Hirokazu Kore-eda: Die gefühlte Realität SOSHITE CHICHI NI NARU (WIE DER VATER, SO DER SOHN) VATER, Dreharbeiten zu SOSHITE CHICHI NI NARU (WIE DER

Es ist eine merkwürdige Idylle, in die SHOPLIFTERS – Nestwärme dieses Refugiums nistet durchaus eine FAMILIENBANDE (MANBIKI KAZOKU, 2018) seine Zu- Bedrohung des Kindeswohls. Nobuyo und Osamu ver- schauer einführt. Die Familie Shibata lebt in heiterer bindet ein düsteres Geheimnis, dessen Aufklärung sie Verwahrlosung. Offiziell gemeldet ist an ihrem Wohnort erlösen könnte. Ihr Sohn Shota, der nun reif genug ist, nur Hatsue, deren Rente die schmale ökonomische sich aus der Amoral zu befreien, muss den Verlust der Grundlage der Gemeinschaft bildet, die sie zuweilen Geborgenheit verwinden. Der unbestechliche Humanist aber auch gern in einer Pachinko-Halle verjubelt. Die Kore-eda fällt keine Urteile, sondern hält die Verhältnis- Mutter Nobuyo hat einen schlecht bezahlten Job in ei- se bis zum Ende in der Schwebe. Seine Figuren gehen ner Wäscherei, der Vater Osamu verdingt sich als Tage- ihm dabei nicht verloren. Ihre Beweggründe mögen löhner und Aki verdient ein Zubrot in einer Peepshow. vieldeutig sein, seine Sympathie ist es nicht. Mensch- Die Haupteinnahmequelle dieses kleinen Clans aber lichkeit offenbart sich bei diesem Regisseur in den un- sind Ladendiebstähle, an denen bald auch der Neuan- erwarteten Situationen und stets ist sie komplexer, als kömmling Juri mitwirkt, ein Mädchen aus der Nachbar- man auf Anhieb denkt. schaft, das von seiner Mutter in die Winterkälte ausge- In SHOPLIFTERS, für den er in Cannes wohlverdient setzt wurde. Trotz der prekären Verhältnisse wird man die Goldene Palme erhielt, zieht der Regisseur eine Hirokazu Kore-eda den Verdacht nicht los, dass die kriminelle Energie der Zwischenbilanz seines bisherigen Schaffens. Sein Werk 53 Shibata noch weitere Ursachen hat: Der Diebstahl steckt zwar voller Wendepunkte und beschreibt unter- schafft Komplizenschaft. schiedliche Suchbewegungen (der nächste Film des Hirokazu Kore-eda schaut vorurteilslos auf das Trei- Japaners, THE TRUTH, ist ein Science-Fiction-Drama, in ben seiner Charaktere, aber sein Blick auf die sozialen dem Catherine Deneuve und Juliette Binoche die Verhältnisse ist zornig: Er erkundet die Ränder, an de- Hauptrollen spielen). Aber die Filme antworten aufein- nen die Menschlichkeit verloren zu gehen droht. Seine ander. In SHOPLIFTERS verweist das Motiv des sich Helden sind blinde Passagiere in einem Sozialstaat, der selbst überlassenen Kindes auf NOBODY KNOWS erst hinschaut, wenn es zu spät ist. Im Verlauf dramati- (DARE MO SHIRANAI, 2004); die Verbindung zweier Fa- scher Enthüllungen, die Kore-eda mit lichter Gelassen- milien aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten heit inszeniert, kommt heraus, dass die Familienver- beschäftigt Kore-eda bereits in WIE DER VATER, SO hältnisse nicht so sind, wie sie erscheinen. In der DER SOHN (SOSHITE CHICHI NI NARU, 2013), dessen Originaltitel sich mit »Endlich Vater sein« übersetzen Büros statt. Kore-eda umfängt alle Metaphysik in einer lässt – was wiederum die große Sehnsucht von Osamu wunderbaren, bestrickend konkreten Diesseitigkeit. Die benennt, der in SHOPLIFTERS eine Wahlfamilie um sich naturalistische Lichtführung, die die Nuancen der er- schart. Die Erkenntnis der erlösenden Kraft der Wahr- blassenden Spätherbstsonne einfängt, die körnigen heit schließt an