MONDRIAN von lüttichau

briefe an MARTIN

Mondrian v. lüttichau - Briefe an martin www.autonomie-und-chaos.de

© 2009 VERLAG AUTONOMIE & CHAOS LEIPZIG Mondrian W. Graf v. Lüttichau (c) der briefauszüge von martin: MC

ISBN 978-3-923211-51-7

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Martin und ich waren 1971-73 zusammen im internat. Er war 13-15 jahre alt, ich 19-21. In unserer 'internatskommune' (siehe: 'WIR INTERNATLER' I und II) hat er angefangen zu malen; später wurde er bildender künstler. – Die begegnung mit martin hat mir viel bedeutet, schon während der internatszeit und auch innerhalb unseres briefwechsels in den jahren danach; gerechtwerden konnte ich ihm nicht. Dazu waren wir schon damals zu sehr auf unserem je eigenen und sehr unterschiedlichen lebensweg. Wir haben ei nander wohl beide gut gebrauchen können als katalysatoren für reflexion, für die wir sonst keine partner hatten. Im verständnis füreinander sind wir, das wurde mir erst später deutlich, meist nur grad so aneinander entlang geschrammt. Zu einem großen teil waren unsere briefe monologe. Beide wußten wir noch viel zu wenig von uns selbst, von unseren je eigenen lebensaufgaben, und wir hatte beide gar nicht die muße und nicht die kraft, intensiver auf den anderen einzugehen. Beide mußten wir damals mit ziemlich monomaner dynamik mauern durchstoßen, verschiedene mauern, auf unterschiedlichen wegen. – Deshalb sind dies hier nur 'briefe an martin' (mit kurzen passagen aus den seinen). Martins vollständige briefe existieren, und vieles von dem, was er mir geschrieben hat, verstehe ich wohl heute noch nicht – oder bin mir zumindest unsicher. – Unser briefwechsel war ein dschungel aus assoziationen, berichten, gedanken, hinweisen, kommentaren und mißverständnissen; auch meine briefe sind im original wesentlich umfangreicher. Den hier vorliegenden auszug habe ich etwa 1988 angefertigt. Dabei habe ich unseren briefwechsel gewissermaßen ausgeschlachtet, um eine wegstrecke meiner entwicklung zu verdeutlichen – vom ende der internatlerkommune bis zur übersiedlung nach elberfeld – für die es sonst wenige zeugnisse gibt.. Die tagebücher jener zeit hatte ich irgendwann ungelesen vernichtet; aus den jahren mit gise, voller liebe und nichtverstehen, verzweiflung und hilflosigkeit und sorge konnte ich kein buch machen – ich konnte die tagebücher nicht mal mehr lesen. Mit 'TRAUER, LIEBE & UNENDLICHKEIT' ging es dann weiter bei den (tage-)büchern.

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20. juli 73 * Mondrian an martin

C'est la monde et sa population. Toute cette est très inflammable. Quelque chose de cette feuille est déjà flambée. C'est le danger. – Ich las das vorhin auf einem deiner bilder (fumage + aquarell) – und ich wollte dir schreiben: daß es schade ist, daß wir nie aus einer bestimmten art kommunikation herauskamen, obwohl wir beide wußten, daß es andere formen für uns geben könnte.. – Das ganze letzte jahr im internat hätte ich dir so oft sagen wollen: ich versteh dich – aber es ging nicht, ich weiß nicht wieso. Ich sehe mir in letzter zeit oft bilder von dir an, und jetzt, wo es nicht mehr bilder von einem (einem von vielen!) aus der kommune sind, lese ich die BRIEFE, die sie zugleich immer sind. Du hast einmal irgendwo geschrieben, "Malen ist experimentieren mit der Vorstellung von Malerei" – das sehe ich jetzt überall in deinen bildern. Leben ist für dich aber auch experimentieren mit der vorstellung von der welt, kann das sein? Man merkt meinem leben nicht sehr an, daß jede minute experiment und versuch ist, aber deinem wohl auch nicht. Dich halten recht viele für reifer im sinne von erwachsener – das bist du aber nicht. Sofern mensch (was wohl nötig ist) erwachsensein gleichsetzt mit 'auf-einem-festen-gleis'. Es ist nur eine gefahr bei dir, daß du verhaltensmuster und vorstellungen der (unfreien, automatischen) erwachsenen übernimmst und dich darin verlierst. Das liegt daran, daß du in dem augenblick, wo du mehr weißt als die umwelt (auf einem gebiet), gerne die kritik an dem gebiet/fach lehmlegst – die kritik bei dir selbst. Ich habe immer gewußt, daß es wohl ein fehler war, dich bei all den büchern, in meiner bibliothek alleine zu lassen, - weil ich wußte, daß du deine grenzen nicht siehst; und ja dann auch plötzlich ganz wie selbstverständlich bei horkheimer gelandet, bei einem buch, das die meisten politikstudenten nicht verstehen würden. (Und für mich wäre es auch zu schwer, - ich habs mir auch 'zu früh' gekauft!!) Aber ich konnte dich nie so richtig davon abhalten, weil ich dich einfach meistens "zu ernstgenommen habe". Es ist mir, wenn ichs manchmal doch gemacht habe, furchtbar schwergefallen, dich als 15jährigen zu behandeln..

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Du mußt unheimlich aufpassen, daß du dich nicht verrennst. Du verstehst von allem was du liest ein bißchen, und daraus schließt du, das ganze sei dir klar; ergo argumentierst du mit dem ganzen, und merkst nicht, daß du zitate aus dem zusammenhang reißt und sie in ganz falschem sinn gebrauchst, - und dann letzten endes ins schwimmen gerätst. Und du wirst nicht sicherer, wenn du nur noch mehr zitate und meinungen anderer in die diskussion wirfst – vielmehr mußt du viel mehr drangehen, in dir selbst zu suchen. Du suchst viel mehr als die meisten in deinem alter – aber du suchst eben zum größten teil draußen, im fachwissen, in den büchern. Weißt du noch, wie wir mal über dein sicherheitsstreben gesprochen haben? – Es geht nicht nur in diese richtung, aber auch.

Um meinungen anderer verarbeiten/einordnen zu können, mußt du erstmal dein eigenes wertsystem und deine eigenen vorstellungen ganz alleine in eine ordnung bringen, bevor du den vorstellungen anderer einen entsprechenden platz einräumst.

28. juli 73 * Martin an mondrian

Ich glaube, jeder Mensch experimentiert mir seinen Vorstellungen, mit seiner Art und eigentlich sogar mit sich selbst (wenigstens der junge Mensch, denn der ältere steht, wie du sagst, "auf-einem-festen-Gleis") um zu erfahren, mit welcher Art und Weise er sich am besten "durchdrängeln" kann. Derjenige, der das schon früh schafft, den nennt man erwachsen, vielleicht schon reif. Ist er es? Will er es überhaupt sein? – Ich will es nicht – und will es doch. Ich will es weil ich es doch später wahrscheinlich einmal werde, deshalb will ich es (und nicht nur ich) früher.

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1. august 73 * Mondrian an martin

Daß du erwachsen sein willst und doch nicht: das ist keine zweigeteiltheit, sondern sind zwei stiefel, die aber blödsinnigerweise denselben namen haben: reif und reif.. Deine gefahr ist hier, daß du durch das reif sein im sinne von verstehen (zu einem teil wenigstens) dir vorteile verschaffst vor deiner umwelt, und jetzt mittels dieser vorteile einen weg findest, mit möglichst wenig energie eine ungestörte ROLLE innerhalb dieser umwelt einzunehmen. Junge, das ist furchtbar gefährlich. Es ist klar, ein fehler ist um so gefährlicher, je intelligenter der ist, der ihn vertritt, ich meine: wenn es ein fehler ist, der in der gefühlswelt begründet liegt - dann schafft die intelligenz nämlich nicht, ihn zu erkennen, sondern verteidigt ihn nur, je mehr, um so mehr intelligenz da ist! Wenn du dich auch, soviel ich weiß, möglichst komplett rational fassen möchtest, du wirst eben doch sehr von deinen gefühlen geleitet (wir alle!) – und zwar auch in deinem denken. Deine gefühle setzen dir brillen auf, durch die du dann siehst & denkst. Das ist das handicap. Allerdings ist das natürlich und kein grund zur aufregung. Nur mußt du drandenken.

12. august 73 * Mondrian an martin

Dein ganzes verhalten (deiner umwelt gegenüber) geht auf distanz, auf absicherung deiner momentanen situation gegenüber veränderung (von außen); und dieses verhalten hast du ganz genauso gegenüber dir selber. Du darfst auch wenn es um dich selber geht nicht davon ausgehen, daß du dich "im griff hast", daß du dich kontrollierst, auch wenn diese deine vorstellung dir selber einleuchtend vorkommt. Das ist keine sache von intelligenz, sondern das geht ganz allgemein nicht. Versuch, hinter deine distanz von dir selber zu kommen, und damit hinter den "betrug" deines unterbewußtseins an deinem bewußtsein. Denn eigentlich ist es ganz einfach, den trugschluß zu sehen: Wenn du sagst, du hältst deine entwicklung insoweit für natürlich, als sie dir gradlinig vorkam, erklärbar ist usw. – Dazu ist zu sagen, daß eigentlich nur neurosen von geradliniger entwicklung sind. Eine einigermaßen gesunde entwicklung ist abhängig von hunderterlei einzelnen umweltfaktoren, und

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wenig geradlinig, es sei denn, mensch hätte annähernd alle umwelteinflüsse auf dem tisch und eingeordnet, bzw.: im rückblick ist der zusammenhang eventuell zu verstehen, sozusagen als dialektischer prozeß. Eine neurose dagegen ist eine zwangsentwicklung, d.h., je mehr sie fortschreitet, eine automatisch, eine logisch nachvollziehbare sache.

Worauf ich hinauswollte: das stetige, leicht nachvollziehbare deiner entwicklung (und vor allem: der überblick, den du über deine zukünftigen schritte zu haben meinst!) ist eben das symptom einer teilweise unnatürlichen, einer "neurotischen", einer zwangsentwicklung. Du sagst ja auch selbst: "Dies ist nicht auf meine bewußte geistige Entwicklung bezogen, denn die hat sich nach meinem Dafürhalten nie stetig weiterentwickelt." – Das stimmt genau: weil sie nämlich auch sehr ok ist. Worum es mir geht, ist deine soziale weiterentwicklung! Du schreibst, unbewußte entwicklung könnest du nicht entschuldigen wollen. O doch: genauso unbewußt nämlich. Du mußt wirklich lernen zu verstehen, daß auch du zu einem großteil abhängig bist von deinem unterbewußtsein. Das darfst du nicht beiseiteschieben wollen, ignorieren wollen.

18. august 73 * Mondrian an martin

Du schreibst, schriftliches unterhalten mag unter umständen ergiebiger sein als mündliches, weil mensch beim reden des anderen mimik und gestik mit vor augen hat. Das stört, sagst du, oft die offenheit im gespräch. Das ist oft so – aber sollte es so sein? Woran liegt es? Das ist auch wieder ein moment der distanz, nicht wahr, wenn einen sowas stört und hindert, frei zu sein. Frei sein.. was ist das eigentlich. Es ist doch gar nicht mal so sehr ein objektiver zustand als ein gefühl, das mensch selber ganz alleine hat oder nicht hat. Im grunde hängt es wenig von anderen (und situationen) ab. Wenn mensch sich unfrei fühlt, dann liegt das doch eigentlich, im tiefsten grund, an einem selber, an der grundeinstellung. "Wer hat dich gemacht? Wer hat mich und uns gemacht? Vielleicht wir selber?", hat roger einmal geschrieben.*

Dein verstehen, daß dasselbe, was dir einmal fast zu banal erschienen war, sich jetzt als das eigentlich schwierige, komplexe entpuppt, ist seltener, und weiser, als du vielleicht selber weißt. – Das erstere zu meinem ist so oft die ursache dafür, daß menschen steckenbleiben, nicht mehr durchblicken. Das ist auch der grund grad

* Roger ist einer der internatler.

