Hirokazu Kore-Eda: Die Gefühlte Realität SOSHITE CHICHI NI NARU (WIE DER VATER, SO DER SOHN) VATER, Dreharbeiten Zu SOSHITE CHICHI NI NARU (WIE DER
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Hirokazu Kore-eda: Die gefühlte Realität SOSHITE CHICHI NI NARU (WIE DER VATER, SO DER SOHN) VATER, SOSHITE CHICHI NI NARU (WIE DER Dreharbeiten zu Es ist eine merkwürdige Idylle, in die SHOPLIFTERS – Nestwärme dieses Refugiums nistet durchaus eine FAMILIENBANDE (MANBIKI KAZOKU, 2018) seine Zu- Bedrohung des Kindeswohls. Nobuyo und Osamu ver- schauer einführt. Die Familie Shibata lebt in heiterer bindet ein düsteres Geheimnis, dessen Aufklärung sie Verwahrlosung. Offiziell gemeldet ist an ihrem Wohnort erlösen könnte. Ihr Sohn Shota, der nun reif genug ist, nur Hatsue, deren Rente die schmale ökonomische sich aus der Amoral zu befreien, muss den Verlust der Grundlage der Gemeinschaft bildet, die sie zuweilen Geborgenheit verwinden. Der unbestechliche Humanist aber auch gern in einer Pachinko-Halle verjubelt. Die Kore-eda fällt keine Urteile, sondern hält die Verhältnis- Mutter Nobuyo hat einen schlecht bezahlten Job in ei- se bis zum Ende in der Schwebe. Seine Figuren gehen ner Wäscherei, der Vater Osamu verdingt sich als Tage- ihm dabei nicht verloren. Ihre Beweggründe mögen löhner und Aki verdient ein Zubrot in einer Peepshow. vieldeutig sein, seine Sympathie ist es nicht. Mensch- Die Haupteinnahmequelle dieses kleinen Clans aber lichkeit offenbart sich bei diesem Regisseur in den un- sind Ladendiebstähle, an denen bald auch der Neuan- erwarteten Situationen und stets ist sie komplexer, als kömmling Juri mitwirkt, ein Mädchen aus der Nachbar- man auf Anhieb denkt. schaft, das von seiner Mutter in die Winterkälte ausge- In SHOPLIFTERS, für den er in Cannes wohlverdient setzt wurde. Trotz der prekären Verhältnisse wird man die Goldene Palme erhielt, zieht der Regisseur eine Hirokazu Kore-eda den Verdacht nicht los, dass die kriminelle Energie der Zwischenbilanz seines bisherigen Schaffens. Sein Werk 53 Shibata noch weitere Ursachen hat: Der Diebstahl steckt zwar voller Wendepunkte und beschreibt unter- schafft Komplizenschaft. schiedliche Suchbewegungen (der nächste Film des Hirokazu Kore-eda schaut vorurteilslos auf das Trei- Japaners, THE TRUTH, ist ein Science-Fiction-Drama, in ben seiner Charaktere, aber sein Blick auf die sozialen dem Catherine Deneuve und Juliette Binoche die Verhältnisse ist zornig: Er erkundet die Ränder, an de- Hauptrollen spielen). Aber die Filme antworten aufein- nen die Menschlichkeit verloren zu gehen droht. Seine ander. In SHOPLIFTERS verweist das Motiv des sich Helden sind blinde Passagiere in einem Sozialstaat, der selbst überlassenen Kindes auf NOBODY KNOWS erst hinschaut, wenn es zu spät ist. Im Verlauf dramati- (DARE MO SHIRANAI, 2004); die Verbindung zweier Fa- scher Enthüllungen, die Kore-eda mit lichter Gelassen- milien aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten heit inszeniert, kommt heraus, dass die Familienver- beschäftigt Kore-eda bereits in WIE DER VATER, SO hältnisse nicht so sind, wie sie erscheinen. In der DER SOHN (SOSHITE CHICHI NI NARU, 2013), dessen Originaltitel sich mit »Endlich Vater sein« übersetzen Büros statt. Kore-eda umfängt alle Metaphysik in