seinen vorangegangenen Film DER Bilder und die sprunghafte Montage verleihen dem Film DRITTE MORD (SANDOME NO SATSUJIN, 2017) an, in einen nachgerade dokumentarischen Gestus. dem ein Anwalt zunächst nur zynische Verteidigungs- Nachdem Kore-eda 2001 mit DISTANCE (DI- strategien entwickelt, dann aber der Wahrheit auf den SUTANSU) einen Zyklus abschließt, in dem er sich mit Grund kommen will. Verlust und dem Wesen der Erinnerungen auseinander- Angefangen hat Kore-eda als Dokumentarfilmregis- setzt, findet er drei Jahre später mit NOBODY KNOWS seur beim Fernsehen. Die dokumentarische Arbeit setz- sein großes Thema: die Familie. Er nimmt die Ambiva- te er lange Zeit parallel zu seinen Spielfilmen fort. Er lenz verwandtschaftlicher Beziehungen in den Blick, die nennt dies »zwei Äste, die in verschiedene Richtungen Bestimmung oder Wahl sein können. Allerdings hat er weisen, aber dieselbe Wurzel haben«. Sein Spielfilmde- zwischendrin auch einen wunderbar zögerlichen Sa- büt DAS LICHT DER ILLUSION (MABOROSHI NO HIKARI, muraifilm gedreht, HANA (HANA YORI MO NAHO, 1995) wurde von den Erzählungen einer Witwe inspi- 2006), und mit DER DRITTE MORD einen Thriller, der riert, die ihm während der Arbeit an einer Fernsehdoku- sich – was im japanischen Kino höchst selten ist – mit mentation vom Selbstmord ihres Mannes erzählte, dem Justizsystem auseinandersetzt. Aber auch hier dessen Beweggründe ihr ein Rätsel aufgaben, an dem sind die Familienbeziehungen ein dichtes Gewebe, das sie verzweifelte. Für Yumiko, die Heldin des Films, ist die Handlung trägt. bereits der Tod ihrer Großmutter ein Verlust, den sie Die Familie ist ein Mikrokosmos, der ihm stets auch nicht verwinden konnte. Nun erblickt sie in ihrem Mann Rückschlüsse auf die Verfasstheit der japanischen Ge- deren Reinkarnation, von der sie nicht Abschied neh- sellschaft gestattet. Er ist fasziniert von den Ritualen men will. des Zusammenhalts, der Auflösung traditioneller Struk- In seinem nächsten Film, AFTER LIFE (WANDAFURU turen und dem Widerspruch der Generationen. Dabei RAIFU, 1998), spielt die Transzendenz eine ganz ande- rückt er nicht allein Blutsverwandtschaften in den Fo- re, fast komödienhafte Rolle. Eine Gruppe von Beratern kus; sein Erzählimpuls ist die Öffnung der Verhältnisse. hilft auf einer Zwischenstation zur Ewigkeit den Verstor- Wie er in WIE DER VATER, SO DER SOHN beispielsweise benen, ihre glücklichste Erinnerung für die Ewigkeit das beliebte Filmsujet der Verwechslung von Neugebo- auszuwählen, die dann für sie gefilmt wird. Dieses Fe- renen aufgreift, zeigt, welchen ungekannten Spielraum gefeuer findet in altertümlichen, staubig möblierten er dem Kino damit eröffnet. Seinem Film gebricht es an Hirokazu Kore-eda

54 KŪKI NINGYŌ () der Mechanik, zu der dieser Konflikt andere Regisseure sen, so dass – wie in einem Brennglas verdichtet – das gewiss verführt hätte. Natürlich schlägt er sich auf die Davor und das Danach betrachtet werden kann. Seite der Kinder – schließlich kann kein anderer Regis- In Kore-edas Kino herrscht ein ebenso melancholi- seur diese heutzutage so gut filmen wie er: mit dem sches wie unsentimentales Einverständnis mit dem richtigen Abstand, ohne die Behauptung der gleichen Lauf des Lebens, wie es die großen Familienmelodra- Augenhöhe und ohne ihnen erwachsene Worte in den men von Mikio Naruse und Yasujirō Ozu oder auch die Mund zu legen, dafür aber kluge Fragen –, aber er