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innerhalb der psychologie (eigentlich als beliebiges beispiel) dafür, daß die leute hier oft nur auf billigen thesen rumhacken, immer wieder, und letztlich nur ihre billigen klappschematismen von symptom und seiner ursache (im lehrbuch nachzulesen) kennen: weil sie immerzu meinen, das sei doch so einfach, so klar, so selbstverständlich.

Der "betrug" deines unterbewußtseins an deinem bewußtsein ist die tatsache, daß in deinem unterbewußtsein etwas abläuft, was du bewußt nicht funktionieren siehst. Dieser ablauf besteht (bei dir!) in einer distanz gegenüber gewissen situationen (um es allgemein zu sagen). Diese distanz-funktion ist eine schutzmaßnahme deines unterbewußtseins, die dazu dient, dein bewußtsein, dein ICH, allgemein vor konflikten zu bewahren. Betrug daran ist, daß sich dein unterbewußtsein ganz konsequent dagegen wehrt, daß dein bewußtsein (durch nachdenken oder durch das gespräch mit andern menschen!) erfährt, was da noch funktioniert. Denn es ist ja der zweck der übung, daß dein ICH keine konflikte hat, also: keine wahrgenommen werden können vom ICH! Diese werden also ins unterbewußtsein verlagert, verdrängt (als erster schritt) und dann überlagert mit schutzfunktionen (der "betrug"), was sich in gewissen aktionen deinerseits äußert. – Immer, wenn etwas in dein denken und fühlen kommt, was dein ICH zu einem konflikt der betreffenden art bringen könnte, treten die mittel deines unterbewußtseins in kraft und hindern dein bewußtsein, sich mit der heißen sache zu sehr zu befassen: diese widerstände sind der "betrug". Das mit dem "früh erzwungen" und "jetzt in Gewohnheit übergegangen", wie du schreibst, stimmt auch genau. - Es ist, um es nochmal rauszuholen, daß früher gewisse konflikte auftaten, die dich sehr aus dem seelischen gleichgewicht gebracht hätten, wenn sie dein ICH hätten beherrschen können. Damals wurden die widerstands- (betrugs-)aktionen nötig durch die schwere der konflikte. Es kann aber sein, daß dem inhalt nach dieselben konflikte jetzt, zu dieser zeit, gar nicht mehr besonderen schaden anrichten könnten in deinem bewußtsein, ja, vielleicht wären diese situationen heute gar keine konflikte mehr. (Es ist sogar wahrscheinlich, denn solche sachen hängen meistens mit bestimmten entwicklungsstufen zusammen und verändern ihr reales seelisches gewicht ständig!) Das weiß aber das unterbewußtsein nicht, es ist auch nicht seine aufgabe, derlei zu erkennen, - und darum laufen seine widerstände jetzt unter umständen zum teil leer: werden angewandt und angewandt, wo du sie eigentlich gar nicht mehr brauchtest.. Nur: diese aktionen sind deinem bewußtsein ja nicht bekannt! Das ist das problem..

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28. august 73 * Mondrian an martin

Ein stück aus den kindertagebüchern von anais nin (das sie selbst zitiert in ihrem tagebuch 1933): "Die Zeit verändert meine Schulkameraden nicht. Für mich ist jeder Tag etwas Neues, und es scheint mir, daß mein Charakter von Tag zu Tag anders wird. Wenn ich auch zur selben Zeit aufstehe, habe ich doch an jedem Tag andere Eindrücke. Sogar wenn ich dasselbe Kleid trage, glaube ich doch nicht, dasselbe Mädchen zu sein. Auch wenn ich das ganze Jahr über dieselben Gebete spreche, scheinen sie mir doch jedesmal anders, und ich verstehe sie anders."

Schade, daß bei dir keiner ist, der dich aus deinen bildern verstehen kann; ich wäre gern bei dir, weißt du. Irgendwann (und darauf freu ich mich jetzt schon), wenn wir erwachsen sind, wirst du deine kommune-bilder wieder sehen – ich bin neugierig, was du dann von ihnen sagst. Was du überhaupt dann von unserer zeit sagst in heidelberg und danach. Ob wir bis dahin immernoch kontakt haben? Die internatsbilder heb ich auf jedenfall auf bis an mein lebensende, das weiß ich; ich hab ja auch viele von den anderen..

Ich freu mich sehr auf die zeit beim bund – nicht, weil ich ein militarist wäre, sondern einfach, weil ich mich ganz auf etwas neues einstellen muß! Muß - sonst gehe ich unter dort. Ich war ja im internat auch schon nach vier wochen wieder in einer situation drin, in der ich machen konnte was ich wollte, in der ich die sache so weit in der hand hatte, daß mir nichts wirklich überraschendes mehr passieren konnte. Das ist dann zwar ungeheuer bequem, wenn mensch alles kontrollieren kann, aber mensch schläft leicht dabei ein..

Antwort

Weißt du noch: Dein viel zu enger schlafanzug, wenn du mit immer neuen sätzen zu mir kamst; die sollen dir am körper kleben verschwitzt zerrissen; - ich will dir die lippen weit auf machen martin DICH ANSPRINGEN ! von mir aus mit zitat von breton.

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6. september 73 * Mondrian an martin

Du, ich weiß genau, was paris für dich ist. Du sagst, jedesmal, wenn du blau bist oder allein, willst du unbedingt nach paris. Es ist dasselbe, auch wenn's himmelweit anders ist, wie wenn ich sage: immer wenn ich blau bin oder allein, will ich bei horsti sein*. Ja, das ist ein mensch, aber es interessiert mich dabei der mensch horsti garnicht besonders; ich muß sagen, wir wissen furchtbar wenig voneinander. Es interessiert ausschließlich die atmosphäre, die spannung – wie du's nennen willst, die immer dann existiert, wenn wir beieinander sind, für ihn & für mich. Ich weiß nicht, ob du das 'gleich' sein zu deinem paris verstehst – du mußt beachten, daß es sich nicht um ein menschliches verhältnis handelt zwischen uns. Horsti – und wie er sich benimmt, ist eine art symbol für mich, ein katalysator, ist ein schalter, der ein tor bei mir aufmacht, das im allgemeinen nicht offen ist, nicht offen sein kann aus vielerelei gründen. Offen haben will ich's zumindest, wenn ich allein bin (d.h., und das ist das wesentliche: nicht in anspruch genommen von den menschen, der umwelt!), oder blau (was etwas analoges ist). Nicht verwunderlich darum, daß unsere hauptbeschäftigung war, uns vollaufen zu lassen, als horsti mich am 30.6. nochmal besucht hat im internat (aber vielleicht hast du das ja mitgekriegt?). PARIS hatte bis zum ersten mal, als ich da war, fast dieselbe stellung bei mir, und sie hat es bei sehr vielen leuten, mehr oder weniger bewußt, zum teil auch reklamemäßig verstärkt. Ich fürchte nur (bzw. ich hoffe – und glaube, eigentlich), daß du, wenn du mal dagewesen bist, und so kreuz und quer rumgelatscht bist, mit einem mal dir vorkommen wirst wie ein dichter, der den mond besungen hatte - und dann ist armstrong draufgewesen: ein bißchen leer das alles. Paris ist, dies als geheimtip, eine ganz normale stadt, voller knipsender touristen und parkbänke und autos, voller schlechter bilder von paris, die auf der straße verkauft werden und anderersseits mit häusern und läden und alten leuten, die mit dem spazierstock den spielenden kindern drohen.. Vielleicht ist es gemein, wenn ich dir solche dummen sachen schreib, die nur eine legitimation haben: daß sie stimmen; vielleicht solltest du das selber merken.. Die menschen in paris sind nicht 'anders'; vielleicht gibts ein paar mehr von der sorte, die diesen "gräßlichen Forschritt" noch nicht so drauf haben – aber es gibt auch in deutschland noch genug davon, und von denen, die uns ankotzen, weil sie so infiziert sind mit dem virus, von denen sind die meisten (wenn mensch sehr genau hinguckt: alle) bloß arme schweine, vor denen wir (die das sehen) nicht davonlaufen sollten, sondern ihnen helfen, denn wer sonst könnte das? - - "Fortschritt" in diesem sinne, das können wir nicht verhindern, das liegt irgendwie in der technik des menschlichen denkens – aber wir können versuchen (jeder an seinem fleck), das schlechte daraus zu verkleinern, und den fortschritt zu lenken..

* Horsti war ein internatler (im schuljahr 1971/72).

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Eine andere möglichkeit haben wir, die das beschissene sehen (was die andern großenteils nur erleben, ertragen, ohne es zu verstehen), auf die dauer nicht. Wir können nicht immer davonlaufen in reinkulturen von gutem, lebendigerem, kreativerem – abgesehen davon eben, daß paris keine solche reinkultur ist. Ich bin früher, wenn ich im urlaub war, immer mit dem foto rum und hab geknipst, in der absicht, etwas von dem mit 'nachhause' nehmen zu können, was ich da gefunden hatte: der atmosphäre. Letztes jahr hab ich in 4 wochen urlaub in luxembourg – frankreich – spanien – italien – österreich – schweiz nur 12 bilder gemacht. Da hatte ich gemerkt, daß ich dieses schöne nicht durch bilder von der gegend oder den häusern oder den menschen einfangen kann. Da hab ich dann den kontakt gesucht mit den leuten überall. Und es hat unheimlich spaß gemacht, aber als ich nach heidelberg zurückkam, wurde mir plötzlich klar, daß überall dort, ob paris oder palermo oder barcelona oder wien, letztlich die leute auf dieselbe weise denken wie überall, wie in heidelberg. – Nur gewisse gesellschaftliche unterschiede bestehen, die einem vorgaukeln, mensch sei jetzt bei ganz anderen leuten. Und dies jahr bin ich, weißt du ja, erst gar nicht in urlaub gegangen, obwohl ich noch vor ein paar monaten irre weit weg wollte (nach dem abitur! vor der bundeswehrzeit!). In dem augenblick, als ich aus heidelberg wegging (am 11. juli, - mit allem, was da an gefühlen dazugehörte..), hab ich gemerkt, daß ich in jedem dorf die ganze welt finde (wie es agatha christie ihre miss marple sagen läßt).

Ein bißchen hab ich auch jetzt noch solche symbole: luxembourg zum beispiel, die stadt, die ich seit 5 jahren wie meine hosentasche kennengelernt hab, - und letztes jahr kam noch port bou dazu, ein winziges nest an der grenze zwischen spanien und frankreich. Aber das ist jetzt bewußt subjektiv: Ich weiß, daß diese orte im grund nichts anderes sind als andere städte und orte, und ich hab mir bewußt den luxus geleistet, sie als etwas ganz besonderes zu empfinden. – Diese art von gefühlsregulierung und –kontrolle würden viele leute als leicht pervers und eben gefühllos bezeichnen, aber das liegt dann daran, daß sie es eben nicht tun und sich nicht vorstellen können, was es für eine funktion hat.

