justus Lipsius statt.

Saatgut aus Kreta Bereits vor seiner Ankunft setzte sich Clusius wie versprochen für die Bestückung des Gartens ein. Im Dezember traf ein Brief mit Saatgut in Leiden ein. Clusius erklärte, dass es sich dabei in der Mehrheit um Pflan- zensamen aus Kreta handle. Mitgeschickt hatte Clusius noch einige Zwie- bel- und Knollengewächse, die er in seinem Garten kultiviert hatte. Diese sollten rasch in einen Tonkrug gepflanzt und nicht der kalten Witterung ausgesetzt werden. Er bedankte sich zudem, dass er von seinen winter- lichen Pflichten befreit wurde.112 Beigefügt war diesem Brief neben den Samen auch eine alphabetische Liste aller Pflanzennamen, total 251 an

106 Siehe dazu: Gelder 2011, S. 269. 107 Der Aspekt der unentgeltlichen Abtretung von wissenschaftlichen Exponaten wird später noch diskutiert. 108 Bronnen I, (6. Sept. 1592), Bijl. No. 202, S. 231*–232*. 109 Bronnen I, (7. Okt. 1592), S. 71–72. 110 Witkam, DZ I, (12. Okt. 1592), No. 802, S. 186–187. 111 Bronnen I, (7. Okt. 1592), S. 72; Bronnen I, Bijl. (25. Okt 1592), Bijl. No. 204, S. 233*. 112 Bronnen I, (15. Nov. 1592, empfangen am 3. Dez. 1592), Bijl. No. 213, S. 238*.

308 der Zahl.113 Clusius erklärt in seinem Schreiben, die Samen aus Kreta seien eine nur schwierig zu erhaltende Seltenheit. Kreta und Zypern galten als Orte, „wo es die berühmtesten [Heil-]Kräuter und Minerale gibt“, wie das Grün- dungsdokument des botanischen Gartens in Padua erklärt.114 Die Samen aus Kreta stammten von Giuseppe Casabona (ca. 1535–1595), einem flä- mischen Naturhistoriker, dem Ferdinand I. de Medici (1549–1609) eine Forschungsreise nach Kreta finanzierte und der danach Direktor des bo- tanischen Gartens in Pisa wurde. Unter den Empfängern der Samen und Pflanzen, die er aus Kreta nach Europa sandte, war neben Clusius auch sein damaliger Arbeitgeber Wilhelm IV. von Hessen-Kassel.115 Noch am Tag des Empfangs der Samen und Zwiebeln wurde be- schlossen, sie an Pauw zu übergeben, damit der sie – nach Absprache mit Jan van Hoghelande, der als Pflanzenliebhaber scheinbar eine bes- sere Fachkenntnis besass als Pauw – einpflanzen konnte. 116 Pauw setzte die Samen auf relativ eigenwillig Art und Weise in den Garten, nämlich in alphabetischer Reihenfolge ihrer Namen, was bereits kurz darauf heftig kritisiert und polemisch kommentiert wurde.

Weitere Bauarbeiten Bis im Dezember 1592 pflanzte Pauw wenigstens einen Teil der empfan- genen Samen und Knollen in neue Behälter aus Holz ein. Die Behälter wurden mit Torf versehen und mittels 50 Schieferplatten unterteilt.117 Ver- gleicht man diese Angaben mit dem ersten überlieferten Grundriss des Gartens von 1594,118 scheint bereits 1592 – zumindest teilweise – eine Vor- wegnahme der späteren Einteilung des Gartens stattgefunden zu haben. Die Beete des Jahres 1594 wurden ebenfalls mittels Schieferplatten in klei- nere Einheiten unterteilt, wobei die Streifen des ersten und zweiten Qua- drats jeweils durch 25 solcher Platten in 18 Felder unterteilt wurden.119 Sie verfügten daher über die gleiche Einteilung wie die erwähnten Beete des Jahres 1592. Vermutlich wurde das Layout des Gartens bereits in der Plan- zeichnung vom Juni 1592 bestimmt. Ende des Jahres war der Garten wohl

113 Bronnen I, (15. Nov. 1592), No. 214, S. 238*–242*. 114 Zitiert nach: Vercelloni/Vercelloni 2010, S. 57. 115 Siehe dazu: Gelder 2011, S. 260–264. 116 Witkam, DZ I, (3. Dez. 1592), No. 1195, S. 187–188; zudem: Witkam, DZ I, (9. Dez. 1592), No. 624, S. 188–189. 117 Witkam, DZ II, (Dez. 1592), No. 344, S. 28–29; die „backen“ werden auch erwähnt in Witkam, DZ I, (16. Febr. 1593), No. 188, S. 133–134, hier 133: „[…] noch 4 gl. 3 st. voor t’ maecken vande houte backen om cruyden daerinne te planten inden hoff […]“. 118 Siehe dazu den schematischen Grundriss im Index stirpium von 1594. 119 Pro Beetstreifen 9 Platten in Längsrichtung entlang der Mitte, sowie 16 in Querrich- tung. Die äusseren Enden waren bereits durch die Ränder vorgegeben. Es wurden also pro Streifen 25 Platten benötigt, um die Streifen in 18 Felder zu unterteilen.

309 so weit errichtet, dass Pauw die Samen in ihm Garten anpflanzen konnte. Demnach wäre der Garten bereits 1592 entworfen worden. Doch war der Garten noch lange nicht in allen Teilen fertiggestellt. 1592 und 1593 wurden weitere Arbeiten in ihm getätigt, über die wir dank einer relativ detaillierten Kostenabrechnungen Bescheid wissen. So wur- de im Dezember Stroh eingekauft, um die Pflanzen damit zuzudecken und sicher durch den Winter zu bringen. Im März 1593 wurde der Garten von Schnee befreit und im April Behälter für Pflanzen und weitere Artikel gekauft. Zudem erhielt der Gärtner Aert Pietersz. für das Umgraben der Beete einen Lohn; er hatte dafür vier Tage benötigt, was auf eine grössere Fläche hindeutet.120 Aert Pietersz., der Pauw wohl aufgrund der gemeinsa- men Arbeiten im Garten kennenlernte, wurde kurz darauf dessen Kustode im anatomischen Theater und später der erste Hortulanus des Gartens.121 Pauw erhielt am 10. März 1593 für seine Vorlesungen und insbesondere für seine Arbeit im Garten, die beide zusammen den Unterricht in der Medizin „te doen werden groeyen en bloeyen“, eine Gehaltserhöhung über 100 Gulden auf 500 Gulden jährlich.122 Im Frühjahr 1593 wurde der Garten für die kommende Saison eingerichtet. Clusius schickte Pauw wohl hinsichtlich des kommenden Sommers einen weiteren Brief mit Pflanzensamen. Pauw fertigte eine Liste der empfangenen Samensorten an, was anzeigt, dass die Samen wohl einzeln verpackt und beschriftet waren. Er erhielt den Brief am 9. April 1593 und liess die Samen einen Tag später einpflanzen.123 Sie wurden durch den Gärtner Aert in 26 „testen“ gepflanzt, wofür er 6 Gulden Lohn bezog.124 Von Mai bis Juli wurden weitere Arbeiten durchgeführt und neue Beete geschaffen, die umgegraben wurden, was ganze zwölf Tage dauer- te, weswegen es sich erneut um eine grössere Fläche handeln musste. 125 Spätestens im August muss der Bau des Gartens aber bereits weit voran- geschritten gewesen sein, denn damals brachte der Schlossmacher ein Schloss und einen Türklopfer an der Pforte des Gartens an, was darauf hindeutet, dass Pflanzen vor Diebstahl geschützt werden mussten.126 Zu- dem wurden bereits im Juli Eimer gekauft, um die Beete bewässern zu können.127

120 Witkam, DZ IV, (10. Juli 1593), No. 4215, S. 70. 121 Siehe dazu: Huisman 2009, S. 29–30. 122 Witkam, DZ IV, (10. März 1593), No. 1197, S. 174–175. 123 Bronnen I, (28. März 1593), Bijl. no. 232, S. 258*–259*; zudem: Bronnen I, (18./28. März 1593), S. 76. Wo die Samen eingesetzt wurden, kann nicht ermittelt werden, da sie Pflanzen im Katalog von 1594 fehlen. 124 Witkam, DZ IV, (10. Juli 1593), No. 4215, S. 70. 125 Witkam, DZ IV, ((10. Juli 1593), No. 4215, S. 70. 126 Witkam, DZ IV, (2. Aug. 1593), No. 1032, S. 71–72. 127 Erwähnt in der Abrechnung des kommenden Februars, siehe: Witkam, DZ I, (4. Febr. 1594), No. 1056, S. 27–28, hier S. 27.

310 Der Garten war also spätestens im Sommer 1593 soweit eingerichtet, dass darin Pflanzen wuchsen und er mittels einer Türe vor unbefugtem Zutritt geschützt werden musste.128 Im November sollte ein Plan aus- gearbeitet werden, um den wohl einfachen Zaun durch eine Mauer zu ersetzen.129 Der Garten war jedoch wohl erst in seinen Grundzügen fer- tiggestellt, denn auch im nächsten Jahr wurden neue Beete erstellt und Pflanzen eingesetzt.

Clusius’ Ankunft in Leiden Clusius kam am 19. Oktober 1593 und somit nach all diesen Arbeiten in Leiden an.130 Für seine Reisespesen erhielt er 400 Gulden.131 Mit seiner Ankunft war zwar die Fachperson für Pflanzenkunde in Leiden, doch noch immer musste nach einer Lösung gesucht werden, seinen Unwillen zu unterrichten, wett zu machen. Im Januar 1594 wurde Pauws Lohn er- neut um 100 Gulden auf nunmehr 600 Gulden angehoben, da er im kom- menden Sommer diese Aufgabe übernehmen sollte.132 Im Frühjahr 1594 wurden weitere Arbeiten im Garten vorgenom- men. Der Gärtner Aert Pietersz. kaufte erneut Schieferplatten, um weitere Beete zu unterteilen.133 Mit den gekauften 400 Platten konnten sechzehn Streifen in achtzehn Beete eingeteilt werden, was der zukünftigen Quad- ra prima oder Quadra quarta entsprach.134 Wie noch besprochen wird, war es wohl Clusius, der zuständig für die Quadra prima war und dort viele Ziergewächse aufgrund wissenschaftlicher und ästhetischer Krite- rien anordnete. Vermutlich wurden nach der Einteilung der Streifen die Pflanzen, Samen oder Zwiebeln, die Clusius mit nach Leiden brachte, in den Garten gesetzt. Von nun an bestückte also auch Clusius verschiedene Beete des Leidener Gartens.

Die Berufung von Cluyt Doch stellte sich ein weiteres Problem, das gelöst werden musste. Clu- sius war nämlich durch einen Unfall stark am Bein verletzt worden und konnte nicht mehr richtig gehen. Er bat deswegen das Kuratorium um ei- nen Helfer im Garten.135 Das Kuratorium setzte erneut auf den zuvor ab-

128 Erwähnt in einer Abrechnung vom Februar 1594, siehe: Witkam, DZ IV, (8. Febr. 1594), No. 1063, S. 83–90, hier S. 83. 129 Witkam, DZ I, (12. Nov. 1593), No. 4234, S. 145–146, hier S. 145. 130 Bronnen I, (19. Okt. 1594), S. 77. 131 Witkam, DZ I, (7. Jan. 1594), No. 283, S. 190. 132 Witkam, DZ I, (2. Mai 1594), Nr. 1198, S. 175. 133 Witkam, DZ II, (Mai 1594), Nr. 345, S. 29. 134 25 Platten für die Unterteilung eines Streifens in 18 Felder. Im Ganzen 16 Streifen und somit 400 Platten. 135 Bronnen I, (10. März 1594), S. 83; Bronnen I, (10. März 1594), Bijl. Nr. 263, S. 294*.

311 gelehnten Apotheker Cluyt, dessen fehlende akademische Qualifikation dank der erfolgreichen Berufung von Clusius nicht mehr ins Gewicht fiel, und nahmen ihn „tot bevorderinge ende onderhout v. d. Univ. cruythoff“ an. Das Pflichtenheft zu Cluyts Aufgaben wurde am selben Tag verfasst und beschreibt die wichtigsten Aufgaben, die er erfüllen sollte.136 Darin steht, dass der Apotheker Cluyt zur Unterstützung von Caro- lus Clusius angeworben wurde, zwecks Beförderung und Unterhalt des universitären Medizingartens, dabei aber Clusius unterstellt blieb. Er soll- te auch die Aufsicht des Gartens übernehmen. Cluyt sollte zudem einen Schlüssel erhalten, den er niemandem anvertrauen durfte ausser den Professoren der Medizinfakultät und – natürlich und ausdrücklich – Clu- sius. Zudem wurde gewünscht, dass er alle Pflanzen, Kräuter, Sprösslinge („spruytsels“), Blumen und andere Simplicia, die er besass, in den Garten überführen sollte, denn die Universität benötigte nach wie vor dringend Pflanzen für ihren botanischen Garten. Nach seinem Tod sollte ein Streit um sein Erbe geführt werden, da es unklar war, wer Anspruch auf seine wertvollen Pflanzen hatte. Cluyt durfte seinen Profit ein wenig aufbes- sern, indem er Pflanzen, die im Garten nicht benötigt wurden, verkaufen durfte. Der Text ist sehr ähnlich zum Berufungsschreiben an Paludanus, doch findet sich im Schreiben an Cluyt keinerlei Hinweise auf eine Kurio- sitätensammlung, die dieser besessen hätte und nach Leiden überführen sollte. Cluyts Lohn wurde dennoch gleich angesetzt wie jener, der Palu- danus angeboten wurde, nämlich ebenfalls 400 Gulden, obwohl Cluyt im Gegensatz zu Paludanus keinerlei Lehrverpflichtungen im Winter hat- te. Es ist nicht sicher, ob er über das notwendige Wissen oder über eine Sammlung an Mineralien, die für diesen Unterricht benötigt wurde, ver- fügte.

Wohnhaus Es wurde beschlossen, Cluyt eine Wohnung kostenlos anzubieten, die in oder um den Hof herum gelegen sein sollte. Er erhielt ein Gebäude, das zum alten Kloster gehört hatte und welches mit einem Reetdach gedeckt war, das sogenannte „Molckenhuys“. Zuvor lebte dort der zwei- te Pedell der Universität. Es grenzte im Nordwesten an den Garten an, lag nahe der Doelengracht und stand neben dem Haus, in welchem 1668 das chemische Laboratorium eingerichtet wurde.137 Das Wohnhaus wird im Berufungsschreiben aber nicht mehr als Ort des Unterrichts und der

136 Folgendes nach: Bronnen I, (2. Mai 1594), S. 83; und vor allem: Bronnen I, (2. Mai 1594), Bijl. Nr. 264, S. 294*–296*. 137 Siehe dazu: Terwen-Dionisius 1980, S. 38; zu den Wohnhäusern der Pedellen, siehe: Witkam 1971.

312 Abb. 5.4 Clusius und Cluyt im bota- nischen Garten in Leiden, in dem auch ein Bienen- stock aufgestellt wurde. Die Titelvignette ist zudem das einzige überlieferte Bild von Cluyt.

(aus: Theodorum Clutium, Van de Byen […], Antwer- pen (Petrus Josephus Ry- mers) 1618, Titelblatt.)

(Fotografie des Autors.)

Verwahrung einer Raritätensammlung beschrieben. Vielmehr ging es darum, Cluyt möglichst nahe beim Garten zu wissen. Die Nähe des Prä- fekten zu seinem Arbeitsplatz war auch im Falle der Bibliothek gegeben, denn dort sollte der Bibliothekar interessierten Besuchern die Bibliothek auch ausserhalb der Öffnungszeiten aufschliessen können. Im Falle des botanischen Gartens stellten sich neben diesen Wunsch auch weitere. Denn der Garten musste täglich gepflegt werden, wofür eine nahe Woh- nung des Präfekten wünschenswert war. Cluyt bat deswegen im Februar 1596 das Kuratorium, einen direkten Zugang von seinem Wohnhaus aus in den Garten errichten zu lassen, damit er „t’allen tijden ende stonden ende voornemelyck des winters bij avont ende ontijden, omme de cruy- den ende plantsoenen waer te nemen“.138 Später erhielten die Präfekten das Haus zwischen dem Akademiege- bäude und dem Garten, das damals noch durch Loys Elsevier bewohnt wurde. Die Präfekten der Gärten in Padua, Montpellier und Amsterdam wohnten ebenfalls in unmittelbarer Nähe ihrer Gärten.139 In Montpellier konnte der Präfekt sogar von seiner Wohnung aus mittels eines ingeniö- sen Mechanismus den gesamten Garten bewässern. Cluyt wurde am 8. Mai 1594 offiziell berufen.140 Im Juni erklärte er

138 Witkam, DZ II, S. 14, mit Verweis auf AC1.41, (8. Febr. 1596), Nr. 39; zudem AC1.20, (9. Febr. 1596), f. 26v. 139 Cook 2007, S. 163. 140 Witkam, DZ II, (7. Nov. 1594), No. 314, S. 5–8.

313 sich mit den erwähnten Bedingungen einverstanden. Er bat, dass die ver- sprochene Wohnung möglichst bald eingerichtet werden sollte, so dass er seine Stelle so schnell wie möglich antreten konnte.141 Cluyt kam spätes- tens am 7. November in Leiden an und brachte seine Pflanzen mit.142 Er setzte sie noch im selben Jahr in den Garten der Universität, wonach alle Beete des Gartens bestückt waren, wie uns das Inventar von 1594 zeigt. Die Universität hatte nun die gewünschten Ziele erreicht. Der Gar- ten war erstellt und mit Pflanzen bestückt. Mit Carolus Clusius verfügte die Akademie über einen berühmten und studierten Gelehrten, der dank seines weltweiten Netzwerks nicht nur an neue Pflanzen kommen konn- te, sondern auch den Ruhm der Universität mehrte. Mit Dirk Outgaertsz. Cluyt wurde ein fachkundiger Apotheker angestellt, der zwar keinen aka- demischen Grad vorweisen konnte, aber durch seine tägliche Arbeit mit Pflanzen und Heilmitteln bestens für die tägliche Arbeit im neuenHortus botanicus befähigt war. Pieter Pauw wurde vorläufig nicht mehr benötigt, sollte aber nach Cluyts Tod zum Präfekten des botanischen Gartens be- rufen werden.

Der erste Katalog 1594 und die Gestaltung des Gartens

Ende des Jahres 1594 waren nicht nur alle Personen in Leiden angekom- men, sondern ebenfalls der Garten errichtet und mit Pflanzen versehen. Diese mussten in eine räumlich sinnvolle Ordnung übertragen werden, wollten sie von einer „guten Nachbarschaft“ profitieren. Wie die Bücher der Bibliothek bereits durch ihre räumliche Anordnung einen Sinnzu- sammenhang generierten, so waren es im botanischen Garten die ein- zelnen Pflanzen und ihre räumliche Lage zueinander. Die architektoni- sche Gestaltung des Gartens war dabei entscheidend. Denn er gab den Rahmen vor, in welchen die Pflanzen gesetzt werden konnten. Andrew Cunningham meint: „In this sense the gardens become living catalogues of plants, living catalogues of Creation.“143 Doch wurden diese räumlichen Kataloge der Pflanzenwelt auch auf Papier übertragen. Index stirpium Der erste Katalog des botanischen Gartens der Universität Leiden zeigt die Gestaltung des Gartens sowie seine Bepflanzung für das Jahr 1594.144

141 Witkam, DZ II, (11. Juni 1594), No. 313, S. 5. 142 Witkam, DZ II, (7. Nov. 1594), No. 315, S. 8–9; Witkam, DZ II, (7. Nov.1594), No. 316, S. 9. 143 Cunningham 1996, S. 49. 144 AC1.101, fol. CXVII (Index Stirpium 1594); transkribiert in: Bronnen I, (8. Febr. 1595), No. 291, S. 317*–334* mit Verlust wichtiger typografischer Informationen; online in der Digital Special Collection der Universitätsbibliothek Leiden.

314 Knapp über 1000 Pflanzen werden in ihm verzeichnet.145 Übergeben wurde er durch Cluyt im Februar 1595 auf Wunsch des Kuratoriums,146 die ihn beauftragten, jährlich einen aktuellen Katalog aller Pflanzen an- zufertigen.147 Der Index stiprium diente nicht bloss zum Inventarisieren aller Pflanzen, sondern war wohl auch ein Produkt des Rechtsstreits um die Pflanzen, die Cluyt nach Leiden brachte, wie noch besprochen wird. Zudem sollte er zusammen mit einem Schlüssel des Gartens zukünftig an alle Professoren der Medizin ausgeteilt werden, wohl damit diese alle Pflanzen frei bestimmen und lokalisieren konnten.148 Denn der Index stir- pium ist mehr, als sein Name verspricht. Er listet nicht nur alle Pflanzen- namen auf, sondern verzeichnet ihre Lokalität. Er ist deshalb eine grafi- sche Übertragung des Gartens und somit ein Standortkatalog, der erlaubt, die Bepflanzung detailliert analysieren zu können. Das Manuskript trägt den Titel Index stirpium terræ commissarum sub extremum septembrem anni 1594 in Lugdunensi Academiæ apud Ba- tavos horto. Auf der Titelseite wird eine schematische Grundrisszeich- nung des Gartens gezeigt, in der alle Beete eingezeichnet, beschriftet und durchnummeriert sind (Abb. 5.5). Auf den folgenden Seiten werden die einzelnen Beetstreifen dargestellt und die damals darin wachsenden Pflanzen verzeichnet. Der Katalog beinhaltet die erste und – neben dem Katalog von 1596 – die einzige überlieferte Planzeichnung des Gartens aus dem 16. Jahrhundert. Er ist somit eine wichtige Quelle, um Form und Ge- stalt des frühen Gartens rekonstruieren zu können. Im Folgenden wird die Architektur des Gartens beschrieben und geschichtlich kontextua- lisiert. In einem späteren Abschnitt wird die Ordnung der Pflanzen des Jahres 1594 diskutiert.

Schemazeichnung des Gartens und dessen Architektur Die Skizze ist nicht massstäblich, denn sie beschreibt nahezu ein Quadrat, wohingegen der Garten Dimensionen von ca. 40 Metern auf 35 Metern aufwies. Der Plan ist genordet, was aus den angegebenen vier Himmels- richtungen hervorgeht. Eingeteilt war der zentral gestaltete Garten in vier Hauptteile, Quadra genannt, die jeweils in weitere Beete unterteilt wur- den. Zwischen diesen vier Hauptfeldern lag das grosse Wegkreuz, sozusa- gen die Hauptachsen des Gartens, welches über die breitesten Pfade ver- fügte. Umgeben wurde dieser mehr oder weniger quadratische Hauptteil von einem relativ schmalen Beetstreifen, der sich im Norden und Westen

145 Eine quantitative Entwicklung des Gartens zeigt: Veendorp/Baas Becking 1938, Ta- belle S. 187. 146 Witkam, DZ II, (9. Febr. 1595), No. 318, S. 11. 147 Witkam, DZ II, (10. Febr. 1595), No. 319a, S. 11–12. 148 Witkam, DZ IV, (24. Mai 1595), No. 1275, S. 195–196, hier S. 196.

315 ununterbrochen durchzog, im Süden drei Durchgänge besass und im Osten ganz fehlte. Zwischen den vier Feldern und diesen umrahmenden Beeten führten Wege herum, die in etwa dieselbe Breite besassen wie die Pfade der Hauptachse des Gartens. Die einzelnen Quadrae wurden ihrerseits mittels eines zentralen Wegkreuzes in vier Quadrate unterteilt, welche die einzelnen Beetstreifen beinhalteten. Die Streifen der verschiedenen Felder richteten sich in je- weils eine Himmelsrichtung, wurden somit genau bestimmbar und bilde- ten einen windmühlenartigen Aufbau des Gartens. Innerhalb eines Felds blieben die Streifen jedoch parallel, was wohl zugunsten des Gesamtein- drucks des Gartens geschah und die vier Quadrae besser als Einheit les- bar machte. Die Streifen werden im Index stirpium als Areae bezeichnet. Das erste, dritte und vierte Feld enthielten jeweils 16 Streifen. Vier davon bildeten wiederum kleinere, nahezu quadratische Einheiten. Die zweite Quadra hingegen besass bloss 12 Streifen, von denen jeweils drei zusam- mengefasst wurden, um vier Rechtecke zu formen. Zwischen den Streifen lagen Pfade, die von allen Wegen die schmalsten waren. Die Streifen wurden mittels der erwähnten Schieferplatten in die einzelnen Beete – hier Areolae genannt, später als Pulvillis bezeichnet – unterteilt. Die Streifen des ersten und vierten Quadranten enthielten to- tal 18 Unterteilungen, diejenigen des zweiten jeweils 26 und diejenigen des dritten jeweils 32 Beete. Wie unterhalb der Planzeichnung angegeben wird, macht das für die erste und vierte Quadra 288 Beete, für die zwei- te 312 Beete und für die dritte 512 Beete. Im Jahre 1594 besass der Garten somit 1400 Beete auf und beherbergte knapp über 1000 Pflanzen.149 Die einzelnen Beete wiesen aufgrund ihrer verschiedenen Anzahl von Strei- fen und deren unterschiedlichen Unterteilungen ungleiche Dimensionen auf. Diese Einteilung geschah möglicherweise mit der Absicht, grössere und kleinere Pflanzen aufnehmen zu können. Sie wurde in späteren Jah- ren aber für eine einheitlichere Unterteilung aufgegeben.

Module und Einheit Die Wege des Gartens mit ihrer hierarchisch gestaffelten Grösse, die Dre- hung der Streifen und der modulartige Aufbau des Gartens schufen eine differenzierte architektonische Gestaltung, in der die einzelnen Teile zwar klar ersichtlich blieben, aber in ein übergeordnetes System eingebunden wurden. Denn all die kleineren Quadrate widerspiegeln das gesamte Lay- out des Gartens, so dass der Garten aus vier kleineren Feldern mit jeweils vier gleichförmigen Teilen aufgebaut war. Die einzelnen Areolae lagen in den Areae, die ihrerseits zu Quadrae zusammengefasst wurden, die den

149 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 187.

316 Abb. 5.5 Titelblatt des Index stirpi- ums, des ersten Katalogs des botanischen Gartens. In einer schematischen Plangrafik wird ersicht- lich, wie der Garten gestal- tet und in Beete unterteilt wurde.

(AC1.101, Cluyt, Index stirpi- um, 1594, f. Ar.)

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viergeteilten Hortus bildeten.150 Jedes einzelne Beet – und somit auch jede einzelne Pflanze – gehörte deswegen in ein übergeordnetes Prinzip, das die gesamte Flora umfasste (Abb. 5.6). Dies bedeutete für die Zurschaustellung von Pflanzen, dass aufgrund des modulhaften Aufbaus die Beete nahezu gleichrangig waren. Die ein- zelnen Pflanzen wurden gleichberechtigt in einen grösseren Zusammen- hang eingebunden. Die einzelnen Bestandteile der Pflanzenwelt fanden

150 Die verwendete Nomenklatur folgte den Bezeichnungen, die bereits in der Antike verwendet wurden, siehe: Gothein 1926, Band 1, Anmerkung 18a.

317 3 2

1 Doelen-Achtergracht Rapenburg 1600–1610 1610–1643 1643–1686 1686–1 73 0 1594–1600 4

Nonnensteeg

Abb. 5.6 in einem grösseren System zusammen. Im Gegensatz zum botanischen Der Garten zwischen 1594 Garten in Padua, wo durch die differenzierte geometrische Gestaltung und 1600. 1. Akademiegebäude; 2. eine Pflanze im Mittelpunkt oder am Rand einer Sektion stehen konnte, Buchladen; 3. Wohnhaus waren im Leidener Garten alle Beete rasterförmig und nahezu gleich- Cluyts; 4. Hölzerner Schup- pen. bedeutend. Dennoch wurde das stringente und einheitliche System ge- sprengt: Gruppen von Pflanzen wurden entlang der Wege und über die (Planzeichnung des Autors nach der Zeichung in: Ter- einzelnen Streifen hinweg gesetzt und die Beete, die an das zentrale We- wen-Dionisius 1980, .) genetz angrenzten, erfuhren besondere Beachtung, indem sie besonders rare und schöne Pflanzen aufnahmen.

Drei Akteure und ihre Ordnungen von Pflanzen

Der Index stirpium von 1594 zeigt nicht nur die bauliche Form des Gar- tens, sondern erklärt auch, welche Pflanzen wo wuchsen, was ermöglicht, den Garten und seine Bestückung bis ins Detail rekonstruieren zu kön- nen – analog zu den in Standortkatalog aufgeführten Büchern der Biblio- thek. Auf den meisten Seiten des Katalogs befinden sich, unterhalb der Nennung des passenden Quadranten, jeweils zwei Streifen des Gartens. Römische Ziffern links und rechts zeigen die feinere Unterteilung der Streifen in einzelne Beete und deren Anzahl an (Abb. 5.7/5.8/5.9). Der In- dex stirpium ist also keine blosse Auflistung der Pflanzen, wie sein Name suggeriert, sondern ein Standortkatalog. Drei unterschiedliche Muster der Bepflanzung können im Index stir-

318 pium ausgemacht werden. Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie die Bepflanzung des Gartens zustande kam und welche Personen – Pauw, Clusius und Cluyt – für welche Teile verantwortlich waren. Es wird er- sichtlich, dass alle beteiligten Akteure ihre Pflanzen nach eigenen Ord- nungskriterien in den Garten setzten. Die im Index stirpium verzeich- neten nördlichen Quadranten 1 und 3 enthalten eine deutlich höhere Anzahl an verschiedenen Pflanzensorten als die Südlichen mit den Num- mern 2 und 4. Die südlichen Quadranten hingegen haben eine einfacher nachvollziehbare Ordnung als die Nördlichen. Ferner unterscheiden sich die beiden nördlich gelegenen Quadrae untereinander, nicht bloss in der Ordnung der Bepflanzung, sondern auch in der Form der Notation in- nerhalb des Katalogs. Zudem verweisen die verschiedenen Muster der Bepflanzung auf die Vorbilder früher botanischer Gärten, nämlich Zier- gärten des Adels und Kräutergärten von Apothekern, sowie auf die Suche nach einer räumlichen Klassifikation der Pflanzen.

Quadra tertia und Pieter Pauw Das nordwestlich gelegene Quadrat war das feingliedrigste aller Felder und bestand aus vier mal vier Streifen zu je 32 Einheiten, nahm also 512 einzelne Pflanzenbeete in sich auf. Es beherbergte nicht bloss am meis- ten Pflanzen, sondern auch am meisten verschiedene Sorten. Ebenfalls fand man darin die meisten der Pflanzen, deren Samen Clusius vor seiner Ankunft nach Leiden sandte und welche durch Pauw kurz darauf in den Garten gesät wurden. Vergleicht man die Liste der geschickten und meist aus Kreta stammenden Samen151 mit dem Index stirpium, fallen folgende Dinge auf: Am meisten Pflanzen, die aus dem erwähnten Saatgut gezogen wurden, befanden sich im Norden des Gartens, in erster Linie in der Qua- dra tertia, deutlich weniger häufig in derQuadra prima und nur wenige in der Quadra secunda oder quarta. Die Pflanzennamen des ersten Felds tragen auch häufig die Bezeichnungcret. oder cretica im Index stirpium (Abb. 5.7).152 Bereits die Vielzahl an verschiedenen Sorten macht eine ge- schlossene Systematik aufgrund biologischer oder medizinischer Überle- gungen unwahrscheinlich. Viel eher war es hier die Herkunft der Samen, die entscheidend für ihre Unterbringung in nahezu nur einem Quadrat war. Das Feld lag zudem im Nordwesten und war somit gut besonnen, was ebenfalls einen Grund sein könnte, weshalb dort die südländischen Pflanzen gesetzt wurden.153 Die Pflanzen der Quadra tertia wurden zudem oftmals nach einer

151 Bronnen I, (15. Nov. 1592), No. 214, S. 238*–242*. 152 Quadra tertia weist 86 Einträge mit cre. oder cretica auf, Quadra quarta hingegen bloss 3. 153 Diesen Hinweis verdanke ich Gerda van Uffelen.

319 Abb. 5.7 Quadra tertia / Area duo- decima. Verzeichnet sind mehrheitlich Pflanzen aus Kreta, die in einer alphabe- tischen Reihenfolge in den Garten gepflanzt wurden.

(AC1.101, Cluyt, Index stirpi- um, 1594, f. Lv.)

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Systematik eingepflanzt, die in keinem anderen Quadranten gefunden werden kann: Sie folgten häufig einem alphabetischen Ordnungsprinzip. Die alphabetische Reihe lief dabei jedoch nicht ununterbrochen durch, sondern wiederholte sich mehrmals und wies Lücken auf, wie aus dem Index stirpium ersichtlich wird.154 Dies war möglicherweise das Resultat verschiedener Standortwechsel. So wurde der Garten vermutlich erst im Frühjahr 1593 eingerichtet, ein Teil der Pflanzen aber bereits 1592 gesät. Zudem überwinterten einige der Gewächse im Winter 1593/1594 in der Beginenkirche und wurden im Frühjahr 1594 in den Garten zurückge- bracht. Die alphabetische Reihenfolge ergab sich wohl aus rein praktischen Gründen. Die geschickten Samen müssen beschriftet gewesen sein, um sicherzustellen, dass die einzelnen Sorten bestimmbar blieben. Bezeich- nenderweise ist auch die überlieferte Liste der Samen, welche Clusius seinem Brief beilegte155, in alphabetischer Reihenfolge. Dank dem Index stirpium kann quasi der Weg nachgezeichnet, den Pauw durch den Garten nahm, um die Samen einzupflanzen, nämlich jeweils in Längsrichtung der Streifen. Teilweise umfasst die alphabetische Reihenfolge auch be- nachbarte Streifen. Es war ein pragmatisches Abschreiten der einzelnen Streifen, das zu dieser Ordnung führte und nicht eine angestrebte natur- historische oder pharmazeutische Klassifizierung. Im zweitletzten Strei-

154 Anfangsbuchstaben der Pflanzen nach folgendem Ablauf: A, C, M, N, O, S, T, an- derswo A, C, D, usw. 155 „Seminum fasciculo inclusorum indicem alphabetico ordine descriptum mitto.“ Laut Molhuysen ist diese Liste nicht mehr im Original erhalten, nur in einer Ab- schrift im Dachbouk.

320 fen dieses Felds sind bezeichnenderweise alle Pflanzen mit griechischem Namen eingesetzt worden, da diese wohl aufgrund ihres andersartigen Alphabets am Schluss übrig blieben.156 Im letzten Streifen, wo auch be- züglich der Notation eine Ausnahme – nämlich eine diagonale Beschrif- tung – zum Zuge kam, sind verschiedene Tulpen eingepflanzt worden. Es waren wohl genau jene Blumen, die Clusius an Pauw schickte, da er den Samen ja auch einige Knollen und Zwiebeln beilegte.157 Damals stand die alphabetische Ordnung von Pflanzen bereits in der Kritik, wie noch ausführlich besprochen wird. Hoghelande, der durch das Kuratorium beauftragt wurde, Pauw beim Einsetzen der empfange- nen Samen zu helfen, sprach sich ablehnend gegenüber der gewählten Ordnung aus, was darauf hinweist, dass Pauw seine Ratschläge nicht be- rücksichtigte. Hoghelande berichtete in einem Brief an Clusius über die Baufortschritte des botanischen Gartens und meinte, Pauw hätte nun be- gonnen, einen Teil des Gartens zu bestücken, doch geschehe dies auf eine Weise, „dass ich nicht weiss, ob er es im Ernst oder als Witz tut“.158 Nach- dem Hoghelande auch gegenüber Pauw seine Kritik äusserte, antwortete dieser, dass die anderen Teile des Gartens nach den Vorstellungen Clusi- us’ eingerichtet werden könnten.159

Quadra prima und Carolus Clusius Die Quadra prima – welche gleich neben dem Eingang in den Garten und nahe dem Vorplatz zur Akademie lag – wies eine andere Ordnung der Pflanzen auf, was sich imIndex stirpium ebenfalls typografisch zeigt. Hier kommen gedrehte, übergreifende und manchmal auch diagonale Beschriftungen zum Einsatz (Abb. 5.8). Das Raster der einzelnen Beete wurde hier teilweise missachtet. Die einzelnen Streifen waren mehrheit- lich dicht bepflanzt, nur vereinzelt kamen auch Leerstellen vor. Zunächst zeigt der Index stirpium eine offensichtliche Sortierung der Pflanzen nach ihren Arten, wobei häufig ein ganzer Streifen nur eine Sorte aufnahm. Interessanterweise finden sich zudem auch weitere Be- schriftungen, die auf andere Auswahlkriterien hinweisen. So wurden teilweise jeweils in Längsrichtung verschiedene Pflanzengruppen in die

156 Die Transkription der Samenliste in Bronnen I weist keinerlei griechische Namen auf. Vermutlich fehlen diese bereits in der Transkription ins Dachbouk, der einzigen überlieferten Abschrift der Liste. Die Liste von Clusius ist nicht mehr auffindbar. 157 „[…] iis adieci nonnulla, praesertim bulbacearum et tuberosarum stirpium, quales fere solas in meo hortulo ad animi voluptatem alo.“, in: Bronnen I, (15. Nov. 1592), Bijl. Nr. 213, S. 238*; die Samen der zweiten Lieferung von Clusius an Pauw konnten hingegen nicht im Index stirpium aufgefunden werden. Ob sie nicht spriessten oder den kalten Winter nicht überstanden, kann nicht abschliessend gesagt werden. 158 “sed ut vix sciam serio agat an ludat”, Hunger 1927–1943, Band 1, S. 204. 159 Siehe dazu: Hunger 1927–1943, Band 1, S. 204.

321 Abb. 5.8 Quadra prima / Area prima. Der Streifen versammelte zunächst verschiedene Sor- ten der Pflanze Asphodelus. In Längsgrichtung wie an den Stirnseiten des Strei- fens wurden verschiedene Zierpflanzen in weiderho- lendem Rhythmus gesetzt.

(AC1.101, Cluyt, Index stirpi- um, 1594, f. Bv.)

(Download: Digital Special Collections, Universitätsbi- bliothek Leiden.)

Streifen eingefügt, beispielsweise an deren Rändern oder entlang ihrer Mittelachse. Zudem befanden sich an manchen Stirnseiten der Streifen weitere Pflanzen, die ein zusätzliches Ordnungssystem aufspannen. Sie verbanden verschiedene Streifen in Querrichtung, sprengten die Grenzen der einzelnen Streifen und verknüpften sie an ihren Stirnseiten. Die dort gepflanzten Sorten bildeten teilweise einen Rhythmus wie A–B–C–B–A, doch auch Rhythmen mit kleinerem Intervall lassen sich finden. Die Aus- wahl der Pflanzen schien dabei auch ihre Blütezeiten zu berücksichtigen, um eine möglichst lange Blütenpracht im Garten zu haben. So beispiels- weise im ersten Streifen des ersten Quadrats, wo neben verschiedenen Sorten derselben Gattung (Asphodelus) an den Stirnseiten jeweils eine Anemona, eine Pulsatilla und eine weitere Anemona eingesetzt wurden, welche im März, April und wiederum März blühten. Eine ähnliche Ab- folge finden wir an der entgegengesetzten Kante, wo eine Pulsatilla, eine Anemona, eine Cortusa, und wiederum eine Anemona und eine Pulsatil- la gepflanzt wurde. In Längsrichtung dieses Streifens wurden weitere Be- pflanzungen gesetzt. An den äusseren Rändern befanden sich verschie- dene Sorten der Gattung Radix, in der Mittelachse des Streifens hingegen verschiedene Irides. Der einzelne Streifen wies somit verschiedene Syste- matiken auf. Doch auch übergeordnete Bepflanzungen wurden vorgenommen und einzelne Streifen mittels eingepflanzter Blumen zusammengebun- den. Die nördlichsten Stirnseiten dieses Feldes waren mit verschiedenen Chamaeirides latifolia bestückt, so dass diese Pflanzen ein durchgehen-

322 des Band entlang einer Hauptachse des Gartens bildeten.160 In der Quadra prima kamen also unterschiedliche Ordnungsprin- zipien zum Einsatz. Das strenge Raster der einzelnen Beete wurde auf- gebrochen und Pflanzen in Längsrichtung der einzelnen Streifen oder entlang der Stirnseiten mehrerer Streifen eingesetzt. Die so eingesetzten Pflanzen lösten die einzelnen Streifen aus ihrer Isolation und verband sie untereinander. In diesem Quadranten wurden nicht nur wissenschaft- liche Kriterien berücksichtigt, sondern auch ästhetische. Die veränderte Systematik und Vorgehensweise sowie die resultierende andersartige No- tation im Katalog lassen darauf schliessen, dass für dieses Feld eine ande- re Person verantwortlich zeichnet als für die Quadra tertia, in die Pauw die empfangenen Samen setzte. Vermutlich war es Carolus Clusius, der dieses Viertel gestaltete und mit seinen mitgebrachten Pflanzen und Blumen bestückte. Dass er neben wissenschaftlicher Ordnung auch eine optisch wirkungsvolle Verteilung der Pflanzen einführte, entspricht seiner Biographie und seinen Interes- sen, denn vor seiner Tätigkeit in Leiden war er damit beauftragt, verschie- dene Lustgärten des Adels anzulegen.161 Ästhetische Faktoren waren ihm somit nicht fremd.162 Sie waren ihm sogar ein wichtiges Kriterium seiner Forschung. Clusius’ Beschreibungen von Pflanzen und anderen Naturali- en führen deswegen oftmals Adjektive wie pulcher, elegans oder venustas auf.163 Zudem sammelte er bevorzugterweise exotische und besonders schöne Pflanzen, wie sie auch in dieserQuadrae blühten. Die schöne Anordnung der Pflanzen passte zu seiner wissenschaftlichen Praxis, die primär die Erscheinung der Pflanzen und nicht deren Heilkräfte erforsch- te. Zudem verwies sie auf Lokalitäten, in denen vor der Errichtung bota- nischer Gärten die Pflanzenwelt studiert werden konnte, nämlich in den Ziergärten des Adels. Dass Pflanzen aufgrund ästhetischer Bedingungen geordnet wur- den, war in Ziergärten natürlich geläufig. Und dabei wurden – wie im Leidener Garten – auch ihre Blütezeiten berücksichtigt. So schreibt An- toine-Joseph Dezallier d’Argenville (1680–1765), man solle die nur kurz blühenden Zwiebelgewächse mit anderen Blumen kombinieren, um eine möglichst lange Periode mit Blüten zu erzielen. Zudem spricht er sich für die symmetrische Anordnung von Pflanzen aus, was die Schön- heit der Rabatten mitpräge, eine ebenfalls geläufige Auffassung der Zeit.

160 Dieses System, mittels derselben Bepflanzung der Schmalstreifen entlang des Geh- wegs eine einheitliche Bepflanzung zu erzielen, wird auch unter der Präfektur von Pieter Pauw (ab 1600) zum Einsatz kommen. Unter ihm wurden die Tulpen so auf der Hauptachse durch den Garten bewusst in Szene gesetzt. 161 Gelder 2011. 162 Zu diesem Zusammenspiel von Wissenschaft und Kunst, siehe: Hopper 1991. 163 Jong 2000, S. 140.

323 Und auch eine rhythmisch wechselnde Anordnung, wie sie in Leiden ge- funden werden konnte, war ein häufiges Gestaltungsprinzip in Zier- und Lustgärten. In Gärten fand man Bepflanzungsmuster, die einen abhängig von den Blütezeiten der Pflanzen geregelten Rhythmus aufweisen.164 Gut möglich, dass Clusius mit solchen Gestaltungsmustern während seiner Arbeit an Ziergärten seiner adligen Auftraggeber in Berührung kam. In Leiden verfolgte er offensichtlich solche ästhetische Interessen, weswe- gen sie in dieser Quadra zum Einsatz kamen.

Quadra quarta et secunda und Dirk Cluyt Die beiden südlich gelegenen Quadrate präsentierten sich wiederum anders. Sie waren sehr viel aufgeräumter und einfacher gestaltet als die beiden nördlichen. Leere Beete sind in den entsprechenden Seiten des Index stirpiums relativ häufig zu finden, so dass dieser Teil des Gartens nicht besonders dicht bepflanzt war Abb.( 5.9). Mehrheitlich wurden Ge- wächse derselben Sorte in die Streifen gesetzt, wobei verschiedene Gat- tungen im selben Streifen meist durch Leerräume voneinander getrennt und kenntlich gemacht wurden. Platznöte scheinen hier keine vorhanden gewesen zu sein. Eine Ausnahme von diesem stringenten System fand man in den Streifen 6 und 12. Dort werden im Index stirpium die Pflanzensorten nicht tabellarisch, sondern diagonal und über Kreuz gestellt angegeben, wie auch anderswo im Katalog. In Area 12 fand man verschiedene Sorten Iri- des, in Streifen 6 neben diesen auch solche mit Namen Iris. Cluyt besass solche exotischen Zierpflanzen mit knollenartigen Wurzeln.165 Ob die Pflanzen tatsächlich kreuzförmig gepflanzt wurden, oder ob eine prag- matische Notationsform gewählt wurde, um aufzuzeigen, dass alle Pul- villis dieselbe Sorte beheimaten, kann zwar nicht mit Sicherheit gesagt werden, letzteres ist aber anzunehmen. Da Cluyt als letzter in Leiden ein- traf und seine Pflanzen einsetzte, kann davon ausgegangen werden, dass diese beiden Quadrae vor allem seine Pflanzen beherbergten und nach seinen Ordnungskriterien gestaltet wurden. Die einfache und pragmati- sche Anordnung nur weniger und vor allem heimischer Pflanzen würde der Ordnung eines Apothekergartens entsprechen.

Fazit der Ordnungen von 1594 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Garten im ersten Jahr seiner vollständigen Bestückung nicht eine einzige durchgehende Syste- matik aufwies, sondern dass die verschiedenen Quadrate unterschiedli-

164 Hansmann 2009, S. 281–283. 165 Egmond 1998, S. 55.

324 Abb. 5.9 Quadra quarta / Area nona. Die Pflanzen werden ihren Gattungen nach zusam- mengenommen und mit- tels Leerstellen voneinan- der getrennt. Der Streifen war zunächst nur wenig dicht befplanzt.

(AC1.101, Cluyt, Index stirpi- um, 1594, f. Or.)

(Download: Digital Special Collections, Universitätsbi- bliothek Leiden.) che Ordnungen der Pflanzen zeigten, was ein direktes Resultat der an der Errichtung und Bestückung des Gartens beteiligten Personen war. Der Anfang machte Pieter Pauw in der nordwestlichen Ecke. Er griff dabei – vermutlich aus Mangel an Kenntnissen zur Pflanzenwelt – auf die alpha- betische Ordnung zurück, was zu Kritik führte. Clusius kam erst im Herbst 1593 in Leiden an, konnte also erst im Frühjahr 1594 vollumfänglich mit dem Einsetzen von Pflanzen beginnen, was aus den Bauabrechnungen hervorgeht. Er folgte dabei neben wissenschaftlichen auch ästhetischen Prinzipien, die er in den Lustgärten des Adels kennengelernt hatte. Für die dritte und letzte Person, Dirk Cluyt, liessen die beiden zwei ganze Quadrate übrig. In ihnen fand seine mitgeführte Pflanzensammlung ge- nügend Platz und er ordnete sie ihren Arten entsprechend ein. Der botanische Garten war deshalb nicht bloss ein Garten zur Er- forschung der Pflanzenwelt, oder ein Garten, der Medizinalkräuer be- reithielt, sondern auch ein Lust- und Ziergarten. Der Begleittext zum Kupferstich erklärt dies entsprechend: „Aldah viel seltzame frembde Art- zneykreuter / pflantzen und blumen / von mancherley art und farben / gefunden werden“, der Garten sei deshalb „der Universitet ein grosz or- nament und zierd“.

Der Katalog von 1596 Obwohl das Kuratorium wünschte, jedes Jahr über ein aktuelles Inven- tar des Gartens zu verfügen, sind nur zwei Kataloge aus der Feder Cluyts überliefert. Der zweite Katalog trägt den Titel Hortus medicus Vniversita- tis Batavo-Lugdunensis und macht den Garten somit als Medizingarten kenntlich.166 Zusammen mit diesem Katalog wird auch eine Aufzählung von 519 Pflanzen verwahrt, die Clusius aus Italien erhielt und durch Cluyt im Juli 1596 in den Garten gesät wurden,167 was wiederum aufzeigt, dass

166 Hortus medicus Vniversitatis Batavo-Lugdunensis, 1596, aufbewahrt in: AC1.225. 167 Cluyt, Semina ex Italiâ, a hijsqe locis mihi tertio July delata, et quædam à Dn. Carolo Clusio tertio Juny tradita mihi anno 1596, aufbewahrt in: AC1.225.

325 Abb. 5.10 Eine Seite des zweiten Ka- talogs von 1596. Die Beete werden grafisch verzeich- net, aber die genaue Anga- be der einzelnen Pflanzen und Beete wird zugunsten einer einfachen Zusam- menfassung aufgegeben.

(Dirk Outgaertsz. Cluyt, Hortus medicus Vniver- sitatis Batavo-Lugdunen- sis, 1596. Aufbewahrt in AC1.225.)

(Fotografie des Autors.)

Clusius seine Kontakte spielen liess, um an Pflanzen zu kommen und Cluyt für die tägliche Arbeit im Garten zuständig war. Auch in diesem Ka- talog folgt dem Titel eine schematische Grundrisszeichnung des Gartens, welche denselben Aufbau zeigt wie der Index stirpium. Der dargestellte Garten ist nicht mehr quadratisch, weswegen die Planzeichnung massst- absgetreu angefertigt worden zu sein scheint. Der Zeichnung folgen wiederum Listen der Pflanzen und ihrer Standorte, doch machte es sich Cluyt hier leichter, verzeichnet er doch nur mehr die einzelnen Streifen, nicht mehr aber die einzelnen Beete (Abb. 5.10). Das Inventar ist deswegen deutlich weniger detailliert. Die Pflanzennamen – wohl nur noch der wichtigsten Vertreter – wurden in einfache Rechtecke geschrieben, die den Beetstreifen entsprachen und

326 ebenfalls massstäblich gezeichnet wurden. Das erste Rechteck weist da- bei eine feinere Untergliederung auf, um die Einteilung der Streifen noch- mals zu verdeutlichen. Zudem wird in der Kopfzeile die jeweilige Qua- dra genannt, die dank der Angabe einer Himmelsrichtung einfach und leicht bestimmbar wird. Im Anschluss an diesen Standortkatalog folgt ein alphabetischer Index aller damals im Garten wachsenden Pflanzen. Sie weist 964 Einträge auf. Die Einteilung entspricht frühen Bibliothekskatalogen, die oftmals neben einem Standortverzeichnis auch eine alphabetische Liste, meist nach Autorennamen, aufwiesen. Sollte ein Buch oder eine Pflanze aufge- funden werden, orientierte man sich am Standortverzeichnis, wollte man hingegen bloss wissen, ob eine Pflanze überhaupt vorhanden war, konnte dies einfacher anhand der alphabetischen Liste erfolgen. Da das Verzeichnis nicht allzu detailliert ist, erlaubt es nur bedingt die Analyse der einzelnen Streifen. Es scheint jedoch, dass die Ordnung, welche 1594 etabliert wurde, auch 1596 noch die Grundlage der Verteilung der Pflanzen ausmachte. Erst nach Cluyts Tod und der Übernahme der Präfektur durch Pieter Pauw, der den Garten neu gestaltete, wurde auch die Ordnung der Pflanzen neu formiert, die explizit der Erforschung der Materia medica und der Pflanzenwelt dienlich sein sollte. Eine detaillierte Analyse einzelner Streifen und ihrer Ordnungskriterien wird dies zeigen.

Die alphabetische und andere Ordnungen von Pflanzen

Ob es sinnvoll ist, das Reich der Pflanzen nach dem Alphabet zu ordnen, wurde bereits in der frühen Neuzeit diskutiert – und meist verneint. Wie die Klassifikation des überlieferten Wissens nicht nur in realen Bibliothe- ken, sondern auch in papierenen Bücherverzeichnissen gelöst werden musste, stellte sich das Problem der Ordnung der Pflanzenwelt sowohl in Gärten wie auch in Traktaten. Da nur wenig über die tatsächliche Ord- nung der Pflanzen innerhalb von Gärten überliefert ist, soll der Blick zu- nächst auf wissenschaftliche Kräuterbücher gelenkt werden.168 Im Mittelalter wurden Pflanzenbücher noch primär nach dem Al- phabet gegliedert.169 Auch für Leonhart Fuchs (1501–1566) war die Ein- teilung der Pflanzenwelt nach dem Alphabet noch ausreichend.170 Diese Ordnung war in der frühen Neuzeit also durchaus bekannt und wurde in Pflanzenbüchern teilweise noch angewendet. Sie war aber eine Erfindung des Mittelalters, denn die antiken Autoren gliederten die Pflanzen anders.

168 Grundlegend zum Thema: Arber 1970. 169 Arber 1970, S. 166. 170 Swan 2002, hier S. 110; Ogilvie 2006, S. 223.

327 Dioskurides teilte die Kräuter nach ihren Heilkräften ein,171 Theophras- tus hingegen setzte auf die Einteilung in Bäume, Sträucher, Stauden und Kräuter, ordnete die Pflanzenwelt also nach morphologischen Kriterien, in erster Linie nach ihrer Grösse.172 Die empirisch nachvollziehbaren Kriterien wurden in der frühen Neuzeit immer wichtiger, um die Pflanzen in eine Ordnung zu überfüh- ren. Hieronymus Bock (1498–1554) erklärt deshalb:

„Ich habe alle Pflanzen nicht nur eindeutig bestimmbar gemacht, sondern auch all jene zusammengenommen, welche verwandt und zusammengehörig sind, oder die sich anderweitig ähneln oder ver- gleichbar sind, und dabei habe ich die frühere alte Regel aufgege- ben, sie nach dem ABC zu ordnen, wie man es in alten Kräuterbü- chern sehen kann. Denn die Ordnung von Pflanzen nach dem ABC verursacht viel Missverhältnisse und Irrtum.“173

Und auch Andrea Cesalpino (1519–1603), der Direktor des botanischen Gartens in Pisa, setzte sich für eine an der Morphologie der Pflanzen aus- gerichtete Ordnung ein. Er erkannte und beschrieb in seinem Werk De plantis libri XVI von 1583, dass viele neue Pflanzen im Lauf seiner Zeit ent- deckt wurden und dass diese in eine Ordnung überführt werden mussten. Er erklärte, die Wissenschaft bestünde daraus, zu sammeln was gleich sei und zu erkennen, was anders sei. Eine alphabetische Ordnung mache es schwieriger, sich die Pflanzen merken zu können, da sie ihre natürlichen Erscheinungen unterlaufe.174 Hieronymus Bock äusserte ferner im Vor- wort seiner Publikation De stirpium commentaria von 1552:

„Ich wollte nicht der alphabetischen Ordnung folgen, wie es die al- ten Pflanzenforscher taten. Meiner Ansicht nach ist diese Methode sehr ungünstig, denn wer sie in seinen Werken anwendet, muss ge- zwungenermassen hier ein Kraut, dort einen Baum, und da einen Strauch unterbringen, in einem grossen Durcheinander der Sachen. Aber wie können Pflanzen, die scheinbar eine Verwandtschaft mitei- nander haben, erkannt werden, wenn sie in einer solchen Ordnung beschrieben werden?“175

171 Ogilvie 2006, S. 213. 172 Ogilvie 2006, S. 215–216. 173 Nach der englischen Übersetzung in: Arber 1970, S. 166. 174 Ogilvie 2006, S. 223. 175 Nach der englischen Übersetzung in: Ogilvie 2006, S. 215; zu Bocks Klassifikation, siehe: Ogilvie 2006, S. 215–216.

328 Die Morphologie der Pflanzen war also zunehmend entscheidend für die Klassifikation der Pflanzenwelt. Die Kriterien der äusseren Gestalt von Pflanzen führten dazu, dass die Pflanzen selbst zu einem Forschungsge- genstand wurden und das Fachgebiet der Botanik entstand.

Die alphabetische Ordnung in botanischen Gärten Trotz aller Kritik an der alphabetischen Ordnung – auch von Präfekten universitärer Gärten – fand man sie in botanischen Gärten der frühen Neuzeit, beispielsweise in Leiden, wo sie wohl eher aus einer Unwissen- heit entstand, wie auch im botanische Garten zu Montpellier, wo sie hin- gegen bewusst eingesetzt wurde, um alle in der Medizin gebräuchlichen Pflanzen zu ordnen. Denn die Heilpflanzen waren vor allem aufgrund ihrer Heilkräfte von Interesse und nicht aufgrund ihres Wuchses oder ihrer Ausbildung verschiedener Pflanzenteile. Sie dienten zunächst als Grundlage der Pharmazieund wurden noch nicht um ihrer selbst willen untersucht. Eine alphabetische Ordnung von Heilpflanzen hatte den Vor- teil, dass eine bekannte Pflanze mit bekannten Kräften einfach und leicht gefunden werden konnte – analog zu einem Buch innerhalb einer Biblio- thek also, dass ebenfalls bereits bekannt war und so schnell und einfach wie möglich aufgespürt werden sollte. Auch in Montpellier blieb die Kritik nicht aus. Guy de la Brosse (ca. 1586–1641) erklärte: „cette maniere de planter les simples par l’ordre de leur alphabet, comme si toutes demandoient une pareille culture: il y a plus d’ostentation en cette façon que de raison & de bienseance“.176 Er wünschte sich also eine Ordnung nach den verschiedenen Kultivierungs- ansprüchen der Pflanzen und somit eine aufgrund ihrer natürlichen Habitate. Die Kritik war jedoch unangebracht, da diese Ordnung in den anderen Teilen des botanischen Gartens in Montpellier zur Anwendung kam.177 In Leiden verschwand später die alphabetische Ordnung aus dem Garten.

Gute Nachbarschaft der Pflanzen Wie im Falle der Bücher einer Bibliothek konnte die Pflanzenwelt neben ihren Namen auch nach inneren und äusseren Kriterien geordnet wer- den. Die alphabetische Ordnung von Büchern erfuhr weniger Kritik, als diejenige der Pflanzenwelt in den Kräuterbüchern oder den botanischen Gärten. Die Bücher selbst waren bereits eine abgeschlossene Einheit des Wissens. Der Versuch, das Reich der Pflanzen in seiner Gesamtheit zu entdecken und zu klassifizieren, setzte hingegen andere Ansprüche. Die

176 Brosse 1636, S. 18; zudem: Meier Reeds 1991, S. 218–219 und Anmerkung 154. 177 Siehe dazu: Meier Reeds 1991, S. 87–88, Zitat auf S. 87.

329 Pflanzen mussten miteinander verglichen und deshalb zwangsläufig in eine sinnvolle Ordnung übertragen werden. Die Bücher einer Bibliothek wurden erst in eine alphabetische Ord- nung übertragen, nachdem die Bücher mittels einer anderen Systema- tik in eine übergeordnete Klasse überführt wurden. Die übergeordnete Klassen gewährleisteten somit „die gute Nachbarschaft der Bücher“, die untere Reihenfolge ein einfaches Auffinden des gewünschten Werks. Wie gezeigt wurde, war es in Kettenbibliotheken entscheidend, dass die Bü- cher nach logischen und nachvollziehbaren Kriterien eingereiht wurden. Sobald sich der Katalog zwischen Leser und Regal schob, war diese Ord- nung der Bücher nicht mehr das ausschlaggebende Kriterium, weil der Leser nun frei auf dem zentralen Lesetisch eine ephemere Ordnung nach seinen Wünschen ausbreiten konnte. Bei Pflanzen, die sowieso einen fes- ten, ja angewurzelten Platz aufwiesen, war es umso entscheidender, sie so zu ordnen, dass ihre Beziehung zu ähnlichen Pflanzen gewährleistet war, denn sie konnten nicht leicht in einen neuen Kontext überführt werden. Im Gegensatz zu den Büchern der Bibliothek waren aber viele Pflanzen in mehr als einem Exemplar vorhanden, weswegen sie in verschiedene Zusammenhänge gestellt werden konnten. Auch innerhalb des Gartens konnte deswegen von „einer guten Nachbarschaft“ profitiert werden, die wie in der Bibliothek zu einem wissenschaftlichen Mehrwert führt, der mehr ist als die Summe der einzelnen Teile.

Ästhetik und Wissenschaft Aus heutiger Sicht mag es erstaunlich sein, dass Pflanzen aufgrund ihrer Schönheit in einem solchen Garten angeordnet wurden, denn es handel- te sich bei botanischen Gärten in erster Linie um Räume des Wissens und nicht um Ziergärten. Doch entspricht unser heutiges Verständnis nicht demjenigen der Naturforscher der frühen Neuzeit.178 Im 15. Jahrhundert kam es zu einem Wandel innerhalb der Wissenschaft. Nicht mehr das aristotelische Vorgehen und Interesse an übergeordneten Kräften oder Eigenschaften war entscheidend, sondern das Wissen über das Partikulä- re. Das Interesse am Partikulären war auch im Fachbereich der Anatomie vorhanden. Ein früher Kritiker erklärte, die Anatomie vermittle nur par- tikuläres Wissen, verliere aber die universellen Gesamtzusammenhänge aus den Augen, welche die Philosophen durch rationale Kontemplation erreicht hätten. Erkenntnisse durch Empirie wurden auch innerhalb der Anatomie zunehmend als wichtiger erachtet, als überliefertes oder ratio- nal gewonnenes Wissen über die Welt.179

178 Folgendes nach: Ogilvie 2006, S. 105–114 und S. 270–271. 179 Bylebyl 1979, S. 364–365.

330 Damit verbunden war der der gestiegene Stellenwert der Erfahrung. Die Pflanzen wurden deshalb aufgrund wahrgenommenen Phänomenen klassifiziert und in die Streifen des Gartens verteilt: Pflanzen, die gut oder schlecht rochen, die bitter schmeckten, aber auch solche, die schön aus- sahen. Das Wissen über die Objekte verstärkte den Naturgenuss. Es kam zu einer „union of aesthetic responses to nature with proper appreciati- on of natural history“.180 Leonhart Fuchs schreibt in seiner Publikation De historia stirpium von 1542 von der Freude und der Entzückung, welche die Kenntnisse über Pflanzen mit sich führe und meint zudem, im Lernen läge ebenso viel Genuss und Vergnügen wie im Sehen.181 Cluyt erklärte bereits im Sommer 1595, dass 50 Medizinalkräuter „waer van de meesten deel inde medicinen werden gebruykt, welke (om plaets inden Universiteyts Cruythoff te winnen) niet geplant ofte gerekent werden, maer werden voor oncruyt wt gewiedet“.182 Die Aufgabe dieser Medizinalpflanzen und deren Bezeichnung als Unkraut zeigt deutlich, dass der Leidener Garten nicht nur zur Aufgabe hatte, Medizinalkräuter zu beherbergen, sondern vermehrt dazu diente, exotische Gewächse zu versammeln. Der Aspekt der Schönheit und der Repräsentation war so- mit mindestens so wichtig, wie die Materia medica bereitzustellen. Im Leidener Garten wurde auch dezidiert auf ästhetischen Genuss gesetzt, was nicht im Widerspruch zur Wissenschaft stand, sondern sie sogar unterstützte. Denn die sinnlichen Betrachtung der Pflanzenwelt zeigte sich nicht nur in den wissenschaftlichen Beschreibungen von Clusius und anderen Naturhistorikern, wo häufig Adjektive wiepulcher , elegans oder venustas auftreten,183 sondern auch in der Gestaltung des Gartens. Der Leidener war somit ein Garten der Medizin und Botanik, zu- gleich aber auch ein Zier- und Lustgarten.

Eine Vielzahl an möglichen Kriterien Doch neben äusseren Kriterien konnte die Welt der Pflanzen auch anders klassifiziert werden. So beispielsweise imCruydt-Boeck von Rembertus Dodonaeus (1516/17–1585), in dem die Pflanzen nach einer Vielzahl von Kriterien eingeteilt sind. Der Autor verwendet zudem die alphabetische Ordnung, aber nur für jene Pflanzen, die sich anderweitig einer sinnvol- len Klassifizierung entzogen. Diese Pflanzen wurden in den Büchern 2 bis 5 primär nach dem Alphabet geordnet.184 Doch welche Kriterien fand er

180 Ogilvie 2006, S. 112. 181 Ogilvie 2006, S. 113. 182 AC1.41, (6. Juli 1595), Nr. 86; zudem: Witkam, DZ II, Anmerkungen auf S. 13. 183 Jong 2000, S. 140. 184 Er erklärte in der Einleitung zum zweiten Buch: „Maer gemerct dat die veerdeelin- gen niet wel nae onsen sin lucken ofte vallen en wouden / soo is het ons nootsa- kelijcken geweest sommige Gewassen buyten alle orden ofte schickinge in de vier

331 für die restlichen Gewächse? Die einzelnen Kapitel und Unterteilungen in seinem Kräuterbuch zeugen von der Suche nach einer wissenschaftli- chen Ordnung der Pflanzen. Dienten sie im Mittelalter noch als Grund- lage von pharmazeutischen Präparaten, so wurde im Zuge der frühen Neuzeit ihre Morphologie ein immer wichtigeres Merkmal ihrer Klassifi- kation. Doch fand dieser Wandel nur langsam statt, denn Pflanzen dien- ten nach wie vor als Grundlage für zahlreiche Produkte. Zudem konnten empirisch wahrnehmbare Merkmale entscheidend für eine Klassifikati- on sein. Dodonaeus organisiert deswegen in seinem Buch die Welt der Pflanzen aufgrund verschiedenster Klassifikationen, beispielsweise nach ihrer Morphologie, ihren Heilkräften oder ihrer Toxizität, aber auch nach ihrem Geruch und Geschmack oder nach ihren Verwendungsmöglich- keiten in der Küche. Im Leidener Garten war diese Vielzahl an möglichen Ordnungen ebenfalls aufzufinden, wie noch detailliert gezeigt wird.

Vorbilder der Gartenarchitektur

Der Leidener Garten folgte einem Gestaltungstyp, der schon Jahrhunder- te vorher zur Anwendung kam. Sein modularer Aufbau bestehend aus vier Teilen war keine Besonderheit, sondern die übliche Form von Gärten der frühen Neuzeit. Die Gestaltung des Gartens hatte auch eine symboli- sche Bedeutung. Derjenige in Leiden stand zudem zwischen mittelalter- licher Tradition und frühneuzeitlicher Gartenkunst.

Mittelalterliche Gärten Die Gestaltung des Leidener Gartens steht in der mittelalterlichen Tra- dition. Bereits auf dem St. Galler-Klosterplan (um 820) sind alle grund- legenden Elemente vorhanden wie in Leiden, wenn auch noch nicht in kombinierter Form.185 So verfügt der Plan über insgesamt vier Gärten, nämlich einen in der Mitte des Kreuzgangs, einen Heilkräutergarten, einen Gemüsegarten sowie einen Baum- und Obstgarten, der zugleich Friedhof war. Für unseren Sachverhalt ist neben dem Heilkräutergarten

nae-volgende boecken te beschrijven; ende dat alleen nae het vervolg van den Abc. Want gelickerwijs de Letteren beginselen zijn ende de nootsakelijcke middelen van alle beschrijvinge: Soo is het oock wel behoorlijck dat de gewassen wiens naemen van de eerste letteren beginnen / voor de andere beschreven worden. Het welcke nochtans soo van ons gedaen is / dat wij de gene die malcanderen van geslachte oft gedaente meest gelijckende zijn / niet en hebben verscheydelijck willen beschrij- ven: gemerct dat het reden is datmen de gemeenschap van wesen en de gelijcke- nisse der gedaenten meer achte dan het vervolg van de letteren“, Dodonaeus 1608, Einleitung Buch 2, S. 27. 185 Zum Klosterplan siehe: Gothein 1926, Band 1, S. 182–186; Hennebo 1962, S. 28–36; für mittelalterliche Klostergärten zudem: Meyvaert 1986.

332 vor allem der Garten innerhalb des Kreuzgangs von belang. Einer der auf dem Plan eingezeichneten Gärten ist von Arkaden um- schlossen und somit als Garten des Kreuzgangs erkenntlich.186 Überdach- te Wandelhallen in nächster Nachbarschaft zu Gärten waren bereits bei antiken Villen ein geläufiges Motiv und bilden wohl die Grundlage für die späteren Kreuzgänge.187 Überdachte und offene Hallen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Gärten werden auch ausserhalb klösterlicher Anlagen bis in die frühe Neuzeit errichtet – so auch in Leiden. Vier grössere Bögen gewährleisten den Zutritt vom Kreuzgang zu den Achsen des Gartens. Die Wege führen in die Mitte des Kreuzganges und teilen ihn in vier gleichgrosse Quadrate. Die Mitte des Gartens wird durch eine quadratische und von Wegen umrahmten Fläche ausgezeichnet. Im St. Galler-Klosterplan ist im Mittelpunkt des Gartens ein abstrahierter Baum eingezeichnet. Oftmals befand sich dort aber zur Auszeichnung des Zentrums eine Brunnenanlage, wie sie auch in Gärten der Renaissan- ce und des Barock das Zentrum von Gartenparterres schmückten. Die Be- pflanzung der umgebenden Flächen ist nicht erläutert. Dieter Hennebo vermutet, dass sie mit Efeu oder Gras ausgelegt waren.188 Diese Flächen wurden anderswo wohl mit Blumenbeeten oder Bäumen bestückt. Wo nur wenig Raum zur Verfügung stand, konnten sie auch als Nutzgarten dienen.189 Es ist fragwürdig, ob diese quadratische und viergeteilte Gartenge- staltung eine Erfindung des Mittelalters war, oder ob sie bereits in der Antike zur Anwendung kam. Denn die frühesten Klosteranlagen bildeten sich um antike Peristyle aus, was eine Übernahme vormittelalterlicher Gestaltungselemente wahrscheinlich macht. Die einfache Einteilung ei- nes quadratischen Gartens mittels eines zentralen Wegkreuzes wird auf alle Fälle die bevorzugte Grundform späterer geometrisch gestalteter Ziergärten und verliert erst mit dem Einzug des Landschaftsgartens an Bedeutung.190

Der mittelalterliche Medizinalgarten Neben der Versorgung der Bewohner durch die Erträge aus einem Gemü- se- und Obstgarten hatten die Klostergärten zur Aufgabe, Medizinalkräu- ter bereitzuhalten.191 Sie können deshalb als Vorläufer späterer universi- tärer Gärten verstanden werden. Die Klöster blieben bis zur Etablierung

186 Folgendes nach: Hennebo 1962, S. 31–33. 187 Hennebo 1962, S. 31. 188 Hennebo 1962, S. 31. 189 Hennebo 1962, S. 21–32; Gothein 1926, Band 1, S. 182. 190 Hennebo 1962, S. 32; Gothein 1926, Band 1, S. 179. 191 Zu den verschiedenen Verwendungsformen von Pflanzen im Mittelater siehe: Stan- nard 1986.

333 von Universitäten der wichtigste Hort medizinischen Wissens.192 Durch die Benediktiner wurde das Anpflanzen von nicht heimischen Kräutern angeregt.193 Die Kräuter dienten in erster Linie als Grundlage für Medika- mente, nicht aber für naturhistorische Studien. Das mittelalterliche Wis- sen über die Heilkräfte der Pflanzen stammte von antiken Autoren und wurde in geringem Masse durch Volkswissen erweitert. Noch immer bil- deten die 350 Pflanzen, welche in der römischen Antike beschrieben wur- den, die Grundlage für das Wissen im 12. Jahrhundert. In einem mittelal- terlichen Garten wuchsen höchsten 300 verschiedene Pflanzensorten.194 Auch auf dem St. Galler-Klosterplan findet man einen Medizingar- ten, der in der Nähe von Spital und Arzthaus liegt und als Herbularius bezeichnet wird.195 Es handelt sich dabei um eine kleine, im Grundriss rechteckige Anlage, die aus zwei mal vier Beetstreifen besteht, die durch weitere Rabatten umrahmt werden. Die Gestaltung ähnelt deshalb dem Leidener Garten. Diese Anlagen folgten laut Marie Luise Gothein viel- leicht römischer Tradition, doch sieht sie in den einfachen Beeten auch die gleichbleibenden praktischen Bedürfnisse des Unterhalts der Pflan- zen,196 weswegen sie noch zur Anwendung kamen. Der Kräutergarten präsentiert sich auf dem Plan als abgeschlossene Anlage. Doch war in der frühen Phase mittelalterlicher Klosteranlagen mit dem Bau einer Mauer nicht die symbolische Bedeutung des Hortus conclusus intendiert. Denn auch die frühen Klostergärten wurden Opfer von Diebstählen und muss- ten geschützt werden.197 Die im Kräutergarten wachsenden Pflanzen wurden im St. Galler-Klosterplan genau benannt.198 Es ist ein scheinbares Durcheinander von Blumen und Kräutern, viele davon stark riechend. Laut Hennebo spiegelt dies „die Verwobenheit medizinisch-naturwissen- schaftlicher, kultisch-magischer und ästhetischer Vorstellungen“ wider.199 Noch im botanischen Garten in Leiden kam es zu diesem Nebeneinander von Heil- und Zierpflanzen. Der St. Galler-Klosterplan zeigt in diesen beiden besprochenen Gär- ten bereits die Grundlagen des Leidener Gartens auf: eine quadratische Grundfläche, die mittels eines Wegkreuzes in vier gleiche Einheiten un- terteilt wird sowie einfache Beetstreifen, die auf pragmatische Art und Weise gepflegt werden konnten. Hennebo sieht eine Entwicklungslinie,

192 Meyvaert 1986, S. 39. 193 Hennebo 1962, S. 26. 194 Stannard 1986, S. 71–74 und S. 80. 195 Zum Heilkräutergarten, siehe: Gothein 1926, Band 1, S. 183; Hennebo 1962, S. 33– 35. 196 Gothein 1926, Band 1, S. 183. 197 Meyvaert 1986, S. 26 und 48. 198 Eine Auflistung aller Kräuter in: Hennebo 1962, S. 33. 199 Hennebo 1962, S. 33.

334 die von den frühklösterlichen Heilkräutergärten, über die Wurzgärten des hohen und späten Mittelalters zu den abgeschlossenen Ziergärten der frühen Neuzeit führt, die allesamt solch einfache Beetstrukturen aufwie- sen. Zudem beschreibt er, dass der Kreuzgangarten mit seiner Einteilung in vier gleiche Rechtecke eine ebenso entscheidende Rolle spielte.200

Viergeteilte Gärten und Parterres der Renaissance In der Renaissance kam es zu einer Weiterentwicklung der mittelalterli- chen Gartenanlagen. Die Beete wurden nun freier und ornamentaler ge- staltet. In Serlios Traktat finden sich bereits vielfältig gestaltete Pflanzen- parterres, wie sie auch der botanische Garten in Padua besass (Abb. 5.2). Der Wunsch nach einer weitreichenden Gestaltung führte im Barock zur Sprengung des Gartens in die Landschaft hinein. Die Parterres werden nun deutlich aufwändiger gestaltet und verschiedenste Spielarten bilde- ten sich heraus, beispielsweise das Broderie- sowie das Knotenparterre, ferner das Parterre de pièces coupées oder das Jahreszeiten-Parterre. Die einfach gestalteten Parterres, die in Leiden zur Anwendung kamen, wer- den als Parterre en bande bezeichnet.201 Trotz dieser Entwicklung hin zu immer komplexeren und geomet- risch ausformulierten Pflanzenparterres waren die Vierteilung und die einfachen Beetstreifen des Mittelalters auch im 16. und 17. Jahrhundert noch keineswegs veraltet. So verfügte beispielsweise die Gartenanlage der Villa d’Este im 16. Jahrhundert über einen Bereich, der analog zum Leidener Garten gegliedert war.202 Vier Rasterfelder wurden zu einer Ein- heit zusammengefasst und homogen gestaltet. Die Beete der einzelnen Quadrate wurden auch hier windmühlenartig gedreht. Die Hauptachsen, welche mittig durch die vier Teile führen, wurden durch Lauben über- dacht. Die vier Kompartimente erfuhren ihrerseits eine Vierteilung durch kleinere Pfade, deren Kreuzungspunkte mit kleinen Pavillons ausgezeich- net wurden. Auch der Leidener Garten verfügte ab 1600 über einen mittig angelegten Pavillon, Torbauten sowie über eine angrenzende Wandelhal- le. Im Jahre 1644 wurde dieser Teil der Anlage durch John Evelyn als „gar- den of simples“, also Heilkräutergarten, beschrieben. Auch nördlich der Alpen konnten solche quadratisch eingeteilte Gärten gefunden werden. Eine nahezu identisch ausgebildete Gartenan- lage wie die besprochene in Italien wird in einer Publikation von Joseph Furttenbach beschrieben.203 Seine „Paradeiß-Gärtlin“ genannte Anlage zeigt noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine nahezu gleiche

200 Hennebo 1962, S. 33–34. 201 Zu den einzelnen Parterreformen, siehe: Hansmann 2009, S. 13–22. 202 Zur Villa d’Este, siehe: Gothein 1926, Band 1, S. 268–276. 203 Gothein 1926, Band 2, S. 102–103.

335 Anlage. Ein anderes Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum, das über diese Grundrissdisposition zumindest in einem Bereich der Gartenanla- ge verfügte, war der Heidelberger Herrengarten, an den Clusius Samen schickte.204 Auch in Frankreich gab es verschiedene Gartenanlagen, die quadratische, durch ein Wegenetz viergeteilte Kompartimente mit ge- drehten Beetstreifen aufweisen. Darstellungen davon finden sich in den Stichen Du Cerceaus zu den Schlossanlagen in Dampierre, Gaillon und sogar in den Schlossanlagen in Fontainebleau oder den Tuillerien kann dieselbe Grundrissfigur gefunden werden. Auch in den Niederlanden fand man solche Gärten, die durch ein zentrales Achsenkreuz in vier qua- dratische Kompartimente geteilt wurden. Beredtes Zeugnis davon geben die Entwürfe von Hans Vredeman de Vries.205

Aspekt der Praxis Der Leidener Garten war in erster Linie ein Garten, der praktische Be- dürfnisse erfüllen musste. Die Pflanzen wollten nämlich gepflegt wer- den, die Studenten sollten freien Blick auf sie haben und sie möglichst aus der Nähe betrachten können. Einfache, rechteckige Beete waren da- für sinnvoll, weswegen Gemüse- und Küchengärten – selbst derjenige in Versailles – meist über solch einfache rechteckige Beetstreifen verfügten, wie sie bereits im St. Galler-Klosterplan eingezeichnet sind. Zu ihrer Form schrieb Johann Georg Krünitz noch 1779, sie „sei nicht so künstlich / wie im Blumengarten / sondern geschiehet schlechter dinge in länglichte Betten / viel oder weniger nach des Raums Gelegenheit und Grösse“.206 Zudem sagt er, sie sollen nicht zu breit sein, damit sie von beiden Seiten her bequem bestellt werden können. Ferner, dass der mittlere Kreuzgang so breit sein soll, dass man bequem spazieren könne, die Wege zwischen den Beeten „bleiben schmall / wie bräuchlich / fast auff anderthalb Fus“.207 Ein viergeteilter Grundriss mit unterschiedlich grossen Pfaden und einfa- chen rechteckigen Beeten, die zueinander gedreht stehen konnten, war im 17. Jahrhundert und auch danach ein häufiges Modell zum Anlegen eines Küchengartens.208 Die Drehung der verschiedenen Streifen war die einfachste Möglichkeit, die einzelnen Viertel bei gleichbleibend prakti- scher Gestaltung zu definieren und den Gesamteindruck zu verschönern.

204 Siehe: Hansmann 2009, S. 156 und Abb. 244. 205 Siehe dazu seine eigenen Publikationen und Zeichnungen, beispielsweise: Vries 1980; zudem: Fuhring/Luijten 1997; Fuhring 2011. 206 Zitiert nach: Hansmann 2009, S. 309. 207 Zitiert nach: Hansmann 2009, S. 309. 208 Siehe dazu: Hansmann 2009, S. 304–313.

336 Symbolische Deutungen des Gartens

Der Leidener Garten konnte durch seine Gestaltung, seine Funktion und durch die Vielzahl an Pflanzen, die in ihm wuchsen, auch symbolisch in- terpretiert werden. Dabei überlagerten sich verschiedene Deutungen. Die ersten Akademien der Antike entstanden in Gärten, die als Sitz der Musen verstanden wurden und deshalb philosophischer und wissenschaftlicher Praxis einen angemessenen Rahmen gab. Der Garten von Lipsius zeugte von diesen antiken Ideen. Neben der antiken Tradition lassen sich aber auch christliche und zeitgenössische Ideen finden, allen voran der Garten Eden und der Hortus conclusus.