tut von Jirō Taniguchi auszeichnet. Diese Haltung es nicht um der Lösung eines dramaturgischen Prob- ist weder Resignation, noch beschwört sie eine Idylle. In lems willen, sondern voller Bewunderung für ihre Gabe, jeder Einstellung dieses Regisseurs sind Schmerz und die Widrigkeiten des Lebens zu meistern. Harmonie geborgen. Warum nur besitzen japanische Sie prägt bereits NOBODY KNOWS. Natürlich ist das Künstler diese besondere Gabe für eine tröstliche, trotz Schicksal der Geschwister, die von ihrer Mutter verlas- allem zuversichtliche Wehmut? sen werden, erschütternd und tragisch. Aber für einen Gerhard Midding Moment erleben sie auch ein Gefühl der Befreiung: Auf sich allein gestellt zu sein, ist ein Abenteuer. Kore-eda Maboroshi no hikari (Das Licht der Illusion) | verschweigt die Härten und die Unerträglichkeit dieser 1995 | R: Hirokazu Kore-eda | B: Yoshihisa Ogita, nach Situation nicht. Vielmehr bettet er sie in den Fluss des der Erzählung von Teru Miyamoto | K: Masao Nakabori | Alltäglichen ein. Für seinen Erzählstil ist bestimmend, M: Chen Ming-Chang | D: Makiko Esumi, Takashi Naitō, was man im Japanischen »gefühlte Realität« nennt: Er , Gōki Kashiyama, Naomi Watanabe, ist eminent haptisch und konkret. Kinder erfahren die Midori Kiuchi | 108 min | OmU | »Yumiko, eine 25-jäh- Welt durch ihre körperliche Sensorik. Ihre Gesten ge- rige Frau aus Osaka, heiratet mit Ikuo jenen Mann, den winnen psychologische Resonanz. Ihre Weisheit zeigt sie als Reinkarnation ihrer Großmutter wahrnimmt. Zu- sich in seinen Filmen schon allein darin, wie fasziniert sammen mit Ikuo hat sie einen Sohn, der gerade drei sie von der Mobilität sind, von Flugzeugen, Zügen, Luft- Monate alt ist, als gemeldet wird, dass der Vater sich ballons und Drachen. unter einen Vorortzug gestürzt hätte. Zurück bleibt ein Das Vorgehen des Erzählers Kore-eda lässt sich mit Schuh und das Glöcklein, das die Frau ihrem Geliebten dem des Anwalts Shigemori in DER DRITTE MORD ver- als Schlüsselanhänger geschenkt hatte. Über die Ver- gleichen. Zwar fehlt dem Regisseur dessen Argwohn, mittlung einer Nachbarin findet Yumiko fünf Jahre spä- aber auch ihm scheint kein Detail zu nebensächlich, um ter einen anderen Mann, der seinerseits die Frau verlo- nicht genau betrachtet und untersucht zu werden. Jede ren hat und mit seiner kleinen Tochter in jenem Geste, jedes Wort könnte aufschlussreich und bezeich- Fischerdorf am Meer lebt. Kore-eda setzt diesen spärli- nend sein. In seinen Filmen ist das Beiläufige essentiell. chen Handlungsfaden in meditativ wirkende Bilder um. Den Bruch, der plötzlich durch das Leben seiner Figu- Einem Subplot gleich setzt er den Ton ein, schafft so- ren geht, fängt er mit einer atmosphärischen Montage wohl mit der Musik seines taiwanesischen Komponis- der Beobachtungen auf. Sein überlegter, teilnehmender ten als auch mit ganz alltäglichen Geräuschen Raum. Blick bedarf selten des Nachdrucks der Großaufnahme, Wie das Licht im Bild scheint der Glocken-Klang im Ton vielmehr bettet er seine Figuren visuell in ihr Umfeld eine Konstante zu schaffen und die Betrachtenden zu ein. Die sanfte Konzentration seines Blicks verleiht, führen.