Ich denke, wenn du immer mehr dazu kommst, dir über deine gefühle klarzuwerden, dann merkst du auch immer mehr, wie wenig absolut und echt (im sinne von: ursprünglich, unvermittelt) die im grunde sind. – Diese erkenntnis bringt dich in die gefahr, sie nicht mehr ernst zu nehmen, du faßt unter umständen mit der zeit jedes gefühl von anderen oder von dir selber als funktion irgendwelcher phänomene auf, was es ja auch ist (unter anderem!), und baust es dann ab: entweder als unbequem oder in form irgendwelcher beeinflußbarkeit; du 'arbeitest' mit den gefühlen, machst sie dir untertan. Das ist die gefahr für uns; bevor ich nach heidelberg ins internat kam, steckte ich ganz tief drin – vor allem durch maßlose MUSIL-lektüre..

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Ich mein, das ist oft recht bequem, du stehst über jedem haß oder ärger oder jeder unkontrolliertheit; das heißt aber auch, über gefühlen wie liebe und freundschaft. Und da liegt der mist, denn die folge ist, daß du zwar unberührt von schwierigkeiten durch gefühle, so doch aber auch unberührt durch irgendein tieferes menschliches interesse an deinen mitmenschen durch die welt marschierst.

Das, was ich oben wegen luxembourg und port bou meinte, ist dann die nächste (längst nicht letzte, ahne ich langsam) stufe solcher gefährlichen entwicklung. – Ich bemühe mich, zwar alle negativen gefühlsmomente zu objektivieren (zu relativieren), aber die positiven, zu einem teil wenigstens, beizubehalten (wobei die auswahl ganz subjektiv sein kann und muß). Das ist's, was ich oben meinte: ich leiste mir den luxus, diesen ort als etwas besonderes zu empfinden, ihn absolut zu setzen. Komischerweise geht sowas. Zum glück, sonst wären für mich alle menschen nur klinische objekte.. nur ein haufen von aktionen und reaktionen und funktionen ihrer gehirne und von umwelteinflüssen! - - Buddhisten sind ja der meinung, mensch sollte alles so annehmen, wie es kommt, auch das negative. – Das bedeutet in der praxis, daß der größte buddhistische guru der ist, der am meisten so lebt, als wenn er nichts anderes als ein dummer reisbauer wäre. Das ist ansichtsssache. Vielleicht hab ich irgendwann mal auch kein interesse mehr daran, mit dem, was ich weiß, sozial etwas zu erreichen in der welt: Weil es natürlich objektiv egal ist, ob ich was tue oder nicht; es ist selbstzweck, falls mensch nicht irgendwelchen religiösen prinzipien folgen will. Vorläufig aber gestatte ich mir noch den luxus der annahme eines sinnes der welt für mich persönlich; und der besteht darin, daß ich mich um etwas bemühe in der welt.

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14. september 73 * Martin an mondrian

Ich glaub, das was ich im Internat, genauer in der (weiß nicht, war ich drin?) Commune "gelernt" hab, werd ich nie vergessen. Nicht weil es ein Andenken soll, sondern weil ich einfach das Gefühl hab, dort etwas Wichtiges gelernt zu haben. Zuerst einmal TOLERANZ. Das war wohl das Wichtigste für mich überhaupt. Sonst wäre ich nie im Leben auf die Idee gekommen, etwas anderes neben mir gelten zu lassen. Dann, als zweites, DENKEN. Und zwar das Denken, was mir erlaubt, mir wenigstens einigermaßen über meine Situation im klaren zu werden, über meine soziale Stellung und über meine Möglichkeiten, etwas gegen mein schon fast vorausbestimmtes Ziel zu unternehmen. Sonst, als anderes Erlerntes, würde ich noch das Erkennen-Können, oder das SEHEN setzen. Aber da bin ich mir über meine Fähigkeiten doch noch nicht so ganz im klaren. Vielleicht (hoffentlich) werd ich's mir noch.

18. september 73 * Mondrian an martin

Hast du faßbinders 'Katzelmacher' im TV gesehen gestern? Wenn nein, ist's schade: Es war so ein wunderbares beispiel für die stereotyp gleichgeschalteten verhaltensnormen der gesellschaftsmenschen. Faßbinder hat den ganzen film in fünf oder sechs orten, mit kaum mehr einstellungen gedreht, immer stehende kamera, und die leute haben eigentlich immer dasselbe gemacht in den verschiedensten situationen, und auch wenn sie krach hatten oder so, waren sie doch eigentlich alle auswechselbar in ihren charakteristika! Als dann gezeigt wurde, wie sie einen "fremden" aus ihrem kreis ausekelten, war das eigentlich schon selbstverständlich nach allem vorausgegangenen. Es hat mich sehr an den 'Letzten Tango in Paris' erinnert; ich weiß nicht, ob du in dem film warst. Obwohl da natürlich eine andere variante der sache gezeigt wird: nämlich indem die beziehungslosigkeit, die aus der erkenntnis, daß nichts anderes mehr geht als sex, absichtlich durchgehalten wird. Als ER dann IHREN namen und IHRE verhältnisse erfährt, erschießt sie ihn.

Ich glaube, was du über die kommune schreibst, was sie dir gebracht hat, das können wir alle sagen. – Und: natürlich warst du "drin" – einfach schon deswegen, weil du dich 'dazugehörig' gefühlt hast, das ist das einzige kriterium dafür..

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20. september 73 * Martin an mondrian

Nein, leider hab ich den Film von Faßbinder nicht gesehen, und nach dem, was du jetzt darüber gesagt hast, fuchst mich das ehrlich. Ich wollte ihn eigentlich sehen, aber sicher kannst du dir vorstellen, daß das einfach schon an der späten Sendezeit scheiterte, wegen meinen Alten.

14. oktober 73 * Mondrian an martin

Jetzt bin ich schon 2 wochen beim bund; ich glaube, grad du kannst dir vorstellen, daß das die erste zeit ein wahnsinnsschock für mich war: nicht was ich da tun muß, das ist relativ egal, mensch nimmts hin, aber: daß ich es tun muß! Daß ich jetzt mit einem mal in einer situation stecke, in der es geradezu unmöglich ist, "durchzublicken" im sinne von 'die psychologischen fäden in der hand zu haben'. Ich bin einfach einer von 200 leuten, genau mit denselben sachen an und um(hängend), genau demselben schrankaufbau, alle hemden zentimetergenau übereinandergestapelt usw. Was zu tun ist: daß da grußordnungen und rumgehetze und gerutsche und "marschieren" (ich!) auf dem programm steht, ist beknackt, aber komischerweise ist mir das alles egal. Na, ich hab ja den großen trost (im gegensatz zu den meisten um mich herum, die nur wehrdienstpflichtige sind), daß ich 600.- kriege im monat, schon jetzt am anfang. Allerdings, was ich oben sagte, stimmt langsam schon gar nicht mehr: Immer mehr entwickelt sich innerhalb der stube und auch bei nächsten vorgesetzten andeutungsweise ein bißchen was kommuneartiges! – Ich hab einen ehemaligen sozialpädagogikstudenten hier, er erzählte von einem praktikum in enem jungeninternat, als hauslehrer – und es war wiedermal das, was wir auch beobachten konnten: daß sie von einer gewissen warte aus das problem 'internatskinder' beurteilen: eben kinder reicher leute, die am samstag (meist) nachhause fahren. Wie es dahinter ausschaut, wer sieht das schon; daß wir aus unseren internatserlebnissen 600 seiten à la 'Törleß' (robert musil) schreiben könnten, das kann mensch wohl als praktikant/hauslehrer nicht sehen..

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Der student erzählte, in seiner alten stube (von der ersten woche) waren zwei, die vor heimweh und verlassenheit weinten - - Das ist verständlich, grad bei den wehrpflichtigen, die sich hier wie im gefängnis vorkommen müssen. Bei uns in der kaserne schwirren schon laufend irgendwelche gerüchte in bezug auf engagement der bundeswehr im nahostkrieg – Ich halt ja nichts von so gerüchten, aber manchmal fühl ich mich doch als soldat - - Was ist wenn.. - Beschissen, diese menschen, daß sie immer noch nicht reif sind, reif genug – und noch lange nicht. Dieser student hat zu mir gesagt, er habe das gefühl, ich sei einer, der immer er selber sei und sich nie auf andere einstellen wolle/würde; vielmehr würden sich die anderen immer auf ihn (mich) einstellen (müssen). Komisch –

5. november 73 * Martin an mondrian

Weißt du, ich bin gerade in einer ziemlich beschissenen Lage. In einem Konflikt mit mir selber. Ich glaub, du wirst dich noch an ein Problem erinnern, welches ich in irgendeinem Brief, ich denke so ziemlich am Anfang unserer Korrespondenz, angeschnitten habe. Ich meine den persönlichen Konflikt zwischen meiner Auffassung von Menschen und Welt und derjenigen meiner Mitmenschen und meiner Umwelt. Ich hab gerade an mich selber die Frage gerichtet, ob ich nicht alles das was ich beurteilen will nur mit meinen Augen sehe, wahrscheinlich sogar nur sehen will. Ich meine, daß ich jetzt gerade soweit bin, alles was ich zu beurteilen habe, irgendwie negativ sehe, sehen will. Alles was meine Mitmenschen, und um die geht es da, tun oder lassen, ist für mich Anlaß zur Kritik. Nun gut, oft, vielleicht sogar sehr oft ist die Kritik legitim, und es ist nicht schlecht, daß man sie "betreibt", aber ich glaub doch, daß durch reines Bewußtmachen eines Fehlers nicht sehr viel geholfen, geschweige denn geändert werden kann. Und, so wie ich die Sache sehe, liegt doch die einzige Rechtfertigung einer Kritik nur in deren Gegenposition, und Vertretung dieser. Und siehst du, da liegt die ganze Scheiße. Ich hab keine, oder nur eine unzureichende Gegenposition, und die ist eben unvertretbar. Das wäre schlecht, denn dann würde ich meine ganze Energie nur in fast sinnloses Gerede und in nichts-nutzende Kritik setzen. Ich weiß wenigstens ungefähr, wie ich dem begegnen könnte. Ich muß/müßte mich zurückhalten, mich vorsichtiger bewegen in dem allen. Aber.. ich weiß nicht ob du verstehst was ich jetzt meine, aber ich

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würde damit doch auf jeden Fall in irgendeiner Weise meine "soziale" Stellung schädigen. (Ja, ich weiß, dieser verruchte Geltungsdrang.) Verständlicherweise will ich das aber kaum, bessergesagt: ich, von meiner Überzeugung ausgehend, wollte das schon, aber eben irgendwelche menschlichen Momente, meine Fehler haben da einen so starken Abwehrring um sich selber gebaut, daß es für mich jetzt, heute ziemlich schwierig erscheint, da in irgendeiner Form durchzukommen. Ich glaube, in dieser Art der versuchten Selbsthilfe entstehen Widerstände, die verhindern in mein eigentliches Ich vorzudringen, um da etwas mehr Ordnung zu schaffen. Nun, rein technisch wäre das ganze leicht zu lösen, ganz abgesehen von der theoretischen Frage. Aber die unendlich schwerere und umfangreichere Praxis der Durchführung wird, nun schon durch ihre eigenen Hinderungen zudem noch von dem Zeitmangel, meinen sonstigen Verpflichtungen, der Schule und meiner in dem Fall (wie vielleicht sonst auch) hilflosen Umwelt erheblich beeinträchtigt. Eben da sind die zwei Paar Schuhe. Ein vielleicht nicht sehr seltener Konflikt in meiner Rolle als Mensch in der Gesellschaft. Vielleicht kannst du mir in irgendeiner Weise helfen, oder auch nur irgendeine meiner Theorien bestätigen, aber ich weiß in diesem Moment nicht um sehr viel weiter. Es mag sein, da dies eine Zeit- oder Entwicklungserscheinung ist, aber die einfach deswegen schon als "blöde" abzustempeln und auszuschalten erscheint mir ängstlich und vor allem aber falsch. PS: Beschäftige mich jetzt wieder mehr mit Psychologie, fange mit allem was sie betrifft wieder neu an. Das heißt, ich lese alle Bücher noch einmal.