Der Garten Eden Der botanische Garten in Leiden schuf durch seine Gestaltung und Be- stückung einen engen Bezug zum biblischen Garten Eden.209 Die vierge- teilte Gartenanlage wurde als Abbild des Garten Edens verstanden. Doch auch hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit und der Funktion des Gartens konnten botanische Gärten mit dem Garten Eden in Beziehung gebracht werden. Bereits die Betrachtung des Buch der Natur verwies auf den Schöpfer der Welt.210 Im Mittelalter kam es zur grundsätzlichen Frage, ob die Geschich- te des Garten Edens allegorisch oder faktisch verstanden werden müs- se.211 Diejenigen, die letzterer Argumentation folgten, gaben dem Para- dies zunächst einen Ort ausserhalb der Erreichbarkeit der Menschheit. Im Zuge der Handelsreisen und der Entdeckung neuer Kontinente wur- de die Frage laut, ob auch der Garten Eden aufgefunden werden könne, was trotz Suche jedoch nicht eintraf. Eine Erklärung dazu lieferte Martin Luther, der in Einklang mit der biblischen Erzählung und der Entdeckung der Welt erklärte, der Garten Eden sei durch die Sintflut zerstört worden, könne also, obwohl er real existierte, nicht mehr gefunden werden.212 Jo- hannes Calvin, der ebenfalls glaubte, dass das irdische Paradies durch die Sünde aus der Welt verschwand, lokalisierte es in der Region Mesopota- miens, sagte aber nichts genaueres über den exakten Ort aus. Er lieferte damit den Grundstein für weitere Lokalisierungsversuche, die im 16. und 17. Jahrhundert stattfanden. Auch in den Niederlanden wurde der Ort des Paradieses diskutiert. Petrus Plancius lokalisierte Eden in derselben Ge- gend wie Calvin. Ein Leidener Professor für Theologie, Franciscus Junius d.Ä. (1545–1602), tat dies ebenfalls, und Jodocus Hondius übernahm Ju-

209 Comito 1979, S. 32–45. 210 Jorink 2010. 211 Scavi 2006, S. 36–41. 212 Scavi 2006, S. 266–270.

337 nius Argumentation für seinen Atlas. Zur Lage des Paradies wurde auch Joseph Justus Scaliger befragt.213 Die wohl berühmteste Rekonstruktion des Garten Edens lieferte der Jesuit Athanasius Kircher (1601–1680) in seiner Publikation Arca Noë von 1675. Er übernahm die Thesen Luthers und Calvins und lokalisierte das Paradies in Mesopotamien. In einem Kupferstich zeigt Kircher seine Vor- stellung des Garten Edens (siehe Abb. 5.10). In dessen Mitte entspringen die vier Flüsse, die jeweils in eine der vier Himmelsrichtungen verlaufen. Das Paradies selbst ist ein durch eine Mauer umfriedeter quadratischer Garten, der genau in den Himmelsachsen liegt. An den vier Pforten ste- hen vier Engel, die mit flammenden Schwertern den Zutritt in das Pa- radies schützen, wo verschiedene Pflanzen wachsen. In der Mitte steht Adam und Eva vor dem Baum der Erkenntnis, gerade im Begriff, dessen Frucht zu essen. Kircher folgte bei seiner Rekonstruktion des Garten Edens der Gar- tenarchitektur seiner Zeit, die sich das Paradies als Hortus conclusus vorstellte. Die vier Hauptachsen durch den Garten, wie sie auch in Lei- den vorhanden waren, verwiesen formal auf die vier Flüsse des Garten Edens.214 Entsprechend befand sich häufig in der Mitte solcher Gärten ein Brunnen. Die Bibelexegese verwendete somit die Gartenarchitektur der Zeit, um den Garten Eden zu rekonstruieren, was danach aber wieder zurückfloss, weshalb die Anlage des viergeteilten Gartens als Abbild des verlorenen Paradies verstanden wurde.215

Pflanzen sammeln und benennen Doch nicht nur formal glich der Hortus botanicus dem biblischen Para- dies, sondern auch aufgrund seines Inhalts. Denn in ihm lebten laut der Exegese alle Pflanzen und Tiere der Welt. Im Zuge der Entdeckungsrei- sen, auf denen auch immer mehr unbekannte Tiere gefunden wurden, realisierte man, dass die göttliche Schöpfung auf die ganze Welt verteilt war, während Adam und Eva sie im Garten Eden noch als Einheit zusam- mengefasst gesehen hatten. Falls der Garten Eden also nicht auf Erden gefunden werden konnte, so durfte der Versuch angestellt werden, ihn zu rekonstruieren. Falls alle Pflanzen der Welt an einem Ort versammelt und eine Enzyklopädie der göttlichen Schöpfung erstellt würde, entspräche dies dem verlorenen Paradies, so das Verständnis der Zeit.216 Nachdem Gott alle Pflanzen und Tiere geschaffen hatte, wollte er sehen, „wie er [Adam] sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes

213 Jorink 2010, S. 297. 214 Comito 1979, S. 34. 215 Siehe dazu auch: Comito 1979, S. 25–50. 216 Prest 1988, S. 38–56.

338 lebendige Wesen benannte, so sollte es heissen.“217 Adam verfügte näm- Abb. 5.10 Athanaius Kirchers Re- lich über das göttliche Wissen, das ihn befähigte, alle Tiere und Pflan- konstruktion der Lokalität zen zu erkennen und sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Dieses und Architektur des Garten Wissen, das Adam mit aus dem Paradies nahm, ging jedoch im Laufe der Edens (Ausschnitt). Geschichte jedoch verloren. Die Suche nach dem ursprünglichen Wis- (Athanasius Kircher, Arca sen verfolgte auch der Anatom Otto Heurnius, der in der Sammlung des Noë, Amstedam (apud Joa- nnem Janssonium à Waes- anatomischen Theaters nicht nur ägyptische Hieroglyphen verwahrte, die berge) 1675, zwischen S. 196 möglicherweise die Prisca scientia beinhalteten, sondern auch den Kup- und 197.) ferstich des Turmbaus zu Babel, durch den dieses Wissen verloren ging. (Download: http://hough- Die frühen Naturhistoriker hatten im Gegensatz zu Adam einige Pro- tonlib.tumblr.com/ post/62807233751/athanasi- bleme bei der Benennung vor allem neuentdeckter Pflanzen und Tiere. us-kircher-topographia-pa- Da bislang unbekannte Pflanzen häufig nahezu gleichzeitig von verschie- radisi-map-of) denen Forschern benannt wurden, war unklar, welche Pflanze welchen Namen trug und welche Namen welche Pflanze bezeichnete. Caspar Bau- hin verfasste deshalb 1623 seine Pinax theatri botanici genannte Publika- tion, die dieses Problem zu lösen versuchte.218 Ferner heisst es in der Genesis, „Gott, der Herr, nahm also den Men-

217 1. Mose 2. 218 Generell zum Thema: Pavord 2005.

339 Abb. 5.11 Frontispiz der Publikation Rariorum plantarum his- toria von Carolus Clusius. Neben Adam und Salomon sind auch die anitken Na- turforscher Theophrastus und Dioskurides darge- stellt.

(Carolus Clusius, Rariorum plantarum historia, Ant- werpen (ex. off. Plantinia- na, apud Ioannem More- tum) 1601, Frontispiz.)

(Download: http://www. botanicus.org/title/ b12075048)

schen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und h ü t e .“ 219 Adam wurde somit als erster Gärtner verstanden, wobei die an- strengende und überlebensnotwendige Arbeit erst nach der Vertreibung aus dem Paradies kam. Clusius zeigt ihn denn auch auf einem Titelblatt, neben den antiken Autoritäten Theophrastus und Dioskurides und König Salomon, von dem angenommen wurde, dass auch er über göttliches Wis-

219 1. Mose 2.

340 sen verfügte (Abb. 5.11).220 Clusius folgte selbst in der Bildmotivik einem Gemeinplatz der Zeit, denn ein nahezu identisches Titelblatt mit Adam und Salomon verwendete auch John Parkinson (1567–1650) für sein ge- drucktes Theatrum botanicum.221 Und auch Hermannus verwies auf das Paradies, in dem er im Vorwort seines Katalogs von 1687 erklärte: „Non Hortorum, sed cultissimum Paradisum quispiam dixerit, in quo, quicquid eximii habet vel hic vel alter orbis uno quasi intuitu contemplari licet.“222 Zudem trug ein Katalog des botanischen Gartens in Leiden, der nach Hermannus’ Tod herausgegeben wurde, den Titel Paradisus batavus, be- zeichnete also den botanischen Garten als das holländische Paradies.223

Der Sündenfall und die Endlichkeit des Lebens Frühe botanische Gärten hatte jedoch nicht bloss zur Aufgabe, möglichst alle Pflanzen der Erde an einem Ort zu versammeln, sondern dienten pri- mär als Medizingarten. Sie stellten den Menschen somit Heilmittel zur Verfügung.224 Krankheiten wurden – wie der Tod – als eine Folge des Sün- denfalls von Adam und Eva verstanden.225 Botanische Gärten konnten aufgrund ihrer Heilpflanzen zwar gegen Krankheit vorgehen, doch konn- te die Erbsünde und die daraus folgende Endlichkeit des Lebens nicht un- geschehen gemacht werden. Nicht zuletzt verwiesen die Pflanzen auf die Vergänglichkeit allen Lebens. Die Endlichkeit allen irdischen Lebens hatte ein anderer Raum der Universität zu seinem Thema erklärt, nämlich das anatomische Theater, das gewissermassen als Antithese zum paradiesischen Garten ausgestal- tet wurde. Denn sobald der Winter einbrach und im Garten die Pflanzen – resp. Heilmittel – verwelkten, verlagerte sich der empirische Medizin- unterricht in das anatomische Theater, wo dezidiert die menschliche Vergänglichkeit durch die dort verwahrten Exponate den Besuchern vor Augen geführt wurde, unter anderem in Form zweier Skelette, die Adam und Eva repräsentierten.

Die Hollandse Maagd in ihrem Garten Der Garten diente über alle bisherigen Deutungsfacetten hinaus als Sym- bol für die politische Gegenwart. Denn während der Kriege der nördlichen Niederlande gegen die spanischen Habsburger kam in den 1570er-Jahren ein Bildmotiv auf, das für Jahrzehnte in immer neuen Stichen gedruckt

220 Clusius 1601; Prest 1988, S. 54. 221 Prest 1988, abgebildet auf S. 60. 222 Hermannus 1687, f. *5r. 223 Hermannus 1698. 224 Prest 1998, S. 57–65. 225 Grundlegend zum Thema: Crowther 2010.

341 wurde. Zunächst versinnbildlichte es die unabhängige Provinz Holland und später stand es für die ganze Republik. Es stellte einen umfriedeten Garten dar, in dem die Hollandse Maagd sass und dessen Tor durch den Löwen der Holländer beschützt wurde (Abb. 5.12).226 Die Personifikation der Provinz wird auf dem Kupferstich von Wil- lem Pietersz. Buytewech (ca. 1592–1624) von 1615 von Vertretern aller Stän- de flankiert. Sie alle werden vor einer aufwändigen Architektur gezeigt, die mit den Wappen der sieben Provinzen geschmückt ist. Zudem ist auf ihr die Inschrift „emanuel“, Gott mit uns, angebracht. Die geometrisch angeordneten Beetstreifen werden bestellt und tragen die Früchte des Friedens. Laut Christiane Lauterbach deutet die geometrische Ordnung des Gartens auf die politische Ordnung der Provinz hin. In der Mitte des Gartens sehen wir eine Pyramide der Privilegien, vor der ein Orangen- baum wächst und auf das Haus der Oranier verweist. Orangen wurden zudem als Früchte der Hesperiden interpretiert, die Herkules dank seiner Weisheit und Stärke erbeuten konnte, weswegen sie nicht nur in den Nie- derlanden ein beliebtes Herrschaftssymbol waren. Vor der Umzäunung werden die feindlichen Mächte gezeigt. Die nur scheinbar Frieden brin- gende Dame wird nicht nur durch einen Leoparden begleitet, der auf die spanische Monarchie verweist, sondern auch durch bewaffnetes Militär. Die Aussage des Motivs liegt nahe: Die Republik ist dank ihrer Frei- heit, politischer Ordnung und des rechten Glaubens ein aufblühender Garten, der jedoch vor den Gefahren des Umlandes geschützt werden muss. Wie Thomas Maissen aufzeigte, kam es zu eine Neubesetzung des Hortus conclusus, denn das Motiv ist eine Abwandlung der Jungfrau Maria im Paradiesgarten, wie es im Mittelalter definiert wurde. Die Keuschheit und Unversehrtheit Mariens wurde in die politische Souveränität und In- tegrität der erwachenden Republik umgedeutet.227 Das Motiv konnte man auch in den Räumen der Leidener Univer- sität finden. Auf dem Kupferstich von 1610 sehen wir es treffenderweise in der Fechtschule angebracht, wo es zentral die Szene überschaut (Abb. 3.2), denn die dort stattfindende Ausbildung hatte zur Aufgabe, die Pro- vinz und den Staatenbund zu schützen. Auch innerhalb der Bibliothek, respektive in einigen ihrer Bücher, konnte es ausfindig gemacht werden. Christoph Plantin, der zeitweilige Drucker der Universität, der nicht zu- letzt aufgrund der politischen Situation seine Heimatstadt Antwerpen verlassen musste und in Leiden Zuflucht fand, verwendete es nämlich für seine Leidener Publikationen als Druckersignet. Auf diesem sitzt die Magd der Stadt Leiden in einem umzäunten Garten, der nicht mehr

226 Folgendes nach: Lauterbach 2004, S. 29–32. 227 Maissen 2006.

342 durch einen Löwen, sondern durch Plantins Druckermarke, einem Zirkel Abb. 5.12 Die Hollandse Maagd in 228 mit der Devise „Labore et Constantia“, geschützt wird. ihrem umfriedeten Gar- Nicht zuletzt konnte auch der botanische Garten in Leiden – dank ei- ten, der vor den feindlichen Kräften des Auslands ge- ner Mauer eingefriedet und reichhaltig mit wertvollen Pflanzen bestückt schützt werden musste. – als gebautes Symbol des nationalen Friedens verstanden werden. Pauw erklärt analog zur Bildmotivik der Zeit, die Besucher des Gartens müssen (Kupferstich von Willem Pietersz. Buytewech, 1615) staunen, dass die Akademie einen solchen Garten errichten konnte, ob- wohl die Nation einen tödlichen Krieg führe.229 (Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- Im Verlaufe der 17. Jahrhunderts und dank des raschen wirtschaft- mer RP-P-1887-A-11985) lichen Aufschwungs aufgrund der weltweiten Handelsbeziehungen än- derte sich jedoch das Bild der Republik. In einer späteren Bildmotivik

228 Zu den verwendeten Druckermaken, siehe: Breugelmans 1975; Lauterbach 2004, S. 283, Abb. 16. 229 „habent hospites, & exteri quod admirentur, dum paucis annis, Patria etiam funes- to bello ardente, tantu incrementi Academiam cepisse animaduertent, & armatam Palladem Academiæ pro insigni & sigillo non sine omine datam, laudabunt. habent ciues & indigenæ, cur vobis se obstrictos & deuinctos fateantur, quorum singulari industria, indefesso studio Vrbis Ledensis, & Batauici nominis splendor omnibus gentibus lucet.“ Pauw 1601, f. 5r–5v.

343 sind die Provinzen und ihre Städte nicht mehr ein abgeschiedener Ort, sondern gewissermassen das Zentrum der Welt. Dargestellt wurden nun Personifikationen der Republik oder von Teilen davon, denen aus allen Herren Ländern in einer Geste der Unterwerfung Güter gebracht werden. Auf dem Titelblatt des Gartenkatalogs von 1687 wird Pallas Athena in ih- rem Garten sitzend dargestellt, vor der Pflanzen aus allen vier Kontinen- ten niedergelegt werden (Abb. 5.30). Der botanische Garten eignete sich daher für eine Vielzahl an möglichen Interpretationen. Seine Gestaltung und Funktion wiesen nicht nur auf unterschiedliche literarische, bibli- sche und antike Topoi, sondern auch auf die zeitgenössische politische Situation.

Schutz vor der kalten Jahreszeit

Die Sterblichkeit der Pflanzen stellte ganz konkrete Anforderungen an ihre Kultivierung. Sie mussten ständig gehegt, gepflegt und vor den Un- bilden der Natur geschützt werden. In den Berufungsdokumenten zur Präfektur des Gartens wünschte das Kuratorium noch ausdrücklich, dass all jene Pflanzen nach Leiden überführt werden sollten, die das dortige Klima vertragen.230 Im Sommer 1594 wuchsen dort jedoch bereits viele exotische Pflanzen, beispielsweise jene, die aus den kretischen Samen gezogen wurden. Die Zurschaustellung südländischer Gewächse brachte aber ein praktisches Problem mit sich, dessen sich die Kuratoren bereits zur Zeit der Berufung bewusst waren: Sie vertrugen die nordeuropäi- schen Winter nicht. Die fremdländischen Pflanzen mussten deshalb an einem möglichst warmen und geschützten Ort durch die kalte Jahreszeit gebracht werden.

Überwintern in Kirche Im Winter der Jahre 1592 und 1593 wurden einige Pflanzen des Leidener Gartens mit Stroh überdeckt,231 wobei es sich dabei aber um keine allzu anfälligen Gewächse gehandelt haben dürfte. Besonders empfindliche Pflanzen verbrachten ihren ersten Winter, denjenigen von 1593/1594, in der Beginenkirche, die in diesen Jahren umgebaut wurde, um die Biblio- thek und das anatomische Theater zu beherbergen. Vielleicht standen sie in der zukünftigen Fechtschule und somit im Erdgeschoss unterhalb der

230 Berufung Cluyt in: Bronnen I, (2. Mai 1594), No. 264, S. 294*–296*, hier S. 295*: „[…] dezes landts zonne, licht ende aerde connen lijden, verdragen ende toelaten; […]“; Berufung Paludanus in Bronnen I, (12. Aug. 1591), No. 163, S. 180*–181*, nahezu gleicher Wortlaut auf S. 180*. 231 Witkam, DZ IV, (10. Juli 1593), No. 4125, S. 70.

344 Bibliothek, da dort nur wenige Bauarbeiten ausgeführt werden mussten, oder Pieter Pauw brachte sie in das entstehende anatomische Theater, das als sein zweiter Arbeitsort eingerichtet wurde. Im Oktober 1593 wur- den verschiedene Töpfe232 für jene Pflanzen gekauft, die den Winter über versetzt werden mussten. Resistentere Sorten überwinterten im Garten und wurden wiederum mit Stroh bedeckt. Arbeiter überführten die emp- findlichen Gewächse mithilfe eines Boots in die Beginenkirche.233 Im Ap- ril wurden die Pflanzen in ihren Behältern aus der Beginenkirche in den Garten zurückgebracht und durch Aert den Gärtner eingepflanzt.234 Das Überwintern der Pflanzen in der ehemaligen Kirche war eine pragmati- sche Lösung des Problems, aber aufgrund der Entfernung zwischen Gar- ten und Kirche arbeitsintensiv. In Anbetracht der steten Vermehrung der Anzahl fremdländischer Pflanzen wäre dieser Aufwand schon bald darauf kaum mehr zu bewältigen gewesen. Zudem stand der Kirchenbau in den kommenden Jahren nicht mehr zur Verfügung, weil die Bibliothek und das anatomische Theater bereits 1595 eröffnet wurden. Es musste deswe- gen eine andere Lösung gefunden werden.

Erste beheizbare Wintergärten Die Sammelleidenschaft früher Naturhistoriker führte schon bald zur Weiterentwicklung eines passenden Bautyps, nämlich das mittels Öfen beheizbare Gewächshaus.235 Denn mit dem Sammeln exotischer Ge- wächse entstand unweigerlich auch die Notwendigkeit, ihnen einen si- cheren Platz zum Überwintern zu bieten. Der Bautypus des Gewächshauses war jedoch keine neue Erfindung. Bereits die antiken Autoren Martial und Seneca beschrieben Treib- und Winterhäuser, doch fanden die von ihnen geschilderten Bauten erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder in Büchern Erwähnung.236 Mit der zu Beginn der frühen Neuzeit aufblühenden Sammelleidenschaft verschiedener Pflanzenliebhaber wurden solche Bauten erneut eine Not- wendigkeit, vor allem nördlich der Alpen. In den Werken der erwähnten antiken Autoritäten fanden sie die Lösung des Problems. Da sie nur im Winter benötigt wurden, waren sie zuerst meist temporäre Bauten, die im Frühjahr wieder abgebaut wurden – vergleichbar also mit den ersten ana- tomischen Theatern. Doch brachten solche ephemeren Konstruktionen entscheidende Probleme mit sich. Ihre jährliche Errichtung war teuer

232 „potten“ und „testen“. 233 Witkam, DZ I, (4. Febr. 1594), No. 1056, S. 27–28, hier S. 27. 234 Witkam, DZ I, (April 1594), No. 1072, S. 28–29, hier S. 28. 235 Noch immer grundlegend dazu: Tschira 1939. 236 Tschira 1939, S. 10; Ob Albertus Magnus ebenfalls über ein solches beheizbares Winterhaus verfügte, ist in der Forschung strittig, siehe dazu: Hennebo 1962, S. 49.

345 und mühsam, die Bauweise oftmals undicht und zugig, die Öfen scha- deten den ihnen nahegelegenen Pflanzen und die Gärtner waren unzu- frieden mit dem Wachstum von Pflanzen in Töpfen. Hinzu kam noch „die künstlerische Bedeutungslosigkeit [der] Schuppen.“237 Schon bald wichen sie deshalb festen und aufwändig gestalteten Bauten. Die frühneuzeitlichen Naturforscher informierten sich untereinan- der nicht bloss über Pflanzen oder tauschten Samen aus, sondern be- richteten auch über die notwendigen baulichen Anlagen. Beispielsweise beschrieb Theodorus Eccombertus seinem Basler Lehrer Theodor Zwin- ger (1533–1588) nicht nur die Pflanzen im Garten des berühmten Joachim Camerarius (1534–1598), sondern auch die Hypokaustanlage, die er zur Überwinterung seiner Pflanzen in Nürnberg gebaut hatte.238 Camerarius war besonders stolz, dass bei ihm dank des Gewächshauses die Pflanze Dictamnum wuchs, die aus Kreta stammte und die "für uns im Sommer viele Blüten trägt, wenn sie im Winter sorgfältig geschützt wird".239 Den ersten Pflanzenforschern war dieser Bautypus also eine durch- aus bekannte Notwendigkeit, weswegen angenommen werden darf, dass auch Paludanus und Cluyt über solche Einrichtungen verfügten. Lipsius liess Zuchtkästen in seinem Leidener Garten bauen.240 In Leiden kann- te man sie somit bereits vor der Errichtung des Gartens der Universität. Auch Clusius wusste von solche Bauten. Er selbst plante und nutzte Oran- gerien und Gewächshäuser bereits vor seiner Leidener Zeit, als er noch hauptsächlich für die Aristokratie tätig war, denn auch beim Adel stos- sen südländische Pflanzen auf grosses Interesse.241 Bereits Ferdinand I. (1503–1564) besass Zitronen-, Feigen und Orangenbäume, welche in einer Orangerie innerhalb seines Lustschlosses Belvedere in Prag wuchsen.242 Sein Sohn Maximilian II. (1527–1576), für den Clusius in Wien einen Me- dizingarten einrichtete, kultivierte um 1566 Orangenbäume im Wiener Burggarten, die den Winter in demontierbaren, hölzernen und mit Öfen versehenen Schuppen verbrachten.243 Auch in der Anlage des Neugebäu- des bei Wien griff man auf ephemere Schuppen zurück, um fremdländi- sche Pflanzen sicher zu überwintern.244 Clusius kannte diese beheizbaren

237 Tschira 1939, S. 18. 238 Meier Reeds 1991, S. 107 und dazugehöriger Endnote No. 50, S. 229. 239 Zitiert nach der Übersetzung ins Englische in: Ogilvie 2006, S. 158. 240 Lauterbach 2004, S. 75. 241 Zu seiner Zeit an verschiedenen Adels- und Kaiserhöfen, siehe: Gelder 2011; zu Orangerien des Adels, siehe: Nationalkomitee der Bundesrepublik Deutschland 2007. 242 Gelder 2011, S. 55. 243 Gelder 2011, S. 57; ein Kupferstich von 1620 zeigt eine solche demontierbare Oran- gerie: Gelder 2011, S. 186; in gleicher Publikation auch Beispiele anderer Höfe und Orangerien, die Clusius kannte. 244 Gelder 2011, S. 61.

346 Gewächshäuser so gut, dass Wilhelm IV. von Hessen-Kassel ihn um Rat fragte, als er eine solche Anlage errichten wollte.245

Der hölzerne Schuppen in Leiden Die erste Erwähnung eines solchen Gewächshauses in den Akten des Kuratoriums findet sich hinter einer Lohnabrechung vom 10. Septem- ber 1593, wo erklärt wird, man wünsche betreffend „vordernisse van den Hoff der Medicynen die met een muyr moet werden affgescheyden ende gemaeckt met een Gallerye om by Winterteijden de kruyden daer in te brengen“.246 Doch scheint der Beschluss nicht in die Tat umgesetzt oder ein nur temporärer Bau erstellt worden zu sein, denn im folgenden und bereits fortgeschrittenen Winter, nämlich bereits im Dezember, beschloss das Kuratorium, dass Cluyt für all jene Pflanzen, die „dieses Landes Kälte nicht vertragen“, eine „Galerie oder Baracke“ errichten sollte, die mittels eines Ofens beheizt werden sollte.247 Die Baracke wurde vermutlich an der Südseite des Gartens errichtet und wies drei Eingänge auf, die in der sche- matischen Grundrisszeichnung des Index stirpium eingezeichnet sind. Der Beschluss des Kuratoriums und die Errichtung der hölzernen Galerie erfolgten wohl zu spät. Denn am 6. Juli 1595 überprüfte das Ku- ratorium den Garten und sah anhand des Index stirpium, dass einige der dort aufgeführten Pflanzen fehlten. Cluyt erklärte, es handle sich vor allem um jene Pflanzen, die „von den Kretischen und anderen auslän- dischen Samen gesät wurden“ und den strengen Winters nicht überlebt hätten.248 Zudem wären einige einjährige Pflanzen nicht gänzlich zur Rei- fe gelangt, so dass von ihnen kein neues Saatgut gezogen werden konnte. In den Akten findet sich eine Liste der 182 verlorenen Pflanzen, gefolgt jedoch durch eine zweite mit 217 Einträgen, die anzeigt, welche Pflanzen Cluyt neuerdings an deren Stelle gesetzt hat.249 Die hölzerne Baracke wurde somit erst im Dezember 1594 errichtet, als es schon zu spät war. Sie hatte wohl – aufgrund der Notlage und der schnellen Bauzeit – eine eher behelfsmässige als solide Konstruktions- weise. Aus einer überlieferten Abrechnung geht hervor, was für den Bau der Baracke alles benötigt wurde: 12 Sparren („caravens“), 4 „gesaechde

245 Gelder 2011, S. 253. 246 AC1.19, (10. Sept. 1593), f. 274v–275v, hier 275v. 247 Witkam, DZ II, (12. Dezember 1594), No. 4280, S. 9–10, hier S. 10: „[…] een galerije of loodse zal bestellen, om bij wintertijden zodanige simplicia als deses lants coude niet en verdragen, daer inne te bergen ende mit behulp van een stove of andersins groeysam te houden; […]“ 248 Im 16. Jahrhundert kam es zur sogenannten „Kleinen Eiszeit“, die härtere Winter als üblich mit sich brachte; siehe: Vries/Woude 1997, S. 21–23. 249 AC1.41, (6. Juli 1595), No. 86; zudem: Witkam DZ II, Anmerkungen zu No. 319, S. 12–13.

347 delen“, 12 „delen“ und anderes wurden verzimmert. Zudem kaufte Cluyt einen eisernen Ofen sowie 44 Tonnen Torf, um diesen damit zu beheizen. Kerzen wurden gekauft, um die Pflanzen auch nach Einbruch der Dun- kelheit besichtigen und pflegen zu können. Zudem erwarb er zahlreiche Töpfe sowie verschiedene Gartenwerkzeuge wie Schubkarren, Giesskan- nen, Klauen und Pumpen. Insgesamt kosteten diese Anschaffungen bloss 126 Gulden, 13 Stuyvers und 2 Penningen, was anzeigt, dass die Baracke äusserst günstig errichtet wurde und im Gegensatz zur künftigen und sehr kostspieligen steinernen Galerie des Gartens sicherlich kein Prunk- bau war.250 Im Frühling 1595 mussten die Gewächse wieder aus der Baracke he- raus in den Garten gebracht werden. Um die Pflanzen im Frühjahr leicht im Garten ein- und bei Winteranbruch einfach in Töpfe umpflanzen zu können, wurden sie in Gewebe oder Netze gepflanzt, wie aus einer Ab- rechnung vom 24. Mai 1595 hervorgeht. Neben vielerlei zusätzlichen Din- ge werden darin auch „100 cleyne rijsen, tot affteyckeninge“ – also Zwei- ge oder kleine Hölzchen für das Kennzeichnen der Pflanzen – genannt, um die Pflanzen mit Namensschildern zu versehen.251 Diese Praxis wurde auch in späteren Jahrzehnten noch immer durchgeführt, wie aus Regle- menten des botanischen Gartens der Jahre 1686 und 1692 hervorgeht.252 Die Hitze des Sommers stellte die Gärtner ebenso vor Probleme wie die Kälte des Winters. Im August 1595 erklärte Cluyt, dass das Her- anbringen von Wasser aus der Doelengracht sehr ungelegen sei. Zwecks Bewässerung der trockenen Beete sollte deswegen ein Brunnen oder eine Pumpe253 gebaut werden. Zudem wünschte er, dass die Beete rundum mit hartem Klinker umgeben werden sollten.254 Auch im nächsten Winter der Jahre 1595 und 1596 war das Gewächs- haus in Betrieb. Es finden sich keinerlei Hinweise, dass es zwischenzeit- lich ab- und wieder aufgebaut wurde, weshalb angenommen werden darf, dass es auch im Sommer stehen blieb. Cluyt kaufte 50 Tonnen Torf sowie – entsprechend den 12 Bauelementen der Galerie – zwölf lange Be- hälter. Die Wannen wurden gebraucht, um darin Pflanzen transportabel unterbringen zu können. Denn sie sollten bei schönem Wetter ins Freie getragen werden. Im Winter sollte der Ofen mit Wasser übergossen wer- den, um der Trockenheit vorzubeugen, was ein generelles Problem sol- cher Gewächshäuser darstellte. Gleichzeitig war jedoch die relativ hohe

250 Witkam, (15. Febr. 1595), DZ II, No. 347, S. 30–31. 251 Witkam, DZ II, (24. Mai 1595), No. 348, S. 31–32, hier S. 31. 252 Bronnen IV, (9. Febr. 1686), S. 15*–16*; Bronnen IV, (18. Juni 1692), S. 28*–32*. 253 „put ofte Pomp“ 254 Witkam DZ II, (9. Aug. 1595), No. 5024, S. 13–14; siehe dazu auch: AC1.20, (Sommer 1595), 6v–7r; AC1.20, (3. Nov. 1595), 18v–19r.

348 Luftfeuchtigkeit in solchen Galerien ein weiteres Dilemma, da dieses zur Bildung von Kondenswasser und Schimmel führen konnte.255 Am 8. November 1595 erhielt Cluyt für die anfallenden Kosten 25 Gulden und 11 Stuyvers, was anzeigt, dass er sich dieses Jahr rechtzeitig für den kom- menden Winter mit Materialien eindeckte.256 Eine Abrechnung vom Februar 1596 listet weitere Kosten für War- tung und Renovation der Baracke auf. So erwarb Cluyt unter anderem zwölf Körbe, die mit Stroh bekleidet wurden, um die darin wachsenden Pflanzen gegen Frost zu schützen. Zudem wurden drei Fenster mit Papier ausgekleidet, auf dass sie besser isolierten. Im vorherigen Winter setzte man zu diesem Zweck noch Leintücher ein, eine damals scheinbar üb- liche Methode, 257 doch liessen diese nur wenig Licht durch. Auch wur- den die Fenster und Türen, welche nur schlecht schlossen, mittels Kanten ausgebessert. Denn Zugluft war ein weiteres Problem solcher Gewächs- häuser.258 Und für das morgendliche und abendliche Einheizen der Öfen wurden wiederum Kerzen gekauft.259 Um einen einfacheren Zugang zum Garten zu haben und um die Pflanzen stets inspizieren und pflegen zu können, fragte Cluyt das Kuratorium um den Einbau eines Portals zwi- schen dem Garten und seinem Wohnhaus.260 Die Nähe des Wohnhauses des Präfekten und des Gartens war ein entscheidendes Kriterium für den steten Unterhalt des Gartens. Die notwendigen Umbauten des Winters 1596 zeigen bereits an, dass die Baracke wohl eher behelfsmässig errichtet worden war und verschie- dene Mängel aufwies. Es erstaunt daher nicht, dass nur wenige Jahre spä- ter, unter der Präfektur Pauws, ein neues Gewächshaus errichtet wurde, das auch architektonisch überzeugte. Auch stellt diese Ambulacrum ge- nannte Orangerie einen neuen Bautypus dar, nämlich jener der Galerie. Diese brachte nicht bloss Pflanzen sicher durch den Winter, sondern bot den Studenten auch eine Wandelhalle nach antikem Vorbild. Zudem war sie durch die in ihr ausgestellten Raritäten eines der ersten Museen in den Niederlanden – neben dem anatomischen Theater mit den dortigen Ge- genständen. Sie ergänzte die Pflanzen des Gartens durch Exponate aus dem Tierreich und der Erdkunde, so dass alle Teile der göttlichen Schöp- fung an diesen Orten betrachtet werden konnten.

255 Commelin 1676, S. 40–41. 256 Witkam, DZ IV, (9. Aug. 1595), No. 5026, S. 103–104, hier S. 104. 257 Leintücher wurden auch anderswo und später eingesetzt, siehe dazu: Commelin 1676, S. 39. 258 Commelin 1676, S. 39. 259 Witkam, DZ IV, (8. Febr. 1596), No. 5077, S. 104–105, hier S. 105. 260 AC1.41, (8. Febr. 1596), Nr. 39; AC1.20, (9. Febr. 1596), f. 26v; zudem: Witkam, DZ II, Anmerkungen auf S. 14.

349 Umgestaltungen durch Pieter Pauw

1598 starb Dirk Outgaertsz. Cluyt und Pieter Pauw wurde zu seinem Nachfolger berufen. Er errichtete nicht bloss eine neue Galerie, son- dern setzte auch andere Veränderungen im Garten durch. Die Beete des Streifens teilte er neu ein und auch die räumliche Ordnung der Pflanzen wurde überdacht. Sie war nunmehr nicht mehr abhängig von den Ideen der verschiedenen Akteure. Die Disposition der Gewächse zeigt sich im ersten gedruckten Katalog des Leidener Gartens, für den ebenfalls Pauw verantwortlich zeichnet.

Nachfolge Cluyts Nach Cluyts Tod übernahm Pieter Pauw zwar das Amt des Präfekten des botanischen Gartens. Zu Beginn beschloss das Kuratorium aber die Nachfolge durch Gerardus Bontius und Pieter Pauw besetzen.261 Wie be- reits besprochen wurde, waren beide vor der Berufung von Cluyt und Clusius für den Unterricht in Anatomie und Kräuterkunde zuständig. Da aber Bontius kurz darauf starb, übernahm Pauw alleine die Präfektur des Gartens.262 Auf den durch Bontius Tod vakant gewordenen Lehrstuhl der Medizin wurde Everardus Vorstius berufen, der seinerseits nach Pauws Tod Präfekt des Gartens wurde.263 Bontius unterrichtete somit nur für kur- ze Zeit an der Seite Pieter Pauws im Leidener Garten.264 Pauw erhielt 150 Gulden zusätzlichen Lohn sowie einen Helfer für die täglichen Arbeiten im Garten.265 Als Hortulanus und Überwacher des Gartens wurde Aert Pietersz. angestellt, nicht nur, weil Pauw als ordentlicher Professor kaum ausreichend Zeit hatte, sich vollumfänglich um den Garten zu kümmern, sondern auch, da immer mehr Pflanzen aus dem Garten gestohlen wur- den.266 Die Wahl Pauws als Nachfolger scheint nachvollziehbar, schliesslich war er mit der Errichtung des Gartens beauftragt worden und setzte die ersten Pflanzen in die Beete. Zudem unterrichtete er im Winter Anato- mie. Als Präfekt des botanischen Gartens wurde ihm im Winter zudem

261 Bronnen I, (10. Aug. 1598), S. 113. 262 AC1.20, (6. Nov. 1599), f. 65v. 263 AC1.20, (22. Sept. 1599), f. 62v–64r. 264 Dies geht auch aus einer Akte hervor, in der seine Wittwe Ansprüche gelten macht, siehe: AC1.20, (10. Febr. 1600), 75v–76r. 265 AC1.20, (6. Nov. 1599), f. 65v; zudem wurde Everardus Vorstius als ordentlicher Pro- fessor der Medizin eingestellt, siehe dazu: AC1.20, (22. Sept. 1599), f. 62v–64r. 266 Aert Pietersz. verstarb 1603, sein Nachfolger wurde Claes Blankert, siehe: AC1.20, (10. Febr. 1603), f. 115v; zudem: AC1.20, (6.–8. Aug. 1604), f. 131v–132r; im Mai 1606 war Jan Jansz. van Aalst der Hortulanus des Gartens, siehe: AC1.20, (22. Mai 1606), f. 145v.

350 die Lehre der Mineralien und andere Stoffen übertragen.267 Seinen Lohn empfand Pauw 1602 als unzureichende Entschädigung, da er nun ja zwei Ämter ausführe, wie er beklagte. Die Kuratoren erklärten ihm darauf, dass sie seine Tätigkeiten als Professor und Präfekt des Gartens nicht als zwei unterschiedliche Professionen verstünden, sondern als zwei Teile seiner Tätigkeit im Fachbereich der Medizin und schlugen ihm die gewünschte Lohnerhöhung aus.268 Pauws Berufung zum Präfekten war nicht bei allen gern gesehen. So forderten die Studenten der Universität, dass Cluyts Sohn, Outgert Cluyt (Augerius Clutius) (1578–1636), den Unterricht seines verstorbenen Va- ters übernehmen sollte. Da er jedoch noch nicht zum Doktor promoviert worden war – er studierte zu dieser Zeit noch immer Medizin an der Lei- dener Universität –, sprachen sich die Kuratoren gegen ihn aus, obwohl er sozusagen im Garten aufgewachsen und bestens vertraut mit der Pflan- zenkunde war.269 Er fand später im neuen botanischen Garten von Mont- pellier einen Arbeitsplatz, berichtete Pauw von der dortigen Anlage und schickte häufig Samen aus den bereisten Ländern nach Leiden, wofür er eine finanzielle Belohnung erhielt.270 Neben seinem Sohn wollten die Studenten auch Cluyts Sammlung an Pflanzenillustrationen in Leiden behalten. Diese wurden im Winter für den Unterricht verwendet. Claudia Swan beschreibt, wie diese Bilder durch ihre Genauigkeit und ihrer Anfertigung nach lebenden Vorbildern (ad vivum) geeignet waren, um die echten Pflanzen in den Wintermona- ten ersetzen zu können.271 Pflanzenbücher hatten prinzipiell den Vorteil gegenüber echten Pflanzen, dass sie verschiedene Stadien gleichzeitig zeigen oder Gewächse veranschaulichen konnten, die gar nicht im Gar- ten vorhanden waren. Die Zeichnungen verblieben jedoch nicht in Lei- den und wurden verkauft.272 Und natürlich war auch Clusius noch immer in Leiden. Er unterrich- tete aber nach wie vor nicht, sondern schrieb primär Bücher und küm- merte sich um seine weltweite Korrespondenz. Im Garten war er wohl häufig anzutreffen, doch war für die praktischen Anliegen Pieter Pauw und sein Hortulanus zuständig. Clusius hingegen sorge sich, wie Pauw in

267 Bronnen I, (10. Aug. 1598), S. 113. 268 Bronnen I, (8. Mai 1602), S. 142; ein Jahr später erhielt Pauw dennoch eine Lohner- höhung über 100 Gulden und verdiente 700 Gulden, siehe: AC1.20, (11. Mai 1603), f. 122r; es folgte eine weitere über 100 Gulden, siehe: AC1.20, (8. Febr. 1607), f. 152r. 269 Bronnen I, (18. Juni 1598), Bijl. no. 325, S. 380*–381*. 270 Bronnen I, (7. Mai 1604), S. 156; Bronnen I, (17. Aug. 1608), S. 179; Bronnen I, (8. April 1602–19. Okt. 1607), Bijl. no. 376, S. 435*–443*. 271 Swan 1998. 272 Zu diesen Illustrationen entstand ein Disput in der neueren Forschung, siehe dazu: Swan 1998; zudem als kritische Antwort darauf: Egmond 2005; ferner Ogilvie 2006, S. 177–180; und abschliessend: Koning/Uffelen/Zemanek/Zemanek 2008.

351 seinem Vorwort seines Gartenkatalogs erwähnt, beständig um den Gar- ten und bereichere ihn durch exotische und rare Pflanzen.273 Das Verhält- nis der beiden war jedoch eher kühl.274

Der Kufperstich des Gartens Pieter Pauw nahm nur wenige Jahre nach seiner Berufung einige Verän- derung am botanischen Garten vor. Wie in der Bibliothek kamen auch hier bauliche Umgestaltungen durch die Neubesetzung der Präfektur zustande. Von den Umbauarbeiten zeugt eine Darstellung des Gartens, die im ersten gedruckten Katalogs des botanischen Leidens eingebunden wurde. Denn wie beim Index stirpium von 1594 macht auch in diesem Ka- talog, der noch genauer besprochen wird, eine Darstellung des Gartens den Auftakt (Abb. 5.13). Der Kupferstich ist 395mm auf 432mm gross und muss somit mehrmals zusammengefaltet werden, um im Katalog verstaut werden zu können. Erneut wird die Einteilung des Gartens und die Be- nennung seiner Einzelteile erklärt, um die anschliessende Auflistung der Pflanzen räumlich verorten zu können. Der Kupferstich in Pauws Kata- log wurde durch Jacques de Gheyn II. (um 1565–1629)275 angefertigt, ein Künstler, der öfters mit Professoren der Leidener Universität zusammen- arbeitete.276 Für die Erstellung des Kupferstichs erhielt er ein Honorar über 36 Gulden.277 Die Vermittlung der Gartenarchitektur geschieht jedoch nicht wie beim Index stirpium auf einer rein schematischen Ebene. Vielmehr mischt sich in dieser Zeichnung abstrakte Information mit bildlichen Darstel- lungen. Denn die Zeichnung kombiniert einen massstäblichen Grundriss mit einem ebensolchen Aufriss. Die gewählte Darstellungsform erlaubt bestens, die beiden wichtigsten Aspekte des Gartens unterschiedlich darzustellen: die flachen Gartenbeete und ihre Unterteilungen in einem reduzierten Grundriss, die dreidimensionalen Bauten und Personen hin- gegen in realistischer Art und Weise. Die Plangrafik erhält somit eine vi- suelle Räumlichkeit und durch die dargestellten Personen wird ihr Leben eingehaucht. Der Betrachter blickt gegen Süden, weswegen die neue Ga- leriem, die Pauw anstelle des einfachen Holzschuppens errichten liess, am oberen Bildrand prominent gezeigt werden kann. Die kleineren Bau- ten wie Durchgangsportale und der zentrale Pavillon sind ebenso detail- liert gezeichnet und wurden vermutlich ebenfalls durch Pauw errichtet. Auf ihnen sind Pflanzen ersichtlich, die jedoch nicht in die Beete gezeich-

273 Pauw 1601, Vorwort, unpaginiert. 274 Hunger 1927–1943, Band 1, S. 215–216; Ogilvie 2006, S. 69. 275 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 7, Sp. 467–470. 276 Siehe dazu vor allem: Swan 2005. 277 Die Abrechnung in: AC1.41 (ohne Datum oder Paginierung).

352 net wurden. Zudem werfen die Bauten wie auch die Personen Schatten, Abb. 5.13 Ansicht des botanischen was den Eindruck verstärkt, sie seien auf den Plangrund gestellt worden. Gartens, welche in den Die Personen zeigen, wie der Garten genutzt und besichtigt wurde. Kupferstich Pieter Pauws eingebunden wurde, um Zu sehen sind verschiedene Besucher, die meist in Gruppen durch den die Einteilung des Gartens Garten schlendern und Pflanzen bewundern. Vor dem Mittelportal des zu erklären. Dargestellt Ambulacrum ist eine grössere Gruppe dargestellt, in deren Mitte eine Per- sind neben verschiede- nen Besuchern des Gartens son auf einen Streifen zeigt. Es handelt sich dabei wohl um Pieter Pauw, auch das Ambulacrum und der seine Studenten unterrichtet. 278 Auffallend ist zudem, dass keine Be- weitere Bauten. sucherinnen gezeigt werden. Der Garten war als Hortus publicus nämlich (Kupferstich von Jacques de eigentlich der gesamten Bevölkerung zugänglich, wie auf der Zeichnung Gheyn II.)

Woudanus gezeigt wird. (Donwload: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-1895-A-18845)

278 Siehe dazu auch: Swan 2005, S. 59–60.

353 Die Umgestaltung des Gartens Neben dem Bau des Ambulacrum, das noch ausführlich besprechen wird, zeichnete Pauw auch für die Neugestaltung der Pflanzenbeete ver- antwortlich. Die grundsätzliche Einteilung des Gartens in vier Quadrae mit einem darum herumliegenden Pflanzenstreifen blieb erhalten. Die Hauptachsen unterteilten den Garten nicht nur in die einzelnen Felder, sondern verbanden ihn auch mit dem Kontext. Das Ambulacrum erhielt entsprechend den drei anstossenden Hauptwegen des Gartens drei Zu- gänge, war somit eng mit der Architektur des Gartens verbunden und führte diese nicht nur baulich, sondern auch thematisch fort, wurden im Ambulacrum doch nicht nur weitere pharmazeutische Produkte gelagert, sondern auch zusätzliche Stücke der Schöpfung Gottes. Das östliche Portal des Ambulacrum lag nicht mit dem äusseren Pfad auf Achse, sondern nahe der Umfassungsmauer. Durch diese Portal wurde nämlich eine Verbindung zum Wohnhaus Pieter Pauws geschaf- fen, welches zwischen dem Akademiegebäude und dem Garten lag. Im Kupferstich von 1610 ist diese Situation fälschlicherweise spiegelbildlich dargestellt, die Verbindung zwischen Garten und dem Wohnhaus auf der rechten Seite klar ersichtlich. Pauw erhielt das Wohnhaus, damit er „te be- ter opzigt opten tuyn van de Universiteit te mogen hebben“.279 Es handelte sich dabei jedoch nicht um jenes Haus, welches Cluyt bewohnte, sondern um dasjenige des Pedels Loys Elzevier.280 Pauw war der erste, aber nicht der letzte Präfekt des Gartens, der dieses Haus bewohnte. Das Haus des Pedells wurde zuvor für viel Geld in ein stattliches Gebäude umgebaut, weswegen bereits 1595 diskutiert wurde, ob nicht Clusius darin wohnen solle.281 Die Umfassungsmauer wies zwei Portale auf, die wiederum an einer Hauptachse des Gartens lagen. Der östliche Zugang – im Kupferstich von 1610 links zu sehen – führte hinaus zum Vorhof der Akademie und war der Hauptzugang. Das westlich gelegene Portal – im Kupferstich von 1610 rechts – führte zur ehemaligen Dienstwohnung Cluyts, der ja 1596 einen direkten Zugang von seinem Wohnhaus in den Garten forderte.282 Das ge- schmückte EIngangsportal des Wohnhauses ist auch auf dem Kupferstich von 1675 klar ersichtlich (Abb. 5.28). Die Mitte des Gartens wurde durch einen grösseren Pavillon aus- gezeichnet. Er wurde zunächst aus Holz erstellt und musste zwischen

279 AC1.20, (10. Febr. 1600), f. 75v. 280 AC1.20, (8. Febr. 1599), f. 57r–57v. 281 AC1.20, (8. Aug. 1595), f. 5v–6r. 282 AC1.41, (8. Febr. 1596), Nr. 39; AC1.20, (9. Febr. 1596), f. 26v; zudem: Witkam, DZ II, Anmerkungen S. 14.

354 1636 sowie 1655 durch einen mit steinernen Säulen ersetzt werden.283 Im Stich von Woudanus findet man darunter eine Windrose, die in ihrer Be- deutung den ebenfalls gezeigten Wolkenbläsern entspricht und auf die ganze Welt, respektive auf alle Himmelsrichtungen verweist; ob sie tat- sächlich existierte, oder nur als Symbol für die gesammelten Pflanzen aus aller Welt in die Zeichnung gesetzt wurde, ist nicht abschliessend zu beantworten. Die einzelnen Quadrae, die noch immer mittels ihren zuei- nander verdrehten Streifen klar ersichtliche Einheiten bildeten, wurden zudem durch Torbauten – vermutlich ebenfalls aus Holz erstellt – als Ein- heiten ausgezeichnet. Eine Hierarchisierung des Raumes wurde dadurch erreicht: Die Mauer trennte den Garten ab und schuf einen abgeschiede- nen Ort. Die Zugänge in die einzelnen Quadrae hingegen schufen eine zweite räumliche Ordnungsstufe. Die Quadrae wurden nun noch stärker als eigenständige Einheiten lesbar, die aber nach wie vor innerhalb eines Systems den ganzen Garten ausbildeten. Eines der Felder wurde neu eingeteilt, wie aus dem Kupferstich deutlich wird. Nach der Errichtung des Gartens besass zunächst nur die Quadra secunda zwölf Streifen, alle anderen deren sechzehn. Neuerdings besassen die Quadrae B und C – respektive secunda und tertia – jeweils zwölf Streifen, die Quadrae A und D – respektive prima und quarta – de- ren sechzehn. Die Einteilungen der Beete entsprechen sich so diagonal und führt die Logik des windmühlenartigen Aufbaus des Gartens fort. Zudem wurde die Breite der Streifen vereinheitlicht. Der Kupferstich von 1610 zeigt eine falsche Einteilung der Beete, denn dort verfügten alle Qua- drae über jeweils vier mal vier Streifen. Auch die Einteilung der Streifen in einzelne Beete wurde neu defi- niert. Da der Garten kein Quadrat war, sondern ein Rechteck, waren die Streifen der Felder B und C etwas länger als diejenigen der Quadrae A und D. Die längeren Streifen enthielten nun jeweils 24 Beete, die kürzeren deren 16. Zuvor waren die Streifen, wie aus dem Index stirpium ersichtlich wird, vielfältiger aufgeteilt, was in unterschiedlich grossen Beeten resul- tierte. Durch die Umgestaltung waren nicht bloss die Streifen, sondern auch die Beete alle in etwa gleich gross. Neben diesem Wunsch hatte die neue Einteilung auch Vorteile für den Druck des Katalogs, wie noch ge- zeigt wird.

Genannte Dimensionen und Proportionen Der im Kupferstich Jacques de Gheyns II. gezeigte Grundriss des Gartens scheint massstäblich gezeichnet worden zu sein. Vermutlich fertigte er

283 AC1.21, (13. Nov. 1634), f. 162r; AC1.22, (9. Febr. 1636), f. 195r; AC1.25, (24. Febr. 1655), f. 53r.

355 1 Doelen-Achtergracht Rapenburg 1600–1610 1610–1643 1643–1686 1686–1 73 0 1594–1600 2

3 4

Nonnensteeg

Abb. 5.14 den Kupferstich aufgrund eines Bauplans des Gartens an oder mass die- Der Garten zwischen 1600 sen selber aus, weswegen der Grundriss als Basis für die folgende Rekon- und 1610. 1. Früheres Wohnhaus struktion der Gestaltung des Gartens dienen soll. Zudem nannte auch Or- Cluyts, später Wohnhaus lers in seiner Beschrijvinge der stad Leyden die Dimensionen des Gartens, des Hortulanus; 2. Ambu- lacrum; 3. Wohnhaus Go- übernahm dabei aber auch Fehler, die von Pauw selbst stammten. marus; 4. Wohnhaus Pau- Im Beschluss, den Hof für die Errichtung des Gartens zu kaufen, ws. wurden dessen Fläche mit ca. 40m auf 35m angegeben (10 roeden und (Planzeichnung des Autors 6 Fuss auf 9 roede und 3 Fuss).284 In Pauws Vorwort finden wir ebenfalls nach der Zeichung in: Ter- Angaben zur Grösse des Gartens, nämlich ca. 42m auf 32m (133 Fuss auf wen-Dionisius 1980.) 103 Fuss). Was Pauw ebenfalls angibt, ist die Grösse des Ambulacrum,das nach ihm eine Grundfläche von ca. 42m auf 3,8m besass (133 Fuss auf 12 Fuss).285 Da die Galerie innerhalb des vorhandenen Hofs errichtet wurde, stimmen alle erwähnten Angaben in etwa überein. Vergleicht man diese Angaben mit dem Kupferstich des botanischen Gartens, besitzen sie un- gefähr dieselben Proportionen, was darauf hinweist, dass der Grundriss massstäblich ist. Zudem werden im Katalog die Dimensionen der einzelnen Streifen erwähnt. Die Streifen der Felder A und D hätten diesen Angaben zufolge die Grösse von ca. 2,5m auf ca. 1m besessen, diejenigen der Felder B und C hingegen eine Fläche von ca. 3,8m auf ca. 1m. Vergleichen wir diese An- gaben mit dem Grundriss Jacques de Gheyns II., so fällt eine deutliche Abweichung auf, denn die durch Pauw angegebenen Flächen fallen nur

284 9 roeden und 3 voeten auf 10 roeden und 6 voeten, siehe: Witkam, DZ II, No. 332 (13. Juli 1587), S. 18–21, mit Skizze der Situation. 285 Pauw 101, unpaginierte Seite.

356 etwa halb so gross aus, wie die im Grundriss gezeigten Beete besitzen. Diese Angaben entsprechen nicht der tatsächlichen Grösse der Streifen. Sie sind aber nicht zufällig entstanden, denn die beiden erwähnten Zah- len zur Länge der Streifen korrespondieren zwar nicht mit ihrer Länge, dafür aber mit ihrer Anzahl Beete. Es handelt sich somit um eine offen- sichtliche Falschangabe.286 Auch Orler gibt in seiner Stadtbeschreibung die Dimensionen der einzelnen Felder an. Explizit folgt er dabei dem Katalog Pauws und übernimmt neben den Fehlern sogar die Buchstaben der Planzeichnung De Gheyns, die in seiner Abbildung jedoch gar nicht eingetragen sind.287

Rekonstruktion des Gartens und die Grösse seiner Teile Bei der Rekonstruktion des Gartens kann somit auf den Grundriss aus dem Katalog sowie auf die durch Pauw genannten Grössenangaben zu- rückgegriffen werden. Orlers nennt die Breite der Pfade, die leicht anders ausfallen als in der Zeichnung De Gheyns. Sie sollen in der folgenden Darstellung des Entwurfsprozesses berücksichtigt werden.288 Die Gesamtfläche wurde wahrscheinlich zuerst mittels eines zen- tralen Kreuzes in vier Teile gegliedert und mittels Schnüren abgesteckt, wie es die übliche Praxis der Zeit war.289 Die Breite der Hauptachsen belief sich laut Orlers auf 8½ Fuss (ca. 2.6 Meter). Danach wurden die umrah- menden Beete definiert und ihnen eine Tiefe von 3 Fuss zugeschrieben (knapp 1 Meter). Die anschliessenden Wege, die um alle Quadrae führten, wiesen nach der Zeichnung eine Breite von 7½ Fuss auf (ca. 2.4 Meter) – Orlers macht dazu keine Angabe. Die Felder der einzelnen Quadrae waren somit bestimmt. Nun wurden diese mittels zusätzlicher Achsen- kreuzes geteilt, wobei die entstehenden Wege nach Orlers eine Breite von 4 Fuss besassen (ca. 1.2 Meter). Die restlichen Felder wurden mittels kleinerer Wege in die einzelnen Streifen unterteilt; die Wege wiesen eine Breite von 3 Fuss auf (knapp 1 Meter). Die gewählten Dimensionen zei- gen, dass der Garten eine hierarchische und mathematisch schlüssige Einteilung erfuhr, haben doch die umrahmenden Beete zusammen mit den anschliessenden Wegen dieselbe Breite, wie die beiden Hauptachsen des Gartens, die kleineren Achsen der einzelnen Felder hingegen genau die Hälfte davon. Die Streifen resultierten somit aus dem Entwurfsprozess und bilde-

286 In den späteren Auflagen des Katalogs wurde dieser Fehler nicht verbessert, es fin- den sich dieselben Grössenangaben. 287 Orlers 1614, S. 143–144. 288 Im Falle der vorliegenden Rekonstruktion wurde für die Bestimmung der Gesamt- fläche die Angaben Pauws genommen, die Einteilung der Wege und Beete erfolgte nach den Angaben Orlers; siehe Orlers 1614, S. 144. 289 Siehe dazu: Hansmann 2009, beispielsweise S. 30.

357 ten die übriggebliebenen Flächen. Diejenigen der Felder B und C hatten dabei eine Länge von ca. 7.5 Meter auf 1 Meter, diejenigen der Felder A und D eine solche von ca. 5.1 Meter auf 1.2 Meter; die Breite der unter- schiedlichen Streifen war somit nahezu gleich. Durch die unterschiedli- chen Einteilungen in 16 und 24 Beete ergaben sich für diese im Falle der Felder B und C eine Grösse von ca. 62cm auf 54cm, für die Beete der ande- ren Felder eine Grösse von ca. 64cm auf 58cm. Die Beete der unterschied- lich langen Streifen waren somit nahezu gleich gross. Die einzelnen Streifen hatten auch nach der Umgestaltung durch Pieter Pauw noch immer eine Grösse, die die genaue Betrachtung der Pflanzen ermöglichte. Die empirische Wissenschaft benötigte einen ein- fachen Zugang zu den Pflanzen, der erlaubte, sie im Detail studieren, ab- zeichnen, berühren, ja sogar beschnuppern zu können, wie auch die Gar- tengesetze erlaubten, und hatte deswegen unmittelbaren Einfluss auf die Architektur des Gartens. Zudem waren die Pflanzen in solch schmalen Beeten auch einfach zu pflegen. Ein Breitenmass, dass 1597 Johann Pe- schel (1535–1599) in seiner Publikation Garten-Ordnung für Beete angibt, sind zwei Ellen (ca. 1,1m),290 was den Leidener Beeten entsprach. Zur Breite von Pfaden schrieb 1779 Johann Georg Krünitz, der mittle- re sollte so breit sein, dass man bequem darauf spazieren könne, die Wege zwischen den Beeten aber „bleiben schmall / wie bräuchlich / fast auff anderthalb Fuß“,291 also ca. 50cm. Peschel gab eine Breite von 55cm an.292 Diejenigen in Leiden besassen nach Orlers eine Breite von 3 Fuss (knapp 1 Meter). Ob diese Breite tatsächlich für den Unterricht ausreichend war, ist fragwürdig. Betrachtet man nämlich im Kupferstich Jacques de Gheyns II. die Menge an Studenten, die um den Professor stehen, ist es nur schwer vorstellbar, dass alle bequem auf einem der schmalen Wege ihren Platz fanden, um gemeinsam mit ihrem Lehrer die Pflanzen betrachten und diskutieren zu können. Die Wege zwischen den einzelnen Feldern waren hingegen so breit, dass sich Personen bequem kreuzen konnten. Die Ar- chitektur musste somit so ausgelegt sein, dass eine wissenschaftliche Be- trachtung und Diskussion der Pflanzen möglich war.

Ein öffentlicher Garten und der Schutz vor Diebstahl

Der botanische Garten der Universität wurde oftmals als öffentlicher Gar- ten bezeichnet. So trägt der Kupferstich von 1610 die Bezeichnung Horti publici academiæ Lugduno–Batavæ und auch Pieter Pauws Katalog er-

290 Hansmann 2009, S. 30. 291 Zitiert nach: Hansmann 2009, S. 309. 292 Hansmann 2009, S. 30.

358 hielt den gleichen Titel. Betreffend dieser Wortwahl stellen sich die glei- chen Fragen wie im Falle der Bibliothek. Im folgenden sollen daher wie- derum die Aspekte des Besitzes, der Trägerschaft und der Zugänglichkeit besprochen werden.

Schlüssel und Zugänglichkeit Es wurden deutlich weniger Schlüssel zum botanische Garten ausgeteilt also solche zur Bibliothek. Denn fanden die unterschiedlichsten Perso- nen für sie relevante Bücher in der Bibliothek, so setzte der Zugang zu den Pflanzen auch eine spezifische Fachkenntnis voraus. Es ist anzunehmen, dass die Hoheitsgewalt über den Garten in den ersten Jahren primär bei Cluyt lag. Im Vorwort der einzigen Publikation von Cluyt, die sich den Bienen widmet, wird beschrieben, wie Clusius den Garten aufsucht und an die Türe klopft, worauf ihm Cluyt öffnet.293 Dennoch ist natürlich unwahrscheinlich, dass Clusius keinen eigenen Schlüssel für den Hortus botanicus besass. Bereits bei der Berufung Cluyts wurde beschlossen, ihm einen Schlüssel auszuhändigen, den er aber nur Clusius und den Professoren der Medizin anvertrauen durfte, jenen Professoren also, die aufgrund ihrer Profession über Pflanzen Be- scheid wissen sollten.294 Nach Fertigstellung des Gartens wurde der Besitz von Schlüsseln neu verhandelt. Die Kuratoren wollten alle Professoren der Medizin treffen und ihnen sowohl die Aufsicht über den Garten wie auch die dortige Lehre ans Herz legen, eine Aufgabe, die sie nicht bloss an Clusius und Cluyt übertragen wollten. Die Professoren erhielten da- rauf je einen Schlüssel, insgesamt drei Stück,295 so dass sie jederzeit den Garten besuchen konnten. Sie sollten ebenfalls ein Doppel des Inventars von 1594 erhalten, um den Garten in Ordnung zu halten und wohl auch, um die Pflanzen selbstständig auffinden zu können.296 Es ist aber unklar, ob dies auch geschah, denn 1608 forderten die Professoren der Medizin erneut einen Schlüssel zum botanischen Garten.297 Wie die Bibliothek musste auch der Garten genutzt werden und des- halb einem Publikum offen stehen, um keine unnütze Ansammlung von Pflanzen, sondern ein wissenschaftliches Instrument von hohem Gewinn zu sein. Auch das Buch der Natur bedurfte der Lektüre durch Leser. Der Garten stand aber mindestens ab 1600, im Gegensatz zur Bibliothek, die über eine enger definierte Leserschaft verfügte, der gesamten städtischen

293 Während der Präfektur Cluyts fand man im botanischen Garten einen Bienenstock, siehe dazu: Clutium 1998. 294 Bronnen I, (2. Mai 1594), Bijl. Nr. 264, S. 294*–296*. 295 Witkam, DZ II, (20. März 1595), No. 339, S. 27; Witkam, DZ II, (20. März 1595), No. 340, S. 28. 296 Witkam, DZ IV, (24. Mai 1595), No. 1275, S. 195–196, hier S. 196. 297 AC1.20, (9. Mai 1608), f. 170r.

359 Bevölkerung offen, die ihn weniger als Medizingarten wahrnahmen, sondern als Zier- und Lustgarten, in dem besonders seltene und schö- ne Pflanzen zur Schau standen. Die Leidener Bevölkerung erhielt somit Zutritt in eine Lokalität, die zuvor nur durch den Adel oder durch wol- habende Bürger finanziert und betreten werden konnte. Der Begleittext zum Kupferstich besagt, der Garten sei

„mit sonderlicher embsigkeyt un grossen kosten / zu nutz und on- terweisung deren / so in der Artzney studieren / auch Apothekern / Wundartzten / und allen andern Studenten und liebhabern der Kreuter / in schoner / zierlicher und bequemer ordnung / auffge- richtet worden“.

Im dazugehörigen Kupferstich (Abb. 5.15) und in demjenigen Jacques de Gheyns II. sehen wir diesen Personenkreis. Neben dem Professor mit seinen Studenten und einem Gelehrten, der mit einer Feder Notizen in ein Buch schreibt, werden auch Personen, die eindeutig nicht Mitglie- der der Universität waren, dargestellt. Eine eintretende Person macht im Kupferstich von 1610 deutlich, dass das Portal des Gartens offen stand. Die beiden Personen rechts neben dem mittleren Pavillon, die sich begrüs- sen, stellen den Garten als Treffpunkt der städtischen Bevölkerung dar. Die beiden Herren im Vordergrund scheinen keine Studenten zu sein, denn der eine trägt ein Schwert, was den Studenten nicht gestattet war.298 Links neben diesen beiden Personen führt ein Mann eine gutgekleidete Dame durch den Garten. Sie scheinen in ein Gespräch involviert zu sein und nutzen vielleicht die Blütenpracht des Gartens als Kulisse für einen romantischen Spaziergang. Im Kupferstich der Bibliothek werden hinge- gen keine Frauen dargestellt, dafür aber in demjenigen des anatomischen Theaters. Kann man im Falle der Bibliothek von einer geschlechterspezi- fischen Öffentlichkeit sprechen, so trifft dies weder auf den Garten noch auf das anatomische Theater zu.

Lex hortorum Öffentlicher Zugang bedeutet, dass Regeln zum Verhalten innerhalb der Räume notwendig werden. Wie in der Bibliothek musste also auch im Garten die Zugänglichkeit und das Verhalten im Umgang mit den Expo- naten reglementiert werden. Pauws Katalog gibt die Gesetze des Gartens wieder, die – zusammen mit einer Datierung und der Nennung der Bau- herren – in den Frontispiz des neuen Ambulacrum gemeisselt wurden.299

298 Bronnen I, (3. Februar 1594), Bijl. no. 259, S. 291*. 299 Nach Erik de Jong gab es weitere Inschriften: „one on the outside and one on the inside“. Ein schwedischer Besucher hatte diese 1769 abgeschrieben: „They „stated

360 Dort stand: Abb. 5.15 Ansicht des botanischen Gartens und des Ambu- VSVUI, ORNAMENTO ACADEMIÆ lacrum. Im unteren Bild- teil sind einige der Natura- CVRATT. ET CONSS. IVSSV lien präsentiert, die in der STRVCTCM OPVS. Galerie zur Schau gestellt Anno à nato Christo [1600] wurden. Hortum ingressus, ad subscripta respicito. (Kupferstich von Willem I. Statuta a Praefecto hora Hortum ingredi fas esto; examine finito, Isaacsz. van Swanenburg nach einer Zeichnung von egreditor. Ja Cornelisz. van ’t Woudt II. Ingressis, stirpes videre licet, odorari licet: und verlegt durch Andries Clouck.) tenellas, succrescentesue tractare laedereue non licet. III. Ramos, flores, semina decerpere: scapos confringere: (Donwload: Rijksmuseum bulbos, radicesue euellere: Hortum iniuria afficere, nefas esto. Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-1893-A-18089) IV. Puluillos, Areolasue ne conculcato; transilitoue.

that the garden was the property of Pallas Athena, „a gift dedicated to the Muses.“ Another line reads „the garden loves peace (Hortus amat pacem) and fears the fero- cious tools of the rade [of war]““, siehe dazu: Jong 2000, S. 135.

361 V. Nihil inuito Praefecto attentato.300

Die Gesetze erklären demnach, dass das Ambulacrum für den Gebrauch und zur Zierde der Universität durch die Kuratoren und der Bürgermeis- ter errichtet wurde. Ferne müsse jeder Besucher die aufgelisteten Geset- ze beachten. Geöffnet war er nur während des Unterrichts. Die Pflanzen durften besichtigt und beschnuppert werden, aber keinesfalls angefasst oder gar verletzt werden. Es war zudem verboten, jegliche Pflanzenteile, selbst Samen oder Zweige, zu sammeln. Die Beetstreifen durften weder betreten noch übersprungen werden und die Anweisungen des Präfek- ten waren strikte zu befolgen. Die Gesetze hatten in erster Linie zum Ziel, die Pflanzen zu schützen sowie die Öffnungszeiten des Gartens zu Regle- mentieren. Pauw griff mit seinen Gartengesetzen auf eine antike Praxis zurück, denn solche gab es schon im antiken Rom und wurden im Zeitalter der Renaissance wiederbelebt.301 Nicht zuletzt verfügte bereits der Privatgar- ten von Justus Lipsius über eine Lex hortorum, die Pauw bekannt gewe- sen sein durfte.302 Auch im Garten von Montpellier, der nahezu zeitgleich entstand, konnte man solche Gesetze finden. Der botanische Garten in Amsterdam, 1638 gegründet, verfügte ebenfalls über Gartengesetze, die denen in Leiden sehr ähnlich waren:

Hoff-Wetten Een ider die in desen Hoff will komen, Zal hem moeten reguleren na de Ordonnantie daar de Ed. Groot, achtbare Heeren Burgermeestern deser Stad op de selve gemaakt I. Den ingang sal tot ses uuren des avends vry zyn en niemant zal laters als tot seven uuren mogen blyven. II. Alle Doctoren, Apothecars, Chirurgyns en haare Knechten zullen ingelaten worden op Dingsdag, Woensdag, Donderdag, en Vrydag; doch de Knechts alleen ten wornoemende dagen das smorgens van elf tot twaalf uuren, en dat tot onderwysinge, beginnende van den eersten May tot de laatsten Augusti. III. Des Sondags zal de Tuyn vor ider een gesloten zyn IV. Niemant sal vermogen eenige onbehorlikkeyd te plegen, over de bedden te springen, af te stappen, den Hoaener qvalyk te bejegenen noch te haar te verstouten eenige planten te steelen, takken, boo- men, vruchten af te zaaden, af te breeken alles op paene van aan- stonts uytgelyt en t’ gebruyk van den Hoff ontleyt te worden: dewyl

300 Pauw 1601, unpaginierte Seite. 301 Coffin 1982. 302 Papy 1996, S. 179–181.

362 die allen tot eerlyke oeffeninge en vermaak gesticht ist.303

Die Gesetze des Amsterdamer Gartens wurden im Niederländischen ver- fasst und standen neben dem Eingangsportal zum Garten. Er war eine städtische Stiftung und sprach bereits durch die gewählte Sprache die gesamte Bevölkerung an. Unterhalten wurde der Garten durch die Stadt, die ihrerseits einen jährlichen Beitrag von Apothekern einforderte. An- sonsten kostete der Eintritt in den Garten sechs Stuyvers.304 Die Gesetze in Leiden hingegen waren in Latein verfasst und konnten deswegen nur von gebildeten Personen gelesen werden. Die Adressaten waren hier in erster Linie wohl die Studenten, obwohl sie auch für alle anderen Besucher ver- bindlich waren. Als unmittelbares Vorbild für die Gesetze des Leidener Gartens dien- ten vermutlich diejenigen des botanischen Gartens in Padua. Auch sie waren über dem Eingangsportal angebracht und lauteten:

TRIUMVIRI LITTERARII. I. Portam hanc decumanam ne pulsato, ante diem Marci Eua geliste ante horam XII. Per decumanam ne declinato II. In viridarium scapum ne confrigito, neve florem decerpito, ne se- men, fructumve sustolito, radicem ne effodito. III. Stirpem pusillam succrescentemque ne atrectato, neve Areolam conculcato. TRANSILITOVE. I. Viridarij iniuria no afficiuntur. II. Nihil inuito Prefecto attetato. III. Qui secus faxit ære, carcere, exilio, multator.305

Pauw kannte diese Gesetze sicherlich, denn sie wurden im gedruckten Katalog des dortigen Gartens aufgeführt, welcher Pauw als Grundlage für den seinen nutzte. So gleichen sich die Gesetze der beiden Gärten sehr, teilweise sogar aufs Wort.

Ökonomische und wissenschaftliche Interessen Die erwähnten Gesetze der Gärten reglementierten im wesentlichen die Zugänglichkeit in den Garten sowie den Schutz der Pflanzen. Sie führten auf, wann der Garten offen stand, teilweise auch explizit für wen. Vor dem breiten Publikum mussten die Pflanzen aufmerksam geschützt werden.

303 Die Gartengesetze wurden schon früh in Reiseberichten zitiert, die obenstehenden nach: Benthem 1698, S. 65–66; das Leidener Gesetz in Hegenitius 1630, S. 104. 304 Wijnands/Zevenhuizen/Heniger 1994, S. 32. 305 Porro 1591, unpaginierte Seite.

363 Sie mussten mit Sorgfalt behandelt werden und ihnen durfte kein Scha- den zukommen. Zudem war es strikt verboten, jegliche Pflanzen, ja sogar nur Teile davon oder Samen und Früchte, aus dem Garten zu schaffen. Dies zeigt an, dass die Pflanzen begehrte und auch wertvolle Exponate waren, die vor Diebstahl geschützt werden mussten. Doch wieso waren die Pflanzen so kostbar? Wie bereits besprochen wurde, war es eine schwierige Aufgabe, an Medizinalkräuter und vor al- lem an fremdländische Gewächse zu gelangen. Die Pflanzen des bota- nischen Gartens kamen mehrheitlich aus den Privatgärten von Clusius und Cluyt. Dadurch stellte sich die Frage, ob sie noch immer den beiden gehörten, oder aber in den Eigentum der Universität übertraten und zu einem öffentlichen Gut wurden. Zudem wurden exotische Gewächse im- mer mehr Begeisterung in der städtischen Bevölkerung, auch ausserhalb der Kreise der Wissenschaftler und Apotheker, zunehmend beliebt, was den Garten vor weitere Probleme stellte. Der Wissenschaftler Clusius hatte eine andere Auffassung, was den Besitz und Austausch von Pflanzen anging, als der Apotheker Cluyt.306 Für Naturforscher war es eine Selbstverständlichkeit, dass innerhalb der Ge- lehrtenwelt unentgeltlich ausgetauscht und verschenkt wurde. Wissen- schaft findet immer in einem sozialen Rahmen statt und dieser war in der frühen Neuzeit geprägt durch eine „anticommercial attitude“ der Natur- forscher, so Ogilvie.307 Entsprechend scheint Clusius nie einen Besitzan- spruch an die mitgebrachten Pflanzen gestellt zu haben. Er trat deshalb die Knollen und Samen aus Kreta, seine nach Leiden überführten Pflan- zen und seine kleine Sammlung an Metallen freiwillig und ungefragt der Universität ab.308 Auch hinsichtlich seiner Pflanzen war er äusserst gross- zügig und verschenkte sie an befreundete Forscher und Pflanzenliebha- ber. Teilweise verweigerte er ausdrücklich finanzielle Vergütungen, nahm dafür aber gerne ihm unbekannte Pflanzen als Entschädigung an.309 Denn dieser Austausch unter Naturforschern war in der Regel gegenseitig und – zumindest theoretisch – immer unentgeltlich. Falls jemand dennoch nicht mitspielte, konnte er auch schnell aus dem Kreis des freien Tau- sches ausgeschlossen werden.310 Diese Zusammenarbeit war „not […] a social fact but […] an intellectual necessity.“311 Austausch fand auch zwi- schen den Präfekten botanischer Gärten statt.312 Andrew Cunningham beschreibt in diesem Zusammenhang botanische Gärten als „a sort of

306 Grundlegend zum Thema: Dupré/Lüthy 2011; zudem: Wijnands 1991. 307 Ogilvie 2006, S. 14. 308 Bronnen I, (6. Sept. 1592), Bijl. no. 202, S. 231*–232*. 309 Ogilvie 2006, S. 67. 310 Egmond 2007, S. 173–174. 311 Ogilvie 2006, S. 52. 312 Ogilvie 2006, S. 162; Meier Reeds 1991, S. 88.

364 depot for the collection, storage and distribution of new plants, and they were centres of correspondence and exchange networks.“313 Das Ideal in- nerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft war somit der unentgeltli- che Austausch von Pflanzen und Informationen. Apotheker hatten im Gegensatz zu Wissenschaftlern natürlich schon aus beruflichen Gründen ein ökonomisches Interesse an Medizinalkräu- tern, zudem verkauften sie auch ihre Kenntnisse über die Pflanzenwelt.314 Deshalb gehörten sie nicht zwingend zur Gemeinschaft der Naturfor- scher.315 Doch gab es viele Apotheker, die ein persönliches und nicht fi- nanziell begründetes Interesse an Pflanzen hatten. Florike Egmond argumentiert, dass der freie Austausch bei Pflanzenliebhabern aller Ge- sellschaftsschichten – adlige Gartenbesitzer, Gelehrte an Universitäten und Apotheker – wesentlich zur Formierung der Disziplin Naturgeschich- te beigetragen habe. Sie schickten sich neben Briefen mit Informationen und Bildern zu Pflanzen auch Samen oder Wurzeln, aber auch Anleitun- gen zum Errichten eines Gartens oder Pflegehinweise für spezielle Pflan- zen. Es gab also neben den finanziellen Interessen auch bei Apothekern die Auffassung, Wissen müsse frei sein und ausgetauscht werden.316

Eigentumsfrage Der Apotheker Cluyt machte dennoch finanzielle Ansprüche geltend. In seinem Berufungsschreiben sagte das Kuratorium bloss, Cluyt solle all seine Pflanzen nach Leiden überführen, nicht aber, ob sie danach in sei- nem Eigentum verbleiben oder in denjenigen der Universität übergehen würden. Sie räumten ihm jedoch ein durchaus lukratives Recht ein: Er durfte überzählige Pflanzen, welche nicht im Garten benötigt wurden, zu seinem eigenen Profit veräussern.317 Nach der Überbringung seiner Pflanzen war die Eigentumsfrage also nicht explizit geklärt. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Leiden, näm- lich im November 1594, entfachte darüber zwischen Cluyt und dem Ku- ratorium ein Streit. Cluyt machte sich vor allem Sorgen, wie seine Frau und Kinder nach seinem Ableben ein finanziell gesichertes Leben führen konnten und setzte dabei ganz auf seinen grössten Besitz: seine Pflan- zensammlung. Zudem seien auch die Kosten für seinen Umzug und den Transport der Pflanzen aus Den Haag nach Leiden sehr teuer gewesen, wie Cluyt den Kuratoren erklärte. Für diesen Aufwand wollte er entspre-

313 Cunningham 1996, S. 48–49. 314 Ogilvie 2006, S. 14, S. 133. 315 Ogilvie 2006, S. 35; Ogilvie schreibt Cluyt aber eine gewisse Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft zu, siehe: Ogivlie 2006, S. 55. 316 Egmond 2007, S. 159–183. 317 Bronnen I, (10. März 1594), S. 83 und vor allem Bronnen I, (10. März 1594), Bijl. no. 264, S. 294*–296*.