« (Walter Ruggle) Hirokazu Kore-eda nicht nur in seinen ersten drei Filmen, auch dem Abwe-  Freitag, 26. April 2019, 21.00 Uhr senden eine bestrickende Präsenz. Von den Rissen in 55 der menschlichen Existenz erzählt er vorzugsweise im Wandafuru raifu (After Life) | Japan 1998 | R+B: Rahmen eines Zyklus', der sich vollzieht. In SHOPLIF- Hirokazu Kore-eda | K: Yutaka Yamazaki | M: Yasuhiro TERS und anderen Filmen gibt der Wechsel der Jahres- Kasamatsu | D: Arata, Erika Oda, Susumu Terajima, Ta- zeiten die Struktur vor, in AFTER LIFE erfüllt der Wo- kashi Naitō, Kyōko Kagawa, Yūsuke Iseya | 119 min | chenrhythmus diese Funktion. Die Entwicklungspro- OmU | »Etwas staubig, einfach und freundlich sieht er zesse, die er schildert, sind schwierig und langandau- aus, dieser letzte Ort vor der Ewigkeit in dem Film AF- ernd. Aber in STILL WALKING (ARUITEMO ARUITEMO, TER LIFE. Wie das Zollhäuschen eines gut gelaunten 2008) gelingt es ihm, die wichtigen Fragen des Lebens Existenzialismus, der sich längst mit metaphysischen in einem Tag zu verdichten. Der Kreis ist für ihn die Sehnsüchten und den Widersprüchen des Tatsächli- geometrische und narrative Form, die seiner Weltsicht chen ausgesöhnt hat. Hier werden frisch Verstorbene am ehesten angemessen ist. Aber er ist nicht geschlos- von einem Beraterteam in Empfang genommen, um den wichtigsten Augenblick ihres Lebens zu ermitteln, jedes Leiden am Ende einen Sinn hat, nur weil es zu ihn nachzudrehen und den Durchreisenden dann als Läuterung und zu einem Happy End führt. Man liebte ewige Erinnerung mit ins Jenseits zu geben. Der Zug an sie, aber kannte sie kaum. DISTANCE ist eine Meditati- einer Zigarette irgendwo zwischen den Fronten im on über die Ruhe und kommt so nah an diesen Zustand Zweiten Weltkrieg, das Wiedersehen mit einem Totge- selbst, wie es im Erzählkino gerade noch möglich ist. glaubten, ein Pfannkuchen in Disneyland. Je nach Be- Nach den Maßen des Mainstreamkinos wird hier alles trachter, zum Sterben schöne Augenblicke. Hirokazu falsch gemacht, und doch fühlt sich der Zuschauer Kore-edas Film ist eine konzentrierte Betrachtung der nach diesem Film frisch und wiederbelebt. Es geht ihm letzten Dinge und allerletzten Fragen. Keine Kamerabe- wie den vier Leuten im Wald: Die Ruhe aktiviert den wegung, keine Perspektive überhöht oder relativiert die Geist.« (Gunter Göckenjan) Erinnerungsprotokolle. Effektorientierte Bilder gibt es  Freitag, 3. Mai 2019, 21.00 Uhr erst bei den Studioinszenierungen der ausgewählten Momente.« (Birgit Glombitza) Dare mo shiranai (Nobody Knows) | Japan 2004 |  Sonntag, 28. April 2019, 21.00 Uhr R+B: Hirokazu Kore-eda | K: Yutaka Yamazaki | M: Gon- chichi | D: Yūya Yagira, You, Ayu Kitaura, Hiei Kimura, Disutansu (Distance) | Japan 2001 | R+B: Hirokazu Momoko Shimizu, Hanae Kan | 141 min | OmU | »Vier Kore-eda | K: Yutaka Yamazaki | D: Arata, Yūsuke Iseya, Geschwister, abgeschlossen von der Außenwelt. Zur Susumu Terajima, , Tadanobu Asano, Ryō Schule gehen sie nicht. Etwas Rätselhaftes umgibt ihr | 132 min | OmU | Eine fiktive Sekte hat die Wasserver- Leben. Eines Tages ist auch die Mutter fort. Und die vier sorgung Tokyos mit einem Virus verseucht. Hunderte beginnen, auf sich gestellt, inmitten der modernen Welt starben, Tausende wurden vergiftet. Drei Jahre später zu verwildern. Zögerlich verlassen sie ihre Wohnung, treffen sich vier Angehörige der Täter, die nach dem und eine magische Odyssee der Weltentdeckung be- Anschlag Selbstmord begingen, an dem Waldsee, über ginnt, voller Nüchternheit und Poesie. Vier Jahreszeiten dem die Asche der Toten verstreut wurde, um ihrer zu ziehen vorüber und eine Kindergeschichte, wie man sie