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6. november 73 * Mondrian an martin

Dein holzschnitt ist so schön, du! Er ist ganz einfach, nur linien, - und das ists grad; bei jedem spindappell sehen sichs die uffz'e und GUA's an (er hängt an der innenwand des spind). Dein letzter brief – es fällt mir schwer, den ganz zu verstehen; und ich kann mich im moment nicht in eine kneipe setzen (das ist ja die einzige möglichkeit, hier eventuell mal allein zu sein in einem raum). Zum speziellen: Weißt du, ich hab den eindruck, du fängst an, dich ein bißchen in so manches zu verstricken, vor allem in meine letzten briefe. Was du ansprichst, ist sicher nicht leicht für dich, aber ich glaub, du hast da drin immer gesteckt – nur war's dir damals nicht so arg, weil du da noch keine wörter dafür hattest. Du sagst, es ginge ja um deine mitmenschen (bei der kritik). Das ist die frage, ob es um die mitmenschen geht dabei. Ich glaube, die fundamentale kritik hast du an dir, dich betreffend – und aus dieser grundlegenden kritik (unzufriedenheit) an dir kommt deine grundeinstellung (blickwinkel), was deine umwelt angeht. Zum teil zu recht, weil diese umwelt ja der konkrete anlaß für deine unzufriedenheit (etc.) mit dir selber ist – zum teil! Überleg dir das mal.. Deine einstellung – wie die ist, der blickwinkel. Ich glaube nicht, daß kritik der rechtfertigung durch eine fundierte gegenposition bedarf! Ich kann durchaus sagen, daß die suppe versalzen ist, ohne selber eine kochen können zu müssen. Ab einem bestimmten niveau erwartet mensch natürlich eine gegenposition, aber das hat mit der legitimität der kritik nichts zu tun. – Aus dauernder kritik kommt ja ein mosaik von meinungen, aus negativem kommt ja letztenendes immer wieder etwas davon abgegrenztes, positives – und dann wirst du deine gegenposition haben. Besser als andersrum: zuerst position beziehen und festigen und dann (vielleicht!) kritik!* Und paß auf, daß du nicht wieder prompt in deine alte methode verfällst, mit konflikten 'fertigzuwerden', indem du dich in bücher stürzt.

* Entspricht wohl einer grundlegenden überlegung in adornos 'Negativer Dialektik' (die ich damals aber noch nicht kannte).

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12. november 73 * Martin an mondrian

Ich hab gelesen, H.Miller, 'Wendekreis des Krebses'. Mein Gott, ich glaube wenn ich nicht wüßte, daß ich so ziemlich das Gegenteil von ihm bin, würde ich versuchen, so zu werden wie er. Es gibt Augenblicke, in denen ich so sein kann, so bin. Dann aber kommt irgend so ein Idiot und und fragt mich was ich an seiner Stelle bei seinem Problem machen sollte. Und dann ist es aus, dann muß ich wieder denken, weil der's dann verlangt, er wäre beleidigt, würde ich ihm keine Antwort geben. Na, wenn ich meine Stimmung so halten kann wie jetzt bin ich zufrieden. Jetzt können sie mich alle am Arsch lecken, geb's Gott, daß jetzt keiner kommt und fragt. Ich hab keine Lust zu reden. Ich weiß nicht ob du verstehst, was ich meine, aber ich denke, alle um mich, außer Simon*, sind Tiere, jeder lauert auf den anderen und wartet nur darauf ihn zu "fressen". Aber das schlimmste ist, wenn ich nicht aufpasse, und intensiver denke, spinne ich genauso wie die alle. Wenn ich mich mit ihnen unterhalte, rede ich wie sie, wenn ich mich mit mir unterhalte, denke ich wie ich. Vielleicht, hoffentlich! Gerade in der "Krise" die ich da hatte, hat es prompt meine Alte wieder geschafft mich rumzukriegen. Weißt du, ich glaub sie ist eine von den wenigen vor denen ich direkt Angst habe, weil sie mich, das heißt eigentlich mehr meine "schwache Seite", meinen toten Punkt, kennen, und sie nutzen ihn aus. Mein Alter ist, und das hab ich jetzt eigentlich erst gesehen, völlig ungefährlich, er schreit, tobt und brüllt, aber er kennt mich nicht. Ich glaub, da liegt ein wichtiger Punkt für den Terror am Menschen, am Einzelnen, das Kennen des toten, wunden Punktes. Sie nutzen es aus; - einfach tierisch.

Eigentlich bin ich jetzt so ziemlich immun gegen das, was die anderen als Menschlichkeit ansehen, ich mach mir einfach nichts mehr, nur noch wenig, daraus. Ich kann stundenlang jemandem zuhören, wenn der redet, wenn ich weiß wer er ist, kann ich abschalten, denn er redet indirekt und zielgerichtet immer von dem selben. Wenn ich ihn nicht kenne, höre ich zu, schau ihn an und sag nichts, aus lauter Verlegenheit redet er weiter. Dann genügt manchmal ein Wort, irgendeines, und er ist still, in der Hoffnung erlöst zu sein, und seine Rolle an mich übertragen zu haben. Wenn man dann noch zwei – drei Sätze redet ist er hingerissen, er beteuert seine Freundschaft, seine Freude und freut sich auf das nächste Treffen. Und dort fängt er, nun schon eingespielt, an von selber zu reden. Themen über Themen. Und so erfährt man langsam etwas über ihn, stellt spezifizierte Fragen, gibt ihm Vertrauen, redet mit ihm offener und, ohne daß er's merkt, redet er sich los, von allem, fast allem. Und eigentlich hat man selber noch nicht einmal die

* Martins bruder, zwei jahre jünger, war auch bei uns im internat und in der internatskommune.

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Fragen beantwortet, ihm nur Recht gegeben, Vertrauen und irgendeine Art von Hilfe, und fast ist er wieder okay. Es wird dir auffallen, da ich sehr viel an dem was ich sage einschränke. Einfach deswegen weil ich eben noch nicht sicher bin wie und warum, und weil ich nicht bei jedem Menschen gleich verfahren kann. Kann doch keine Schablone anlegen, und den Rest abschneiden. So, jetzt hab ich keine Lust mehr für heute, ich werd dir morgen oder übermorgen schreiben; weißt du, ein Brief ist wie ein Bild, bei mir, wenn's fertig wird während ich nicht denke wird's gut, und ich brauch nur noch wenig zu machen, wird's aber nicht fertig, kann ich's wegschmeißen.

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14. november 73 * Mondrian an martin

Es wird immer nutzloser und lächerlicher für mich, dir etwas erklären zu wollen. Ich kann dir nicht mehr viel sagen, und wenn, dann weißt du es zumeist und kannst mich fragen. Aber sowas wie dein lehrer – das ist, wenn es zum teil auch mal war, vorbei. Dabei meine ich nichtmal, daß du dich so sehr verändert hättest im letzten dreivierteljahr oder so – ich glaube nur, daß das verborgen war, was jetzt schlagartig hervorkommt. In deiner erklärung, daß du manchmal so bist wie miller und dann kommt so ein idiot.. (folgt aktion, die an den psychologen, den zivilisierten in dir appelliert) – darin sieht es ganz so aus, als sei für dich das millersche être und vivre mehr, ursprünglicher und echter als das andere, das deinen intellekt verlangt. Henry miller ist offensichtlich, vor allem in seinen jüngeren jahren, auch dieser meinung – und ich glaube, das ist einer der punkte, wo er sich irrt. Er (und auch du) kann nicht tun, als sei er kein mensch unserer zeit, als sei er ein alter grieche ('Alexis Sorbas' von kazantzakis!) oder landstreicher – denn das ist nur die eine seite in ihm und die eine seite in den gefühlen und der sehnsucht aller leute bei uns (nur die wenigsten sehen das). Es ist nur eben die seite, die mensch im alltag nicht so oft leben kann, und wie alles positiv andere ist auch das bessere im gleichen augenblick, wo einem das bisherige (alltägliche) stinkt.. (Siehe paris-euphorie bei dir unlängst.) – Im übrigen war's natürlich auch bei mir das, was mir an henry miller wichtig war, was mir total geholfen hat, dieses moment in mir hervorzulocken und als berechtigt und gut anzuerkennen (bei mir). Die zeit im internat, in unserer kommune, war dann für mich der nächste schritt..

Ja, ich weiß, was du meinst. Ich kenne diese menschen, die einen fressen wollen, die sich an einen klammern, mit haut und haaren sich einem hingeben wollen: "Rette mich!" Und diesen energieball, den du dir mit deinem selbst-denken, und durch gefühle, bzw. nicht-gefühle, asoziale gefühle aufbaust, um eine art abstoßungskraft zu schaffen, zu denen, den kenne ich so gut von mir selbst! Ich hab ihn immernoch, aber ich hab intellektuell (gefühlsmäßig noch nicht ganz) gemerkt, daß ich ihn im grunde nur brauche, wenn ich selbst die einstellung mitbringe, die andern wollen mich fressen! Sie wollen es tatsächlich, aber was sie wollen ist parallel dazu, nein: identisch damit noch was ganz anderes: daß sie deine, unsere hilfe brauchen!! Und das siehst du ja selbst, wir können ihnen etwas geben; und wir merken dann, daß es zwar etwas ist, was wir uns aus dem eigenen körper schneiden müssen, - aber wir leben weiter. Es wächst nach. Sowas kann henry miller nicht. Aber anais nin; - und diese 'menschlichkeit', gegen die du dich immunisiert hast, die gibt’s in drei verschiedenen formen. Die erste lehnst du ab, mit recht, das ist ja klar.

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Weil es im grunde schon die zweite ist: nämlich eine verhunzte und verzivilisierte form der menschlichkeit, die dadurch fast zum schimpfwort gerät. Aber es gibt eine dritte, und das ist die von anais. Sie sagt, compación sei der einzige schlüssel, den sie jemals gefunden habe für die menschen. Er passe für jeden menschen.. Kleine marginalie: Redet der, wenn du zuhörst, wirklich aus reiner verlegenheit weiter? Das ist die große frage. Ich glaube, es liegt alles daran, daß er (fast alle leute) sich nie unterhalten können. Sie sind ihr halbes leben lang voll von all dem, was sie im alltag so machen. Und dann treffen sie einen wie dich oder mich oder wen auch immer. Und dann kommt eben alles raus, sie haben das z.t. garnicht mehr unter kontrolle. Manchmal bereuen sie es nachher sogar. Und dann fängt manchmal die schwierigste arbeit an: ihnen beizubringen, daß das keine verrücktheit war, daß sie so viel erzählt haben (preisgegeben haben). Dazu gehört am meisten, takt und eben: compación, mitgefühl.