einer lässt – was wiederum die große Sehnsucht von Osamu wunderbaren, bestrickend konkreten Diesseitigkeit. Die benennt, der in SHOPLIFTERS eine Wahlfamilie um sich naturalistische Lichtführung, die die Nuancen der er- schart. Die Erkenntnis der erlösenden Kraft der Wahr- blassenden Spätherbstsonne einfängt, die körnigen heit schließt an seinen vorangegangenen Film DER Bilder und die sprunghafte Montage verleihen dem Film DRITTE MORD (SANDOME NO SATSUJIN, 2017) an, in einen nachgerade dokumentarischen Gestus. dem ein Anwalt zunächst nur zynische Verteidigungs- Nachdem Kore-eda 2001 mit DISTANCE (DI- strategien entwickelt, dann aber der Wahrheit auf den SUTANSU) einen Zyklus abschließt, in dem er sich mit Grund kommen will. Verlust und dem Wesen der Erinnerungen auseinander- Angefangen hat Kore-eda als Dokumentarfilmregis- setzt, findet er drei Jahre später mit NOBODY KNOWS seur beim Fernsehen. Die dokumentarische Arbeit setz- sein großes Thema: die Familie. Er nimmt die Ambiva- te er lange Zeit parallel zu seinen Spielfilmen fort. Er lenz verwandtschaftlicher Beziehungen in den Blick, die nennt dies »zwei Äste, die in verschiedene Richtungen Bestimmung oder Wahl sein können. Allerdings hat er weisen, aber dieselbe Wurzel haben«. Sein Spielfilmde- zwischendrin auch einen wunderbar zögerlichen Sa- büt DAS LICHT DER ILLUSION (MABOROSHI NO HIKARI, muraifilm gedreht, HANA (HANA YORI MO NAHO, 1995) wurde von den Erzählungen einer Witwe inspi- 2006), und mit DER DRITTE MORD einen Thriller, der riert, die ihm während der Arbeit an einer Fernsehdoku- sich – was im japanischen Kino höchst selten ist – mit mentation vom Selbstmord ihres Mannes erzählte, dem Justizsystem auseinandersetzt. Aber auch hier dessen Beweggründe ihr ein Rätsel aufgaben, an dem sind die Familienbeziehungen ein dichtes Gewebe, das sie verzweifelte. Für Yumiko, die Heldin des Films, ist die Handlung trägt. bereits der Tod ihrer Großmutter ein Verlust, den sie Die Familie ist ein Mikrokosmos, der ihm stets auch nicht verwinden konnte. Nun erblickt sie in ihrem Mann Rückschlüsse auf die Verfasstheit der japanischen Ge- deren Reinkarnation, von der sie nicht Abschied neh- sellschaft gestattet. Er ist fasziniert von den Ritualen men will. des Zusammenhalts, der Auflösung traditioneller Struk- In seinem nächsten Film, AFTER LIFE (WANDAFURU turen und dem Widerspruch der Generationen. Dabei RAIFU, 1998), spielt die Transzendenz eine ganz ande- rückt er nicht allein Blutsverwandtschaften in den Fo- re, fast komödienhafte Rolle. Eine Gruppe von Beratern kus; sein Erzählimpuls ist die Öffnung der Verhältnisse. hilft auf einer Zwischenstation zur Ewigkeit den Verstor- Wie er in WIE DER VATER, SO DER SOHN beispielsweise benen, ihre glücklichste Erinnerung für die Ewigkeit das beliebte Filmsujet der Verwechslung von Neugebo- auszuwählen, die dann für sie gefilmt wird. Dieses Fe- renen aufgreift, zeigt, welchen ungekannten Spielraum gefeuer findet in altertümlichen, staubig möblierten er dem Kino damit eröffnet. Seinem Film gebricht es an Hirokazu Kore-eda 54 KŪKI NINGYŌ (AIR DOLL) der Mechanik, zu der dieser Konflikt andere Regisseure sen, so dass – wie in einem Brennglas verdichtet – das gewiss verführt hätte. Natürlich schlägt er sich auf die Davor und das Danach