gedenken. »Die Leute bleiben für die Nacht im Wald. selten zu sehen bekommen hat im Kino. NOBODY Sie rauchen. Reden ein wenig. Sie erinnern sich an die KNOWS ist das, was man als Meisterwerk bezeichnet, Toten, an ihre Beziehungen zu ihnen. DISTANCE ist kei- ein schlicht großartiger Film. Hirokazu Kore-eda ist ein ne jener Lehrplattitüden, die auf dem Gerüst der Hol- Stiller, dessen Geschichten sich auf den ersten Blick lywood-Dramaturgie aufgezogen werden, und in denen stark voneinander unterscheiden und beim zweiten Hirokazu Kore-eda

56 DARE MO SHIRANAI (NOBODY KNOWS) Hinschauen wiederkehrende Themen und Motive offen- Der Regisseur denkt das Leben von seiner Vergänglich- baren und eine Stringenz in der Erzählung, die ihres- keit her – und ergründet es sorgfältig im Alltäglichen, gleichen sucht. Kore-eda ist ein visueller Autor, der den wobei sein klarer Blick am ehesten an Yasujirō Ozu er- Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten des Kinos kennt innert. ›Still Walking‹ ist ein Zitat aus einem japanischen und weiß, dass dieser ganz besonders im Stillen ruht. Schlager, der 1970 en vogue war. Die damals junge Sein Kino ist denn auch ein geradezu meditatives, das Toshiko hat sich die Platte gekauft. Noch so ein Ge- einen mitträgt.« (Walter Ruggle) heimnis, das der grandiose Film in aller Beiläufigkeit  Samstag, 4. Mai 2019, 21.00 Uhr dahinsagt. Ein Film, der die Zuschauer still umspinnt, verzaubert, verhext, erlöst.« (Jan Schulz-Ojala) Hana yori mo naho (Hana) | Japan 2006 | R+B: Hiro-  Samstag, 25. Mai 2019, 21.00 Uhr kazu Kore-eda | K: Yutaka Yamazaki | M: Tablatura | D: Jun'ichi Okada, , Tadanobu Asano, Arata Kūki ningyō (Air Doll) | Japan 2009 | R+B: Hirokazu Furuta, Jun Kunimura, | 128 min | Kore-eda, nach dem von Yoshiie Gōda | K: Pin OmU | »Wer meint, ein Samuraifilm sei zwangsläufig ein Bing Lee | M: World's End Girlfriend | D: Doona Bae, Kampffilm, irrt. Hirokazu Kore-eda macht sich im Ge- Arata, Itsuji Itao, , Sumiko Fuji, Masaya Ta- genteil lustig über die Epoche, in der der ehrenvolle Tod kahashi | 116 min | OmU | Ein Mann um die vierzig mehr bedeutet hat als das Leben. Er setzt seine Ge- kehrt in einer regnerischen Nacht von seiner Arbeit als schichte in einem Kirschblütenfrühling zu Beginn des Kellner heim in seine kleine Vorortswohnung in . 18. Jahrhunderts in Szene, mitten in einer verhältnis- Er freut sich darauf, den Abend mit Nozomi zu verbrin- mäßig friedfertigen Zeit. Das gibt ihm Gelegenheit, hin- gen, einer aufblasbaren Puppe, die er sich für wenig ter die Kulissen der japanischen Gesellschaft im alten Geld gekauft hat. Mit ihr spielt er Eheleben, plaudert mit Edo zu blicken und mit einem wunderbaren Sinn für ihr am Tisch über den Arbeitstag. Im Bett knistert das sanfte Komik das Treiben zu beobachten. Gekämpft Plastik. Eines Morgens, kaum ist der Herr aus dem wird nicht und wenn, dann mal mit Schlagstöcken zum Haus, beginnt die Puppe sich zu bewegen, kleidet sich Spiel. Es gibt wenige Filme, in denen wir so viel über die und stakst hinaus auf die Straße. Sie will das Leben japanische Gesellschaft jener Epoche erfahren können entdecken und nimmt wissbegierig auf, was sie unter- in einer mehrfachen Liebesgeschichte: Das ist diese wegs zu sehen und hören bekommt. »Da ist einmal Liebe zwischen den Samurai, der eigentlich losziehen mehr die Magie, das Feingefühl, die liebevolle Ironie musste, den Tod seines Vaters zu rächen, und der von Kore-eda am Werk, sein Gespür für die menschli- traumhaft schönen Witwe Osae, da ist die Liebe zwi- che Unsicherheit und die richtigen Fragen im falschen schen ihm und ihrem Sohn, eine Vater-Sohn-Bezie- Moment. AIR DOLL ist ein Film über die Frage, was es hung, von der manches Kind träumen kann, und da ist bedeutet, ein Mensch zu sein, und was es allenfalls be- ganz einfach auch so etwas wie die Liebe zum Leben.