Von wegen toten punkten, schwachstellen, die deine mutter bei dir kennt und ausnutzt: ich kenns, meine mutter ist genauso. Vielleicht ist das nicht untypisch für mütter? Eine diffuse inzestuöse forderung nach nähe, die von ihnen ausgeht..

HAP grieshaber und margarete hannsmann waren gestern hier in sigmaringen, eine öffentliche veranstaltung, haben über vieles gesprochen, - CHILE natürlich*, NERUDA, grieshabers 'Engel der Geschichte', JÖRG RATGEB (deutscher bauernkrieg), KATO I DIKTATORIA (diktatur in griechenland).. - gedichte, holzschnitte an der wäscheleine quer durch den raum gehängt.. ! Es war wunderschön, nach über einem jahr wiedermal bei denen zu sein, weißt du, - dieses andere leben, wo jemand von seinen büchern spricht und die meint, die er selbst geschrieben hat. Eben: etwas tun. Reporter waren da und ich hab mir durch einen der hiesigen honoratioren 'ausgang bis zum wecken' geholt und es ging dann die halbe nacht noch inoffiziell weiter in einem café, ich zwischen HAP & frau H., sie wollten mich da haben, die beiden. Es war schön, zu denen dazuzugehören. Das ist keine information, das ist eine große SONNE !

Es beginnt, mir hier in signaringen zu gefallen. Das ists, was ich gestern gemerkt hab.

* 11. september 1973: Sturz der gewählten sozialistischen regierung durch konterrevolutionäre truppen (unterstützt durch den CIA); tod des präsidenten SALVADOR ALLENDE GOSSENS.

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1973 11 20 Fuer martin*

und dann war nichts im strohhut des verlorenen schriftbilds als seegras, lochst(r)eifen von fernschreibern und ein muffiger muff aus mary poppins (zu hoeren). maschinenfunktionen, bundeswehreigentum: BW. ich weiß nicht, mit wem von denen ich ins bett gehen soll: alle sind gleich maenner, alle sind gleich und keiner hat strassenlaternenlicht im haar, wenn er wein trinkt. er trinkt ohnehin nur bier. qtb qtb qtb ! zuhause war ein stall gegen das: menschen, die alles denken, was (was ich damit nur gemeint hab?) im zweiten kapitel faengt ein gefreiter einen hasen und fragt ihn nach dem nicht ersichtlichen dienstgrad. und so weiter. als soldat beethoven spielen ist nichts ungewoehnliches, ich bin muede und leer. im internat war sex, hier ist maneszucht, dh., man redet von frauen. redet. ich schreibe auf blinde fernschreier gedichte, das ist dasselbe wie wein ist ist irgendwas.

angefangen hatte ich als brief an ein 14jaehriges maedchen das es hier nicht gibt (xls)

* Am fernschreiber geschrieben, original im fernschreiber-typoskript. Hier eine im jahr 2007 ganz bißchen veränderte version.

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22. november 73 * Mondrian an martin

Ich wünsch dir mal jemanden, von dem du a weißt, daß er dir geistig überlegen ist und der dir das b jeden tag zeigt. Ich glaub, daß du schon wieder anfängst, dich mit dem panzer von bedeutend-sein zu umgeben. Und wenn hundertmal die ganze welt dich für einen zweiten einstein hält, darfst du dich nicht dafür halten – und zwar gefühlsmäßig nicht. Aber das ist eine sache von der du nur hoffen kannst, daß du zu ihr kommst. Vermutlich ists blödsinn, überhaupt davon zu schreiben.

Daß du deine holzschnitt 'Hure' nennst.. – Reale nutten, prostituierte würden deinen sinn für spaß und schönheit, für die schnecken-lichter, wohl aufs tiefste beleidigen. Sie sind, würde ich sagen, viel zu klein und zerzaust und jämmerlich und arm dran, und hungrig und verfroren und angemalt und müde, alsdaß sie noch "animalisch" sein könnten, alsdaß sie noch die kraft zum "rohsein" hätten..

Ich überleg mir grad: vielleicht verfluchst du mich in 10 jahren, weil ich dich doch so sehr beeinflußt habe. Du mußt auch vor mir aufpassen, letztlich. Wer weiß, ob das für dich überhaupt was bringt, was ich meine. Vielleicht ists eine illusion von mir.

30. november 73 * Martin an mondrian

An dem Tag, an dem ich einen mir selber (geistig) überlegenen Menschen treffe, glaube ich wieder ein Stück in meiner gesamten Entwicklung weiter gekommen zu sein. (Das hab ich am 21. 11. geschrieben.) Weißt du, solch einen Menschen such ich, such ich wirklich. Es ist Scheiße, einfach vor sich hin zu leben, keine klare Kritik zu haben (Kritik an mir) und nur Stoff in sich hineinzufressen. Scheiße ist es, und richtig leben kann man auch nicht damit.

Weißt du, bis jetzt verfluche ich dich noch nicht, und wenn ich mir meine Art, die Grundprinzipien zu denken erhalte, weiterentwickle, ich glaube kaum, daß ich dich dann überhaupt verfluchen werde; wie kann man etwas verdammen, was Klarheit geschaffen hat, aufgeräumt hat? Ich weiß, daß ich nicht der bin, der sich nach außen hin zeigt, und du weißt das auch, und wir beide wissen auch, wer ich wirklich bin, aber.. hätte ich das ohne Hilfe erfahren? Il y a des questions qu'un homme ne peut pas reponser, .. on ne peut que le sentir !

"Dieses (mein) Leben, das – wenn ich noch ein Mensch mit Stolz, Ehre, Ehrgeiz und so fort wäre – wie die letzte Stufe der Erniedrigung scheinen würde, begrüße ich jetzt, wie ein Schwerkranker den Tod begrüßt." (H. Miller: 'Wendekreis des Krebses')

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4. dezember 73 * Mondrian an martin

Am vergangenen wochende war ich wiedermal bei meinem vetter und seiner familie und ich kam ein bißchen als ganz anderer mensch zurück. Es war nach dem kaffeetrinken, wir saßen da: mein vetter und ich. Seine frau und die kinder waren draußen. – Schweigen. Das war das erste. – Es war schon öfters so, doch meist kam dann immer gleich jemand. Na ja, aber als ich überlegte, was zu sagen wäre (sowieso grotesk, wenn mensch bedenkt, daß ich für jeden außenstehenden seit jahren quasi zur familie gehöre!), da merkte ich, daß es kein thema gibt zwischen uns. Ich kenne meinen vetter quasi mein ganzes leben lang (er ist 37 jahre alt) – aber jetzt sah ich ihn da in seinem sessel, in seiner wohnung, und ich sah eigentlich nur das um ihn rum. Seine eigentümer, für die er jahr um jahr arbeitet und geld ranschafft. Ein grausiges gefühl plötzlich. Da kam mir mit einem mal: daß der sein leben lang jetzt hier ist, seit 10 jahren, und nichts anderes mehr machen wird aller voraussicht. Wenn ich mir das vorstelle: heim, eigentum, und mein leben, das in bahnen läuft, die dieses eigentum zeichnet. Eigentum ist was schönes (sachen, zeug), aber es ist ein unterschied, ob es wichtig ist oder auch noch wesentlich. Sieh mal, unsere kommune: die ganzen materialien waren unheimlich wichtig, aber keinem waren sie wesentlich: sie hatten kein wesen. Sie waren keine geister, die wir gerufen hatten, sondern nur tote mittel. Das geht nicht gegen die familie als gesellschaftliches phänomen, das ist in seiner berechtigung für mich ganz unbestritten, zumindest heutzutage. Es ist mein ganz persönliches problem. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß ich jemals in einer situation sein soll, in der ich mein leben lang bleiben soll. Verstehst du das? Daß ich beim bund bin einfach deswegen, weil ich mal sehen wollte, wie das ist – denn geld könnte ich auch woanders verdienen - , das ist eine möglichkeit zu leben, ohne die ich mich gleich aufhängen könnte. Einer, der auf eigentums-bahnen lebt, für so einen wären das verlorene jahre, "die mir nichts bringen", in denen er viel besser studiert hätte, zum beispiel. Für mich ist das auch (ist alles!) studieren.. – lernen.. – leben lernen!

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Und mit einem mal ist mir überhaupt unklar, ob ich noch weiter zu denen gehen kann so wie bisher jedes wochenende (vom bund aus). Mit den kindern in meinem bett und in meiner badewanne und so – als in der familie. Weil seit diesem wochenende fühl ich mich wirklich nicht mehr zu denen gehörig, kein bißchen. Ich kann sie nur noch gut leiden. (Mal abgesehen von simone, der einen tochter, mit der ich wirklich sowas wie eine beziehung habe.) - - Insofern nütze ich die ja eigentlich aus, bin so eine art schmarotzer. Auch wenn sie mir andauernd zu verstehen geben, wie gern sie mich da haben. Das ist ja was anderes. Plötzlich bin ich wieder da, wo ich wohl hingehöre: draußen. Nicht draußen aus mir, aber aus jeder gesellschaft, jeder gruppe. 's ist wohl auch das beste. (Ob ich/wir nochmal sowas wie die kommune finde/n?) (Nein, das ist keine sehnsucht, auch wenn's so klingt.) Ok, nicht mehr zu denen gehen, aber wohin dann, am dienstfreien wochende? Zu meinen eltern? Mehr als zu besuch ab & an geht mir – bei allem guten verständnis mit denen in jetzter zeit – an die nieren. Weihnachten haben wir dienstfrei, ziemlich lange. Da steh ich auf der straße, wie ich die sach' seh. Ich würd ja nach heidelberg gehen, aber da sind ja auch ferien.. Que faire maintenant. Me promener dans la ville de sigmaringe c'est impossible car la caserne n'est pas ouvert pendant cettes journées-là. Encore ? I woiss net. Wenns wenigstens warm wäre. Dann tät ich mit einem bundeswehrgutschein nach der luxembourgischen grenze fahren und von dort nach luxembourg-cité. Das hab ich winters noch nie gesehen, und alle luxemburger haben gesagt, ich muß die stadt unbedingt im winter erleben.

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15. dezember 73 * Mondrian an martin

Ich hab einen sagen wir paradiesischen zustand in meiner phantasie: Mal einen menschen t o t a l kennenzulernen. Das ist schnell gesagt; aber wenn ich mir vorstelle, wohin mich dieses bedürfnis schon geführt hat und wohl noch führen wird.. Ich will das irgendwie jedesmal, bei jedem menschen, den ich kenne (kennen möchte). Ich komme da oder dorthin, aber befriedigt werde ich niemals sein; das ist ja klar, denn der vorsatz ist utopisch. Kennen - - einen menschen in allen situationen kennen – das wäre so schön.. Gise, ein 14jähriges mädchen (eine aus meiner kinderspielplatzzeit vor dem internat) hat mir kürzlich über ihren idealfreundtyp das geschrieben: "Er aber sollte mich besser kennen, in allen Situationen und Dingen. Verstehst du das denn auch, was ich damit sagen will?" – Ich glaub, ich versteh das besser als sie. Kennenlernen, jemanden – das ist wohl so ziemlich die schwierigste sache die's gibt, wenn mensch sie konsequent und ernst meint – na ja. Einfach schon, weil mensch fast automatisch in die rolle eines sexuellen verhältnisses kommt, und damit ist oft, meist, der ganz andere aspekt des kennens vorbei und gestorben und nicht mehr realisierbar!! Im internat hab ich zum ersten und einzigen mal die kombination von beidem erlebt, und ansatzweise zuvor bei den gassenkindern, mit den gassenkindern (im rahmen dessen, was bei denen an 'kindlicher' erotik/sex gelebt hat).