365 chend entschädigt werden.318 Das Kuratorium empfand die Ansprüche jedoch als ungerechtfertigt, wollte nichts für die Kräuter bezahlen und verwies erneut auf sein Recht, überzählige Pflanzen zu seinem eigenen Profit veräussern zu dürfen. Falls er aber innerhalb zweier Jahre verster- ben sollte, würde das Kuratorium seiner Witwe und hinterbliebenen Kin- dern eine „redelic vereeringe doen ten opsicht vande simplicia“. Für die Reisekoste zahlten sie ihm 100 Gulden.319 Doch Cluyt weigerte sich im Dezember 1594 den finanziellen Scha- den, den er durch den Eigentumswechsel seiner Pflanzen an die Univer- sität erlitt, hinzunehmen. Auch seien die 100 Gulden, die er für die Reise nach Leiden erhielt, zu wenig. Die Kuratoren waren jedoch nicht einsich- tig und meinten, 400 Gulden Lohn im Jahr, sowie eine kostenlose Woh- nung und die Privilegien, die er als Mitglied der Universität geniessen durfte, wären Entschädigung genug. Auch die Bezahlung der Reisespesen erachteten sie als ausreichend.320 Cluyt klagte weiter. Am 9. Februar 1595 erschien er persönlich zur Sitzung der Kuratoren und Bürgermeister und verschaffte seinen Ansprü- chen neuerdings Gehör. Mittlerweilen verfügte er über ein Dokument, das seine Forderungen unterstreichen sollte, nämlich den Index stirpium. Er schätzte den Wert seiner Pflanzen auf 1500 Gulden. Im überlieferten Sitzungsprotokoll der Streitigkeiten findet sich auch der Hinweis, dass Cluyt den Index stirpium auf Befehl des Kuratoriums erstellte. Es ist also durchaus denkbar, dass er nicht bloss wissenschaftliche und dokumen- tarische Aufgaben zu erfüllen hatte, sondern auch aufgrund des Rechts- streits um die Pflanzen angefertigt wurde. Die Antwort der Kuratoren fiel einfach aus: Sie wüssten nicht, weswegen sie ihm 400 Gulden Lohn zah- len sollten, falls die Pflanzen weiterhin in seinem Besitz verbleiben soll- ten. Sie forderten ihn aber trotzdem auf, einen angemessenen Betrag zu nennen.321 Am nächsten Tag bekundete er, die Pflanzen sollen weiterhin in seinem Eigentum verbleiben. Doch die Kuratoren und Bürgermeister antworteten, dass sie bereits der Universität gehörten und boten ihm 400 Gulden für seine überbrachten Pflanzen und meinten zudem, er solle sich an seinen Vertrag halten.322 Nach der Mittagspause besuchte Cluyt wiederum die Kuratoren. Er teilte mit, er habe sich mittlerweile mit seiner Frau beraten und akzeptiere den Vorschlag des Kuratoriums, für alle sei- ne „pretensien“ – es ist unklar, ob nur Pflanzen damit gemeint sind – 400

318 Witkam, DZ II, (7. Nov. 1594), No. 315, S. 8–9. 319 Witkam, DZ II, (7. Nov. 1594), No. 316, S. 9. 320 Witkam, DZ II, (12. Dez. 1594), No. 4280, S. 9–10, hier S. 9. 321 Witkam, DZ II, (9. Febr. 1595), No. 318, S. 11. 322 Witkam, DZ II, (10. Febr. 1595), No. 319a, S. 11–12.

366 Gulden zu erhalten.323 Der Streit um die Pflanzen war aber nur kurzzeitig gelöst. Denn nach Cluyts Tod im Jahr 1598 machte Cluyts Frau Grietje Willemsd. erneut An- sprüche geltend. Es war durchaus geläufig, dass Witwen von Professoren das Kuratorium um eine Rente oder anderes anfragten, was auch meist gutgeheissen wurde, beispielsweise im Fall des Bücherlegats von Hol- mannus. So auch im Falle von Cluyts Witwe. Das Kuratorium erklärte ihr zwar, dass Cluyt ausreichende finanzielle Entschädigung erhalten hatte, sprachen ihr aber dennoch ein wenig Geld zu. Das Kuratorium stellte sei- nerseits Forderungen und erklärte, die Hinterbliebene solle die Pflanzen- zwiebeln, welche Cluyt den Winter über mit nach Hause nahm, an Pauw aushändigen.324 Die Pflanzen Cluyts verblieben somit im Garten. Durch die Überführung in einen institutionellen Kontext wurden sie auch nach seinem Tod gepflegt, gebraucht und erforscht.

Einkäufe von Pflanzen Die Pflanzen des Gartens erhielten die Kuratoren meistens aber nicht im- mer mittels eines freien Austausches zwischen Wissenschaftlern oder bo- tanischen Gärten. Für die Briefwechsel der Präfekten des Gartens sprach das Kuratorium ausdrücklich Geld. Es mussten somit zwar keine Pflan- zen gekauft werden, dafür aber eine umfangreiche Korrespondenz getä- tigt werden, die ebenfalls Geld kostete. Zu Beginn wurden die Kosten für Briefe und Pakete noch einzeln ausbezahlt, später verfügten die Professo- ren über einen jährlichen Etat.325 Zudem konnten Pflanzen auch einfach auf Feldexpeditionen gesammelt werden, was der Professor mit seinen Studenten im Unterricht tat und wozu auch der Hortulanus verpflichtet wurde.326 Nur sehr selten mussten Pflanzen gekauft werden. (Aelius) Everar- dus Vorstius (1565–1624),327 der damalige Präfekt des Gartens, kaufte 1620 für 100 Gulden Pflanzen aus Portugal und Spanien, ohne vorher dem Ku- ratorium Bescheid zu geben, was – wie im Falle Heinsius – nicht mehr geschehen durfte.328 1648 unternahm der damalige Hortulanus eine Reise nach Brabant und Flandern, um „aldaer eenighe rare planten te beko-

323 Witkam, DZ II, (10. Febr. 1595), No. 319b, S. 12–13, hier S. 12; eine Abrechnung vom 15. Februar zeigt an, dass die 400 Gulden auch ausbezahlt wurden, siehe: Witkam, DZ II, (15. Febr. 1595), No. 346, S. 29–30. 324 AC1.20, (10. Aug. 1598), f. 50v–51v. 325 Bronnen I, (8. Mai 1615), Bijl. no. 468, S. 74*–75*; Bronnen II, (8. Febr. 1616), Bijl. no 470, S. 77*–78*; Arnoldus Seyen erhielt 1670 400 Gulden Lohn sowie 300 Gulden für seine Korrespondenz. 326 Bronnen II, (8. Febr. 1616), Bijl. no 470, S. 77*–78*. 327 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Sp. 1411–1412. 328 AC1.21. (8.–9. Mai 1620), 49r.

367 men". Die Kosten seiner Reise beliefen sich auf knapp über 89 Gulden.329 Wenige Jahre später bat der Präfekt des Gartens – damals war es der Sohn des zuvor erwähnten Everardus Vorstius, nämlich Adolphus Vorstius (1597–1663)330 – das Kuratorium um die Erlaubnis, nicht bloss einige selte- ne Pflanzen kaufen zu dürfen, sondern wünschte sich auch Bücher, die in der Galerie des Gartens verwahrt werden sollten. Die Bücher durfte er er- werben, die Pflanzen jedoch nicht.331 Dies lag wohl daran, dass nur selten Pflanzen gekauft werden mussten, sondern dank des freien Tausches mit anderen Naturhistorikern diese meist kostenlos erhältlich waren. Bücher hingegen mussten auf dem Markt beschafft werden, weswegen Rechnun- gen für Bücher deutlich häufiger in den Akten erwähnt werden, als solche für Pflanzen. Was hingegen gekauft wurde, waren Medikamente. Bereits 1592, als der Garten noch im Entstehen war, kaufte Pieter Pauw verschiedene Sim- plicia für nur 10 Gulden für den Unterricht ein.332 Teilweise benutzte man dafür dieselben Netzwerke, die auch für den Kauf orientalischer und sel- tener Bücher genutzt wurden.333 Und auch Hermannus und Hotton kauf- ten am gegen Ende des 17. Jahrhunderts Heilmittel ein.334

Der Garten als Treffpunkt privater Liebhaber Auch ausserhalb wissenschaftlicher Kreise wurden rare Pflanzen zu ei- nem geschätzten und teuren Gut. Anne Goldgar beschreibt, dass Gärten von Privatpersonen der Ort waren, wo die Liebhaber von Pflanzen zusam- mentrafen, um die neusten exotischen Gewächse studieren zu können. Diese Lokalitäten waren die Schauplätze des Austauschs von Gedanken und Pflanzen, was für die Bildung eines breiten Geschmacks und Liebha- berei an exotischen Gewächsen prägend war. Neben Naturforschern oder Apothekern sammelten nun auch einfache Bürger seltene Gewächse. In ihren Gärten übernahmen gezielt ausgewählte Pflanzen die Repräsen- tation von Wissen und Expertise. Es entstand zusehends ein Markt und Handel mit fremden Pflanzen, wobei besonderes Augenmerk den Zier- pflanzen zufiel.335 Der botanische Garten der Leidener Universität spielte bei diesem kulturellen Prägungsprozess sicherlich eine entscheidende Rolle, denn er war einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und zeigte die seltensten und

329 AC1.24, (17. Aug. 1648), f. 105v; AC1.24, (17. Nov. 1648), f. 124v. 330 Zu seiner Biographie, siehe: Van der Aa, Deel 19, S. 369–371. 331 AC1.25, (8. Juni 1654), f. 23r–v. 332 Eine Liste davon transkribiert in: Bronnen I, (14. Sept. 1592), Bijl. no. 199, S. 229*– 230*. 333 Bronnen II, (9. Febr. 1619), S. 84. 334 AC1.28, (8. Nov. 1681), f. 157v; AC1.29, (1. Febr. 1696), S. 3. 335 Goldgar 2007, hier vor allem S. 44–61.

368 rarsten Pflanzen, die nur dank den weltweiten Beziehungen der Profes- soren in Leiden zur Schau gestellt werden konnten. Schwerhoff erklärt, dass öffentliche Räume in der vormodernen Zeit für die Kommunikation und Interaktion von Menschen und die Formierung von Meinungen be- sonders relevant waren. Dabei spielte auch die Ausstattung der Räume eine entscheidende Rolle.336 Im Falle des botanischen Gartens waren alle genannten Faktoren gegeben. Es war wohl nicht zuletzt in diesem öffentlichen Garten, wo die Wert- schätzung exotischer Pflanzen geweckt wurde. Das Kuratorium wünsch- te sich mehrmals und explizit, dass auch Privatpersonen die exotischen Exponate gezeigt und erläutert werden sollten. So beispielsweise bei der Berufung Paludanus, als die Absicht gehegt wurde, seine private Natura- liensammlung nicht nur den Studenten, sondern ausdrücklich allen lief- hebbers zugänglich zu machen.337 Und auch der Begleittext zum Kupfer- stich von 1610 erklärt, dass der Garten neben den Gelehrten auch allen Liebhabern von Pflanzen offen stand. Durch die entstehende Passion für Pflanzen auch ausserhalb wis- senschaftlicher Kreise kam es vermehrt zu ökonomischen Interessen an Pflanzen. Clusius sah dies in seinem späten Leben mit Besorgnis. Er schrieb dazu, die Forschung, die zuvor von Grosszügigkeit und Liberali- tät bestimmt war, werde deshalb immer widerwärtiger.338 Clusius wurde immer häufiger gebeten, Tulpenknollen an Pflanzenliebhaber zu senden. Viele seiner Tulpen verschenkte er und fand es immer schwieriger, seinen eigenen Garten schön zu halten.339 Falls er die Pflanzen nicht freiwillig he- rausgab, wurden sie öfters gestohlen, selbst von seinem eigenen Gärtner. Die Sammelleidenschaft holländischer Pflanzenliebhaber spürte er ganz besonders. Auch in Leiden wurde er mehrfach beraubt, so dass er bis 1596 mehr als 100 Tulpen seines Privatgartens verlor und sich fast gezwungen sah, diesen aufzugeben. Eine Bekannte offerierte ihm zum Schutz seiner Pflanzen gar ein paar scharfe Hunde sowie einen Wachmann.340

Der Diebstahl von Pflanzen, insbesondere der Tulpe Auch im Leidener Universitätsgarten kam es aufgrund dieses erwachen- den Interesses an exotischen Gewächsen zu Diebstählen von Pflanzen. Die Pflanzen mussten – wie die Bücher der Bibliothek – geschützt wer- den. Per Lex hortorum war das Sammeln jeglicher Pflanzen, selbst von Samen, Früchten oder losen Zweigen, verboten. Für die ersten Jahre des

336 Schwerhoff 2011, S. 1–28. 337 Bronnen I, (12. Aug. 1591), No. 163, S. 180*–181*. 338 Nach der Übersetzung ins Englische in: Ogilvie 2006, S. 79. 339 Goldgar 2007, S. 23–36. 340 Goldgar 2007, S. 58–60.

369 botanischen Gartens der Universität sind keine Diebstähle überliefert, spätestens im Jahre 1601 musste aber gegen Langfinger vorgegangen wer- den. Denn verschiedene Pflanzen wurden gestohlen, ihrer Früchte oder Samen beraubt oder anderweitig beschädigt. Der Garten war zwar nur während des Unterrichts durch Pieter Pauw geöffnet, doch scheinbar konnte er die Besucher während seiner Lektionen nur ungenügend im Auge behalten. Es musste deswegen eine Aufsichtsperson eingestellt werden und Aert Pietersz. wurde zum ersten Hortulanus des Gartens bestimmt. Er war kein Unbekannter, denn er half bei der Errichtung des Gartens mit. Zudem wurde er von Pauw als Knecht der Anatomie beschäftigt. Da Zer- gliederungen jedoch nur im Winter stattfanden, der Unterricht im Garten hingegen nur während des Sommers vollzogen werden konnte, brach- te seine Doppelbeschäftigung keine Probleme mit sich.341 Neben dem Wunsch nach Überwachung der Besucher war es wohl auch schlichtweg unmöglich, dass Pauw neben seinen Aufgaben als ordentlicher Professor der Medizin täglich die Pflanzen des Gartens pflegen konnte. Cluyt hatte deutlich weniger Verpflichtungen als Pauw und war wohl täglich im Gar- ten anzutreffen. Pauw erklärte dem Kuratorium deshalb nach dem Tod eines famulus des Gartens und der Anatomie, es sei für ihn kaum mög- lich, all seinen Verpflichtungen ohne fremde Hilfe erfüllen zu können.342 Nach Aert Pietersz. Tod übernahm 1603 Claes Blankert diese Aufga- be und erhielt ebenfalls 36 Gulden im Jahr.343 1604 wurde Jan Jansz. van Aalst als Diener des botanischen Gartens angeworben. Er blieb auch nach Pauws Tod als Hortulanus beschäftigt.344 Ungemach drohte den Pflanzen später aber gerade durch ihre Beschützer, denn verschiedene Hortulani veräusserten Pflanzen wohl zu ihrem eigenen Profit. Trotz der Überwachung durch eine zweite Person wurden noch im- mer Pflanzen aus dem Garten gestohlen. Besonders betroffen waren die seltenen und beliebten Zwiebelgewächse wie die Tulpe. Clusius war ein grosser Verehrer dieser Pflanze und spielte eine entscheidende Rolle bei ihrer Verbreitung in Europa. Sie stoss auch auf das wachende Interesse privater Pflanzenliebhaber und wurde schon bald zur beliebtesten Blume in den Niederlanden. Die Tulpe repräsentierte nach Anne Goldgar „no- velty, unpredictability, excitement—a splash of the exotic east, a collec- tor’s item for the curious and the wealthy, rather than a simple and unpre- tentious flower in a jug on the kitchen table.“345 Tulpen wurden zu Beginn

341 AC1.20, (8./9. Aug. 1601), f. 96v. 342 AC1.20, (6.–8. Aug. 1604), f. 131v–132r. 343 AC1.20, (10. Febr. 1603), f. 115v. 344 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 386v. 345 Goldgar 2007, S. 2.

370 des 17. Jahrhunderts immer teurer und es entstand ein regelrechter Wirbel um die Pflanzen, der 1637 in einer geplatzten Spekulationsblase endete. Das Interesse an der Tulpe wurde vermutlich auch durch den botani- schen Garten in Leiden bei den Besuchern geweckt, denn Clusius und Pauw setzten die seltenen Blumen entlang der Hauptachse ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wie aus den Katalogen Pauws hervorgeht. Ein Besu- cher des Gartens erkannte den Wert der dortigen Pflanzen. Er beschreibt in seinem Reisebericht, dass dort viele fremde und exotische Pflanzen wuchsen. Angetan hatten es ihm unter anderem ein Feigenbaum aus In- dien, der über 100 Gulden wert sein sollte, sowie die vielen fremden Tul- pen, die im Garten verwahrt wurden.346 Pauw sah sich 1608 gezwungen, sie an einem sichereren Ort zu ver- wahren. Er überführte die Tulpen und andere wertvolle Pflanzen in acht Streifen, die er mittels eines Zauns schützte. Im Kupferstich von 1610 ist dieser Zaun dargestellt, wenn er auch nicht ganz der Realität folgt, war doch der Zaun in Wirklichkeit doppelt so gross und reichte bis zur Hauptachse des Gartens, wie aus dem Katalog von 1608 ersichtlich wird. Pauw vermerkte dort auf eingebundenen Seiten, die nachfolgend aufge- führten Pflanzen hätten heutzutage einen hohen Wert und er sähe sich deshalb gezwungen, sie zu umzäunen. Es folgt eine Liste verschiedener Zierpflanzen mit Angabe ihrer Stückzahl. Alleine 600 Tulpen werden er- wähnt. Der Wert dieser Pflanzen kann aus einer in Leiden im Jahre 1610 genannten Preisangabe ermessen werden. Tulpen waren demnach zwi- schen fünf und fünfzig Gulden wert.347 Die 600 Tulpen des Leidener Gar- tens waren somit zwischen 3000 und 30’000 Gulden wert.348 Verglichen mit Pauws Lohn, der 1607 von 700 auf 800 Gulden erhöht wurde,349 eine beträchtliche Summe. Es mag zudem nicht erstaunen, dass die verschie- denen Hortulani ihr Honorar durch den Verkauf von Pflanzen aufbesser- ten, verdienten sie doch bloss 36 Gulden im Jahr. Die Tulpen und anderen exotischen und wertvollen Pflanzen waren 1608 alle räumlich vereint. Es war aber nicht der Wunsch des Präfekten, der zu dieser ordentlichen Gruppierung führte, sondern ein Resultat durch die Diebstähle. Pflanzen des Gartens wurden somit auch aufgrund ihres Werts arrangiert. Anstelle der Tulpen, die zuvor die Hauptachse des Gartens zierten, wurden Rosen gepflanzt, damit die Schönheit des Gar- tens bestehen blieb. Es handelte sich dabei um die Sorte Rosa centifolia. Jacques de Gheyn II., der für Pauw und Clusius zahlreiche Kupferstiche

346 Wijhe 1926, S. 21. 347 Goldgar 2007, S. 197. 348 Auch in einem Gespräch schätzte Anne Goldgar der Wert der 600 Tulpen auf meh- rere tausend Gulden. 349 AC1.20, (8. Febr. 1607), f. 152r.

371 anfertigte, darunter das Portrait Clusius’ (Abb. 5.3) oder die Ansicht des Gartens (Abb. 5.13), zeichnete diese Rosensorte und andere Gewächse in ein aussergewöhnliches Album mit Pflanzenillustrationen.350 Es waren wohl die Rosen des Gartens, die ihm Modell standen.

Zaun und Mauer Natürlich wurden nicht nur die Tulpen eingegrenzt, sondern der gesamte Garten. Bereits sehr früh war er mittels eines hölzernen Zauns geschützt. Der Zimmermann Jan Pietersz. reparierte schon im Sommer 1592 den Zaun des entstehenden Gartens.351 Auch im Frühjahr 1593 wurde er aus- gebessert352 und ein Jahr später wurde „een hangelis aende tuynpoort“ angeschmiedet sowie die Schlösser ausgewechselt.353 Das Schloss scheint zwischen 5. Mai und 25. Juli 1595 erneut ausgewechselt worden zu sein.354 Doch war der Zaun nur eine provisorische Lösung, denn bereits 1587, als der Beschluss gefasst wurde, einen Garten zu errichten, sollte dieser durch eine Mauer geschützt werden, welche jedoch erst Jahre danach realisiert wurde.355 Im Berufungsdokument für Paludanus ist ebenfalls davon die Rede.356 Im November 1593 wurde der Maurer Adriaensz. be- auftragt, einen Plan für eine Ummauerung des Gartens zu erstellen.357 Vermutlich diente dieser Plan als Grundlage für die Bauausschreibung, welche das Kuratorium im April 1594 herausgab. Die Kuratoren wollten eine Mauer entlang des Vorhofes der Universität errichten sowie eine ent- lang des Wohnhauses des Pedells, also von Westen nach Osten, bis zur Südwestkante der Treppe und dem Eingang „vande bovenste leesplaet- sen.“358 Die Nordseite indes besass bereits eine Trennmauer zum Nach- bargrundstück.359 Die Mauer sollte ein Fundament von 3½ Fuss Tiefe besitzen, stufen- weise nach oben schlanker werden und zuoberst noch eine Tiefe von 1½ Fuss aufweisen. Als Abschluss war eine Rolllage vorgesehen. In den Ak- ten der Universität steht, daraus ergebe sich eine Mauer von 7 Fuss Höhe (ca. 2.2m) über der Erde, doch scheint dies nicht zu stimmen, denn laut Baubeschrieb resultiert eine Höhe von 9 Fuss (ca. 2.8m); letztere Grösse wäre wohl für einen ausreichenden Schutz notwendig gewesen. Die Mau-

350 Siehe dazu: Hopper 1991, S. 13–36, zudem Abbildung 7 und 8. 351 Witkam, DZ IV, (28. Mai 1593), No. 1029, S. 69. 352 Witkam, DZ IV, (8. Febr. 1594), No. 1063, S. 83. 353 Witkam, DZ IV, (25. Febr. 1595), No. 1104, S. 94. 354 Witkam, DZ IV, (9. Aug. 1595), No. 5026, S. 102–103, hier S. 103. 355 Witkam, DZ II, (13. Juli 1587), No. 332, S. 18–21, hier S. 19. 356 Bronnen I, Bijl. (12. Aug, 1591), No. 163, S. 180*–181*, hier S. 181*. 357 Witkam, DZ I, (12. Nov. 1593), No. 4234, S. 145–146, hier S. 145. 358 Folgendes nach dem Baubeschrieb des Kuratoriums, siehe: Witkam, DZ II, (15. April 1594), No. 4246, S. 23–26. 359 Witkam, DZ II, S. 24 (Anmerkungen).

372 er sollte ca. alle vier Meter über „pilaren“ verfügen. Zwei Portale sollen in die Mauer eingefügt und aufwändig gestaltet werden, mit Pilastern, Kapi- tellen, Architrav, Fries und Bekrönung. Die Mauer sollte zudem auf bei- den Seiten gleich schön ausgeführt werden und aus gutem, grossen und neuem Leidener Hartstein errichtet werden. Doch kam es noch immer nicht zum Bau der Mauer. So kam das Thema im März 1595 erneut auf den Tisch des Kuratoriums. Die beschriebenen Pläne wurden diskutiert und die Bürgermeister und Kuratoren besichtigten den Garten. Sie wollten die alten Pläne, die sie 1594 definierten, endlich in die Tat umzusetzen.360 Doch der Bau der Mauer war selbst zu Beginn des Winters 1595 noch nicht ausgeführt.361 Erst unter der Präfektur von Pauw besichtigten die Kuratoren 1599 den Garten und insbesondere die Mauer an dessen Südseite und be- schlossen, eine ebensolche auch an der Ostseite durch Nicolaes van Zeyst362 errichten zu lassen,363 was am 22. September 1599 gutgeheissen wurde.364 Der Bau der Mauer war nicht bloss eine praktische Notwendig- keit zum Schutze der Pflanzen, sondern auch ein zwingendes Motiv der Gartenarchitektur. Erst durch die Umfriedung der Anlage wurde sie näm- lich zu einem Hortus conclusus. Doch der Garten erfuhr auch Verluste, die keinesfalls vorhersehbar oder mittels eines einfachen Schlosses zu verhindern gewesen wären. Im Mai 1594 kam es zu Protesten von Studenten.365 Die Universität und ihre Einrichtungen wurde Ziel verschiedener Verwüstungen. Die Studenten schlugen die Redekanzeln der Professoren ein, zerstörten Bänke, brachen einen geschlossenen Schrank auf, demolierten das sich darin befindliche Skelett, welches im Medizinunterricht abgezeichnet wurde, und trieben weitere Schandtaten. Auch der Garten wurde arg in Mitleidenschaft ge- zogen: Die Revoltierenden warfen eine grosse Menge Steine über die Um- zäunung, „um so die Kräuter und Sprösslinge zu zerstören“.366 Die protes- tierenden Studenten wussten, dass die Pflanzen und der Garten wertvolle Güter der Universität waren, weswegen sie als Ziel der Anschläge ausge- sucht wurden.

360 Witkam, DZ IV, (24. Mai 1595), No. 1275, S. 195–196, hier S. 196. 361 Witkam, DZ II, (20. März 1595), No. 339, S. 27. 362 Erik de Jong nennt den Namen Jan Ottensz. van Zeyst, siehe: Jong 1991, S. 39. 363 AC1.20, (8. Febr. 1599), f. 59r. 364 AC1.20, (22. Sept. 1599), f. 62r–62v, hier f. 62v. 365 Zur Revolte siehe: Otterspeer 2000, S. 214. 366 Bronnen I, (22. Mai 1594), Bijl. no. 272, S. 300*–301*, hier S. 301*.

373 Der Katalog von Pieter Pauw

Der in Latein verfasste Katalog, den Pauw 1601 herausgeben liess, ist der erste gedruckte Katalog des botanischen Gartens in Leiden. 1601 erhielt der Autor eine Verehrung in Form eines 100 Gulden teuren Pokals aus Sil- ber. 367 Der Katalog trägt den Titel Hortus Publicus Academiæ Lugduno-Ba- tavæ, eius Ichnographia, descriptio, usus: addito quas habet stirpium nu- mero et nominibus.368 Wie der Titel sagt, befindet sich im Katalog neben einer schriftlichen Beschreibung des Gartens und seines Gebrauchs auch die besprochene Illustration desselben, zudem die Namen und die An- zahl aller Pflanzen. Der Katalog wurde im Oktavformat gedruckt und ist 19cm hoch. Gedruckt wurde er in der Universitätsdruckerei durch Fran- ciscus Raphelengius. Es kam zu zwei Neuauflagen, die alle weitgehend identisch sind. Die erste Neuauflage mit geringfügigen Verbesserungen wurde bereits 1603 herausgegeben, die zweite folgte 1617. Beide Neuauf- lagen druckte Jan Jacobsz. Paets, der Nachfolger von Raphelengius.369 Im Nationaal Herbarium Nederland in Leiden sind sechs Exemplare dieses Katalogs verwahrt. Sie zeigen die Bepflanzung des Gartens für die Jahre 1600, 1602, 1603, 1608, 1614 und 1628 auf. Der Katalog verfügte nämlich zu weiten Teilen über leere Raster, die der Einteilung der Gartenbeete ent- sprachen und in welchen die Pflanzen, die in einem bestimmten Jahr wuchsen, verzeichnet werden konnten. Auch Pauws Katalog ist deshalb ein Standortkatalog und ermöglicht, die Ordnung der Pflanzen detailliert zu analysieren. In seinem Vorwort an die Kuratoren erwähnt Pieter Pauw nicht bloss den botanischen Garten, sondern auch die anderen Einrichtungen, die für die Dienste der Wissenschaften in Leiden entstanden sind, nämlich die Bibliothek, dieser „Schrein der Musen, das Archiv des Genius“,370 und das anatomische Theater, das „nicht nur praktisch, sondern auch kost- spielig und prächtig" errichtet wurde.371 Es ist wohl die erste mediale Be- schreibung der neuen Wissensräume der Leidener Universität und mach- te diese durch die Publikation einem breiten, ja sogar internationalen Publikum bekannt.

367 AC1.20, (8./9. Febr. 1601), f. 85r; siehe zudem: Bronnen I, (8./9. Aug. 1601), S. 136; für eine spätere Neuauflage erhielt er ebenfalls eine Verehrung, siehe: AC1.20, (8.–10. Febr. 1617), f. 382v–383r. 368 Pauw 1601. 369 Er wurde 1602 zum Universitätsdrucker berufen, siehe: Bronnen I, (8. Sept. 1602), S. 142. 370 „Musarum sacrario, Ingeniorum archiuo“, Pauw 1601, Vorwort an die Kuratoren, un- paginiert. 371 „cui rei THEATRUM exstrui curastis, non solum aptissimum sed etiam sumptuo- sum, magnificum“, Pauw 1601, Vorwort an die Kuratoren, unpaginiert.

374 Unterteilung der Beete In der bersprochenen Zeichnung des Gartens von Jacques de Gheyn II. sind die Beete klar ersichtlich und werden durch einen weissen Rahmen eingefasst. Ihre Flächen werden grau dargestellt und die Beete werfen ei- nen Schatten. Durch diese Finessen werden sie klar als dreidimensionale Objekte verstanden. Doch sind keinerlei Pflanzen in ihnen eingezeichnet, denn diese eher schematische Darstellungsweise soll in erster Linie die Unterteilung des Gartens aufzeigen. Die vier Quadrate des Gartens wurden durch Pauw neu eingeteilt. Sie sind nun mit Buchstaben versehen und nicht mehr wie im Index stir- pium durchnummeriert. Pauw verzeichnete auf den folgenden Seiten dennoch die Quadra prima, secunda, tertia und quarta. Die Streifen des Gartens werden in diesem Katalog nicht mehr wie im Index stirpium als Area, sondern als Pulvillis bezeichnet. Pauw verwendet einen Ausdruck, der bereits in der Antike verwendet wurde und bei Marcus Terentius Var- ro (116–27 v.Chr.) so viel wie „Erdhügel“ bedeutet.372 Zwei Streifen sind fei- ner unterteilt als die restlichen. Sie zeigen die einzelnen Pflanzenbeete an – die sogenannten Areolae – und stehen stellvertretend für die anderen Streifen, die eine analoge Unterteilung erfuhren. Sie werden durchlau- fenden mit den Zahlen 1 bis 16, respektive 1 bis 24 nummeriert. Auch die Beetstreifen entlang der Mauer weisen eine Unterteilung auf, die durch kleine Striche – ähnlich einem Lineal – angezeigt wird. Der jeweils achte Strich wurde etwas länger gezeichnet und mit einer römischen Zahl ver- sehen, die der Einteilung folgend immer ein Vielfaches von acht darstellt. An den äusseren Seiten der Mauern sind zudem die Himmelsrichtungen angeschrieben, die gesamte Anlage ist dadurch erneut einfach zu veror- ten. Jedes einzelne Beet wird durch diese Angaben bestimmbar (Beispiel: Quadra prima, Pulvillis secundus, Areola tertia).

Raster für Pflanzennamen Im Anschluss an diesen Kupferstich folgen leere Raster, in welche jedes Jahr die aktuellen Pflanzennamen von Hand eingetragen werden konn- ten (Abb. 5.16). Diese Seiten sind als einzige durchgehend paginiert und bilden – zusammen mit der Zeichnung – das eigentliche Inventar des Gar- tens. Der Aufbau des Katalogs folgt somit dem Index stirpium: Zuerst wird der Grundriss und die Bestandteile des Gartens erklärt, danach seine Be- stückung mit Pflanzen tabellarisch dargestellt. Wir erinnern uns, dass das Kuratorium ausdrücklich jedes Jahr ein Inventar des Gartens wünschte. Der Clou dieses ersten gedruckten Katalogs ist, dass die Tabellen zwar vorgedruckt, aber leer sind. Sie können also jedes Jahr von neuem hand-

372 Gotheim 1926, Teil 1, Anmerkung 18a.

375 Abb. 5.16 schriftlich ausgefüllt werden. Auf diese Weise bleibt der Katalog flexibel Eines der ausgefüllten Ras- ter des Katalogs von Pieter und aktuell. So weisen die im Nationaal Herbarium Nederland liegenden Pauw, die der EInteilung Kataloge auch alle handschriftliche Ergänzungen auf den Titelseiten auf, und Gestalt der Streifen die anzeigen, welches Jahr in welchem Katalog abgehandelt wurde. entsprachen. Wie im Falle der Bibliothek veränderte sich nämlich auch die Samm- (Pieter Pauw, Hortus Publi- lung des Gartens stetig. Die Lösung im Falle der Bibliothek waren einge- cus Academiæ Lugduno-Ba- tavæ […], Leiden (ex offici- bundene und leere Seiten im Bücherkatalog, auf denen die Neuzugänge na Plantiniana, apud Chris- verzeichnet werden konnten. In einem Garten sind diese Probleme aber tophorum Raphelengium), 1601, mit Pflanzenbestand noch verschärft, da die Pflanzensammlung grösseren Veränderungen un- des Jahres 1600, S. 4) terliegt. Denn es wurden nicht nur immer neue Pflanzen in den Garten geschafft, sondern sie starben auch, vermehrten sich oder wurden ge- (Fotografie des Autors.) stohlen. Pauw erklärt in seinem Vorwort einen weiteren Nutzen des leeren Katalogs. Dieser könne nämlich auch von Studierenden verwendet wer- den, um während des Unterrichts die Pflanzennamen und ihre Eigen- schaften darin einzutragen. Im Kupferstich von Jacques de Gheyn II. sieht man im unteren Bildrand einen Besucher, der ein Buch in Händen hält.

376 Es wurde vermutet, dass es sich um den Katalog des Gartens handelt, der während des Besuchs entweder konsultiert oder ausgefüllt wird. In der frühen Neuzeit wurden auch andere Pflanzenbücher produziert, in die Studenten Notitzen schreiben konnten. So beinhaltete Caspar Bauhins (1560–1624) Catalogus plantarum circa Basileam sponte nascentium von 1622 neben Beschreibungen und Illustrationen von heimischen Pflanzen auch leere, eingebundene Seiten, auf denen Studierende ihre Notizen während der Feldforschung machen konnten, denn für solche Expedi- tionen wurde dieses Buch geschrieben.373 Gut möglich also, dass der im Kupferstich des Katalogs dargestellte Besucher mit Buch und Feder damit beschäftigt ist, die Pflanzennamen in die Raster zu schreiben. Bei aller Stringenz ist der Katalog aber nicht über alle Zweifel erha- ben, denn Pauw vergass eine wichtige Information anzugeben: Es fehlt die Nummerierung der einzelnen Streifen, weshalb nicht sicher gesagt werden kann, ob von links nach rechts oder von unten nach oben oder anders durchzuzählen ist. Durch die erwähnten und unterschiedlichen Pflanzen kann dennoch der Garten bis ins Detail rekonstruiert werden. Eine Titelseite zeigt an, welche Quadra auf den folgenden Seiten be- handelt wird und nennt ihre grundlegenden Eigenschaften. Für die Qua- dra prima beispielsweise wird erklärt, dass diese in der Zeichnung mit A bezeichnet wurde. Der Text geht hier also direkt auf die Zeichnung ein und nutzt diese als Erklärung. Zudem wird gesagt, das Haupt des Feldes weise nach Osten. Ferner, dass sie 16 Pulvillis beinhalte. Jedes davon sei 8 Fuss lang und 3 Fuss breit, was wie erwähnt nicht mit der Realität über- einstimmte. Diese Streife würden in Areolae eingeteilt, wobei jeder Strei- fen über 16 solcher Beete verfüge. Total finde man in Quadra prima so- mit 256 Areolae.374 Die folgende Doppelseite zeigt einen solchen Streifen an. Auf der linken Seite steht in der Kopfzeile „QVADRÆ PRIMÆ“, auf der rechten „PVLVILLVS PRIMVS“. Auf der linken Seite befindet sich darunter ein Raster, neben dessen Zeilen die Ziffern 1 bis 8 stehen, auf der rechten entsprechend die Ziffern 9 bis 16. Eine Doppelseite vermag somit genau einen Streifen zu behandeln, sofern dieser 16 einzelne Beete umfasst.375 Dieses Vorgehen ist direkt mit dem Index stirpium von 1594 ver- gleichbar. Ein kleiner aber entscheidender Unterschied kann dennoch ausgemacht werden: Die Nummerierung der Beete erfolgt in der Zeich- nung und im Garten kreisförmig, von oben nach unten auf der ersten Seite und von unten nach oben auf der folgenden. Das Raster hingegen

373 Ogilvie 2006, S. 73. 374 QUADRA PRIMA. Notata A. capite obuersa Orienti. Puluillis constat XVI. quorum singuli longi pedes viii. lati iii. cum dimidio: distincti sunt in Areolas seu spatia xvi. Adeò vt hæc Quadra Areolas contineat CCLVI., Pauw 1601, S. 1. 375 Quadra 1 und 4, resp. A und D.

377 führt von oben nach unten und auf der nächsten Seite ebenfalls von oben nach unten. Pulvillis 1 und 16 sowie 8 und 9 liegen in der Zeichnung – und entsprechend auch im Garten – nebeneinander an den Kopfenden der Streifen, im Katalog jedoch nicht. Deshalb wird im Gegensatz zum Kata- log von 1594 kein direktes Abbild eines Streifens gezeigt. Ein zusätzlicher Übersetzungsschritt muss gemacht werden, um die tatsächliche Disposi- tion der Pflanzen zu verstehen. Diese an sich unlogische Einteilung erfolgte vermutlich aufgrund der Streifen der Quadrae secundae und tertiae. Denn diese umfassen 24 Beete pro Streifen, wie wiederum auf den dazugehörigen Titelseiten er- klärt wird. Die Streifen können aufgrund ihrer erhöhten Anzahl an Beeten nicht auf zwei Seiten abgehandelt werden, sondern benötigen drei. Im Anschluss an die Streifen werden die Beete entlang der Mauer auf- gezeigt. Sie werden in vier Abschnitten den Himmelsrichtungen folgend behandelt. Das Raster basiert dabei wiederum auf jeweils acht Zeilen pro Seite. Entsprechend sind in der Zeichnung die umgebenden Streifen un- terteilt und jeweils das achte Beet mit einer römischen Ziffer versehen.376 Der Abschnitt Orientalis verfügt über ein gedrucktes Raster bis Ziffer 43. Doch Pauw ergänzte dieses handschriftlich auf 46 Einheiten, was mit der Einteilung der Zeichnung übereinstimmt. Hier kam es wohl zu ei- nem Übertragungsfehler zwischen dem Katalog und dem tatsächlichem Garten.377 Der Abschnitt zum südlichen Streifen enthält auf allen Seiten 8 Zellen, auf der letzten aber deren 9, was zu einem Total von 57 Beeten führt. Vermutlich war dieser Abschnitt in Realität genau um ein Beet län- ger als ein vielfaches von 8 Pulvillis, weswegen das letzte Raster 9 Zellen aufweist.378 Der Abschnitt Occidentalis weist 46 gedruckte Zellen auf, auf der letzten Seite also nur 6 statt 8. Pauw ergänzte die letzte Seite aber wie- derum auf insgesamt 48, was der Einteilung auf der Zeichnung entspricht, weswegen auch hier ein Druckfehler angenommen werden muss.379 Und der nördliche Streifen des Gartens erhält im Katalog 74 Zellen, wobei die letzten beiden Seiten jeweils über 9 Zellen verfügen, die restlichen über die gewohnten 8. Die letzte Seite jedoch scheint überflüssig zu sein, ein Fehler des Druckers, wie Pauw mittels eines Eintrags erklärt.380 Und in der Tat sind in der Zeichnung nur 64 Beete eingezeichnet.381

376 Es handelt sich bei den römischen Ziffern nicht um die Dimensionen des Gartens, wie manchmal fälschlicherweise beschrieben wurde, sondern um die Nummerie- rung der Beete. 377 Pauw 1601, S. 151. 378 Pauw 1601, S. 159. 379 Pauw 1601, S. 166. 380 „hæc spatia, errare Typographi superabundant.“, Pauw 1601, S. 176. 381 Total der Beete: (4x4x16) + (4x3x24) + (4x3x24) + (4x4x16) + (43+3) + 57 + (46+2) + (74-9) = 1304.

378 Dem mit den Rastern versehenen Seiten folgt ein 15 Seiten langer al- phabetischer Index aller Pflanzen. Da er gedruckt war, verfügte er nicht über die Flexibilität und Möglichkeit der Aktualisierung wie das hand- schriftlich auszufüllende Raster. Der Index erlaubte es dem Nutzer des Gartens – analog zu den alphabetischen Auflistungen aller Bücher in ei- nem Bibliothekskatalog – schnell zu ermitteln, welche Pflanzen im Garten vorhanden waren. Das Fehlen einer passenden Signatur, die den Namen mit einem Standort verband, verhinderte jedoch ein einfaches Auffinden. Der Nutzer musste entweder den gesamten Katalog durchschauen, oder im Garten den Präfekten um den Standort der gesuchten Pflanze fragen.

Angleichung von Katalog und Architektur Auffallend ist, dass das Raster und die Streifen des Gartens in Einheiten von jeweils acht Beeten unterteilt sind. Dies hatte einen entscheiden- den Vorteil: Das Raster des Kataloges konnte einheitlich durch das gan- ze Buch hinweg gedruckt und die zur Verfügung stehende Seitengrösse möglichst effizient genutzt werden. Die Einteilung der realen Streifen des Gartens erfolgte dadurch mit dem Katalog und seinen drucktechnischen Belangen im Hinterkopf, beinhalten die Streifen doch immer Beete mit einer Mehrzahl von acht. Vermutlich prägte hier die Übertragung des Sammlungsraums in ein papierenes Gegenstück massgeblich die gebaute Form, ja gestaltete sie sogar mit. Die Typografie des Katalogs bestimmte somit die Architektur des Gartens – und umgekehrt. Es war somit nicht bloss der Wunsch nach einer einheitlichen Beetgrösse, die zu dieser Ein- teilung führte. Dieses Vorgehen gleicht der Anfertigung der Standortkataloge von Bibliotheken, die neben dem Druckprozess ja ebenfalls die Möblierung des Raums berücksichtigen mussten. So nutzte der Nomenclator eben- falls diesen Sachverhalt, indem er jeweils ein Möbelstück und die dazu- gehörigen Bücher auf einer Lage druckte. Im Falle der Bodleiana war der Zusammenschluss noch enger. Denn dort dienten die Druckbögen auch als Inventarlisten, die an die Pulte gehängt wurden. In Bibliotheken wa- ren die Entstehungsprozesse von Katalog und Architektur deshalb eben- falls eng aneinander abgestimmt.

Vorbild Padua Die Idee, einen Gartenkatalog mit einem leeren Raster zu drucken, in das jährlich von Hand die aktuellen Bestände eingetragen werden konn- ten, war keine Erfindung Pieter Pauws. 1592 erschien in Padua ein nahe- zu identisch aufgebauter Katalog, der den dortigen botanischen Garten behandelte (Abb. 5.17). Es war der erste gedruckte Katalog eines botani- schen Gartens überhaupt. Da der dortige Garten der berühmteste sei-

379 ner Zeit war und viele Professoren der Medizinfakultät in Leiden ihn aus ihrer Studienzeit kannten – unter ihnen auch Pauw, der jedoch vor 1592 dort weilte –, ist es keine grosse Überraschung, dass der Katalog für den Leidener Pate stand. Die Gestaltung des italienischen Gartens wurde ja durch Paludanus als Vorbild für den Leidener Garten gewünscht. Der Ka- talog muss weit verbreitet gewesen sein, denn es war üblich, Exemplare an Freunde oder andere Universitäten zu schicken, um auf die versam- melten Pflanzen hinzuweisen und möglichen Austausch zu befördern.382 Zudem dienten sie – analog den Bibliothekskatalogen – auch der media- len Vermehrung des Rufs der Universität, wie verschiedene überlieferte Akten des Kuratoriums aufzeigen. Pieter Pauw besass nachweislich einen solchen Katalog, wie aus dem Auktionsinventar seiner Privatbibliothek hervorgeht.383 Augenfällig funktioniert die Überführung des Paduaner Gartens in tabellarische Form nicht so einfach und nachvollziehbar wie in Leiden. Die ornamentale Ausgestaltung der dortigen Anlage widersprach dem einfachen Raster des Katalogs. Auch entsprach die Anzahl der Rasterfel- der nicht der Anzahl der Beete. Porros Katalog verzeichnet für jedes Vier- tel des Gartens – spaldo genannt – sechzehn Seiten mit je neun Raster- feldern, bot also Raum für 144 Beete. Doch hatten die spaldi des Gartens unterschiedliche Einteilungen. So verfügte spaldo primo über 141 Beete, spaldo secondo über 125 Beete, spaldo tertio über 121 Beete und der spal- do quarto bloss über 117 Beete. Deswegen blieben viele Rasterfelder leer, beim letzten spaldo gar drei komplette Seiten.384 Solche Leerstellen treten im Leidener Katalog dank der engen Abstimmung von Katalog und Gar- ten nicht auf.

Raster als Ordnung für Pflanzen Sowohl die einzelnen Beetstreifen als auch der Katalog des Gartens wie- sen einfache Rasterfelder auf. Claudia Swan schreibt über solche Raster, dass sie eine bevorzugte Grundlage für die Einordnung und Klassifizie- rung der Pflanzenwelt darstellten. Sie erlaubten nämlich, eine Objektivie- rung zu erreichen, da sie „nonhierarchical and nonchronological“ sind.385

382 Cunnigham 1996, S. 48–49. 383 Anonym 1638, f.B3r. 384 Die Nummerierung der Beete sind in Zeichnungen der spaldi eingetragen. Die ge- machten Aussagen konnten nicht anhand eines ausgefüllten Katalogs überprüft werden. In Padua konnten nämlich nur unausgefüllte Exemplare gefunden werden. Weder die Bibliothek des botanischen Gartens, noch jene der Stadt verfügte über einen ausgefüllten Katalog. Der in der Abbildung gezeigte Katalog befindet sich in der Stadtbibliothek Paduas, doch ist nur eben diese Seite ausgefüllt, die restlichen Raster hingegen leer. 385 Swan 2005a, S. 108–113; zur Geschichte der Objektivität, siehe: Daston/Galison 2007.

380 In Bezug auf den Leidener Katalog und jenen des Gartens von Padua trifft Abb. 5.17 Keine Entsprechung zwi- dies jedoch nicht zu, denn sie sind grafisch abstrahierte Abbildungen rea- schen Beetform und ler Gärten. Im Falle des Paduaner Gartens ist es offensichtlich, dass einzel- Raster im Katalog des bota- ne Pflanzen in der Mitte eines der ornamentalen Parterre liegen konnten. nischen Gartens von Padua von 1592. In Leiden waren die einzelnen Beetstreifen – analog zu den Rastern des Katalogs – einheitlich eingeteilt, doch auch hier ergaben sich aufgrund (Porro, Girolamo (zuge- schrieben), L’Horto dei sem- ihrer räumlichen Lage unterschiedliche Qualitäten. Die Beete entlang der plici di Padoua, Venedig Hauptachsen des Gartens wurden mit speziellen Pflanzen wie der Tulpe (Girolamo Porro) 1591.) versehen. Und benachbarte Streifen ergänzten sich teilweise und standen (Scan aus: Peter Schiller, deswegen in Beziehung. Durch die Architektur des Gartens wurde die un- Der Botanische Garten in Padua. Astrologische Geo- hierarchischen und unchronologischen Eigenschaften der Raster zumin- graphie und Heilkräuter- dest teilweise negiert. In Padua kam es gegen Ende des 16. Jahrhunderts kunde zu Beginn der moder- zu Kritik an den aufwändig gestalteten Beetformen. Der damalige Präfekt, nen Botanik, Venedig (Cen- tro Tedesci di Studi Venezi- Giacomo Antonio Cortuso (1513–1603), präsentierte Pläne zur Umgestal- ani) 1987, S. 43.) tung der Beetformen. Denn die ornamentalen Beete verhinderten eine einfache und klar ersichtliche Ordnung der Pflanzen aufgrund wissen- schaftlicher Kriterien.386 In Leiden konnte dies erreicht werden.

386 Terwen-Dionisius 1994.

381 Rekonstruktion der Ordnung der Pflanzen

Der Katalog Pauws erlaubt nicht nur, den Garten hinsichtlich seiner Ar- chitektur, sondern auch hinsichtlich der räumlichen Verteilung der Pflan- zen zu rekonstruieren. Mit dem Umbau der Gartenanlage wurden auch die Gewächse neu angelegt. Die frühere Ordnung der Pflanzen, die wie besprochen ein direktes Resultat der verschiedenen am Bau beteiligten Personen war, wurde verbessert. Die alphabetische Ordnung von Pflan- zen kam im Zuge der Neuorganisation des Gartens nicht mehr zur An- wendung, wohl aus den besprochenen Gründen. Der Begleittext zum Kupferstich von 1610 erklärt, der Garten sei „in schoner / zierlicher und bequemer ordnung / auffgerichtet worden.“ Doch nach welchen Kriterien wurden nun die Pflanzen in eine räumliche Ordnung überführt? Generell kann gesagt werden, dass der Garten noch immer nicht über eine einzige durchgehende Ordnung ver- fügte, sondern dass verschiedene Ansätze parallel zum Einsatz kamen. Die Verteilung der Pflanzen war zumindest teilweise abhängig von der Architektur des Gartens. Die Disposition der Pflanzen folgte oftmals den Heilkräften der Pflanzen. Die Gewächse wurden aber auch nach morpho- logischen oder anderen empirisch nachvollziehbaren, äusseren Erschei- nungsformen der Pflanzen verteilt. Zudem spielte nach wie vor auch die Schönheit besonders exotischer und farbenfroher Gewächse eine ent- scheidende Rolle bei der Bestückung der Beete. Der Garten war somit – analog zu 1594 – zugleich Medizingarten, botanischer Garten und Zier- garten.

Innere und äussere Kriterien Wie die Bücher einer Bibliothek konnten die Pflanzen auf unterschiedli- che Weisen kategorisiert werden. So spielten auch hier äussere und inne- re Kriterien eine Rolle. Als innere Kriterien kann ihre Verwendbarkeit für den Menschen verstanden werden. Die Kultivierung von Pflanzen hing stark von diesem Kriterium ab, Gemüse-, Kräuter- oder Obstgärten zeu- gen davon. Plinius d.Ä. folgte dieser „antropozentrischen Organisation der Pflanzenwelt“.387 Bereits Dioskurides beschrieb die Materia medica in seinem gleichnamigen Buch, eine weiterführende Klassifikation der Pflanzenwelt unternahm er nicht.388 Und auch die Pflanzen der Leidener Gartens wurden zumindest teilweise nach solchen Kriterien geordnet. Denn er diente als Heilgarten, dessen Gewächse als Grundstoffe der Me- dizin verstanden wurden.

387 Arber 1970, S. 165–166. 388 Arber 1970, S. 164.

382 Als Mischform zwischen inneren und äusseren Aspekten kann die Signaturenlehre verstanden werden, in welcher ein Pflanzenteil, der for- mal einem Körperteil gleicht, direkten Einfluss darauf ausüben sollte. So wurde angenommen, dass beispielsweise eine Walnuss gut für das Ge- hirn sei. Diese Lehre stand aber in der frühen Neuzeit unter Kritik. Dodo- naeus erklärte:

„Die Lehre der Signaturen von Pflanzen hat nicht die Autorität eines einzigen, wertgeschätzten, antiken Autors erhalten: Zudem ist sie so austauschbar und unsicher, dass sie, soweit es die Wissenschaft oder die Lehre betrifft, einer jeden Akzeptanz absolut unwürdig ist.“389

Auch Clusius war gegenüber dieser Lehre kritisch eingestellt. Sie konnte deswegen nicht innerhalb der Beete des Leidener Gartens aufgefunden werden – zumindest nicht im Zuge der vorliegenden Arbeit. Die äusseren Formen der verschiedenen Gewächse konnten eben- falls zu einer Klassifikation führen. Sie waren deutlich unterschiedlicher als die Träger der Schriften der Bibliothek. Denn die Bücher einer Bib- liothek glichen sich weitgehend, meist waren es einfache Kodizes, die sich nur aufgrund ihrer Grössen unterschieden. Doch Pflanzen bilden die unterschiedlichsten Formen aus. So gliederte Theophrastus die Pflan- zenwelt aufgrund ihrer Grösse und Wuchsform in Bäume, Sträucher, Bü- sche und Kräuter ein, erstellte zudem Unterkategorien wie wild oder kul- tiviert, mit oder ohne Blütenstände, laubabwerfende oder immergrüne Gewächse.390 Die Autoren der frühen Neuzeit mit ihrem Interesse an der Morphologie von Pflanzen griffen teilweise auf dieses Ordnungskriterium zurück. Denn im 16. Jahrhundert rückten vor allem die äusseren Formen der Pflanzen in den Fokus der Forschung. Pflanzen wurden unabhängig von ihrer Wirkung und Nutzbarkeit hin analysiert. Die empirische Unter- suchung einzelner Pflanzen und der Vergleich einzelner Aspekte wie ihre Blattform, die Morphologie ihrer Blüten oder die Ausbildung von Wur- zeln führte im Laufe der Zeit zur Herausbildung von Pflanzengattungen und zur Systematisierung der Pflanzenwelt. Im Zuge dessen entstand das Fachgebiet der Botanik. Im Leidener Garten wurden Pflanzen des öfteren nach solchen mor- phologischen Kriterien räumlich angeordnet. Die nachbarschaftlichen Beziehungen der Pflanzen innerhalb eines Gartens waren noch entschei- dender als im Falle der Bücher der Bibliothek, da die Pflanzenper se ja keinerlei Aussage zu ihrer Zugehörigkeit machen. Erst durch die genaue

389 Nach der englischen Übersetzung in: Arber 1970, S. 255. 390 Arber 1970, S. 163.

383 Abb. 5.18 Titelblatt des Cruydt-Boeck, das von Dodonaeus ge- schrieben und von Clusius ergänzt wurde. Die gezeigte Kopie stamm- te aus dem Nachlass von Isaac Vossius, worauf das eingeklebte Exlibris ver- weist.

(Rembertus Dodonaeus, Cruydt-Boeck: met bi- ivoegsels achter elck Capit- tel, wt verscheyden Cruydt- beschrijvers : item in’t laets- te een Beschrijvinge vande Indiaensche Gewassen mee- st getrocken wt de Schriften van Carolus Clusius, Leiden (Officina Plantiniana) 1608, Titelblatt.)

(Download Universitäts- bibliothek Leiden, Digital Special Collections.)

Analyse der einzelnen Pflanzenteile konnten Klassen ausgemacht werden und die einzelnen Spezies zu Gattungen zusammengefasst werden.391 Die Pflanzen als lebende Geschöpfe stellten zudem weitere Anfor- derungen an ihren Standort. Kletterpflanzen bedurften einer Struktur, an

391 Grundlegend zum Thema: Ogilvie 2006.

384 der sie emporwachsen konnten. Exotische Spezies, die den Winter nicht im Freien überstehen konnten, mussten transportabel sein, um bei Käl- te im Gewächshaus aufgestellt werden zu können. Die Pflanzen und ihr Wuchs stellten also direkte Anforderungen an ihre Unterbringung. Die Architektur des Gartens konnte diesen Aspekten an das natürliche Hab- itat dienlich sein, weswegen die verschiedenen Pflanzen auch aufgrund der Architektur des Gartens verteilt wurden. In Leiden wurden aber keine besonderen Anlagen, die den natürlichen Habitaten der Pflanzen ent- sprachen, baulich umgesetzt, wie es beispielsweise in Montpellier der Fall war.

Das Cruydt-Boeck von Dodonaeus Die Frage der Organisation der Flora stellte sich natürlich auch den Au- toren von Pflanzenbüchern. Für die Untersuchung der räumlichen An- ordnung der Pflanzen im Leidener Garten wurde ein zeitgenössisches Kräuterbuch verwendet, da der Katalog über die Kriterien der Verteilung keinerlei Auskunft gibt, sondern – im Gegensatz zu den Katalogen der Bibliothek, wo die Bücher entsprechend den Wissensgebieten geordnet sind – nur die Namen der Pflanzen sowie ihre Standorte auflistet. Als Quelle zur folgenden Analyse der einzelnen Pflanzen und ihren räumlichen sowie klassifikatorischen Beziehungen diente das Cruydt- Boeck, das von Rembertus Dodonaues (1516/17–1585) verfasst wurde und 1554 erstmals im Druck erschien. Es war eines der einflussreichsten Kräu- terbücher des 16. Jahrhunderts, vor allem in den Niederlanden, woher Dodonaeus stammte. Der Erstausgabe folgten Neuauflagen und Überset- zungen. Carolus Clusius übersetzte es bereits im Jahre 1557 ins Franzö- sische.392 Dodonaeus war mit Carolus Clusius bereits vor der gemeinsa- men Zeit am Hof Maximilians II. in Wien befreundet. Er war wie Clusius Professor in Leiden und verbrachte seine letzten Lebensjahre zwischen 1582 und 1585 als Professor der Medizin an der dortigen Universität. Nicht zuletzt besass Pieter Pauw eine Ausgabe des Cruydt-Boeck von 1583, das er mit zahlreichen Notizen versah.393 Die Ausgabe des Cruydt-Boecks von 1608 ist besonders interessant. Sie wurde durch Franciscus Raphelengius, Drucker der Leidener Univer- sität, herausgegeben. Zu jedem Kapitel sind die neusten Erkenntnisse aus der Pflanzenforschung in Anmerkungen beifügt, die wohl mehrheitlich aus der Feder von Carolus Clusius stammten. Zudem ergänzte Clusius die Publikation mit einer Abhandlung über exotische Gewächse, die Dodo-

392 Zu Pflanzenbüchern in den Niederlanden (mit besonderem Augenmerk auf Plantin, Dodonaeus, Clusius und Lobelius), siehe: Arber 1970, S. 79–92. 393 "In hoc herbario plurima ad marginem asscripsit Petrus Paaw Medicinæ anatomiæ, ac Botanices in hac Academie dum viveret Professor", siehe: Anonym 1638, f. Ar.

385 naeus noch gänzlich unbekannt waren. Beide Autoren zieren deswegen das Titelblatt, das Willem Isaacsz. van Swanenburg gestochen hatte, der auch den Kupferstich von 1610 anfertigte (Abb. 5.18). Aus all diesen Grün- den darf angenommen werden, dass Clusius und die anderen Leidener Professoren dieses Buch als Autorität respektierten und es deswegen für die Untersuchung der Systematik des botanischen Gartens eine gute Quelle ist. Des Weiteren sind alle Pflanzennamen, die im Katalog des Gartens aufgeführt sind, auch im Kräuterbuch auffindbar, was bei anderen Pflan- zenbüchern nicht immer der Fall ist, da die Nomenklatur noch keinen allgemein gültigen Regeln folgte oder vereinheitlicht war. Dies geschah erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts durch Carl von Linnée (1707–1778).394 Es ist nicht das Ziel der folgenden Analyse, die Pflanzen zu identifizieren und ihren heutigen Namen zu nennen.395 Vielmehr sollen sie hinsichtlich der Anfangs des 17. Jahrhunderts herrschenden und durch Clusius und Pauw berücksichtigten Kriterien untersucht werden, um mögliche Ord- nungkriterien ausfindig zu machen. Die meisten untersuchten Pflanzen aus dem Katalog konnten mit- tels dieses Kräuterbuchs qualifiziert werden. Die Publikation beinhaltet Informationen zu ihrem Aussehen, ihrem Namen, den Plätzen, an denen sie wachsen, den Zeiten, in denen sie zu setzen sind oder in denen sie blühen, ihrer Qualität nach Galen sowie zu ihren Heilkräften und Ver- wendungszwecken. Dies erlaubte es, mögliche Kriterien der Pflanzendis- position des Gartens zu ergründen.

Disposition aufgrund der Architektur Auch wenn der Garten einen modularen und einheitlichen Aufbau besass, so verfügte er dennoch über verschiedene Bereiche, die unterschiedliche Qualitäten aufwiesen. Im Gegensatz zu einer gedachten Idealordnung, wie sie in einem Kräuterbuch formuliert werden kann, spielte im Falle des botanischen Gartens auch dessen Gestaltung eine entscheidende Rolle bei der Disposition der Pflanzen – analog zur Aufstellung von Büchern innerhalb einer Bibliothek. Kletterpflanzen wurden an Orten angebracht, wo sie emporklettern und die sie schmücken konnten. Die Torbauten zu den einzelnen Quad- raten des Gartens zierten Kletterpflanzen der Gattung Clematis und im Falle des mittleren und grösseren Pavillons verschiedene Arten der Sorte

394 Zu dieser Problematik, siehe: Pavord 2005. 395 Im Zuge der letzten Rekonstruktion des ersten botanischen Gartens der Leidener Universität wurde eine Liste erstellt, die den alten Pflanzennamen ihr aktuelles Pen- dant gegenüberstellt. Die Liste ist nicht publiziert, doch durfte ich eine Kopie davon erstellen. Dafür danke ich Gerda van Uffelen; siehe zudem: Tjon Sie Fat 1991.

386 Bryonia. Das Eingangsportal des Gartens war mit Efeu besetzt. Im Kup- ferstich von 1601 und von 1610 werden die Pflanzen zumindest teilweise gezeigt. Längs der Mauer wurden – neben anderen Pflanzen – kleinere Bäu- me, Büsche und Sträucher gesetzt. Es ist offensichtlich, dass die grösseren Pflanzen entlang der Mauer zu stehen kamen, damit sie nicht die Sicht auf weitere Exemplare behinderten, wie es in den innenliegenden Fel- dern der Fall gewesen wäre. Zudem wurde die Mauer auch genutzt, um Schlingpflanzen und Winden daran emporklettern zu lassen. So wech- selten sich im Osten Buchsbäume mit Wachholdern ab, weiter südlich wuchsen Holunder- und Johannissträucher. Vor diese grösseren Gewäch- se wurden in den Beetstreifen entlang der Mauer meist besonders schö- ne und blühende Pflanzen gesetzt, der gesamte Garten somit durch eine Blütenpracht eingerahmt. Vor der nördlichen Mauer prangten Narzissen, Lilien und andere Zierblumen. Kletterpflanzen waren dort ebenfalls zu finden. Die östliche Mauer war nahezu vollständig mit Rosen versehen, vor welchen verschiedene Lilien blühten. Im Kupferstich des Katalogs wird ein hölzernes Gerüst gezeigt, das wohl dem Wuchs der Pflanzen dienlich war. Auch Weinreben, Preiselbeeren, Pflaumenbäume oder Nüs- se tragende Sträucher wuchsen dort, zudem exotische Gewächse wie die Sonnenblume, ein indischer Feigenbaum (Ficus indica) oder die Kartoffel (Papas bulbus). Der Beetstreifen entlang der neuen Galerie war noch nicht mit Pflan- zen versehen. Und auch im Katalog von 1602 bleiben die dazugehörigen Felder leer. Noch 1603 wuchsen nur wenige Pflanzen in diesem Streifen. Möglicherweise liegt die schwache Besetzung dieses Streifens an der Lage. Im Süden gelegen, hatten die dortigen Pflanzen einen sehr schatti- gen Platz. Zudem konnten hier nur kleinere Pflanzen gesetzt werden, um die Fenster der Galerie frei zu halten. Der Eingang zur Galerie wurde mit zwei Kletterpflanzen der Sorte Clematis daphnoides eingerahmt, dersel- ben Sorte, die auch die Torbauten schmückte, wodurch die innige Verbin- dung zwischen Garten und Ambulacrum nochmals unterstrichen wurde.

Die Aufteilung entsprechend der vier Quadranten Die architektonische Gliederungen früher botanischer Gärten in vier Hauptteile führte zur Annahme, dass auch die Pflanzen in vier Hauptka- tegorien geordnet wurden, dass die architektonische Aufteilung des Gar- tens zu einer wissenschaftlichen Gliederung geführt hätte. Verschiedene Thesen wurden genannt. So wären die Pflanzen beispielsweise entspre- chend ihrer geographischen Herkunft aus den vier damals bekannten Kontinenten gepflanzt worden, was in Realität aber wohl meist nur eine

387 Idee blieb.396 Selbst ein Bezug zu kosmologischen Vorstellungen wurde angenommen. Zudem soll die Verteilung der Pflanzen in vier Bereiche mit der Viersäftelehre Galens übereinstimmen.397 In der Tat gibt es auch in Leiden Hinweise, die eine solche Klassifi- zierung der Pflanzen nahelegen. So war der Garten direkt der Medizin un- terstellt, einem Fachgebiet, wo Galen nach wie vor eine wichtige Autorität darstellte,398 was eine Einteilung nach seiner Viersäftelehre nahelegt. Auf dem Kupferstich von 1610 sind zudem zwei Putti dargestellt, die Wind bla- sen und für die Himmelsrichtungen stehen, was auch in einer Windrose in der Mitte des Gartens gezeigt wird.399 Doch sind diese Hinweise wohl eher zeichenhaft zu verstehen und nicht direkt auf die Disposition der Pflanzen zu übertragen. Sie symbolisieren die geographische Herkunft oder die Heilkräfte der Pflanzen, nicht aber ihre tatsächliche Disposition. Denn untersuchen wir die Verteilung der Pflanzen aufgrund des Katalogs, so kann kein solch einfaches Ordnungsschema gefunden werden, dass direkt in Bezug zu den vier Teilen des Gartens steht. Zudem wäre es un- möglich gewesen, die Pflanzen gleichzeitig nach den vier Kontinenten, der Viersäftelehre und nach kosmologischen Vorstellungen zu ordnen.

Pflanzensystematik innerhalb der Streifen Vielmehr wurden die einzelnen Streifen anhand verschiedener Ord- nungsprinzipien mit Pflanzen versehen. Pauw deutet in seinem Vorwort an, dass pro Lektion die Pflanzen eines Streifens diskutiert wurden, um dann die nächsten zu besprechen: „à Puluillo in Puluillù, ab Area ad Are- am à nobis ducantur“.400 Die Pflanzen innerhalb eines Streifens mussten deswegen eine geschlossene und nachvollziehbare Systematik aufwei- sen, damit an ihnen ein Sachverhalt der Pflanzenkunde erörtert werden konnte. Die Lehre vollzog sich tatsächlich so, selbst unter der Präfektur von Pauws Nachfolger Adolphus Vorstius, denn ein englischer Besucher des Gartens, Sir William Brereton, erklärt in seinem Reisebericht:

„Herein was I this night, June 6 [1634], when Adolphus Vorstius, Doc- tor of physic, read his lecture in this garden, which he is to perform twice a-week. His manner is to take a whole bed, four yards long and one broad, and to discourse of the nature and quality of every herb

396 Prest 1988, S. 46. 397 Siehe dazu: Tongiorgi Tomasi 2005, S. 93. Verteilung nach den vier Kontinenten auch in: Rioux 1994, S. 17; zur Verteilung astro-botanischer Überlegungen: Schiller 1987. 398 Siehe dazu: Otterspeer 2000, S. 349–350. 399 Ob diese tatsächlich gebaut war, oder nur in der Zeichnung Woudanus auftauchte, ist ungewiss. In der realitätsnäheren Zeichnung von De Gheyn fehlt sie. 400 Pauw 1601, unpaginierte Seite.

388 and plant growing therein, which he points out with his staff when he begins to speak thereof.“401

Aus einer Akte des Kuratoriums geht hervor, was genau bei solchen Lekti- onen, die täglich stattfanden, doziert werden sollte, nämlich der Pflanzen „deugden, cragten, hoedanigheid, ende gesteltenisse van haare bladeren, zaden, wortelen ende voorts alle ’t geene van nooden zoude zyn om te ko- omen tot volcoome kennisse der voorseide simplicien“,402 also ihre Tugen- den, Kräfte und ihre Beschaffenheit, zudem die Gestalt ihrer Blätter, Sa- men, Wurzeln und alles weitere, was von Nöten sei, um ein vollständiges Verständnis der Heilkräuter zu erhalten. Es ist deswegen anzunehmen, dass in den einzelnen Streifen jeweils Pflanzen wuchsen, die vergleichba- re Aspekte aufwiesen. In vielen Fällen kann tatsächlich eine solche Logik ausgemacht wer- den, in anderen jedoch nicht. Die Frage bleibt offen, ob tatsächlich jeder Streifen über eine stringente Ordnung verfügte, oder ob es auch Streifen gab, in denen die Pflanzen nach rein pragmatischen Aspekten gesetzt wurden. Denn sicherlich gab es auch doppelte Pflanzen und solche, die sich einer Klassifikation entzogen. Zudem gab es auch Beete und Streifen, die frei oder übrig blieben und in welche überzählige Pflanzen gesetzt wurden. Manchmal verstarben im Laufe der Zeit einige Pflanzen und hin- terliessen Leerstellen. Gleichzeitig kamen jedoch immer neue Pflanzen in den Garten. Mittels ausgewählter Beispiele sollen einige der gefunde- nen Ordnungsmöglichkeiten diskutiert werden.

Pflanzen, die Wasser und Steine lösen (Quadra 2/9) Der Garten der Leidener Universität war in erster Linie ein Garten der Medizin, in dem Heilkräuter wuchsen und mit angehenden Ärzten be- sprochen wurden. Entsprechend nahmen einige Streifen Pflanzen mit spezifischen Heilkräften auf. Im neunten Streifen des zweiten Felds wuchsen neben einer Acacia, Papaver und einer Clematica, die scheinbar nicht zu den folgenden passen, auch Pflanzen der Gattungen Saxifragia, Nasturthium, Petasites, Fumaria, Meium, Lithospermum, Hepatorium und Anetum. All diese Gewächse werden in unterschiedlichen Kapiteln des Kräuterbuchs beschrieben. Ihre Zusammengehörigkeit ist deswegen nicht offensichtlich, doch gab es eine gemeinsame Heilkraft: Die Pflanzen förderten das Wasserlösen. Sie besassen – bis auf die Fumaria – dieselbe Qualität nach Galen; sie waren warm und trocken. Viele von ihnen rei- nigten zudem die Leber, Nieren, Milz oder Galle. Eine besondere Aufga-

401 Brereton 1844, S. 40. 402 AC1.20, (8./9. Nov. 1600), f. 81r–81v, hier S. 81r.

389 be übernahmen die Sorten Saxifragia, Nasturthium, Meium und Lithos- permum: Sie alle konnten Steine der Niere und Blase lösen. Die Pflanze Saxifragia erhielt dank dieser Kraft auch ihren Namen, wie Dodonaeus erklärt.403 Nicht nur innerhalb des Gartens wurde diese Krankheit diskutiert, sondern auch im anatomischen Theater. Die dortige Sammlung an me- dizinischen Präparaten zeigte mehrere Blasen- und Gallensteine. Ein be- sonderes Exemplar stellte der Nierenstein des berühmten gelehrten Isaac Casaubon dar. Den Stein erhielt Pauw durch einen ehemaligen Studen- ten, der ihn aus London schickte.404 Casaubon erfuhr aber nicht nur im anatomischen Theater eine – wenn auch recht eigenartige – Wertschät- zung, sondern auch in der Bibliothek, wo ein Portrait von ihm hing.405 Unter der Präfektur von Otto Heurnius fanden weitere Steine ihren Weg in die anatomische Sammlung, denn er stellte „seven steenen, een ieder van de groote en figure van een Walsche platte noote, asgrau van coleur wegende altemael even svaer […]“ aus, die „sijn uyt de Blase ghesneden van den voortreffeliken en wijtberoembden D. Joannes Heurnius eerste Professor Medicinae in de Universiteit alhier“.406 Es waren also sieben Bla- sensteine seines verstorbenen Vaters, die er zeigte. Doch war Johannes Heurnius nicht der einzige Leidener Professor, der an Nierensteinen litt: Auch Carolus Clusius war davon betroffen. Im Garten fand er die passen- de Medizin. Pauw, der sowohl Anatomie als auch Kräuterkunde lehrte, war es somit möglich, die Krankheit umfangreich zu besprechen. Im Sommer konnte er im Garten die Heilmittel erläutern, im Winter im anatomischen Theater das Krankheitsbild erklären und Nierensteine herausschneiden oder in der Sammlung den Studenten zeigen. Eines der Bücher seiner Pri- vatbibliothek behandelte dieses Krankheitsbild.407 Es war wohl nicht zu- letzt dieses besondere – vielleicht sogar subjektive – Forschungsinteresse an der Krankheit, die zur Bestückung des Streifens führte und eine Pflan- zenordnung etablierte, die im Buch von Dodonaeus so nicht zu finden ist.

403 „[…] dese cruyden doen wateren / ende verwecken de pisse seer crachtichlijck / ende genesen de droppelpisse / en verstoptheyt der nieren ende blasen: Sij ontdoen ende breken de steenen die in de blase oft nieren vast aen een zijn / ende drijven die met cleyne stuckskens af: daer van hebben sij den naem Saxifragia, dat is Steenbreke gecregen.“ Dodonaeus 1608, S. 547a. 404 AC1.228, Inventaris vande Rariteyten opde Anatomie en inde twee galleryen van des Universiteyts Kruythoff, ohne Paginierung. 405 Stichting Historische Commissie voor de Leidse Universiteit 1973, Kat. No. 44. 406 Barge 1934, S. 41. 407 Anonym 1638, f. A3v.

390 Tödliche Pflanzen (Quadra 4/7) In einem Abschnitt seines Kräuterbuches behandelt Dodonaeus alle Pflanzen, die schädlich oder gar tödlich für den Menschen sind.408 Im siebten Streifen des vierten Feldes wurden solche Pflanzen nebeneinan- der angepflanzt. Das Kriterium für die Disposition war also die Giftigkeit der Pflanzen. In diesem Streifen befanden sich verschiedene Sorten der Gattung Aconitum und Napellus sowie eine Pflanze der Sorte Anthora. Sie alle bespricht Dodonaeus im 14. Buch seines Werks und zwar in den Ka- piteln 8, 9, 10, 11, 12 und 14.409 Es gab also eine enge Verbindung zwischen Kräuterbuch und Garten, da beide denselben Ordnungskriterien folgten. Eine weitere giftige Pflanze wurde im 13. Kapitel des Buchs besprochen, die sogenannte Thora, die aber noch lange im Garten fehlte. Erst im Kata- log von 1614 wird sie aufgeführt und fand – als Ergänzung der Sammlung giftiger Pflanzen im gleichen Streifen ihren Platz.410 Die Sortierung der tödlichen Pflanzen in diesem Streifen blieb deshalb bis mindestens 1614 bestehen. Zudem fand man eine weitere Sorte, nämlich eine Pflanze Namens Christophoriana. Diese wurde im achten Buch des Cruydt-Boecks bespro- chen, welches Wind- und Schlingpflanzen beschreibt.411 Doch hatte sie eine entscheidende Ähnlichkeit mit den anderen Pflanzen des Streifens. Dodonaeus erklärt, sie könne aufgrund ihrer Giftigkeit auch zur Gattung der „Wolfswortel“ oder Aconitum gezählt werden, „om dattet soo quaden ende dootelijcken cruyt is.“412 Er schreibt zudem, dass sie auch von man- chen Costus niger oder Aconitum bacciferum genannt werde und Pauw bezeichnet sie im Katalog mit einem weiteren Namen, Aconitum nigra.413 In den Anmerkungen des Cruydt-Boecks wurde hinzugefügt, ihre Blätter seien „seer doorsneden / die van de Geele Wolfswortel [Aconi- tum] gelyck / maer gekerft / langer / hangende ende doncker groen / eentchsins den Spondyliani oft Meesterwortel gelijckende.“414 Es wird somit auf morphologische Ähnlichkeiten zwischen der Christophoriana und der Aconitum aufmerksam gemacht, doch scheint ihre Giftigkeit das ausschlaggebende Element für ihre Disposition gegeben zu haben. Ver-

408 Dodonaeus 1608, Buch 14: „Van de schadelijcke ende dootelijcke cruyde“. 409 Die fehlende Pflanze des Kap. 13 ist die sogenannte Thora. Diese fehlte 1600 im Gar- ten, doch eine enge Verwandte davon wuchs in diesem Streifen (Quadra 4/7): „Aco- nitum ad Thoram proxume accedens“, Pauw 1601, S. 125. 410 Pauw 1614, S. 129. 411 Dodonaues 1608, Buch 8: „Van de geslachten van Winde / Clockskens / ende dier- gelijck gewas / dat sich om eenige bijstaende dingen vlecht / windt / oft anders vast maect“. 412 Dodonaeus 1608, S. 719. 413 Dodonaeus 1608, S. 719; Pauw erklärt: „Christophoriana, nonullis Aconitum ni- grum.“, Pauw 1601, S. 125. 414 Dodonaeus 1608, S. 719.

391 Abb. 5.19 gleicht man die Illustrationen der in diesem Streifen gesetzten Pflanzen, Morphologisch unter- findet man mehr morphologische Unterschiede als Gemeinsamkeiten schiedliche, aber allesamt giftige Pflanzen: Aconitum (Abb. 5.19). Anderswo aber wurden die Pflanzen aufgrund ihrer Morpho- hiemale, Aconitum lycto. logie zusammengestellt, wie folgender Streifen zeigen soll. (Wolfswortel), Aconitum Pardalianches, Christopho- riana und Napellus. Sortierung nach Gattung oder Morphologie (Quadra 4/3) Die einfachste und stringenteste Ordnung bestand darin, in einen Streifen (aus: Dodonaeus, Cruydt- Boeck […], Leiden (Officina alle Sorten einer einzelnen Gattung zu setzen, was auch häufig geschah. Plantiniana) 1608, S. 786, S. „Gattung“ und „Spezies“ war eine neue Form der Klassifikation, die erst 784, S. 781, S. 719, S. 788.) im 16. Jahrhundert durch Conrad Gesner formuliert wurde.415 Doch be- (Download: ETH Biblio- fanden sich in den meisten Streifen neben verschiedenen Spezies dersel- thek, e-rara.ch.) ben Sorten auch Pflanzen verschiedener Gattungen. Die Zuschreibung von Pflanzen zu einzelnen Gattungen mit spezifischen morphologischen Merkmalen wurde zur einer der wichtigsten Fragen der frühneuzeitlichen Naturgeschichte. Im dritten Streifen der vierten Quadra wuchsen hauptsächlich zwei- erlei Pflanzensorten, nämlich Lapathum und Bistorta. Zur ersten Gattung darf auch die Acetosa gezählt werden, wie Dodonaeus erklärt und die ebenfalls dort im Garten wuchs. Die Spezies Tota bona war ebenfalls in diesem Streifen anzutreffen und wird im nachfolgenden Kapitel bespro- chen, da sie ebenfalls zur gleichen Gattung gehörte.416 Zur zweiten Haupt- gattung des Streifens, der Bistorta, gehörte auch die Spezies Britannica; beide Pflanzen wurden im unteren Teil des Streifens neben den „Patich“ oder Lapathum gesetzt. Doch werden die beiden Pflanzensorten im Kräuterbuch in ver- schiedenen Sektionen behandelt. Lapathum wird im 21. Buch seines Werks beschrieben, worin „Van de eetbaere oft Moes-cruyden“ die Rede

415 Arber 1970, S. 166–168. 416 „By de soorten van Patich [Lapathum] wort de Al goede/ van sommige Goeden Heyndrick oft Lammekens [Tota bona] oore geheeten/ van de nieuwe cruytbeschrij- vers oock gerekent.“, Dodonaeus 1608, S. 1102.

392 ist.417 Es wird beschrieben, dass die Blätter der erwähnten Pflanzenart ge- gessen werden können, dass sie gut schmecken und auch über Heilkräfte verfügen würden. Sie würden bei Blähungen helfen und führen zu einem leichten Kammergang. Zudem habe diese Pflanzenart folgende Qualität nach Galen: trocken und kalt. Bistorta hingegen wird im elften Buch be- sprochen, das „Van de Wortelen die van de Medicijns gebruyct worden“ handelt.418 Hier beschreibt Dodonaeus, dass primär die Wurzel medizini- sche Kräfte aufweise und gegen Blutungen und anderes helfe. Die „Aert“ dieser Sorte sei ebenfalls kalt und trocken. Die beiden Pflanzengattungen haben also – neben derselben Qualität nach Galen – keine gleichen An- wendungsbereiche oder Wirkkräfte. In einem Fall wird das Augenmerk auf die Blätter als Nahrungsmittel gelegt, im anderen Fall auf die Heilkraft der Wurzel. Wieso aber sind diese unterschiedlichen Gattungen mit ihren verschiedenen Untersorten nebeneinander gepflanzt worden? Sie ähneln sich zwar nicht in ihren Wirkungen oder ihren Anwen- dungsmöglichkeiten, dafür aber in ihrer Morphologie. Dies entging auch Dodonaeus und seinen antiken Vorgängern nicht. In der Beschreibung der sechsten Art der Gattung Bistorta, nämlich der Britannica, schreibt Dodonaeus, dass „Den selven Dioscorides ende Plinius verhaelen dat de Britannica bladeren heeft die swarter ende rouwer oft rupger zijn dan de Patich [also Lapathum] bladeren/ ende een corte dunne wortel hebben.“419 Auch in den Anmerkungen kommen die visuellen Gemein- samkeiten und Unterschiede zwischen Bistorta und Lapathum dezidiert zur Sprache: „Sommige hebben dit cruyt den naem van Rumex oft Patich [Lapathum] oock medeghedeyit / om dattet van bladeren den Patich soo geliick is / ende van sade de gheslachten van Surckel [Acetosa] somtiits wat geliict.“420 Dieser Sachverhalt geht auch aus den begleitenden Illustra- tionen hervor (Abb. 5.20). Betrachtet man die Entwicklung dieses Streifens, erkennt man fol- genden Befund. Zum einen wurde die Gattung Lapathum spätestens im Jahre 1608 durch eine weitere Spezies ergänzt, die 1600 noch im Garten fehlte, nämlich die Patientia. Es geht aus dem Kräuterbuch hervor, dass diese Pflanze bereits vor 1600 bekannt war und auch beschrieben wurde. Doch verfügte Clusius und Pauw nicht über diese Spezies. Sie konnten sie erst später in den Garten setzen und alle Sorten von „Patich“ – analog zum Buch – in einem Streifen erklären.421 Und eine weitere Pflanze mit

417 Dodonaeus 1608, S. 1045ff. 418 Dodonaeus 1608, S. 563. 419 Dodonaeus 1608, S. 580. 420 Dodonaeus 1608, S. 581. 421 Auch in den Katalogen zu den Jahren 1602 und 1603 fehlte sie, weswegen sie nach 1603 und spätestens 1608 in den Streifen gesetzt wurde.