« deutet, für andere ein Mensch zu sein. Noch lebens- (Walter Ruggle) werter aber machen das Leben ganz unzweifelhaft die  Freitag, 24. Mai 2019, 21.00 Uhr Filme von Hirokazu Kore-eda.« (Michael Sennhauser)  Freitag, 31. Mai 2019, 21.00 Uhr Aruitemo aruitemo (Still Walking) | Japan 2008 | R+B: Hirokazu Kore-eda | K: Yutaka Yamazaki | M: Gon- Kiseki (I Wish) | Japan 2011 | R+B: Hirokazu Kore-eda chichi | D: , Yui Natsukawa, You, Kazuya Ta- | K: Yutaka Yamazaki | M: Quruli | D: Kōki Maeda, Oh- Hirokazu Kore-eda kahashi, Shōhei Tanaka, | 114 min | OmU | shirō Maeda, Joe Odagiri, Yui Natsukawa, Hiroshi Abe, 57 »Eine sehr normale, weil gestörte Familienaufstellung, , Kirin Kiki | 128 min | OmeU | »Ganz und eine höchst spannende obendrein. Dabei passiert, aus der Sicht der beiden Brüder Koichi und Ryunosuke abseits mitunter messerscharf böser Sätze, die vor al- erzählt Kore-eda, wie sich eine Familie nach der Tren- lem die Alten fallen lassen, nur wenig sichtbar Dramati- nung neu zusammenraufen muss: Der Vater lebt mit sches. Es ist Sommer im hügeligen Städtchen an der dem jüngeren Sohn im Norden der japanischen Insel Küste, das Wetter ist schön, man isst gut. Doch dane- Kyushu, die Mutter ist mit dem älteren Sohn in den Sü- ben: Verwundungen, nie heilende. Neue Schläge, aus- den gezogen, nach Kagoshima, wo der aktive Vulkan geteilte, weggesteckte. Trotzdem versucht man, eine Sakurajima wie ein schlafender Drache Rauchwolken Art Liebe zu zeigen, irgendwie. Und den Blick für den ausstößt. Koichis größter Wunsch ist es, dass die Fami- Schmerz der Eltern wach zu halten. Oder wenigstens lie wieder zusammenkommt; seine größte Angst, dass den geforderten Respekt vor ihnen nicht zu verlieren. der Vulkan ausbricht. Als er erfährt, dass sich die bei- den neuen Hochgeschwindigkeitszüge – einer von Nord der Küche, beim Sprechen über ein Gericht und die nach Süd, der andere von Süd nach Nord – zum ersten damit verbundene Erinnerung, das so unterschiedliche Mal kreuzen, weiß er, was er tun muss, damit alles gut Verhältnis der jüngsten und der ältesten Schwester wird. Kore-eda nimmt sich Zeit. Wunder geschehen bei zum Vater aufscheint: die Nähe der einen und die leise ihm keine, doch der Aufbruch der beiden Brüder in Trauer und Enttäuschung der anderen. In diskret ge- Richtung Kreuzungspunkt der Züge lässt den Film ab- rahmten Einstellungen folgt Kore-eda diesen feinfühli- heben. Die Kinder bestimmen den Rhythmus, ihre Inte- gen Wesen, die auf eine völlig unpathetische Art auch ressen steuern den Blick der Kamera, und plötzlich zu unseren Schwestern im Geiste werden. Man fühlt zeigt sich die Welt der Erwachsenen als eine Möglich- sich fast ein bisschen verlassen, als der Film plötzlich keit von vielen.« (Christine Lötscher) vorbei ist.« (Katja Nicodemus)  Samstag, 1. Juni 2019, 21.00 Uhr  Samstag, 8. Juni 2019, 21.00 Uhr