30. dezember 73 * Martin an mondrian

Schau, je weiter ein Mensch sich von gesellschaftlichen Werten entfernt, das heißt je unabhängiger er davon wird, - je tiefer er sinkt, - um so unantastbarer und unangreifbarer wird er für alle übrigen Menschen. Und mein Leben bzw. deins ist doch so: je tiefer um so besser. Nein, mein Gott, überrollen kann dich, mich nichts. Vielleicht die Typen mit ihren Fachbüchern. Aber das sind eben, wie du sagst, nur kleine Wellen, die uns ein wenig mitreißen, drehen, aber im nächsten Augenblick sind wir auch wieder oben, - nichts anderes als ein simpler Kreislauf. Und – schöner noch: nichts als ein natürlicher Kreislauf. Die beiden Drucke, die ich mitgeschickt hatte: Nein, das ist nicht meine Art zu malen. Es war eine Zeit, ein Abschnitt in allem, eine kleine Idee, aber nie ein System. Eine kleine Idee für mich – nichts weiter. Denn ich möchte soweit wie es

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überhaupt geht nie ein System in mir haben. Ich möchte schwanken können, mich einfach frei bewegen können in allem: kein fixer Punkt, auch für Menschen nicht. Ich möchte einem Menschen einmal in die Schnauze hauen und ihn ein andermal küssen. – Übrigens auch ein Grund, warum ich mir vornehme nie zu heiraten.

3. januar 74 * Mondrian an martin

Je tiefer umso besser: Ja, das sind wir wohl. Von mir wußte ichs, von dir seit ich dich "brieflich" kenne, immer mehr. Wenn du erstmal so intensiv unter biersaufenden herren der schöpfung lebst wie ich hier, merkst du, wie viele seiten diese "tiefe" haben kann. Es ist noch 'ne ganz andere sache, sich derer zu erwehren, als mit sagen wir üblichen sandkastenrockern im alter 14-19 auf diese (unsere) weise fertigzuwerden. Und ich hatte mal gedacht, das sei das schlimmste. Nein: Erwachsene, die das werkzeug "denken" kennen (und nur nicht kreativ anwenden können), sind in ihrer impertinenz oft öder und mehr 'rocker', geistige rocker, als echte "halbstarke", die dieses werkzeug zwar auch nicht verwenden, aber wenigstens es auch nicht objektiv kennen und nicht meinen, sie wendeten es an !! Das klingt und ist arrgoant, sei's drum. Du weißt, in welchem rahmen es nur gilt.

"Ich möchte einem Menschen einmal in die Schnauze hauen und ihn ein andermal küssen" - - Du wirst nicht viele treffen, die so in dir drin sind und zugleich in sich selber, daß sie das akzeptieren könnten. In sich selber: deswegen, weil sie selbst-bewußt sein müssen, um es aushalten zu können, daß sie sich nie sicher sein können, wo du bist für sie. (Wie mit fröschle, dem ich geld schicke ins internat und freßpakete und es ist ok, daß er "sich nicht bedankt" – so sachen.)

Ich hab mir nicht vorgenommen nicht zu heiraten (und es wundert mich das von dir – denn das ist doch ein echtes dogma! eine einschränkung!) – aber ich fürchte, es wird drauf rauslaufen. (Wobei "heiraten" nur eine umschreibung ist für "lebenslange zweierbeziehung".)

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11. januar 74 * Martin an mondrian

Ich fang an hier zu leben.* Alles ist so wie's mir paßt, und wenn nicht mach ich mir's so. Nicht mehr so viele Probleme, sie haben sich von selber gelöst, auch nicht mehr die Wut und die Spannung wie anfangs und erst recht nicht mehr freudlos. Viele Leute um mich rum, die mich nicht kennen, ein paar geile Böcke die mir den ganzen Tag von ihren "Erlebnissen" erzählen und die, wenn der Name MILLER auftaucht, sofort die 'Wendekreise' lesen wollen. So wie sie sich schildern, müßten sie den ganzen Tag einen Steifen haben. Ein paar verrückte Lehrer, die nur noch aus Sach- und Fachlichkeit, aus Theorie und Blindheit bestehen, nichts als öde leer und unverständlich sind. Einfache leere Pappschachteln würden ihren Dienst als "Mensch" genauso tun. Die ganzen Figuren sind ein einziger riesiger Witz, eine Parodie auf sich selbst, und ein Computer, dem man den Strom abgestellt hat. Sie sind wie Spinnen, die sich in ihrem selbst ausgelegten Netz verfangen, und zugrunde gehen. Ich glaub, menschlich zu sein bringen die nicht mehr fertig, - Kunststück, wenn man nicht weiß was das ist. Humanität schreiben sie groß, aber anscheinend muß man sie mit Moral, Angst und Wirrwarr vergleichen. Diese Typen hopsen wie geile Känguruhs durch die Gegend, sie laufen so schnell, daß ihr Gleichgewicht verschwindet, - ein kleiner Stoß und sie fallen um. Sie haben ein Gesicht, auf das eine Fratze mit Wäscheklammern festgeklemmt ist, aber wenn man ihnen die Klammern wegnimmt bleibt die Fratze, - sie haben sich schon daran gewöhnt. Alles zusammen scheint nur noch Ulk zu sein, denn diese Art Menschen ist schon tot, wenn sie geboren wird. Sie haben ihr selbst gebautes Gitter um sich nicht sprengen können, und die Masse darin steigt von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute. Die Luft wird knapp, nur die am Rande des Käfigs können atmen, der unterste erstickt, oder wird zerdrückt. Sie wimmern, und sollten brüllen, sie rufen, und sollten schreien, aber die Angst vor dem Tod frißt den Verstand, und frißt auch letztenendes sie selber. Das Individuum klammert sich an einen Strohhalm, den Strohhalm der Humanität, die es selbst vernichtet hat. Ein neuer Anfang vielleicht??? Ja, aber nicht mit den selben Menschen, mit denen die schon weg sind, schon untergetaucht sind in der Masse. Ihnen ist wohl kaum noch zu helfen.

* Auch martin hatte im september 73 das internat verlassen und ging seither vom elternhaus aus ins örtliche gymnasium.

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16. januar 74 * Mondrian an martin

Ja, man braucht nur nachzudenken, frei wie wasser auf völlig grader fläche, ohne tendenzen, so gut es immer geht, und dann lösen sich die probleme weitgehend von selber, dann wird alles klar, das ist übrigens das, was im TAO TE KING gemeint ist. Ich habe noch lange keine malkommune beim bund aufgebaut, es ist erst ganz, ganz klein hier, und das selbstverständnis noch völlig labil, aber na und?

Was du über diese typen, lehrer, geschrieben hast, das ist so total – es ist eine explosion aus traurigem haß, und du hast ja recht. Du wirst auch die einmal akzeptieren (müssen) – auch wenn du weiterhin sehen wirst, daß sie so sind und so bleiben. Aber wenn du immer so bliebest wie jetzt, dann würdest du dich kaputtmachen. Für jetzt, diese jahre, ist es ok, natürlich. Was du sagst, ist immer meine große frage gewesen: soll/muß mensch solche leute aufgeben, nicht mehr versuchen, sie zu ändern? Sich nur um die NEUEN MENSCHEN kümmern? Oder auch die verkauften, toten? Ich weiß es nicht.

"Dein Körper hat sich beherrschen können, nicht aber deine Augen" (als ich in der kommune dein erstes gedicht auf dem tisch liegen sah, damals) – sagst du. Das ist ein schwerer satz.

(Paß auf, wenn du dir alles passend machen kannst, daß du dann nicht einschläfst vor problemlosigkeit. Deswegen mußte ich – unter anderem – ins internat, deswegen war's 1973 höchste zeit wieder rauszugehen für mich, deswegen bin ich jetzt zum bund..)

[Ende januar 1974 war ich zu besuch bei martin – und simon – in deren elternhaus. Dort lernte ich die 18jährige schwester diotíma kennen und es hat zwischen uns sehr heftig gefunkt. Diotíma wollte nicht, daß die eltern etwas davon merken. Wir wollten noch zeit für uns; in absprache mit ihr habe ich magen-darm-grippe mit fieber vorgeschützt, um länger dort bleiben zu können..]

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2. februar 74 * Mondrian an martin

Ich muß dich um verzeihung bitten; mein benehmen die letzte woche war nicht ok. Ich war dein besuch bis zum sonntag, danach war ich diotímas besuch und habe kaum ein wort mehr mit dir und simon gesprochen, dir aber die verantwortlichkeit aufgehalst für mein benehmen deinen eltern gegenüber, von dem ich wußte, daß es unter aller sau war. Deine eltern werden dir nicht grad dankbar sein für diesen besuch. Es war einfach so, ich wußte nicht, was ich deinen eltern erzählen sollte, um zu begründen, daß ich noch länger dableiben wollte. Was hätte ich auch sagen können - - du kennst sie ja. Daß meine erklärung, ich sei krank, mein angebliches fieber usw. nicht glaubhaft war, war mir klar und war auch diotíma klar. Aber sie konnten – als gutbürgerliche – nichts dagegen sagen, zumindest solange sie nicht wußten, was mein wirklicher grund war. Als sie dann merkten, daß "etwas" zwischen diotíma & mir entstanden war, konnten sie mich rauswerfen – denn es war ja ein rausschmiß oder wäre einer gewesen, wenn ich (auch gutbürgerlich!) ihm nicht zuvor gekommen wäre. Und jetzt? Es wird in nächster zeit wohl ziemlicher wirbel losgehen. Allerdings wird den hauptsächlich deine schwester zu tragen haben.

Diotíma - - wo du dich in die welt des denkens & wissens geflüchtet hast, um sie als waffe gegen die dummheit und beschränktheit der menschen zu verwenden (nicht zuletzt gegen die mörderische rhetorik und das regelsystem eurer eltern!), hat sie sich in die rolle der angepaßten, folgsamen jeune fille rangée geflüchtet – teilweise so sehr, daß sie, teilweise, gar nicht mehr gespürt hat, wo sie dahinter noch existiert! Jetzt ist das, innerhalb von ein paar tagen, wieder aufgebrochen.. und bei mir ist ja manches ganz parallel dazu (auch im hinblick auf das elternhaus).. Du kannst dir denken, wie wichtig es für uns war, daß ich noch dablieb, auch wenn mir das ganze (mit den eltern) schrecklich peinlich war; - es war eine entdeckung, die uns beide erschüttert hat.. Und diotíma sitzt jetzt wieder allein in eurem high society-haushalt und alles macht ihr hundertmal mehr aus, weil sie in ganzer konsequenz ihr anders-sein spürt, die verlogenheit ihres alltäglichen verhaltens. – Und sie hat niemanden dort, dem sie vertrauen kann; denn bisher zumindest hattet ihr ja kaum was miteinander zu tun, - weil ihr euch gegenseitig mißtraut habt.

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Und viele grüße an simon. Es war schön, ihn wiederzusehen. Ich weiß noch, wie stillschweigend-selbstverständlich er mir damals im internat die kaninchenfelle aufs bett legte; genauso wie er mir jetzt die kleine holzstatue gab. So ist er. - - Ich bin sicher, daß wir uns keine wesentlichen sorgen wegen ihm machen müssen. Er wird seinen weg gehen. Kann nur sein, daß er seine eltern mal ganz schön verblüffen wird..