393 vergleichbaren Eigenschaften fand bis 1608 ihren Weg in diesen Streifen, die Portulaca oder „Porceleyne“.422 Im Cruydt-Boeck werden die morpho- logischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede all dieser nun versam- melter Pflanzen diskutiert:

„Want met Telephium oft Britannica (dat wij hier voortijts vermoey- den) en comtet niet over een: gemerct dattet van stelen ende bla- deren de Porceleyne niet en gelijct/ als het Telephium dede noch niet tsamentreckende en is/ of de koorte van Patich [Lapathum] in crachten gelijckende/ als de Britannica was/ nae het schrijven van Dioscorides ende Galenus.“423

Dass diese beiden Gattungen in denselben Streifen gepflanzt wurden, war nicht durch ihre Anwendungsmöglichkeiten bedingt, sondern durch ihre vergleichbare Morphologie. Das Aussehen der Pflanzen selbst stand so- mit im Vordergrund. Die genaue Untersuchung ähnlicher Pflanzen hatte zum einen zum Ziel, sie sicher unterscheiden und klassifizieren zu kön- nen, was angesichts der unterschiedlichen Wirkstoffe wichtig war. Ande- rerseits veränderte sich dadurch aber die Bedeutung der Gewächse. Die Pflanzen wurden zunehmend nicht mehr nur als blosses Ausgangsmate- rial für Medizin oder Nahrung angesehen, sondern wurden per se unter- suchungswürdig. Dieser Wechsel in der Betrachtungsweise von Pflanzen führte dazu, dass der Hortus medicus zunehmend zu einem Hortus bota- nicus wurde, die Pflanzenkunde sich von der Medizin lossagte und zum eigenständigen Fachgebiet der Botanik führte. Zudem wurde der Strei- fen auch in den kommenden Jahren nach denselben Kriterien bestückt und ergänzt. Pflanzen, die zuvor noch fehlten, aber morphologische Ge- meinsamkeiten aufwiesen, wurden so rasch wie möglich in den Streifen gepflanzt. Der Begleittext zum Kupferstich von 1610 stimmt nämlich mit seiner Aussage, der Garten werde „mit allem was drinnen ist / dermassen teglich mehr und mehr an frembden gewechsen / pflantzen und kreu- tern“. Die Erforschung der Pflanzen konnte somit immer detaillierter und präziser vonstatten gehen.

Ordnung nach dem Cruydt-Boeck (Quadra 4/3 und 4/5) Wie in der Bibliothek machten auch im Garten praktische Aspekte ge- dachten Idealordnungen immer wieder einen Strich durch die Rechnung: Man konnte nur zeigen, was man besass, Pflanzen starben und neue fan- den nicht immer einen Platz neben verwandten oder vergleichbaren Ge-

422 Dodonaeus 1608, Buch 21, Kap. 37, S. 1118–1120. 423 Dodonaeus 1608, S. 1022.

394 wächsen, waren diese doch angewurzelt und der Platz innerhalb eines Abb. 5.20 Pflanzen vergleichbarer Streifens begrenzt. Die Ordnung des Gartens lief also – wie die Ordnung Morphologie: Acetosa, La- der Bücher in der Bibliothek – immer Gefahr zu verwässern und musste pathum, Patientia, Tota bona sowie Bistorta. ständig gehegt und gepflegt werden. In den besprochenen Streifen wurde zwischen 1603 und 1608 aber (aus: Dodonaeus, Cruydt- Boeck […], Leiden (Officina auch Pflanzen eingefügt, die keinerlei morphologische Ähnlichkeiten mit Plantiniana) 1608, S. 1097, S. den vorhandenen aufwiesen. Sie alle stammten aus dem benachbarten 1097, S. 1098, S. 1102, S. 579.) fünften Streifen derselben Quadrae. Es war wohl eine pragmatische Ent- (Download: ETH Biblio- scheidung, die zur Übersiedlung der Pflanzen aus dem angrenzenden thek, e-rara.ch) Streifen führte. Denn es scheint, als seien verschiedene Pflanzen des be- sprochenen dritten Streifens gestorben. Der Streifen wies deshalb viele Leerstellen auf, während die Pflanzen des angrenzenden fünften Strei- fens in grosser Anzahl vorhanden waren. Man entschloss sich wohl auf- grund reiner Platzgründe, einige Pflanzen in den angrenzenden Streifen zu überführen. Drei Pflanzen wurden aus dem angrenzenden fünften Streifen in den besprochenen überführt, was aber kein Problem darstellte, waren dort doch all jene Pflanzen untergebracht, die sich einer Klassifikation entzo- gen. Die dortigen Pflanzen wiesen keinerlei Gemeinsamkeiten auf, wes- halb Dodonaeus sie in seinem Cruydt-Boeck unter denjenigen Pflanzen aufführte, die er nicht besser klassifizieren konnte als nach dem Alpha- bet.424 Er hatte offensichtlich Schwierigkeiten, alle Pflanzen zu ordnen,

424 Vorwort Buch 2: „Naedemael wij genoechsam in het voorgaende Boeck wtgeleydt en verclaert hebben al tgene dat ons dochte te dienen voor een algemeyne Inneley- dinge oft Bereydinge tot de kennisse der Gewassen / soo is het nu tijt dat wij tot de eygentlijcke Beschrijvinge van elck gewasbesonderlijcken comen. Dan wij hebben in de Voorreden van dat selve eerste boeck te kennen gegeven dat wij ons beste ge- daen hebben om de Gewassen in sekere vaste verdeelingen te verscheyden: Maer gemerct dat die veerdeelingen niet wel nae onsen sin lucken ofte vallen en wouden / soo is het ons nootsakelijcken geweest sommige Gewassen buyten alle orden ofte schickinge in de vier nae-volgende boecken te beschrijven; ende dat alleen nae het vervolg van den Abc. Want gelickerwijs de Letteren beginselen zijn ende de nootsakelijcke middelen van alle beschrijvinge: Soo is het oock wel behoorlijck dat de gewassen wiens naemen

395 obwohl er sich nicht mit lebenden Pflanzen abmühen musste, sondern sich auf dem Papier ganz der Theorie hingeben konnte. Die im fünften Streifen wachsenden Pflanzen wurden im Buch 5 desCruydt-Boecks be- sprochen und zwar in den Kapiteln 20, 21, 22, 23, 24, 25 und 26 – entspre- chend waren sie auch im Streifen platziert. Zumindest in diesem Streifen erfolgte die Bestückung der Beete anhand des Cruydt-Boecks, dem Buch wurde gewissermassen ein lebendes Gegenstück an die Seite gestellt. Es ist deshalb anzunehmen, dass auch der Unterricht teilweise mithilfe die- ses Kräuterbuchs von statten ging.

Sortierung nach Geruch (Quadra 3/2, 3/3 und anderswo) Doch nicht nur visuelle Aspekte der Pflanzen konnten empirisch er- forscht werden. Auch die anderen Sinnesorgane wurden eingesetzt, um die Pflanzen zu beschreiben und zu klassifizieren. Neben der Morpholo- gie spielten auch der Geruch und Geschmack der Pflanzen eine Rolle. Im Lex hortorum wird ja explizit erläutert, die Besucher dürfen die Pflanzen beriechen. Die meisten Pflanzen, die im zweiten Streifen des dritten Quad- ranten (Quadra 3/2) wuchsen, waren wohlriechende Kräuter: Hyssopus, Thymus, Lauandula, Thymbra, Satureia, Saluia, Polium und Ocimum. Sie alle werden im Cruydt-Boeck im neunten Buch behandelt, das „Van de Welrieckende cruyden/ende Cranscruyderen / oft tot Croonkens ende Tuylkens dienende“ handelt.425 In diesem Buch geht es also primär um wohlriechende Pflanzen mit spezifischen Blüten. Behandelt werden die erwähnten Pflanzen in den Kapitel 6, 8, 9, 11, 12, 16, 20, 21, 22, 23 und 29. Die Pflanzen der in diesem Streifen ausgelassenen Kapitel waren entwe- der im Jahre 1600 noch nicht vorhanden, oder wurden in andere Streifen gesetzt.426 Nur drei Gattungen scheinen nicht in diesen Streifen und den wohlriechenden Kräutern zu passen: Sabina, Verbascum und Mercurialis.

van de eerste letteren beginnen / voor de andere beschreven worden. Het welcke nochtans soo van ons gedaen is / dat wij de gene die malcanderen van geslachte oft gedaente meest gelijckende zijn / niet en hebben verscheydelijck willen beschrij- ven: gemerct dat het reden is datmen de gemeenschap van wesen en de gelijckenis- se der gedaenten meer achte dan het vervolg van de letteren. Maer het is te weten dat wij int geheele eerste deel / de Gewassen die van ons be- schreven sullen worden niet nae heure Griecksche oft Duytsche naemen voegen ofte plaets geven en sullen: maer alleen nae dat sij int Latijn genaemt zijn. Waer in wij liever de gemeene namen gevogt hebben / waer door sij nu ter tijt bekent zijn: dan de oude / de welcke soo seker ende kenbaer niet en zijn.“ Dodonaeus 1608, S. 27. 425 Dodonaeus 1608, Buch 9, S. 463ff. 426 Die Sorte Serpillum, die im zehnten Kapitel besprochen wird, fehlte 1600 im Garten, ebenso die Sorten Dictamnum (Kap. 13) und Pseudodictamnum (Kap. 14). Die im 15. Kapitel besprochene Pflanze Pulegium hingegen wuchs bereits 1600 im Garten, doch in anderen Streifen (3/1 und 3/9).

396 Die Sabina ist ein immergrüner Nadelbaum. Mercurialis gehört eher zur Gattung der Malven und wird im Kräuterbuch auch mit diesen Pflanzen in Bezug gebracht. Seltsamerweise wurde diese Pflanzenart aber nicht in den passenden Streifen gesetzt (siehe oben, Quadra 4/3), sondern neben den Basilikum gepflanzt. Zu diesem Nachbarn scheint es zumindest ei- nen Bezug zu geben, denn seine Blätter seien „de bladeren van Basilicon [Ocimum] ghenoaechsam gelijck.“427 Im angrenzenden Streifen (Quadra 3/3) wuchsen 1600 ebenfalls wohlriechende Kräuter, welche wiederum im selben Abschnitt des Kräu- erbuchs beschrieben werden: Rosmarinus, Maiorana und Origanum.428 Und auch im folgenden Streifen (Quadra 3/1) liessen sich wohlriechende Kräuter finden, nämlich die SortenClinopodium und Pulegium, die eben- falls im selben Abschnitt des Kräuterbuchs besprochen werden.429 Die- se drei aufeinander folgenden Streifen des Gartens beherbergten somit wohlriechende Kräuter und bildeten durch ihre benachbarte Lage und ihre vergleichbaren Bestückung eine Einheit. Die Grenzen der einzel- nen Streifen wurden somit gesprengt, die Ordnung auf mehrere Streifen übertragen. Ein Grossteil der damals bekannten und durch Dodonaeus beschriebenen wohlriechenden Kräuter konnten in diesen drei Feldern untersucht und diskutiert werden.430 Der Unterricht weitete sich hier wohl aus: Nicht bloss ein Streifen wurde diskutiert, sondern mehrere. Der Abschnitt des Gartens bildete gewissermassen einen Hortus aromaticus, wie er auch in anderen Anlagen gefunden werden konnte.431

Sortierung nach Geschmack (Quadra 2/1) Neben dem Geruch konnte auch der Geschmack einer Pflanze eine Rolle für ihre Platzierung spielen. Im ersten Streifen der zweiten Quadrae wur- den mehrheitlich Pflanzen gesetzt, die bitter oder scharf im Geschmack waren und teilweise auch stark rochen: Absinthium, Chelidonium, Ab- rotonum, Achillea, Santolina und Petasites. Die meisten dieser Pflanzen gehören im Kräuterbuch von Dodonaeus in jene Teile, in denen die nicht zu klassifizierenden Kräuter besprochen wurden und deswegen in alpha- betischer Reihenfolge aufgeführt wurden. Clusius und Pauw gelang es im Garten hingegen, die Pflanzen aufgrund ihres Geschmacks in eine empi- risch nachvollziehbare Klasse zu überführen. Eine weitere Gemeinsamkeiten wiesen die Pflanzen auf: Sie be-

427 Dodonaeus 1608, S. 1114. 428 In den Kapiteln 1, 4, 5 und 17. 429 In Kapitel 3 und 15. 430 Auch im Streifen 3/8 befanden sich Kräuter mit besonderen olfaktorischen Merk- malen: Petersilie aus Sizilien, Wermut, wilde Minze und weiderum Clinopodium. 431 Gelder 2011, S. 222.

397 sassen alle dieselbe Qualität nach Galen und waren warm und trocken. Doch war die Einteilung in die verschiedenen Qualitäten direkt vom Ge- schmack der Pflanzen abhängig. So erklärt Dodonaeus im Falle derSan - tolina: „Den bitteren smaeck die in het Saet van dit Cypres cruyt [Santo- lina] te proeven is/ betoont ghenoeck dattet van crachten warm is ende drooch tot in den derden graed.“432 Zwei der Pflanzen werden im Kräuterbuch direkt in Beziehung zu- einander gebracht. So wird die Sorte Abrotonum mit der Gattung Santo- lina verglichen. Die kleinste Sorte sei „[…] better van reuck; waer sij de bladeren van Santolina oft Cypres-cruydt gelijckende zijn.“ 433 Zudem war es unklar, zu welcher Gattung sie gerechnet werden sollte. Denn Diosku- rides beschrieb die Sorte Santolina, doch war die zeitgenössische For- schung unsicher, ob die beschriebe Sorte mit Abrotonum gleichzusetzen sei, oder ob es sich um zwei verschiedene Pflanzenarten handle. Denn die Beschreibung, die der antike Pflanzenforscher verfasste, war zu kurz und unklar, um daraus eine sichere Bestimmung zu ziehen. Dodonaeus und Clusius verneinten, dass es dieselbe Pflanze sei.434 Die Medizinprofessoren konnten an diesem Streifen den Studen- ten vielerlei Sachverhalte offenlegen. So konnten sie alle Pflanzen bitte- ren Geschmacks präsentieren. Ferner konnte ihre gleiche Qualität nach Galen besprochen werden, die sich direkt aus dem Geschmack ableitete. Desweiteren konnte aber auch der aktuelle Stand der Forschung und die Diskurse zur Gattung Santolina und ihrer Zugehörigkeit diskutieren wer- den.

Zwiebelartige Wurzeln (Quadra 1/8 und 1/6) Bestimmte Pflanzenteile konnten die Grundlage zur Klassifikation von Pflanzen und für ihre Setzung in den Garten werden. So befanden sich im achten Streifen des ersten Quadrats überwiegend Pflanzen mit zwie- belartigen Wurzeln. Dieses morphologische Merkmal schien wiederum als wichtiger empfunden worden zu sein als die tatsächlichen Verwen- dungsmöglichkeiten der Pflanzen. Neben Pflanzen, die man gemeinhin als Blumen bezeichnen würde (beispielsweise Narzissen, Lilien oder Iris) wuchsen auch Schnitt- und Knoblauch, also Pflanzen, die in der Küche zur Anwendung kamen. Die Pflanzen werden deswegen von Dodonaeus in zwei verschiedenen Büchern abgehandelt, nämlich zum einen im Buch, das von den Blumen mit zwiebelartigen Wurzeln handelt und zum anderen in demjenigen, das die essbaren Wurzeln beschreibt, zu denen

432 Dodonaeus 1608, S. 28. 433 Dodonaeus 1608, S. 28. 434 Siehe dazu: Dodonaeus 1608, S. 28 und S. 459.

398 auch Zwiebeln gehören.435 Im Garten hingegen wurde ihre Schnittmen- ge entscheidend. Diese basierte auf morphologischen Gesichtspunkten, nämlich auf den zwiebelartigen Wurzeln. Die Pflanze selbst rückte wie- derum in den Mittelpunkt des Interesses. Im benachbarten Streifen gediehen primär Pflanzen, die optisch ge- fällig waren. Die meisten von ihnen hatten, analog zu den eben bespro- chenen Pflanzen, zwiebelartige Wurzeln und werden im entsprechenden Buch bei Dodonaeus behandelt; doch gibt es auch solche, die nicht in diesem Buch beschrieben wurden, hier aber trotzdem im Streifen vor- kommen und ebenfalls knollenartige Wurzeln hatten. Im Gegensatz zu den eben besprochenen Zwiebelgewächsen waren diese von exotischer und fremdländischer Herkunft und besonders schön anzusehen. Nahezu alle Pflanzen waren in Nordeuropa nicht heimisch. Einige dieser Pflanzen waren zudem nicht winterhart und mussten den Winter über geschützt werden, wie Dodonaeus erklärt.436 Die Heilkräfte und Qualitäten nach Galen waren bei vielen der dortigen Pflanzen noch gänzlich unbekannt, da die Pflanzen selbst Neuheiten darstellten und in Europa sonst nicht wuchsen. Dies zeigt deutlich, dass im Garten der Universität nicht nur Medizinalpflanzen vertreten waren. Das Interesse und die Sammelleidenschaft schlossen auch Pflanzen ein, die durch ihre Exotik und Schönheit glänzten, nicht aber durch ihre pharmazeutische Wirkung. Der eine Streifen beinhaltete somit heimische und bekannte Pflanzen mit zwiebelartigen Wurzeln, der andere hingegen die fremdlän- dischen und exotischen mit vergleichbarer Wurzel. Ästhetische Kriteri- en zur Verteilung der Pflanzen, wie sie bereits imIndex stirpium von 1594 ausfindig gemacht werden konnten, galten also auch nach der Umgestal- tung des Gartens.

Buch und Empirie (Quadra 4/6) Das Interesse an der Morphologie von Pflanzen wurde auch durch die unklare Beschreibung innerhalb der Werke antiker Autoren geweckt. Ihre Texte waren meist nicht illustriert, da vor dem Buchdruck Illustrationen nicht in befriedigendem Mass reproduziert werden konnten. Ihre schrift- lichen Erklärungen waren somit oftmals die einzige Überlieferung, die zudem häufig im Laufe der Geschichte korrumpiert wurde. Um an die be-

435 Dodonaeus 1608, Buch 7: „Vande Bulben/ oft Bloemen met Aeyuynachtige [zwiebel- artig] oft clisterachtige Loock-wijse [lauchartig] wortelen“; Dodonaeus 1608, Buch 23: „Van de eetbaere Wortelen/ als Rapen(?)/ Peen/ Aeyuynen [Zwiebeln]/ ende meer ander“. 436 Beispielsweise die Leucoion: „[…] hier te lande/ en in Hoochduytschlant moeten sij in de wintersche maenden met groote naersticheydt tegen de coude bewaert ende gade geslagen zijn: Dan boven alle soo(?) moetmen sorge dragen voor de dubbele/ die alderminst tegen de couwe mogen.“, Dodonaeus 1608, S. 253.

399 schriebenen Heilkräfte zu gelangen, mussten die erwähnten Pflanzen zu- nächst aufgrund der genannten äusseren Merkmale eindeutig bestimmt werden. Es reichte nicht aus, zu den Urtexten zurückzukehren. Ad fontes zu gehen bedeutete im Fall der Pflanzenkunde, die eigentliche Grundlage der antiken Texte, nämlich die Pflanzen selbst, zu analysieren. Die neue empirische und morphologische Untersuchung der Pflanzen geschah da- bei auch stets im Abgleich mit den überlieferten Schriften, weswegen im Ambulacrum auch Bücher bereitlagen. In vierten Streifen der sechsten Quadrae wuchsen Pflanzen, die al- lesamt morphologische Gemeinsamkeiten aufwiesen und deren Zusam- mengehörigkeit während der frühen Neuzeit intensiv diskutiert wurde, nämlich die Scabiosa, Succisa, Iacea und die Stoebe (Abb. 5.21). Besonde- res Kopfzerbrechen bereitete die Stoebe, die unterschiedlich klassifiziert wurde. Dodonaeus diskutiert ihre schwierige Zuordnung im dritten Kapi- tel des fünften Buchs, in welchem er auch die Scabiosa bespricht: „Van de Scabieuse / en heur soorten / ende oock van de Stœbe“.437 Die Succisa und die Iacea folgen in den anschliessenden Kapiteln.438 Die Diskussion um die Stoebe eignet sich hervorragend, um die Wissensvermehrung anhand von Büchern, Illustrationen, getrockneten Spezimen und schliesslich der Pflanze selbst zu diskutieren. Dodonaeus kannte die Stoebe nicht durch eigene Anschauung, da sie in den Niederlanden nirgendwo wachse, wie er erklärte. Er konnte seine Beschreibung und Klassifikation der Pflanze also nicht auf eigene Erfah- rungen gründen. Seine Erforschung dieser Pflanze vollzog sich deshalb notgedrungen mittels Büchern. Er erklärte, dass die Pflanze von vielen zeitgenössischen „Cruydtbeschrijvers“ für eine Sorte der Scabiosa gehal- ten werde, was seiner Meinung nach nicht stimme, denn er machte inner- halb der literarischen Beschreibungen Widersprüche aus, so dass er die Sorte Stoebe nicht in Einklang mit der Scabiosa bringen konnte. Er führt an, dass die Sorte Stoebe bereits durch Dioskurides beschrieben wurde. Da sie zu seiner Zeit aber wohlbekannt gewesen sei, habe der antike Au- tor auf eine genaue Beschreibung verzichtet.439 Auch Galen beschreibe sie in seinem Werk Antidota, so Dodonaeus, doch auf zwei unterschiedliche Weisen, weswegen nach Dodonaeus davon ausgegangen werden müs- se, dass es sich um zwei verschiedene Sorten handle, die beide als Sto- ebe bekannt waren. Theophrastus schreibe ferner, dass die Sorte Stoebe

437 Dodonaues 1608, S. 184–188. 438 Dodonaues 1608, S. 188–193. 439 Laut Arber seien die Beschreibungen von Dioskorides in De materia medica häufig so ungenau, dass eine Identifikation meist unmöglich ist, siehe dazu: Arber 1970, S. 147.

400 strauchartig wachse und dass ihre Blätter mit Dornen versehen seien.440 Abb. 5.21 Schwierige Zuschreibung: Es könne laut Dodonaeus durchaus sein, dass Theophrastus hier die Sorte Scabiosa, Iacea und die beschreibe, die auch Dioscorides meinte. Scabiosa hingegen habe keine Umzeichnung der Stoebe Dornen, weswegen die Pflanze eine andere sein müsse. Eine gründliche aus dem Wiener Diosku- rides. Quellenkritik führte somit zur Klassifikation der Pflanze. Ausserhalb der Textebene konnte Dodonaeus zudem zwei weitere (aus: Dodonaeus, Cruydt- Boeck […], Leiden (Officina Beweise darbieten. Zum einen hatte er eine Abbildung der Sorte Stoebe in Plantiniana) 1608, S. 184, S. einem Manuskript der Kaiserlichen Bibliothek in Wien gefunden. Es han- 186, S. 190.) delte sich dabei um eine besonders wertvolle Handschrift eines Pflanzen- (Download: ETH Biblio- traktats, die um 500 n.Chr. angefertigt wurde und – als eine ausgespro- thek, e-rara.ch) chene Besonderheit – mit zahlreichen Illustrationen versehen war. Heute ist sie als „Wiener Dioskurides“ bekannt.441 Dodonaeus liess eine Kopie der äusserst alten und raren Pflanzenillustration in sein Kräuterbuch dru- cken. Aus der Zeichnung gehe deutlich hervor, dass die Stoebe mit Sta- cheln versehen sei. Desweiteren schickte ihm Bernardus Paludanus ein getrocknetes Exemplar der Pflanze aus Griechenland, wo die Pflanze hei- misch war. Dieses Spezimen sei ein weiterer Beweis dafür, dass es sich um eine andere Sorte als die Scabiosa handeln müsse, so Dodonaues. Clusius war wohl leicht anderer Meinung als Dodonaeus. In den Anmerkungen wird in seinen Worten erklärt, dass es im Moment unsi-

440 „een van die cruyderen die heur bladeren hebben bij ettelijcke doornen staende“, Dodonaeus 1608, S. 187. 441 Zu diesem Kodex, siehe: Arber 1970, S. 8–9; vermutlich war es Ogier Ghiselin de Bus- becq, der für die Überführung der Tulpe nach Europa verantwortlich war, der den Kodex entdeckte.

401 cher sei, welche Pflanze alsStoebe bezeichnet werden müsse. Seine Dis- kussion zu dieser Forschungsproblematik wurde in demjenigen Kapitel des Cruydt-Boecks abgedruckt, das von der Iacea handelt. Diese Pflan- ze wuchs im selben Streifen des Leidener Gartens. Clusius erklärt, dass durch die meisten zeitgenössischen Kräuterforscher die Iacea zur Sorte Stoebe gezählt werde, weswegen er seine selbstgefundenen Neuentde- ckungen der Gattung zur Stoebe zähle und sie hier diskutieren wolle. Er passt sich somit dem momentanen Diskurs und der aktuellen Klassifi- kation an. Clusius ging vor allem auf Pflanzen aus Salamanca ein, die er wohl während seiner Forschungsreise in Spanien entdeckte, und erklärte, dass diese – zumindest teilweise – spitze, fast dornartige Blätter hätten. Zudem werde diese Pflanzen durch die Leute in Salamanca alsStoebe be- zeichnet, weswegen er sie im Lateinischen Stoebe Salmantica nenne.442 Die Pflanzenforschung der Zeit wechselte somit zwischen Buch und empirischen Wissen hin und her. Dodonaeus kannte die Sorte Stoebe nicht aus eigener Anschauung. Seine Kritik fusste neben den entspre- chenden Textstellen auch auf einer spätantiken Pflanzenillustration so- wie einem getrockneten Exemplar. Clusius kannte den Forschungsstand und die widersprüchliche Klassifikation, darüber hinaus aber auch die Pflanze selbst. Doch blieb es für ihn dennoch unklar, welche Sorte für „de oprechte Stœbe te houden soude mogen wesen“.443 Die Bestimmun- gen der Pflanzen, die durch die antiken Autoritäten beschrieben wurden, war eine nur schwierig zu lösende Aufgabe frühneuzeitlicher Pflanzen- forscher. Das Wissen aus überlieferten Schriften, wenn möglich auch aufgrund von Illustrationen, war dazu ebenso von Nöten wie eigene em- pirische Erkenntnisse anhand der Pflanzen selbst, oder notfalls anhand getrockener Exemplaren. Die Bibliothek, der botanische Garten sowie die Naturaliensammlungen boten somit verschiedene Grundlagen zur Erfor- schung der Pflanzenwelt, die in allen Räumen parallel verlief. Die Frage der Zuordnung der beiden Pflanzen konnten die Professoren anhand die- ses Streifens innerhalb des Gartens diskutieren.

Montpellier: Gebaute Habitate

In Leiden kam es zu einer mannigfaltigen Anordnung der Pflanzen nach verschiedensten Kriterien. Sie wurden nach ihren Hielkräften, ihrer mor- phologischen Erscheinung, nach ihrem Geschmack oder Geruch oder auch aufgrund ihrer Schönheit im Garten verteilt. Wenn keine Kriterien

442 Dodonaeus 1608, S. 192–193. 443 Dodonaeus 1608, S. 188.

402 gefunden werden konnten, bot selbst das Cruydt-Boeck von Dodonaeus eine mögliche Ordnung. Der Leidener Garten berücksichte jedoch we- der in der Disposition der Pflanzen noch in seiner Architektur die natür- lichen Habitate der Pflanzen. Die Gestaltung des Leidener und anderer botanischer Gärten war bestimmt durch eine klare Architektur und folgte den Gewohnheiten der Zeit. Alle Pflanzen gediehen in derselben Art von Pflanzenbeeten, die mittels einer übergeordneten Form in ein Ganzes ge- fasst wurden. Nur in Ausnahmen waren Pflanzen aufgrund der Architek- tur angeordnet. Die verschiedenen Anforderungen der Pflanzen bezüg- lich ihres Wachstums und Habitats wurden aber – abgesehen von einem beheizbaren Gewächshaus für den Winter – in der Architektur nicht be- rücksichtigt. Ganz anders hingegen der botanische Garten in Montpellier, der nahezu zeitgleich errichtet wurde. Er ging sozusagen den umgekehrten Weg: Die Architektur war grossteils durch die natürlichen Habitate der Pflanzen bedingt, weswegen die Anlage in Montpellier verschiedene un- terschiedlich gestaltete Zonen aufwies. Dieser Garten war den Leidener Präfekten durch Berichte bekannt. Um ihn und seine Gestaltung verste- hen zu können, muss kurz auf die Form des Unterrichts in der Pflanzen- kunde vor seiner Errichtung eingegangen werden, da der Garten ein ge- bautes Abbild desselben war.

Feldforschungen Die Universität in Montpellier war bereits vor dem Bau des botanischen Gartens eine renommierte Ausbildungsstätte angehender Ärzte und Naturforscher und wohl die wichtigste Universität für das Studium der Medizin nördlich der Alpen. Bereits im 12. Jahrhundert wurde hier Me- dizin unterrichtet und 1220 die Schule in den Rang einer Universität der Medizin erhoben. Auch im 16. Jahrhundert lockte sie eine Vielzahl an Stu- denten an, die später die Speerspitze der empirischen Naturforschung bilden sollten. Unter anderen studierten Felix Platter, Mathias L’Obel, Johann Bauhin oder Carolus Clusius in Montpellier.444 Dass gerade die- se Absolventen eine Vielzahl an botanischen Gärten errichten sollten und sich für eine sinnliche Erforschung der Natur stark machen würden, scheint kein Zufall zu sein, denn bereits im 16. Jahrhundert war der Un- terricht in Montpellier empirischer Art. Wenn auch ein Garten zu der Zeit noch fehlte, so konnte trotzdem ein Raum der empirischen Forschung besucht werden, der allen offen stand: die Umgebung der Universität mit ihren verschiedenen Pflanzen und Gewächsen.

444 Zur Geschichte der Universität und den Studenten in Montpellier (mit Kurzbiogra- phien), siehe: Emberger/Harant 1959, S. 8–9; Dulieu 1994, S. 14.

403 Der wichtigste Lehrer dieser zukünftigen Forscherelite war Guillau- me Rondelet (1507–1566), der ab 1539 als Professor der Medizin in Mont- pellier lehrte. Rondelet unterrichtete sowohl Studenten der Medizin als auch Chirurgen und Apotheker der Stadt.445 Neben der Pflanzenkunde war er auch für die Lehre der Anatomie zuständig.446 Nach einer Reise durch Italien im Jahre 1549 brachte er die empirische Methodik in seine Heimat zurück. Für die neuen visuellen Demonstrationen errichtete er bereits 1556 eines der ersten anatomischen Theater der Welt. Zudem wur- de die Feldforschung fester Bestandteil des Unterrichts.447 Im 6. Artikel zu den Grand-Jours der Universität von 1550 wird dezidiert auf botanische Expeditionen eingegangen, während der Artikel davor beschloss, dass im Bereich der Anatomie vier Zergliederungen pro Jahr stattfinden sollten.448 Spätestens ab diesem Zeitpunkt gehörte der empirische Unterricht zum Curriculum der Universität. Die erste Generation der frühneuzeitlichen Pflanzenforscher muss- te noch selbstständig und ohne jegliche Vorbilder den Weg in die Natur einschlagen. Denn die Feldforschung war vor der Errichtung spezifischer Gärten die einzige Möglichkeit, den in den Büchern erwähnten Pflanzen nachzuspüren. An vielen Universitäten wurden Expeditionen spätestens mit dem Beschluss der Universität in Montpellier in den Unterricht integ- riert.449 In Basel, wo Rondelets ehemaliger Schüler Felix Platter unterrich- tete, waren solche Expeditionen ab 1575 offizieller Teil des Unterrichts.450 In Leiden gehörten sie ebenfalls zum Unterricht. Pauw erklärt, dass er bis zu vier Mal im Jahr die Lehre auf Wiesen, in Wäldern oder in sump- figen Gegenden abhielt.451 Dort begleitete bereits Cluyts Sohn – Outger Cluyt (Augerius Clutius) (1578–1636) – Studenten häufig und kompetent auf solchen Expeditionen.452 Spätestens 1617 wurden Feldforschungen in den Lehrplan aufgenommen.453 Clusius kannte diese Form des Unter- richts ebenfalls aus seiner Studienzeit, denn er kam 1551 nach Montpel-

445 Meier Reeds 1991, S. 63. 446 Zu Rondelet und seinem Unterricht in Montpellier, siehe: Meier Reeds 1991, S. 55– 72; Dulieu 1994, S. 13–14. 447 Meier Reeds 1991, S. 59–60. 448 „Seront tenus les dits Chanceliers, Docteurs et Conseillers, députer l’un d’entre eux, Docteur des plus idoines et suffisant pour lire aux écoliers et montrer oculairement les simples, depuis la fête de Pâques jusqu’à la fête de la Saint-Luc, et lui constituer salaire compétent à payer par le dit Trésorier et pour chercher les dits simples en la dite ville de Montpellier et lieux circonvoisins, seront, aux dépens de la dite bour- se, députés un ou plusieurs, lesquels y vacqueront le plus diligemment que faire se pourra.", zitiert nach: Emberger/Harant 1959, S. 8. 449 Ogilvie 2006, S. 71–72. 450 Ogilvie 2006, S. 72. 451 Pauw 1615, f. 2v; zudem: Pauw 1601, Vorwort. 452 Bronnen I, (18. Juni 1598), Bijl. no. 325, S. 380*–381*. 453 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 385r–v.

404 lier und unterhielt dort während vier Jahren engen Kontakt zu Rondelet. Die empirische Methodik wurde durch Rondelet sozusagen an Clusius weitergegeben und bildete für ihn die Grundlage seiner künftigen For- schungsarbeit,454 die ihn nach Spanien, Portugal, Österreich und Ungarn und zu zuvor unbeschriebenen Pflanzen führten.455 Neben den Gewächsen rückte zwangsläufig auch ihr Habitat ins Interesse der Forscher. Montpellier eignete sich durch seine geographi- sche Lage vorzüglich, verschiedene Gebiete und Pflanzen zu ergründen. Thomas Platter und Johann Cherler unternahmen 1596 von Montpellier aus eine sechstägige Reise in die Bergwelt der Cevennen, um den soge- nannten Hortus Dei zu besteigen, ein Gebiet, dass besonders Reich an verschiedenen Bergpflanzen war und zuvor bereits durch L’Obel und an- dere besucht wurde.456 Zudem konnte neben den Bergen auch die Küste aufgesucht und die dort heimischen Pflanzen erforscht und gesammelt werden, um sie später in Form von Herbarien zu trocknen und zu ver- wahren.457 Von Montpellier aus konnte man somit verschiedene geografi- sche Regionen und Klimazonen erreichen, die später im Garten nachge- baut werden sollten.

Richer de Belleval und die Errichtung des Gartens Neben schriftlich niedergelegten Eindrücken und getrockneten Exem- plaren wurden auch lebende Pflanzen von diesen frühen Exkursionen heimgebracht. In Montpellier existierten bereits vor der Errichtung des botanischen Gartens verschiedene Anlagen mit Medizinalpflanzen. Ron- delet unterhielt wie auch andere Ärzte private Gärten mit Heilkräutern, und Clusius beschrieb, wie er diese Pflanzen untersuchen konnte,458 wel- che vermutlich nach ihren Heilkräften geordnet waren.459 Der Unterricht fand teilweise in diesen Gärten statt, wie aus einem Gedicht hervorgeht, das besagt, dass Rondelet „Faithfully in the medical gardens […] many things“ zeigte.460 Dass Professoren eigene Gärten unterhielten, war be- reits im Mittelalter der Fall. Im „Buch der Natur“ von Konrad von Megen- burg, das um 1350 entstand, wird beschrieben, dass die Professoren der Sorbonne einfache Kräutergärten unterhielten, die nach Hennebo wohl bereits als wissenschaftliche Pflanzensammlungen mit Heilpflanzen und seltenen Gewächsen verstanden werden können.461 Rondelet selbst leg-

454 Meier Reeds 1991, S. 67ff. 455 Ogilvie 2006, S. 148–149. 456 Ogilvie 2006, S. 71; Meier Reeds 1991, S. 69. 457 Meier Reeds 1991, S. 69. 458 Meier Reeds 1991, S. 68–69. 459 Emberger/Harant 1959, S. 9. 460 Meier Reeds 1991, S. 66 und Fussnote 91, S. 207. 461 Hennebo 1962, S. 165, zudem: S. 173 und Abb. 38.

405 te einen Garten an, der bereits kein Privatgarten mehr war, sondern eine Frühform eines universitären botanischen Gartens darstellte. Dieser wur- de Hortulus genannt und innerhalb der Stadtmauer im alten Hof der Me- dizinschule errichtet.462 Rondelet starb 1566 und Montpellier verlor einen wichtigen Lehrer, der zahlreiche Studenten aus ganz Europa anzog. Ihren Ruf als eine der besten Medizinfakultäten nördlich der Alpen sicherte sich Montpellier durch den Bau eines botanischen Gartens. Denn die ausländische Kon- kurrenz besass mancherorts bereits solche Anlagen, beispielsweise auch die noch junge Universität in Leiden. Für seine Errichtung zeichnete Ri- cher de Belleval (1564/65(?)–1632) verantwortlich, der ab 1584 Medizin in Montpellier studierte. Zwei „Lettres des patentes“ des Königs von Frankreich vom Dezem- ber 1593 stehen in Montpellier am Beginn der neuen Entwickung.463 Der erste Brief beschloss die Schaffung eines fünften Lehrstuhls für Medizin, die Richer de Belleval annehmen sollte. Diese Professur sei

„[…] non seulement utile mais tres necessaire pour vaquer de deux principaulx Subietz de la Médecine scavoir de L’Annathomie en temps d’Iver et l’explicaôn des simples et plantes tant estrangeres que domestiques le Printemps et l’Este[…].“464

Er unterrichtete also Anatomie im Winter und Pflanzenkunde im Som- mer. Als Argument wurde ferner ins Feld geführt, dass

„[…] les Escoliers et les auditeurs frustrés de l’intelligence de la doc- trine des cognoissances oculaires des simples et plantes qui leur est très nécessaire ce qui les a occasions de rechercher les universites d’Italie ou il y a semblables Regences etablies et des Jardins destines a cest effect […].“465

Heinrich IV. (1553–1610) sah also die Gefahr, dass enttäuschte Studen- ten nach Italien abwandern würden, da in Frankreich kein Garten bereit stand, der dem visuellen Unterricht von Medizinalkräutern und Pflanzen („cognoissances oculaires“) diente. Der Wetteifer mit den ausländischen Universitäten führte zur Errichtung einer entsprechenden Professur so- wie eines botanischen Gartens, der im ersten Brief bereits erwähnt und im zweiten beschlossen wurde.

462 Dulieu 1994, S. 13. 463 Beide abgedruckt in: Nicq 1994, S. 19–20. 464 Nicq 1994, S. 19. 465 Nicq 1994, S. 19.

406 Der Beschluss des Königs wurde erst 1595 durch das Parlament um- gesetzt. Richer de Bellval begann aber bereits im Oktober 1593 damit, Grundstücke für den Bau des Gartens zu erwerben. Er konnte dabei auf das Vermögen seiner wohlhabenden Gattin zurückgreifen – vergleichbar mit dem Finanzierungsmodell Thomas Bodleys. Da Richer de Belleval sein Studium nicht in Montpellier, sondern in Avignon abschloss, musste er ein neues Doktorat in Montpellier einreichen, was er im Juli 1596 tat. Danach war er im Ausland unterwegs, um Pflanzen zu sammeln,466 bevor er sich an den Bau seines Gartens machte, der in mehreren Etappen er- richtet wurde und 1603 bereits nahezu vollständig war. Der Garten in Montpellier war den Professoren und Präfekten der Leidener Universität aus Briefen und beigelegten Zeichnungen bekannt, die noch heute eine wichtige Quelle dieser Anlage darstellen. Pieter Pauw erhielt eine Beschreibung des Gartens vom Sohn seines Vorgängers, Out- ger Cluyt, der zwischen 1602 und 1606 in Montpellier weilte und den Gar- ten als „loco amoenissimo“ beschrieb (Abb. 5.22).467 Clusius wurde durch den Gelehrten und Sammler Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (1580–1637) über die Architektur des Gartens in Montpellier informiert, der besonde- res Augenmerk auf das sogenannte Labyrinth mit den Wasserpflanzen legte und davon eine Zeichnung mitschickte (Abb. 5.24).468 Eine weitere bildliche Quelle ist ein Kupferstich, der eine perspektivische Ansicht des Gartens zeigt und von Richer de Belleval in Auftrag gegeben wurde (Abb. 5.23). Nur ein Abzug ist überliefert.469 Der Stich war dafür gedacht, Richer de Bellevals Publikation Herbier Général du pays de Languedoc zu illust- rieren, wozu es jedoch nie kam. Die Datierung des Blattes ist ungewiss, es stellt aber den Zustand zwischen 1603 und 1622 dar.470

Hof und Auditorium Das Zentrum der Anlage wurde durch einen Hof gebildet, der all ihre Bereiche erschloss. Im Norden lag das Auditorium, im Westen das La- byrinth sowie das Wohnhaus des Präfekten; auch in Montpellier wohn- te der Präfekt in unmittelbarer Nähe des Gartens. Im Süden befand sich das sogenannte Herbarium, im östlichen Teil ein künstlicher Berg sowie die Abteilung für Medizinalpflanzen. Beschriftungen an den Portalen der

466 Zu Richer de Belleval, siehe: Bonnet 1994, S. 25–33; Meier Reeds 1991, S. 80ff. 467 Text mit abgedruckter Skizze in: Bronnen I, (8. Apr. 1602–19. Okt. 1607), Bijl. no. 376, S. 435*–443*, hier: Brief vom 30.11.1602, S. 436*–438*; Original in Universitätsbiblio- thek Leiden, Signatur B.P.L., No. 7. 468 Ediert aber ohne Abdruck der Zeichnung in: Tamizey de Larroque 1898, S. 941–960, besonders Brief CCCCXII, S. 948–950; Digitalisat online unter Clusius Correspon- dence, Universitätsbibliothek Leiden. 469 Abgebildet in: Rioux 1994, S. 92–93. 470 Nougaret 1994, S. 98–99.

407 Hofseite zeigten dem Besucher die jeweiligen Bereiche und Bauten an. In der Zeichnung sind sie teilweise zugunsten des Betrachters auf der Rück- seite der Portale eingezeichnet, damit sie lesbar sind. Den zentralen Hof betrat man durch den Haupteingang von der Stra- sse her. Die genaue Lage dieses Eingangs ist nicht klar, da die Beschrei- bung von Cluyt und die perspektivische Zeichnung des Gartens nicht übereinstimmen.471 Der Eingang wurde durch die Inschrift „Le Jardin du Roi 1596“ bekrönt und erklärte somit, dass der Garten Eigentum des Kö- nigs und nicht etwa der Universität war. Auch in Montpellier wurde die Tradition des Lex hortorum fortgeführt und die genannte Inschrift mit dem Sinnspruch „Hic argus esto et non briareus“ ergänzt, einen Verweis darauf, dass man schauen, aber nichts anfassen sollte.472 Durch diesen Eingang gelangte man in den zentralen Hof, der Ambulacrum genannt wurde und somit denselben Namen besass wie die Leidener Galerie. Auch er diente der Bewegung und erschloss alle Bereiche des Gartens. Im Norden grenzte das Auditorium an. Eine grosse Inschrift prang- te an diesem Gebäude und erklärte, der Garten diene dem Nutzen der Öffentlichkeit. Der König habe sich inmitten von Kriegswirren auf die Musen berufen und diesen Tempel der Medizin gestiftet und eine fünfte Professur geschaffen, die Richer de Belleval wahrnehme. Für die dazuge- hörige Lehre in der Anatomie und Pflanzenkunde habe man ein anatomi- sches Theater sowie diesen Garten errichtet, so dass es Richer de Belleval möglich werde, alle Pflanzen Frankreichs zu erforschen und beschrei- ben.473 Über dieser Inschrift befanden sich die Wappen zweier Mäzene des Gartens,474 gefolgt von den königlichen Wappen von Frankreich und Navarra. Es folgte eine Fleur-de-lis sowie eine Blume, die ebenfalls und sinnigerweise auf die darüber dargestellten Personen verwies, nämlich eine damals als Corona imperialis bekannte Pflanze.475 Die alles bekrö-

471 Cluyt platzierte den Eingang zwischen Wohnhaus des Präfekten und dem Garten der exotischen Gewächse. In der perspektivischen Zeichnung hingegen führt der Eingang direkt in letzteren Bereich, was unlogisch erscheint. Vermutlich hat der Zeichner den Eingang verschoben um ihn besser zeigen zu können. 472 Jarry 1970, S. 7. 473 VTILITATI PVBLICÆ. HENRICVS MAGN GALL ET NAVARR REX INVICTISS VT MVSIS INTER ARMORV STREPITVS SVA SACRA RESTITVERET CELERRIMVM HOC MEDICINÆSACRARIVM QVINTO RERV ANATOMICARVM ET HERBARIAR- VM PROFESSOR DONAVIT: PER HONORIFICAM HVIVS PROFESSIONIS PROVIN- CIAM RICHERO DE BELLEVAL REGIO MEDICO IMPOSVIT EIQ DISSECTOREM ET HORTV HVNC SVVM DETVLIT NEC NON ILLUSTRISS-CONESTABVLI VOTIS & PRECIBVS OBSECVNDANS EVNDEM RICHERVM DE BELLEVAL AMPLIATIONE STIPENDIORVM PRO VESTIGANDIS ET DESCRIBENSIS GALLIÆ PLANTIS IN- SIGNIRI & DE CORARI REGIA MVNIFICENTIA IVSSIT, STATVIT, STABILIVIT. Eine Übersetzung ins Französische in: Rioux 1994, S. 101. 474 Henri de Montmorency und Anne de Ventadour. 475 Die Kaiserkrone wurde häufig als wichtigste Pflanze definiert und in Szene gesetzt, so bei Furttenbach, Parkinson, de Passe oder dem Schlossgarten in Idstein, siehe:

408 Abb. 5.22 Grundrissskizze von Outger Cluyt in einem Brief an Pie- ter Pauw von 1602; Buch- staben verweisen auf die wichtigsten Bauten, die in einer Legende erklärt wer- den.

(Universitätsbibliothek Lei- den, Signatur B.P.L. 1886)

(Fotografie des Autors)

nenden Büsten zeigten König Heinrich IV., seine Gemahlin Marie de Mé- dicis (1575–1642) sowie ihren jungen Sohn, den zukünftigen König Ludwig XIII. (1601–1643). Im Gebäude selbst befand sich nach einer Beschreibung von 1631 im Erdgeschoss ein Lesesaal und im Obergeschoss eine naturhistorische Sammlung. Diese wurde zuvor bereits durch Peiresc kurz genannt und in diesem Bau verortet. Er beschrieb sie in einem Brief an Clusius als „une grande galerie qui se doibt remplir de peaux d’animaulx, de mineraulx, et de toutes les aultres singularités.“476 Peiresc verwendet den Begriff Gale- rie, der hier bereits relativ früh für einen Sammlungsraum benutzt wurde.

Hansmann 1991, S. 184–185; Gelder 2011. 476 Tamizey de Larroque 1898, Brief No. CCCCXII, S. 948–950, hier S. 950.

409 Und selbstverständlich gehörte auch das überlieferte Wissen in Buchform dazu, weswegen eine Bibliothek eingerichtet wurde.

Der Berg Ein eigenwillig gestalteter Teile des Gartens war eine künstliche Erhöhung, die als Montagne oder monticulus bezeichnet wurde. Der sogenannte Berg war eine im Grundriss trapezförmige Stufenpyramide, die über eine Länge von 135 Meter verfügte und an der kürzeren Seite 20, auf der brei- teren 35 Meter umfasste. Sie war ungefähr 3 Meter hoch und wurde aus 6 Stufen gebildet.477 Erschlossen wurde dieser künstliche Berg durch drei Portale, wobei zwei seitliche Eingänge auf die unterste Ebene führten und ein zentraler Durchgang auf die Spitze des Berges leitete. Über den Porta- len befanden sich jeweils eine Tafel, die erklärte, welche Pflanzen in den kommenden Segmenten wuchsen.478 So befanden sich ganz im Norden alle „PLANTAE QVÆ IN ASPERIS SAXOSIS APRICIS ET IN IPSO LITTORE NASCVNTVR.“ Das südlich Portal führte zu den „PLANTAE ODORATAE VENETAE VMBELLIFERAE SPINOSAE CATHARTICAE SCANDENTES ALIIS INNIXAE“. Die Spitze des Berges wurde durch zwei Treppenläufe erschlossen. Die erste war ebenfalls vom Innenhof her zugänglich, die an- dere von der Ostseite der Pyramide. Dort befand sich ein weiteres Portal, das in einen angrenzenden Raum führte, der wohl für Erweiterungen des Gartens vorgesehen war. Das Portal des Innenhofes zeigte an, dass auf der Spitze des Berges folgende Pflanzen gediehen: „PLANTAE QVAE IN CLI- VIS MONTIB FRVTETIS DVMETIS ET SABVLOSIS ADOLESCVNT.“ Wie die Inschriften deutlich machen, wollte man die natürlichen Ha- bitate der Pflanzen architektonisch nachbauen. Die Ausrichtung der Py- ramide in West-Ost-Richtung ermöglichte es, verschiedene klimatische Bedingungen zu schaffen. Entsprechend wurden im Norden Gewächse gepflanzt, welche einen kühlen und schattigen Raum bevorzugen, auf der Südseite hingegen jene, die es gerne sonnig und warm hatten. Auf der obersten Stufe wuchsen Pflanzen, die es besonders hell mochten und gerne auf steinigen oder sandigen Bergböden wuchsen.479 Es ging Richer de Belleval in seinem Garten also nicht nur darum, die Materia medica den Studenten darzulegen, sondern sie auch über verschiedene Pflanzen und ihre Habitate zu unterrichten. Ob der Unterricht tatsächlich auf diesem künstlichen Berg stattfand,

477 Bonnet/Rouquette 1994, S. 94. 478 Die Inschriften sind auf der perspektivischen Zeichnung lesbar und werden teilwei- se auch in einem Brief Peirescs an Clusius genannt. Die durch Peiresc zitierten In- schriften stimmen weitgehend mit denjenigen der Zeichnung überein. Siehe dazu: Tamizey de Larroque 1898, Brief No. CCCCXII, S. 948–950, hier S. 950; Transkription der Inschriften der Zeichnung: Bonnet/Rouquette 1994, S. 92–93. 479 Bonnet/Rouquette 1994, S. 94.

410 ist zweifelhaft. Einerseits sind nämlich keinerlei Pfade auf den einzelnen Abb. 5.23 Ansicht des botanischen Stufen sichtbar, die einen einfachen Zugang zu den Gewächsen erlaub- Gartens in Montpellier. ten. Vermutlich waren die Stufen ganz mit Pflanzenbeeten versehen, (En dépôt au Musée Atger, weswegen angenommen werden darf, dass die Besucher die Pflanzen Faculté de Médecine de nur von der untersten und unbepflanzten Ebene her betrachtet konnten. Montpellier) Andererseits aber führten die Zugangsportale zunächst in einen ummau- (Scan aus: Jean-Antoi- erten Raum, der seinerseits verschiedene Öffnungen aufwies, die zu den ne Rioux [Hg.], Le Jardin einzelnen Stufen leiteten. Diese waren jeweils mit einem Buchstaben von des Plantes de Montpel- lier. Quatre siècle d’his- G bis X versehen. Möglicherweise war diese Kodierung für einen Katalog toire, Graulhet (Editions vorgenommen worden, in dem die Standorte der Pflanzen eingetragen Odyssée) 1994, S. 92–93.) wurden. Und mittels eines Inventars und dieser Kodierung der Architek- tur hätten die Pflanzen bequem aufgesucht werden können.480 Künstlich angelegte Berge in Gärten erfreuten sich vor allem im 17. Jahrhundert grosser Beliebtheit.481 Sie waren Bedeutungsträger und ver- wiesen neben Schauplätzen biblischer Geschichten (beispielsweise der Ölberg oder der Golgota) vor allem auf den Parnass, der in der antiken Mythologie als Sitz Apolls und der Musen galt, weswegen solche künstli- chen Berge oftmals als „Musenberge“ bezeichnet wurden.482 Hansmann versteht den „Schneckenberg” der Villa Medici in Rom als ein Abbild des Augustus-Mausoleums und sieht in ihm das Vorbild für ähnliche Bauten nördlich der Alpen.483 Inwiefern symbolische Motive in Montpellier eine Rolle spielten, geht aus den Quellen nicht hervor. Das Fehlen eines dezi- dierten Bildprogrammes, wie es auf anderen künstlichen Hügeln in Gär- ten gefunden werden konnte, weist darauf hin, dass in Montpellier vor

480 Die Sekundärliteratur schweigt über die Bedeutung der Buchstaben, weswegen frü- he Kataloge der Zeit – vor allem derjenige von 1598 – untersucht werden sollten, um an eine sichere Erkenntnis zur Bedeutung dieser Buchstaben zu gelangen. 481 Siehe dazu: Stiftung Bibliothek Werner Oechslin 2014. 482 Zu künstlichen Bergen, siehe: Hennebo/Hoffmann 1965, S. 74–77. 483 Hansmann 1991, S. 138.

411 allem naturgeschichtliche und ökologische Überlegungen zur Errichtung des Berges führten. Guy de la Brosse (1586(?)–1641), der Begründer des Jardin du roi in Paris, sah sicherlich keine symbolischen Bezüge des Ber- ges, als er 1636 polemisch schrieb: „[…] auoir trouué vnd longueur de terre d’enuiron vingt cinq toises, sur trois de large, & sur quelque six pieds de haut, & appeller cela la motagne, cela est vn peu ridicule.“484

Die Abteilung der Medizinalpflanzen Südlich von diesem kleinen künstlichen Berg befand sich die Abteilung für Medizinalpflanzen, die erst 1603 errichtet wurde.485 Die späte Erbau- ung zeigt, dass der Unterricht in Medizinalkräutern nicht der wichtigste Grund für die Errichtung des botanischen Gartens war. Der Zugang vom Ambulacrum her trug folgende Inschrift: „PLANTAE QVARVM IN MEDI- CINA HIS TEMPORIB’ MAXIME VSVS EST“. Der Bereich war somit der Materia medica und ihrem Unterricht gewidmet. Gebildet wurde diese abgesetzte und über eine kurze Treppe erreichbare Zone aus konzent- rischen angelegten und erhöhten u-förmigen Pflanzenbeeten. Die ver- schiedenen Ansprüche der einzelnen Pflanzen wurden hier baulich nicht berücksichtigt, wurden doch alle in gleichwertige Beete gepflanzt. Ent- scheidend waren hier nicht die Habitate sondern die Heilkräfte der Pflan- zen, was sich auch in der Gestaltung und in der Disposition der Pflanzen zeigen wird. Solche gewinkelten Beete waren wiederum keine Besonderheit, sondern typisch für die Zeit und zieren beispielsweise auch das Titelb- latt von Dodonaeus Cruydt Boek von 1608. Formal wies dieser Bereich viele Gemeinsamkeiten zum getreppten Berg auf. So leitete auch hier ein zentraler Weg vom Innenhof her zu den Pflanzen und einer Türe, die zum noch ungestalteten Grundbesitz ausserhalb der Anlage führte. Die Streifen selbst waren alle gleich gestaltet und bildeten ein abgeschlosse- ne Einheit, vergleichbar mit den Streifen des Leidener Gartens. In Mont- pellier war der Effekt eines Naturtheaters aber noch deutlicher, denn der Besucher stand in der Mitte einer Anlage, die ihn rundherum umschloss. Diese Inszenierung der Sammlung kann mit dem Arts End der Bodleiana verglichen werden, wo sich der Besucher ganz umgeben von Regalen und Büchern wiederfand. Die Beete in Montpellier waren 1676 nach einem Bericht von John Locke (1632–1704) 76 cm hoch und 51cm tief, die Pflanzen darin in zwei Reihen gesetzt.486 Dies korrespondiert mit ihrer Anschaulichkeit, konnten die Besucher die Streifen doch von beiden Seiten her betrachten. Zudem

484 Brosse 1636, S. 18. 485 Meier Reeds 1991, S. 87. 486 Jarry 1970, S. 10.

412 erlaubte es die hohe Lage der Pflanzen, sie bequem aus der Nähe zu be- trachten. Erhöhte Pflanzenbeete waren ebenfalls keine Erfindung Richer de Bellevals, wie Darstellungen mittelalterlicher Gärten aufzeigen. Dieter Hennebo nennt sie „Steinkastenbeete“.487 Sie sind eine alte Beetform und wurden erst spät durch ebenerdige Beete verdrängt.488 Zudem erinnern sie an u-förmige Rasenbänke, die im Mittelalter errichtet wurden und manchmal auch Blumen beinhalteten.489 Die einzelnen Streifen wurden – analog zu den Stufen des Berges – wiederum durch einzelne Portale erschlossen und mit Buchstaben von A bis E kodiert, was erneut auf einen Standortkatalog hinweist. Ebenfalls wird auf der Zeichnung ersichtlich, dass die Beete der verschiedenen Ränge jeweils mit Ziffern von 1 bis 200 durchnummeriert waren. Die Zif- fern wurden auf Steinblöcke geschrieben, ganz so, wie es auch in Padua gehandhabt wurde.490 In Leiden wurden die Pflanzen ebenfalls mit Be- schriftungen versehen, um sie bestimmbar zu machen. Die Disposition der Pflanzen innerhalb der Beete geschah deutlich abstrakter und rationeller als im Falle des Berges, denn sie wurden al- phabetisch nach ihren Namen sortiert.491 Vor- und Nachteile dieser Klas- sifikation wurden bereits diskutiert. Auch hier konnten keine Pflanzen miteinander verglichen werden. Eine Ordnung aufgrund des Alphabets ermöglichte aber zumindest das rasche Auffinden einer Pflanze.

Das Herbarium und Seminarium Auch die nächsten beiden Räume des Gartens beinhalteten spezifische Exponate. Im Süden des Innenhofes wurde ein weiterer geschlossener Bereich angebaut, der den exotischen und seltenen Pflanzen gewidmet war, die dadurch besonders inszeniert wurden. Der Blick ins Innere wird uns auf dem Kupferstich durch die Umgrenzungsmauer grösstenteils ver- sperrt. Doch in der Skizze, die Cluyt an Pauw schickte, sieht man, dass der Bereich wohl über einzelne Beetstreifen verfügte und von einem weiteren Band umrahmt wurde. Wie im Kupferstich erkennbar ist, war dieser äu- ssere Beetstreifen wiederum zwecks besserer Einsicht erhöht gebaut wor- den. Die Streifen in Cluyts Skizze deuten eine einheitliche und einfache Gestaltung an. Vom Herbarium gelangte man durch ein Portal ins Freie. Cluyt be- schrieb diesen Teil im Jahre 1602 noch als den Gemüsegarten des Nach-

487 Zu diesen Steinkastenbeeten, siehe: Hennebo 1962, S. 142–143, zudem Bild 2. 488 Zu diesen Beeten und Rabatten im Mittelalter, siehe: Hennebo 1962, S. 156–157. 489 Hennebo 1962, S. 43, zudem Abb. 2. 490 Bonnet 1994, S. 29; einige dieser Inschriften wurden im Garten wiederentdeckt und schmücken heute – neben einem gefundenen Teil einer Portalinschrift – die weni- gen noch existenten Teile des Ambulacrum, siehe: Rioux 1994, Fig. 93, S. 99. 491 Meier Reeds 1991, S. 87–88.

413 bar. 492 Er ist also erst nach 1602 Teil des botanischen Gartens geworden und erhielt den Namen Seminarium. Aus der Perspektivzeichnung geht hervor, dass hier vor allem Bäume wuchsen und diese Abteilung für die grösseren Exponate bestimmt war. Verschiedene Personen sowie ein Hund sind in diesem Teil abgebildet. Unter ihnen befindet sich auch eine Frau in Begleitung eines Mannes. Eine weitere Dame sieht man auch in dem untersten Rang des Berges. Die dargestellten Personen weisen dar- auf hin, dass der Garten nicht ausschliesslich den männlichen Studenten und Professoren der Universität vorbehalten war. Im Zentrum einer grö- sseren Gruppe junger Männer, die den Garten betrachten, befindet sich ein bärtiger Herr. Es handelt sich dabei wohl um eine Darstellung von Ri- cher de Belleval und seinen Studenten,493 ganz so, wie auch Pieter Pauw sich umringt von Studenten in seinem Garten ins Bild setzte.

Das Labyrinth Ein besonders aufwendig gestalteter Bereichwar das sogenannte Labyrin- th. Es lag zwischen dem Auditorium und dem Wohnhaus Richer de Belle- vals und war wiederum vom Innenhof her zugänglich. Die Inschrift über dem Portal besagte: „PLANTAE QVAE IN VMBROSIS SYLVIS VDIS VLIGI- NOSIS ET PALVSTRIBVS PROVENIVNT.“ Es war also vorgesehen für jene Pflanzen, die eine schattige und feuchte Lage bevorzugten. Carolus Clusius war bestens über diesen Teil des Gartens unter- richtet. Nicolas Fabri de Peiresc führte mit ihm einen Briefwechsel und berichtete vom botanischen Garten in Montpellier.494 Er bot Clusius an, ihm – im Gegenzug für einen Druck seiner Naturgeschichte „en plus beau papier“ – eine Zeichnung des Labyrinthes zu schicken, welches Richer de Belleval „a faict bastir à Monpelier et du ouys artificiel qu’il a inventé pour y conserver les plantes qui naissent es lieux froids et humides.“495 Die ver- sprochene Zeichnung sowie eine detaillierte Beschreibung des Labyrin- ths schickte er am 27.2.1604 nach Leiden (Abb. 5.24).496 Zur Klärung der ungewöhnlichen Anlage habe er Buchstaben in die Skizze eingefügt. Clusius solle sich, so Peiresc, das Labyrinth wie folgt vorstellen. In der Mitte befände sich ein Brunnen, zu dem in Form einer Schnecke eine abfallende Allée hinführe. An den einzelnen Abschnitten gäbe es Pflanz-

492 Cluyt an Pauw; Text mit abgedruckter Skizze in: Bronnen I, (8. Apr. 1602 bis 19. Okt. 1607), Bijl. no. 375, S. 435*–443*, hier: Brief vom 30.11.1602, S. 436*–438*; Original in Universitätsbibliothek Leiden, Signatur B.P.L., No. 7. 493 Bonnet/Rouquette 1994, S. 93. 494 Briefwechsel ediert, aber ohne Abdruck der Zeichnung in: Tamizey de Larroque 1898, S. 941–960, besonders Brief CCCCXII, S. 948–950; Digitalisat online unter Clu- sius Correspondence, UBL. 495 Tamizey de Larroque 1898, Brief No. CCCCX, S. 944–946, hier S. 945. 496 Folgendes nach: Tamizey de Larroque 1898, Brief No. CCCCXII, S. 948–950.

414 Abb. 5.24 Das Labyrinth des botani- schen Gartens in Montpel- lier. Zeichnung aus einem Brief von Peiresc an Clusi- us, 1604.

(Universitätsbibliothek Lei- den, Signatur: VUL 101 / Peiresc, N)

(Download: UBL Digital Special Collections)

bänke, in denen Feuchtigkeit und Schatten liebende Gewächse gediehen. Am Ende dieses Weges fände man einen tiefliegenden Hof von ungefähr 10 bis 12 Schritt Länge und halber Breite, der umgeben sei von solchen Pflanzen. In der Mitte dieses Hofes sei ein Graben mit frischem Wasser, wo man verschiedene Wasserpflanzen antreffe. Am einen Ende dieser Vertiefung befände sich „une voulte“ und darunter ein Brunnen. Das an- dere Ende verfüge ebenfalls über einen „voulte“ „toute peincte“ „faicte ex- pres pour s’y reposer“. Über den Wegen seien an Holzstangen Leintücher angebracht, um die Pflanzen vor Sonneneinstrahlung und Trockenheit zu schützen. Dieser Teil des Gartens war wohl die ingeniöseste Leistung Ri- cher de Bellevals und wurde wiederum vollzogen, um den Pflanzen ihre natürlichen Bedürfnisse mittels Architektur anbieten zu können. Peiresc schrieb zudem, dass dieser Brunnen den ganzen Garten be- wässern und Richer de Belleval dies bequem von seinem Wohnraum aus steuern könne. Das Wasser werde über verschiedene Kanäle auf den gan- zen Garten verteilt. Selbst der Berg werde so bewässert.

Schlussbemerkungen Wurde anderswo versucht, die ganze Pflanzenwelt in einem einheitlich organisierten und geometrisch klar gestalteten Garten zu präsentieren – beispielsweise in Leiden oder Padua –, wurden in Montpellier verschiede- ne Bereiche mit unterschiedlichen Qualitäten geschaffen, die dabei meist auf die natürlichen Habitate der Pflanzen eingingen und diese künstlich

415 nachzubilden versuchten. Denn versammelt und gezeigt werden konnte in einem Garten nur, was auch gedieh. Die Architektur hatte deswegen erheblichen Einfluss darauf, welche Pflanzen in einem Garten erforscht werden konnten, was sich dadurch auch auf die Resultate der wissen- schaftlichen Arbeit auswirkte. Die Architektur des Gartens war somit eine notwendige Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens. Der Bau besonderer und den Habitaten der Pflanzen entsprechen- den Anlagen lag auch in der langen Tradition der Feldforschung in Mont- pellier begründet. So konnten die Pflanzen nun ohne kräftezehrende Ex- peditionen einfach und bequem zu jeder Jahreszeit und damit in jedem Wachstumsstadium untersucht werden, was wiederum dem Fortschritt des Wissens diente. Eine weitere Absicht könnte zum Nachbau der Natur Frankreichs geführt haben. Die Inschrift über dem Auditorium besagte, dass alle Pflanzen des königlichen Reichs hier auf Wunsch Heinrichs IV. versammelt werden sollten; die Architektur nahm darauf Rücksicht, in dem sie die verschiedenen regionalen Ausprägungen des Landes nach- schuf. Auch die von Richer de Belleval geplante Publikation Herbier Géné- ral du pays de Languedoc zeigt das Interesse, die lokale Flora zu untersu- chen und zu beschreiben. Durch dieses Vorgehen und durch den Bau des Gartens in Montpellier gilt De Belleval als Begründer einer ökologischen Pflanzenkunde.497 Der additive Charakter des Gartens in Montpellier blieb jedoch bei Zeitgenossen nicht ohne Kritik. So schrieb Peiresc in seinem Brief an Clu- sius von einem Garten: „[…] qui est le plus confus et le plus embrouillé que je vis jamais.“498 Und auch Guy de La Brosse schrieb 1636: „[…] sa di- sposition n’est pas des plus auantageuses; car diuisé qu’il est en diuerses pièces toutes separement ceintes de murailles, il ressemble plustost à vn labirinte qu’à vn Iardin spacieux […].“499

Der Bau des Ambulacrum

Pieter Pauw war nicht bloss für eine Umgestaltung der Gartenbeete ver- antwortlich, sondern auch für die Errichtung des sogenannten Ambu- lacrum, eine Galerie, die an der Südseite des Gartens zu liegen kam.500 Neben historischen Vorbildern und philosophischen Ideen, an die ange- knüpft wurde, führte ein ganz pragmatischer Grund zur Erstellung einer steinernen Galerie. Pauw berichtete dem Kuratorium, dass während eines

497 Bonnet 1994, S. 28–29. 498 Tamizey de Larroque 1898, Brief No. CCCCXII, S. 948–950, hier S. 950. 499 Brosse 1636, S. 17–18. 500 Zur Galerie und ihrer Funktion als Museum, siehe: Jong 1991.

416 Abends ein heftiger Sturm in Leiden wütete und den Garten durcheinan- der wirbelte. Dabei wurde auch das Dach eines Gartenhäuschens arg in Mitleidenschaft gezogen.501 Obwohl es nicht explizit erwähnt wird, muss davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um den eher behelfsmäs- sigen und rasch errichteten hölzernen Schuppen handelte, den Cluyt zur Überwinterung der fremdländischen Pflanzen erstellen liess. Wohl deswegen trat am 8. Februar 1599 der neue Präfekt an die Ku- ratoren heran und äusserte den Wunsch, eine Galerie errichten zu lassen, in der die Studenten während des Sommers vor Regen und im Winter die fremdländischen Pflanzen vor der kalten Jahreszeit geschützt sein soll- ten.502 Um die Kosten zu reduzieren, wurde beschlossen, dass der hölzer- ne Schuppen abgetragen und verkauft werden sollte, da er dank des Neu- baus nicht länger benötigt wurde.503 Das Bauprojekt wurde ausgearbeitet, kam aber bereits im September 1599 in Kritik. Franciscus Gomarus (1563–1641)504 protestierte gegen den Bau der Galerie, da sein Wohnhaus am Nonnensteg lag und er fürchtete, dass durch den Bau der Galerie nur noch sehr wenig Licht in sein Haus fallen würde. Zudem würde der schöne Blick, den er auf den Garten ge- noss und der ein Hauptgrund für den Kauf der Liegenschaft war, verbaut werden. Er schlug dem Kuratorium vor, dass man die Galerie doch an der Nord- anstelle der Südseite errichten sollte, einen Vorschlag, den die Ku- ratoren besser berücksichtigt hätten. Denn der realisierte Bau erhielt an der Südseite nur sehr wenig Licht. Das Kuratorium verfügte daraufhin, dass die neue Galerie nicht höher sein durfte als die bestehende Maur. Zu- dem wurde die projektierte Dachform von einem Pult- in ein Giebeldach abgeändert.505 Doch Gomarus versuchte auch danach den Bau zu verhin- dern und wollte verbieten, dass die Dachträger der neuen Galerie auf sei- ner Mauer auflagen. Die Kuratoren konnten jedoch nachweisen, dass die Mauer innerhalb des botanischen Gartens lag.506 Der Bau der Galerie erfolgte daraufhin ohne weitere Einwände, kos- tete aber zusehends mehr als ursprünglich kalkuliert worden war.507 Die Kuratoren rechtfertigten den Bau damit, dass die Galerie langfristig zu Kostenersparnissen führen müsse, da momentan noch viele – und wohl seltene und somit teure – Pflanzen aufgrund der grossen Hitze oder der

501 AC1.41 (ohne Datum oder Paginierung). 502 Grundlegend zur Baugeschichte, siehe: Terwen-Dionisius 1980, S. 38–44. 503 Bronnen I, (8. Febr. 1599), S. 119. 504 Gomarus ging vor allem durch seinen Disput mit (1560–1609) in die Geschichte ein. Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 7, Sp. 483–486. 505 AC1.20, (22. Sept. 1599), f. 62r–62v. 506 AC1.20, (8./9. Mai 1600), f. 76v–77r. 507 AC1.20, (8./9. Mai 1600), f. 78r; AC1.20, (8./9. Nov. 1600), f. 81r–81v; zudem verschie- dene Bauabrechnungen in: AC1.41 (ohne Datum oder Paginierung).

417 strengen Kälte eingehen würden. Die neue Galerie werde diese Verluste in Zukunft verhindern. Zudem mussten – wie die Studenten und die Pro- fessoren berichteten – oftmals aufgrund der Witterung die Vorlesungen unterbrochen werden. Die Galerie werde die Studenten nun vor Regen, Wind, Hagel, ja sogar Schnee schützen. Aus all diesen Gründen sei die Errichtung der Galerie gerechtfertigt.508 Der Bau der Galerie dauerte vom Dezember 1599 bis zum Oktober 1600, weswegen die Beete entlang der Baustelle in diesem Jahr noch keine Pflanzen beinhalteten.509

Architektur der Galerie Realitätsnahe – aber nicht über alle Zweifel erhabene – Darstellungen des Ambulacrum geben uns der Kupferstich von 1610 und derjenige aus dem Katalog Pieter Pauws von 1600. Vermutlich sollte die Grundfläche des Gartens so wenig wie möglich durch den Bau der Galerie reduziert wer- den, weswegen sie im Süden sehr nahe beim Wohnhaus von Gomarus zu liegen kam. Der Bau besetzte die gesamte Länge des Gartens und Pauw beziffert in seinem Vorwort seine Dimensionen auf 133 Fuss (41.8m) auf 12 Fuss (3.8m).510 Gedeckt wurde er mit dem geforderten Giebeldach, das an der Nordseite hin zum Garten zwölf Gauben erhielt, um den Pflanzen genügend Licht zu spenden. Wie aus den Akten zu Renovationsarbeiten des Jahres 1650 hervorgeht, war das Dach mit Schieferplatten belegt; da- mals mussten neben dem Dach auch die Fenster erneuert werden, weil sie nicht mehr gut schlossen.511 Wie bereits erwähnt, wurde die Galerie mit drei Portalen ausgestattet, die jeweils an den Hauptachsen des Gar- tens lagen und den neuen Bau mit den Beeten verknüpften. Über dem Hauptportal hatte die Galerie ein aufwendig gestaltetes Frontispiz, in das die Gesetze des Gartens gemeisselt wurden. Die Anzahl der Fensterach- sen stimmt weder auf der Zeichnung Jacques de Gheyns II. noch auf dem Kupferstich von 1610 mit der Realität überein. Denn auf einer überliefer- ten Planzeichnung, die vermutlich um 1686 erstellt wurde, sind pro Seite bloss zehn Fenster eingezeichnet.512 Das Ambulacrum war das erste komplett neu erstellte Gebäude und zugleich das aufwendig gestalteste Bauwerk der Leidener Universität im 16. und 17. Jahrhundert. Die Pläne wurden durch Jan Ottensz. van Zeyst

508 AC1.20, (8./9. Sept. 1600), f. 81r–81v. 509 Verschiedene Bauabrechnungen in AC1.41 (ohne Datum oder Paginierung). 510 Pauw 1601, unpaginiert. 511 AC1.24, (6. Sept. 1650), 190v–191r; AC1.24, (1. Dec. 1650), f. 200v; AC1.24, (9. Febr. 1653), f. 285v; AC1.24, (8. Aug. 1653), f. 294v–296r. 512 Die Planzeichnung, die in AC1.150 liegen sollte, konnte in der Universitätsbiblio- thek Leiden auf Anfrage des Autors nicht aufgefunden werden; eine Darstellung da- von in: Kunsthistorisch Instituut 1979; zudem in: Terwen-Dionisius 1980, S. 43.

418 erstellt.513 Aufwand und Stil sind mit dem Stadthaus vergleichbar, das na- hezu zeitgleich gebaut und durch Lieven de Key (1560–1627) entworfen wurde. Stilistisch kann die Galerie der Holländischen Renaissance zu- geschrieben werden, die in Leiden erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts aufkam.514 Das neuartige Bauprogramm der Galerie sowie deren Funkti- on erhielt durch die Stilwahl eine gestalterische Entsprechung. Eine vergleichbare antikisierende Formensprache wurde in den Ar- chitekturtraktaten von Hans Vredeman de Vries propagiert und in seinen Schriften, die mehrfach übersetzt und aufgelegt wurden, medial verbrei- tet. Die Publikationen sind eigentliche Musterbücher für Architekten, die sich nicht durch eine Reise nach Italien mit den dortigen Werken der An- tike vertraut machen konnten und gaben entscheidende Impulse für das Bauen im Stil der Renaissance nördlich der Alpen.515 Den Leidener Pro- fessoren und Kuratoren war dessen Werk sicherlich bekannt, auch wenn seine Bücher im Nomenclator nicht aufgeführt werden. 1604 bewarb sich der berühmte Architekt gar um eine Anstellung in der „Niederdeutschen Mathematik“, was ihm aber verwehrt wurde.516

Galerie und Ambulacrum In den Quellen wird der neue Bau des Gartens im Niederländischen als „Galerije“, im Lateinischen als Ambulacrum bezeichnet. 517 Im lateini- schen Begleittext der Kupferstiche ist zudem von einer porticus und im französischen Text von einer portique die Rede. Doch was meinen die Be- griffe, allen voran jener der „Galerie“? Mit dem „schwammigen Wort“518 werden heute in erster Linie zweierlei Sachverhalte benannt. Zum einen eine spezifische Raumform, zum anderen eine Funktion, nämlich ein Sammlungsraum, ja sogar die Sammlung selbst. Analog zur Bibliothek konnte die Bezeichnung somit sowohl auch die Räumlichkeit wie auf die Sammlung verweisen. Im 17. Jahrhundert wurden die Weichen für unser heutiges Begriffsverständnis gestellt. Die Etymologie des Begriffs ist unklar.519 Vincenzo Scamozzi (1548– 1616) leitete den Begriff von „Gallia“ ab und definierte die Galerie somit als französischen Bautypus. Du Cange hingegen sieht seine Wurzeln 1678

513 Terwen-Dionisius 1980, S. 38. 514 Maanen 2003, S. 34–35. 515 Siehe dazu beispielsweise: Vries 1979; Fuhring/Luijten 1997. 516 AC1.20, (8. Febr. 1604), f. 128r–128v. 517 Zur Frage des Bautypus, siehe die jüngst erschienene Publikation der Bibliotheca Hertziana: Strunck/Kieven 2010; zuvor entbrannte aufgrund einer Publikation von Wolfram Prinz eine Diskussion um die Entstehung des Bautypus, siehe dazu: Prinz 1970; zudem die folgenden kritischen Rezensionen: Hoffmann 1971; Büttner 1972; ferner: Götz 1980; Prinz 1981. 518 Strunck 2010, S. 10. 519 Strunck 2010, S. 11.

419 im biblischen Ortsnamen Galilea, wobei die Vorhalle einer Kirche so ge- nannt werden konnte und später zum Begriff „galleria“ geführt haben sollte. Der Kunsthistoriker Volker Hoffmann setzt den Begriff mit dem alt- französischen Verb „galer“ in Beziehung und definiert einen ergnügungs- ort. Frank Büttner sieht den Ursprung des Wortes im mittelhochdeut- schen Verb „wallen“ (gehen, wandeln), das durch eine Lautverschiebung ins Französische zu „galler“ wurde. Die Galerie wäre demnach also ein Ort zum Wandeln, was auch im Wort Ambulacrum angezeigt wird, denn das lateinische Wort ambulo bedeutet ein natürliches und ungezwunge- nes Umhergehen. Französische Synonyme des Worts Galerie deuten in dieselbe Richtung, lauten sie doch „allée“ oder „promenoir“. Die früheste bekannte Nennung des Begriffs „galerie“ stammt aus dem Jahr 1315, wo ein zum Hof geöffneter Arkadengang im Schloss Con- flans bei Paris so bezeichnet wurde, was anzeigt, dass eine Galerie frü- her nicht bloss geschlossene Räume bezeichnete, sondern auch offene. In Italien hiess die Galerie deshalb Loggia. Zudem wurden bereits 1440 die Begriffe ambulacrum und galerie als Synonyme definiert: „ambu- lacrum, quod nos galeriam vocamus“.520 In erster Linie wurde der Begriff verwendet, um einen länglichen Raum zum Gehen zu definieren.521 Im deutschen Sprachgebrauch wurden solche Wandelhallen gerne als "Spat- ziergänge" oder "Spatziersäle" bezeichnet, so beispielsweise auch die Lei- dener Galerie im Begleittext zum Kupferstich von 1611.522 Frank Büttner definierte den Bautypus der Galerie folgendermassen:

„Der Funktion nach ist die Galerie ein Bewegungsraum […]. Der Aufenthalt in der Galerie gilt nicht einem außerhalb liegenden Ziel (wie etwa beim Korridor), sondern ihr selbst. Sinn des Aufenthaltes ist zum einen die Muße. Dem in Muße Spazierengehenden bietet sich als Anregung der Ausblick durch die Fenster, und dem Ausblick zuliebe wird eine Galerie möglichst so eingerichtet, daß sie einem Garten zugewandt sein kann. Anregung bietet auch das Dekorati- onsprogramm, und Muße ist schließlich auch ein adäquates Verhal- ten gegenüber den in der Galerie gezeigten Kunstwerken. Ein weite- rer Aspekt des Sinnes ist der der Repräsentation. Die Galerie ist ein durch ihre Ausstattung zum Besonderen erhobener Ort, der unter den Räumen des Palastes als öffentlich zu gelten hat und durch den einem gewählten Publikum die Würde des Hausherren demonstriert werden soll.“523

520 In einem Dokument des Stadtsenators von Toulouse, zitiert nach: Strunck 2010, S. 11. 521 Für weitere Bespiele und Nennungen siehe: Strunck 2010, S. 11–16. 522 „Auch sind daselbst in einer schonen grossen Gallereyen / oder Spatziergange/“ 523 Büttner 1972, S. 75–76.