Soshite chichi ni naru (Wie der Vater, so der Sohn) | Ishibumi (In Stein gemeißelt) | Japan 2015 | R+B: Japan 2013 | R+B: Hirokazu Kore-eda | K: Mikiya Taki- Hirokazu Kore-eda | K: Yutaka Yamazaki | Mit: Haruka moto | M: Jun’ichi Matsumoto | D: Masaharu Fukuya- Ayase, Akira Ikegami | 85 min | OmeU | »Neufassung« ma, , Yōko Maki, , , einer berühmten japanischen Fernsehsendung von Kirin Kiki | 121 min | OmU | »Kore-edas neuer Film er- 1969, zum Jahrestag des Atombombenabwurfs auf zählt die Geschichte zweier nach der Geburt im Kran- am 6. August 1945. 322 Schüler und vier kenhaus vertauschter Kinder und wirft dabei die Frage Lehrer arbeiteten damals ganz nahe der Explosion. Vie- auf, was eine Familie wirklich ausmacht. Die Verbun- le starben sofort. Die kurzzeitig Überlebenden sammel- denheit und Vertrautheit durch das gemeinsame Zu- ten Zeugnisse der letzten Worte und Taten ihrer toten sammenleben oder doch die Blutsbande? Stets tritt die Mitschüler, die Angehörigen schrieben diese Texte spä- Kamera einen Schritt zurück, um die Reaktionen aller ter weiter, und daraus entstand ein Buch, das in Japan Beteiligten zu registrieren: Die Verunsicherung der bei- Schullektüre wurde. Die Schauspielerin den kleinen Jungen, die plötzlich ihre richtigen Eltern liest Auszüge aus diesen Texten, der Journalist Akira kennenlernen und die gar nicht wissen, wie ihnen ge- Ikegami interviewt Familienangehörige der Opfer und schieht. Das Fremdheitsgefühl der Eltern gegenüber andere Überlebende. »Kore-edas Herangehensweise – einem Jungen, der ihr biologischer Sohn ist, den sie gleichermaßen elegisch und unsentimental – erhöht aber gar nicht kennen. Auch wenn die Totale eine Ein- dieses Material zu einer universalen Tragödie. Ayases stellung ist, die auf Distanz geht, erzeugt sie hier gera- Lesung ist nicht nur voller Sympathie, sondern lässt de Nähe zu ihren Figuren. Der Film entscheidet sich auch einen Zorn anklingen, der ohne übertriebene Dra- nicht für eine Perspektive, sondern entwickelt mit prä- matisierung einen besonderen Fokus auf die Texte wirft. zisem Blick Verständnis für alle Beteiligten. So viel Ver- Das ist nicht so sehr Lektüre als vielmehr Miterleben ständnis, dass auch der Zuschauer in das Geschehen und Zeugenschaft.« (Mark Schilling) involviert wird und sich ebenso ohnmächtig und von  Freitag, 14. Juni 2019, 21.00 Uhr den Gefühlen zerrissen fühlt, wie die Menschen auf der Leinwand« (Anke Leweke) Umi yori mo mada fukaku (Nach dem Sturm) | Ja-  Freitag, 7. Juni 2019, 21.00 Uhr pan 2016 | R+B: Hirokazu Kore-eda | K: Yutaka Yama- Hirokazu Kore-eda zaki | M: Hanaregumi | D: Hiroshi Abe, Yōko Maki, Taiyō 58 (Unsere kleine Schwester) | Japan Yoshizawa, Kirin Kiki, Lily Franky, | 2013 | R+B: Hirokazu Kore-eda, nach dem Manga von 118 min | OmeU | »Längst vergangen ist der Ruhm des | K: Mikiya Takimoto | M: Yōko Kanno | D: preisgekrönten Schriftstellers Ryota, der, permanent Haruka Ayase, Masami Nagasawa, , , knapp bei Kasse, seinen elfjährigen Sohn öfter sehen Kirin Kiki, Lily Franky | 128 min | OmU | »Kore-edas Film möchte und dafür das Vertrauen seiner Ex-Frau wieder- übernimmt die episodische Form der Vorlage. Mit zugewinnen sucht. Hirokazu Kore-eda zelebriert in die- leichtfüßigen Sprüngen kann er so die verschiedensten sem jüngsten Familienstück zweistündigen Ereignis- Ebenen verbinden: Den Schul- und Berufsalltag, die Minimalismus: Damit holt er die Erzählung gleichsam Liebesgeschichten und Flirts von vier jungen Frauen im auf das Maß des Alltäglichen herunter. Denn was pas- modernen