Diotíma ist in den letzten tagen sehr verwundbar geworden, verwundbarer als simon damals war. Ich glaube, du kannst dir das vorstellen.

2. august 74 * Martin an mondrian

Ich hatte einmal ein Gedicht für Diotíma geschrieben, hab's ihr aber nie gegeben. WARUM? .. Scheu vielleicht, Angst vielleicht, vor falscher Interpretation.. ? Sie ist schon wieder in ihrem Schneckenhaus drin, nur ein kurzer Besuch, und die Arbeit mit ihr ist viel schwerer als die mit Simon. Sie hat nicht mehr das Unbekümmerte, das Offene , - sie ist halt älter. Und, das ergibt sich fast schon daraus, reifer (bä, ein ekelhaftes Wort, viel zu moralisch und klebrig). Einen Codeschlüssel für ihre Sprache zu finden ist schwer, wirklich schwer. Ihre Gesten, ihre Augen, daraus kann man noch lesen. Deuten.

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29. oktober 74 * Mondrian an martin

Ich meine, es ist ein zu einfacher weg, gefühle und reflexionen über gefühle mit dem argument beiseitezuschieben (wie du es sagst): "Du weißt doch, ich bin viel zu sehr Logiker, als daß ich nur aus meinen Gefühlen leben könnte". Ich muß an 'Er und Ich' (von moravia) denken, ein buch, das mir von stil her nicht zusagt, aber es bringt einen typ, der krampfhaft versucht, mit seinen gefühlen (und deren abgründen!) fertigzuwerden, indem er sich/sie sublimiert. – Er möchte so gern ein sublimierter mensch sein, ein mensch von kultur. Er geht irgendwo davon aus: entweder ich lasse meine gefühle laufen – oder ich bin ein mensch, habe kultur. Das ist ein relativ dummer (nein: beschränkter) mensch. Du machst das viel raffinierter, raffiniert vor allem dir selbst gegenüber. Was ich ansprach (du sollst sein wer du bist), bezog sich auf deinen satz: "Ich bin, wenn ich sein will", und das scheint mir als roter faden durch deine vorstellung von dir selbst zu gehen: die diskrepanz zwischen dem, was dein ICH tun will (was aus dir rauskommen will) und dem, was du dann wirklich tust (zuläßt). Du sagst, du seist mensch, du lebst, und setzt dann in klammern dazu: "Unterscheide: außen – innen". Eben darum geht es! – Um diese konstruktion, die du willst, die teilweise ihre berechtigung hat, die aber oftmals zum allzu einfachen ausweg gerät, sich gefühlsmäßig schwierigen situationen zu entziehen.

Du sagst, du hast – genau wie damals im internat – darauf gezielt, mit niemandem eine feste verbindung einzugehen, weil das dich in deiner arbeit stören würde – die normativen verpflichtungen dem anderen gegenüber etc. Ich muß dich fragen, wieviel ist deine ganze arbeit wert, wo sie nicht auf den menschen hin abzielt? Wo sie nicht voll auf den menschen hin sich konzentriert? Wo ist alle arbeit nur einen funken wert ohne die liebe? Ich weiß wie gefährlich so ein wort ist. Ich gebrauche es doch - - ich glaube, ich kann mich dadurch am ehesten von aller klischeehaftigkeit abgrenzen. Es ist, daß du nichts schaffst ohne daß du dich, dein ICH, und zwar ganz, in den menschen investierst – nicht in einen, sondern prinzipiell in alle. Alles, was du willst, ist null und nichts, wenn es nicht aus deinem leben inmitten der menschen und mit den menschen heraus kommt! –

Du sollst nicht gefühlsduselig werden, das ist nicht gemeint mit "aus deinen gefühlen leben". Du solltest nur 'aus den menschen heraus' leben, deren einer du bist. - - Ich hoffe, daß du in die vieldeutigkeit, die vielfältigkeit, die freiheit gehst – aber deine rational so wunderbaren erkenntnisse bedürfen der gefühlsmäßigen verwirklichung!

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Dein schlüsselsatz: "Sein kann ich immer, auch allein, aber leben nur mit anderen": Wo ist der unterschied zwischen "allein" und "mit anderen", besser gefragt: Wo ist der unterschied zwischen "sein" und "leben"? Ich will da keinen.

Ich bin im moment so frei wie noch nie, und – und das ist der grund dafür – so gebunden wie noch nie: an gisèle. Ich kann das nicht erklären, wills nur einfach aufschreiben..

2. november 74 * Martin an mondrian

Für jemanden Gefühle aufbringen heißt doch indirekt: für sich selbst "vorteile" erhoffen. (noch milde ausgedrückt) Du kannst mir nicht weismachen, daß Gefühle keine Strategie/Taktik sind (nicht nur natürlich), mir nicht, Wolfgang.* Für etwas Gefühle aufbringen, heißt (für objekt-bezogene Gefühle könnte man auch sagen: Interesse): auch hier wieder "Vorteile" erhoffen: durch das mehr- wissen, mehr-haben.. Gefühle sind nicht sauber; irgendwo ist immer Egoismus drin. Zuerst einmal ist es Aufgabe die Umwelt zu echten Gefühlen/Gefühlsäußerungen zu bringen...... Wenn du das vorhast, wirst du sehr schnell an deiner eigenen Offenheit kaputt gehen, man wird dich ausnutzen bis zuletzt, und du wirst zuletzt sogar sehen, daß niemand gelernt hat und daß du fertig bist.

Ich weiß was ich da sage und ich hab lange gebraucht um dir das sagen zu können. (Ich wäre froh gewesen, wenn ich es dir auf direktem Weg, mündlich hätte sagen können.) Warum ich dir das schreibe: Du sollst einmal an dir selber zweifeln. Du sollst die Doppeldeutigkeit deiner Gefühle sehen. Du sollst aus dieser Erkenntnis, aus diesem Zweifel heraus dein Handeln nach Gefühlen analysieren und so, will ich hoffen, sollst du einen Schlag vor den Kopf erhalten. Das war Offenheit, nicht gesteuert, nicht subjekt-bezogen, etwas kalt vielleicht, "kaltschnäuzig". Ich meine, es war nötig, einmal.

* Meinen namen "mondrian" habe ich erst 1980 gefunden.

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5. november 74 * Mondrian an martin

Du hast recht, unsere gefühle sind doppeldeutig. Das ist nichts neues für mich, ich weiß es. Und ich akzeptiere es. Du hast recht, in gefühlen ist irgendwo immer egoismus drin. Aber das ist ok so. Und das ist wohl die schwerste aussage in dem brief hier: Es ist ok so. Denn du bist ein mensch, keine maschine, und der mensch ist egoistisch, auf einer ebene. Hast du angst vor deinem menschsein = deinem egoismus? Hast du angast vor deinem ego und dem anderer menschen? In gefühlen ist strategie, in gefühlen ist 'sich selbst vorteile im weitesten sinn erhoffen': na und? Was willst du denn, wie willst du denn leben? Meinst du, es gibt echtere gefühle als die, in denen ego drin ist, die aus ego entstanden sind? DU liebst, DU haßt – im banalsten verallgemeinerungston – der aber doch die einzige antwort ist auf deine sätze: "du" bist es! Und nichts anderes ist dein ego-ismus.

In einem bin ich ungerecht, unfair: Wir reden beide von gefühlen – und meinen doch etwas verschiedenes. Ich lebe jetzt mit gefühlen, die ich vor 1 jahr noch nicht gekannt hatte, und du – da bin ich mir ziemlich sicher – lebst (noch) nicht mit solchen gefühlen. Vor diesem jahr hätte ich tief drin in mir wohl ähnliches wie heute gefühlt, aber sagen können hätte ich es auch nicht. Es war noch nicht 'reif'. Ich war in kirchheim in einem leben mit gefühlen, die immer nur bis zu einem punkt gingen – wo nämlich die angst anfing, die jetzt du ansprichst: daß ich durch meine offenheit kaputtgemacht werden würde usw. – wie du es schreibst. Das hatte ich so gelernt im alltag mit meinen eltern, wie ja du wohl auch. Dann kam ich nach heidelberg, zu euch ins internat.. Dort habe ich offenheit gelernt durch die kommune, ich habs ja oft genug angedeutet. – Dieses lernen: war nicht rational, fast garnicht. Es war erfahrung, war das erleben, was alles geht durch offenheit, durch gelebte gefühle – auch wenn ich manchmal mit denen reingefallen bin, sie mir (u.a.) permanent ärger bereitet haben, zum teil weißt du's oder hast es mitgekriegt. Aber diese zeit hat es mir unmöglich gemacht, rationale (analytische) sätze zu postulieren über gefühle. Was war zwischen jim & mir, krümel & mir, horsti & mir, das war ATMOSPHÄRE, war pures da-sein. Der 'pädagogische faktor' (also das, was ich "erreicht" habe, die leute zu gefühlsäußerungen und zum malen und reden zu bringen beispielsweise) lief nebenher. Primär war es ein miteinander – und im nachhinein ist die frage, ob, wie und wen ich da "geändert" habe, ziemlich uninteressant: Wir haben miteinander gelebt. Das ist leben – ist lebenserfahrung. Für die alle – und für mich genauso.

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"Ausgenutzt" bin ich worden, du hast recht. Aber hat mich das ärmer gemacht? Nerven gekostet? Geld, materielles? (Ja. Na und? Bedeutet das was? Es blieb dennoch ein geben und nehmen..) Das alles mag dir fadenscheinig vorkommen, aber den posten ATMOSPHÄRE kann ich dir rational tatsächlich nicht erklären. Überleg dir, ob du dir vorstellen kannst, daß es einen glücklich macht, wenn jemand ins zimmer kommt, zwei stunden rumsitzt, rausgeht – ohne die pflicht empfunden zu haben, etwas über den grund usw. zu sagen. Wenn einer ins zimmer kommt und reißnägel haben will, weil er weiß: der hat welche. - Kannst du dir vorstellen, daß offenheit und für jemanden gefühle aufbringen auch sowas sein kann? Und du hast recht, wenn du rausanalysierst, daß ich auch hier für mich vorteile erreicht habe, nämlich die befriedigung, benötigt zu werden, oder sowas. Stimmt. Na und? Gott, es gibt keinen wert außerhalb deinerselbst!! Und jeder von uns ist existenzialist, wenn du sein handeln dir ansiehst - auch wenn er's nie als philosophie auf seine fahnen geschrieben hat!

Ja, das war das internat, das war die eine ebene meiner neuen fähigkeit zur offenheit. Im februar dann kam ich zu euch, und diotíma, ja: deine schwester! – hat mich an einem abend so sehr auseinandergenommen und meinen kunstvollen aufbau und überbau (der ja noch bestand! Im internat war die praxis desselben zerstört und unterminiert worden, ohne aber das der theorie klarzumachen) in luft zerlegt, so sehr, daß ich diese neue offenheit und fähigkeit, für jemanden gefühle aufzubringen, an diesen einen menschen diotíma heranbringen konnte. Sie war der initialzünder für meine fähigkeit, mich jetzt auf gefühle in mir drin einfach so einzulassen.. – jetzt in der beziehung mit gisela. Gefühle, die neu sind und die ich dir voraus habe, wie ich vermute.