420 Er verweist damit auf wesentliche Aspekte, die auch im Falle der Leidener Galerie zutreffen. Drei Sachverhalte sind hier von besonderem Interesse: Die Galerie als Ort des Wandelns, ihre Nähe zum Garten und die Funk- tion als Sammlungsraum. Die Nähe zum Garten ist gegeben. Der Begriff Ambulacrum deutet auf Bewegung hin und auch Pieter Pauw erklärt in seinem Vorwort des Gartenkatalogs, dass die Galerie die Studenten zum Wandeln einlade.524 Zudem wurde die Galerie durch zahlreiche Naturali- en zu einem eigentlichen Sammlungsraum.

Historische Vorbilder Pauw stellte mittels des Baus und seiner Wortwahl einen direkten Bezug zu historischen Vorbildern her, denn solche Wandelhallen gab es bereits in der Antike. Die Philosophen des antiken Griechenlands – unter ihnen Platon und sein Nachfolger und Pflanzenforscher Theophrastus – unter- richteten in Gärten. In den platonischen Dialogen wird beschrieben, wie in Gärten umherwandelnd diskutiert wurde. Und an diesen Gärten fand man Stoa genannte, offene Säulenhallen, welche die Philosophen vor Un- wetter schützten.525 Die Ideale der griechischen Philosophenschulen und -gärten wur- den durch die Römer übernommen und in schriftlicher Form der Renais- sance weitergegeben. Vitruv liefert uns eine Beschreibung dieser griechi- schen Anlagen und unterscheidet zwischen einer Säulenhalle (Porticus) und einer Wandelhalle (Ambulacrum).526 Vor allem beim Bau von Villen als Ort der Musse spielten diese gedanklichen Grundlagen eine entschei- dende Rolle. Seneca beschreibt Spaziergänge in Wandelgängen als erhol- sam für die Seele, und auch Plinius d.J. berichtet davon.527 Die anschau- lichste Beschreibung einer römischen Villenanlage stammt aus seiner Feder. Für den Zusammenhang von Garten und Galerie sind vor allem zwei Bauelemente wichtig, die Plinius d.J. schildert. Zum einen handelt es sich um die Portikus, welche die beiden Haupträume der Villa ver- band. Diese lag unmittelbar hinter dem Ziergarten, Xystus genannt, und ging in diesen durch die offenen Säulenstellungen nahtlos über. Gothein schreibt zu dieser Verbindung zwischen Säulenhalle und Garten: „Noch aber ist die Säulenhalle, vor der der Garten liegt, geblieben, wie sie einst im griechischen Gymnasium so auch zum römischen Xystus unerläßß- lich gehört.“528 Die Säulenhalle gehörte also zu einem Garten. Plinius be-

524 Pauw spricht von „inambulare“, was spazieren, umhergehen oder wandeln bedeu- tet, siehe: Pauw 1601, unpaginierte Seite (Vorwort). 525 Gothein, Teil 1, S. 69–75. 526 Gothein, Teil 1, S. 69–72; Vitruv 1991, S. 236–237. 527 Lauterbach 2004, S. 79–80. 528 Gothein 1926, Band 1, S. 106.

421 schreibt zudem drei Kryptoportiken, also bedeckte Säulenhallen. Auch sie verbanden verschiedene Räume miteinander und waren deshalb Orte der Bewegung. Sie geben zudem Ausblicke auf verschiedene Gartenan- lagen frei. Es erstaunt nicht, dass sowohl Hoffmann wie auch Büttner in diesen Kryptoportiken mögliche Vorbilder für die Galeriebauten der Renaissance sehen. Auch im Mittelalter wurden solche Wandelhallen in unmittelbarer Nähe von Gärten erstellt. Auf die enge Beziehung zwischen Garten und Kreuzgang wurde bereits hingewiesen und auch darauf, dass sich die Kreuzgänge vermutlich aus antiken Peristylanlagen heraus entwickelt haben.529 Auch sie dienten dem kontemplativen Umherschreiten. Im Mit- telalter gab es aber noch weitere bauliche Objekte, die auf spätere Gale- rieanlagen hinweisen. In einem Fall handelt es sich dabei um zum Garten hin offene Hallen. Die nahe Lage zum Garten erlaubte, dessen Pflanzen und Düfte auch innerhalb eines architektonischen Rahmens wahrneh- men zu können.530 In einer mittelalterlichen Schrift von Galfredus de Vino Salvo wird auf die Villenbeschreibung von Plinius rekurriert und der ge- schilderte Locus amoenus mit einer Säulenhalle versehen.531 Als zweites Element mittelalterlicher Gartenanlagen, das in enge Be- ziehung zu Galeriebauten und Gärten gesetzt werden kann, ist der Lau- bengang zu nennen,532 der ebenfalls antiken Ursprungs ist.533 Hennebo spricht sogar von „grünen Galerien”.534 Sie waren zunächst an den äusse- ren Seiten der Gärten angelegt und hatten eine unbewachsene Seite, die den Ausblick auf die Pflanzenbeete gewährleistete. Erst später, wohl ab dem 15. Jahrhundert, bedeckten sie auch die mittleren Wege.535 Diese Lau- bengänge, oder grünen Galerien, wurden oftmals ambulationes genannt, was wiederum auf ihre Funktion als Wandelraum verweist. Nach Büttner ist es „wesentlich für das Verständnis der Galerie, zum Beispiel für den Aspekt der Muße, daß Funktionen dieser Gartenarchitektur von der Ga- lerie übernommen wurden“.536 Nach Hoffmann sei die Galerie zwar nicht direkt daraus entstanden, doch gäbe es zwischen der Laube und der Ga- lerie zahlreiche Überschneidungen.537 In den Gartenentwürfen von Hans Vredeman de Vries sind solche grünen Lauben häufig anzutreffen, etwas

529 Hennebo 1962, S. 31; Büttner 1972, S. 78. 530 Hennebo 1962, S. 143–146. 531 Curtius 1948, S. 203. 532 Hennebo 1962, S. 150–152. 533 Büttner 1972 S. 78; Hennebo 1962, S. 81–82. 534 Hennebo 1962, S. 150. 535 Hier gehen die Meinungen auseinander, siehe: Hennebo 1962, S. 152. 536 Büttner 1972, S. 78. 537 Hoffmann 1971, S. 108.

422 seltener sind sie bereits in gebaute Architektur übertragen worden.538

Galerien der frühen Neuzeit Die Galerie etablierte sich als Bautypus innerhalb der frühen Neuzeit. Neben berühmten Beispielen aus Frankreich und Italien wurden auch anderswo in Europa solche Galerien errichtet.539 In Italien blieben die Wandelhallen aufgrund des warmen Klimas meist offen und wurden als Loggien bezeichnet, während sie im nördlichen Europa geschlossen wur- den und den Namen Galerie erhielten. In den Zeichnungen Du Cerceaus werden häufig solche als "gallerie" bezeichneten Wandelgänge entlang von Gärten gezeigt.540 Auch in den Niederlanden gab es Galeriebauten entlang von Gär- ten. Dabei wurde neben den mittelalterlichen Bautraditionen auch auf das antike Gedankengut rekurriert, das einen Ort der Musse und des pe- ripatetischen Wandelns propagierte. Nicht nur in den Zeichnungen Vre- deman de Vries werden deshalb solche Bauten gezeigt, sondern auch in literarischen Gartenentwürfen. Nicht zuletzt waren es neostoizistische Humanisten wie Justus Lipsius, die das Gedankengut der Antike wieder- belebten und mit ihm wohl auch die Schauplätze, nämlich die Gärten der Stoiker wie Cicero, die ihrerseits auf die Philosophengärten der Griechen Bezug nahmen.541 Die Stoa, also die antike Wandelhalle nahe eines Gar- tens, war denn auch der Ort, wo diese Philosophie ihren Ursprung hatte und gelehrt wurde. In einer seiner Schriften beschreibt Lipsius einen ide- alen Garten, der durch einen Laubengang – Lipsius spricht von ambulo und pergula – nach Art eines klassischen Peristyls umschlossen wurde, als Treffpunkt von Freunden. Mit seiner Schilderung knüpft er unmittel- bar an den Schauplatz von Schriften Ciceros an, die in einem vergleichba- ren Philosophengarten spielten.542 Und auch Clusius kannte mindestens eine wichtige Gartengalerie aus eigener Erfahrung. Als er in Wien weilte, liess Kaiser Maximilian II. (1527–1576) vermutlich durch Jacopo Strada (1507–1588) das sogenannte Neugebäude errichten. Der umgebende Garten sollte ein wahrer Lust- garten nach italienischem Vorbild werden. Das Neugebäude war keine Orangerie, da auch hier vor jedem Winter temporäre Schuppen errich- tet wurden, sondern ein eigentlicher Sammlungsraum, der Kunstwerke beherbergte.543 Zudem standen Galerien als Ort des Nachdenkens auch

538 Vries 1980; zudem: Fuhring 2011. 539 Für Beispiele, siehe die oben erwähnte Literatur zum Thema. 540 Boudon/Mignot 2010. 541 Grundlegend zum Thema: Lauterbach 2004. 542 Lauterbach 2004, S. 72–130. 543 Zum Neugebäude und Clusius Zeit in Wien, siehe: Gelder 2011, S. 59–62.

423 mit Bibliotheken in Beziehung. Montaigne wünschte sich eine Galerie nahe seiner Bibliothek, da er umherwandelnd besser nachdenken konn- te. Auch Serlio und De L’Orme befürworteten die Verbindung von Galerie und Büchersammlung.544

Das Ambulacrum als Orangerie Die Leidener Galerie übernahm neben der Funktion einer Wandelhalle und eines Sammlungraums auch diejenige einer Orangerie. Feste Oran- gerien entstanden erst um 1600, zuvor wurden sie – wie bereits bespro- chen – meist vor jedem Winter neu aufgerichtet und im Frühjahr wieder abgetragen. In Leiden wurde wohl eines der frühesten Beispiele perma- nenter und steinerner Winterhäuser errichtet. Doch brachte die Lage der Galerie an der Südseite des Gartens grö- ssere Probleme mit sich. Sie orientierte sich nämlich ausschliesslich ge- gen Norden, da ihre Rückwand ja zugleich die Trennmauer zu Gomarus’ Wohnhaus war. Dies führte wohl zu einer nur unzureichende Beleuch- tung der verwahrten Pflanzen. Philibert de l’Orme definierte deshalb – anknüpfend an Vitruv – zwei Arten von Galerien, nämlich eine nach Nor- den hin geöffnete, die im Sommer genutzt werden und Schatten spenden sollte und eine nach Süden hin orientierte, die im Winter einen warmen Raum anbieten sollte.545 Und auch Commelin schrieb im 17. Jarhundert in seinem Buch über Zitrusfrüchte und den dazu notwenidgen Bauten, Orangerien sollten nach Süden hin orientiert sein.546 Zudem wurde der Bau immer mehr auch als Sammlungsraum ge- nutzt, was wohl die einfache Unterbringung der Pflanzen verhinderte. Schon bald war man deshalb gezwungen, erneut auf den Typus eines ephemeren Winterhauses zurückzugreifen und keine zehn Jahre später wurde in Leiden eine neue feste Galerie errichtet.

Das Ambulacrum als Museum

Pieter Pauw erklärt bereits in seinem Vorwort des Katalogs, der Innen- raum des Ambulacrum sei verziert mit verschiedenen raren Dingen, die aus allen Ländern der Welt nach Leiden gebracht wurden.547 Und der Be- gleittext zum Kupferstich von 1610 besagt:

544 Strunck 2010, S. 23. 545 Strunck 2010, S. 17. 546 Commelin 1676, S. 38. 547 „Cuius interiora, rebus variis & raris quas India & America alioque sole calentes terræ mittunt, & aliundè inuehuntur, instructa ornataque nitent.“, Pauw 1601, Vor- wort an die Kuratoren, unpaginiert.

424 „Auch sind daselbst in einer schonen grossen Gallereyen / oder Spatziergange/ (so obbenante H. Curatoren lassen bawen / auff das man aldah vor dem rege sicher und trucken moge spatzieren) viel und mancherley selzame sachen zusehen: welcher name (wie auch der Kreuter im Garten) alhie zu erzehlen viel zu lang wurde sein. Je- doch werden derselben sachen ein theil / so aus Ost und West-In- dien / auch andern frembden un fernen Landen gekommen sind / alhie mit ihren Lateinischen namen furgestelt.“

Unterhalb des Kupferstichs sind einige der Naturalien dargestellt, die in der Galerie besichtigt werden konnten (Abb. 5.15). Das Ambulacrum war deshalb ein frühes naturhistorisches Museum, wohl das erste einer öffentlichen Institution in den Niederlanden und darüber hinaus eines der ersten in ganz Europa. Pauw selbst verwendet den Begriff „Museum“ jedoch nicht, sondern spricht von einer Galerie oder einem Ambulacrum. Clusius hingegen nannte Naturalienkabinette privater Sammler häufig Museum. Erst in späteren Akten des 17. Jahrhunderts wurde die Galerie und ihre Sammlung als Museum bezeichnet.548

Begriffserklärung Museum Sammlungen sind so eng mit ihren Räumen verbunden, dass ihre Be- zeichnungen sowohl auf die Exponate selbst, wie auch auf ihre Bauten verweisen können. Wie Justus Lipsius für Büchersammlungen erklärte, das Wort „Bibliotheca“ bedeute neben der Sammlung auch ihren Raum, so gilt gleiches für das Wort „Museum“ oder „Galerie“.549 Zumindest der Begriff „Museum“ war aber zunächst noch nicht eng definiert. Was be- deutete er? Nach Paula Findlen stand das Wort für „an epistemological structure which encompassed a variety of ideas, images and institutions that were central to late Renaissance culture.“550 Das Wort besass drei grundlegen- de Definitionen. Spezifisch verwies es auf die Bibliothek in Alexandria, die durch antike Autoren als solche bezeichnet wurde, und der Gelehr- samkeit diente. Pauw betitelt entsprechend die Bibliothek der Universi- tät als „Musarum sacrario“.551 Museen konnten nämlich auch Orte sein, die durch die neun Gottheiten der Künste bewohnt wurden. Als Muse- um wurden zudem auch Heiligtümer bezeichnet, die diesen Gottheiten geweiht waren. Wir erinnern uns an den festlichen Einzug der Universi- tät, wo diese neun Musen – begleitet durch Neptun und Apoll – in Leiden

548 Grundlegend: Jong 1991, S. 37–60, hier S. 42. 549 Strunck 2010, S. 10. 550 Findlen 1989, S. 59; Findlen 1994; Jorink 2011. 551 Pauw 1601, unpaginierte Seite des Vorworts.

425 eintrafen. Die ganze Akademie wurde oft als Sitz der Musen verstanden, worauf auch eine Inschrift im Gehweg vor der Universität verwies: „Musa Coelo Beat“, ein Zitat aus einem Werk von Horaz, das besagte, „die Muse verbietet dem des Ruhmes Würdigen zu sterben, versetzt ihn unter die Götter.“552 Dass die Natur, respektive ein Garten als Sitz der Musen und deshalb als Museum verstanden wurde, kam bereits zur Sprache.

Von privaten Kabinetten zu öffentlichen Museen Bereits bei der Berufung von Paludanus wurde der Wunsch gehegt, dass neben Pflanzen auch andere Naturalien versammelt und gezeigt werden sollten. Durch seine Absage kam es jedoch nie zur Einrichtung der Palu- danischen Sammlung im Wohnhaus des Präfekten. Trotz der gewünsch- ten Lage in einem Privathaus sollte sie Studenten und anderen Besucher offen stehen. Die Sammlung wäre deshalb zwischen öffentlich und pri- vat zu qualifizieren gewesen. Der Übergang von privat zu öffentlich, von „silent to sound“ (Findlen), geschah genau in diesem Zeitraum.553 Nach Findlen änderte sich durch den entstehenden öffentlichen Charakter der Sammlungen im Laufe des 17. Jahrhunderts auch deren architektonische Hülle. Nicht mehr ein statischer, geschlossener und meist privater Raum – genannt studio – wurde errichtet, sondern eine galleria, also ein öffent- lich zugänglicher Ort der Bewegung.554 Und auch Frank Büttner erklärt, dass die in Musse und Kontemplation herumschweifenden Besuchern ein adäquates Verhalten gegenüber den in Galerien gezeigten Objekten mitbrachten.555 Die Geschichte der Leidener Sammlungen zeigt diese Entwicklung exemplarisch. Der Wunsch einer Sammlung blieb auch nach der Absage von Palu- danus natürlich bestehen. Denn neben Pflanzen waren auch Metalle, Mineralien und Tiere ebenfalls Naturalien im Fokus der Naturforscher. Die Universität begann deshalb, selber eine aufzubauen. Clusius brachte seine bescheidene Sammlung an Mineralien und Metallen mit nach Lei- den. Wo diese zunächst untergebracht wurde, ist jedoch unklar. Vielleicht lagerte sie im Vorlesungsraum der Medizinfakultät, wo auch die ersten Skelette standen. Mit dem Bau des Ambulacrum wurde der Grundstein für eine öffentliche Sammlung gelegt. Wie für die Sammlung von Paluda- nus „een grote, schoone, heerlicke camer“ geschaffen werden sollte,556 so scheuten die Kuratoren für die Errichtung der Galerie keine Kosten. Die aufwändig gestaltete Architektur war wohl nicht zuletzt dazu gedacht, der

552 Horaz, IV, 8–9; zum Einzug der Musen und der Inschrift: Jong 2000, S. 132–135. 553 Findlen 1989, S. 68–73. 554 Findlen 1989, S. 71; zum studiolo, siehe: Liebenwein 1977. 555 Büttner 1972, S. 76. 556 Bronnen I, (12. Aug. 1591), No. 163, S. 180*–181*, hier S. 180*.

426 einzurichtenden Naturaliensammlung einen passenden Rahmen zu ver- leihen. Die Sammlung des Ambulacrum war von Beginn an im Besitz der Universität. Sie war damit institutionalisiert und gehörte deswegen in die Sphäre der Öffentlichkeit, ganz wie die Blumen des Gartens oder die Bü- cher der Bibliothek. Zudem stand auch sie einem breiten Publikum offen.

Eine gebaute Enzyklopädie Die Bauaufgabe eines öffentlichen Museums entstand somit im 16. Jahr- hundert und gab dem Typus der Galerie die Funktion eines Sammlungs- raums. Propagiert wurden das Museum und andere Orte des Wissens in utopischen Schriften der Zeit, beispielsweise in Tommaso Campanellas (1568–1639) Civitas Sole, Johann Valentin Andreaes (1586–1654) Christi- anopolis oder Francis Bacons (1561–1626) Nova Atlantis.557 Doch auch im Hier und Jetzt wurden sie gefordert. Bereits der Katalog des botanischen Gartens in Padua von 1592 erklärt, man wolle sich um den Garten her- um verschiedene weitere Räume der Forschung errichten. Neben Räu- men der Produktion der Materia medica – also Räume mit Apparaten der Destillation, wie sie auch in Leiden bald entstanden – sollen weitere er- richtet werden:

„Et in altre stanze, particolarmente à ciò deputate si farà conserua di minerali, terre, pietre, gioie. In altre si conserueranno pesci, & animali marini, & tutt’i mostri merauigliosi, che manda il mare, sali, sponghe, coralli, & simili. Altre stanze seruiranno per gli animali ter- restri: altre per il volatili, che vi si terranno secchi, & ben conseruati. Talche da cosi vario, & diverso ordine di cose si formerà vn bellissi- mo, & merauiglioso Museo à prò, & beneficio de gli Studiosi di ques- ta rara professione. Et in questo picciolo Theatro, quasi in vn picciol monde si farà spettacolo di tutte le merauiglie della Natura.“558

Porros Aufzählung selbst liest sich wie eine enzyklopädische Sammlung aller Objekte der Natur. So geht er über die leblosen Mineralien, Erden oder Steine über die Lebewesen der Meere hin zu den Tieren der Erde und der Lüfte. Diese Einteilung folgt nicht nur der biblischen Schöpfungs- geschichte, sondern ist zudem direkt vergleichbar mit den enzyklopädi- schen Schriften der Zeit, beispielsweise den Werken Konrad Gesners, der neben seiner Bibliotheca universalis auch Publikationen zu Mineralien und Tieren verfasste. Letzteres Werk gliederte er in fünf Bücher, wobei ei- nes den Fischen, ein zweites den Vögeln, und zwei weitere den Landtieren

557 Zum Thema Utopie und Wunderkammer, siehe vor allem: Braungart 1989, vor allem S. 106–147. 558 Porro 1591, f. 4r–4v.

427 gewidmet sind. Vergleichbar dazu setzt Clusius auf das Titelblatt seines Exoticorums Tiere aller Elemente, nämlich des Wassers, des Landes so- wie der Lüfte, und Phoenix verweist auf das Feuer.559 Was Porro in seinem Katalog vorschlug, war also nichts geringeres als die architektonische Re- alisierung aller Kapitel einer Enzyklopädie der Lebewesen der Welt, die zu einem „picciolo Theatro, quasi in vn picciol monde si farà spettacolo di tutte le merauiglie della Natura“,560 führen sollte. Porro spricht nicht nur von einem Museum, sondern auch von einem Theater, macht also wiede- rum deutlich, dass es um Lokalitäten des Sehens und Erkennens handelte und eine enzyklopädische Sammlung gezeigt werden sollte.561 In Leiden wurden dieselben Ziele verfolgt. Und auch in unmittelbarer Nähe anderer botanischen Gärten wurden den Pflanzen des Gartens Tiere und Minera- lien an die Seite gestellt und Museen errichtet, so in Bologna, Rom oder Montpellier.562 Dass in Leiden eine Galerie zu einem Museum wurde, war indes kei- ne Neuheit. Samuel Quiccheberg forderte die Errichtung von Räumen des Wissens, für welche er verschiedene Begriffe verwendete: museum, the- atrum, ambulacrum oder arcus. Er schrieb zudem, die Bauform der Ga- lerie sei dafür geeignet und das Museum könne „ad formam ambulacri“ errichtet werden.563 Denn schon Virtuv schrieb über eine Galerie, deren Wände mit Landkarten geschmückt waren. Bereits im 16. Jahrhundert be- schrieb Erasmus in seinem Convivium religiosum Galerien auf mehreren Stockwerken, die um einen Ziergarten herum lagen und an deren Wände mittels Bildern „Tiere und Bäume des Waldes, giftige Exemplare aus Tier- und Pflanzenwelt sowie die Tiere der Meere und Gewässer“ dargestellt waren.564 Die Galerien sind gewissermassen enzyklopädische Sammlun- gen der Tier- und Pflanzenwelt – auch wenn die gezeigten Objekte nur Abbildungen sind. Die Leidener Galerie überführte diese dort noch bild- lich dargestellten Exponate in reale Ausstellungsstücke.

Objekte der Leidener Galerie Auch in Leiden verfolgte man das Ziel, alle Sparten der Natur – das Tier- reich, die Pflanzen und die leblosen Mineralien und Metalle – möglichst nebeneinander zu versammeln. In der frühen Neuzeit herrschte die Auf- fassung, sowohl der Genesis wie auch einer Idee der Antike folgend, dass alle Objekte der Welt, von leblosen Steinen über den Menschen bis hin

559 Jong 1991, S. 44 und Abbildung 17. 560 Porro 1591, f. 4v. 561 West 2002. 562 Jong 1991, S. 42–43. 563 Zitiert nach: Jong 1991, S. 42. 564 Lauterbach 2004, S. 46.

428 zu göttlichen Wesen, in einer Seinskette miteinander verbunden waren.565 Zudem wurden Mineralien und Tiere wie die Pflanzen des Gartens als Grundlage medizinischer Präparate verstanden und genutzt. Neben die- se Naturalien gesellten sich aber schon bald auch menschliche Artefakte, weswegen nicht von einer rein naturhistorischen Sammlung gesprochen werden darf. Einige der ersten Objekte, die in der Leidener Galerie präsentiert wurden, zieren den Kupferstich von 1610.566 Im unteren Bildbereich wer- den der Panzer einer Schildkröte, verschiedene Krokodile, der Unterkie- fer eines Bären, ein Igel- und ein Sägefisch sowie eine Fledermaus aus Süd- oder Westindien gezeigt. Darüber hinaus sehen wir eine Koralle, die von besonderem Interesse ist. Sie steht just neben der Pflanze im Zen- trum des Bildes und wird als Litophyton bezeichnet. Korallen gehörten zu den Objekten der Natur, die sich einer einfachen Klassifikation entzo- gen, wie auch der Name belegt, denn Lithophyton bedeutet versteinerte Pflanze. Im Wasser sind Korallen weich, verästelt und somit pflanzenar- tig, doch sobald sie an die Luft kommen, werden sie trocken, hart und gesteinsartig. Sie bildeten in beiden Lebensräumen, Wasser und Land, eine unterschiedliche Form aus. Bereits die antiken Autoren wie Ovid beschrieben diesen Wandlungsprozess. Korallen waren deshalb ein be- liebtes Sammelobjekt früher Kunst- und Wunderkammern.567 Sie standen an der Schnittstelle zwischen den Reichen der Pflanzen und der Minera- lien. Diesen Sachverhalt zeigt auch der Kupferstich auf, denn die Koralle gleicht formal der Pflanze in der Bildmitte und es scheint, als wäre letz- tere zu Stein erstarrt und danach von den Räumlichkeiten des Gartens in die untere Sphäre der Naturalien- und Mineraliensammlung hinunterge- rutscht. Die Koralle verband deshalb gewissermassen das mineralische mit dem pflanzlichen Glied der Seinskette. Analog dazu erfuhren Garten und Ambulacrum durch die durchgehenden Wegachsen eine innige ar- chitektonische Verbindung. Die einzelnen Teile der Anlage, deren Inhalt und ihre Funktion verschmolzen deswegen zu einer Einheit. Es ist keine Abbildung des Innenraums des Leidener Ambulacrum überliefert. Es könnte aber ähnlich ausgesehen haben, wie beispielsweise die Wunderkammer des skandinavischen Naturhistorikers Olav Worms (Olaus Wormius, 1588–1654), die auf dem Frontispiz seiner Publikation Museum Wormianum dargestellt wird, welche in der Leidener Univer- sitätsdruckerei erschien (Abb. 5.25).568 Eine erste Beschreibung, wie das Ambulacrum 1614 ausgesehen hat, gibt Orlers:

565 Lovejoy 1993. 566 Zu den Gegenständen der Leidener Galerie, siehe: Jong 1991, S. 43–48. 567 Bredekamp 2005, S. 62–64. 568 Wormius 1655.

429 „[…] van binnen is dese wandel plaetse verciert ende behanghen met vele en verscheyden Caerten ende Land-tafelen/desghelijcken met eenige vreemde gedierten ende gewassen/ de welcke uyt beyde de Indien ende andere plaetsen alhier ghebracht zijn.“569

Unterschiedliche Tiere hingen von den Decken oder standen entlang der Wände der Galerie. Landkarten verwiesen auf die Regionen der Welt, aus denen die Naturalien und Objekte herbeigeschafft wurden. Erik de Jong setzt die gezeigten Landkarten mit denjenigen von Petrus Plancius in Verbindung, auf welchen nicht bloss die Geografie, sondern auch die Naturalien fremder Länder präsentiert werden.570 In diesem Sinne ersetz- ten die Naturalien der Galerie die eingezeichneten Bilder. Die Professo- ren konnten sowohl die Herkunft, als auch die Tiere und Objekte selbst besprechen. Diese Idee einer Sammlung von Naturalien aus aller Welt war schliesslich auch in der Anlage des botanischen Gartens präsent, der ebenfalls exotische Gewächse beheimatete, aber über dies in seiner for- malen Gestaltung auf die vier Erdteile verwies, was im Kupferstich von 1610 durch die zwei Putti und die Windrose unter dem zentralen Pavillon präsent ist. Nicht zuletzt beschrieb Vitruv die Wände seines ambulacro als mit Landkarten versehen.571

Was wurde gesammelt und gezeigt? Wie die Professoren und Präfekten des Gartens an die Objekte gelangten, ist nicht endgültig zu beantworten. Ihre weitreichende Korrespondenz war dafür sicherlich entscheidend. Zudem erhielten sie auch durch die einsetzenden Handelsreisen der niederländischen Flotten zahlreiche Ex- ponate und Pflanzen, baten die Kapitäne sogar, ihnen exotische Objekte mitzubringen. Da Clusius in seinen wissenschaftlichen Publikationen oft erwähnte, von wem er die Objekte erhielt, können zumindest teilweise die Provenienzen der Exponate ermittelt werden.572 Die aufgeführten Ge- genstände sind vielfältiger Natur. Die beiden Galerien beinhalteten, analog zum Garten, in erster Li- nie die Materia medica, medizinische Präparate und Grundstoffe also, die der Gesundheit der Menschen dienen sollten. Als Beispiele dafür können die Mineralien aufgeführt werden, die in Kisten verwahrt wurden. Auch fertige Heilpräparate oder Pflanzenstücke lagerten in Kisten. Bereits während des Baus des Ambulacrum erklärte das Kuratorium, dass dort

569 Orlers 1614, S. 145. 570 Jong 2000, S. 140. 571 Jong 1991, S. 41. 572 So geschehen durch: Jong 1991, S. 45–48; die Exponate des anatomischen Theaters mit den Schriften von Clusius vergleicht: Barge 1934.

430 die unterschiedlichsten „Simplicien“ versammelt und diskutiert werden Abb. 5.25 573 Die Wunderkammer Ole sollten. Noch Jahrzehnte später diente die Galerie als Ort der Verwah- Worms. Ähnlich muss das rung und Lehre von Heilpräparaten. So wurde 1681 dem damaligen Prä- Innere des Ambulacrum fekten Paulus Hermannus erlaubt, für den Unterricht so viele „droogen, ausgesehen haben. sappen ende Simplicia“ zu kaufen, wie er benötigte.574 Auch er lagerte sie (Ole Worm, Museum Wor- danach im Ambulacrum.575 Doch auch viele der gezeigten Naturgegen- mianum seu historia rerum rariorum, Leiden (Ex offici- stände dienten nicht bloss der Neugierde der Forscher, sondern auch der na Elseviriorum) 1655, Ti- menschlichen Gesundheit, beispielsweise Hufe von Elchen, die gegen telblatt) 576 Epilepsie eingesetzt wurden. (Download Université Doch wie der Garten Zierpflanzen oder exotische Gewächse behei- de Strasbourg: http:// matete, die über keine bekannten Heilkräfte verfügten, wurden in den docnum.u-strasbg.fr/cdm/ compoundobject/collecti- Galerien Objekte gesammelt, die durch ihre Seltenheit oder durch ihre on/coll6/id/8155/rec/5) Schönheit auffielen. Exotische Tiere wie Pinguine, Paradiesvögel oder Ameisenbären wurden zur Schau gestellt. Dazu gesellten sich verschie- dene Körperteile von Tieren, vor allem Knochen, Zähne, Häute und Pelze,

573 AC1.20, (8.–9. Nov. 1600), f. 81r–v. 574 AC1.27, (8. Nov. 1681), f. 157v. 575 AC1.27, (18. Febr. 1682), f. 176r; zudem AC1.28, (8. Nov. 1686), f. 35v–36r. 576 Siehe dazu und für weitere Heilstoffe: Jong 1991, S. 44–45.

431 denn die Exponate mussten konservierbar sein, was bei solchen Gegen- stände keine sonderlichen Probleme darstellte. Da andere Tiere und Ob- jekte jedoch weniger gut konservierbar waren, entwickelte sich im Laufe der Sammeltätigkeit auch die Technik der Präparation fortwährend mit, wie in Bezug auf die Sammlung des anatomischen Theaters bereits erklärt wurde. Zu diesen Gegenständen der Natur kamen menschliche Artefak- te, die ebenfalls durch ihre Exotik die Neugierde der Forscher weckten: Schuhe aus China, eine Götzenfigur aus Indien, Trinkgefässe aus Afrika und vor allem Kriegsgegenstände ferner Völker wurden gezeigt. Kunst- handwerk und Natur standen Seite an Seite. Neben diesen Objekten fand man auch Monstrositäten und Gegen- stände, die heute eher ins Reich der Mythen als in jenes der Natur ge- hören. Gezeigt wurden beispielsweise die Haut einer Meerjungfrau, eine „monsterhafte Kreatur, die aus einem Hühnerei stammte“ oder ein „mon- ströses Huhn mit vier Beinen und vier Flügeln“ . Diese Objekte stellten die definierten Ordnungen der Natur auf die Probe, wurden als Wunder verstanden, die ausserhalb der Naturgesetze standen und lösten – wie die anderen Objekte der Raritätenkammer – „Bewunderung“ aus.577 Andere, wie der „Knochen eines Riesen“ konnte mit der biblischen Geschichte in Einklang gebracht werden, da in der Genesis von Riesen erzählt wird.578 Zudem erwähnten Reiseberichte, dass in Patagonien Riesen leben wür- den, was den Anatom Otto Heurnius dazu veranlasste, ausdrücklich um Gebeine von Riesen zu bitten, die er im anatomischen Theater ausstellen wollte.579 Manche Exponate lösten Verwunderung aus, denn fortwährend ka- men neue Tiere und Pflanzen in den Besitz der Universität, die zuvor noch gänzlich unbekannt waren und auch in Büchern noch keine Erwähnung fanden. Die Objekte waren merkwürdig. Und alles, was zu merken würdig ist, musste natürlich verwahrt, gesammelt und ihn Büchern beschrieben werden.

Bücher im Ambulacrum Paula Findlen erklärt, dass zwischen den Wissem in Büchern und den ge- zeigten Exponaten eine innige Beziehung herrschte, das die Naturhistori- ker sowohl die Bibliothek, als auch die Naturaliensammlungen benötig- ten und dass es zu einem steten Austausch zwischen res und verba kam.580 Und Pauw selbst erklärt, dass er täglich aus den Werken des Dioskurides

577 Grundlegend zum Thema: Daston/Park 1998. 578 1. Mose 6, 4; zudem: Jorink 2011. 579 AC1.43 (19. Febr. 1619); teilweise transkribiert in: Huisman 2009, S. 190, Anmerkung 101. 580 Findlen 1994, S. 65.

432 lehrte, damit seine Studenten das im Garten gesehene mit dessen Schrif- ten abgleichen könnten und so durch zwei Wege der Erkenntnis geschult würden.581 Spätestens seit 1604 verfügte das Ambulacrum deswegen über eine eigene kleine Büchersammlung, deren Bände angekettet wurden.582 Unter Adolphus Vorstius wurden zwei Werke von Dioskurides und Pli- nius erneuert und der Bibliothekar der Universität, Daniel Heinsius, er- hielt den Auftrag, sie für den Präfekten des Gartens zu beschaffen.583 In den Akten sind keine weiteren Bucheinkäufe für den botanischen Gar- ten belegt, doch ist es denkbar, dass zumindest die Bände, die durch die Universitätsdruckerei herausgegeben wurden, dort aufzufinden waren, mussten diese doch nicht teuer bezahlt werden. Aufgrund der teilweise identischen Ordnungsmuster der Pflanzen in Dodonaeus’Cruydt-Boeck und den Beeten des Gartens kann angenommen werden, dass auch die- ses zur Konsultation auslag. Natürlich besass die allgemeine Bibliothek der Universität jene Wer- ke, die für ein mögliches Verständnis der Naturalien von Nöten waren. Doch da sie an ihre Pulte gekettet waren, konnten sie nicht in den Garten überführt werden, um die Naturobjekte mit dem zu vergleichen, was über sie zu lesen war. Zumindest die Raritäten des Ambulacrum konnten mit den dort verwahrten Büchern parallel studiert werden. Bei den Pflanzen bestand aber weiterhin das Problem, dass die Bücher auch in der Galerie an der Kette lagen. Die gleiche Situation führte wohl zum Aufbau einer weiteren Büchersammlung, nämlich jene des anatomischen Theaters.

Eine Orangerie und die Früchte der Hesperiden

Das Ambulacrum eignete sich aufgrund seiner Ausrichtung gegen Norden und der zunehmenden Exponate, die dort verwahrt wurden, nur bedingt als Gewächshaus. Pauw errichtete deshalb wenige Jahre später ein tem- poräres Gewächshaus, das jedes Jahr auf- und abgebaut werden musste. Doch konnte auch dieses funktional nicht überzeugen, denn im Winter 1608 fielen 49 Pflanzen von 38 Sorten dem „derben Winter“, so Pauw, zum Opfer.584 Im entsprechenden Gartenkatalog sind diese Pflanzen alle aufgelistet – just im Anschluss an die Liste der umgepflanzten und nun eingezäunten wertvollen Tulpen und anderen Zierpflanzen. Die verlo- renen Pflanzen waren meist exotische Gewächse, darunter Ficus Indica,

581 Pauw 1615, f. 2v. 582 Bronnen I, (31. Juli 1604), S. 154. 583 AC1.25, (8. Juni 1654), f. 23r und v. 584 „Extincta sunt praeterita hyeme (quae aspenima fuit) sequentia […]“, Pauw 1603, ausgefüllt für das Jahr 1608, unpaginiert, eingebundener Zusatz.

433 Aloe Americana, und verschiedene Pflanzen, die aus Kreta oder Ägypten kamen.585 Exotische Gewächse waren natürlich noch immer sehr selten, nur schwierig zu erhalten und deswegen besonders kostbar. Ihr Verlust war somit eine schwere Einbusse. Auch der jährliche Auf- und Abbau des ephemeren Gewächshauses kostete Geld, das zukünftig eingespart wer- den sollte. Im November 1609 wurde deshalb der Bau einer zweiten festen Ga- lerie beschlossen. Der Baugrund war bereits im Besitz der Universität.586 Es handelte sich um einen Hof, der nördlich an den Hortus botanicus an- schloss, von diesem aber nach wie vor durch eine Mauer getrennt war. Die Errichtung begann im Sommer 1610.587 Im Mai 1612 wurde beschlossen, die neue Orangerie zu bepflastern und sie mit Fensterläden auszustatten, sie somit fertigzustellen.588 Terwen-Dionisius vermutet, dass der Bau aus Holz errichtet wurde.589 Der jährliche Lohn des Glasmachers der Univer- sität wurde wegen dieses neuen Baus und der grossen Fensterfläche, die er zu pflegen hatte, von fünf auf sechs Gulden erhöht.590 Eine Beschreibung dieser neuen Galerie gibt uns Orlers. Nach ihm sei sie „niet so cierlicken“ wie das Ambulacrum, 32 Schritte lang591 und besässe 17 Fenster, die mit Fensterläden geschlossen werden können. Die neue Galerie wäre errichtet worden, um die fremden Pflanzen sicher durch den Winter zu bringen, wozu sie auch beheizt werden könne.592

Wachsende Exponate Die neue Orangerie wurde später in verschiedenen Etappen ausgebaut. Wie die Möbel der Bibliothek musste auch der Garten erweitert und an- gepasst werden, um die hinzugekommenen Exponate verwahren zu kön- nen. Doch hatte der botanische Garten neben der Einbringung neuer Pflanzen mit einem weiteren Problem zu kämpfen: Die Pflanzen, insbe- sondere die Bäume, wuchsen beständig. Im August 1641 sollte deshalb die Orangerie vergrössert werden und die Verlängerung ein hohes Tonnengewölbe aufweisen, um die Bäume „sonder krencken of kreucken“ unterzubringen. Das Kuratorium be-

585 Pauw 1603, ausgefüllt für das Jahr 1608, unpaginiert, eingebundener Zusatz. 586 Zu dieser zweiten Galerie, siehe: Terwen-Dionisius 1980, S. 35–65, hier S. 44–48. 587 AC1.20, (9./10. Nov. 1609), f. 178v. 588 „ende te vermaaken de lucken“, AC1.20, (8. Mai 1612), 329v; es handelt sich dabei um die „Nieuwe Galerye“ und nicht um das Ambulacrum, wie Erik de Jong fälschli- cherweise in Nature and Art schreibt. 589 Terwen-Dionisius 1980, S. 45. 590 AC1.20, 335r (9. Feb. 1613); der Glasmacher hiess Claes Adriaensz. van Leeuwen. 591 Terwen-Dionisius vermutet eine Länge von ca. 22m, siehe: Terwen-Dionisius 1980, S. 45. 592 Orlers 1614, S. 146; Noch 1680 wurde ein neuer „cachel met een ijsere plaat“ in die Galerie gestellt, siehe: AC1.29, (8. Nov. 1681), f. 159v–160r.

434 1 Doelen-Achtergracht Rapenburg 1600–1610 1610–1643 1643–1686 1686–1 73 0 1594–1600

2

Nonnensteeg

schloss, den Stadtarchitekten – wohl Arent van ’s-Gravesande, der damals Abb. 5.26 Der Garten zwischen 1610 593 diese Position innehielt – mit der Ausarbeitung eines Projekts und der und 1643. Kostenkalkulation zu beauftragen.594 Doch sollte nach Prüfung der Plä- 1. Erster Bauabschnitt der Orangerie; 2. Wohnhaus ne die Erweiterung erst im folgenden Frühjahr erstellt werden. Für den der Präfekten. kommenden Winter und die drohende Gefährung der Pflanzen hielten die Kuratoren eine einfache und pragmatische Lösung bereit: Man solle (Planzeichnung des Autors nach der Zeichung in: Ter- einfach den Boden soweit abtragen, bis auch die höchsten Bäume in der wen-Dionisius 1980, .) Galerie genügend Raum finden konnten.595 Im November 1642 traten die Bürgermeister der Stadt den für die Er- weiterung notwendigen Baugrund für die Summe von 1000 Gulden an die Universität ab.596 Die Erweiterung wurde 1643 errichtet und erhielt das ge- wünschte Gewölbe.597 Bereits drei Jahre später war die Galerie baufällig.598 Es wurde beschlossen, die Formensprache der Verlängerung an diejenige der alten Orangie anzupassen, Fenster auszuwechseln, das Mauerwerk auch an der Verlängerung anzubringen und das Eingangsportal um zwei

593 Zu seiner Biographie und Werk, siehe: Kuyper 1980, S. 89–96; NNBW, Deel 1, Sp. 972. 594 AC1.23, (13. Aug. 1641), f. 107r. 595 AC1.23, (25. Aug. 1641), f. 115v. 596 AC1.23, (18. Nov. 1642), f. 174v; zudem AC1.23, (22. Nov. 1643), f. 211r. 597 AC1.23, (20. Sept. 1643), f. 205v. 598 AC1.23, (25. Mai 1646), f. 313v.

435 Achsen zu verrücken, so dass es neu mit der Architektur des Gartens kor- respondierte und auf dessen Hauptachse lag.599

Baubeschreibung Die neue Galerie, in der laut den Akten primär Bäume überwinterten und die deswegen eine eigentliche Orangerie war, fand in einer Publikation Beachtung, die sich explizit mit der Kultivierung von Zitrusfrüchten aus- einandersetzt, nämlich in Johannes Commelins (1629–1692)600 Nederlant- ze hesperides von 1676.601 Commelin wurde vor allem durch die Leitung des 1638 gegründeten Hortus medicus in Amsterdam und als Herausgeber des Hortus Indicus Malabaricus bekannt. Zudem handelte er mit Pflanzen und Gewächsen. Zitrusfrüchte gewannen auch ausserhalb wissenschaft- licher Kreise an Beliebtheit und waren diesbezüglich mit der Tulpe ver- gleichbar. Sie mussten in Orangerien überwintern, die deshalb ebenfalls in der Publikation besprochen werden. Als erstes gebautes Beispiel einer Orangerie nennt Commelin den „Winter-plaats“ der Universität in Leiden, deren Grundfläche er mit 118 Fuss auf 15 Fuss beziffert (ca. 37m auf 4,7m). Die Höhe des alten Bauab- schnitts betrug laut Commelin 12 Fuss (ca. 3,8m) und die Erweiterung war 16 Fuss (ca. 5m) hoch. Gegen Süden war das Gebäude mit elf viergeteilten Fenstern versehen. Im Innern war der Bau mit vier eisernen Kachelöfen ausgestattet. Die Galerie eigne sich laut Commmelin für allerlei Pflanzen und Bäume, ausdrücklich auch für Zitronen- und Orangenbäume. Doch einige „gebreeken“ räumt der Autor ebenfalls ein. Die Fenster würden nach Aussen aufschlagen, weswegen sie zugig seien und zuviel Schatten verursachen. Zudem sei der Eingang in der Mitte, „’t welk wel çierlijk staat, na den regel van de bouw-konst“, doch auch dieses Bauteil sei zu zugig, so dass man genötigt gewesen sei, ein „voor-Portaal“ aussen vorzustellen, „’t welk zoo gevoeghlijk niet en komt, als-dan wanneer den ingank van de Winter-plaats binnen ’s huis kan gebraght werden.“ Es folgen keine weite- ren Angaben zum Winterhaus in Leiden, wohl aber ein Kupferstich, der den Innenraum zeigt (Abb. 5.27).602 Auf diesem Stich erkennt man an der Deckenform die beiden Bau- abschnitte. Die hintere Stirnseite ist als Öffnung gezeichnet worden. Ter- wen-Dionisius vermutet, dass sie tatsächlich geöffnet werden konnte, um die hohen Bäume überhaupt in die Orangerie schaffen zu können.603

599 AC1.23, (29. Juni 1646), f. 319v–320r. 600 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 10, Sp. 200–203. 601 Commelin 1676. 602 Commelin 1676, S. 38; das Bild ist indes gespiegelt, denn die Fenster müssten auf der linken Seite liegen. 603 Terwen-Dionisius 1980, S. 48.

436 Abb. 5.27 Die Orangerie des Leidener Gartens, die ab 1610 erstellt und 1642 mit anderer Über- dachung erweitert wurde, um die stetig wachsenden Bäume während des Win- ters beherbergen zu kön- nen.

(Johannes Commelin, Ne- derlantze hesperides, dat is, Oeffening en gebruik van de limoen- en oranje- boomen; gestelt na den aardt, en cli- maat der Nederlanden. Met kopere platen verçiert, Amsterdam (Marcus Door- nik) 1676, Fol. 32)

(Fotografie des Autors.)

Gezeigt werden auch verschiedene Personen. Der dargestellte Hortula- nus trägt gerade zwei Eimer mit Wasser herbei, während ein gutgekleide- tes Pärchen die Zitrusbäume bewundern. Ein Bursche im Vordergrund flüchtet erschrocken vor einem Hund – möglicherweise ein bildlicher Hinweis darauf, dass die Pflanzen des Gartens bewacht und geschützt wurden. Auf alle Fälle wird die Orangerie auch in dieser Darstellung als Treffpunkt der Leidener Gesellschaft gezeigt. Zudem sehen wir unzählige Zitrusbäume, die in Töpfen gedeihen und somit je nach Jahreszeit ihren Standort wechseln konnten. Dass fast nur eine Sorte von Bäumen in der Zeichnung vorkommt, beruht sicherlich auf Commelins Interesse an Zi-

437 trusfrüchten und entsprach nicht der Realität. Denn es fanden sich die unterschiedlichsten Pflanzen und Bäume, wie auch einem italienischen Besucher nicht entging:

„All’incontro di questa galeria [das Ambulacrum] ve ne è un’altra non meno bella, poichè in essa formano un delizioso giardino ad onta dell’orrida staggione quelle piante, che ivi al coperto si preservano intatte e rapite all’inclemenze del cielo. Non v’è pianta, benchè rara, che qui non si trovi; nè può desiderarsi un albergo, che sia necessario all’uomo, che qui traspiantato non si veda dalle più lontane regioni dell’Asia e delle Indie.“604

Der Garten der Hesperiden Der Titel der von Commelins Publikation verweist auf die Hesperiden, jene Nymphen antiker Erzählung, die am Rande der bekannten Welt wohnten und in ihrem Garten einen Baum mit goldenen Früchten hü- teten, ein Hochzeitsgeschenk Gaias an Hera und Zeus. Die Früchte soll- ten ewige Jugend verleihen, weswegen sie durch einen hundertköpfigen Drachen namens Ladon bewacht wurden. Nur Herkules war es möglich, durch eine List die goldenen Früchte zu stehlen. Athene war es, die sie später den Hesperiden zurückgab. Als christliches Pendant zu den paga- nen Goldenen Äpfeln galt natürlich die paradiesische Frucht des Baums der Erkenntnis.605 Auf dem Titelblatt der Erstausgabe des Cruydt-Boecks von Dodonaeus wird der Garten der Hesperiden gezeigt (Abb. 5.28) und auch der Hortus botanicus der Leidener Universität wurde als Garten der Hesperiden bezeichnet.606 Als die Früchte der Hesperiden wurden im 17. Jahrhundert Zitrus- früchte – vor allem die Orange – aufgefasst. Durch die Verknüpfung der Zitrusfrucht mit der Legende des tugendhaften und starken Herkules ge- hörte die Orange in die Herrschaftsikonographie des Barocks. Das Haus Oranien nutzte den Orangenbaum nicht nur aufgrund der Farbe, sondern auch aufgrund dieser Heldenlegende als Symbol. Die Hollandse Maagd pflegte deswegen einen Orangenbaum in ihrem Garten. Neben dem Adel stiess die Frucht aber auch beim Bürgertum auf wachsende Interesse, weshalb Schriften zur Kultivierung der Zitrusbäume zuhauf publiziert wurden. Johannes Commelins Nederlantze hesperiden zeigt anhand ver- schiedener Beispiele, wie meist private Bürger diese Pflanzen kultivierten und wie zu ihrer Überwinterung Gewächshäuser erstellt werden muss- ten. Orangerien, die zu Beginn des Jahrhunderts noch ebenso selten wa-

604 Brom 1915, S. 149. 605 Zum Thema: Doosry/Germanisches Nationalmuseum 2011. 606 Pauw 1615, Vorwort Delmanhorstius, unpaginierte Seite.

438 ren wie die exotischen Fruchtbäume, die in ihnen überwinterten, waren Abb. 5.28 Ausschnitt des Titelblatts nun bereits weit verbreitet und ein definierter Bautypus.607 von Dodonaeus Cruijde- boeck, Erstausgabe 1554. Im Fremde Bäume in der Orangerie unteren Bildfeld wird der bewachte garten der He- Die Freude an exotischen Bäumen, die immer mehr Bürger der Stadt speriden gezeigt, der in sei- Leiden teilten, spürte auch der Präfekt des Gartens. Denn zwar besassen ner Ikonographie stark an Darstelungen des Paradie- viele liefhebber Orangen und andere exotische Gewächse, doch fehlte es ses erinnert. ihnen oftmals an Platz oder Geld, um auch die notwendigen Orangeri- (Rembertus Dodonaeus, en zu errichten. Der Präfekt des Gartens und sein Hortulanus nahmen Cruijdeboeck: in den wel- zu Beginn der Winterzeit viele Bäume und Pflanzen von Privatpersonen cken die gheheele historie, entgegen, um sie in die Orangerie der Universität zu stellen und sicher dat es tgheslacht, tfatsoen, naem, natuere, cracht ende durch den Winter zu bringen. Ob sie dafür eine finanzielle Entschädigung werckinghe van den cruy- erhielten, ist nicht überliefert, aber anzunehmen. den, niet alleen hier te lan- de wassende, maer oock van Im Laufe der Zeit wurden es aber so viele Pflanzen, dass diejenigen den anderen vremden in des botanischen Gartens nicht mehr ausreichend gepflegt und sogar be- der medecijnen oorboorli- jck […], Antwerpen (Jan van schädigt wurden. 1680 sahen sich die Kuratoren deshalb gezwungen, die der Loe) 1554, Titelblatt) Überwinterung fremder Pflanzen zu verbieten. Der damalige Präfekt Pau- lus Hermannus sowie sein Hortulanus wurden unterrichtet, in Zukunft (Download: http://cali- ban.mpiz-koeln.mpg.de/ keine Pflanzen mehr aufzunehmen und die Orangerie des Gartens „alleen dodoens_3/high/voor- ende privative ten dienste van den Hortus Botanicus“ zu verwenden.608 werk_00005.jpg) Noch im Reglement von 1692 wurde den Hortulani streng verboten, frem- de Pflanzen in den Galerien zu überwintern.609 Der Hortus publicus war

607 Tschira 1939. 608 AC1.27, (8. Nov. 1680), f. 147r. 609 Bronnen IV, (18. Juni 1692), S. 28*–32*, hier S. 31*.

439 also tatsächlich ein öffentlicher Garten, der nicht nur allen offen stand, sondern zeitweilig auch ihre privaten Pflanzen beherbergte.

Kataloge der Sammlung und die Nachfolge von Pauw

Unter der Präfektur Pauws wurden sowohl im Ambulacrum wie auch in der Orangerie naturhistorische Exponate gezeigt, was sich erst nach seinem Tod zugunsten des Ambulacrum änderte. Pauw richtete ausser- dem eine weitere Sammlung ein, nämlich jene des anatomischen Thea- ters, seinem zweiten Arbeitsort. Da dieselbe Person beide Sammlungen aufbaute, können sie direkt miteinander verglichen werden, um mög- liche Strategien und Absichten Pauws zu entdecken. Denn obwohl bei- de Sammlungen ähnliche Exponate aus den Reichen der Natur und der Medizin vorführten, können zwei grundlegende Absichten ausgemacht werden. Die Sammlungen des Gartens waren auf die Schönheit und den Reichtum der Welt ausgerichtet, diejenige des Theaters hatte jedoch den Tod und die Vergänglichkeit zum Thema. Dennoch wechselten einige Präparate in späteren Jahren zwischen den beiden Lokalitäten hin und her, wie Erik de Jong für einen Teil der Sammlung aufzeigen konnte.610 Über die Sammlungen des Ambulacrum, der Orangerie und des ana- tomischen Theaters zu Pauws Zeiten wissen wir dank eines überlieferten Inventars relativ gut Bescheid. Es wurde nach Pauws Tod 1617 vom Kura- torium in Auftrag gegeben und durch Otto Heurnius und Everardus Vor- stius verfasst. (Aelius) Everardus Vorstius (1565–1624)611 wurde nach Pauws Tod zum Präfekten des Gartens ernannt. Zu seinen Aufgaben gehörte der Un- terricht im Garten, aber auch, mit den Studenten Feldforschungen zu un- ternehmen und im Winter Mineralienkunde zu lehren. Neben dem glei- chen Lohn wurde ihm das Wohnhaus zugesprochen, das Pauw bis anhin bewohnt hatte und das von diesem Zeitpunkt an offiziell zum Wohnhaus der kommenden Präfekten wurde.612 Pauws Tod bedeutete, dass weitere Stellen neu besetzt werden mussten, da er in unterschiedlichen Fach- bereichen tätig war. So wurde Reynerus Bontius (1576–1623) dazu auf- gefordert, die phisicam zu lesen.613 Bontius teilte sich damals noch ein Professorengehalt mit seinem Kollegen Otto Heurnius. Doch wurde Otto Heurnius nicht direkt zum Nachfolger Pauws als Anatom berufen. Die Kuratoren beschlossen nämlich, die Neubesetzung zu verschieben, weil

610 Jong 1991, S. 37–60. 611 Zu seiner Biographie, siehe: Van der Aa, Deel 19, S. 371–373. 612 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 385r–v. 613 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 385v–386r.

440 es Sommer war, der Unterricht in Anatomie aber erst wieder im Winter aufgenommen werden konnte. Die Kuratoren wünschten, dass Henricus Florentius (ca. 1574–1648)614 eine Probezergliederung vornehmen sollte, sobald eine passende Leiche bereitstand.615 Der Kustode des Gartens, Jan Jansz. (auch Jan Oom genannt), sollte weiterhin beschäftigt bleiben.616 Zu seinen Aufgaben und denjenigen seines Nachfolgers – Jan Maertensz., der 1623 die Stelle übernahm – gehörte auch die Pflege zweier Adler, wo- für er in der Regel 6 Gulden im Jahr erhielt. 617 Als einer der Adler ver- starb, wurde er ausgestopft und in das Ambulacrum überführt, wie aus verschiedenen Katalogen hervorgeht. Später folgte ihm auch der zweite Adler in die Galerie.618 Die überlieferten Akten des Kuratoriums weisen zwischen den Jah- ren 1617 und 1619 eine Lücke auf. Otto Heurnius wurde kurz zuvor zum Anatom berufen, der sich das anatomische Theater jedoch mit Adrianus Valckenburg (1581–1659)619 teilen musste.620 Im Februar 1619 wurden Vor- stius und Heurnius damit beauftragt, ein Inventar aller Exponate der bei- den Galerien sowie des anatomischen Theaters anzufertigen, die Eigen- tum von Pieter Pauw waren. Das Inventar scheint wiederum das Produkt eines Rechtstreits gewesen zu sein, denn die Hinterbliebenen von Pauw wurden zuvor aufgefordert, alle Objekte der Sammlungen der Universität zu überbringen.621 Das Verzeichnis trägt den Titel Inventaris vande Rari- teyten opde Anatomie en inde twee galleryen van des Universiteyts Kruyt- hoff.622 Mit dem Tod Pieter Pauws und der Verteilung der Lehrstühle der Anatomie und Botanik auf zwei unterschiedliche Personen werden auch die Sammlungen unabhängig voneinander fortgeführt. Kataloge der verschiedenen Sammlungen wurden später auch ge- druckt und verkauft. Dies geschah in erster Linie sicherlich mit der Ab- sicht, die Exponate der Leidener Universität medial zu verbreiten und der Akademie zu Ruhm und Ehre zu verhelfen – analog zu den Katalogen der Bibliothek und des Gartens, wo explizit solche Ziele geäussert wurden. Doch wünschten auch die Besucher gedruckte Inventare der Sammlun-

614 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 4, Sp. 604. 615 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 386r; zudem: Huisman 2009, S. 43. 616 AC1.20, (8. Aug. 1617), f. 386v. 617 AC1.21, (8. Febr. 1621), f. 95r; dieser Beschluss wurden jedes Jahr erneuert, siehe AC1.21, (8. Febr. 1623), f. 129r; AC1.21, (10. Febr. 1624), f. 143r; AC1.21, (5.–8. Febr. 1625), f. 154r; AC1.21, (8.–9. Febr. 1626), f. 181v–182r; AC1.21, (9. Mai 1628), f. 220v; AC1.22, (14. Mai 1629), f. 7r); AC1.22, (20. Juni 1630), f. 23v; AC1.22, (10. März 1631), f. 39v; AC1.22, (11. Mai 1632), f. 75v; AC1.22, (8.–9. Febr. 1633), f. 101r. 618 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 76. 619 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 4, Sp. 1357. 620 Huisman 2009, S. 46. 621 AC1.21, (8. Febr. 1619), f. 1r. 622 AC1.228.

441 gen kaufen zu können, wie dies bereits bei den Katalogen der Anatomie besprochen wurde. Es ist deshalb denkbar, dass auch die folgenden Kata- loge des Ambulacrum nicht durch die Präfekten erstellt und herausgege- ben wurden, sondern durch ihre Hortulani, die so ihren Verdienst etwas aufbessern konnten. Es kam häufig vor, dass einzelne Exponate in Reiseberichten Erwäh- nung erfuhren, oder dass sogar gesamte Inventare abgedruckt wurden. Der Gartenkatalog von 1668 wurde vier Jahre später in Heidelberg heraus- gegeben und 1679 in Darmstadt in einer Übersetzung ins Deutsche publi- ziert. Teilweise waren diese unauthorisierten Drucke so erfolgreich, dass sie sogar wiederaufgelegt werden mussten.623 Die Sammlungen der Uni- versität wurden dadurch beworben, was sicherlich zu neuen Besuchern führte.

Berufung und Kataloge von Adolphus Vorstius Der erste gedruckte Katalog der Raritätensammlung des Gartens wurde durch Adolphus Vorstius herausgegeben. Er empfahl sich am 13. Mai 1625 als Nachfolger seines verstorbenen Vaters Everardus Vorstius. Er wurde daraufhin als ordentlicher Professor der Medizin und Kräuterkunde so- wie als Präfekt des botanischen Gartens angestellt. Das Berufungsdoku- ment lautet nahezu identisch wie dasjenige seines Vaters. Auch er ging mit seinen Studenten auf botanische Expeditionen und lehrte im Winter Mi- neralienkunde. Das Wohnhaus neben dem Garten erhielt er ebenfalls.624 Nur kurz zuvor übernahm Vorstius als ausserordentlicher Professor die Vorlesungen des verstorbenen Reynerus Bontius.625 Davor studierte er in Leiden orientalische Sprachen und promovierte danach in Padua zum Doktor der Medizin. Im Februar 1626 stellte er als neuen Hortulanus Henrick Christoffelsz. van Carthagen ein, der den gleichen Lohn über 162 Gulden im Jahr erhielt, wie sein Vorgänger Jan Maertensz.626 Wieso es zu einer Neubesetzung des Postens kam, verschweigen die Akten. Ein gu- tes Jahrzehnt später musste Vorstius den Kuratoren klagen, dass Henrick Christoffelsz. wohl zum eigenen Profit Pflanzen aus dem Garten gab.627 Im darauffolgenden Jahr sprach das Kuratorium Vorstius eine Lohn- erhöhung über 200 Gulden zu und forderte ihn auf, jedes Jahr einen Ka- talog aller Pflanzen, Wurzeln und Samen des botanischen Gartens anzu- fertigen, sowie in einem weiteren Inventar alle Raritäten der Galerie zu

623 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 84. 624 AC1.21, (12. und 13. Mai 1625), f. 160v–161r. 625 AC1.21, (10. Febr. 1624), 144r–v. 626 AC1.21, (8.–9. Febr. 1626), f. 181v–182r. 627 Bronnen II, (9. Febr. 1639), S. 234.

442 verzeichnen.628 Der Beschluss wurde wenige Monate später erneuert, wo- rauf sich Vorstius dazu bereit erklärte und dem Kuratorium mitteilte, dass er für den Unterricht noch einige Raritäten benötigte.629 Im folgenden No- vember setzte das Kuratorium für die Erstellung des Katalogs einen Ter- min fest, den 8. Februar des folgenden Jahres 1628.630 Zudem wurden die Vorlesungszeiten neu definiert und der Pedell dazu verpflichtet, zwecks Kontrolle genau Buch über die gehaltenen Lektionen zu führen.631 Vorsti- us scheint seinen Lehrveranstaltungen nicht immer nachgekommen zu sein, was auch dem Umstand geschuldet war, dass er sich im Garten einer Kontrolle durch seine Kollegen entzog.632 Der Katalog aller Pflanzen des Gartens erschien 1628. Vorstius ver- wendete noch immer einen Katalog mit leeren Rastern, wie in Pauw erst- mals herausgeben liess.633 Die Architektur und Grösse des Gartens war also 1628 trotz der hinzugewonnenen Fläche des Nachbargrundstücks, auf dem der erste Bauabschnitt der Orangerie errichtet wurde, noch im- mer gleich wie 1600. Ein Inventar der Raritäten der Galerien blieb Vorstius zunächst je- doch schuldig. Gut zwanzig Jahre später wurde er – zusammen mit Hein- sius, der ebenfalls nur selten aktuelle Kataloge erstellte – aufgefordert, ein Inventar der Naturaliensammlung abzugeben, ein Beschluss, der im Sep- tember 1650 erneuert werden musste.634 In den Akten heisst es ausdrück- lich, dass die Raritäten der Universität geschenkt wurden und dass sie in der Galerie, welche an der Südseite stand – also dem Ambulacrum – ver- wahrt wurden.635 Tatsächlich können – bis auf ganz wenige Ausnahmen – keine Einkäufe von Naturalien in den Akten der Universität gefunden werden, weswegen angenommen werden muss, dass die meisten kosten- los nach Leiden gebracht wurden. Auch auf den Titelblättern der zukünf- tigen Kataloge wird das Ambulacrum als Ort der Verwahrung genannt. Die Orangerie beherbergte somit keine Raritäten mehr. Vermutlich kam es aufgrund der immer mehr werdenden Exponate

628 AC1.21, (8.–10. Febr. 1627), 202v–203r. 629 Bronnen II, (10. Aug. 1627), S. 136. 630 AC1.21, (15–16. Nov. 1627), f. 212r. 631 AC1.21, (9. Mei 1628), 219v. 632 Siehe dazu auch: AC1.24, (16. Aug. 1649), f. 148v–149v. 633 Der Katalog wird ebenfalls im Nationaal Herbarium Nederlande in Leiden verwahrt. 634 AC1.24, (16. Aug. 1649), f. 148v; AC1.24, (6. Sept. 1650), f. 189v; zudem Bronnen III, (16. Aug. 1649), S. 29–30. 635 „Wyders wert oock goet gevonden, dat den Secretaris van dese vergaderinge noch- maels van wegen deselve sal aenmaenen den Professoren Vorstius, ten sijnde hy als noch metten eersten sal hebben te maken ende alhier over te leveren eenen inventa- ris van alle de rariteyten, die aen de Universiteyt sijn geschonken, ende inde Galerye aende Zuyt sijde vanden Publicque kruythoff werden getoont, volgens voorige reso- lutie opden xvi Augusti vanden jare xvi negen ende veertich alhier genomen, daer van hem extract autentycq is toegesonden geweert.“, AC1.24, (6. Sept. 1650), f. 189v.

443 zu dieser Trennung der Funktionen. Das Ambulacrum muss bereits vol- ler Raritäten gewesen sein und kaum noch freien Platz für nicht winter- harte Gewächse besessen haben. Entsprechend berichteten italienische Besucher im Jahre 1677, dort seien viele Exponate zu sehen, darunter „un grosso animale, quadrupede della grandezza d’un toro, cosi ben conser- vato, che benchè morto da più anni, pare che ancora sia spirante.“ Dieses fäschlicherweise als hypodromus bezeichnete ausgestopfte Nilpferd muss tatsächlich viel Raum beansprucht haben. Die beiden Italiener schreiben zur Orangerie nur, dass dort viele Pflanzen und Bäume aufgestellt waren, erwähnen aber keine Exponate.636 Die beiden Galerien des Gartens über- nahmen nach Pauws Tod somit spezifische Funktionen, die eine wurde zum Museum, die andere zur reinen Orangerie.

Nummern und Namen Das erste gedruckte Inventar der Leidener Galerie stammt aus dem Jahr 1659. Es wurde in Niederländisch publiziert. Eine lateinische Fassung da- von wird in einem Reisebericht erwähnt.637 In der Leidener Universitäts- bibliothek ist nur noch eine Abschrift davon überliefert.638 Die Liste um- fasst 110 Exponate. Die Veröffentlichung in Niederländisch und Deutsch deutet darauf hin, dass neben einem fachkundigen und internationalem Publikum auch lokale Besucher der Sammlung angesprochen wurden. Die Raritätensammlung stand nämlich ebenso wie der Garten allen offen. Wie bereits der Begleittext zum Kupferstich von 1610 erklärt, waren alle ausgestellten Objekte mit ihren lateinischen Namen beschriftet.639 In den gedruckten Katalogen – nicht aber im handschriftlichen Inventar von 1619 – sind die Einträge darüber hinaus mit Nummern versehen.640 Die- selben Nummern wurden in verschiedenen Katalogen denselben Expo- naten zugeordnet, weshalb angenommen werden darf, dass sie an den Objekten angebracht waren. Vermutlich waren sie mit zusätzlichen Be- schriftungen versehen, die ihre Namen nannten, wie auch im Begleittext erwähnt wird. Es kam somit zu einer analogen Anwendung wie im Falle der Pflanzen. Zudem half der Katalog den Besuchern, die Raritäten auf- zufinden, zu benennen und im Anschluss daran eingehend zu betrachten

636 Brom 1915, S. 149. 637 Beide Verzeichnisse sind transkribiert in: Jong 1991, S. 56–59. 638 Die niederländische Fassung: (ohne Autor), Verscheyden Rarieteyten inde galderi- je des universiteyts kruythoff tot Leyden, (ohne Ort und Verlag) 1659; eine Abschrift eines Exemplars, das in Gent verwahrt wird, in der Universitätsbibliothek Leiden, Signatur 1392 B 9; die lateinische Fassung: „Res Curiosae & Exoticae Quae in Am- bulacro Hortj Academiae Leydensis Curiositatem amantibus offerentur Ao 1659“, in: J.V. Besenval De Brunstatt, Jähriger layss Beschreibung, 1661, verwahrt in der Zent- ralbibliothek Solothurn, Ms S 67. 639 „[…] alhie mit ihren Lateinischen namen furgestelt.“ 640 Die Nummer in der Transkription von Erik de Jong sind nachträgliche Ergänzungen.

444 und zu untersuchen. Die Nummern und Einträge, die im niederländischen und lateini- schen Katalog von Adolphus Vorstius 1659 definiert und angewendet wur- den, findet man auch in zwei weiteren Katalogen, die nicht datiert sind.641 Es ist deshalb anzunehmen, dass sie den Katalogen des Jahres 1659 folg- ten. Der eine ist in Latein verfasst worden, der andere in englischer Spra- che. Dies zeigt wiederum an, das ein breites Publikum und ausländische Besucher die Kataloge konsultieren oder kaufen sollten. Beide Kataloge verfügen über nahezu dieselbe Anzahl an Einträgen, müssen also im glei- chen Zeitraum entstanden sein. Neben den Namen der Tiere und anderer Naturalien, einer kurzen Beschreibung und ihrer Herkunft werden auch allfällige Donatoren verzeichnet und auf Einträge in der einschlägigen Li- teratur hingewiesen, beispielsweise auf die Werke von Konrad Gesner, Ul- isse Aldrovandi, Francis Willughby, aber auch auf jene von Carolus Clu- sius oder Ole Worm.642 Beide Kataloge nennen zudem Gegenstände, die in Schränken mit Glastüren verwahrt wurden. Diese Aufstellung erlaubte nicht nur den Schutz vor Diebstahl, sondern auch eine Ansicht der Expo- nate, ohne dass diese aus den Schränken genommen werden mussten. Der lateinische Katalog enthält zudem eine Sektion, die in der eng- lischen Ausgabe fehlt, nämlich eine Auflistung jener Exponate, die in Al- kohol konserviert wurden.643 Da die Nummern hier nachträglich und von Hand neu zugeordnet und verändert wurden, zeigt sich, dass es Inven- tarnummern waren, die sich an den Exponaten befanden. Es waren wohl jene Stücke, welche die Leidener Universität nach dem Tod von Paulus Hermannus, der am Ende des 16. Jahrhunderts die Präfektur des Gartens innehielt, in ihren Besitz bringen konnte. Denn Hermannus überführte eine ganze Sammlung an Kuriositäten aus Ceylon nach Leiden, die als Museum Indicum bezeichnet und als Einheit in einem eigenen Raum des Ambulacrum gelagert wurde. Diese Sammlung erhielt einen eigenen Katalog, MUSÆI INDICI INDEX genannt, der mehrmals aufgelegt wurde und ungefähr 300 Exponate umfasst. Als Hermanus starb kam es zur Dis- kussion um den Verbleib der Sammlung. Ein Teil blieb im Ambulacrum und wurde in den obenstehenden Katalog integriert, einen anderen Teil

641 (ohne Autor), CURIOSITIES AND RARITIES To be seen In the Gallery of the Garden OF THE Academie of Leyden, (ohne Ort und Datum), verwahrt in der Universitäts- bibliothek Leiden; (ohne Autor), RES CURIOSÆ ET EXOTICÆ, In Ambulacro Horti Academici Lugduno-Batavi conspicuæ, (ohne Ort und Datum). 642 Der Katalog sollte aufgrund dieser Einträge ziemlich genau datierbar sein, was im Zuge dieser Arbeit jedoch nicht detailliert vollzogen wurde. Vermutlich stammt er aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts. 643 „ANIMANTIA VARIA Utriusque Indiæ Nativâ facie, liquori Balsamico innatantia“, in: (ohne Autor), RES CURIOSÆ ET EXOTICÆ, In Ambulacro Horti Academici Lugdu- no-Batavi conspicuæ, (ohne Ort und Datum).

445 erhielt die Witwe des Verstorbenen, wie noch besprochen wird.

Eine erste Erweiterung und der Garten unter Schuyl und Seyen

Adolphus Vorstius war der letzte Präfekt, der von den vorgedruckten Ka- talogen Pieter Pauws Gebrauch machte. Sein späterer Katalog und die- jenigen seiner Nachfolger erlauben es hingegen bis auf eine Ausnahme heute nicht mehr, den Garten hinsichtlich seiner Architektur oder der Verteilung der Pflanzen zu untersuchen, denn es sind in der Regel alpha- betische Auflistungen aller Gewächse, die im Garten wuchsen. Eine erste solche einfache Auflistung aller Pflanzen erschien im Jah- re 1633 im Druck, doch nicht als eigenständige Publikation, sondern ein- gebunden hinter dem Werk Isagoges in rem herbariam libri duo von Adri- aan van de Spiegel (1578–1625), der an der Universität Padua vor allem die Anatomie lehrte. Veröffentlicht wurde das Bändchen in der Universitäts- druckerei Leiden. Der Katalog von Vorstius mit dem Titel CATALOGVS PLANTARVM HORTI ACADEMICI LVGDVNI-BATAVI umfasst 1107 Pflan- zen, die im Garten wuchsen, sowie eine weitere Liste von 289 Gewächsen, die in der Umgebung Leidens gefunden werden konnten.644 Vorstius hatte ja ebenfalls den Auftrag, Feldexpeditionen durchzuführen,645 wobei der Katalog vermutlich zum Einsatz kam. Es konnten im Unterricht also mehr Pflanzen empirisch untersucht werden, als im Garten wuchsen. Das Um- land stellte einen weiteren Raum der Forschung und der Lehre dar. Ein nahezu identischer Katalog erschien 1636, weitere Neuauflagen folgten 1649 und 1658.646

Erweiterung des Gartens Im Zuge der Erstellung und Erweiterung der Orangerie konnte auch der Garten vergrössert werden. Das Grundstück, das im Nordosten an den Garten grenzte und für den ersten Bauabschnitt der Orangerie benötigt wurde, war aber noch während vieler Jahre nicht mit dem Garten verbun- den, sondern durch eine Mauer abgetrennt.647 Orlers erklärt, dass durch den Kauf der Liegenschaft die Fläche des Gartens um ungefähr 40 Fuss (ca. 12m) hätte verbreitert werden können. Doch da die beiden Gärten noch immer durch eine Mauer voneinander getrennt wären, sei der Gar- ten der Universität leider weiterhin rechteckig anstatt quadratisch, was

644 Vorstius 1633; Anzahl Pflanzen nach: Veendorp/Baas Becking 1938, S. 70. 645 AC1.21, (12. und 13. Mai 1625), f. 160v–161r. 646 Vorstius 1636; die Kataloge von 1649 und 1658 konnten in Leiden nicht aufgefunden werden, werden aber erwähnt durch: Veendorp/Baas Becking 1938, S. 72. 647 Witkam, DZ II, Anmerkungen S. 24.

446 Orlers aus ästhetischen Gründen bemängelte, war doch das Quadrat das erklärte Ideal solcher Gartenanlagen.648 Adolphus Vorstius versuchte 1647, den Hof einer Liegenschaft zu kaufen, die an der Rapenburg lag und durch die Witwe Meue nachge- lassen wurde. Der Hof sollte dem Garten der Universität zugeschlagen werden.649 Wie aus einer zweiten Akte hervorgeht, ragte das gewünschte Grundstück in den botanischen Garten.650 Das Land wurde jedoch nicht an die Universität abgetreten und es wurde auch nicht vom Recht Ge- brauch gemacht, Grundstücke notfalls zu enteignen, um sie in den Ei- gentum der Universität übertragen zu können. Es handelte sich dabei um jene Parzelle, die im Norden an den Vorhof der Universität angrenzte und mit der Mauer in einer Flucht stand, hinter der die Orangerie errichtet wurde. Wie der Kupferstich von 1718 zeigt, befand sich nämlich an dieser Stelle des Gartens eine unschöne Ecke (Abb. 5.33). Wohl nicht zuletzt aus der resultierenden Unmöglichkeit eines nahtlosen Anbindens der hin- zugewonnenen Fläche an die ursprünglichen vier Quadrae des Gartens wurde die Mauer zunächst nicht abgebrochen. Wann die Fläche vor dem ersten Bauabschnitt der Orangerie dem Garten zugeschlagen wurde, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Im Kupferstich des Gartens von 1675 sind die beiden hinzugewonnenen Flä- chen vor der verlängerten Orangerie sichtbar (Abb. 5.29/5.30). Das nord- westliche Feld zeigt einen eingezäunten Bereich, dessen Pflanzen durch einen Besucher neugierig betrachtet werden. Es handelt sich vermutlich um jene Fläche, die unter Arnold Seyen eingezäunt werden musste, da Pflanzen beschädigt wurden.651 Noch 1681 war das Feld nicht in die Ge- samtanlage überführt worden, wie aus einem Standortkatalog dieses Jahres hervorgeht. Die Ecke verhinderte eine nahtlose Anbindung an die bestehenden Gartenbeete. Selbst im Kupferstich von 1718, der den Garten nach einer weiteren Erweiterung zeigt, ist dort eine Trennung mittels ei- nes Beetstreifens sichtbar. Durch den Kauf der Liegenschaft, die im Nordwesten an den Garten grenzte und 1642 zur Erweiterung der Orangerie erworben wurde, konnte der Garten vergrössert werden.652 Wann eine fünfte Quadra erstellt wur- de, geht aus den Akten nur indirekt hervor. Henrick Christoffels, der da- malige Hortulanus, forderte aufgrund der Erweiterung 1644 eine Lohner- höhung, die ihm zugesprochen wurde.653 Es ist deshalb wahrscheinlich,

648 Orlers 1614, S. 143. 649 AC1.24, (27. Aug. 1647 ), f. 46v. 650 „springende inden kruythoff“, AC1.24, (2. Dez. 1647 ), fol. 51v. 651 AC1.26, (13. März 1669), S. 325–326. 652 AC1.23, (18. Nov. 1642), f. 174v; AC1.23, (22. Nov. 1643), f. 211r. 653 Die Lohnerhöhung betrug 25 Gulden jährlich, siehe: AC1.23, (24. Mai 1644), f. 237r; Zuvor half ihm sein Bruder bei den Arbeiten im Garten, wofür dieser ebenfalls einen

447 Abb. 5.29 Ansicht des botanischen Gartens 1675 (die im Kup- ferstich angegebene Da- tierung 1617 ist falsch). Zur Linken die erweiterte Oran- gerie und die hinzugewon- nenen Flächen.

(Publiziert durch C. Hagen in seiner Stadtansicht Lei- den, siehe: C. Hagen, Lug- dunum Batavorum 1675.)

(Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-OB-83.036-67)

dass bereits kurz nach dem Kauf des Grundstücks dieses auch mit Beeten versehen und durch den Hortulanus gepflegt wurde. Die hinzugewonne- ne Fläche wird im Standortkatalog von 1681 als fünfte Quadra bezeichnet. Sie wies eine vergleichbare Unterteilung auf, wie die durch Pauw umge- stalteten Quadrate. Sie war ebenfalls geviertelt und war dem modularen Aufbau des Gartens entsprechend in vier mal vier Streifen unterteilt. Die neue Quadra besass jedoch leicht schmalere Abmessungen als die ur- sprünglichen Felder.654 Nach dem Kupferstich von 1675 war auch dieses zusätzliche Quadrat mit Torbauten versehen und dadurch als selbststän- dige Einheit in einem grösseren Zusammenhang ausgezeichnet. Der modulare Aufbau des Gartens erlaubte zwar eine formal ähn- liche und einfach einzugliedernde Erweiterung zu erstellen, doch be-

Lohn erhielt, siehe: AC1.23, (9. Febr. 1640), f. 58v; der Bruder erbte nach dem Tod des Hortulanus dessen stelle, siehe AC1.24, (8. und 9. Febr. 1653), f. 274v. 654 Terwen-Dionisius 1980, S. 44–48.