Japan. Und ihre kleinen und großen Rituale. siert schon vieles in einem gewöhnlichen Leben. Selbst Immer wieder kann man nur staunen darüber, wie we- der Kulminationspunkt des Films, als ein Sturm die ge- nig es hier braucht, um alles zu erzählen. Etwa wenn in trennte Familie dazu zwingt, bei Ryotas Mutter eine Nacht zusammen unter einem Dach zu verbringen, ist stille Thriller über die Unausschöpflichkeit der Wahrheit eigentlich kein Ereignis, sondern scheint zumindest in zu einer tiefen Verbeugung vor dem japanischen Alt- Japan vielmehr ins Möglichkeitsrepertoire des Alltags meister Akiro Kurosawa und seinem thematisch ver- zu gehören. Es ist denn auch der zwischenmenschliche wandten, nicht minder komplexen Meisterwerk RASHO- Austausch im mikroskopisch Kleinen der Gesten, Blicke MON.« (Alfred Schlienger) und Worte: von Vater und Sohn, von Sohn und Mutter,  Freitag, 21. Juni 2019, 21.00 Uhr von Enkel und Großmutter, von Ex-Mann und Ex-Frau, der diesen Film ausmacht – und uns die Qualität des Manbiki kazoku (Shoplifters – Familienbande) | Ja- Ereignislosen entdecken lässt: gerade auch fürs eigene pan 2018 | R+B: Hirokazu Kore-eda | K: Ryūto Kondō | Leben.« (Philipp Meier) M: Haruomi Hosono | D: Lily Franky, Sakura Andō, Mayu  Samstag, 15. Juni 2019, 21.00 Uhr Matsuoka, Kirin Kiki, Kairi Jō, Miyu Sasaki | 121 min | OmU | »Im Zentrum stehen die Shibatas, die im Häus- Sandome no satsujin (Der dritte Mord) | Japan 2017 chen der Großmutter wohnen. Gemeinsam leben Oma, | R+B: Hirokazu Kore-eda | K: Mikiya Takimoto | M: Lu- Vater, Mutter, Schwägerin und Enkel in einem Raum, dovico Einaudi | D: , Kōji Yakusho, vollgestopft mit Nahrungsmitteln, Geschirr, Kleidern. Suzu Hirose, Yuki Saitō, Kōtarō Yoshida, Shinnosuke Das Essen stammt von Diebeszügen, die der Vater mit Mitsushima | 124 min | OmeU | »Welch wunderbar kon- dem zwölfjährigen Sohn unternimmt. Es sind Ausflüge sequenter Film für Menschen, die sich im Kino gerne von stiller Eleganz, choreografiert nach den Achsen von auf so subtile wie packende Art verwirren lassen. Alles Supermarktgängen und den Blickrichtungen der Kas- scheint erschreckend klar zu Beginn. In der ersten Mi- sierer. Eines Tages gesellt sich ein vierjähriges miss- nute sehen wir, wie ein Mann einen andern erschlägt handeltes Mädchen aus der Nachbarschaft zu den und dessen Leiche verbrennt. Wir hören sein nüchter- Shibatas. Die Kleine hat Hunger, und sie bleibt. Mit flie- nes Geständnis gegenüber dem Anwalt, der ihn vertei- ßenden, behutsamen Kamerabewegungen zeigt Ko- digen soll. Vor dreißig Jahren hatte er schon einmal ei- re-eda, wie das Kind in das pragmatische, aber eben nen Doppelmord verübt an zwei Kredithaien und ist nur auch liebevolle Zusammenleben der Familie eingefügt knapp der Todesstrafe entgangen. Hirokazu Kore-eda wird: mit genervten Blicken, nachsichtigen Gesten, klei- erzählt diese dunklen Bewegungen der Suche nach der nen Schimpfereien, zunehmender Zärtlichkeit. Aber Wahrheit in immer neuen raffinierten Twists und Dre- warum nur scheint sich niemand Gedanken darüber zu hungen. Am Schluss ist alles höchst erhellend unklar. machen, dass die rein emotionale Adoption auch War es Rache? Oder Raubmord? Oder ist der Täter gar Schwierigkeiten bringen könnte?« (Katja Nicodemus) zum Mord angestiftet worden? Nicht zuletzt wird dieser  Samstag, 22. Juni 2019, 21.00 Uhr Hirokazu Kore-eda

59 MANBIKI KAZOKU (SHOPLIFTERS – FAMILIENBANDE)