betrachtet werden kann. Seite der Kinder – schließlich kann kein anderer Regis- In Kore-edas Kino herrscht ein ebenso melancholi- seur diese heutzutage so gut filmen wie er: mit dem sches wie unsentimentales Einverständnis mit dem richtigen Abstand, ohne die Behauptung der gleichen Lauf des Lebens, wie es die großen Familienmelodra- Augenhöhe und ohne ihnen erwachsene Worte in den men von Mikio Naruse und Yasujirō Ozu oder auch die Mund zu legen, dafür aber kluge Fragen –, aber er tut Mangas von Jirō Taniguchi auszeichnet. Diese Haltung es nicht um der Lösung eines dramaturgischen Prob- ist weder Resignation, noch beschwört sie eine Idylle. In lems willen, sondern voller Bewunderung für ihre Gabe, jeder Einstellung dieses Regisseurs sind Schmerz und die Widrigkeiten des Lebens zu meistern. Harmonie geborgen. Warum nur besitzen japanische Sie prägt bereits NOBODY KNOWS. Natürlich ist das Künstler diese besondere Gabe für eine tröstliche, trotz Schicksal der Geschwister, die von ihrer Mutter verlas- allem zuversichtliche Wehmut? sen werden, erschütternd und tragisch. Aber für einen Gerhard Midding Moment erleben sie auch ein Gefühl der Befreiung: Auf sich allein gestellt zu sein, ist ein Abenteuer. Kore-eda Maboroshi no hikari (Das Licht der Illusion) | Japan verschweigt die Härten und die Unerträglichkeit dieser 1995 | R: Hirokazu Kore-eda | B: Yoshihisa Ogita, nach Situation nicht. Vielmehr bettet er sie in den Fluss des der Erzählung von Teru Miyamoto | K: Masao Nakabori | Alltäglichen ein. Für seinen Erzählstil ist bestimmend, M: Chen Ming-Chang | D: Makiko Esumi, Takashi Naitō, was man im Japanischen »gefühlte Realität« nennt: Er Tadanobu Asano, Gōki Kashiyama, Naomi Watanabe, ist eminent haptisch und konkret. Kinder erfahren die Midori Kiuchi | 108 min | OmU | »Yumiko, eine 25-jäh- Welt durch ihre körperliche Sensorik. Ihre Gesten ge- rige Frau aus Osaka, heiratet mit Ikuo jenen Mann, den winnen psychologische Resonanz. Ihre Weisheit zeigt sie als Reinkarnation ihrer Großmutter wahrnimmt. Zu- sich in seinen Filmen schon allein darin, wie fasziniert sammen mit Ikuo hat sie einen Sohn, der gerade drei sie von der Mobilität sind, von Flugzeugen, Zügen, Luft- Monate alt ist, als gemeldet wird, dass der Vater sich ballons und Drachen. unter einen Vorortzug gestürzt hätte. Zurück bleibt ein Das Vorgehen des Erzählers Kore-eda lässt sich mit Schuh und das Glöcklein, das die Frau ihrem Geliebten dem des Anwalts Shigemori in DER DRITTE MORD ver- als Schlüsselanhänger geschenkt hatte. Über die Ver- gleichen. Zwar fehlt dem Regisseur dessen Argwohn, mittlung einer Nachbarin findet Yumiko fünf Jahre spä- aber auch ihm scheint kein Detail zu nebensächlich, um ter einen anderen Mann, der seinerseits die Frau verlo- nicht genau betrachtet und untersucht zu werden. Jede ren hat und mit seiner kleinen Tochter in jenem Geste, jedes Wort könnte aufschlussreich und bezeich- Fischerdorf am Meer lebt. Kore-eda setzt diesen spärli- nend sein. In seinen Filmen ist das Beiläufige essentiell. chen Handlungsfaden in meditativ wirkende Bilder um. Den Bruch, der plötzlich durch das Leben seiner Figu- Einem Subplot gleich setzt er den Ton ein, schafft so- ren geht, fängt er mit einer atmosphärischen Montage wohl mit der Musik seines taiwanesischen