448 deutete der Ausbau des Gartens dennoch einen empfindlichen Verlust, nämlicher jener die symbolische Bedeutung eines viergeteilten und zent- ralen Gartens. Der fünfte Teil erlaubte nicht mehr, in den Feldern die vier Erdteile zu sehen. Und durch die Erweiterung verlor das ehemals zentrale Achsenkreuz die Symbolik der vier aus einer Mitte quellenden Flüsse. Der Garten verwies daher in seiner Gestalt nicht mehr unmittelbar auf den Garten Eden, auch wenn Hermannus in ihm noch immer ein Paradies sah, in dem nahezu die gesamte Pflanzenwelt wuchs, wie er 1687 erklär- te.655 Der Wunsch, immer mehr Pflanzen versammeln zu können, war wichtiger, als über eine einheitliche und bedeutungstragende Gartenar- chitektur zu verfügen.

Florentius Schuyl Adolphus Vorstius verstarb wie weitere Professoren der Medizin 1663, als in Leiden die Pest wütete.656 Die Medizinfakultät wurde dadurch entschie- den geschwächt. Nicht nur kam es zu einem Mangel an Lehrpersonen, sondern das Ableben der Professoren warf ein schlechtes Licht auf deren Kompetenzen als Mediziner. Das Kuratorium beschloss kurz darauf, ein chemisches Laboratorium einzurichten, um den möglichen Abzug von Studenten zu verhindern.657 Und auch die Lehrstühle wurden neu besetzt. Florentius Schuyl erhielt im Oktober 1664 einen Lehrstuhl für Medi- zin, genauer für die institutionum medicarum, wurde zunächst aber noch nicht zum Präfekten des Gartens gewählt.658 Da mit dem Amt auch das Wohnhaus des Präfekten unbesetzt war, wurde es für die Dauer eines Jah- res vermietet.659 Nach Ankunft Schuyls in Leiden erhielt er es, musste aber zunächst Miete bezahlen.660 Im kommenden Frühling des Jahres 1666 be- gann er auf eigene Initiative „de Studenten te onderwijsen inde kennisse der kruyden ende vande eygenschappen van deselve by demonstratie te doen inden publycque hof vande Acadmie“, was ihm durch das Kuratori- um zunächst für nur zwei bis drei Monate erlaubt wurde.661 Im kommen- den Jahr durfte er den Unterricht fortsetzen und erhielt zudem die Rech- te sowie den Titel des Präfekten des botanischen Gartens.662 Kurz darauf wurde sein Lohn um 300 Gulden erhöht. Zudem durfte er nun das Wohn-

655 „Non Hortorum, sed cultissimum Paradisum quispiam dixerit, in quo, quicquid exi- mii habet vel hic vel alter orbis uno quasi intuitu contemplari licet.“, Hermannus 1687, f. 5r; zudem: Hermannus 1698. 656 AC1.26, (12. Nov. 1663), S. 66; AC1.26, (8. Mai 1664), S. 81–82. 657 Bronnen III, (8. Aug. 1664), S. 196–197. 658 AC1.26, (18. Okt. 1664), S. 93–95; Annahme der Berufung: AC1.26, (8. Nov. 1664), S. 99–101; seine Reise nach Leiden: AC1.26, (8. Nov. 1665), S. 103–104. 659 AC1.26, (8. Nov. 1664), S. 99; AC1.26, (8. Febr. 1665), S. 102. 660 AC1.26, (9. Nov. 1665), S. 123. 661 AC1.26, (8. Mai 1666), S. 138. 662 Bronnen III, (8. Febr. 1667), S. 209–210.

449 1 2

3

5

4 Doelen-Achtergracht Rapenburg 1600–1610 1610–1643 1643–1686 1686–1 73 0 1594–1600

6

Nonnensteeg

Abb. 5.30 haus des Präfekten kostenlos bewohnen.663 Die zögerliche Berufung lag Der Garten zwischen 1643 wohl daran, dass weitere Medizinprofessoren gesucht wurden und dass und 1686. 1. Zweiter Bauabschnitt der Schuyl zuvor in s’-Hertogenbosch Philosophie und nicht Medizin un- Orangerie; 2. Erster Bau- terrichtet hatte, seine Kompetenzen also geprüft werden mussten. Auch abschnitt der Orangerie; 3. Grundstück der Witwe er erhielt den Auftrag, den Garten zu pflegen und mit „alle soorten van Meue; 4. Erweiterung des rare en nieuwe, soo uytheemsche als inlantsche planten te voorsien“.664 Wohnhauses des Präfek- Doch wurde nicht nur das Amt des Präfekten neu besetzt, sondern auch ten; 5. Chemisches Labo- ratorium; 6. Physikalisches dasjenige des Hortulanus, denn Stoffel van Carthagen starb 1667 und zu Theater. seinem Nachfolger wurde Lambert van Carthagen bestimmt.665 Auch er (Planzeichnung des Autors erhielt das Wohnhaus seines Vorgängers, welches er reparieren liess und nach der Zeichung in: Ter- das am Nonnensteg in unmittelbarer Nähe zum Garten stand.666 wen-Dionisius 1980, .) Als eine seiner ersten Amtshandlung fertigte Schuyl einen Katalog des Gartens an, wofür er eine Verehrung über 60 Gulden erhielt.667 Der Katalog folgt nicht nur im Titel, sondern auch im Aufbau demjenigen sei- nes Vorgängers Vorstius. Verzeichnet werden 1821 Pflanzen, wobei jene 231

663 AC1.26, (8. Mai 1667), S. 180–181; zudem: AC1.26, (6. Dez. 1667), S. 202; sein Lohn betrug nun insgesamt 1500 Gulden, siehe: Veendorp/Baas Becking 1938, S. 76. 664 AC1.26, (8. Mai 1667), S. 182. 665 AC1.26, (8. Mai 1667), S. 183; inwiefern die beiden verwandt waren, wird nicht er- wähnt. 666 AC1.26, (8. Aug. 1667), S. 191; AC1.26, (8. Nov. 1667), S. 195. 667 Schuyl 1668; AC1.26, (8. Aug. 1668).

450 Gewächse, die durch Schuyl in den wenigen Jahren seiner Amtszeit nach Leiden gebracht wurden, kursiv gedruckt wurden.668 Der Katalog ist des- halb auch als ein Leistungszeugnis Schuyls zu verstehen. Im Anschluss daran wurden wieder jene Pflanzen erwähnt, die in der Umgebung der Stadt wuchsen und wohl während Expeditionen aufgesucht wurden. In der Amtszeit Schuyls mussten auch die hölzernen Behälter der Pflanzen erneuert werden, da diese laut dem Hortulanus in einem miserablen Zu- stand waren.669 Es handelte sich wohl um jene Gewächse, die den Winter über in die Orangerie gebracht wurden und deswegen transportierbar in Töpfen gepflanzt waren.

Arnoldus Seyen Florentius Schuyl starb bereits 1670. Arnoldus Seyen (Arent Seijen, 1640– 1678) wurde durch das Kuratorium als Nachfolger bestimmt. Er erhielt neben dem Wohnhaus und 400 Gulden in bar auch 300 Gulden jährlich, die er für seine Korrespondenz nutzen sollte.670 Diese war wohl von Nö- ten, um an Samen, Pflanzen oder Raritäten zu gelangen, denn auch er hatte zur Aufgabe, den Garten mit allerhand einheimischen und fremden Pflanzen zu versehen.671 1672 wurde sein Lohn auf 800 Gulden im Jahr verdoppelt und 1675 um weitere 200 Gulden angehoben.672 Unter Seyen arbeitete Hieronymus Meier als Hortulanus, der eben- falls ein Wohnhaus erhielt und die Stelle für nahezu 30 Jahre innehielt.673 1675 wurde zu einem Lohn von 100 Gulden im Jahr eine zusätzliche Hilfs- kraft eingestellt, da die Arbeiten im Garten nicht mehr durch nur eine Person bewältigt werden konnten, da immer mehr Pflanzen gepflegt wer- den mussten. Bereits zuvor wurden deshalb verschiedentlich Arbeiter engagiert.674 Der Hortulanus Hieronymus Meyer nutzte die gewonnene Hilfe im Garten, um ab 1676 auch als Diener des physikalischen Theaters zu arbeiten, wofür er zusätzliche 50 Gulden im Jahr kassierte.675 Später wurde er zudem als Hilfskraft für den astronomischen Unterricht auf der Sternwarte beschäftigt.676 Wie im Fall der Bibliothek zog auch im botani- schen Garten der beständige Zuwachs an Sammlungsobjekten erhöhte Lohnkosten nach sich.

668 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 76. 669 AC1.26, (13. März 1669), S. 325–326. 670 AC1.26, (8.Febr. 1670), S. 378–379; für die Bezahlung des Transports seiner Möbel, siehe: AC1.26, (2. Juni 1670), S. 406. 671 Seine Berufungsakte ist nahezu identisch wie diejenige seines Vorgängers, siehe: AC1.26, (8. Febr. 1670), S. 379–380. 672 AC1.26, (7. Okt. 1672), S. 521–522; AC1.27, (20. Febr. 1675), f. 12r–v. 673 AC1.26, (15. April 1670), S. 394. 674 AC1.27, 30. Mai 1675, f. 29v–30r. 675 AC1.27, (9. Nov. 1676), f. 83r. 676 Spätestens ab dem Mai 1699, siehe: AC1.29, (4. Mai 1699), S. 156–159.

451 Kurz vor seinem Tod sprachen die Kuratoren Arnold Seyen ihre Ver- ehrung aus, als sie den ersten Band des Hortus Malabaricus Indicus durch ihn empfingen.677 In diesem gewaltigen Werk, das erst nach 12 Bänden komplett sein sollte, arbeiteten neben Seyen auch Johannes Commelin und andere Botaniker der Niederlande mit. Die Federführung übernahm Hendrik Adriaan van Rheede tot Draakestein (1635–1691), der im Dienst der VOC in Indien arbeitete und den Posten des Gouverneurs von Mal- abar erhielt. Neben seiner politischen Tätigkeit beschäftigte er sich in seiner Freizeit mit botanischen Studien. Auf Feldexpeditionen wurde er häufig durch Paulus Hermannus begleitet, der später zum Präfekten des Leidener Gartens berufen wurde und Seyen jedes Jahr Samen indischer Pflanzen zukommen liess.678 In Leiden konnte man somit immer mehr exotische Pflanzen auffin- den. Herman Boerhaave erklärt in seiner kurzen Geschichte des botani- schen Gartens, die er in seinem Katalog von 1720 publizierte, dass bereits unter Arnold Seyen viele exotische Pflanzen ihren Weg nach Holland ge- funden hätten und dass viele edle Personen, durch ihre Liebe zur Wissen- schaft getrieben, keine Kosten und Aufwände gescheut hätten, um von allen Teilen der Welt alles zu sammeln, was den Namen „Pflanze“ tragen würde. Nahezu kein Kapitän, so Boerhaave weiter, habe die heimischen Häfen verlassen, ohne die ausdrückliche Aufgabe, von überall her Samen, Wurzeln, Pflanzenteile oder Sträucher zu sammeln und diese mit nach Holland zu bringen.679 1670 liess Seyen in der Orangerie eine Kammer abtrennen und diese mit einem Ofen versehen, vermutlich um dort jene exotischen Pflanzen überwintern zu können, die besonders empfindlich gegenüber der Kälte waren.680 Zudem liess er kleinere Treibhäuser errich- ten, die der Aufzucht von Samen dienen sollten.681 Es kamen aber nicht nur immer mehr Pflanzen aus Ostindien nach Leiden, sondern sogar ein Präfekt des Gartens, denn Seyen verstarb bereits im Oktober 1678 und ein Nachfolger musste gesucht werden, der in Übersee gefunden wurde.

Pflanzen und Kuriositäten aus der ganzen Welt

Innerhalb der Beete und im angrenzenden Ambulacrum des Leidener Gartens konnten Exponate dieser Weltteile besichtigt werden. Bereits der Begleittext zum Kupferstich von 1610 erklärt, woher die versammelten

677 Bronnen III, (6. Juni 1678), 337; Bronnen III, (8. Mai 1678), Bijl. no. 864, S. 263*. 678 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 79–82. 679 Nach der englischen Übersetzung in: Veendorp/Baas Becking 1938, S. 81–82. 680 AC1.26, (8. Aug. 1670), S. 410–411. 681 AC1.26, (9. Febr. 1671), S. 459–460.

452 Pflanzen und Naturalien stammten. In den Beeten fände man „viel seltz- ame frembde Artzneykreuter/ pflantzen und blumen/ von mancherley art und farben“ und im Ambulacrum seien „viel und mancherley selzame sa- chen zusehen“, die „aus Ost und West-Indien / auch andern frembden un fernen Landen gekommen sind“ und zudem würden „teglich mehr und mehr an frembden gewechsen / pflantzen und kreutern“ in den Garten gelangen. Die Betonung der Fremdartigkeit der gezeigten Pflanzen und Raritäten weist darauf hin, dass dieser Aspekt von besonderem Interesse und die Universität stolz auf ihre Exponate war. Die empirische Erforschung der Pflanzenwelt setzte natürlich vo- raus, dass man diese auch in die Finger bekam. Dass es um 1600 noch schwierig war, an exotische und fremdländische Exponate der Naturge- schichte zu gelangen und deswegen auf gut vernetzte Forscher gesetzt werden musste, wurde bereits bei der Berufung von Paludanus erwähnt. Für ihre Korrespondenz erhielten die Präfekten des Gartens eine grösse- re Summe Geld. Je grösser das Netzwerk und der Ruhm eines Forschers, desto mehr Stücke konnte er versammeln. Die Naturhistoriker waren dennoch auch auf Feldforschungen angewiesen, die sie in immer weitere geographische Räume führte. Clusius war in weiten Teilen Europas un- terwegs, um Pflanzen zu sammeln, zu erforschen und mit den antiken Schriften in Übereinstimmung zu bringen.682 Zu Beginn reichte es noch aus, Gewächse aus Europa zu sammeln. Der botanische Garten in Pisa enthielt im Jahre 1548 im ganzen 620 Pflanzen, die nahezu alle aus Europa stammten.683 Doch schon bald wurden die Länder anderer Kontinente ebenfalls in den Betrachtungshorizont einbezogen, deren Fauna und Flora noch weit- gehend unbekannt waren und neue Erkenntnisse versprachen. Clusius selbst war nie ausserhalb Europas, schrieb aber dennoch ein Buch über exotische Pflanzen, Tiere und Gegenstände, sein Exoticorum von 1605.684 Wenn er nicht in die Welt hinaus konnte, so musste die Welt zu ihm kom- men. Er und die anderen Professoren der Leidener Universität profitier- ten neben ihren persönlichen Netzwerken auch von den weltweiten Han- delsbeziehungen der Niederlande.685 Die Handelsflotte der Niederlande half entschieden mit, um an exotische Gewächse, andere Naturalien so- wie an menschliche Artefakte zu gelangen. Harald J. Cook zeigt in seiner Publikation Matters of Exchange, wie eng verbunden die beiden Bereiche

682 Hunger 1927–1943. 683 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 71. 684 Clusius 1605. 685 Zur Geschichte der Handelsbeziehungen der Niederlande, siehe: Israel 1989; Israel 1995.

453 von Handel und Forschung waren.686 Bereits vor der Gründung der Niederländischen Ostindien-Kom- panie (VOC) im Jahre 1602 wurden von Expeditionen nach Übersee den daheimgebliebenen Forschern exotische Objekte mitgebracht. Als Bei- spiel dafür kann wiederum Paludanus ins Feld geführt werden, der eng mit Jan Huygen van Linschoten (1563–1611) befreundet war.687 Linschoten seinerseits etablierte schon vor der Gründung der VOC den Fernhandel. Er segelte unter spanischer Flagge 1583 über Mosambik nach Goa und kam nach Jahren der Reise 1592 wieder in Lissabon an, um daraufhin in seine Heimatstadt Enkhuizen zurückzukehren, in der auch Paludanus lebte. Von seiner Expedition brachte er neben unzähligen Informationen auch verschiedene exotische Gegenstände mit, beispielsweise die Häute zweier Paradiesvögel.688 Paludanus seinerseits half Linschoten bei seinem 1594 erschienenen Itinerar, das ihm gewidmet wurde, und versah sie mit zahlreichen Ergänzungen zur Naturgeschichte, die Linschoten weniger interessierte als der Handel.689 Der Grundstein zum internationalen Handelsimperium der Nie- derlande wurde 1594 mit der Gründung der Compagnie van Verre gelegt. Die erste Reise niederländischer Seefahrt führte unter der Führung von Cornelis de Houtman (1540–1599)690 1595 um Afrika herum nach Indi- en. Die Seefahrer sammelten ebenfalls exotische Objekte. Nachfolger dieser Kompanie wurde die VOC. Die Motivation für den Aufbau eines weltweiten Handelsnetzes durch die VOC und der 1621 gegründeten Nie- derländischen Westindien-Kompanie (WIC) war natürlich in erster Linie bestimmt durch die Aussicht auf Gewinn an Geld und Macht. Der Ge- würzhandel war es, der die Kaufleute in die Ferne zog und den Niederlan- den ihr „Goldenes Jahrhundert“ bescherte. Motivator war also nicht die wissenschaftliche Curiositas, sondern merkantile Interessen. Nichtsdes- totrotz kamen durch den Handel entscheidende Impulse für das Geistes- leben in den Niederlanden zurück und hatten entscheidenden Einfluss auf die Künste und Wissenschaften.691 Clusius und Pauw erkannten schon früh die Chance, durch die Han- delsschiffe an Naturalien und Neuigkeiten aus Ostindien zu kommen. Pieter Pauw konnte dazu auch familiäre Kontakte nutzen, denn sein Onkel, Reinier Pauw, war ein Gründungsmitglied der VOC und mit Co- nerlis de Houtman bekannt.692 Sie schrieben bereits 1599 an die „Vierde

686 Cook 2007. 687 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 4, Sp. 918–920. 688 Grundlegend zu Linschoten: Gelder/Parmenter/Roeper 1998. 689 Swan 2005b; Cook 2007, S. 121–128. 690 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 7, Sp. 627. 691 Swan 2005b, S. 223–224. 692 Cook 2007, S. 164.

454 Schipvaart“ und baten die Pioniere, ihnen Beschreibungen und Exponate von exotischen Pflanzen mitzubringen. Doch starb der damit beauftragte Schiffsarzt auf der Reise. Clusius und Pauw schrieben später – mit unbe- grenztem Optimismus und Neugierde – einen Brief an die neugegründete VOC und baten auch sie, ihnen Informationen und Exponate mitzubrin- gen.693 Sie sollten Zweige mit Blättern, Blüten oder Früchten zwischen Pa- pier trocknen und mitbringen und zudem eine Beschreibung der Pflan- zen und ihres Gebrauchs, sowie die Nennung ihrer heimischen Namen, beilegen, „dat alle des dingen moet men weten, om wel te connen be- schrijven.“694 Somit beauftragten sie die Handelsreisenden zu nichts an- derem, als ihnen ein Herbarium aus Übersee zu erstellen, wie sie selbst solche auf ihren Feldforschungen anfertigten. Die VOC erklärte sich dazu bereit.695 Pieter Pauw besass deshalb ein Dokument der Herren Staten Ge- nerael, das besagte, die VOC solle „voor de Anatomie ende den Thuyn alle vreemdichhait te mogen becomen.“696 Als die WIC gegründet wurde, wollte auch der Anatom Otto Heurni- us das wachsende Handelsnetzwerk der Niederlande nutzen, um an exo- tische Raritäten für die Sammlung des anatomischen Theaters zu kom- men. Franciscus Merwen, ein Absolvent der Leidener Universität, reiste ebenfalls nach Ostindien und bot der Universität an, „van daer alhier eni- ge vreemde cruyden ende andere rariteyten“ mitzubringen.697 Und auch Verbindungen nach Aleppo wurden für den Einkauf medizinischer Pro- dukte und Kuriositäten verwendet, auch wenn es sich dabei um andere handelte, als Golius wenige Jahre später für den Erhalt orientalische Ma- nuskripte nutzte.698 Am Kap der Guten Hoffnung wurde durch die VOC eine Siedlung für Seefahrer errichtet, um ihnen einen Zwischenhalt auf der beschwer- lichen und langen Reise nach Indien anbieten zu können. Dort wurde ein grösserer Garten angelegt, der zunächst die Versorgung der Seefah- rer zum Ziel hatte, schon bald aber zu einem botanischen Garten umge- wandelt wurde, der unzählige Pflanzen beherbergte. Er hatte nun nicht nur die Lagerung exotische Gewächse zur Aufgabe, sondern auch deren Akklimatisation, da angenommen wurde, sie könnten aufgrund dieser Zwischenstation einfacher die kalten nordeuropäischen Winter über- stehen.699 Auch der botanische Garten in Leiden profitierte von diesem

693 Bronnen I, (9. Sept. 1601), Bijl. no. 348, S. 406*–407*. 694 Hunger 1927–1943, Band 1, S. 267. 695 Der Beschluss transkribiert in: Hunger 1927–1943, Band 1, S. 267; zudem: Cook 2007, S. 129. 696 AC1.228, (Inventar des Gartens und der Anatomie), 1619. 697 Bronnen II, (9. Febr. 1619), S. 84. 698 Bronnen II, (9. Febr. 1619), S. 84; zudem: Jorink 2011, S. 166. 699 Prest 1988, S. 48–50.

455 Pflanzenlager, denn Florentius Schuyl erklärt im Vorwort zu seinem Kata- log von 1668, er hätte einige Pflanzen, die zuvor in Europa gänzlich unbe- kannt waren, vom Kap der Guten Hoffnung erhalten.700

Frontispiz 1687 Der Katalog von 1687 präsentiert auf seinem Frontispiz den Leidener Gar- ten als Mittelpunkt der Welt (Abb. 5.31).701 Gestochen wurde es durch Ab- raham de Blois (aktiv 1680–1720) nach einer Zeichnung von Willem van Mieris (1662–1747). Pallas Athene, die Schutzgöttin und Personifikation der Leidener Universität, sitzt mit Eule und Lanze auf einem Thron aus Büchern inmitten eines wohlgeordneten Gartens. Das Wappen der Stadt Leiden ziert einen Torbau, der zu diesem Garten führt. Das Gebäude im Hintergrund ist dank dem Turm und der Sternwarte deutlich als die dortige Universität erkennbar, der gezeigte Garten somit der botanische Garten der Stadt. Vier unterschiedliche Personen bringen Athene jeweils einen Topf mit spezifischen Pflanzen. Die Pflanzen sowie die Charakte- ristika der Menschen und ihrer Kleidung zeigen deutlich, dass sie die vier damals bekannten Kontinente – Asien, Afrika, Europa und Amerika – ver- körpern. Auch im Vordergrund sind vier exotische Pflanzen zu sehen, so- zusagen in einer wissenschaftlichen Grossaufnahme. Über dieser Szene sitzt Zeus auf einer Wolke und sorgt in seiner Aufgabe als Wettergott da- für, dass es dem Garten an nichts fehlt. Der Regen tränkt die Pflanzen und der Regenbogen verweist auf den ebenso notwendigen Sonnenschein. Bezeichnenderweise erfährt Athene dank einer besonders hellen Wolke über ihrem Haupt den Komfort eines Regenschutzes. Das Bild besagt, dass der Garten durch Gottes Wohlwollen gedeihen kann und dass er Pflanzen aus aller Herren Länder beheimatet. Die dargestellten Fremden überreichen die mitgebrachten Pflanzen gar mit einer Geste der Unter- werfung, was zudem auf die Macht der Niederlande in Übersee verweist. Personifikationen von niederländischen Städten oder gar der ganzen Republik, denen Tribut aus aller Welt gezollt wird, wurden ein im 17. Jahr- hundert geläufiges Motiv der bildenden Künste. So zierte das Tympanon des Rathaus von Amsterdam ein Relief, auf dem die Magd der Stadt inmit- ten von Vertretern aller Kontinente dargestellt wurde, und somit auf die politische Macht und den ungeheuerlichen Reichtum der Stadt verwies, welcher Dank der weltweiten Handelsbeziehungen aufgebaut werden konnte. Auch die Historische Beschryvinghe van Amsterdam von 1663 zeigt ein ähnliches Motiv auf dessen Frontispiz. Dort sitzt die Magd Amster- dams analog zur Darstellung der Leidener Athene auf einem Thron, um-

700 Schuyl 1668, S. 3–4; siehe zudem: Veendorp/Baas Becking 1938, S. 77. 701 Hermannus 1687.

456 Abb. 5.31 Titelblatt des Gartenkata- logs von 1687. Der Universi- tät Leiden werden aus allen Herren Länder exotische Pflanzen gebracht.

(Paulus Hermannus, Horti academici Lugduno-Batavi catalogus, exhibens planta- rum omnium nomina, qui- bus ab anno MDCLXXXI ad annum MDCLXXXVI hor- tus fuit instructus ut & plu- rimarum in eodem culta- rum & à nemine hucusque editarum descriptiones & icones, Leiden (apud Cor- nelium Boutesteyn) 1687, Frontispiz)

(Fotographie des Autors.)

ringt von Personifikationen der vier Kontinente, die ihr exotische Tiere, Früchte und andere Geschenke darbieten.702 Es überrascht nicht, dass das Motiv auch für einen anderen Garten- katalog gewählt wurde. Johannes Commelin (1629–1692), der Verfasser der Nederlantze hesperiden und Leiter des Hortus Medicus in Amsterdam,

702 Das Tympanon und das besprochene Frontispiz werden diskutiert und abgebildet in: Berger Hochstrasser 2005, S. 183.

457 nutzte dasselbe Motiv.703 Das Titelblatt seiner 1697 postum erschienen Pu- blikation Horti Medici Amstelodamensis rariorum plantarum zeigt Flora, auf einem Thron sitzend, umringt von Vertretern aus aller Welt, die ihr zahlreiche Pflanzen aus aller Welt überreichen. Der Stich tritt somit in die Tradition des Leidener Frontispiz.704 Das Titelblatt des Leidener Gartenkatalogs besass somit ein geläufi- ges Motiv, das aber nicht nur zu den versammelten Pflanzen eine Aussage macht. Denn es zeigt nicht bloss, dass im Garten Pflanzen aus aller Welt wuchsen, sondern verweist darüber hinaus auf die Vormachtstellung der Niederlande im globalen Handel. Der botanische Garten der Universität und seine exotischen, seltenen und wertvollen Pflanzen wurden dadurch politisiert. Denn er repräsentiert die Macht und den Reichtum der Nie- derlande. Musste zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Hollandsche Maagd noch ihren Garten vor den Bedrohungen des Auslands schützen, so sass sie nun im Zentrum der Welt.

Ein Präfekt aus Ostindien: Paulus Hermannus

Dass der botanische Garten von den entfernten Handelsstützpunkten der Niederlanden profitierte, entging auch Ellis Veryard nicht. Er erklärte zu seinem Besuch im Jahr 1682:

„[…] we saw the Physick Garden, which, tho’ small in compass, is well stor’d with Plants, the States General entertaining a Botanist in the Indies purposely to supply it with Exoticks.“

Paul Hermann (Paulus Hermannus, 1646–1695) war einer dieser Naturfor- scher, die in fremden Ländern auf der Suche nach unbekannten Pflanzen und Tieren war und durch die Republik beschäftigt wurde. Als er 1678 zu einem Lohn von 1000 Gulden im Jahr zum Nachfolger des verstorbenen Arnold Seyen berufen wurde, weilte er noch auf Ceylon. Auch er arbeitete am Hortus Malabaricus Indicus mit und stand mit dem verstorbenen Prä- fekten in engem Austausch.705 Geschätzt wurde er vor allem als Experte für fremdländische Pflanzen.706 Bis dieser aber die Berufung annehmen und in Leiden ankommen konnte, musste eine Interimslösung gefunden

703 Zu Commelin und dem Amsterdamer Medizingarten siehe: Wijnands/Zevenhui- zen/Heniger 1994. 704 Wijnands/Zevenhuizen/Heniger 1994, Abbildung auf S. 73. 705 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 80–81. 706 AC1.27, (21. Nov. 1678), f. 109r–109v; Kurzfassung in Bronnen III, (21. Nov. 1678), S. 340; das Berufungsdokument in Bronnen III, (21. Nov. 1678), Bijl. no. 865, S. 263*– 264*.

458 werden.707 Die Wahl fiel auf Peter Hotton (1648–1709), der zwischen Mai 1679 und 1681 für jährlich 600 Gulden die Präfektur des Gartens über- nahm.708 Hermanns positive Antwort auf das Berufungsschreiben erhielt die Universität im Sommer 1680 und Hotton wurde für die getane Arbeit gedankt.709 Seine Dienste wurden noch bis zur Ankunft Hermann benö- tigt,710 die spätestens 1681 erfolgte. Die Leidener Universität organisierte somit nicht nur Pflanzen und andereExotica aus Übersee, sondern auch einen Präfekten, der den Studenten die versammelten Naturalien anhand seines Erfahrungsschatzes erklären konnte. Sein erster gedruckter Kata- log des botanischen Gartens war exakt jener, der das besprochene Titelb- latt zeigte. Zudem beschloss das Kuratorium, von Seyens Witwe ein Manuskript über Pilze, das von Clusius stammte, sowie ein Herbarium zu erwerben, das von Clusius, Lobelius und Dodonaeus angefertigt worden war.711 Ob- wohl das Kuratorium der Witwe eine Rente zusprach,712 wollte sie die Pflanzen ihres verstorbenen Gatten, die sich im Garten der Universität befanden, nach Hause mitnehmen.713 Das Kuratorium bezahlte ihr et- was mehr als 300 Gulden, worauf die Pflanzen im Garten verblieben.714 Es kam also auch hier zu einem ähnlichen Konflikt um die Pflanzen des Gartens, wie er bereits nach dem Tod Cluyts ausgetragen wurde.

Der Katalog von 1681 Über das Aussehen des Gartens, wie ihn Paulus Hermannus nach seiner Ankunft aus Ostindien antraf, wissen wir dank eines detaillierten hand- schriftlichen Katalogs von 1681 bestens Bescheid.715 Denn es handelt sich dabei nicht um ein blosses alphabetisches Verzeichnis aller im Garten wachsender Pflanzen, wie es die Kataloge von Adolphus Vorstius und Flo- rentius Schuyl waren, sondern um einen handschriftlichen Standortkata- log. Er gibt somit nicht nur die Pflanzen bekannt, sondern erklärt auch die Gestaltung des Gartens. Der Katalog verzeichnet fünf Quadrate. Die ersten noch so eingeteilt

707 AC1.27, (3. Jan. 1679), f. 113v. 708 AC1.27, (26. April 1679), f. 119v–120r; AC1.27, (2. Mai 1679), f. 120v; AC1.27, (11. Mai 1679), f. 121r–121v; Bronnen III, (1. Juni 1679), S. 348 709 Bronnen III, (8. Aug. 1680), S. 354; Bronnen III, (23. Okt 1679), Bijl. no. 868, S. 267*– 268*. 710 AC1.27, (16. Sept. 1680), f. 146r. 711 AC1.27, (2. Mai 1679), f. 121r; die Preise betrugen 120 und 63 Gulden, siehe: AC1.27, (11. Mai 1679), f. 124v–125r; zudem: AC1.27, (1. Juni 1679), f. 130v–131r; zumindest das Pilzbuch wird noch heute in der Universitätsbibliothek Leiden verwahrt. 712 AC1.27, (2. Mai 1679), f. 122v–123r. 713 AC1.27, (11. Mai 1679), f. 123r–124v. 714 AC1.27, (8. Nov. 1679), f. 134r; sie mussten ihr zudem noch einen kleineren Geldbe- trag auszahlen, siehe: AC1,27, (16. Sept. 1680), f. 146r–146v. 715 Hermannus 1681.

459 wie zu Pauws Zeiten. Zwei Quadrae verfügten daher noch immer über 12 und die anderen beiden über 16 Streifen. Die neue fünfte Quadra umfass- te 16 Streifen. Sie war somit analog unterteilt und ausgerichtet, wie die Quadra A oder D. Zudem nennt der Katalog neun Streifen entlang den Rändern des Gartens. Wo diese genau zu lokalisieren sind, kann jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Der Garten sah vermutlich noch im- mer so aus, wie er 1643 durch die Erweiterung angelegt wurde.

Signaturen von Pflanzen Der Katalog nennt in einer Kopfzeile einer jeder Seite das behandelte Quadrat und den behandelten Streifen – Hermannus nennt diese wie Pauw Pulvillis –, um danach die Namen aller dort wachsenden Pflanzen aufzuführen. Neben den Pflanzen stehen Nummern, die hier aber nicht wie in den vorhergehenden Standortkatalogen die einzelnen Beete kenn- zeichnen, sondern die Pflanzen selbst durchnummerieren. Es waren so- mit nicht mehr die Standorte einer jeder Pflanze nummeriert – vergleich- bar mit den Regalbrettern der Bibliothek – sondern jede Pflanze selbst erhielt eine Signatur – analog zu den Büchernummern. Bereits 1595 wurden kleine Hölzchen zur Kennzeichnung aller Pflan- zen erworben. 716 Zudem erhielten die Professoren der Medizin 1595 nicht nur einen Schlüssel zum Garten, sondern auch eine Kopie des Katalogs, damit sie die Pflanzen ohne fremde Hilfe auffinden konnten.717 Auch in Padua und Montpellier verfügten die Pflanzen, resp. die Beete, über Si- gnaturen, damit die einzelnen Gewächse lokalisier- und bestimmbar waren. Im Jahre 1649 veranlasste das Kuratorium, besonders wichtige Pflanzen des Gartens speziell zu kennzeichnen, damit sie die Studenten einfacher auffinden konnten.718 Im Reglement des botanischen Gartens aus den Jahren 1686 und 1692 wurde den Hortulani aufgetragen, alle Pflanzen „met pertinente nombers teeckenen“ und alle Jahre ein vollständiges Register zu erstellen.719 Dort steht ferner, dass die Pflanzen des Gartens

„in een behoorlycke ordre, die haer volgens de catalogus tot dien in- sigte gedruct ofte andersints door den Professor Botanicus zal aen- gewesen zijn, werden gecultiveert ende gemultiplceert, […] alles tot conservatie ende perfectie van de voors. ordre ende luyster van den voors. hoff.“720

716 Witkam, DZ II, (24. Mai 1595), No. 348, S. 31–32, hier S. 31. 717 Witkam, DZ IV, (24. Mai 1595), No. 1275, S. 195–196, hier S. 196. 718 AC1.24, (16. Aug. 1649 ), f. 149v. 719 Bronnen IV, (9. Febr. 1686), S. 15*–16*; Bronnen IV, (18. Juni 1692), S. 28*–32*. 720 Bronnen IV, (18. Juni 1692), S. 28*–32*, hier S. 29*.

460 Der Professor organisierte demnach die Pflanzen und stellte sie in ei- nen wissenschaftlichen Kontext, die Gärtner waren danach für die Kul- tivierung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung verantwortlich. Sie hatten zudem die Aufgabe, die Pflanzen, wiederum nach Absprache mit dem Professor, mit Nummern zu versehen. Die Pflanzen waren somit durchnummeriert und diese Nummern wohl in einem Index verzeichnet. Es ist aber anzunehmen, dass neben einer einfachen Nummer als Signa- tur auch die Namen der Pflanzen auf den Schildern angegeben wurden. Ansonsten wären die Besucher auf einen Katalog angewiesen gewesen, der den Nummern Bedeutung verleihen konnte, also wenigstens die Na- men aller Pflanzen verzeichnete. Die Besucher des Gartens konnten an- hand der Schilder die Pflanzen leicht auffinden und identifizieren. Der Präfekt und seine Helfer waren zudem in der Lage, einfach und rasch ei- nen Katalog aller Pflanzen zu erstellen.

Die Vergrösserung des Gartens von 1686

Im Zuge des 17. Jahrhunderts teilte sich der Fachbereich der Medizin in immer kleinere Teile auf. Der Lehrplan musste 1681 erneuert werden und die Kompetenzen der vier Medizinprofessoren wurden definiert. Ein Pro- fessor war demnach zuständig für die Anatomie, ein zweiter für die Pflan- zenkunde, ein dritter Professor unterrichtete die Praxim medicam und ein vierter lehrte die Chemie, die noch immer als Teilbereich der Medizin verstanden wurde. Es wurde ebenfalls definiert, dass der Professor der Botanik wäh- rend des Winters den Studenten die Gestalt und die Kräfte „van alle de gommen, sappen, droogen ende verdere simplicia“, aus denen Medizin gewonnen werden könne, lehren sollte. Die Aufteilung erfolgte also noch immer, wie sie bereits bei der versuchten Berufung Paludanus gewünscht wurde, nämlich während des Sommers im Garten und während des Win- ters anhand von Mineralien und anderen Naturalien. Die Lehre sollte in beiden Fällen aufgrund von „Demonstrationen und Unterrichtungen“ von statten gehen, also sowohl empirisch wie auch aus Büchern.721 Paulus Hermannus erhielt eine Lohnerhöhung von 200 Gulden, da er sozusagen zwei Professuren in einer Person wahrnahm und neben sei- ner Lehre im Garten nun auch den Studenten die Herstellung und Wirk- mechanismen medizinischer Präparate erläuterte.722 Dem Präfekten des botanischen Gartens wurde erlaubt, so viele „droogen, sappen ende Sim- plicia“ zu kaufen, wie er dazu benötigen würde. Er solle vor dem Einkauf

721 Bronnen III, (17. Mai 1681), S. 365. 722 AC1.27, (8. Nov. 1683 ), f. 221r.

461 jedoch eine Kostenschätzung abgeben.723 Bereits im kommenden Früh- jahr waren die Objekte gekauft und Hermannus bat um die Errichtung eines Schranks in der Galerie, um sie darin verwahren zu können.724 Ver- mutlich fand der Unterricht ebenfalls in der Galerie statt. Neben diesen Heilmitteln erwarb Herman auch Bäume und Pflanzen zu einem Preis von 323 Gulden. Diese beschaffte er auf einer Reise nach England, wo er zwischen August und September 1682 weilte und erstellte zwecks Abrechnung einen Katalog, der überliefert ist. Die Auflistung um- fasst ca. 188 verschiedene Pflanzensorten, die zum Teil auch mehrfach ge- kauft wurden, selten gar kistenweise.725 Spätestens dieser Einkauf brachte das Fassungsvermögen des Gartens wohl an seine Grenzen.

Erweiterung des Gartens 1682, also kurz vor der Erweiterung des Gartens, berichtet Ellis Veryard in seinem Reisejournal: „we saw the Physick Garden, which, tho’ small in compass, is well stor’d with Plants“.726 Der botanische Garten gehör- te damals also bereits zu den eher kleineren Gärten, die Ellis Veryard in seinem Leben besichtigte, doch war er dennoch fasziniert von der hohen Anzahl verschiedener Gewächse, die darin gediehen. Dies deutet darauf hin, dass der Garten eine Erweiterung mittlerweile nötig hatte. Dazu begann die Universität bereits 1669 die Häuser entlang der Westseite des Gartens aufzukaufen. In einem dieser Häuser, das neben dem ehemaligen Wohnhaus Cluyts gelegen war, wurde das chemische Laboratorium eingerichtet. Es erhielt ein aufwändig gestaltetes Portal, das wie dasjenige der beiden Galerien auf das Hauptachsenkreuz des Gartens führte. Das Laboratorium wurde so dem Garten angebunden, was auch zu seiner Funktion passte, denn in ihm wurden zunächst vor allem pharmazeutische Produkte hergestellt, die den Medizinalpflanzen des Gartens entsprachen. 1684 erwarb die Universität eine weitere Liegenschaft an der Doelen- gracht und berief sich dabei auf ihr Recht vom 5. Januar 1595, Häuser nicht nur kaufen, sondern auch abreissen zu dürfen.727 Und genau dies musste für eine Erweiterung des Gartens auch geschehen.728 Im kommenden Fe- bruar wurde beschlossen, die Bauten, die entlang der Doelengracht zwi- schen dem Wohnhaus des Hortulanus Hieronymus Meier und der Galerie

723 AC1.27, (8. Nov. 1681), f. 157v. 724 AC1.27, (18. Febr. 1682), f. 176r; zudem: AC1.28, (8. Nov. 1686), f. 35v–36r. 725 Bronnen IV, (6. Nov. 1682), S. 16; die Liste der gekauften Pflanzen in: AC1.27, (6. Nov. 1682), f. 196r–199r. 726 Veryard 1701, S. 8. 727 Zu diesem Recht, siehe: Bronnen I, (6. Januar 1575), Bijl. no. 7, S. 7*–9*. 728 AC1.27, (19. Sept. 1684), f. 231r.

462 1

3 2 Doelen-Achtergracht Rapenburg 1600–1610 1610–1643 1643–1686 1686–1 73 0 1594–1600 4

4 5

Nonnensteeg

standen, zwecks Vergrösserung des Gartens abzutragen.729 Im Dezember Abb. 5.32 Der Garten zwischen 1686 1685 wurde das letzte Haus, das noch in Privatbesitz war, gekauft und sein und 1730. Abbruch beschlossen.730 Im kommenden April 1686 wurde der Stadtar- 1. Chemisches Laboratori- chitekt Jacob Roman, der nahezu zeitgleich auch das astronomische Ob- um; 2. Treibhaus Boerhaa- ve; 3. Treibhaus Herman- servatorium und die Bibliothek renovierte, damit beauftragt, einen Plan nus; 4. Wohnhaus Hortula- für die Vergrösserung des Gartens und für eine neue Mauer auszuarbei- nus; 5. Physikalisches The- ater. ten.731 Die ehemalige Strasse, die entlang der Doelengracht führte, wurde ebenfalls der Erweiterung zugeschrieben, so dass der vergrösserte Garten (Planzeichnung des Autors 732 nach der Zeichung in: Ter- bis an die Kante der Gracht reichte. wen-Dionisius 1980, .) Durch den Abbruch der Häuser verlor das chemische Laboratorium seine Unterkunft. Die Kuratoren beschlossen, dass es in einem Haus an der Nordseite des Gartens untergebracht werden sollte. Auch der Hortu- lanus benötigte eine neue Bleibe. Er erhielt das Haus an der südwestli-

729 AC1.27, (3. Febr. 1685), f. 238r. 730 AC1.28, (8. Dez. 1685), 14r–14v. 731 AC1.28, (10. April 1686), f. 22r; zudem: AC1.28, (8. Mai 1686), f. 23v–24r; zur Ausfüh- rung der Mauer: AC1.28, (8. Aug. 1686), f. 29v; AC1.28, (5. Juni 1687), f. 43v–44r; auch diese Planzeichnung ist nicht überliefert. 732 AC1.28, (8. Aug. 1686), f. 28r–28v.

463 chen Ecke, welches an der Ecke der Doelengracht und des Nonnenstegs stand.733 Selbst im Frühjahr 1688 war die Vergrösserung noch immer nicht vollendet.734 So mussten die Steinpfade erweitert werden, damit die neu- en an die alten Wege angeschossen werden. Zudem benötigte man eine Pumpe, die an der Orangerie aufgestellt werden sollte, um den Garten zu bewässern. Ferner sollte das Ambulacrum so verlängert werden, dass es – wie die ebenfalls erweiterte Galerie – an die neue Mauer an der Do- elengracht stossen würde, wozu der Stadtarchitekt Jacob Roman einen Plan auszuarbeiten hatte.735 Terwen-Dionisius vermutet, dass durch die Erweiterung der Orangerie und den Wegfall der grossen Öffnung an ih- rer östliche Stirnseite das Hauptportal vergrössert werden musste, um die grösseren Bäume während des Winters hineinbringen zu können. Die Erweiterung erschloss zudem das neue chemischen Laboratorium, das hinter der Orangerie erstellt wurde (Abb. 5.32/5.33/5.34).736 Herman durfte nach Vollendeung der Erweiterung eine Reise nach Italien unternehmen, um Bäume und andere Pflanzen, die im Garten noch fehlten, zu erwerben. Dafür wurden ihm 500 Gulden zugespro- chen.737 Konnte die Bibliothek nach ihrem Umbau zur Wandbibliothek neue Bücher aufnehmen, für deren Erwerb das Kuratorium Geld sprach, so waren es wohl jene Pflanzen, die Hermannus dank der Erweiterung des Gartens in Italien beschaffen durfte und die im hinzugewonnenen Raum Platz fanden. Später änderte er sein Reiseziel jedoch ab und fuhr nach Frankreich.738 Die Rechnung der mitgebrachten „boomen, planten, en gewassen“ belief sich auf knapp über 545 Gulden.739

Umgestaltung der Felder und Beetstreifen Die Erweiterung ist im Gartenplan des Katalogs von 1718 zu sehen und eher fragmentarisch in der Gestalt, da nicht der gesamte Garten neu gestaltet wurde, sondern viele Teile der alten Architektur übernommen wurden. Diese wurden aber angepasst, um dennoch eine mehr oder weniger ein- heitliche Gestaltung zu erhalten. Nach Terwen-Dionisius war der hinzu- gewonnen Streifen ca. 9,5 Meter breit. Die Pfade der alten Anlage wurden weitergeführt. Die daraus resultierenden neuen Felder waren durch die Pfade mit den alten Teilen des Gartens verbunden. Als point de vue wurde am westlichen Ende des Gartens eine Laube errichtet. Höhere Gewächse

733 Bronnen IV, (22. Febr. 1687), S. 51–52; zudem: AC1.28, (16. Aug. 1687), 50r–50v. 734 AC1.28, (5. Juni 1687), f. 43v–44r; AC1.28, (3. April 1688), f. 63v. 735 AC1.28, (8. Mai 1688), f. 63v–64r. 736 Terwen-Dionisius 1980, S. 48. 737 AC1.28, (8. Mai 1688), f. 66r. 738 Bronnen IV, (16. Juli 1688), S. 60. 739 Die Kuratoren bezahlten Herman gar einen zusätzliche Entschädigung von 155 Gul- den, was zu einem total von 700 Gulden führte: AC1.28, (8. Nov. 1688), f. 76r–76v.

464 Abb. 5.33 Plan des erweiterten Gar- tens. Dargestellt sind unter anderem die verlängerten Beetstreifen und die Ge- wächshäuser.

(Kupferstich von Nicolaus Cruquius, 1718.)

(aus: Hermann Boerhaave, Historia plantarum, quae in horto academico Lug- duni-Batavorum, crescunt cum earum characteribus, et medicinalibus virtutibus, Rom (apud Franciscum Gonzagam) 1727, S. 19.)

(Fotografie des Autors.)

wie Bäume wurden entlang der neuen Mauer zur Doelengracht gepflanzt. Vermutlich wurde im Zuge dieser Erweiterung die Form der Strei- fen modifiziert, wie der Plan von 1718 zeigt. Denn noch immer sehen wir vor dem Ambulacrum die vier ursprünglichen Quadrae der Anlage, doch waren sie nicht mehr so eingeteilt, wie sie durch die erste Umgestaltung unter Pauw erreicht wurde. Noch vor der Erweiterung wiesen sie diese alte Einteilung auf, wie aus dem handschriftlichen Standortkatalog von 1681 hervorgeht.740 Im Zuge der Umgestaltung wurden die Felder verein- heitlicht. Die einzelnen Quadrae waren nun nicht mehr viergeteilt, denn die einzelnen Streifen wurde durchgezogen und die Querpfade aufgege- ben. Zudem wurde ihre Anzahl erhöht. Dort, wo früher die Längsachse des Wegekreuzes lag, wurde ein zusätzlicher Streifen eingefügt. Verfügten die Felder zuvor über 3 mal 4 Streifen, waren es nun 7 durchgezogene, respektive anstelle von 4 mal 4 Streifen 9 durchgezogene Streifen. Noch immer aber waren die Streifen der einzelnen Felder zueinan- der gedreht, die grundlegende Systematik blieb somit die gleiche. Durch die Umgestaltung wurde die Unterteilung der vergösserten Grundfläche

740 Hermannus 1681.

465 Abb. 5.34 Vogelschau auf den botani- schen Garten und die um- liegenden Bauten.

(aus: (ohne Autor oder Herausgeber), Les delices de Leide, qui contiennent une description exacte de son antiquité, de ses divers aggrandissemens, de son académie, de ses manufac- tures, de ses curiosités […], Leiden (Pieter van der Aa) 1712., zwischen S. 76 und S. 77.)

(Fotografie des Autors.)

angepasst, in ihrem ursprünglichen Zustand wäre sie wohl zu kleinteilig gewesen. Die Umgestaltung hatte wohl primär zum Ziel, den nun deut- lich vergrösserten Garten wieder als Einheit auszugestalten. Zudem wur- de durch den Wegfall verschiedener, nun nicht mehr benötigter Wege zu- sätzlicher Raum für Beete und Pflanzen gewonnen. Die Zugänglichkeit zu den einzelnen Beeten hingegen verschlechtere sich, mussten doch nun grössere Distanzen auf den schmalen Wegen zurückgelegt werden. Was der Plan ebenfalls zeigt, war die noch immer vorhandene Abgrenzung des nördlichen Grundstücks mittels eines Pflanzenbeets. Der Garten sollte in dieser Form bis 1730 bestehen bleiben, als der damalige Präfekt Herman Boerhaave für eine neuerlich Erweiterung ver- antwortlich zeichnete, die sich über die Doelengracht hinweg erstreckte und im Zuge derer sich die Form der Beete nochmals grundlegend än- derte.

Der Katalog von 1687 Noch vor der Vergrösserung des Gartens von 1686 wurde Hermannus damit beauftragt, einen Katalog des Gartens zu erstellen. Denn das Ku- ratorium erklärte, die Anzahl der Bäume, Pflanzen und Kräuter des Gar- tens wäre seit Erstellung des letzten Katalogs so weit angestiegen, dass ein neuer zwingend benötigt werde. Doch nicht nur für den internen Ge-

466 brauch und für die Schulung der Studenten war er bestimmt. Der Katalog solle der ganzen Welt zeigen, so der explizite Wunsch des Kuratoriums, welch rare Pflanzen in Leiden wuchsen, und solle dadurch den Ruf und das Ansehen der Universität steigern. Er hatte somit auch repräsentative Aufgaben zu erfüllen. In derselben Akte wurde zudem beschlossen, dass ein neues Reglement für den Garten erstellt werden sollte, da er wegen Streitigkeiten zwischen dem Präfekten und seinem Hortulanus in einem sehr schlechten Zustand war.741 Der Katalog wurde erst nach der Erweiterung von 1686 gedruckt und erschien 1687.742 Hermannus erfüllte so den Wunsch des Kuratoriums, dass der Katalog den Ruhm der Universität mehren sollte. Er erwähnte analog zu Pieter Pauw die anderen Einrichtungen der Leidener Univer- sität, also insbesondere die Bibliothek und das anatomische Theater, zu- dem aber auch die mittlerweile hinzugekommenen Theater der Chemie, Physik und Sternkunde.743 Der Katalog solle zudem, so Hermannus, alle Pflanzen auf Papier verzeichnen und dadurch ein bleibendes Gedächt- nis des Gartens schaffen und seine Schätze der ganzen Welt bekannt machen.744 Hermannus spricht im Zuge dessen von einem „papierenen Garten“.745 Bereits der Titel des Katalogs erklärt, dass in ihm alle Pflanzen aufge- führt seien, die zwischen 1681 und 1686 und somit vor der Erweiterung im Garten wuchsen. Es waren damals bereits 3029 Pflanzen vorhanden, ge- genüber dem Katalog von Schuyl aus dem Jahr 1668, der bloss 1827 Pflan- zen auflistet, wurde der Bestand also nahezu verdoppelt.746 Er schloss somit unmittelbar an das 1681 ebenfalls durch Hermannus erstellte hand- schriftliche Inventar an. Der Katalog ist jedoch – im Gegensatz zum hand- schriftlichen Katalog von 1681 – kein Standortkatalog, sondern eine Auf- listung aller Pflanzen in alphabetischer Reihenfolge. Hermannus erklärt in seiner Vorrede an die Studenten, er habe die Pflanzen alphabetisch und ihren Kategorien nach geordnet, sofern ihm das möglich war. Die Namensgebung erfolgte aufgrund der Traktate von Caspar Bauhin und

741 Bronnen IV, (8. Aug. 1685), S. 37–38. 742 Hermannus 1687. 743 „[…] sumptuosam Bibliothecam, amplissima Theatra, Anatomica, Chemica, Phy- sica, Astronomica coeterosque apparatus, [f. 5r] ad usum decorem & commoda Docentium Discentiumque instructa.“, Hermannus 1687, f. 4v–5r. 744 „Nihil porrò amplius superesse recte existimastis, illustißimi Moecenates, quàm ut Floræ vestræ opes in seram posteritatis memoriam & perpetuum vestrum monu- mentum tabulis inscriberentur cartaceis, & per omnes orbis incolas, quibus vel Co- rinthum Vestram propiùs adire non contingit, distraherentur & disseminarentur“, Hermannus 1687, f. 5v–6r. 745 Dies in seiner Anrede an die Studenten, siehe: Hermannus 1687, („Admonitio ad rei herbariæ studiosos“), unpaginiert. 746 Zahlen nach: Veendorp/Baas Becking 1938, S. 85.

467 Robert Morrison, die betreffend der Nomenklatur die massgebende Lite- ratur waren. Zudem brachte er Verweise auf die wichtigsten Pflanzenbü- cher an, damit die Studenten sich über die Arten, Heilkräfte oder über die Geschichte aller verzeichneten Gewächse informieren könnten. Jenen Pflanzen, die bis anhin noch nie beschrieben wurden, gab Hermannus selbst einen passenden Namen und liess Kupferstiche von ihnen anfer- tigen.747 Was im Katalog hingegen fehlt, sind die Signaturen der Pflanzen, die im handschriftlichen Katalog von 1681 noch zusammen mit dem jeweili- gen Standort angegeben sind. Vermutlich besassen der Präfekt und seine Gärtner jedoch Arbeitskataloge, die neben den Pflanzennamen auch die Signaturen beinhalteten, gehörte es doch zu ihren Aufgaben, jährlich ein Inventar zu erstellen. Hermannus erhielt im Februar 1687 für die Herausgabe des Katalogs eine Verehrung von 315 Gulden. Der überaus hohe Betrag war eine Ent- schädigung für die finanziellen Auslagen, die Hermannus für den Druck des Katalogs und insbesondere der sich darin befindlichen Illustrationen leisten musste. Denn tatsächlich verfügt der Katalog über einige Kupfersti- che „vande meest rare en considerable planten, boomen en gewassen“,748 und der Titel des Katalogs erklärt, besonders seltene Pflanzen seien in Bil- dern dargestellt und teilweise das erste Mal überhaupt beschrieben. Eine solche Pflanze, die erstmals in Wort und Bild der Welt präsentiert wurde, ist die Aloe Americana sobolifera (Abb. 5.35). Wohl nicht zufällig ist sie auch auf dem Frontispiz dargestellt, auf welchem Pallas Athene Pflanzen aus der ganzen Welt gebracht wurden. Im Katalog wird sie nicht nur bild- lich, sondern auch schriftlich ausführlich beschrieben. Ein Verweis auf die einschlägige Literatur, wie sie bei anderen, bereits bekannten und be- schriebenen Pflanzen vorkommt, fehlt natürlich. Es wird zudem gesagt, die Pflanze sei grosszügigerweise durch Philippus de Flines an den Lei- dener Garten geschenkt worden. Donatoren wurden, wenn auch nicht in einem Donatorenbuch, so beispielsweise im Katalog von Hermannus löblich erwähnt.

Treib- und Gewächshäuser Damit die exotischen Gewächse gediehen, mussten wiederum Bauten errichtet werden. Auf dem Grundriss des Gartens von 1720 sind deshalb einige Treib- und Gewächshäuser eingezeichnet.749 Schon früh verfügte der Garten über einfache und flache Pflanzenbeete, die mittels Gläser zu- gedeckt waren und den Pflanzen ein gutes Klima gewährleisteten. Bereits

747 Hermannus 1687, („Admonitio ad rei herbariæ studiosos“), unpaginiert. 748 AC1.28, (1. Febr. 1687), 40v. 749 Terwen-Dionisius 1980, S. 49.

468 Abb. 5.35 Kupferstich einer beson- ders seltenen Pflanze, der Aloe Americana sobolifera, die Hermannus ausfürh- lich in seinem Katalog be- schreibt und den Spender nennt.

(Paulus Hermannus, Horti academici Lugduno-Batavi catalogus, exhibens planta- rum omnium nomina, qui- bus ab anno MDCLXXXI ad annum MDCLXXXVI hortus fuit instructus ut & plurima- rum in eodem cultarum & à nemine hucusque editarum descriptiones & icones, Lei- den (apud Cornelium Bou- testeyn) 1687, S. 17)

(Fotographie des Autors.)

1620 werden solche in einer Abrechnung des Glasmachers erwähnt,750 für das Jahr 1646 wird auch einen Standort genannt, nämlich vor einer Galerie.751 Auch später wurden kleinere Treibhäuser zur Aussaht von Samen im Garten erstellt.752 Es handelt sich dabei wohl um die flachen

750 AC1.21, (8. und 9. Febr. 1620), f. 39r. 751 AC1.23, (29. Juni 1646), fol. 319v–320r; AC1.23, (20. August 1646), f. 321v. 752 AC1.26, (9. Febr. 1671), S. 459–460.

469 Treibhäuser, die im Kupferstich von 1718 vor der Orangerie gezeigt werden und als „horti adonidis minores, fenestris vitreis et ligneis defensi“ be- zeichnet werden, eine Bezeichnung, die auf den Vegetationsgott Adonis verweist.753 Doch boten diese niedrigen Treibhäuser nur kleinen Pflan- zen Raum, weswegen unter Hermannus 1686 für grössere Pflanzen ein aufwändigeres Treibhaus erstellt wurde.754 Dieses stand in der nordöst- liche Ecke des Gartens, besass einen viertelkreisförmigen Grundriss und war gleich hoch wie die Orangerie. Später musste, um einen Arbor draconis aufnehmen zu können, eine Bekrönung aufgebaut werden. Terwen-Dio- nisius nennt eine maximale Tiefe von ca. 4.4 Meter bei einer Länge von ca 6.3 Meter.755 Zum Garten hin besass das Treibhaus eine durchgehende Glasfront und war somit nur durch die Orangerie zugänglich. In der Le- gende des Kupferstichs von 1718 wird es als „hortus adonid: alter magno Tepidario hypogaeo instructus“ bezeichnet. Das Treibhaus wurde durch eine unterirdische Ofenanlage beheizt, erinnerte also tatsächlich an eine antik-römische Hypokaustanlage oder Tepidarium. Und auch Herman- nus erwähnt die verschiedenen Treibhäuser in seinem Vorwort des Kata- logs von 1687, in denen er neben den Galerien auch die Wasserkanäle, die gläsernen Hypokaustanlagen oder die unterirdisch beheizten Treibhäu- ser erwähnt, die den empfindlichen Pflanzen ein gleichbleibendes Klima erlaubten:

"Hujus splendorem & admirationem augent augustæ in eo exstruc- tiones, Ambulacra, Aquagia, vitrea Hypocausta, Foculorum subter- raneorum vaporaria, aliique magnifici ad plantarum cultum & or- natum compositi apparatus, quorum interventu cœli nostri rigidior intemperies ad votum nostrum temperatur, & stirpes delicata super- bia contumaces nullas nec hyemis nec æstatis sentiunt vicissitudi- nes, sed in perpetuò virente fertilitate custodiuntur, & ad summam maturitatem perducuntur."756

Wie besprochen, waren solche Anlagen bereits im ausgehenden 16. Jahr- hundert bekannt und kamen zur Anwendung, beispielsweise im Garten von Camerarius in Nürnberg. Im 17. und 18. Jahrhundert erfreuten sie sich – zusammen mit exotischen Gewächsen – zunehmender Beliebtheit. Sie stellten eine Weiterentwicklung der einfachen Orangerien dar und wur- den auch in Publikationen besprochen. So beispielsweise in Pieter de la

753 Siehe dazu die Legende des Bildes; auch unter Hermannus wurden diese Treibhäu- ser repariert, siehe: AC1.28, (8. Aug. 1686), f. 31r–32v. 754 AC1.28, (8. Nov. 1686), f. 35v–36r. 755 Terwen-Dionisius 1980, S. 49. 756 Hermannus 1687, f. 5r–5v.

470 Abb. 5.36 Ein Treibhaus mit einer Hypokaustanlage, wie es in ähnlicher Form auch in Leiden erstellt wurde.

(aus: Pieter de la Court van der Voort, Byzondere aen- merkingen over het aenleg- gen van pragtige en geme- ene landhuizen, lusthoven, plantagien en aenklevende cieraeden […], Leiden (by Abraham Kallewier, Jan en Herman Verbeek, en Pieter vander Eyk) 1737, zwischen S. 238 und 239.)

(Fotografie des Autors.)

Court van der Voorts Anweisungen zur Errichtung von Landhäusern und Gartenanlagen (Abb. 5.36).757 Das Treibhaus in der nordwestlichen Ecke des Leidener Gartens wurde erst 1710 durch Herman Boerhaave errichtet, der es ebenfalls für fremdländische Pflanzen benötigte, die „door syne buyten lansche correspondentie dagelycxs seer toenam”, und kostete 748 Gulden.758 Die Bauten des Leidener Gartens zeigen exemplarische die Entwick- lung solcher Treibhäuser auf. Die anfänglich einfachen und meist tem- porären hölzernen Schuppen wichen schon bald festen Orangerien, die durch gläserne Treib- und Gewächshäuser ersetzt wurden, die mittels ausgeklügelter Heizungsanlagen eine gleichmässige und stete Wärme er- möglichen sollten, was bei einfachen Öfen noch nicht gegeben war. Die Architektur, die der Überwinterung und der Aufzucht von Pflanzen dien- te, erfuhr somit im Zuge der frühen Neuzeit eine ebenso rasche Entwick- lung, wie die Liebhaberei exotischer Pflanzen, denn sie bedingten sich gegenseitig.

757 Court van der Voort 1737, vor allem S. 229–239. 758 AC1.29, (12. Okt. 1709), S. 528.

471 Streitereien im Garten

Als 1686 beschlossen wurde, den Garten zu erweitern, wurde ebenfalls diskutiert, ob nun nicht zusätzliches Personal von Nöten wäre. Dieselbe Frage tauchte bereits 1675 auf, denn schon damals war eine Person kaum in der Lage, alle Pflanzen des Gartens zu pflegen.759 Hermann wollte ei- nen Untergärtner („onderdienaer“) für 200 Gulden im Jahr und freier Wohnung anstellen, was ihm für vier Jahre erlaubt wurde.760 Dazu wurde Willem de Hertog berufen, dessen Bruder dieselbe Aufgabe im Amsterd- amer Medizingarten übernahm.761 Nach Ablauf der ersten Amtsperiode wollte er seine Anstellung für weitere vier Jahre verlängert wissen, was gutgeheissen wurde. Zuvor befragte das Kuratorium jedoch den Hortula- nus, der nun der Obergärter („opperknegt“) war, ob sich sein Schützling bewährte, worauf er antwortete, dass der Untergärtner „getrouwelyck, en neerstelyck in syn dienst hadde gequeten, ende ten vollen bequaem was, om den dienst vande Accademie Thuyn waer te nemen“.762 Er war also sehr mit ihm zufrieden. Nicht so aber der Präfekt mit seinem Hortulanus, was mitverantwortlich war für die Einstellung eines Untergärtners.

Konflikt mit dem Hortulanus Hieronymus Meyer war bereits seit 1670 der Hortulanus des Gartens,763 doch verhielt er sich nicht immer tugendhaft. Nach dem Tod seines frü- heren Vorgesetzten Arnold Seyen im Jahre 1678 wurde dem Hortulanus aufgetragen, in Zukunft keine Pflanzen mehr aus dem Garten zu veräu- ssern.764 Doch schien Meyer sich nicht an die Anordnung des Kuratoriums zu halten, denn ein halbes Jahr später wurde er erneut gerügt, Pflanzen des Gartens verkauft zu haben. Die Stelle des Präfekten war damals noch immer nicht besetzt, der Hortulanus hatte somit die unkontrollierte Herr- schaft über die Pflanzen. Damit er in Zukunft keine weiteren Gewächse verkaufte, musste er eine vollständige Liste aller Pflanzen des Gartens an- fertigen und diese den Kuratoren überreichen, auf dass sie den Bestand kontrollieren konnten. Zudem musste er einen Eid leisten, in Zukunft kei- ne Pflanzen mehr zu veräussern.765 Doch scheint er dies auch später wei- terhin getan zu haben, denn 1682 besuchte Ellis Veryard den Garten und machte in seiner Publikation der Welt bekannt, dass

759 Das Kuratorium sprach dafür 100 Gulden zu, doch ist es unklar, ob eine solche Per- son jeweils eingestellt wurde, siehe: AC1.27, (30. Mai 1675), f. 29v–30r. 760 AC1.28, (8. Mai 1686), f. 23v. 761 Wijnands/Zevenhuizen/Heniger 1994, S. 64. 762 AC1.28, (28. Januar 1691), f. 147v und 148r. 763 AC1.26, (15. April 1670), S. 394. 764 AC1.27, (11. Nov. 1678), f. 107r. 765 AC1.27, (11. Mai 1679), f. 121v–122r.

472 „the Gardener, for a small Recompence of four or five Crowns, is al- ways ready to instruct young Students in the Knowledge of Vegita- bles, permitting them to gather what Herbs they please to make an Herbarius vivus.“ 766

Paulus Hermannus hatte ebenfalls bereits „seit einigen Jahren hefti- ge Animositäten“ mit seinem Hortulanus.767 1698 hatte dieser ohne sein Wissen Bäume des botanischen Gartens gefällt.768 Die Pflanzen des bota- nischen Gartens fielen aber auch den Streitereien zwischen den beiden zum Opfer. Sie wurden vernachlässigt, da sich weder der Präfekt noch der Gärtner um sie kümmerte. Nur mit hohen Kosten und Aufwand konn- te der Garten, der deswegen verfallen war, wieder für den Unterricht in Botanik hergerichtet werden. Der meiste Schaden geschah dabei an den heimischen Pflanzen. Hermann wünschte sich deshalb weiterhin einen Unterknecht des Gartens, der direkt ihm unterstellt sein sollte, da er mit Meyer nicht mehr auskam. Das Kuratorium verlangte zudem ein Inven- tar aller verlorenen Gewächse, um diese zu ersetzen.769 Willem de Hertog wurde entsprechend für vier weitere Jahre beschäftigt.770 Dass dem Hor- tulanus Meyer hingegen eine gewünschte Gehaltserhöhung aufgrund der Vergrösserung des Gartens ausgeschlagen wurde, mag nicht erstaunen.771 Hieronymus Meyer war jedoch nicht der erste Hortulanus, der Pflan- zen aus dem Garten zwecks eigenem Profit veräusserte, bereits 1639 muss- te Henrick Christoffelsz. deswegen gerügt werden.772 Die Versuchung, Pflanzen zur Aufbesserung des eigenen Lohns zu verkaufen, entstand wohl auch durch die nur ungenügende Bezahlung, die die Hortulani er- hielten. Stoffel van Carthagen, ein Vorgänger von Hieronymus Meyer, bat das Kuratorium wiederholt und fortgesetzt um eine Lohnerhöhung, die ihm aber während vieler Jahre nicht zugesagt wurde.773 Ob er ebenfalls Pflanzen verkaufte, ist indes nicht überliefert.

Reglemente des botanischen Gartens Um weitere Streitereien und daraus resultierende Verluste von Pflanzen zu verhindern, wurde Reglemente ausgearbeitet.774 Sie besagen, dass

766 Veryard 1701, S. 8. 767 AC1.28, (30. April 1691), f. 158r–158v, Zitat f. 158r. 768 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 98. 769 AC1.28, (30. April 1691), f. 158r–158v. 770 AC1.28, (28. Januar 1691), f. 147v und 148r. 771 AC1.28, (30. April 1691), f. 158r. 772 AC1.23, (8. Febr. 1639), f. 24v–25r. 773 AC1.25, (17. Aug. 1654), f. 36r; AC1.25, (8. Aug. 1656), f. 87r; AC1.25, (7. Mai 1657), f. 113v; AC1.25, (8. Aug. 1657), f. 120r; 774 Bronnen IV, (9. Febr. 1686), S. 15*–16*; zudem: Bronnen IV, (18. Juni 1692), S. 105; das Reglement in: Bronnen IV, (18. Juni 1692), S. 28*–32*.

473 nur der Präfekt des Gartens die Befehlsgewalt über den Garten besässe. Durch geschickte Korrespondenz solle er an immer neue Pflanzen aus dem In- und Ausland gelangen. Einmal im Jahr solle er – analog zum Bi- bliothekar – eine Liste der Neuerwerbungen und den dazu notwendigen Ausgaben dem Kuratorium aushändigen. Auch sei er mitverantwortlich, dass die Pflanzen kultiviert, gepflegt und vermehrt werden. In nur vier -Ar tikeln konnten die Aufgaben des Präfekten abgehandelt werden. Es folgen neunzehn Paragraphen, die der Hortulanus und der Untergärtner zu be- achten hatten. Der erste und wohl wichtigste Artikel besagte, dass die Pflanzen zwar durch den Präfekten organisiert und geordnet wurden, die beiden Gärt- ner aber für ihre Pflege verantwortlich seien. Inländische Pflanzen sollten auch sie besorgen und nach den Wünschen des Präfekten im Garten plat- zieren. Zudem sollten sie ein Register aller eingegangenen Pflanzen er- stellen und jene, die kränkelten, dem Professor zeigen. Alle Samen, die sie auffinden konnten, mussten eingesammelt und beschriftet werden und in einem speziellen Schrank, der im Ambulacrum stand, verwahrt wer- den. Wasserpflanzen und fehlende heimische Pflanzen sollten durch den Untergärtner auf Wunsch des Professors, der sie in seinen Vorlesungen benötigte, organisiert werden. Denn Wasserpflanzen wuchsen nicht im Leidener Garten. Sie bedurften eines speziellen Pflanzenbeets, das aber im Leidener Garten – im Gegensatz zu demjenigen in Montpellier – noch immer fehlte. Ein Artikel regelte den Verkauf von Pflanzen, der strikt verboten war. Nicht einmal Samen oder Stecklinge durften veräussert oder verschenkt werden. Auch Studenten seien zu überwachen, damit diese nichts mit- nehmen oder in Unordnung bringen würden, wie ein weiterer Paragraph besagte. Weitere Bestimmungen folgen. Der Hortulanus und der Unter- gärtner hatten beide einen Eid auf dieses Gesetz zu schwören, was aber nur bedingt von Nutzen war. Denn selbst nach der Ausarbeitung des neuen Reglements scheint der Streit zwischen dem Präfekten und dem Hortulanus angedauert zu haben. Da der Professor aufgrund der Streitereien freiwillig keinen Fuss mehr in den Garten setzte und nur noch zu seinen Vorlesungen im Garten erschien, war es für das Kuratorium höchste Zeit, weitere Bestimmungen auszuarbeiten. Sie mussten zwischen den beiden schlichten, nicht zu- letzt, um die Pflege der Pflanzen zu garantieren und die Pflichten der -Per sonen zu klären.775 Hieronymus Meyer blieb jedoch in seinem Amt und überlebte Paulus Hermannus, der 1695 verstarb. Als Hieronymus Meier im Jahre 1699 bereits sehr alt und schwach war, wurde der Unterknecht

775 AC1.28, (23. Mai 1693), f. 220v–221r.

474 Willem de Hertog zu seinem Nachfolger bestimmt. Meier war neben sei- nem Amt im Garten auch Kustode der Sternwarte und des physikalischen Theaters.776 Waren zu Beginn die Diener noch nach Fachgebiet eingesetzt, bei Pauw beispielsweise Aert Pietersz., der ihm sowohl im Garten wie auch im anatomischen Theater half, war nun die Nähe der verschiedenen Schauplätzen das ausschlaggebende Kriterium. Analog dazu war der Ku- stode der Anatomie zeitweise auch derjenige der Bibliothek. Hieronymus Meier wohnte nahe beim Garten, damit er ihn ständig pflegen konnte. Als Meier seine Dienste einstellte, musste er auch das Haus räumen; es stand nun seinem Nachfolger zu.777 Es waren also manchmal auch ganz einfache zwischenmenschliche Beziehungen, die über den Zustand des Gartens, der sich darin befindli- chen Pflanzen und über den Unterricht entschieden.

Das Museum Indicum

Paulus Hermannus überführte eine grössere Sammlung an Naturalien aus Ceylon nach Leiden. Vielleicht war es gar die Absicht des Kuratori- ums, neben einem Spezialisten für indische Gewächse und Pflanzen auch eine passende Sammlung in Leiden zu wissen. Ein Besucher des Gartens erklärte 1688:

„Le jardin des simples n’est pas loin de là. On peut voir encore une grande quantité de choses rares dans la galerie de ce Jardin, & dans le Cabinet, qu’on appelle le Cabinet des Indes, où cette galerie con- duit.“778

Die Sammlung indischer Exotica schloss somit unmittelbar an das Am- bulacrum an, war indes sogar im selben Bau versammelt. Die Galerie be- stand spätestens damals nicht aus einem einzigen und durchgehenden Raum, sondern aus mehreren. Auf einem Gartenplan des Jahres 1740 wur- den diese Unterteilungen des Ambulacrum eingezeichnet, auch wenn sich die Funktionen der einzelnen Abschnitte geändert hatten. Der öst- lichste Teil des Ambulacrum, wo auch die Verbindung zum Wohnhaus des Präfekten lag, wurde diesem zugeschlagen. Vermutlich wurde auch das Museum Indicum dort untergebracht. Die Nähe zum Wohnhaus des

776 AC1.29, (4. Mai 1699), S. 156–159; AC1.29, (9. Mai 1700), S. 217; Jean Buvoierie wurde zum Untergärtner berufen: AC1.29, (2. Aug. 1700), S. 222; zudem: AC1.29, (9. Febr. 1702), S. 272. 777 AC1.29, (8. Aug. 1699), S. 168 778 Misson 1698, S. 17.

475 Präfekten resultierte aus dem Grund, dass Hermannus – ähnlich wie bei- spielsweise Scaliger oder Vossius – den Zusammenhang seiner Samm- lung nicht aufgeben wollte und sie nach wie vor sein persönliches Eigen- tum war, was nach seinem Ableben zu Problemen führte. Zwei überlieferte Kataloge zeigen den Inhalt dieser Sammlung auf. Ihre Titel weisen bereits darauf hin, dass verschiedene der aufgelisteten Exponate in „natürlicher Erscheinung“ in einer Flüssigkeit konserviert wurden. Diese Exponate hatten somit einen entscheidenden Vorteil ge- genüber getrockneten Pflanzen oder ausgestopften Tieren: Sie konser- vierten die Eigenschaften der Exponate besser, was für wissenschaftliche Erkenntnisse natürlich wichtig war, fussten diese doch auf einer gründli- chen Beschreibung der Exponate. Der eine Katalog listet im Ganzen 271 Einträge auf, der zweite sogar 322 Exponate.779 Es ist deshalb anzunehmen, dass die Kataloge nacheinander gedruckt wurden und die Sammlung zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfassen. Die aufgeführten Exponate ver- fügen auch über andere Nummern und werden in anderer Reihenfolge genannt. Inwiefern es sich um dieselben Exponate handelt, wurde im Zuge der vorliegenden Arbeit nicht untersucht. Den lateinischen Expona- ten folgt eine kurze Beschreibung und oftmals die Nennung ihrer verna- kulären Namen. Diese Angaben wurden explizit auch durch Clusius und Pauw in ihrem Schreiben an die VOC gewünscht.780 In den Katalogen indexiert sind Tiere aller Lebensbereiche – bei- spielsweise verschiedene Vögel und Flugechsen, ein „fauler Affe aus Ceylon“, Krokodile und Lurche oder eine Vielzahl an Fischen und andere Bewohner der Meere – aber auch Teile exotischer Pflanzen wie Blätter, Wurzeln oder Früchte. Wiederum führt der Katalog auch nur schwer zu klassifizierende Naturalien auf, beispielsweise eine Seegurke, die aus- führlich beschrieben und als Zoophytum bezeichnet wird, von denen geglaubt wurde, dass sie sowohl Pflanze als auch Tier seien.781 Sie stand somit als Bindeglied zwischen den maritimen Pflanzen und Tieren. Ne- ben diesen Naturalien beinhaltete die Sammlung auch das Skelett sowie den Embryo zweier Kinder, die genauso gut in die Sammlung des anato-

779 Der kürzere Katalog: (ohne Autor), MUSÆI INDICI INDEX EXHIBENS Varia exotica animalia vegetabilia Nativâ facie, liquori Balsamico innatantia. CONSPICIENDA In HORTI ACADEMICI Ambulacro LUGDUNO-BATAVORUM, Leiden (ohne Datum); der längere Katalog: (ohne Autor), INDEX MUSÆI INDICI, Variis animalibus, vege- tabilibus, Aliisque, nativa facie liquori balsamico innatantibus, instructi. In ambu- lacro HORTI ACADEMICI LUDGUNO-BATAVI, Leiden (ohne Datum). 780 Hunger 1927–1943, Band 1, S. 267. 781 „Diesen Titel haben die alten Botanici allerhand Gewächsen beygeleget, von denen sie geglaubet, daß sie sowol von eines Thieres, als von eines Gewächses Art etwas an sich hätten, z.E. den Schwämmen, der Seefeder; weil sie sich in dem Wasser, in welchem sie zu wachsen pflegen, bewegen, als ob sie Thiere wären“, siehe: Lemery 1721, Sp. 1224.

476 mischen Theaters gepasst hätten. Sie verblieben wohl in diesem Museum, um den Zusammenhang der Sammlung, die ja darüber hinaus im Besitz Hermannus war, nicht zu gefährden. Im Index Musæi Indici genannten längeren Katalog hatte der Verfas- ser, vermutlich Hermannus selbst, ähnliche Probleme zu meistern, wie Thomas James in derBodleiana . Denn verschiedene der 322 aufgeführ- ten Objekte waren mehrfach vorhanden, standen in der Liste aufgrund der vergebenen Signaturen aber nicht nebeneinander. Der Verfasser fand eine ähnliche Lösung, wie James: Er fügte ebenfalls Querverweise ein. Beispielsweise befindet bei Exponat Nummer 255, das eine Flugechse (Draco volans) war, einen Verweis auf den Eintrag Nummer 249, wo eben- falls eine solche Echse aufgeführt wird – eine weitere Flugechse auf Seite 3 wurde dabei wohl übersehen.782

Die Nachfolge Hermanns Paulus Hermannus starb 1595. Zu seinem Nachfolger wurde Petrus Hot- ton, der bereits bis zur Ankunft Hermannus aus Indien den Leidener Garten geleitet hatte und später die Präfektur des botanischen Gartens in Amsterdam innehielt. Er erhielt einen Lohn von 1000 Gulden im Jahr.783 Er übersiedelte im November 1695 mit seinem Hausstand nach Leiden und brachte auch seine Pflanzen mit.784 In Leiden erkannte er schon bald, dass der Schrank, der im Ambulacrum stand und in dem die Materia medi- ca gelagert wurden, an einem sehr ungünstigen und feuchten Ort stand. Die gesammelten Heilmittel waren deshalb in einem sehr schlechten Zustand. Ersatz sollte just die Privatsammlung an Simplicia bringen, die Hermanus’ nachgelassen hatte und durch seine Witwe an Govart Bidloo (1649–1713),785 Professor der Medizin in Leiden, verkauft worden war. Bid- loo schien ein freundschaftliches Verhältnis mit Hermannus unterhalten zu haben, denn er hielt eine Totenrede auf ihn.786 Zur Kontrolle des Zu- stands dieser Sammlung sollte ein Arzt und der Stadtapotheker angewor- ben werden.787 Die Prüfung brachte schlechte Nachrichten. Beide Samm- lungen befanden sich in desolatem Zustand, die pflanzlichen Produkte waren in beiden vergangen, nur noch die Mineralien, Gesteine und ande-

782 (ohne Autor), INDEX MUSÆI INDICI, Variis animalibus, vegetabilibus, Aliisque, na- tiva facie liquori balsamico innatantibus, instructi. In ambulacro HORTI ACADEMI- CI LUDGUNO-BATAVI, Leiden (ohne Datum), S. 13 und S. 3. 783 AC1.28, (9. Febr. 1695), 251r–252r; AC1.28, (28. Febr. 1695), 256v–257v; AC1.28, (16. März 1695), f. 259v–260r; zum botanischen Garten in Amsterdam, siehe: Wijnands/ Zevenhuizen/Heniger 1994. 784 AC1.28, (8. Nov. 1695), f. 269r. 785 Zu seiner Biographie, siehe: NNBW, Deel 8, Sp. 104–108. 786 AC1.28, (21. Febr. 1695), f. 255v–256r. 787 AC1.28, (14. Dez. 1695), f. 271r–271v.

477 re feste Stoffe blieben übrig. Durch die Kombination der beiden Kabinet- te konnte dennoch eine gute Sammlung erstellt werden,788 weswegen die Sammlung, die in Bidloos Besitz war, für 250 Gulden erworben wurde.789 Zudem klagte Hotton über sein Wohnhaus, denn es war so feucht, dass wertvolles Saatgut ausländischer Pflanzen schlichtweg verfaulte.790 Zur Sammlung an Materia medica, die der Universität gehörte, kam noch jene hinzu, die Hermannus mit nach Leiden gebracht hatte und nun Eigentum seiner Witwe war, einer gewissen Anna Geertruyt Stomphius, die Hermannus in Indien kennengelernt hatte. Es handelte sich um das Museum Indicum. Bereits im Beschluss, Hotton anzustellen, wurde auch der Witwe und den vier Kindern eine Vergütung in Aussicht gestellt.791 Noch am selben Tag wurde die Absicht geäussert, mit der Witwe den Verkauf „van het Cabinet met rariteyten tegens haare overledene man ut Indien heeft overgebragt“ zu besprechen.792 Zunächst wurde ihr eine Rente über 300 Gulden pro Jahr versprochen, wie sie auch die hinterlas- sene Gattin von Arnold Seyen erhalten hatte, die ihrerseits mit dem Abzug einiger Pflanzen aus dem Garten drohte.793 Im August 1699 wurde erneut die hinterlassene Sammlung Hermannus’ diskutiert und besprochen, ob diese Sammlung „van planten, gedroogen animalia, en anders“ durch die Universität übernommen werden sollte, denn die Witwe habe sie bislang – im Gegensatz zur privaten Bibliothek, einem Herbarium und der durch Bidloo erworbenen Medizinsammlung – nicht öffentlich verkauft, was herbe finanzielle Einbussen für sie bedeutete. Ihr wurden nämlich bereits hohe Summen dafür geboten.794 Die Kuratoren beschlossen daraufhin, die Sammlung zu überprüfen.795 Nach der Besichtigung wurde diskutiert, ob man der Witwe nicht eine jährlich Summe Geld zusprechen könne, da die Finanzen der Universität einen Kauf der Sammlung nicht zuliessen.796 Die Sammung muss gegen 10’000 Gulden wert gewesen sein. Nachdem scheinbar nichts definitives entschieden wurde, brachte Anna Geertruyt Stomphius erneut den Verkauf der Sammlung auf den Tisch und erklär- te, sie und ihre Kinder bräuchten dringend Geld.797 Das Kuratorium be- schloss daraufhin, der Witwe eine jährliche Vergütung von 200 Gulden zukommen zu lassen, mit der Auflage, dass die Sammlung nicht aus Lei-

788 Bronnen IV, (9. Jan. 1696), S. 135. 789 AC1.29, (1. Febr. 1696), S. 3. 790 AC1.29, (8. Mai 1697), S. 56–57; AC1.29, (27. April 1699), S. 155. 791 AC1.28, (21. Febr. 1695), f. 256r. 792 AC1.28, (21. Febr. 1695), f. 256v. 793 AC1.28, (9. Mai 1695), f. 263v–264r. 794 AC1.29, (8. Aug. 1699), S. 166–168. 795 AC1.29, (8. Nov. 1699), S. 179. 796 AC1.29, (16. Nov. 1699), S. 182; AC1.29, (9. Aug. 1700), S. 225. 797 AC1.29, (8. Nov. 1700), S. 229–230.

478 den weggebracht werden dürfe.798 Das Raritätenkabinett blieb somit im Privathaus von Anna Geertruyt Stomphius, wurde aber quasi zu einer öffentlichen Sammlung erklärt, die besucht werden konnte, den Studenten dienlich war und den Ruhm der Stadt Leiden mehrte. Für die Witwe schein dies jedoch nur kurzfristig eine Lösung zu sein, denn 1703 bot sie die Sammlung erneut zum Kauf an, was das Kuratorium aber ablehnte.799

Besichtigung der Sammlung Zacharias Conrad von Uffenbach besichtigte die Sammlung am 17. Januar 1711.800 Er erklärte in seinem Reisebericht, die verarmte und alkoholkranke Witwe besässe nur noch wenige Kuriositäten und dass die besten Objek- te die Leidener Universität erhalten habe, wofür die Hinterbliebene 300 Gulden im Jahr erhielte. Die Exponate, die im Ambulacrum blieben und aus der Hermannschen Sammlung stammten, wurden vermutlich in der Sektion Animantia varia utriusque Indiæ nativa facie, liquori Balsamico innatantia in einem der Raritätenkataloge verzeichnet, denn viele der dort erwähnten Naturalien stammten aus Ceylon. Im Ganzen werden in dieser Sektion 120 Objekte aufgelistet, was ungefähr der Hälfte bis einem Drittel der Exponate der beiden anderen Kataloge des Museum Indicum entspricht.801 Die anderen Stücke verwahrte die Witwe indes in ihrem neuen Wohnhaus. Dort wurden sie in sieben mit gläsernen Türen versehe- nen Schränken verwahrt, zudem in speziell geblasenen Gläsern sowie in einem Schrank, der mit Mineralien und einigen Muscheln gefüllt war. Stomphius händigte Uffenbach einen Katalog der Sammlung aus, worauf der Besucher in seinem Bericht einige Exponate erwähnt, die nummeriert waren und somit mit dem Katalog in Beziehung gebracht werden konnten.802 Die Existenz eines Katalogs zeigt, dass die Sammlung tatsächlich durch Besucher besichtigt wurde. Uffenbachs Bericht dokumentiert zudem, wie die Sammlung studiert wurde. So nannte er zuerst die Inventarnummer und den Eintrag aus dem Katalog und schloss eine Beschreibung des jeweiligen Exponats an, die auf eigenen Augenschein beruhte, zum Beispiel für folgendes Stück:

798 AC1.29, (1. Febr. 1701), S. 233–234. 799 AC1.28, (8. Aug. 1703), S. 327. 800 Folgendes nach seinem Bericht über den Besuch in: Uffenbach 1754, S. 409–414. 801 (ohne Autor), RES CURIOSÆ ET EXOTICÆ, In Ambulacro Horti Academici Lugdu- no-Batavi conspicuæ, (ohne Ort und Datum). 802 Die durch Uffenbach erwähnten Einträge des Katalogs wurden mit den überliefer- ten Katalogen des Ambulacrum der Leidener Bibliothek abgeglichen, die Einträge der erwähnten Nummern verglichen, ohne das eine Entsprechung ausfindig ge- macht werden konnte. Es ist somit unklar, um welchen Katalog es sich handelte.

479 „N. 168. Scorpius Indicus niger maximus, Cauda gemina ex Macas- saria. Dieser war gar groß, und bey fünf Zoll lang, ganz schwarz. Die Textur der Schaale war wie an unsern sogenannten Arten von Scara- bæis, die man Wein-Schröter nennet.“803

Seine Methode zeigt die empirische Erforschung der Natur in nuce. Einer wissenschaftlichen Benennung des Tieres, die er aus dem Katalog über- nahm, folgt eine auf empirischer Untersuchung fussende Beschreibung des Tieres unter Nennung seiner wichtigsten Merkmale, die wiederum mit einer anderen Spezies verglichen wird. Denn Sammeln, Benennen, Untersuchen, Beschreiben und in den Zusammenhang der Natur stellen waren die Hauptaufgaben frühneuzeitlicher Naturforscher. Die Exponate waren jedoch in schlechtem Zustand, denn Uffenbach erklärte:

„Es ist aber nicht genug zu beklagen, da die liederliche Frau schier alles verderben läßt, indeme in den meisten Gläsern der Spiritus vini verflogen, weil sie nicht aufgefüllet worden. Sie pflegt den Brandten- wein lieber selbst zu trinken, als diese Gläser damit aufzufüllen.“804

Doch noch immer wolle sie, so Uffenbach, für die Sammlung zehntau- send Gulden erhalten und schrieb sie mehrmals aus. Sie solle sich aber mit dem Verkauf beeilen, ansonsten gehe es der Raritätensammlung wie dem Herbarium, dass eines der vollständigsten der Welt gewesen wäre und gute 3000 Gulden kostete, durch mangelnde Pflege zum Schluss für nur noch 300 Gulden verramscht wurde. Der Wunsch, eine Sammlung auch nach dem Tod ihres Erschaffers als Einheit zu verwahren, war nicht bloss bei Büchersammlungen vorhan- den, sondern auch bei Raritätenkabinetten. Die Überführung in einen in- stitutionellen Rahmen und ihre Verwahrung als geschlossene Einheit in einem definierten Raum gewährleistete hier ebenfalls, dass die Exponate zusammenblieben und gepflegt wurden. Verblieb die Sammlung jedoch als Nachlass in privaten Händen von Menschen, die nur wenig mit ihr anfangen konnten, stand sie in Gefahr, entweder in alle Weltteile verkauft zu werden, oder durch mangelndes Interesse und Unterhalt langsam zu verrotten.805

803 Uffenbach 1754, S. 414. 804 Uffenbach 1754, S. 417–418. 805 Teile der Sammlung von Hermann befinden sich heute im Natural History Museum in London. Siehe die dortige Website für weiterführende Literatur.

480 Die Entwicklung im 18. Jahrhundert

Petrus Hotton starb 1709. Zu seinem Nachfolger wurde nach kurzer Be- denkzeit Hermannus Boerhaave berufen, der für dieses Amt 1000 Gulden jährlich sowie 300 Gulden für das Führen seiner Korrespondenz erhielt.806 Boerhaave unterrichtete aber nicht bloss Pflanzenkunde, sondern ab 1718 auch Chemie. Er erklärte in hohem Alter, dass die Pflanzenkunde eine Beschäftigung für den Sommer sei, die Chemie hingegen eine für den Winter und deutete somit die alte jahreszeitliche Einteilung des Medizin- unterrichts in Anatomie und Pflanzenkunde um.807 Die Hinterbliebenen Hottons übergaben ihm einen vermutlich handschriftlichen Katalog aller Pflanzen des Gartens.808 Dieser diente wohl als Grundlage für den Kata- log, den Boerhaave ein Jahr später herausgab und in dem ungefähr 3700 Pflanzen verzeichnet sind.809 Zudem liess er kurz nach seiner Berufung ein zweites Treibhaus errichten.810 Da der Garten bereits wieder nahezu voll besetzt war, beschloss Boerhaave, all jene Bäume, die das holländische Klima vertrugen, an die Maille-Bahn, die bereits 1633 erstellt wurde,811 zu versetzen.812 Die ande- ren Bäume blieben wohl im Garten und überwinterten in der Orangerie. Doch schon bald sah sich Boerhaave gezwungen, weitere Pflanzen au- sserhalb des botanischen Gartens der Universität zu verwahren.813 Der Katalog von 1720 verzeichnete bereits über 5800 Gewächse und somit über 2000 mehr, als noch zu Hottons Zeit.814 1730 wurde eine weitere Vergrösserung des Gartens ins Auge gefasst. Es wurde nicht nur dringend neuer Raum für Pflanzen benötigt, sondern auch die Konkurrenz anderer Gärten gefürchtet, vor allem jene in Utrecht und Amsterdam. Es wurde beschlossen, den Garten in seiner Breite über die Doelengracht hinweg zu erweitern. Dazu mussten ungefähr einhun- dert Häuser aufgekauft – oder enteignet – und abgebrochen werden, was einige Jahre dauerte. Hermann Boerhaave konnte nicht mehr im vergrös- serten Garten unterrichten, da er bereits 1730 aufgrund einer Erkrankung einen Nachfolger suchte. Seinen Lehrstuhl, der noch immer als der prakti- schen Medizin zugehörig verstanden wurde, erhielt sein Schüler Adriaan

806 AC1.29, (1. Febr. 1709), S. 493; AC1.29, (8. Febr. 1709), S. 494; AC1.29, (18. Febr. 1709), S. 497; sein Inauguralrede: AC1.29, (20. März 1709), S. 510. 807 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 113; er erhielt für den Unterricht in Chemie 200 Gulden im Jahr, siehe: Bronnen IV, (24. Juni 1718), S. 302. 808 AC1.29, (8. Mai 1709), S. 515. 809 Boerhaave 1710; Zahlen aus: Veendorp/Baas Becking 1938, S. 100. 810 AC1.29, (12. Okt. 1709), fol. 528. 811 Bronnen III, (8. Aug. 1633), S. 184. 812 AC1.29, (24. März 1710), S. 538–539; AC1.29, (15. April 1710), S. 547. 813 Bronnen V, (26. Sept. 1725), S. 18–19. 814 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 102.

481 van Royen (1704–1769).815 Erst 1736 konnte die erweiterte Fläche ummau- ert werden. Im Zuge dieser Erweiterung wurde die gesamte Gartenfläche neu organisiert, wobei unklar ist, wer die Pläne dafür zeichnete.816 Der Garten erstreckte sich nun weit über die Doelengracht hinweg, wie ein Kupferstich des Katalogs von Van Royen zeigt (Abb. 5.37).817 In die Gracht selber wurde ein halbkreisförmiges Theater eingebaut, das mit Bee- ten umstellt wurde. Die Gracht wurde genutzt, um einen Hortus aquati- cus einzurichten. Der botanische Garten in Leiden verfügte nun erstmals über lebendige Wasserpflanzen. Die Beete wurden neu eingeteilt. Es war nicht mehr das Ziel, einen quadratischen, umfriedeten und viergeteilten Garten zu erstellen, der in der Tradition des Mittelalters stand. Vielmehr berücksichtigte man die neueste Mode der Gartenarchitektur. Der zeitge- mässe Wunsch nach Grösse und Weitläufigkeit, wie sie beispielsweise in den Anlagen des französischen Barocks von André Le Nôtre (1613–1700) definiert wurde, kam auch im neuenHortus botanicus zum Einsatz. Eine zentrale Hauptachse sowie zwei Seitenachsen erschlossen den Garten in die Tiefe. Die Mittelachse musste aufgrund der neuen Einteilung der Beete verschoben werden. Eine erste Querachse lag zwischen den Ein- gängen des Ambulacrum sowie der Orangerie und entsprach somit der Mittelachse des ursprünglichen Gartens. Die einfachen Beetstreifen des ursprünglichen Teils des Gartens lagen alle parallel zueinander. Die neu- en Felder im Westen des Gartens wurden unterschiedlicher gestaltet und wiesen zumindest teilweise quadratische und viergeteilte Parterres auf, auch wenn diese nun in einen grösseren Zusammenhang eingebunden waren. Wie die Legende des Gartenplans aufzeigt, wurden den verschie- denen Parterres und Streifen spezifische Pflanzensorten zugewiesen. Ganz im Westen des Gartens wurden Bäume gepflanzt sowie, auf der Mit- telachse des Gartens, ein Laboratorium botanicum eingerichtet. Der Grundriss des Ambulacrum zeigt auf, dass es in mehrere Ab- schnitte unterteilt war. Nur noch der mittlere Teil verwahrte Raritäten. Die beiden äusseren Enden wurden dem Wohnhaus des Präfekten, respektive demjenigen des Hortulanus zugeschlagen. Die Orangerie im Norden wur- de weiterhin als solche genutzt. Von Beginn an wurde eine neue Orange- rie geplant, die wie die alte mit südlicher Ausrichtung an der Nordseite des Gartens erstellt werden sollte und in den Plan gezeichnet wurde. Der Architekt der geplanten Orangerie war Jacob van Werven (1696–1788). Sie wurde jedoch nicht nach dessen Entwurf ausgeführt, sondern nach dem- jenigen von Daniel Marot (1660–1752). Grund für die Planänderung war wohl das Legat von G. van Papenbroeck, der seine Skulpturensammlung

815 Veendorp/Baas Becking 1938, S. 113–114. 816 Terwen-Dionisius, S. 49–52; Veendorp/Baas Becking 1938, S. 97–114. 817 Royen 1740, Kupferstich ohne Paginierung.

482 Abb. 5.37 Der Garten nach der Erwei- terung von 1737.

(Kupferstich von J. v.d. Spyk nach einer Zeichnung von Jacobus van der Werven.)

(in: Adriaan van Royen, Florae Leydensis prodro- mus exhibens plantas quae in Horto Academio Lugdu- no-Batavo aluntur, Leiden (Apud Samuelem Lucht- mans) 1740, unpaginierte Seite.)

(Download: http:// www.botanicus.org/ item/31753000810769)

der Leidener Universität vermachte, aber einen entsprechend schönen Ort für ihre Aufstellung forderte.818 Reichte 1594 noch ein Garten mit einer Fläche von ca. 1400 Quad-

818 Terwen-Dionisius, S. 52–57.

483 ratmeter aus, um die Leidener Universität an die Spitze der empirischen Pflanzenforschung zu stellen, so war 150 Jahre später ein ungefähr 8400 Quadratmeter notwendig, um mit der Konkurrenz mithalten zu können. Neben den Gartenbeeten konnten weitere Bauten gefunden werden, die der Forschung oder der Aufzucht von Pflanzen dienten, wie beispielswei- se die Kuriositätensammlung im Ambulacrum, die Wohnhäuser des Prä- fekten und die zahlreichen Orangerien und Treibhäuser. Neben diesen Bauten erstellte die Leidener Universität jedoch zusätzliche Forschungs- einrichtungen, die sich ebenfalls dem Buch der Natur widmeten. Eine Sternwarte wurde auf das Dach des Akademiegebäudes gesetzt und ein chemisches Laboratorium sowie ein physikalisches Theater fanden in den umliegenden Häusern des Gartens ihren Platz. Sie sollen in den fol- genden Kapiteln kurz besprochen werden.

484 Teil 6 Sterne sammeln: Das astronomische Observatorium

Wurde im botanischen Garten und im angrenzenden Ambulacrum die ir- dischen Objekte der Schöpfung – Mineralien und Gesteine, Pflanzen und Tiere – gesammelt, so stellte der Himmel ein anderes Kapitel im Buch der Natur das, das ebenfalls gelesen werden musste. Doch besass dieses noch viele unbekannte Seiten, die es analog zur Pflanzen- und Tierwelt zu ent- decken galt. Unbekannte Himmelsregionen konnten zudem gewisserma- ssen weitergeschrieben werden, was mittels Einschreiben von Tierkreis- zeichen auch tatsächlich geschah, wobei die gleichen Objekte ihren Platz im Himmel fanden, die auch in Naturaliensammlungen verwahrt wur- den. Die Leidener Universität errichtete zu diesem Zweck die erste uni- versitäre Sternwarte Europas und sicherte sich mittels dieses Baus wie- derum eine führende Stelle auf dem internationalen Parkett der Bildung.

Der Himmel als Text Die Trennung von Astrologie und Astronomie geschah erst gegen Ende der frühen Neuzeit. Zuvor war es von nahezu allen Gelehrten eine akzep- tierte Tatsache, dass die Himmelskörper Einfluss auf die Erde und ihre Bewohner ausübten. Die Sterne lieferten ein lesbares System aus Zeichen, welche auf kommende Geschehnisse verweisen konnte. Doch stand die Vorhersage aufgrund von Sternen zunehmend unter Kritik. Auch im Him- mel vollzog sich langsam die „Entzauberung der Welt.“ Astronomie wurde als eigenständiges Fachgebiet etabliert und im Zuge der besseren Erklär- barkeit von Himmelsphänomenen wurde die Astrologie immer mehr in den Bereich des Unwissenschaftlichen gedrängt.1 Clusius verstand Kometen – ähnlich gestrandeter Walfische – auf- grund ihres plötzlichen und zunächst unerklärlichen Erscheinens noch als absonderliche Zeichen und als Vorboten schlimmer Ereignisse. Er be- obachtete 1577 in Wien einen Kometen und schrieb seinem Freund, dem

1 Siehe dazu: Jorink 2010, S. 109–179; North 1986.

485 Mediziner und Naturhistoriker Joachim Camerarius, er hoffe, dass Gott die Menschen mit diesem Zeichen nicht nutzlos warne.2 Auch Johannes Heurnius – der Vater des Anatom Otto Heurnius – glaubte, dass Gott den Menschen mittels Kometen ein Zeichen für kommende Veränderungen geben würde. Vor seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Medizin an der Leidener Universität verfasste er 1577 eine Publikation zum Kometen des- selben Jahres, welcher auch Clusius sah, worin er nicht bloss den Aufbau und die räumlich Lage des Himmelskörpers wissenschaftlich zu begrün- den versuchte, sondern ihn auch als Zeichen Gottes beschrieb.3 Spätere Leidener Professoren beschrieben die Kometen aber immer mehr rein objektiv und rückten ihre astrologische und prophezeiende Bedeutung in den Hintergrund.4 Die Himmelskunde wurde in der frühen Neuzeit nicht bloss ihrer selbst wegen oder für Voraussagen betrieben. Sie bildete darüberhinaus eine Grundlage für die quellenkritische Erforschung antiker Schriften. So benötigte der Leidener Professor Joseph Justus Scaliger gute Kennt- nisse über den Verlauf der Himmelskörper für seine Beschreibung einer geschichtlichen Chronologie, da in seinen Quellen oftmals auf vergange- ne astronomischen Kalendern verwiesen wurde. Für die erforderlichen Einblicke stand er in Korrespondenz mit Tycho Brahe; eine an Scaliger handschriftlich gewidmete Ausgabe dessen Astronomiae instauratae me- chanica von 1598 kam durch sein Legat in Besitz der Leidener Universität und wird noch heute dort verwahrt. Tycho Brahe riet Scaliger zudem zu einem Kauf eines akkuraten Sextanten, damit er die in seinem Buch be- schriebenen Sterne auch in natura betrachten und das Niedergeschrie- bene prüfen könne.5 Tycho Brahe erwartete im Gegenzug Scaligers Texte zum Nachthimmel. Doch versuchte Scaliger seine astronomischen Axi- ome und Theoreme mittels Aufzeichnungen antiker Autoren zu belegen und nicht durch empirische Erforschung des Himmels. Er suchte die Ant- worten auf seine Fragen also in der Bibliothek und richtete seinen Blick nicht gegen den Himmel.6 Sein Schüler und späterer Professor für Mathematik an der Leide- ner Universität, Willebrord Snellius (1580–1626), kombinierte hingegen bereits diese philologische mit einer empirischen Herangehensweise. So war er einer der ersten Professoren, die mittels Instrumenten von Leiden aus den Himmel untersuchten. Auch sein Nachfolger Jacobus Golius kombinierte die Fachgebiete der Philologie und Astronomie und

2 Hunger 1927–1943, Band 2, S. 352; zudem Jorink 2010, S. 124. 3 Jorink 2010, S. 125–127. 4 Vermij 2002. 5 Berkvens-Stevelinck, S. 63. 6 Grafton 1991; Vermij 2002, S. 19–20.

486 fokussierte dabei vor allem auf orientalische, zumeist arabische Schrif- ten. Es war sein Interesse an den wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Orient, die ihn die orientalischen Sprachen lernen liess. Sein Lehrer und Vorgänger als Professor der orientalischen Sprachen an der Leidener Universität, Thomas Erpenius, hatte gezeigt, dass viele Schriften zur Ast- ronomie der klassischen Antike im Original nicht mehr existierten, ihre frühen Übersetzungen ins Arabische aber noch immer aufgefunden wer- den konnten. Wollte Golius ad fontes gehen und möglichst ursprüngliche Textfassungen astronomischer und anderer Schriften lesen, so führte kein Weg an orientalischen Sprachen vorbei. Nicht zuletzt gab es im Orient im Gegensatz zu Zentraleuropa während des Mittelalters Sternwarten, dank welcher auch neue Erkenntnisse gemacht, beschrieben und in Buchform verbreitet wurden. Es war in erster Linie sein Interesse an Mathematik und Astronomie, die Golius zum Studium orientalischer Schriften und zum Aufbau einer Sammlung bedeutende Manuskripte aus der Levante für die Universitätsbibliothek brachte. Golius musste also um den Himmel zu er- forschen den Umweg über die Bibliothek gehen. Neben dem Lehrstuhl für orientalische Sprachen hielt Golius nach Ableben Willebrord Snelli- us auch denjenigen für Mathematik inne und errichtete die Sternwarte der Leidener Universität, deren Geschichte im Folgenden gezeigt werden soll. Die frühen Astronomen der Leidener Universität untersuchten – ver- gleichbar dem Vorgehen der frühen Naturhistorikern – also beides: die möglichst originalgetreue schriftlichen Überlieferungen innerhalb der Bibliothek und das tatsächliche Original im Firmament.7 Astrologie spielte auch für die Medizin eine gewisse Rolle, um den Krankheitsverlauf ermitteln zu können. Wie die verschiedenen Pflanzen des botanischen Gartens guten oder schlechten Einfluss auf bestimm- te Körperteile haben konnten, waren auch Himmelskörper dazu in der Lage. Sie alle gehörten zur Schöpfung Gottes, bildeten Mikro- und Ma- krokosmos und waren somit aufs engste miteinander verbunden. Den Organen des Körpers wurden verschiedene Sternzeichen zugeordnet, die auf jene Einwirken konnten. So hatte beispielsweise das Sternzeichen des Krebs Einfluss auf die Lunge, dasjenige der Fische hingegen auf die Fü- sse. Zudem besassen die verschiedenen Planeten bestimmte galenische Qualitäten. Die Sonne war heiss und trocken, der Mond hingegen kalt und feucht. Letzterer hatte den grössten Einfluss auf den menschlichen Körper, war er ihm doch am nächsten. Die Sternkunde war häufig eng an die Medizinfakultäten geknüpft und noch kein selbstständiges Wissens- gebiet. Nach Kusukawa war es die medizinische Bedeutung der Astrolo- gie, die überhaupt zum Unterricht der Himmelskunde an vielen Univer-

7 Vermij 2002, S. 23–25.

487 sitäten führte.8 In Leiden war dies jedoch nicht der Fall. Hier entsprang die Sternkunde dem mathematischen Unterricht und folgte dabei dem kanonischen Quadrivium, dessen Bestandteil sie war. Nicht zuletzt war eine detailliert und präzise kartographierte Him- melskarte entscheidend für die Navigation auf See und wurde in den Nie- derlanden aufgrund des aufblühenden internationalen Handels immer wichtiger. Eine Sternwarte und die daraus gewonnenen Erkenntnisse wa- ren deswegen auch auf ökonomischer Ebene wichtig.

Erste Sternwarten der frühen Neuzeit In Leidener Universität war die erste in ganz Europa, die über eine Stern- warte verfügte. Astronomische Observatorien waren wie botanische Gärten oder anatomische Theater eine neue Bauaufgabe der neuen em- pirischen Wissenschaften. Sie kam gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf und wurde im Laufe des 17. Jahrhundert überall in Europa errichtet. Eine der ersten Sternwarten in Mitteleuropa wurde durch Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, dem früheren Förderer von Carolus Clusius, errichtet.9 Er betrieb mit grosser Leidenschaft astronomische und naturhistorische Studien und liess neben seinem wohlausgestatteten Garten bereits 1560 ein festeingerichtetes astronomisches Observatorium erbauen.10 Der be- kannteste Astronom dieser Sternwarte, Jost Bürgi (1552–1632), wurde 1579 an den Kasseler Hof berufen, blieb bis zu seinem Tod und war somit ge- nau in jenen Jahren beschäftigt, als auch Clusius dort arbeitete. Die Stern- warte des Landgrafen war aber hinsichtlich ihrer Architektur noch sehr bescheiden, denn sie bestand bloss aus zwei offenen Plattformen an den Ost- und Westecken des Schlosses11 und glich somit dem ersten Ausbau des Leidener Observatoriums. Die wohl berühmteste Sternwarte des ausgehenden 16. Jahrhunderts war diejenige von Tycho Brahe, die auf der Insel Hven im Öresund 1581 fertiggestellt wurde und Uranienburg (Uraniborg) genannt wurde. Tycho Brahe beschreibt seine dortigen Bauten und Instrumente in seinem Buch Astronomiae instauratae mechanica, welche in Leiden mindestens in der gewidmeten Ausgabe an Scaliger einsehbar war, mit dem Ziel, die Ast- ronomie wieder auf eine empirische Grundlage zu stellen.12 Tycho Bra- he benutztedas Achteck als Grundlage seiner verschiedenen astronomi- schen Observatorien und damit jene Geometrie, wie sie auch in Leiden zum Einsatz kam. Darüber hinaus waren sie mit öffenbaren Luken ausge-

8 Kusukawa 1993; Chapman 1979. 9 Gelder 2011, S. 213–269. 10 Zur Sternwarte in Kassel, siehe: Mackensen 1979. 11 Mackensen 1979, S. 12. 12 Thoren 1990, S. 150.

488 stattet.13 Bei seiner späteren Erweiterung, der sogenannten Sternenburg (Stjerneborg), setzte er drehbare Rundkuppeln mit nur zwei Luken ein14 und damit genau dasselbe System, wie es Uffenbach für Leiden beschrieb.

Die Leidener Sternwarte

Astronomie und Astrologie wurden in Leiden bereits vor der Errichtung der Sternwarte gelehrt.15 Gerard Bontius war der erste Professor der Lei- dener Universität, der die Sternkunde unterrichtete. Denn vor seiner Be- rufung auf den Lehrstuhl für Medizin, wo er unter anderem auch Kräu- terkunde und Anatomie unterrichtete, war er zunächst zuständig für den Unterricht in Astronomie und Mathematik.16 Johannes Heurnius war so- mit nicht der einzige Medizinprofessor der Leidener Universität mit Inte- resse an astronomischen Studien, was nicht erstaunlich ist, weil die Me- dizin an die Astronomie und Astrologie geknüpft war. Da die Astronomie ihrerseits eine der Künste des Quadriviums war, machte eine Anbindung an den Lehrstuhl der Mathematik ebenfalls Sinn. Rudolph Snellius, der 1581 zum ersten ordentlichen Professor für Mathematik berufen wurde, führte die Astronomie als ordentliches Fach ab 1587 in das Curriculum der Universität ein. Er unterrichtete täglich um vier Uhr nachmittags Kosmografie und Astronomie und Gerard Bontius übernahm die Vorlesungen zur Medizin.17 Sein Sohn Willebrord Snellius war ebenfalls begeisterter Mathematiker und Astronom. Er bereiste in seiner Jugend halb Europa und lernte dabei Tycho Brahe, Johannes Ke- pler und andere berühmte Astronomen der Zeit kennen. 1613 trat er die Nachfolge seines Vaters an und wurde zum Professor der Mathematik be- rufen. Neben eigenen Werken gab er auch die Erkenntnisse des Landgra- fen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel heraus. In einer seiner Abhandlungen erwähnt und erklärt er auch seine Instrumente, die er für astronomische Studien verwendete. Es waren alles private Anschaffungen, denn die Uni- versität verfügte zu jener Zeit noch über keinerlei astronomischer Gerät- schaften. Snellius forderte das Kuratorium auf, ihm eine Lohnerhöhung zu geben, da er für den Unterricht in Mathematik verschiedene Apparate herstellen liess.18

13 Thoren 1990, S. 188. 14 Thoren 1990, S. 183; siehe zudem weiter unten. 15 Grundlegend und folgendes nach: Kaiser 1868, hier S. I–IX; zudem Otterspeer 2000, S. 204–205; hier unter Berücksichtigung, Einarbeitung und Nennung der Quellen. 16 AC1.19, (26.11.1590(?)), f. 16r. 17 AC1.18, (15. Okt. 1587), f. 219r. 18 AC1.20, (8.–11. Febr. 1616), f. 363r–v.

489 Eines der Instrument stammte vom Kartographen und Verleger Wil- lem Blaeu (1571–1638), was noch im Jahre 1711 durch Uffenbach in seinem Reisebericht als Besonderheit erwähnt wird; Uffenbach beruft sich dabei auf eine Publikation von Vossius.19 Blaeu weilte zwischen 1595 und 1596 sechs Monate lang auf Tycho Brahes Insel und lernte dadurch die neusten astronomischen Instrumente und ihre Handhabung kennen. Nach seiner Rückkehr erlangte er als Kartographen und Globenbauer internationalen Ruf, nicht zuletzt dank der aus Hven mitgenommenen Daten Tycho Bra- hes. Für Willebrord Snellius baute er den Quadranten von ca. 2,2 Meter Durchmesser nach Vorbild desjenigen der Uranienburg.20 Sein Nachfolger Jacobus Golius, der bereits den Lehrstuhl für orien- talische Sprachen innehielt, erwarb drei Jahre nach Snellius Tod aus des- sen Nachlass den Quadranten für 125 Gulden. 1632 sprach die Universität ihr Interesse an diesem Instrument aus, wollte in seinen Besitz kommen21 und zwecks seiner Unterbringung eine geeignete Räumlichkeit errichten. Wie bei den Pflanzen des botanischen Gartens oder bei den Apparaturen des physikalischen Theaters bildete der Privatbesitz eines Gelehrten den Nukleus einer neuen universitären Einrichtung. Der Baumeister der Stadt Leiden, Jan Jabobsz. van Banchem, wur- de beauftragt unter Beratung durch den fachkundigen Golius einen Plan für ein Observatorium auszuarbeiten, „om aldaer oock den studenten te demonstreren den loop des hemels ende van de sterren“.22 Der sehr de- taillierte Bauentwurf wird in den Akten des Kuratoriums beschrieben, die darin erwähnte Planzeichnung hat sich indes nicht überliefert. Der Bau sollte bis zum nächsten Sommer des Jahres 1633 für die vorangeschlagene Summe von 2’100 Gulden errichtet werden.23 Die Plattform, welche auf der zum botanischen Garten hin gelegenen Seites des Dachs des Akade- miegebäudes an der Rapenburg errichtet wurde, wies eine Grundfläche von 15 auf 19 Fuss (ca. 5 auf 6m) auf und war zunächst nicht überdacht. Wohl aufgrund der sowieso dort stattfindenden Bauarbeiten wurde im Sommer 1633 beschlossen, das Dach des Akademiegebäudes zu erneu- ern.24 Die Sternwarte wurde also auf einer zunächst sehr einfachen und offenen Plattform auf dem Akademiegebäude eingerichtet. Die Lage des Observatoriums auf dem Dach der Universität erklärt sich aus dem Wunsch, möglichst den ganzen Himmel ohne Hindernisse betrachten zu

19 Uffenbach 1754, S. 396. 20 Zur Beziehung von Blaeu und Brahe: Christianson 2000, S. 253–255. 21 AC1.22, (12. Mai 1632), f. 78v. 22 Bronnen II, (2. April 1632), S. 177. 23 AC1.22, (15. Nov. 1632/2. Dec. 1632), f. 90v–95r; Bronnen II, (15. Nov. 1632), S. 178 (ohne Baubeschreibung). 24 AC1.22, (8. Aug. 1633), f. 118r; AC1.22, (14. Nov. 1633), f. 129v.

490 können. Frühe astronomische Observationen benötigten zunächst kei- ne besondere Architektur, wie die Beispiele in Leiden und Kassel zeigen, sondern primär spezielle Instrumente. Quadranten waren, wie ihr Name bereits sagt, viertelkreisförmige Instrumente. Mittels eines beweglichen Stabes mit Visier konnten damit Himmelskörper anvisiert werden. Eine Gradeinteilung auf dem Kreissegment und die lotrechte Aufstellung des Quadranten ermöglichten, die Höhe des zu untersuchenden Objekts zu bestimmen. In derselben Sitzung wurde beschlossen, unter der Plattform einen Raum einzurichten, der zunächst die beiden grossen Globen der Bib- liothek beherbergen sollte25 und später weitere Instrumente aufnahm.26 Eines der Globenpaare der Bibliothek – die beiden grösseren und aktu- elleren Globen von 1600, die Hondius den Universitäten in Leiden und Franeker widmete und auf denen die neusten Sternbilder eingezeichnet waren – fand somit einen neuen Ort seiner Aufstellung. Globen wurden durch Astronomen aktiv verwendet und waren für sie weniger ein Sym- bol des Wissens als eine Notwendigkeit zur Erforschung des Himmels. Denn sie zeigten als Grundlage die bereits bekannten Sterne und halfen, die Positionen neuer Sterne oder den Verlauf anderer Himmelskörper wie Kometen definieren und dokumentieren zu können, ein Vorgehen, dass auch Christiaan Huygens in einer seiner Schriften erklärt.27 Golius war zudem in jenen Jahren in Zusammenarbeit mit dem Amsterdamer Kartografen Jacob Aertsz. Colom damit beschäftigt, einen eigenen Globus anzufertigen, der zwar entworfen und gedruckt wurde, aber nie in Pro- duktion ging. Darauf verzeichnete er die neusten Erkenntnisse und Stern- bilder der südlichen Hemisphäre sowie alle Namen der Sternbilder auch in arabischer Sprache.28 Der Quadrant wurde anfänglich im Freien auf der Plattform aufge- hängt. Doch bereits im November 1633 wurde beschlossen, das wertvolle Instrument mittels eines kleinen Häuschens vor den Unbilden der Natur zu schützen, wozu wiederum durch den Stadtbaumeister ein Plan ange- fertigt wurde.29 Dieser sah einen achteckigen Turm vor, in welchem das Instrument vor Regen Schutz finden und lotrecht und fest befestigt wer- den sollte. Der Quadrant bestimmte die Architektur des Häuschens, denn er musste gedreht werden können, um den ganzen Himmel vermessen zu können. Das Häuschen mit seiner achteckigen Form trug dem Rech-

25 AC1.22, (8. Aug. 1633), f. 118r. 26 Eine Aufzählung der Instrumente aus dem Jahre 1710 gibt: Uffenbach 1754, S. 397–398. 27 Warner 1971, S. 391. 28 Savage-Smith/Wakefield 1994. 29 AC1.22, (14. Nov. 1633), f. 128v.

491 nung. Mittels vieler öffenbaren Luken in den dreieckigen Fläche des Py- ramidendaches wurde gewährleistet, dass trotz des Bauwerks der Him- mel nach wie vor ungestört betrachtet werden konnte. Es wurde also jene Form gewählt, die auch auf Tycho Brahes Insel zur Anwendung kam und in seinem Buch beschrieben wurde. Der Zimmermann Pieter Jansz. van Banheyning erhielt den Zuschlag, den Bau bis im August für die Summe von 550 Gulden aus der Kasse der Universität zu errichten.30 Während derselben Sitzung wurde beschlossen, Pieter Vincentssz. van Heemskerck für ein Jahr als Diener der Astronomie anzustellen. Er hatte zur Aufgabe, die Sternwarte auf- und zuzuschliessen, sie mit bren- nenden Kerzen und Laternen zu versorgen, da der Unterricht ja nachts geschah und dem Professor und seinen Studenten zu helfen. Dafür er- hielt er jährlich 30 Gulden Lohn.31 In der Forschung wurde diskutiert, wie oft und intensiv die Stern- warte in ihren ersten Jahrzehnten genutzt wurde. Durchgeführte Un- tersuchungen von Mondfinsternissen der Jahre 1635, 1638 und 1642 sind überliefert. Doch 1646 berichtete ein Reisender, die Sternwarte sei in Vergessenheit geraten.32 Die Akten der Kuratoren zeigen aber ein ande- res Bild. Denn die Sternwarte wurde in den kommenden Jahren häufig gewartet. So mussten 1650 die mittlerweile verrotteten Planken der Platt- form ausgewechselt33 und vier Jahre später das achteckige Häuschen für 600 Gulden restauriert werden,34 wofür sich Golius im kommenden Jahr nochmals stark machte.35 Golius wollte zudem einen azimutalen Zirkel („Azimuthale Circkel“) auf den Turm bauen lassen, damit der Quadrant besser bedient werden konnte, wozu er durch das Kuratorium Erlaubnis erhielt.36 Diese Erweite- rung erlaubte es, neben der vertikalen Höhe der zu untersuchenden Ob- jekte auch ihre horizontale Lage, eben den Azimut, bestimmen zu kön- nen und ihre Position deswegen eindeutig definieren zu können. Nach dem Tod von Pieter Vincentssz. van Heemskerck wurde im Jahre 1652 dessen Nachfolge diskutiert. Der Buchdrucker Claes Simonssz. Schouten bekundete Interesse an diesem Posten, wurde aber durch das Kuratorium zunächst nicht eingestellt, sondern die Aufgaben den beiden

30 Baubeschreibung und weitere Bestimmungen in: AC1.22, (18./19. Mai 1634), f. 151r–152v. 31 AC1.22, (18./19. Mai 1634), f. 148v–149r. 32 Vermij 2002, S. 24–25. 33 AC1.24, (1. Dec. 1650), f. 202r. 34 AC1.25, (9. Nov. 1654(?)), f. 46r–v . 35 AC1.25, (8. Febr. 1655), f. 55v–56r; zudem AC1.25, (9. Nov. 1655), f. 71r, worin steht, dass Golius die Sternwarte mit Segeltuch abdecken wollte. 36 AC1.25, (8. Mai 1656), f. 81r.

492 Pedellen der Universität übertragen,37 ein Beschluss, der ein Jahr später zugunsten des Bewerbers aber geändert wurde.38 Er hatte dieselben Auf- gaben wie sein Vorgänger und erhielt ebenfalls 30, etwas später 40 Gul- den jährlich.39 Aus einem späteren Beschluss wird ersichtlich, dass die Sternwarte über eine Wandtafel verfügte, welche der Diener sauber hal- ten musste und für welche er Kreide zu organisieren hatte.40 Dass er nur jeweils für die Dauer eines Jahres eingestellt wurde, zeigt möglicherweise an, dass die Sternwarte keine hohe Priorität innerhalb der Universität hat- te und das Kuratorium keine Lohnkosten fest an sie binden wollte. 1655 versuchte es erneut, die Aufgaben des Dieners den Pedellen übertragen,41 wogegen sich Golius aber aussprach.42 Spätere Beschlüsse zeigen aber, dass er von Nöten war und seine Aufgabe zufriedenstellend erledigte.43 Nach Golius Tod 1667 empfahl sich der Mathematiker Samuel Carel Kechel für den Lehrstuhl der Mathematik, was ihm aber durch das Ku- ratorium ausgeschlagen wurde. Sie erlaubten ihm jedoch, Unterricht in Astronomie zu erteilen und dazu die Sternwarte zu nutzen. Sein Lohn wurde von 200 auf 400 Gulden angehoben.44 Zudem finanzierten sie für seinen Unterricht zwei Globen sowie zwei Armillarsphären.45 Kechel be- fasste sich zudem, seiner Berufung als Mathematiker entsprechend, auch mit dem Festungsbau und arbeitete dazu eng mit der „Niederdeutschen Mathematik“ zusammen.46 Als Nachfolger auf den Lehrstuhl für Mathematik und gekoppelt da- ran zum Vorsteher der Sternwarte wurde 1668 Christian Melder zu einem Lohn über 1200 Gulden im Jahr berufen. Er füllte aber nur die Lücke im Lehrgebiet der Mathematik, so dass das Kuratorium nach wie vor auch eine passende Besetzung des Lehrstuhls für orientalische Sprachen such- te.47 Während der Präfektur von Melder wird erstmals ein Teleskop in den Akten des Kuratoriums erwähnt. Melder richtete nämlich den Quadran- ten neu aus und meinte, dass für dessen Gebrauch ein „tubus [Teleskop] ende een passer“, also ein Fernrohr und einen Winkel, nötig seien.48 Ein französischer Diplomat schrieb aber in seinem Reisebericht, dass bereits

37 AC1.24, (8. Aug. 1652), f. 264r. 38 AC1.24, (8. Nov. 1653), f. 316r. 39 AC1.25, (9. Nov. 1654(?)), f. 36r. 40 AC1.25, (8. Mai 1656), f. 78r–v. 41 AC1.25, (9. Nov. 1655), f. 71v. 42 AC1.25, (8. Mai 1656), f. 78r–v. 43 AC1.25, (8. Mai 1657), f. 113v; AC1.25, (8. Mai 1658), f. 188r; AC1.25, (14. Mai 1661), f. 243v. 44 Bronnen III, (8. Nov. 1667), S. 212. 45 Bronnen III, (8. Nov. 1667), S. 212. 46 Goudeau 2012, S. 227–229. 47 Bronnen III, (5. Mai 1668), S. 215. 48 AC1.26, (13. März 1669), S. 325.

493 Abb. 6.1 Ansicht des Akademiege- bäudes und seiner Stern- warte im Jahre 1710.

(Herman Boerhaave, Index plantarum quae in horto academico Lugduno Batavo reperiuntur, Leiden (apud Cornelium Boutestein) 1710, unpaginiertes Fronti- spiz (Ausschnitt).)

(Fotografie des Autors.)

1636 ein Teleskop – welches erst ca. 25 Jahre zuvor erfunden wurde – auf der Sternwarte aufzufinden war, denn er stieg „auf den hohen Turm, wo die unsagbar exakten Instrumente stehen, mit deren Hilfe man den Him- mel beobachtet. Durch das Fernrohr kann man die ganze Provinz über- sehen, und auch hinein in die einzelnen Häuser dieser ausgedehnten Stadt“.49 Nach Melders Tod 1682 wurde Burchard de Volder (1643–1709)50 dessen Nachfolger als Professor der Mathematik.51 De Volder war zuvor Professor der theoretischen Philosophie und errichtete 1675 das physi- kalische Laboratorium der Universität. Die beiden Professoren baten das Kuratorium bereits im Jahre 1676 um die Erlaubnis, Instrumente für mathematische Demonstrationen und Experimente zu kaufen, was gut- geheissen wurde.52 Es ist unklar, wo die Instrumente zum Einsatz kamen oder gelagert wurden. Die gemeinsame Anfrage zeigt aber, dass sich die beiden Professoren zusammengetan haben, wohl aufgrund desselben In- teresses am Unterrichten mithilfe von mechanischen Apparaturen, wie er sowohl auf der Sternwarte wie auch im neuen physikalischen Labo- ratorium von statten ging. Es erstaunt daher nicht, dass De Volder nach Melders Tod zu dessen Nachfolger als Professor der Mathematik und als Leiter der Sternwarte berufen wurde.

49 Schottmüller 1910, S. 265. 50 Zu seiner Biographie: Wiesenfeldt 2002, S. 54–58. 51 Bronnen III, (25. April 1682), S. 13; Bronnen III, (12. Mai 1682), S. 13. 52 AC1.27, (8. Aug. 1682), f. 185v.

494 Der neue Präfekt der Sternwarte renovierte die Sternwarte und be- stückte sie mit neuen Instrumenten.53 Wie im Falle der Bibliothek oder des botanischen Gartens führte auch in der Sternwarte der Wechsel des- Vorstehers zu entscheidenden Veränderungen der Forschungsstätte. Ei- nen grösseren und folgenschweren Einkauf tätigte De Volder im Jahre 1686. In Rückbezug auf einen Beschluss vom 8. November 1685 erlaubte ihm das Kuratorium, einen grossen Sextanten mit einem Radius von vier Fuss54 (ca. 1,2m) für 1200 Gulden zu kaufen. De Volder teilte dem Kura- torium aber mit, dass um diesen vollständig gebrauchen zu können, ein zweites Observatorium benötigt würde. Das Kuratorium beauftragte den Architekten Jacob Roman, einen Plan nach den Anweisungen De Volders für die zweite Plattform zu erstellen.55 Es war also nach wie vor der Wis- senschaftler und nicht der Architekt, der über die Bauaufgabe am besten Bescheid wusste und sich für die grundlegende Gestaltung verantwort- lich zeichnete, während der Architekt vermutlich für deren praktische Umsetzung zuständig war. Erst zwei Jahre später wurde beschlossen, den Bau des neuen Turms öffentlich auszuschreiben.56 Die Erweiterung scheint 1689 fertiggestellt gewesen zu sein, denn der Architekt inspizierte sie damals auf mögliche Mängel.57 Dies war laut Kaiser die letzte grössere Baumassnahme der Leidener Sternwarte bis zum Jahr 1817.58 Ein Inven- tar der Sternwarte ist für das Jahr 1706 überliefert und listet neben einem Sextanten und zweier Quadranten unter anderem auch zwei Uhren mit Sekundenzeiger, verschiedene Spiegel, Fernrohre und die beiden Globen auf.59 So standen zwischen 1689 und 1817 die beiden ursprünglichen Platt- formen mit ihren achteckigen Häusschen auf dem Dach der Akademie. Die beiden Sternwarten waren miteinander durch eine aufgeständerte Holzkonstruktion verbunden, die nahezu die gesamte Länge des Daches überdeckte. Eine zeitgenössische Beschreibung der Sternwarte gibt Za- charias Conrad von Uffenbach, der eine Illustration beilegt Abb.( 6.2). Er besuchte die Sternwarte am 14. Januar 1711 und beschrieb sie wie folgt: „Das Dach von beyden Häusgen war artig gemacht, daß man es ringsher- um drehen konnte“.60 Ferner beschreibt er einen der Bauten als ein „oben

53 AC1.27, (8. Aug. 1682), f. 185v. 54 In den Quellen ist von einem Diameter über vier Fuss die Rede, in der Forschung aber wird immer von Radius gesprochen, was korrekt sein muss, ist ein Teil des Sextanten doch überliefert; siehe: Kaiser 1868, S. VII. 55 AC1.28, (10. April 1686), f. 21v. 56 AC1.28, (9. Aug. 1688), f. 73v. 57 AC1.28, (27. Juni 1689), f. 90v. 58 Kaiser 1868, S. VII. 59 Bronnen IV, (7. Febr. 1706), Bijl. no. 960, S. 107*–108*. 60 Uffenbach 1754, S. 396.

495 Abb. 6.2 Ansicht eines der – nach Uffenbach runden – Obser- vatorien mit Drehmecha- nismus der Kuppel.

(Zacharias Conrad von Uffenbach, Merkwürdige Reisen durch Niedersach- sen Holland und Engelland, Dritter Theil, Ulm (Chris- tian Ulrich Wagner) 1754, Fig. XIV.)

(Bodleian Library, Fotogra- fie des Autors)

auf dem Dach stehenden runden Thürngen, dessen gleichfalls rundes und spitzig zugehendes Dach sich herum drehen lässet“ und dass diese Bewegung „vermittelst eines Triebes und eines zahnigten Rades gar leicht ins Werk zu richten“ sei, „so daß das [einzige] Fenster, (gg) wohin man es

496 haben will, sich stellet“61. Dies widerspricht jedoch den auf Abbildungen ersichtlichen und auf einem Achteck beruhenden Form beider Häuschen. Aus den Quellen geht nicht hervor, wie das zweite und neuere Häus- chen gefertigt war oder ob die pyramidenförmigen Dächer ebenfalls über einen Drehmechanismus verfügten, was aufgrund ihrer Geometrie aber kaum wahrscheinlich ist. Es ist somit unklar, wie die beiden Häuschen tatsächlich aussahen.62 Möglicherweise beschrieb Uffenbach einen spä- teren und veränderten Zustand. Kuppelförmige und drehbare Dächer mir nur einem Fenster waren indes keine Neuerfindungen des 17. Jahrhun- derts, denn sie kamen bereits in Tycho Brahes Sternenburg (Stjerneborg) zur Anwendung und waren in Leiden durch ihre Beschreibung in seinem Werk sicherlich bekannt. Die dortigen Kuppeln waren demnach mit ei- nem hölzernen Ring ausgestattet, auf dem vier Räder auflagen, die das Dach trugen und es leicht und einfach drehen liessen. Auf diese Weise konnten die beiden langen Fenster der Kuppel an jene Lage gebracht wer- de, wo ein freier Blick auf die zu untersuchende Sterne benötigt wurde.63 Der Vorteil eines solchen Baus lag darin, dass nur ein oder zwei Fenster benötigt wurden, was die Instrumente noch besser vor der Witte- rung schützte. Zudem konnte bei dem älteren Prinzip eines Oktagons mit vielen Fenstern ein Fensterrahmen oder sonstiger Bauteil im Sichtfeld lie- gen, ein Problem, das in der neueren Konstruktionsweise gelöst wurde. Ob Uffenbach seine Beschreibung der Leidener Sternwarte aus Tychos Werk inspirieren liess, oder ob tatsächlich die Sternwarte der Akademie dieselben baulichen Lösungen erhielt, wie diejenigen der Sternenburg, kann abschliessend nicht mit Sicherheit gesagt werden.

Exotica im Himmel

Der Sternenhimmel war nicht nur ein eigenständiges System an Zeichen und half nicht nur, antike Schriften besser verstehen und datieren zu kön- nen, sondern war selbst ein Werk, das weitergeschrieben werden konnte. Gerade im südlichen Firmament gab es um 1600 noch viele Leerstellen.64 Die dortigen Sterne konnten von der nördlichen Erdhalbkugel nämlich nicht betrachtet werden, weswegen sie noch nicht erfasst und zu Stern- bildern zusammengefasst wurden. Ein exakt kartographierter Himmel war aber wichtig für die Seefahrt, die für die Navigation auf vollständige Himmelskarten angewiesen waren. So kam es, dass aus den ersten nie-

61 Uffenbach 1754, S. 397. 62 Diese Diskussion bereits bei: Kaiser 1868, S. VIII. 63 Die Beschreibung zitiert in: Thoren 1990, S. 183. 64 Zu diesem Thema und zu Folgenden: Kanas 2007, vor allem S. 117–127.

497 derländischen Expeditionen in den ferner Osten nicht bloss Kuriositä- ten und Handelsgüter zurück nach Europa kamen, sondern auch neue Sternbilder. Wie bereits besprochen wurde, verdankten sowohl Paluda- nus wie auch Clusius frühen Handelsexpeditionen einige der exotischen Naturalien in ihren Sammlungen. Gerade die gesehenen und gesammel- ten exotischen Naturalien waren es, die in die Leerstellen des südlichen Himmels gezeichnet wurden. Der Theologe, Astronom und Kartograph Petrus Plancius (Pieter Pla- tevoet, 1552–1622)65 war nicht bloss involviert in die ersten Handelsreisen der jungen Republik und in die Gründung der VOC, sondern auch der Hauptinitiator der Kartographierung der noch unbeschriebenen südli- chen Hemisphäre durch Seefahrer. Er beauftragte Pieter Dircksz. Keyser (ca. 1550–1596), den Navigator der ersten niederländischen Handelsreise nach Ostindien, den Südhimmel zu kartographieren. Die Hollandia und weitere Schiffe legten 1595 in Madagaskar für einen Zwischenhalt von drei Monaten Dauer auf ihrem Weg zum Malaiischen Archipel an. Vermutlich richtete Keyser auf dieser Insel seinen Blick auf die noch unbeschriebe- nen Sterne des Südhimmels und fasste sie zu neuen Sternbildern zusam- men. Er starb jedoch ein Jahr später in der Strasse von Sunda. Frederick de Houtman, ein Handelsreisender mit wissenschaftlichen Ansporn, brachte die aufgezeichneten Resultate 1597 zurück in die Niederlande. Im folgenden Jahr machte er sich erneut auf eine Reise nach Sumatra, wo er inhaftiert wurde und die Zeit für weitere Forschungsarbeiten nutzte. Nach erfolgreicher Flucht kehrte er zurück in die Niederlande und pub- lizierte 1603 ein Werk, in dem er auch die Sternbilder der südlichen He- misphäre beschrieb und als seine eigene Forschungsleistung ausgab, was erst kürzlich widerlegt wurde. Heute gelten dennoch sowohl Keyser wie auch De Houtman als Begründer von zwölf Sternbilder der südlichen He- misphäre.66 Doch welche Sternzeichen wurden auf der ersten Handelsreise der Niederländer angefertigt und was zeigen sie? Keyser zeichnet ein Chamä- leon (Chamaeleon), einen goldenen Fisch (Dorado), den mythischen Vogel Phoenix, einen Indianer (Indus), einen Tukan (Tucana), einen Pa- radiesvogel (Apus), einen Reiher (Grus), eine Wasserschlange (Hydrus), eine Fliege (Apis, später Musca), das Südliche Dreieck (Triangulum Aust- rale) sowie einen fliegenden Fisch (Volans) in den Himmel (Abb. 6.3). Aus allen möglichen Tieren und Objekten wählten er in der Regel also meist genau jene aus, die in Europa aufgrund ihrer Unbekanntheit und Fremd- artigkeit so rege in den entstehenden Naturalienkabinetten gesammelt

65 Zu seiner Biographie: NNBW, Band IV, Sp. 1077–1086. 66 Zur Reise und Zuschreibung, siehe: Knobel 1917; und abschliessend: Swayer Hogg 1951.

498 wurden. Die Hollandia und ihre Begleitschiffe führten somit nicht bloss Abb. 6.3 Die neuen Sternbilder exo- Exotica im Schiffsrumpf mit sich, sondern brachten sie auch als neue tischer Tiere im ansonsten Sternbilder zurück nach Europa. noch leeren Südhimmel. Reiseberichte belegen, dass die ersten niederländischen Handels- (Johannes Bayer, Vranome- reisenden durchaus interessiert waren an den fremdländischen Tieren tria, omnivm asterismorvm und Pflanzen.67 So wurden neben Informationen zur eigentlichen Reise continens schemata, nova methodo delineata, aereis und geographischen sowie ökonomischen Fakten auch solche zur süd- laminis expressa, Augsburg ländischen Flora und Faune geliefert. So beschreibt Willem Lodewycksz. (excvdit Christophorvs Mangvs) 1603, Karte 49.) in seinem Bericht über die erwähnte Reise namens D’ eerste boeck. His- torie van Indien waer inne verhaelt is de avontueren die de Hollandtsche (Download: http://aa.us- no.navy.mil/library/rare/ schepen bejeghent zijn von 1598 ein Geschehnis mit exotischen Fischen, Bayer%201661.htm) das sicherlich auch sein Reisegefährte Keyser erlebte. Er erklärt, dass flie- gende Fische auf der Flucht vor grösseren Meeresbewohner – beispiels- weise durch Dorados – in die Lüfte stiegen, nur um von Vögeln gefressen zu werden; oder dass manche auf das Deck fielen, um daraufhin von der Schiffsmannschaft verspeist zu werden. Eine Illustration dieses Erleb- nisses zeigt deswegen auch die beiden exotischen Fische, die Keyser in den Himmel zeichnete, andere werden auf weiteren Seiten oder Bildern

67 Siehe dazu: Cook 2007, S. 128.

499 beschrieben, beispielsweise der Pfau, verschiedene Papageie oder das Chamäleon.68 Bei der Zuschreibung der zwölf neuen Himmelszeichen spielte der Globus von Jodocus Hondius eine entscheidende Rolle, konnte doch durch J. W. Stein nachgewiesen werden, dass darauf bereits im Jahre 1600 und somit vor der Rückkehr De Houtmans die neuen Sternbilder ver- zeichnet waren.69 Es handelt sich dabei um den Globus, den Hondius den Leidener und Franeker Studenten vermachte und der von der Bibliothek auf die Sternwarte gebracht wurde. Eine der zwei Inschriften auf ihm be- sagt nämlich:

„Globus caelestis. In quo stellae fixae omnes qua a N. viro Tychone Brahe suma industria ac cura observatae sunt accuratissime desig- nantur: nec non circa Polum Austr. ea quae a peritis. nauclero Petro Theodori Mateseos studioso annotatae sunt.“70

„A celestial globe on which are most accurately marked all of the fixed stars which the nobleman Tycho Brahe observed so industri- ously and carefully, as well as the southern circumpolar stars which were observed by the most learned navigator, Peter Son of Theodore [Pieter Dircksz. Keyser], student of mathematics.“71

Stein argumentiert, dass der Reisebericht des verstorbenen Keysers mit den neuen Sternkonstellationen 1597 an seinen Auftraggeber Plancius ge- geben wurde, der die gemachten Erkenntnisse an den Leidener Professor und Universitätsbibliothekar Paulus Merula weitergab, der wiederum in seinem Werk zur Kosmographie über die Tätigkeiten Keysers berichte- te. Eine weitere Kopie der neuen Sterne muss in die Hände von Hondius gefallen sein, der sie auf seinem Himmelsglobus verzeichnete. Auch Go- lius nahm bei seinem entworfenen Himmelsglobus diese zwölf neuen Sternbilder auf. In einer Inschrift, mit derer er „die Studenten der Sterne“ anspricht und die nahezu denselben Wortlaut wie diejenige von Hondius aufweist, macht Golius explizit darauf aufmerksam.72 Wenn auch nicht im tatsächlichen Südhimmel, der von Leiden ja nicht ersichtlich ist, so konnten die Leidener Studenten zumindest auf dem dort verwahrten Globus somit genau jene exotischen Tiere betrach- ten, die auch im Ambulacrum des botanischen Gartens oder dem ana-

68 Lodewijcksz. 1915, vor allem S. 52–53 und S. 133–136; zudem: Cook 2007, S. 128. 69 Siehe dazu: Savage-Smith/Wakefield 1994, S. 238–259. 70 Zitiert nach: Warner 1979, S. 121. 71 Zitiert nach: Savage-Smith/Wakefield 1994, S. 220. 72 Savage-Smith/Wakefield 1994, S. 247.

500 tomischen Theater zur Schau gestellt wurden.; im Museum des Theaters lagerten beispielsweise die Flügel fliegender Fische.73 Exotica war somit überall zu finden. Doch legte sich das modische und wissenschaftliche Interesse an fremdländischen Pflanzen und Tieren in den kommenden Jahrzehnten und verlagerte sich zugunsten neuer Methoden und Ob- jekten der Wissenschaft. Räumlich stellten sich deswegen physikalische oder chemische Versuchsanstalten neben die Naturaliensammlungen des 17. Jahrhunderts. Entsprechend zeichnete Nicolas Louis de Lacaille (1713–1762) im 18. Jahrhundert nicht mehr exotische Tiere in die verblei- benden Leerstellen der südlichen Hemisphäre, die zuvor auf dem Stand von Keyser und Houtman verblieb, sondern wissenschaftliche Instru- mente wie das Mikroskop und das Teleskop, eine Luftpumpe (Antila) oder einen chemischen Apparat (Fornax).74 Solche wissenschaftliche Ins- trumente hielten nicht nur in den Himmel Einzug, sondern auch in zwei zusätzliche Räume der Leidener Universität, nämlich in das chemische Laboratorium und in das physikalische Theater, welche 1669 und 1675 er- öffnet wurden.

73 Barge 1934, S. 53. 74 Ridpath 1988, S. 11 und die entsprechenden Bilder und Abhandlungen der einzel- nen Sternzeichen.

501

Teil 7 Raum für Experimente: Das chemische Laboratorium und das physikalische Theater

Empirisches Forschen und Unterrichten, zu Beginn noch der bestimmen- de Wesenszug der neueren Forschung im Fach der Medizin – in Pflanzen- kunde und Anatomie –, hielt im 17. Jahrhundert Einzug die Naturphilo- sophie und insbesondere in die entstehenden Wissenszweige der Physik und Chemie. Aufgrund dieser neuen Praxis des Erkenntnisgewinns wur- den auch hier neben speziellen Apparaten neue Räume erforderlich.1 In diesen wurden – abgesehen von den notwendigen Instrumenten und Gegenständen – keine Objekte wie Pflanzen oder Körperteile gesammelt, um durch deren Erforschung neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern Experimente mittels Instrumenten durchgeführt. Auch hier verfügte Lei- den schon früh über solche Räume, welche ausdrücklich durch die Pro- fessoren und Studenten gewünscht wurden. Diese Lokalitäten waren kei- ne Sammlungsräume, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen. Sie sollen aber dennoch kurz beschrieben werden, da sie eine neue uni- versitäre Bauaufgabe für weitere Methoden der Erkenntnis darstellen.2

Erfahrungen und Erkenntnisse durch Experimente Das Wort Experiment kommt vom lateinischen experiri, was versuchen, erproben, prüfen, aber auch erfahren bedeutet. Ein Experiment diente also der sinnlichen Prüfung und Erfahrbarmachung, weswegen Experi- mente ebenfalls eine empirische Methode zur Gewinnung von Erkennt- nissen darstellen. Es sollten theoretische Axiome zur Beschaffenheit der Welt durch praktische Experimente überprüft werden. Die Chemie diente daneben der Herstellung pharmazeutischer Produkte, vergleichbar also mit den Pflanzen des botanischen Gartens, die ebenfalls Medizinalkräu- ter waren, zusehends aber ihrer selbst wegen untersucht wurden.

1 Smith 2006. 2 Die Räume wurden bereits ausführlich erforscht: Wiesenfeldt 2002; Lindeboom 1975; Pater 1975; Spronsen 1975.

503 (Chemische) Laboratorien entstanden im 16. Jahrhundert und waren zunächst Schauplätze der Alchemie. Im folgenden Jahrhundert fanden sie Verbreitung in Universitäten, botanischen Gärten oder naturhistorischen Museen, zudem auch in den Lokalitäten von Apothekern, später auch in handwerklichen und proto-industriellen Betrieben. Als ein frühes Bei- spiel können wiederum die Uranienburg von Tycho Brahe sowie der Hof des Landgrafen Moritz von Hessen Kassel erwähnt werden, da dort neben astronomischen auch chemische Untersuchungen stattfanden.3 Mit dem Begriff laboratorium – heute der Inbegriff wissenschaftli- cher Forschungsstätten – wurden vorerst jene Orte bezeichnet, in denen mittels Öfen, Gefässen und Instrumenten durch Destillation, Verbren- nung, Schmelzen und ähnliche Prozesse neue Materialien geschaffen wurden.4 Chemie wurde deshalb auch Scheidekunst genannt, da exis- tierende Stoffe in andere umgewandelt werden sollten.5 Die Wortwurzel laborare verweist auf diese handwerklichen Arbeitsprozesse. Die antiken Griechen negierten die Möglichkeit, aus praktischer Arbeit Erkenntnisse zu gewinnen. Die alten Römer sahen die Theorie und die Praxis als zwei Seiten derselben Medaille, was in der Aufteilung des Lebens in die Vita activa und die Vita contemplativa resultierte. Im christlichen Mittelalter war Arbeit zunächst gekoppelt an den Sündenfall, da sie erst nach diesem eine Notwendigkeit der menschlichen Existenz wurde. Sie galt aber auch als Weg zur Erlösung. Diese ambivalente Interpretation führte dazu, dass in Klöstern sowohl der Geist wie auch die Hand zum Einsatz kamen. Im islamischen Kulturkreis hingegen setzten die Wissenschaftler schon früh auf den Erkenntnisgewinn durch manuelle Arbeit in Form der Alchemie, die aber ebenso auf theoretischem Wissen aus Büchern beruhte. Diese orientalische Forschungspraxis hatte denn auch entscheidenden Einfluss auf das Europa der frühen Neuzeit, wo der Corpus Hermeticum gelesen wurde und die Menschen dazu aufforderte, die Natur nicht bloss zu ko- pieren, sondern gar zu perfektionieren. Wohl den wichtigsten Aspekt zur Etablierung der handwerklichen Methode wissenschaftlicher Erkenntnis lieferten aber die Künstler. Humanisten sahen in der Arbeit der Handwer- ker, mit denen sie zunehmend in engem Austausch standen, denn auch eine Möglichkeit, durch die Kenntnis verschiedener Materialien neue Einblicke in die Natur zu erhalten und die Naturphilosophie damit zu re- formieren. Zudem war es auch die Politik, die dank der handwerklichen Methode neue Erkenntnisse hinsichtlich dem Bau von Fortifikationen, Feuerwaffen und ähnliches erhoffte. Nicht zuletzt diente die handwerk- liche Erforschung der Welt wiederum, das Werk Gottes verständlich ma-

3 Shackelford 1993; zuvor: Hannaway 1986. 4 Folgendes nach: Smith 2006; Klein 2008. 5 Zum Begriff „Chemie“: Spronsen 1975, S. 329.

504 chen zu können, diente also der Lektüre des Buchs der Natur.6 Die Praxis des chemischen Arbeitens war, wie Ursula Klein aufzeigt, gebunden an einen spezifischen Bau, da sie schwere Gerätschaften wie Öfen, Wasserspender, Kamine sowie viele dazugehörige Instrumente be- nötigte. Laboratorien in Universitäten und handwerklichen Betrieben glichen sich deswegen bezüglich ihrer Ausstattung und Architektur. Sie dienten denn auch im akademischen Kontext nicht nur der Gewinnung von Erkenntnissen, sondern ebenso zur Produktion von materiellen – vor allem pharmazeutischen – Erzeugnissen. Etwas anders verhält es sich mit physikalischen Theatern, wie auch die Leidener Einrichtung genannt wurde. Bereits die Namensgebung verweist hier nicht auf den Aspekt der Arbeit mit dem Ziel, ein materi- elles Produkt zu erschaffen, sondern auf denjenigen des Sehens. Das Se- hen diente dabei nicht bloss dem Gewinnen neuer Erkenntnisse und der Unterweisung von Studenten. Ein Publikum war darüber hinaus für die Legitimierung der erfahrenen Erkenntnisse entscheidend, mussten diese doch bezeugt und publik gemacht werden.7 Pamela H. Smith dazu: „“De- monstration“ acquired its modern meaning of proving through an appeal to the senses rather than through an appeal to reason by deductive pro- o f .“ 8 Dies führe zu „matters of fact“, also zu Tatsachen, also ein wirklicher und nachweisbarer Sachverhalt.9 Physikalische Instrumente waren – im Gegensatz beispielsweise zu den Instrumenten einer Sternwarte – relativ klein und somit beweglich. Die Experimente stellten zudem keine beson- deren Anforderungen an ihre bauliche Behausung, weswegen sie in ver- schiedenen Lokalitäten stattfinden konnten; eigens dafür errichtete Ge- bäude stellten indes eine absolute Ausnahme dar.10 Was aber zunehmend verlangt wurde, war ein Ort der Verwahrung der Instrumente.11 In Leiden führten diese beiden Aufgaben zu einer baulichen Lösung: Zum einen wurde ein Ort geschaffen, der durch seine Möblierung eine freie Sicht auf die Experimente ermöglichte, zum anderen einen Raum errichtet, in dem die vielen Instrumente gelagert werden konnten. Die Forderung nach solchen Räumen war indes keine Erfindung des 17. Jahrhunderts, denn bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert wurden solche Räume gewünscht. Im ersten gedruckten Katalog des botanischen Gartens von Padua wird nicht nur der Wunsch geäussert, den botani- schen Garten in Padua mit angrenzenden Sammlungsräumen zu verse-

6 Siehe zur Entwicklung der handwerklichen Methode: Smith 2006, S. 293–300. 7 Shapin 1988, S. 384. 8 Smith 2006, S. 302. 9 Smith 2006, S. 303. 10 Shapin 1988. 11 Klein 2008, S. 772.

505 hen, sondern ihn auch mit Räumen auszustatten, die unter anderem „ à varie, & diuerse operationi, attenenti alla materia medicinale, come per gratia d’essempio, à Fondarie, Distillatorie, & altre si fatte“ dienen soll- ten.12 Es bestand also den Wunsch nach einem chemischen Laboratori- um, das der Pharmazie dienlich sein sollte und in unmittelbarer Nähe zum Garten liegen sollte. In der Gesta Grayorum, Francis Bacon zuge- schrieben und seiner empirischen Wissenschaftspraxis entsprechend, werden nahezu gleiche Forderungen laut. Neben einer Bibliothek, einem botanischen Garten mit Naturaliensammlung und einem Kunstkabinett wird darin auch ein Laboratorium erwünscht, „a Still-house so furnished with Mills, Instruments, Furnaces, and Vessels, as may be a Palace fit for a Philosopher’s Stone.“13 Und auch in den in der Einleitung erwähnten uto- pischen Romanen werden solche Einrichtungen angepriesen. Die Leide- ner Universität setzte diese Intentionen schon bald in Tat um.

Das chemische Laboratorium

In den 1660er Jahren befand sich die Medizinfakultät der Leidener Uni- versität in einer Krise. Es gab viele vakante Lehrstühle, da Professoren während der letzten Pestepidemie verstarben, was zudem ein schlechtes Bild auf deren Fähigkeiten als Professoren der Medizin fallen liess. Viele Studenten bevorzugten deshalb andere Universitäten und verschmähten Leiden. Dies war aber ebenfalls einem weiteren Umstand geschuldet: Das Fachgebiet der Chemie wurde in Leiden noch nicht im gewünschten Masse unterrichtet. Hier hatte die Universität Aufholbedarf, wurde das erste chemische Laboratorium einer Universität doch bereits 1592 durch den Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel in Marburg errichtet.14 Labo- ratorien wurden ebenfalls durch den Adel oder von privaten Sozietäten errichtet.15 Das Kuratorium wollte deswegen im August 1664 mit der in- ternationalen Konkurrenz gleichziehen, eine Professur für Chemie auf- bauen sowie ein entsprechendes chemisches Laboratorium einrichten.16 Der Initiator dafür war der Medizinprofessor Franciscus de le Boë (Franciscus Sylvius, 1614–1672), der ein iatrochemisches System entwi- ckelt hatte, die Medizin also auf ein chemisches Grundgerüst stellte und sich deshalb für den Unterricht in diesem Fach stark machte. Der phar-

12 Porro 1591, S. 4v–5r. 13 Bacon 1914, S. 35. 14 Spronsen 1975, S. 330. 15 Beispielsweise die Academia dei Lincei in Rom, 1603; Royal Society in London, 1660; Académie Royale des Science in Paris (1666); siehe dazu: Smith 2006, S. 301–302. 16 Bronnen III, (8. August 1664), S. 196.

506 mazeutische Unterricht übernahmen bis dahin in Leiden freie Lektoren, meist Apotheker. So erhielt Nicolaes Chimaer „als ordinaris apothecaris van Godthuysen binnen Leyden“ für gehaltenen Unterricht an Studen- ten einen Lohn über 25 Gulden pro Jahr, was anzeigt, dass sein Unter- richt über einen längeren Zeitraum hinweg stattfand.17 Im November 1649 wollte ein Grossteil der Medizinstudenten durch Saias Trelcatius in Pharmazie unterrichtet werden.18 Jahre später wird auch der Präfekt des botanischen Gartens Arnold Seyen (1640–1678) neben dem Unterricht in Pflanzenkunde auch „die aufrechte Gestalt, Natur, Unterschied und Kraft von Drogen, Harzen, Säften und Früchten“ in „lebendigen Demons- trationen“ vermitteln.19 Deswegen sollte es spätestens ab 1681 zu Über- schneidungen innerhalb der Lehre kommen, da sowohl der Präfekt des Gartens wie auch derjenige des chemischen Laboratoriums Vorlesungen zur Materia medica halten werden.20 Sylvius verstand die Chemie aber als eigenständige Disziplin und nicht als reine Hilfskraft der Medizin. Doch auch in Zukunft sollte sie es schwer haben, im Kanon der Fakultäten ihren Platz zu finden. Sylvius besass ein eigenes chemisches Laboratorium.21 Es können somit wieder die gleichen Umstände ausgemacht werden, wie beispielsweise bei den frühen Naturalienkabinetten oder der Sternwar- te: Professoren und Gelehrte erwarben zunächst privat die gewünschten Exponate oder Instrumente, bevor der Unterricht in den Unterricht der Universität eingegliedert wurde und im Zuge dieser Institutionalisierung auch eigene Räumlichkeiten erhielt. Sylvius wurde aber nicht zum Prä- fekten des zu errichtenden Laboratoriums berufen. Im August 1668 be- schloss das Kuratorium Carel de Maets (Carolus Dematius, 1640–1690)22 diesen Posten zu übergeben. Zuvor unterrichtete an der Universität in Ut- recht Chemie, doch wurde ihm dort kein Laboratorium eingerichtet. Die Leidener Universität konnte ihn sicher auch durch das Versprechen, ihm ein Laboratorium zu errichten, für sich gewinnen.23 Ziel des Unterrichts in dieser neuen Räumlichkeit war es, um „tot completer luyster“ der Medi- zinfakultät den Studenten Vorlesungen zur chemischen Herstellung von Medikamenten und zudem Experimente zu „Vorgängen und Wirkungen in der Natur“ anbieten zu können. Ferner wurde beschlossen, ein geeig-

17 AC1.23, (7. Febr. 1642), f. 152r; Bronnen II, (8. Febr. 1642), Bijl. no. 647, S. 339*– 340*. 18 AC1.24, (15. Nov. 1649), f. 154r. 19 zitiert nach: Wiesenfeldt 2002, S. 72; Bronnen III, (3. Dez. 1674), S. 299. 20 Wiesenfeldt 2002, S. 202. 21 Wiesenfeldt 2002, S. 190. 22 zur Biographie: Wiesenfeldt 2002, S. 197–199. 23 Spronsen 1975, S. 337.

507 Abb. 7.1 Ansicht des Gartens im Jah- re 1675, im Hintergrund das Eingangsportal zum chemi- schen Laboratorium (Aus- schnitt).

(Kupferstich publiziert durch C. Hagen in seiner Stadtansicht Leiden, siehe: C. Hagen, Lugdunum Bata- vorum 1675.)

(Download: Rijksmuseum Amsterdam, Objektnum- mer RP-P-OB-83.036-67)

netes Haus für ein chemisches Laboratorium zu kaufen.24 Die Einrichtung eines Lehrstuhls in Chemie und eines Laboratoriums solle also explizit auch den Ruf der Universität mehren. Das Laboratorium wurde in einem kleineren Haus, welches an der Westseite des botanischen Gartens lag, eingerichtet. Just in jener Zeit be- gann nämlich die Universität Gebäude auf der Westseite des botanischen Gartens zu erwerben, um den Garten – sobald die ganze Häuserzeile in ihrem Besitz war – im Jahre 1686 erweitern zu können. Das relativ kleine Gebäude wurde somit in einer Art Zwischennutzung in einem erworbe- nen Haus mit einer Grundfläche von sieben auf fünf Metern eingerich- tet.25 In einer Abbildung Hagens wird ersichtlich, dass der Eingang in das chemische Laboratorium architektonisch aufwändig geschmückt war und auf der Hauptachse des botanischen Gartens lag, gewissermassen also mit diesem angebunden war (Abb. 7.1). Chemie war ja – wie bereits besprochen – analog zum Garten noch immer eng mit der Gewinnung von Heilmitteln verbunden.

24 Wiesenfeldt 2002, S. 192; Bronnen III, (8. Febr. 1669), S. 227–228; Bronnen III, (13. März 1669), S. 229–230. 25 Spronsen 1975, S. 341.

508 Als Knecht des Laboratoriums wurde Zacharias la Mort für 200 Gul- den jährlich angestellt. De Maets hielt im Mai 1669 seine Inauguralrede und wurde ein Jahr später zum Extraordinarius berufen, wofür er 400 Gulden Lohn erhielt. Doch war das Laboratorium aufgrund der geringen Raumgrösse – und vermutlich auch aufgrund der ursprünglich andere Funktion des Gebäudes – für die Durchführung der Experimente unge- eignet, weswegen es mittels eines Wanddurchbruchs in die im Norden angrenzende Liegenschaft eine Erweiterung erfuhr.26 De Maets unter- richtete jeweils mittwochs und samstags und erhielt für die Durchfüh- rung seiner Experimente 250 Gulden jährlich, um davon Torf, Kohlen, Schmelztiegel, aber auch Medikamente (simplicia) zu kaufen. Die im Laboratorium hergestellten Präparate durfte er zu seinem eigenen Pro- fit verkaufen.27 Nach dem Abbruch der Häuser und der Erweiterung des Gartens zog das chemische Laboratorium in ein eigens dafür errichtetes Gebäude; die Architektur konnte sich deshalb direkt den Bedürfnissen der Funktion anpassen. Nach wie vor war es von bescheidener Grösse, verfügte es nun über eine Grundfläche von fünfeinhalb mal sechs Me- ter. Der Grundriss des Gebäudes ist im Plan des botanischen Gartens von 1727 eingezeichnet (Abb. 4.32), weist als Besonderheit aber lediglich ei- nen Ofen auf.28 Zacharias von Uffenbach beschreibt dieses zweite chemi- sche Laboratorium, welches bis 1819 in Gebrauch war, wie folgt:

„Den 24. Jan. [1711] Morgens besahen wir das Laboratorium Chymi- cum Acad. Es ist hinter dem Collegio, oder Universität, wie sie es hier nennen, in de Nonnensteeg. Es ist nicht gar groß, hat auch nicht vie- le Oefen, doch einige von guter Invention, ist auch gar schön hel- le. Oben herum war ein Brett mit runden Löchern, in welchem die Retorten, mit dem Hals durchgesteckt, gar bequem ruheten, da sie sonst, wenn man sie nur legt, gar leicht herum rollen, und eine die andere herunter wirft. […] Es sind ringsherum erhöhete Bänke ge- macht, wie in einer Anatomie, darauf die Studenten sitzen, daß sie alles sehen und hören können.“29

Die Öfen – Uffenbach verwendet den Plural – und die Verwahrung der Instrumente benötigten, wie bereits erwähnt, einen definierten Raum.30 Die Beschreibung Uffenbachs reicht nicht aus, um ein detailliertes Bild

26 Wiesenfeldt 2002, S. 193; Bronnen III, (8. Mai 1670), S. 242; Bronnen III, (8. Aug. 1670), S. 243; Bronnen III, (8. Mai 1671), S. 251. 27 Wiesenfeldt 2002, S. 193; Bronnen III, (12. Jan. 1671), S. 247. 28 Spronsen 1975, S. 341–342. 29 Uffenbach 1754, S. 454–455. 30 Ein Inventar der Instrumente in: Bronnen IV, (1. Mai 1690), Bijl. no. 902, S. 23*–24*.

509 des Laboratoriums zu erhalten. Von anderen Beispielen ist aber bekannt, dass verschiedene Öfen für unterschiedliche chemische Prozesse ge- braucht wurden und dass diese mit Tüchern eingehüllt waren, um den Rauch zu sammeln und gelenkt ableiten zu können.31 Für die Lehre war zudem der Aspekt des Sehens wichtig, weswegen die Studenten auf thea- terartigen Rängen sassen. Der Bautyp des anatomischen Theaters war zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits so bekannt, dass Uffenbach ihn als Er- klärung der Einrichtung des chemischen Laboratoriums nutzen konnte. Diese Einrichtung sei ihm zufolge gewählt worden, damit die Studenten „alles sehen und hören können“ und verweist somit auf die empirische Methode des Unterrichts. Zu jener Zeit, ab 1695 um genau zu sein, unterrichtete bereits De Maets Nachfolger Jacob de la Mort (1650–1718) im Laboratorium. Dieser war seines Zeichens Apotheker.32 Wurde der Apotheker Cluyt zur Pflege und zum Unterricht innerhalb des botanischen Gartens angestellt, war es nun ebenfalls ein Apotheker, der auf den Lehrstuhl für Chemie ge- setzt wurde und in unmittelbarer Nähe zum botanischen Garten tätig war. Der Wandel der Räumlichkeiten, vom Garten ins chemische La- boratorium zeigt auch auf, wie Apotheker langsam nicht bloss in Kräu- tern nach Heilkräften suchten, sondern diese auch mittels chemischer Verfahren gewinnen wollten. Beide Orte waren für die Gewinnung von Medikamenten errichtet worden. De La Morts Vorlesungen erfreuten sich so grosser Beliebtheit, dass der kleine Raum des chemischen Laboratoriums nicht mehr ausreichte, um alle Zuhörer zu beherbergen, weswegen die Vorlesungen auch im wesentlich grösseren anatomischen Theater stattfanden.

Das physikalische Theater

Das chemische Laboratorium stellte denn auch nicht den einzigen Raum dar, worin die Naturphilosophie empirisch erforscht werden sollte. Auch das physikalische Theater setzte sich dies zum Ziel, was zu Konflikten bezüglich der Autorität und der Kompetenzen der beiden Fächer führ- te, da sie sich einer eindeutigen und einfachen Zuordnung entzogen. Das chemische Laboratorium war mit der Fakultät der Medizin verknüpft, das Physikalische Theater hingegen von Anfang an eine Einrichtung im Dienste der Naturphilosophie. Das chemische Laboratorium war zu- mindest anfangs auch als Ort der Herstellung pharmazeutischer Mittel

31 Smith 2006, S. 290–292. 32 Wiesenfeldt 2002, S. 210–223.

510 gedacht, wohingegen das physikalische Theater von Beginn an rein dem Gewinn an Erkenntnis, ohne jeglicher materieller Produktion, diente. In den ersten Jahren der Leidener Universität bestand der Unterricht in der Physik noch aus reinen Vorlesungen aus den Schriften antiker Au- toritäten, vor allem wurden die Prinzipien der aristotelischen Metaphysik vorgetragen.33 Und auch in diesem Fachbereich würde die Befreiung von dem Überlieferten Wissen aus Büchern ein langwieriger Prozess darstel- len. Es waren Willebrord Snellius und sein Nachfolger Jacob Golius, die wir als Astronomen bereits kennengelernt haben, die frühe physikalische Experimente in ihrer Rolle als Professoren der Mathematik durchführten und dabei Instrumente nutzten, um neue Erkenntnisse zu gewinnen – just so, wie es auch auf der Sternwarte notwendig war. Doch sollten noch viele Jahre vergehen, bis ein besonderer Raum dazu geschaffen wurde. Das physikalische Theater wurde durch Burchard de Volder errich- tet, der wie besprochen ebenfalls die Stelle des Präfekten der Sternwarte innehielt. Er studierte unter Sylvius, just jenem Professor also, der auch den chemischen Unterricht in Leiden initiierte. Dem Unterricht in Che- mie gegenüber war er aber nicht gerade freundlich gesinnt, kritisierte er doch das Fachgebiet. Es kam gar zu einem Streit zwischen De Mates und De Volder um die Frage, wer von den beiden für die experimentelle Naturlehre verantwortlich war, im Zuge dessen das physikalische Thea- ter errichtet wurde.34 Das chemische Laboratorium fristete daraufhin ein Schattendasein, doch wurde es beständig durch das Kuratorium unter- stützt und spiegelte „das hohe Ansehen wider, das sich die Repräsentati- onsorte der Wissenschaften [also die Bibliothek, der Garten, das Theater und die Sternwarte] und auch das chemische Laboratorium bei den Ku- ratoren erworben hatte.“35 Nicht nur in der Sternwarte setzte De Volder auf Unterricht und For- schung mittels neuester Apparate, sondern auch im Bereich der Naturphi- losophie. Auf einer Englandreise machte er Bekanntschaft mit Gelehrten der Royal Society wie Robert Boyle oder Robert Hook und mit ihrer neuen experimentellen Methode der Erkenntnis. Die dazugehörigen jüngsten wissenschaftlichen Instrumente liess De Volder in Leiden nachbauen (Abb. 7.2).36 Das Motto der Royal Society, nullius in verba, verwies auf ihr experimentelles Vorgehen und ihren kritischen Standpunkt gegenüber der schriftlicher Überlieferung. Nach seiner Rückkehr wollte er diesem

33 Zur Entstehung der experimentellen Physik und des dazugehörigen Theaters: Wie- senfeldt 2002; Pater 1975. 34 Zu dieser Problematik ausführlich Wiesenfeldt 2002. 35 Wiesenfeldt 2002, S. 219. 36 Zu seiner Biographie: Wiesenfeldt 2002, S. 54–61; zur Bedeutung der Luftpumpe und des Experiments: Shapin/Schaffer 1985.

511 Abb. 7.2 Gedankengut folgend in Leiden einen Ort der experimentellen Physik er- Instrumente für pneuma- richten, wozu er 1674 beim Kuratorium vorstellig wurde. Er erklärte, dass tische Experimente, die in Leiden zum Einsatz kamen. „durch Experimente die Wahrheit und Sicherheit der Thesen und Leh- ren gezeigt werden sollten, die den Studenten in der Physica theoretica (Nach Wiesenfeldt aus: 37 Wolferd Senguerd, Philoso- vor Augen gehalten werden“. Es ging im somit um den Abgleich und das phia naturalis […], Leiden sinnliche Erfahren theoretischer Sachverhalte mittels Experimenten. Fer- (Elsevier) 1681.) ner bat er das Kuratorium, ihm „einen Ort an die Hand zu geben, nebst (Scan aus: Gerhard Wiesen- solchen Instrumenten und weiteren Notwendigkeiten, wie die Demonst- feldt, Leerer Raum in Mi- 38 nervas Haus. Experimen- rationen es erfordern werden“. Auch hier stellte die Verwahrung der In- telle Naturlehre an der Uni- strumente und die Sicht auf die Experimente die Forderung nach einem versität Leiden, 1675–1715, passenden Raum. Er meinte zudem, dass durch einen solchen Unterricht, Amsterdam (Koninklijke Nederlandse Akademie van wie er bereits im Ausland stattfand, zahlreiche Studenten nach Leiden ge- Wetenschapen) 2002, S. 177, lockt werden könnten. Abb. 3.29.) Im Januar 1675 wurde beschlossen, ein Gebäude hinter dem Am- bulacrum für 2500 Gulden zu kaufen, um darin das gewünschte Theater einzurichten. Es handelte sich dabei um das Gebäude, das direkt hinter dem Ambulacrum und neben dem Wohnhaus des Präfekten des Gartens lag und das zeitweise durch Gronovius bewohnt wurde Das Kuratorium sprach De Volder 400 Gulden für den Einkauf von Instrumenten zu; bis

37 Zitiert nach: Wiesenfeldt 2002, S. 62. 38 Zitiert nach: Wiesenfeldt 2002, S. 62.

512 Ende des Jahres würde er gar mehr als 900 Gulden ausgeben.39 Als helfen- de Hand wurde der Diener des botanischen Gartens verpflichtet, der vor allem für die Reinigung der Instrumente zuständig war.40 Das Kuratorium beriet sich hinsichtlich der Einrichtung der Sitzplät- ze im physikalischen Auditorium.41 Es wurde wie das chemische Labo- ratorium in Form eines Theaters eingerichtet. Wiesenfeldt argumentiert, dass die gewählte Einrichtung auch eine Disziplinierung der Zuhörer mit sich brachte.42 Das physikalische Auditorium würde sich somit in die Tra- dition der anatomischen Theater einreihen, denn auch dort wurde expli- zit eine Beruhigung des Publikums angestrebt. Erneut ist es Uffenbach, der uns eine Beschreibung des physikalischen Theaters gibt:

„Wir besahen also bey dem Garten hinter der Gallerie das Laborato- rium physicum Acad. Es bestehet in einem nicht gar grossen Zimmer auf der Erde, das sonderlich vor Holland nicht gar sauber ist. Es hatte rings herum erhöhete Bäncke, wie ein Theatrum anatomicum. In der Mitte stund auch ein erhöheter Tisch. Auf diesem war eine ziemliche grosse antlia pnevmatica, noch von der alten Invention des Samuel Muschenbroecks, inclinirt mit einer cista, Wasser darein zu thun. An der Seite stunde noch eine Antlia, auch von den ersten Erfindungen, aber vertical auf einem Dreyfuß, wiewohl sehr schlecht, wie dann der Cylinder nur einen Zoll stark war. Hinter diesem Zimmer wa- ren in einem Kämmergen noch einige schlechte Instrumente, meist Recipienten zur Antlia, so aber unsauber und unter einander lagen, auch guten theils zerbrochen waren. Ein Thermometrum war auch in Stücken. Ein gläserner Tubus bey zehen Schuh lang, und zwey Zoll im Diameter, da wir aber nicht sehen konnten, wozu er diente. Eine kleine Aeolipila. Ein kleiner Sextans von Holz, den motum pende- lorum damit zu machen. Wie man und versichert, so geschehen all- hier viermal in der Wochen Lectiones publicæ von Herrn Senguerd; Herr de Volder aber habe mehr Zuhörer gehabt, er seye auch in sei- nen Experimenten curiöser gewesen. Ob es gleich in diesem Audi- torio oder Laboratorio ziemlich schlecht aussahe, so wäre doch zu wünschen, daß auf allen Universitäten dergleichen wären, und die Experimente öffentlich gemacht würden.“43

Uffenbachs Kritik zielt auf den schlechten Zustand der Sauberkeit, der

39 Wiesenfeldt 2002, S. 63. 40 Wiesenfled 2002, S. 63–64. 41 Bronnen III, (15. Aug. 1675), S. 312. 42 Wiesenfeldt 2002, S. 123–124. 43 Uffenbach 1754, S. 425–426.

513 Abb. 7.3 Ansicht des 1743 erweiter- ten Theatrum Physicum (links) und des Hauses des Präfekten des botanischen Gartens (rechts), 1743. Der oben links wiedergegebene Text war über der Eingang- stüre platziert.

(Zeichnung von J.J. Bylaert, 1743)

(Th. H. Lunsingh Scheur- leer und G.H.M. Posthu- mus Meyjes (Hg.), Leiden University in the Seven- teenth Century. An Exchan- ge of Learning, Leiden (Lei- den University Press) 1975, S. 308)

Instrumente44 und der nur bedingt populären Vorlesungen von Wolfer- dus Senguerd (1646–1724). Dieser wurde bereits 1705 als Nachfolger De Volders auserkoren, der 1709 verstarb. Senguerd kümmerte sich anschei- nend nur wenig um das physikalische Theater, hatte er doch als Professor

44 Ein Inventar der Instrumente in: Bronnen IV, (14. Nov. 1705), Bijl. no. 958, S. 104*– 106*.

514 der Philosphie und Vorsteher der Universitätsbibliothek bereits alle Hän- de voll zu tun.45 Dennoch wünschte sich Uffenbach noch im Jahre 1711, dass alle Universitäten über solche Experimentalräume verfügen sollten. Der Typus der Einrichtung war also noch nicht weit verbreitet und Leiden besass damals also nach wie vor über eine moderne und wünschenswerte Einrichtung. Die Universität konnte sich gar wiederum rühmen, die erste Hochschule Europas gewesen zu sein, die über ein solches institutiona- lisiertes physikalisches Kabinett verfügte.46 So berichtet Ellis Veryard, der 1683 in Leiden war und die Räume der empirischen Erkenntnis besuchte:

„The Studies of Law and Physick are here most in vogue, and especi- ally the latter. I have seen divers of the most celebrated Schools and Universities of Europe, but never found any where Students have more Advantages than here.“47

Er dachte hier wohl an die Räumlichkeiten, die der experimentellen und empirischen Forschung dienten und die in Leiden bereits zahlreich vor- handen waren. Es erstaunt daher nicht, dass die Leidener Universität das Modell für neugegründete Universitäten in ganz Europa wurde.

Zusammenhang der Räume Wie gezeigt wurde, waren die Professuren, Lehrgebiete und damit ein- hergehend auch die dazugehörigen Räumlichkeiten nicht streng vonein- ander getrennt. De Volder unterrichtete zugleich auf der Sternwarte und innerhalb des physikalischen Theaters, welches wie das chemische Labo- ratorium für den Unterricht in experimenteller Naturphilosophie erbaut wurde. Doch wurden im chemischen Laboratorium auch pharmazeuti- sche Produkte hergestellt, weswegen es auch zu Überschneidungen mit der Lehre innerhalb des botanischen Gartens kam. Auch in der Anatomie hielt das Experiment Einzug; bereits Pieter Pauw, Sylvius oder der Präfekt des botanischen Gartens Florentius Schuyl führten Vivisektionen durch.48 De Volder machte sich gar für eine mathe- matische, physikalische Methode zum Studium des menschlichen Kör-

45 Wiesenfeldt 2002, S. 92–94. 46 Grundlegend: Wiesenfeldt 2002, ab S. 277, insbesondere Tabelle S. 336, wonach der Universität in Leiden diejenigen in Franeker (1694), Groningen (1697), Freiburg (1698), Giessen (1700) und anderswo folgen; experimentelle Naturlehre zuvor an den Universitäten in Würzburg (1657), Kiel (1666), Edinburgh (1669), Genf (1670), Altdorf (1672) und Basel (1673), siehe dazu Wiesenfeldt 2002, Tabellen auf S. 329 und S. 331; zu berücksichtigen gilt es jedoch, dass Professoren teilweise über wohl- ausgestattete private Instrumentensammlungen verfügten und diese in Vorlesun- gen einsetzten. 47 Veryard 1701, S. 8. 48 Zu Experimenten im Fachbereich der Medizin in Leiden, siehe: Lindeboom 1975.

515 pers stark.49 So überschnitten sich die Vorlesungen De Volders im phy- sikalischen Theater auch mit denjenigen innerhalb der Anatomie, wie Gerhard Wiesenfeldt mit folgendem Beispiel aufzeigt:50 Am 11. Juni 1676 setzte er während einer Vorlesung einen kleinen Hund in den Rezipien- ten seiner Luftpumpe und entzog danach die Luft. Der Hund wurde kurz- atmig, schwoll leicht an und fiel kurz darauf um. De Volder liess daraufhin Luft in den Rezipienten strömen. Der Hund erwachte zu neuem Leben, wenn er auch etwas schwindelig auf seinen Beinen stand. De Volder wie- derholte das Experiment, liess den Hund diesmal aber sterben. Hiernach schnitt er den leblosen Körper auf, entnahm die Lunge und zeigte sie sei- nem Publikum. Das Organ war teilweise noch weiss, an anderen Stellen aber dunkelrot bis schwarz. De Volder demonstrierte, dass die weissen Teile in Wasser schwammen, die schwarzen hingegen untergingen. Die Schlussfolgerungen des gelungenen Experiments waren, dass das Ein- atmen von genügend Luft zum Überleben notwendig sei. Dieses Experi- ment hätte auch im anatomischen Theater stattfinden können.

49 Pater 1975, vor allem S. 314–27. 50 Folgendes nach Wiesenfeldt 2002, S. 118–126.

516 Teil 8 Schluss: Zusammenhang und Bedeutung der Räume

Im Laufe des 17. Jahrhunderts gelangte die Universität Leiden an die Spitze der nordeuropäischen Bildungseinrichtungen. Nicht zuletzt verdankte sie ihr Prestige und Ruhm den gebauten Einrichtungen, die in der vor- liegenden Arbeit besprochen wurden. Es dauerte zwar einige Jahrzehnte, bis die junge Universität sich etablierte und jene Räume und Forschungs- einrichtungen erstellte, die im ausgehenden 16. Jahrhundert an machen Bildungsinstitutionen bereits vorhanden waren und die in utopischen und wissenschaftlichen Schriften gefordert wurden.1 Es waren somit kei- ne Erfindungen, welche die Leidener Universität schon früh realisierte, sondern zwar neue aber bereits bekannte Bauaufgaben. Mit den Kupfer- stichen der Bibliothek, der Fechtschule, des anatomischen Theaters und des botanischen Gartens zeigte die junge Universität bereits 1610, dass sie ihren Studenten die notwendigen und neuen Forschungs- und Lehrein- richtungen anbieten konnte (Abb. 8.1). Mit der Errichtung der ersten uni- versitären Sternwarte im Jahr 1633, den späteren Laboratorien der Che- mie (1669) und Physik (1675) und der ständigen Pflege und Erweiterung der Sammlungen konnte sich die Universität an der Spitze des Gelehrten Europas halten. Die Institutionen waren gebaute Zeugen der aktuellsten Forschung und Lehre.

Leiden im internationalen Kontext Die Befreiungskriege der Niederlande gegen die Spanier führten zum Ab- zug gebildeter Personen aus den südlichen Provinzen in den Norden. Die Leidener Universität, nicht zuletzt ein Kind des Krieges, verfügte schon bald über die besten Lehrer des Landes und wurde zur wichtigsten Bil- dungseinrichtung innerhalb der nun zweigeteilten Niederlande. Auch die späteren Universitäten in Groningen, Amsterdam oder Utrecht konnten ihrer Stellung nichts anhaben. Doch auch innerhalb Europas verfügte

1 Beispielsweise: Bacon 1914; Porro 1591; zudem: Braungart 1989.

517 Leiden schon bald über eine der wichtigsten Universitäten. Die ersten Professoren der Leidener Medizinfakultät studierten al- lesamt an italienischen Universitäten, allen voran an jener in Padua, an der im ausgehenden 16. Jahrhundert nordeuropäische Studenten noch nahezu die Hälfte aller Immatrikulierter ausmachten. Dort fanden sie Einrichtungen, die im Norden Europas noch fehlten und einen eindeu- tigen Wettbewerbsvorteil darstellten, insbesondere botanische Gärten und anatomische Theater. Die ausländischen Studenten überführten die empirischen Methoden des Unterrichts und der Forschung mitsamt den dazu benötigten Bauten in ihre Heimat. Die Paduaner Universität war, wie besprochen wurde, unmittelbares Vorbild für die Errichtung des ana- tomischen Garten und des botanischen Gartens in Leiden, ja selbst für dessen Katalog diente jener der norditalienischen Universität als Muster. Leiden zog im Laufe des 17. Jahrhunderts mit den norditalienischen Universität gleich. Bei letzteren fiel gleichzeitig der Anteil an nordeuropä- ischen Studenten rapide ab. Die italienischen Universitäten versuchten daraufhin, Studenten durch gezielte Werbung anzulocken, in dem sie ihre Anlagen wie botanische Gärten oder anatomische Theater anpriesen.2 Diese Einrichtungen waren im 17. Jahrhundert jedoch nicht mehr ein Monopol der dortigen Bildungseinrichtungen, wie die Kupferstiche der Leidener Universität vor Augen führten. Zwar zog es noch immer nieder- ländische Studenten über die Alpen, doch fand man nun auch in Leiden Studenten aus Italien.3

Einzelne Personen Einige der Bauten verdankten ihre Gründung und Errichtung wenigen Personen, die teilweise aus Eigeninitiative handelten, teilweise aber auch gezielt angeworben wurden. Selbst die Bibliothek erhielt viele Donatio- nen von Professoren oder Privatpersonen, die ihren Bestand mehrten. Die Präfekten der verschiedenen Institutionen prägten massgeblich den Charakter der Räume und Sammlungen. Um den botanischen Garten errichten und bestücken zu können, suchten die Kuratoren gezielt nach Fachpersonen. Nach der missglückten Berufung Paludanus fanden sie mit Carolus Clusius und Dirk Outgaertsz. Cluyt sowohl die fachliche wie auch praktische Kompetenzen, um die Errichtung des Gartens und die darin stattfindende Lehre gewährleisten zu können. Das anatomische Theater verdankte seine Entstehung wohl Pieter Pauw, der einer jener Studenten war, der an italienischen Universitäten die praktische Anatomie und die dazugehörige neue Bauaufgabe kennenlernte und über die Alpen brach-

2 Klestinec 2004, S. 404–405. 3 Ridder-Symoens 1989.

518 te. Die Sternwarte ihrerseits fand ihren Nukleus in einem Sextanten, den Abb 8.1 Die vier Kupferstiche der Willebrord Snellius kaufte, um seinen Studenten private astronomische neusten Räume der Leide- Lektionen anbieten zu können. Erst nach seinem Tod gelangte das Inst- ner Universität. rument in den Eigentum der Universität, woraufhin ein astronomisches (Zeichnung von: Jan Cor- Observatorium erstellt wurde. nelisz. van ’t Woudt (Wou- danus), Kupferstich von: Willem Isaacsz. van Swa- Aspekte von Räumlichkeit nenburg, Herausgegeben In den vorhergehenden Kapiteln wurden verschiedene Aspekte von durch: Claes Jansz. Vis- scher (II).) Räumlichkeit untersucht. Neben der Frage, weshalb die Räume geschaf- fen wurden und wie sie konstruiert und möbliert waren, ging es zudem (Download: Rijksmuse- um, Objektnummern um die Frage der Nutzung der Räume, also um die darin stattfindende RP-P-1893-A-18089, RP- wissenschaftliche Praxis. Dazu gehörte im Falle der Sammlungsräume P-1893-A-18091, RP-P- der Aspekt der räumlichen Disposition der Exponate, die als architektoni- 1893-A-18588 und RP-P- 1893-A-18590.) sche Aufgabe verstanden wurde. Neben diesen praktischen Aspekte wie- sen die Räume unterschiedliche symbolische Bedeutungen auf. Wie im Falle der einzelnen Räume gezeigt wurde, sind diese Ebenen von Räum- lichkeiten nicht strikte voneinander zu trennen, sondern bedingen sich

519 gegenseitig: Konstruktive Aspekte stellten den Rahmen dar, in welchen die Exponate in eine räumliche Ordnung übertragen wurde, welche wie- derum dem Nutzer half, das gewünschte Objekt zu finden und untersu- chen zu können. Durch die bewusste Gegenüberstellung verschiedener Schaustücke erfuhren diese eine zusätzliche Bedeutung, welche auf den gesamten Raum übertragen wurde, da sie erst im räumlichen Zusammen- hang erfahrbar war. Auch die eigentliche Architektur der Räume konnte interpretativ ausgelegt werden. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob die einzelnen Einrichtungen auch parallel genutzt wurden, um an neue Erkenntnisse zu gelangen. Zudem stellt sich die Frage, ob bei der räumlichen Dispositi- on der verschiedenen Objekte und ihrer anschliessenden Katalogisierung ähnliche Strategien verfolgt wurden. Ferner soll beantwortet werden, in- wiefern die Räume in ihrem Zusammenhang eine symbolische Bedeu- tung erfuhren.

Der praktische Zusammenhang der Räume Viele Professoren und Studenten nutzten verschiedene Einrichtung pa- rallel, um an neue Erkenntnisse zu gelangen. Das Zentrum, um das sich die wissenschaftliche Tätigkeit drehte, war die Bibliothek. Ihre Bücher bil- deten die Grundlage für neues Wissen, welche das vorhandene ergänzte, aber auch negierte. Trotz dieses ständigen Wandels, welchem das dortige Wissen unterlag, behielt die Bibliothek ihre Rolle als Fundament des Wis- sens auch nach Etablierung der empirischen Methoden und Forschungs- einrichtungen. Denn auf Bücher konnte auch weiterhin nicht verzichtet werden, auch wenn die Royal Society in England mit ihrem Motto pa- radigmatisch den Grundsatz der Empirie verkündete: „Nulla in verba.“ Denn die Bibliothek bot einen Hort, indem die neuen Erkenntnisse durch Empirie gespeichert und der Nachwelt weitergegeben werden konnten. Nahezu alle Leidener Professoren und Studenten waren deshalb nicht nur Leser von Büchern, sondern auch deren Produzenten. Im botanischen Garten wurde zunächst der Abgleich zwischen über- lieferten Schriften und den realen Objekten, zwischen verba und res, vor- genommen. 4 Pflanzen und andere Naturalien, die durch antike Autoren beschrieben wurden, sollten aufgespürt und gesammelt werden, nicht zuletzt in der Absicht, an pharmazeutische Produkte zu gelangen. Die Anatomen und Botaniker benötigten deshalb für ihre Arbeit fachspezifi- sche Bücher. Da die Bücher der Universitätsbibliothek jedoch an Ketten lagen und ständig für die Studenten bereitliegen sollten, wurde sowohl im Ambulacrum wie auch im anatomischen Theater eigene kleinere Bü-

4 Findlen 1989.

520 chersammlungen geschaffen. Durch die Auffindung bislang unbekannter Pflanzen – zumeist aus Übersee – wurde jedoch erkannt, dass die Bücher der Bibliothek über ein nur begrenztes und oftmals auch falsches Wissen verfügten, das ergänzt und verbessert werden musste. Die Naturalien der Leidener Sammlun- gen wurden durch die Professoren zwecks eigener Forschung beschrie- ben und in Buchform publiziert. Zu nennen sind hier beispielsweise die Untersuchungen von Carolus Clusius, die oftmals auf Studien der Objek- te des anatomischen Theaters oder des Ambulacrums beruhten und in seinem Exoticorum gedruckt wurden.5 Doch wurden Objekte nicht nur beschrieben und wanderten in Buchform in die Bibliothek, auch der um- gekehrte Weg kam vor. So versuchte beispielsweise Otto Heurnius an Ob- jekte aus Übersee zu gelangen, die er nur aus schriftlichen Reiseberichten kannte.6 Mit dem Bau des Ambulacrums erfüllte sich die Universität einen Wunsch, der bereits bei der vergeblichen Berufung Paludanus bestand, nämlich die Errichtung einer Naturaliensammlung. Denn das Reich der Natur umfasste neben der Pflanzenwelt auch Mineralien und Tiere. Um alle Glieder der „grossen Kette der Wesen“ untersuchen zu können, muss- te dieser weitere Sammlungsraum geschaffen werden.7 Zudem wurden sowohl die Pflanzen wie auch die Naturalien der Galerie als Heilmittel verstanden. Das Ambulacrum und der Garten gingen deshalb eine innige Beziehung ein, die architektonisch durch ihre Nähe und Verbindung der Wegachsen auch formal ersichtlich war. Darüber hinaus stand der botanische Garten auch mit dem anato- mischen Theater in Bezug. Pieter Pauw verkörperte – zumindest zeitweise – in nur einer Person die beiden Sparten des empirischen Unterrichts der Medizin und unterrichtete während des Sommers im Garten, während des Winters hingegen im Theater. Diese Aufteilung war auch an anderen Universitäten geläufig. Wie gezeigt werden konnte, beinhaltete der bota- nische Garten Heilpflanzen zu Krankheiten, die auch im anatomischen Theater diskutiert und untersucht wurden. So konnten die Besucher des anatomischen Theaters beispielsweise Nieren- und Gallensteine analy- sieren, im Garten indessen jene Heilkräuter besichtigen, die gegen diese Krankheiten halfen. Pieter Pauw besass zudem die passende Literatur. Wie Erik de Jong aufzeigen konnte, wechselten einige Exponate zwischen Ambulacrum und anatomischen Theater hin und her.8 Zwar versammel- ten beide Räume vergleichbare Naturalien und menschliche Artefakte,

5 Siehe dazu: Jong 1991; Barge 1934. 6 Huisman 2009, S. 57–75. 7 Lovejoy 1993. 8 Jong 1991.

521 Abb. 8.2 doch kam es in der Bedeutung der Sammlung doch zu entscheidenden Die Bibliothek der Altdorfer Universität mit den von Jo- Unterschieden. hann Christoph Wagenseil Ein weiteres Kapitel des Buchs der Natur konnte auf dem astrono- nachgelassenen Büchern, mischen Observatorium besichtigt werden. Der Himmel selbst diente ge- Skeletten und Naturalien. wissermassen als Text, den es zu lesen galt. Um an die neusten kosmogra- (Kupferstich von Johann phischen Erkenntnisse zu gelangen, reichte die Sternwarte jedoch nicht Georg Puschner, publiziert in: Amoenitates Altdorfinae aus. Auch hier bedurfte man der Lektüre. So baute Jacobus Golius neben oder Eigentliche nach dem der Sternwarte auch eine orientalische Handschriftensammlung inner- Leben gezeichnete Prospec- ten der Löblichen Nürnber- halb der Bibliothek auf, die zum Ziel hatte, die jüngsten Forschungsre- gischen Universität Altdorf, sultate zur Kosmographie und Mathematik, welche im Orient entwickelt Nürnberg (Michahelles), wurden, in Leiden studieren zu können. Das Interesse an Exotica brachte um 1720, Tafel 16.) nicht nur unzählige fremdartige Tiere in die Sammlungen der Universität, (Download: http://www. sondern hinterliess auch im Firmament seine Spuren, in das ebensolche bildarchivaustria.at/, Oes- terreichische Nationalbib- Tiere gezeichnet wurden. liothek, Inventarnummer Und auch die späteren Laboratorien gingen enge Verbindungen zu KAR0503072.) den bereits vorhandenen Institutionen ein. Burchard de Volder war nicht nur der Vorsteher der Sternwarte, sondern auch der Initiator des physi- kalischen Theaters, in dem ebenfalls mit Instrumenten gearbeitet wurde, die im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung erfuhren. Für die Einrichtung seines Instituts diente ihm der Bautypus des anato- mischen Theaters als Vorbild, denn auch im neuen Laboratorium nutzte

522 man umliegende Ränge, die den Zuschauern eine möglichst freie Sicht ermöglichten. Die dort stattfindenden Experimente glichen teilweise je- nen, die im anatomischen Theater oder dem chemischen Laboratorium durchgeführt wurden. Letzteres ging seinerseits eine enge Beziehung mit den Pflanzen des botanischen Gartens ein, denn beide Einrichtungen hatten zum Ziel, pharmazeutische Präparate zur Verfügung zu stellen. Architektonisch wurde das chemische Laboratorium deswegen nahe des Gartens errichtet und – wie das Ambulacrum – architektonisch an ihn an- gebunden. Die einzelnen Institute, ihre Sammlungen und Instrumente ergänz- ten sich somit gegenseitig und wurden parallel genutzt, auch wenn sie in unterschiedlichen Lokalitäten eingerichtet wurden. In manchen Univer- sitäten wurden die Objekte verschiedener Wissenszweige in nur einem Raum verwahrt, wie beispielsweise in der Bibliothek der Altdorfer Uni- versität. Johann Christoph Wagenseil (1633–1705) vermachte ihr nicht nur einen gewichtigen Teil seiner umfangreichen Büchersammlung, sondern auch zahlreiche Naturalien und anatomische Schaustücke.9 Aufgestellt wurden alle Objekte im Raum der Bibliothek, so dass die hinterlassenen Bücher, der Kabinettsschrank mit den naturhistorischen Objekten und die Skelette in unmittelbarer Nähe zueinander standen (Abb. 8.2). Die In- szenierung der Skelette verweist direkt auf jene, die Pauw in Leiden auf- gestellt hatte. Die Nähe dieser verschiedenen Objekte resultierte wohl aus dem unmittelbaren Wunsch, den Zusammenhang des Nachlasses zu be- wahren, wozu natürlich auch ein Portrait des Gönners gehörte. Indirekt wird auf dem Kupferstich auch auf den botanischen Garten der Universi- tät verwiesen, denn auf dem Tisch beim Fenster liegt der Hortus Eychstet- tensis aus, ein reich illustriertes Pflanzenbuch, das sich bereits im Titel als papierener Garten deklariert. Da Bibliotheken in der frühen Neuzeit oft- mals die einzigen Sammlungsräume waren, bot es sich an, auch andere Objekte in ihnen zu beherbergen. Die verschiedenen wissenschaftlichen Gegenstände frühneuzeitlicher Universitäten waren somit teilweise in nur einem Raum untergebracht.10 Doch selbst wenn sie in unterschiedli- chen Räumen untergebracht waren, wie beispielsweise in Leiden, so wur- den parallel genutzt und als zusammengehörig verstanden.

Schützen und zeigen Die Sammlungsräume hatten vergleichbare Aufgaben, denn sie muss- ten verschiedene wissenschaftliche Exponate sammeln, sichern, ordnen und Interessenten zur Verfügung stellen. Dies führte zu einem grundle-

9 Sie dazu: Clark 2000. 10 Siehe dazu beispielsweise: Jörg-Ulrich Fechner, „Die Einheit von Bibliothek und Kunstkammer im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Raabe 1979, S. 11–31.

523 genden Problem: Alle Sammlungen mussten die Exponate sowohl schüt- zen als auch zeigen. Daraus resultierten nicht nur öffentlich zugängliche Räume, sondern auch notwendige Reglemente und Vorsichtsmassnah- men. Gleich zur Eröffnung der Bibliothek wurde deshalb eine Weisung gedruckt, in der neben der Verteilung der Schlüssel auch die Benutzung des Raums explizit geregelt wurde. Die Bücher lagen zudem an Ketten, um sie vor Diebstahl zu schützen. Doch verhinderte die unübersichtli- che Möblierung der späten Pultbibliothek, die das Resultat langjähriger Erweiterungen war, die Observanz der Leser. Zahlreiche Bücher wurden beschädigt, unter anderen auch ein Pflanzenbuch von Carolus Clusius, dessen ausgerissene Seiten mit den Pflanzen des Gartens verglichen wer- den konnten. Der botanische Garten erhielt neben einer Mauer ebenfalls ein Gesetz, das gut sichtbar angebracht war und neben seiner praktischen Funktion auch auf antike Vorbilder verwies. Im anatomischen Theater herrschte während der Zergliederungen eine hierarchische Verteilung des Publikums und die anatomische Sammlung konnte nur in Anwesen- heit eines Aufsehers besucht werden. Da die Reglemente des Gartens und der Bibliothek zu kurz griffen, wurden auch dort schon bald Überwacher notwendig, um die wertvollen Pflanzen und Bücher zu schützen. Gefahr erfuhren die verschiedenen Sammlungen aber auch aus den eigenen Reihen. Daniel Heinsius war grosszügig mit der Ausleihe von Büchern und Manuskripten an Bekannte und Verwandte. Zudem hat- te er grössere Mühe, die Ordnung der anwachsenden Buchbestände zu gewährleisten. Im Falle des Gartens verkaufte der Hortulanus die ihm anvertrauten Pflanzen, um seinen Verdienst aufbessern zu können. Vie- le Pflanzen vielen auch dem Streit zwischen dem Präfekten und seinem Gärtner zum Opfer. Und innerhalb des anatomischen Theaters kam es zu einem Streit darüber, ob der Diener oder der Anatom die bezahlten Ein- tritte behalten durfte. Zudem bereiteten die anatomischen Präparate wie auch einige des Ambulacrum erschwerte Bedingungen an ihre Konser- vierung.

Ordnung in Raum und Katalog Damit die Nutzer die Exponate auffinden und studieren konnten, muss- ten sie in eine nachvollziehbare Ordnung gebracht werden. Im anatomi- schen Theater und in der Galerie des Gartens konnte keine durchgehen- de wissenschaftliche Ordnung ausgemacht werden, nicht zuletzt deshalb, weil dort die Architektur keinen stringenten Rahmen vorgab, in den die Objekte eingeordnet werden konnten. Sowohl die Bibliothek wie auch der botanische Garten verfügten hingegen über eine spezifische Gestal- tung, die nichts anderes zum Ziel hatte, die versammelten Objekte in eine ordentliche Struktur zu überführen.

524 Die Pulte der Bibliothek und die Beetstreifen des Gartens bildeten architektonische Einheiten, in welchen die verschiedenen Exponate – Bücher oder Pflanzen – platziert werden konnten. Dass beide Räume aufgrund der vergleichbaren Aufgabe eine ähnliche Struktur aufwiesen, machen bereits die beiden Kupferstiche von 1610 deutlich. Denn im Fal- le der Bibliothek und des botanischen Gartens war die Disposition der Objekte entscheidend, damit die Studenten und Lehrer von einer „guten Nachbarschaft“ der Objekte profitieren konnten. Sowohl in der Bibliothek wie auch im botanischen Garten nutzte man die räumliche Anordnung der Bücher und Pflanzen, um dem Nutzer einen Mehrwert zu geben. So konnten die Leser der Bibliothek innerhalb eines Pults weitere Publikati- onen finden, die mit ihren Forschungsgebieten zu tun hatten, und der bo- tanische Garten beherbergte innerhalb seiner Streifen Pflanzen mit den gleichen Heilkräften, morphologischen Gemeinsamkeiten oder Aspekten der Schönheit und erlaubte, die einzelnen Pflanzen im Kontext studieren zu können. Die Bestände wurden aber nicht nur im Raum geordnet, sondern auch in Katalogen. Diese dienten nicht nur den Nutzer, sich einen Über- blick über den Bestand zu verschaffen und einzelne Objekte gezielt auf- finden zu können, sondern zugleich der Schulleitung als Inventar. Damit die Verbindung zwischen Katalog und Raum gewährleistet war, wurden die Exponate nicht nur katalogisiert, sondern mit einer Signatur oder Beschriftung versehen. Die Fragen, wie die räumliche Disposition von Büchern und Pflanzen in einen papierenen Katalog übertragen werden konnte und wie die Kataloge auf Veränderungen des Bestands sowie der Architektur der Räume reagieren konnten, wurden ebenfalls diskutiert. Die Kataloge dienten in der vorliegenden Arbeit deswegen nicht bloss dazu, die Disposition der Exponate rekonstruieren zu können, sondern bildeten per se Untersuchungsgegenstände. Katalog und Raum waren so eng miteinander verbunden, dass sie zu einem gewissen Grad sogar gegenseitig bedingten. So zeigt die erste Skizze der Bibliothek sowohl den Aufbau des zukünftigen Nomenclators wie auch einen schematischen Grundriss der entstehenden Bibliothek. Und bei der Umgestaltung des botanischen Gartens durch Pieter Pauw wurde bei der Einteilung der Beete darauf Rücksicht genommen, dass der Katalog möglichst einheitlich und platzsparend gedruckt werden konnte. Die Gestaltung der Räume geschah somit unter Berücksichtigung einer späteren Katalogisierung der Exponate. Neben Gemeinsamkeiten der beiden Kataloge konnten auch Unter- schiede ausgemacht werden. Die Kataloge der Bibliothek mussten we- niger häufig aktualisiert werden, als jene des botanischen Gartens. Dies war unmittelbares Resultat der verschiedenen Sammlungsgüter. Bücher

525 Abb. 8.3 als dauerhafte und schützenswerte Objekte verblieben in der Bibliothek Zwei Seiten einer Medaille: Münze der Chirurgengilde und zudem über einen längeren Zeitraum am selben Ort – nicht zuletzt und des Hortus medicus in aufgrund ihrer Signaturen. Pflanzen hingegen waren lebendige Organis- Amsterdam. men, weswegen sie sich ständig vermehrten oder starben. Der Katalog (Scan aus: D.O. Wijnands, des botanischen Gartens berücksichtigte diesen schnellen Wandel mit- E.J.A. Zevenhuizen und J. tels seiner leeren Raster, in die der Bestand eines jeden Jahres eingetragen Heniger, Een sieraad voor de stad: de Amsterdamse werden konnten. Doch änderten sich die Sammlungen auch bezüglich Hortus Botanicus 1638–1993, ihrer Grösse. Sowohl die Möblierung der Pultbibliothek wie auch die Ein- Amsterdam (Amsterdam University Press) 1994, S. teilung des Gartens erlaubten, spätere Erweiterungen einfach in den Be- 55.) stand integrieren zu können. Die hinzugekommenen Pulte und Beetstrei- fen konnten mit zusätzlichen Buchstaben oder Nummern versehen und leicht in den Gesamtzusammenhang integriert werden. Die Entwicklung der Bücherkataloge der Leidener Bibliothek zeigt den Wandel auf, den die Wissenschaften im Laufe des 17. Jahrhunderts nahmen. Die Bücher wurden anfangs noch nach dem mittelalterlichen Kanon nach den Fakultäten geordnet, doch der der Katalog von 1716 macht deutlich, dass neue Wissensgebiete entwickelt wurden. Die empi- rische Forschung hinterliess ihre Spuren auch in der Klassifikation von Wissen. Der Fachbereich der Medizin wurde unterteilt in verschiedene Sparten dieser Profession, die neuerdings auch Botanik, Chemie oder Anatomie als eigenständige Disziplinen auswies.11 Die neuen Disziplinen oder Wissenszweige fanden deshalb nicht bloss eine Verortung in reali- sierten Bauten, sondern auch im Katalog der Büchersammlung und da- mit in gedachten Wissensdispositionen.

11 Siehe das Inhaltsverzeichnis von: Senguerdius/Gronovius/Heyman 1716.

526 Die symbolische Bedeutung der Räume Die symbolische Deutbarkeit der Räume entstand sowohl aufgrund der architektonischen Gestaltung wie auch aufgrund der Sammlungsgegen- stände. Neben biblischen Vorbilder suchte man auch den Bezug zur An- tike. Die Sammlungsgegenstände wurden ebenfalls bewusst in Szene und Beziehung zueinander gesetzt, um auf das besondere Wesen der Räume zu verweisen. So zeigte die Anordnung der Bücher eine Wissenshierarchie, die seit dem Mittelalter zur Anwendung kam und eng an den universitären Unterricht geknüpft war. Die Grundlagenfächer bildeten den Anfang der Abfolge, die höheren Fakultäten das Ende, wobei die Heilige Schrift an höchster Stelle stand. Innerhalb der Bibliothek wurden aber auch Land- karten und Globen gezeigt, die deutlich machten, dass in diesem Raum gewissermassen die gesamte Welt vorhanden war, um untersucht und erforscht werden zu können. Mittels der aufgehängten Portraits von Ge- lehrten wurde zudem ersichtlich, dass in diesem Raum „die Toten eine Stimme“ erhielten, wie das wiederentdeckte Motto von Plinius d.Ä. er- klärte. Die mittelalterliche Einrichtung der Bibliothek erfuhr durch die Wiederbelebung dieser antiken Ideen eine humanistische Prägung. Da in Bibliotheken auch die Zeit überdauert werden konnte, eignete sich ihr Raum hervorragend als Ort der persönlichen Memoria. Neben gelehrtem Wissen aus Büchern war für den Aufbau der jun- gen Republik aber auch praktisches Können notwendig. Sowohl die Fechtschule wie auch die Niederdeutsche Mathematik verwiesen auf die Kraft der Waffen. Zusammen mit dem Wissen der Bücher beherbergte die Beginenkirche deswegen das Ideal von arte et marte, respektive von arma et litterae, ein weiterer Topos, der in der frühen Neuzeit geläfuig war. Die- ser kam nicht nur praktisch und ideell zur Anwendung, sondern wurde auch baulich zur Schau gestellt, wurde die Fechtschule und Niederdeut- sche Mathematik doch just unterhalb der Büchersammlung eingerichtet. Mit dem botanischen Garten und den Naturaliensammlungen stell- te sich dem überlieferten Wissen der Bibliothek die tatsächliche Welt zur Seite.12 Die Gegenüberstellung von Buch und Wort, respektive von Rati- onalität und Empirie als Modelle der Erkenntnis, wurde auch christliche gedeutet. Während in der Bibliothek die Bibel an höchster Stelle auslag, so konnte im Garten die zweite Quelle Gottes, das Buch der Natur, unter- sucht werden. Der botanische Garten verwies bereits in seiner architekto- nischen Form auf die Schöpfungsgeschichte, in dem er die Gestaltung des Garten Edens übernahm. Der Zusammenschluss von Mineralien, Pflan- zen und Tieren, die im Garten und der angrenzenden Galerie erzielt wur-

12 Jorink 2010.

527 de, zeigte den Betrachtern nicht nur Schaustücke aller Naturreiche, son- dern verwies ebenfalls auf die Schöpfungsgeschichte sowie auf die antike Idee einer grossen Seinskette aller Wesen. Das Ambulacrum des Gartens nahm zudem einen antiken Bautypus zum Vorbild und verwies durch die gewählte Architektur auf die darin stattfindende wissenschaftliche Praxis, die jene der antiken Autoritäten wiederbeleben wollte. Doch auch auf die gegenwärtige Situation der Niederlande nahm der Garten Bezug. Zu Be- ginn des 17. Jahrhunderts wurde die junge Republik als bedrohter Garten dargestellt, in dem dank der neuen Freiheit vielerlei Früchte gedeihten. Dank den weltweiten Handelsbeziehungen änderte sich diese Bild aber schon bald. Mit seinen Pflanzen aus allen Teilen der Welt verwies der Garten auf die neue politische und wirtschaftliche Macht des auftreben- den Landes. Das anatomische Theater folgte ebenfalls einem antiken Bautypus und stellte den Gegenpol zum botanischen Garten dar. Während der Gar- ten auf das Paradies verwies und mittels der dort verwahrten Pflanzen versucht wurde, Krankheiten zu heilen, so widmete sich das anatomische Theater dem Leben nach der Ursünde und der anschliessenden Vertrei- bung aus dem Paradies, wodurch Krankheit und Tod erst in die Welt ka- men. Dies zeigten auch die vermeintlichen Gebeine von Adam und Eva, die zentral auf den Rängen aufgestellt wurden. Auch die anderen Skelet- te verwiesen durch ihre Inszenierung als lebende Toten, die zudem mit Sinnsprüchen versehen waren, auf die Endlichkeit allen Lebens. Durch die Gegenüberstellung dieser anatomischen Exponate mit Bildern und anderen Kunstwerken wurde sie erneut in lesbare Zeichen verwandelt. Die dinglichen Objekte führten ihren Betrachtern christliche, mythologi- sche oder moralische Erzählungen vor Augen. Die enge Beziehung zwi- schen Text und Objekt zeigt die Tatsache, dass aus dem Skelett Adams eine Rippe entfernt wurde. Die Illustration der biblischen Erzählung war wichtiger als wissenschaftliche Akkuranz. Wie innig die Aufgaben des botanischen Gartens und des anatomi- schen Theaters verknüpft waren und wie bewusst die gegensätzlichen Bedeutungen der Räume in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts wahr- genommen wurden, zeigt eine Münze, die durch die Amsterdamer Chir- urgengilde 1658 herausgegeben wurde und den Besitzern Einlass in den botanischen Garten und das anatomische Theater gewährte Abb.( 8.3). Auf der einen Seite wird ein Skelett gezeigt, dass sowohl eine Sense wie auch eine Sanduhr in seinen Händen hält, auf der anderen Seite hingegen sieht der Betrachter eine Blumenvase gefüllt mit blühenden Pflanzen.13

13 Wijnands/Zevenhuizen/Heniger 1994, S. 55; Die Münze wurde in späteren Jahren erneut herausgegeben. Einige erhaltene Exemplare werden im Rijksmuseum in Amsterdam verwahrt.

528 Zur Darstellung der beiden Räume wurden somit Motive verwen- Abb. 8.4 det, die häufig in niederländischen Stilleben der Zeit dargestellt wurden. Vanitas-Stillleben mit Blu- men, Schädel, Buch und Claudia Swan zeigte auf, dass der Künstler Jacques de Gheyn II, der eng anderen Objekten, die auf mit Leidener Professoren – allen voran mit Pieter Pauw – zusammenar- die Endlichkeit des Lebens verweisen. beitete, nicht nur wissenschaftliche Illustrationen oder Kupfertitel, son- dern auch Gemälde fertigte.14 Seine wissenschaftlichen Illustrationen (Unbekannter Künstler, Va- nitas-Stillleben, ca. 1620.) entstanden in den Räumlichkeiten der Leidener Universität und zeigen deshalb die dortigen Exponate. Neben zahlreichen Blumen zeichnete er (Collection of the Flint Inti- mit wissenschaftlicher Präzision auch Knochen und Schädeln. Genau tute of Arts, Michigan, Ob- jektnummer 2008.42) diese Elemente zieren auch seine Stillleben, die häufig die Endlichkeit allen Lebens thematisieren. Generell sind auf den häufigen niederländi- schen Vanitas-Bildern der Zeit oftmals jene Objekte zu finden, die auch in den Räumlichkeiten der Leidener Universität lagerten und von symboli- scher Bedeutung waren. So verwiesen blühende Pflanzen auf das Leben, eine Sanduhr und ein Schädel auf die Endlichkeit desselben, und Bücher deuten auf eine Möglichkeit, auch nach dem Ableben noch in bleiben- der Erinnerung bleiben zu vermögen (Abb. 8.4). Die Werke von Jacques de Gheyn II. und anderer niederländischer Künstler dieses Jahrhunderts weisen zudem auf einen Diskurs, der innerhalb der Kunstgeschichte ge- führt wurde, nämlich jener, ob die Niederländischen Kunst des 17. Jahr-

14 Swan 2005a.

529 hunderts symbolische oder deskriptive Bilder geschaffen habe.15 Sie müs- sen wohl wie die Exponate der verschiedenen Räumlichkeiten verstanden werden und wurden nicht nur rein deskriptiv, respektive wissenschaftlich verstanden, sondern auch symbolisch. Über die Gegenstände der verschiedenen Sammlungsräume und deren bewusster Gegenüberstellung und Inszenierung erfuhren auch die Räume neben einer funktionalen und wissenschaftlichen auch eine symbolische Bedeutung. Die Räume standen nicht nur in praktischer Be- ziehung zueinander und ergänzten die stattfindende Forschung und Leh- re, sondern konnten auch in ihrem Zusammenhang symbolisch gedeutet werden, wie es auch in der Serie der vier Kupferstiche gezeigt wird.

15 Alpers 1983; zur Frage und zu weiterführenden Literatur, siehe: Jorink 2010, S. 416– 417; zudem: Ogilvie 2006, insbesondere S. 7.

530 Texte zu den Kupferstichen ame sachen zusehen: welcher name (wie auch der Kreuter im Garten) alhie zu er- Die Serie der Kupferstiche des Garten, des zehlen viel zu lang wurde sein. Jedoch wer- Theaters, der Fechtschule und der Biblio- den derselben sachen ein theil / so aus Ost thek wurde 1610 erstmals durch Andrea und West-Indien / auch andern frembden Cloucquius herausgegeben. 1611 gar er eine un fernen Landen gekommen sind / alhie zweite Auflage heraus, die durch die folgen- mit ihren Lateinischen namen furgestelt. den Texte begleitet wurden. 1644 erfolgte Es wird der vorgemelte Kreutergarten / mit eine weitere Auflage, die durch Claes Jansz. allem was drinnen ist / dermassen teglich Visscher verlegt wurden. Eine weitere Auf- mehr und mehr an frembden gewechsen lage erfuhr das Blatt des anatomischen The- / pflantzen und kreutern / durch embsige aters, welches mit einem vierspaltigen text fursorge dessen / so darzu verordnet ist / auf Deutsch ergänzt wurde. reichlich vermehret / das er nicht allein der Universitet ein grosz ornament und zierd ist / sondern auch allen Menschen / so ihn be- Botanischer Garten suchen / firnemlich aber den frembden und durchreysenden Leuten eine sonderliche Zu dem günstigen anschawer. lust und ergetzung gibt. Alhie wird dir / gunstiger Anschawer / fur augen gestelt / die grundtliche und ware Spectator Candide, abconterfeytung des gemeinen Kreutergar- Exhibetur tibi hîc vera delineatio Horti Pu- tens / so in der weitberumbten Universitet blici inclytæ Academiæ Leydensis apud zu Leyden in Hollandt / von den Edlen und Batavos, verusque eiusdem situs, prout Ehrenfesten Herrn Curatoren derselben herbis varijs, plantis, floribusque amœnis, Universitet / mit sonderlicher embsigkeyt & versicoloribus nobis a Deo ad sanitatem un grossen kosten / zu nutz und onterwei- conservandam clementer conceßis ibidem sung deren / so in der Artzney studieren / consitus conspicitur, qui magnis Nobilißß- auch Apothekern / Wundartzten / und allen imorum DD. Curatorum sumptibus loco andern Studenten und liebhabern der Kreu- amœno, apto, & salubri constitutus est in ter / in schoner / zierlicher und bequemer usum studiosorum præcipue eorum, qui ordnung / auffgerichtet worden: Aldah viel Medecinæ studijs operantur, quales sunt setzame frembde Artzneykreuter / pflant- Pharmacopolæ, Chirurgi, Medicinæ candi- zen und blumen / von mancherley art un dati & studiosi, alijque Botanicæ scientiæ farben / gefunden werden; welche ons Gott amantes. Curarunt præterea ad arcendas d’allmechtige zu erhaltung unser leibes ge- pluuias & deambulationis gratia in eodem sundtheit gnediglich mitgetheilt hat. Auch ædificari insignem porticum, in qua visun- sind daselbst in einer schonen grossen Gal- tur res haud vulgares, quarum nomina, ut lereyen / oder Spatziergange/ (so obbenan- & herbarum, plantarum & florum, quibus te H. Curatoren lassen bawen / auff das consitus est hortus hic recensere nimis foret man aldah vor dem rege sicher und trucken prolixum, quasdam tamen herbas & plan- moge spatzieren) viel und mancherley selz- tas ut & res, quæibi conspiciuntur in usum

531 Spectatorum Latinis suis nominibus expri- Apud Andream Clocquium Bibliopolam sub mi curauimus; quæ huc ex India Orientali & signo Occidentali, alijsque longe dißitis regionibus Angeli Coronati, 1611. allatæ sunt: Idem hortus multis peregrinis eiusmodi herbis & plantis magnâ & diligenti cura Inspectoris quotidie locupletatur & au- Fechtschule getur; quæ omnia maximopere faciunt ad ornamentû Academiæ, & voluptatem, & ad- An den Leser. mirationem eorum, qui huc spectandi causa Gunstiger Leser / in diesem Kupfferstuck veniunt. ist die die herlich und weitberumbte Fecht- schul zu Leyden in Hollandt (ihres gleichen Aux Spectateurs. nirgends zufinden) gleichsam lebendich Vous voiés icy Messieurs le vray plan & pour- von uns delineirt und abkonterfeyet / alles trait du Iardin public de l’Accademie de zum ende derer so sonderlich lust und liebe Leyde en Hollande, selon quil est parsemé, in der Ritterlichen Fechtkunst sich zu uben cultivé & rempli de plusieurs plantes, her- / tragen / extruirt und auffgerichtet. Welche bes & fleurs de toutes couleurs données de jetziger zeit nichts minder als vorzeiten bey Dieu aux hommes, pour l’entretenement Keyser / Konig / Fursten und Herrn hoch & conservation de leur santé. Messieurs und werth gehalten wirdt. Dahero das die- les Curateurs ont beaucoup emploié pour ser Kunst erfahrene mit sonderlichen Pri- l’avoir en lieu plaisant & commode a la Ieu- vilegien jederzeit begnadet und priuilegirt nesse notamment a ceux qui estudiêt a la worden sind; dero ansehnlichste zu Fran- Medecine, comme sont Apoticaires, Chirur- ckfurt im Collegio S. Marci jedermenniglich giens, Escholliers en Medecine, botaniques konnen furgelegt werden. Alhie wird beydes & autres, En outres ils ont fait bastir vn beau Adel und Onadel im Schwerdt / halber Stang portique pour de proumener & servir d’abri / mit zwey Rappieren zugleich / im Rappier en temps de pluie, enrichi & paré de plusi- und Punger / im Rappier allein / und Fol- eurs choses rares dont nous taisons les noms tiesiren exercirt und geubet. Und dasz das comme des herbes, plantes & fleurs dont est furnehmste ist / gnugsame anleytung der semé. ce beau parterre pour euiter pour eui- Kriegszordnung S. Excellentz Graff Moritz ter longeur, fors de quelques vnes apportées von Nassaw / etc. in Musqueten / Rohrn / des deux Indes & de quelques autres loing- das Fehnlin zu schwingen / etc. einem jeden tains pays que nous avons mises en Latin. Ce mitgetheilet und gegeben. Hiemit Gott be- Iardin enrichit & s’accroit iournellement par fohlen. la diligence de celui auquel il est commis. Et qui n’apporte pas peu d’esclat ni moins d’or- Ad Spectatorem. nement a nostre Vniversité que de plaisir & En tibi Candide Spectator, Xystum, sive d’estonnement a ceux qui viennent icy pour Ludum gladiatorium Lugdunensem in Bata- la voir. vis à nobis hic ad vivum delineatum, ibique præstantissime extructus in usum eorum LVGDGVNI BATAVORVM, qui hac nobili ac generosâ arte gladiatoriâ

532 se exercere cupiunt, arte tanquam necessa- Angeli Coronati. riâ, quæ ut nunc ita etiam & olim apud Re- ges, Principes, aliosque viros nobiles magni semper fuit æstimata, unde Lanistas sive Bibliothek hujus artis peritos multis ac varijs privile- gijs ornarunt, quorum præcipua ac etiam Tot den goetvvillighen Aenschouvver. per Cæsarem Concessa hodiè apud Franc- Hier wort u goetwillighe aenschouwer/ fordienses quiescunt in Collegio nimirum S. ende leser voor oogen ghestelt de ware Marci. Exercetur hic juuentus nobilis varijs af-beeldinghe van de openbare Bibliote- armorum generibus, videlicet, Machærâ, ecke, ofte Librie, der wyt vermaerde Vni- Xiphomachærâ, lanciâ dimidiatâ, alijsque versiteyt van Leyden in Hollant/ de welcke id generis armis hic tibi ob oculis posi- aldaer soo ten dienste van t’ghemeyne bes- tis, nec non etiam hic docetur usus Sclopi te/ als voornementlijcken voor alle gheleer- hastæ. modus denique constituendi acies, de mannen ende Studenten is op gherecht/ hodie apud Milites Ill. Principis Mauritij a welcke Biblioteecke versien/ ende ghestoo- Nassau valde familiarus. fert is/ van ontallicke vele/ ende verschey- dene heerlicke ende schoone Boucken, in Aux Spectateurs. allerley wetenschappen/ als in de Godt- Tv as ici, Ami Lecteur, le plan & le pourtrait heyt, beyde der Rechten, ende Medicijnen, de la Sale d’Escrime de la Ville & Academie als oock mede in Philosophie, Historien, de Leyden, representant naisuement l’excel- Mathematische consten ende alle andere lente structure qu’on y a fait bastir apour Faculteyten, ende dat in verscheyden talen ceux qui ont enuie de manier les armes, te weten in ’tHebreeusch, Chaldeeusch, Sy- chose qui a tousiours esté beaucoup prisée risch, Arabisch, Griecx, Latijn, Franchoys, par les anciens Rois & Princes iusqu’a priui- Italiaens, Spaensch, Hooch-ende-Neder- legier en plusieurs sortes ceux qui s’estoient duytsch,&c. bove alle welcke die gedruct zij- rendus experts & adroits en cest art comme ne/ zijn daer noch vele seltsame/ ende met les marques s’en voient encore au College de handt-gheschrevene Boucken, ende wert de S. Marc a Francfort. La jeunesse aprend de selfde Jaerlicks noch vermeerdert ende icy, a tirer de toutes sortes d’armes, comme verrijckt/ door de milde handt-reyckinghe du Sable, de L’espadon, de L’espée seule, de der E.E. Heeren Curateurs, der voorsz. Vni- L’espée & du pongnard, porter & bransler la versiteyt, ende de groote naerstige toesicht Pique, tirer du Musquet, voltiger a Cheual, des Bibliothecaris, van alle Boucken diemen la maniere de dresser une Bataille, comme weet te becomen/ mede voornementlicken fait son Excellence Mr. Le Prince Maurice de door vele verscheydene giften/ ende Legati- Nassau, & autres choses non moins neces- en/ als in t’beginsel der stichtinge geschiet saires a la Noblesse, qu’aggreables a tous. is/ door zijne Princel. Excell. Hooch-lobli- cker ghedachtenisse/ Wilhelm Prince van LVGDVNI BATAVORVM, Orangien,&c. als mede van den seer eer- Apud Andream Cloucquium, Biblopolam waerdighen/ ende in Godt-geleerden man/ [sic] sub signo Ioh. Holmannis secundus, ende van vele

533 andere treffelicke/ Gheleerde/ ende aen- bliothecarij imprimis etiam liberalioribus sienlicke Heeren ende persoonen/ welckers donationibus & Legatis magnorum virorum, namen aldaer tot een eewige gedachtenisse ut initio structuræ, Invictißimi Principis Ar- uytghedruckt staen/ ende bysonderlijcken ausionensium Guilhelmi Comitis de Nassau. noch meerder door den doorluchtigen/ wijt p. m. & Reverendi viri, Doctißimique Theo- beroemden/ ende Hoochgeleerden Heer Io- logi Iohannis Holmanni Secundi aliorum- sephus Scaliger, die de voornoemde Biblio- que præstantium virorum, quorum nomina teecke deser werelt overlijdende/ van uytne- in perpetuam memoriam typis de scripta in mende schoone Boucken, soo van Griecksche tabulis ibidem servantur; ut & Inclyti istius met de Hant-gheschrevene als van andere in Herois illustrißimique viri Iosephi Scaligeri, boven verhaelde talen/ beneffens noch van qui ex hac vita migrans multos eidem insi- Æthiopische, Persische, ende Armenische, gnes libros manuscriptos idiomate Græco, Boucken grootelycks verrijckt heeft/ staen- Aethyopico, Persico, Armenico, &c. exaratos de aldaer/ met seeckere opschrifte in een legavit, ut literis, sic libris propagandis æter- besondere Casse, tot zynder eewiger Lofen- nitati nomen suum consecraret; nam ibidem de gedachtenisse/ alwaer oock noch te sien armario seorsum inclusi cum insigni epigra- zyn/ verscheydene schoone afconterfeytin- phe in perpetuam sui memoriam custodiun- gen/ soo van zijne Princelijcke Excell. voor- tur. Conspiciuntur præterea effigies tum In- noemt/ en van Mauritius van Nassau,&c. als victißimi Principis supradicti, & Mauritij de oock van andere verscheydene treffelijck-ge- Nassau, &c. tum etiam aliorum præstantium leerde mannen/ ende Professoren. virorum & Professorum, quorum animi im- mortales in ijsdem locis loquuntur, aliaque Spectatori Candido. id genus plura. Vides hîc, Spectator Candido, veram de- lineationem Bibliothecæ Publicæ celeber- Aux Spectateurs. rimæ Academiæ Lugduno-Batavæ, prout Vous avés icy, Messieurs, vn beau, & naif in usum Reipublicæ; præcipue tamen Doc- pourtrait de la Biblioteque de l’Vniversité de torum virorum & Studiosorum publicitùs in- Leyde, selon qu’elle a esté dressée pour le stituta est, quæ ingenti numero variorum & bien de ceste Repub. mais notamment des insignium librorum Theologicorum, Iuridi- hommes Lettrès estant fournië d’un grand corum, Medicorum, Philosophicorum, His- nombre de bons livres en Theologie, Droit, toricorum, Mathematicorum, aliarumque Medecine, Philosophie, Histoire, Mathema- scientiarum & artium, ut etiam diversarum tiques, & autres Sciences & arts liberaux, en- linguarum, Hebraicæ, Chaldaicæ, Syriacæ, sembles es langues Hebraique, Chaldaique, Arabicæ, Græcæ, Latinæ, Italicæ, Gallicæ, Syrienne, Arabique, Grecque, Latine, Itali- Hispanicæ, Germanicæ, Belgicæ, &c. egre- enne, Francoyse, Espagnolle, Allemande & gie instructa est. Præter typis excusos quam Flamande. il y a aussi plusieurs Manuscripts plurimi etiam codices manuscripti reperi- outre les livres imprimés. Elle s’augmente untur; augeturque eorum numerus quotidie & s’enrichit en toutes sortes par la liberalité munificentiâ & liberalitate Nobilißimorum soigneuse & soing liberal de Mess. les Cura- Academiæ Curatorum, & diligenti cura Bi- teurs, le Bibliotecaire, & les magnifiques legs

534 de plusieurs grands Personnages. Elle fut schung des Menschlichen Leibes: Welches fort accreuë vers le temps de sa naissance eine sehr dienstliche und notige sach ist/ par seu G. Conte de Nassau, Prince d’Oran- denen/ so in der Artzney studieren/ auch ge d’eternelle memoire. & par de grand Wundartzten/ und allen denen/ so sich Theologien Iehan Holman second, & autres dergleichen wissenschafft befleiszigen. Es excellens hommes desquels les noms & legs hat solch Ananatomen[sic]-amphitheatrum imprimés & en tableau sont gardés en per- sechs ombgenge/ ie einen ober den andern: petuelle souvenance. Pareillement par les aldah man (wie aus gegenwertiger Figur zu- legs de ce grand Heros. I. de la Scale lequel sehen) stehen und sitzen kan. In dem ersten trespassant luy laissa tout ses Manuscripts und untersten ombgange sitzen de H. Pro- en langue Grecque Ætiopique, Persienne fessoren/ Edelleute/ on andere furnehme & Armenienne, a fin d’enter non moins son personen; in dem andern/ die Studenten/ nom sur l’immortalité par ces livres soig- so in der Artzney studieren: die obrige vier neusement gardés & enclos en une armoi- aber sind zu gemeinem nutz on dienste al- rie, que par ceux qu’il a enfantés & donnés ler andern studenten und zusehern/ die au monde. On void aussi au lieu plus emi- sich aldah in grosser anzahl finden lassen/ nent deux tableaux l’un du Prince d’Orange wenn ein todter Corper geanatomiert wird. & l’autre du Conte Maurice son Excellence Es sind aber auff denselbige ombgengen tirés en grand volume & de leur long, en- etzliche sceleta, oder gebeyn von todten semble de plusieurs autres Excellents per- Corpern/ so wol Mang als Weibespersonen sonnages & Professeurs desquels les noms artlich an einander gesetzet/ und in zierli- et la memoire vivent par my le monde. cher ordnung rundt omber gestellet: deren ein jedes in der hand eine zedel/ mit einem LVGDVNI BATAVORVM. schone Lateinischen Spruch fuhret. Desz- Apud Andream Cloucquium Bibliopolam gleichen sind anch[sic] daselbst andere ge- sub signo beine von mancherley vierfuszige Thieren/ Angeli Coronati, 1611. un Vogelen: als nemlich ein Pferdt/ eine Kuh/ ein Schwein/ ein Hirsch/ ein Wolff/ eine Geysz/ ein Aff / ein Pauian/ eine Katz/ Anatomisches Theater I eine Ratz/ ein Maulwurf/ ein Wiesel/ ein Adler/ und ein Schwaen. Item/ eine aufge- Zu dem günstigen Anschawer. gerbte Menschenhaut/ un dermen. Mehr ist Alhie hastu/ gunstiger Anschawer/ die aldah noch zusehen eine Almer / mit viele ware und eygentliche abbildung der Ana- mancherley Instrumenten/ so in der Anato- tomen-kammer/ so in der weitberumbten mierung gebraucht werden. Welches alles/ Universitet zu Leyden in Hollandt/ auff von allen denen/ so obgedachten Ort besu- die alte Romische art/ in der gestalt eines chen/ mit grossem verwundern/ und son- amphitheatri, von den Edlen Ehrenfesten derlicher ergetzligkeit angeschawet wird. H. Curatoren derselben Universitet mit grossen kosten/ und sonderlichem fleisze Spectatori Candido. gestiftet und auffgerichtet ist/ zur erfor- Habes hîc Spectator Candide veram de-

535 lineationem Anatomiæ Celeberrimæ Aca- coprs humain pour l’usage notamment de demiæ Lugduno-Batavæ, quæ ibidem con- ceux qui en doibuent avoir bonne cognois- spicitur more Amphiteatri [sic] Romani sance. Il a six bans en rond eslevés les uns exstructa, Locus ille a Nobilißimis eiusdem parsus les autres. Le premier & plus bas sert Academiæ DD Curatoribus sectioni corporis aux Professeurs & a ceux qui sont de qualité humani est destinatus in usum Medicinæ eminente par sus le vulgaire. Le secondaux Studiosorum & aliorum, quorum constituti- Escholliers en Medecine. Lesautres au res- onem corporis humani novisse interest; cer- te de ceux qui se trouvent la pour y voir & nis ita esse constructam ut sex subselliorum apprédre [sic] l’artificieux bastiment du corps gradus contineat in collis morem leniter aßß- humain lors qu’on fait l’Anatomie. On void urgentium; horum subselliorum infirmus aussi en ce lieu la diverses carcasses ou sce- & primus ordo vacat Professoribus, & si qui letes de divers animaux bien arrangées selon sint illustri nobilitate aut fama insignes, se- les sieges; d’hommes & femmes tenants des cundus aßignatus Studiosis Medecine; Re- estendarts avec des dictons, de Chevaux Va- liqui deserviunt usibus eorum, qui studio ches, Pourceaux, Cerfs, Loups, Cheures, Aig- videndi discendique frequentes eo conveni- les Cignes Bellettes, Cinges, Guenons Chats, unt, quo tempore Anatomia exercetur Dis- Rats, Souris, Taulpes. On void encor le cuir posita sunt apto & eleganti ordine, per singu- d’un homme preparé les Boyaux & en une los subselliorum gradus plurima diversorum arriere chambre a costé plusieurs oultils & animalium ossea cadavera (liceat ita vocare instruments necessaires a la dissection de totam istam oßium compage, quam Græ- cest ouvrage, ouy mesme au grand estonne- ci Sceleton dixere) mirabili artificio inter se ment des adsistans. connexa; tam virorum & fœminarum manu sua vexilla insignioribus sententijs ornata te- LVGDVNI BATAVORVM, nentium quâ aliorû aminalium [sic] quadru- Apud Andream Clouquium Bibliopolam sub pedum & volucrium, ut Equi, Vaccue, Porci, signo Cerui, Lupi, Capræ, Aquilæ, Cygni, Mustellæ, Angeli Coronati, 1611. Simiæ, Baviani, Felis, Gliris Muris; Talpæos- sa; visitur etiam præparata pellis humana intestinum præterea ad ipsum Anatomiæ Anatomisches Theater II ingressum in loco editiori varia instrumenta Anatomica; visuntur quæ omnia magna cum Schauw doch das wunder hie/ wah von admiratione eorum ibi spectantur, qui hunc man thut gewagen // Durch Holland unnd locum invisunt. mit dieß/ vereinicht andre phalen/ //Und was sich daran grentzt/ wol wehrt da von Aux Spectateurs. zu sagen // Bey ein groß weyt umb-kraiß/ Messieurs vous voiés icy la vraie pour trai- hie kunstig ab thut mahlen // Die Leydisch ture de l’Anatomie de Leyde en Hollande, la Anatomy, wer ist so bredt ohn dralen // Der quelle est bastie a la façon de l’amphiteatre dieses wunder ort/ auß sprechen kent mit Romain. Les Curateurs de l’Accademie ont fug // Auff ein klain schmal papir/ furwahr ordonné ceste place pour y Anatomiser le er wurde fählen // Unnd diß ort im gesicht/

536 solt abmahlen also klug // Al was die sach // Hie schneiden auff ein plaat/ wer wolts erfordert/ die khunst thut wol ihr pflichte // in reimen bringen // Ohn müglich ist zu So viel die khunst anlangt/ thut dieses hie thun (laß sich kheiner verführen) // Z’er- an leiden // Nach eigen lob/ unnd ehr/ oder denckhen solchen ort/ unnd wunderliche wer es yemahls dichte // Dieß hoch-gelehrt dingen // Mitt andre fisschen mehr/ so man Schneid-khunst/ d’ehr und beweyß von hie inden ringen // Zu reden/ alle thier/ der Leyden // Das ist so moglich nitt/ von ye- Voglen steltt im gsichte // Den reijchthumb mandt nach der khunste // Onsichtbar auß dieses Luffts/ wolt auff die thieren achten die Lufft/ so ihr solchs auß geht breyden // // Sod’ Erd hat vort gebrocht/ wol hundert Auß liebe dieses orts/ dar zu ihr tragt groß ohne Lugen // Wer wolt sie nennen hier/ gunste. wahrlich er nit kent trachten // Genugsam diese khunst/ und künstig thier mitt flugen Ein hoch/ weyt/ schon/ und groß/ durch // Auß D’wilde Landen brocht/ genugsam sihtige Rund geleich // Den Römschen mit genugen. Schau-platz oder (wie kan ichs anderst nen- nen) // Ein wunder Schauw-ort gantz/ mit Ein klaine welt hie reich/ ein sehr hoch-ge- schone ciraaden reych // In welcher Welte lehrtes perckh // Darinn wir finden uns/ ein klain/ der gröst man hier thut kennen // weyß unnd reicher schatz // Durch eins ge- Wer möcht die khunst von diß/ sag ich zu lehrten Mans/ unnd hoch lobliches werckh recht berennen // Ab mahlen wol so schon/ // Glegen bey uns garten/ ein lustig unnd Ja Goltzius weit beruhmbt, // Von vielen wehrter platz // Der Universiteit/ hoch ge- khünsten reych/ also man findt bey dennen lehrt/ unnd schon ohn fatz // Ist glegen nach // Die vor gewesen seind/ oder khummen darbey/ vorzeyten gnant merck oben // Der schon gebluhmbe // Man kent das leben Gaistlich Maegden hoff/ von welcher man selbst/ fürwahr nicht besser machen // Dan nitt genug // kan reden/ dan es ist würdig euwer geschnitten werckh/ anzeigt wer ist und hoch zu loben // Davon ich noch viel der oben // Könt schneiden was da ist/ Ja mehr/ groß ursach het mit fug // Zu prey- solche schöne sachen // Hat Mander in sein sen/ abder doch/ habs also auff geschoben buch/ gepriesen in sein leben // Soo lang // Biß auff ein ander zeyt/ mehr stoffen wol diß ort gwesen/ hatt man noch kheiner fun- kent fassen // Doch d’allerohchste ruhm/ den // Der disen schönen Schatz/ ich laß wil dißmhal lassen doben // Wan s’loben d’abbildung kleben // Khent graben/ oder würd zu viel/ ist schweigen gut mit mas- mahlen/ mit mundt auß sprechen kunden. sen // Nun muß ich eüwer lob/ O Pfauwe vol grosser ward // Geschweigen das schön Wer wolt in diß klain rundt/ was himmel werckh/ durch eüch gemacht auff Erd. und auch die Erd // Der Lufft unnd was daß Mer/ sampt alles Mehrs Reviren // Al- hie zu samen gbrocht/ gantz fleissig behal- ten werd // Von Menschen/ ihr gebaind / sampt vielerleye thieren // Wer wolt den Wall-Fisch groß/ auff bsundere manieren

537

Inventaris van de Rariteyten opde Anatomie ten. en inde twee gallerijen van des Universiteyts Item de blaes van den wijt vermaerden heer Kruythoff (AC1.228) Isaaco Casaubono, die aen D. Pau als Ana- tomico is overghesonden van een onser Die Inventare wurden vermutlich im Febru- discipulen ghenaempt Brouart tot Londen ar 1619 erstellt, da anfangs dieses Monats die bi D. Maierme wonende ende wert gheseit Kuratoren ein solches wünschten und Otto de selvige blase als nu te berusten onder D. Heurnius und Everardus Vortius beauftrag- Florentio. ten, eines zu erstellen (AC1.28, (8. Febr. 1619), Item twe Acten, een van de grootmogende f. 1r). Das erste Inventar behandelt nur jene Heeren Staten van Hollandt ende Westv- Objekte, die sich im Besitz der Nachkom- rieslandt dienende tot Authorisatie om alle men Pauws befanden, jedoch zum anato- lichamen die bi de justicie werden gheexe- mischen Theater gehörten. Dieses Inventar cuteert te moghen impetreren voor de Ana- wurde vermutlich durch Otto Heurnius er- tomie, ende syn daer af diversche exempla- stellt. Das zweite Inventar listet sowohl die ren tot kosten van de Academie ghedruckt Objekte der beiden Galerien des Gartens die noch onder de erfghenaemen van D. wie auch diejenigen des anatomischen The- Pau Sa berusten also hem oock D. Floren- aters auf. Es wurde vermutlich durch Ever- tius voorleden winter jaer mede beholpen ardus Vorstius erstellt. Die Objekte der bei- heeft, om tot Amsterdam te impetreren een den Galerien des Gartens sind bereits durch lichaem. Item noch een ander Acte van de Erik de Jong transkribiert worden, weshalb hoogmogende Heeren Staten Generael die- sie hier nicht aufgeführt werden (Jong 1991, nende om door de Bewinthebbers der Oos- S. 54–56). tindische Compaingie voor de Anatomie ende den Thuyn alle vreemdichhait te mo- gen becomen. Specificatie van diuverse saken de Ana- tomie ende Academie competerende, de welke noch berusten onder de erf- Inventaris van de Rariteyten opde Ana- ghenaemen van Doctor Pau Sa. (Ac1.228) tomie en inde twee gallerijen van des Universiteyts Kruythoff (AC1.228) In den eersten twe groote ghetoude men- schen vellen. […] Item een ghetout vel van een kint. f. 3v: Item Een hooft van een moriaen. Item een sceleton, ofte rift van een kint In Loco Anatomico. staende in een wagenschotte kasien. Item de beenderkens uyt de ooren van een Twe grote menschen vellen ghetout. mensche, Een kints velleken ghetout. ende van de tong van een mensche, ende Een sceletum van een kindeken staende in van hert van sommige beesten. De welke een kassen. onder D. Florentio werden gheseit te berus- Een moren hooft.

539 Een doosken met verscheyden beenen Twee koper Instrumenten. vant’ gehoor, ende andere. Negen spongien. Ses sceleta humana. Een Elandts huyt mette hoornen. […] Omnium aliorum sceletorum ossa Dr Paawius Academiæ Es folgt ein Liste verschiedener Pflanzen des conferrabit, D.D. Curatores botanischen Gartens und eine weitere Auf- Connectionis sumtus fulerunt. listung von solchen, die Pauw von Jan van De tien hertshoornen soo op hoofden Hout erhalten hatte. Im Anschluss daran staende, als anders heeft Dr. Paaw eine Auflistung der Arbeiten, die an seinem d’ Academie toeghedacht, al hoe wel Wohnhaus durchgeführt wurden. In einer daer voren mede niet en is betaelt. Notiz auf der hintersten Seite wird die Blase Alle de walvissche beenderen ende tanden Causabon erwähnt. komen Dr. Paaw toe. Lxxxvii ghelijste afbeeldinghen of berdekens zoo groot als kleijn, de Anatomie concernerende ende vercierende. Een groote kopere spuijt. Twe zaghen Een kleijne kopere spuijt

f. 4r: Speculum uteri. Acht scheermesser mit een ander mes. Een groote ijsere schaer. Een boor. Een chirurgyns schaer. Een nijptange. Neghen beytels. Drie houte hamers. Een ijsere hamer. xxxii ijsere instrumenten soo groot als kleijs eenighe met hechten, meer zonder hechten. Twe kopere kandelaers. Een blecke trechter. Een kopere trechterken. Drie blecke hantblakers. Twe houte lepelen. Een tinne lepel.

540 Abkürzungen Bibliographie

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