Du schreibst, zuletzt würde ich sehen, daß niemand gelernt hat und daß ich fertig bin. – Du weißt vielleicht, daß ich x leute um mich rum hatte und habe, deren beichtvater, diskussionsgegner, vater, bruder und sonstwas ich war und bin. Jeder ist in dem augenblick, in dem er kommt, der einzige in meinem herzen (ich sage herzen, nicht gehirn, - das sowieso), sonst könnte ich nicht das für die alle sein. Und das geht. Und es ist echt. Es ist nicht geheuchelte intimität. Und ich bin nicht "fertig" – obwohl ich weiß, daß nur promille von dem, was ich versuche zu zeigen (meist will ich nur die vielfalt zeigen, die in denen selbst drin ist, das weißt du wohl), faktisch aufgenommen wird, und nur prozente davon überhaupt etwas neues bringen. Vieles ist nur "nett" für die leute, manches wird überhört, überlesen. Na und? So ist das eben. Aber ich lebe dieses leben und es ist ok so, weil die menschen so sind. Soll ich nichts tun, bloß weil keine idealmenschen da sind? Und, du? Du wolltest einmal so

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viel tun – aus deinen sätzen hier lese ich fast, daß du drauf verzichtest, weil du nicht die richtigen menschen um dich hast!? Meinst du, du kannst auch nur das geringste tun mit deinem intellekt, wenn nicht dein ganzes ICH, deine ganze offenheit drin ist? Es gibt so ein bibelwort, ich totaler atheist hab aber noch nie was besseres dafür gefunden. In den Korintherbriefen (1.,13) heißt es sinngemäß: Wer mit engelszungen redet und hat die liebe nicht, dessen stimme ist wie stumm; wer eine glocke gießt ohne liebe, dem wird sie taub wie erz. Es ist banal, aber es ist die einzige antwort, die ich dir geben kann auf deinen brief. Und ich sage es, auch wenn du mich vielleicht auslachst oder meinst, jetzt ist er ganz vertrottelt.

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27. januar 75 * Martin an mondrian

Notizen an Wolfgang: "Die Schnecke erwachte und schiß. Eh bien?" – Also doch ein Zitat; und sogar eines von dir! – Wolfgang, hast du's vergessen? Weißt du überhaupt wie recht du hattest, als du das da geschrieben hast? Wie recht?

Das Gefühl, konfrontiert mit der unbarmherzigen, grellen Realität, konfrontiert mit der Definition, konfrontiert mit seiner verbalisierenden Zensur: Es zerbricht – Das ist die Lehre daraus (die Bilder: Alle böse, wie immer.), aber was hilft sie!? Mein Gott, jeden Tag lerne ich etwas, was mir nichts nützt, was unbrauchbar ist für spätere Zeit, für Gegenwart auch; ich lerne etwas, was mir gefällt, ich fühle, sehe Lyrisches auch in meiner gesellschaftlichen Umwelt: aber es nützt mir nichts, ich kann es, außer auf mich, nicht anwenden! Ja Mann, kann ich es festhalten dann? Nein, verflucht nochmal, leider geht es verloren, es ist weg, . Und ich kann nichts dagegen tun! Es ist eine Unmenge von Fakten, Gefühlen, Einsichten.. (usw.), was anderes verdrängt. Es ist, wie Sartre sagt (noch ein Zitat) "die Verdammnis zur Freiheit". Siehst du, und gerade das fühlt Diotíma jetzt: Freiheit. Sie probt die Freiheit; - und manchmal weiß ich, daß sie das ablehnen wird, vielleicht sogar schon abgelehnt hat: Die Freiheit. Dagegen kann ich nichts tun, das muß sie ganz alleine machen, ja, ganz alleine. Sie wird von allen Um-Menschen geprägt, und das einzige was sie tun kann, ist: bewußt unter ihnen auszuwählen, und dabei hilft ihr niemand. Wolfgang, das ist Entwicklung, natürliche Entwicklung. Natürlich, weil man nicht um sie herum kommt. Ich habe nachgedacht über das, ich habe Existenz und Entwicklung abgewägt. Werdend bin ich. – Das ist was heraus gekommen ist dabei. Mehr kann ich dir nicht sagen, eben nur, daß Werden nötig ist um zu sein. Mehr nicht.. Dein Martin

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10. märz 75 * Mondrian an martin

Ich habe skrjabins 10. klaviersonate gehört, die er irgendwo "sonnengeborene Insekten" genannt hat, und ich dachte an unsere zeit, wo bartóks 1. klavierkonzert da war (hast du es inzwischen? oder ist es unwichtig geworden?), und diese sonate, wie skrjabin oft, erinnerte mich irgendwie an dich, das klare und lichte, das auch in deinen bildern ist, und das du in deinen gedanken anstrebst. Und dann dachte ich an die atmosphäre, die skrjabin gemeint haben mag, und ich kam auf südeuropa, die sonne, die gegend, das licht da – weißt du, in dem jahr, als ich überall da rumgezogen bin -, und ich kam drauf, daß ich's gern mit deinen augen sehen würde, daß ich gern mit dir zusammen SEHEN würde – aber jetzt geht’s nicht, da hab ich das geschrieben:

Martin

'Sonnengeborene insekten', französische himmelblau verhangene luft, skrjabin zum beispiel.. Kennst du palermo mit seiner mauer vor dem meer?

Ja, und ich hocke hier, ich hab mir eine stereoanlage zugelegt, musik zu hören macht jetzt noch viel mehr spaß, zudem fange ich langsam wieder an, meine vielfalt wiederzufinden, die ich durch den bund echt verloren hatte, das merke ich erst jetzt, danach. Ich schwelge in dem gefühl, ich zu sein, meine energie zu haben, was bedeutet, 150 sachen zugleich zu machen oder eigentlich eher: zu empfinden; das ist mein leben. In heidelberg konnte ich es ausleben, das soll wieder kommen! Verstehst du das? Das wunderschöne gefühl ständig zu vibrieren, ständig aufzunehmen und wiederzugeben, informationen, gedanken, assoziationen, empfindungen.. Es ist schön. In der bundeswehrzeit hab ich 80% meiner energie in die (so völlig neue) beziehung mit gisèle investiert. So viel spaß mir der bund gemacht hat, mit all den erfahrungen, so sehr hat mich das doch auch zermürbt, - und die wochenenden mit

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gise, all ihre briefe.. – ohne das hätte ich diese zeit kaum so locker wegstecken können. Aber jetzt geht’s weiter, wo ich am 10.7.73 aufgehört habe, am letzten tag im internat.

(...) Ich dachte an dich und daß ich dir die mauer in palermo gern gezeigt hätte – Sie haben über 3 km weit das meer von der stadt abgesperrt durch diese mauer; nur bei den touristen kommst du rein, oder du steigst in die höfe der fischerkaten. Und wie es ist, wenn du mitternächtlich über die hauptverkehrsader von wien läufst, über den platz vor der stephanskirche: als einziger mensch, leer alles.. in wien. Oder das gefühl, wenn du von morgens um 8 bis abends um (etwa) 8 auf ein- und derselben bank sitzt und vor dir meer und sonne und himmel, immer der gleiche blick, in port bou, in katalanien. Oder wenn's in lutetia regnet (in paris) und kein tourist mehr zu sehen ist. Ja, das wollte ich dir schreiben.

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15. märz 75 * Martin an mondrian

Irgendwann werd ich doch mal noch bei dir vorbeikommen; vielleicht Anfang meiner Sommerferien. (Ich hatte vor Anfang der Osterferien, also jetzt, zu kommen, aber ich fahre zu einem Fechtlehrgang nach Tauberbischofsheim.) Mein Gott, mein Terminkalender ist voll bis zum Rand: schon eine ganze Weile bin ich an zwei Theatergruppen gleichzeitig. Gespielt haben wir ein absurdes-groteskes Stück von James Saunders, und zur Zeit arbeiten wir an 'Andorra' von Max Frisch. (Aufführung am 26.5.) Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie Probenarbeit aussieht: die Konfrontation mit einer anderen Person, die du zum Teil deiner selbst werden lassen mußt, ohne jedoch dich selbst in ihr zu verlieren; die Arbeit an einem Satz, einem Gang, an der kleinen, fast selbstverständlich wirkenden Geste mit der Hand, einem Finger, dem Kopf. Später dann, bei der Aufführung, oder bei Proben mit Zuschauern, das Gefühl, daß die Leute auf ihren Plätzen mitgehen, daß es ihnen nicht langweilig wird da unten; das Gefühl, daß ihr Applaudieren nicht aus Pflicht geschieht, dem Schauspieler nicht zeigen zu wollen, daß er schlecht war. Auch wenn du weißt, daß dir noch manches fehlt an Technik, an Vermögen ein Zusammenspiel zu zeigen. (Als nächstes geplantes Stück wird Büchner, 'Leonce und Lena' gespielt werden.) Bloch sagte einmal: "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werde ich erst." (Dieses werden sollte man nie aufgeben, denn es bedeutet leben, bedeutet vielfach sehen. Das ist es, was ich vor langer Zeit meinte [in einem unserer ersten Briefe mit 'experimentieren' meinte].)

Lange will ich dir einen >BRIEF< schreiben, immer werden es Notizen, Randbemerkungen. Scheinbar auch heute. Ich merke: es wird Zeit, daß wir uns mal treffen.

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14. juni 75 * Martin an mondrian

Es ist schon komisch: ich kann einfach nichts klares, deutliches mehr sagen, schreiben. Der Kopf ist voll mit Gedanken und Ansätzen, ab und zu gelingt mir etwas, aber im großen und ganzen läuft nichts bei mir. Ich glaube nicht, daß es an meiner vielfältigen Beschäftigung liegt (Schule, Theater, Sport, lesen..), ich glaube auch nicht, daß es ein Zeichen für Entfernung zwischen uns beiden ist. Vielleicht ist es die SUCHE, wahrscheinlich suche ich nach meiner Linie, nach Klarheit in mir, nach mir. Einfach Suche. (Seltsames Wort, nicht? S-u-c-h-e.) Ich suche den MC, der noch hinter arg dicken Wällen wartet gefunden zu werden. Na ja, es wird wohl noch dauern, das mit dem finden. Sagte Ludwig Hohl mal: "Es gibt nur Momente von Nähe."

Ich kann dir nicht schreiben, ich bin nicht da. Es ist nicht die Sorglosigkeit die fehlt, es ist...

23. august 75 * Mondrian an martin

Das war ein komischer tag.. Ein kleines folkfestival in kirchheim; gisela & ich waren da. Die atmosphäre – das übliche, klar, aber es war zu dieser zeit genau das richtige für mich: dieser anschein von eigenständigerem leben bei diesen hunderten von jugendlichen. Sie werden auch aufgesogen werden, sind's teilweise schon - aber hier (ausnahmsweise erweist sich eine gruppe als positiv!) war, wohl fast schon unbewußt, halbbewußt bei den leuten ein neudenken, ein selberdenken zumindest noch fühlbar für mich – auch wenn das bei 95% der leute zu schwach sein dürfte, um je wirklich gelebt zu werden. Das mir, der ich jetzt innerhalb von ein paar tagen mich entschlossen hatte, mein berufsziel, das schon jahre feststand, zu vergessen: psychagogik..* - Ich war in diesen letzten tagen endgültig auf dem höhepunkt einer entwicklung, die mich seit zwei jahren stark und stetig von meinem idealismus wegbringt, die menschen rausholen zu können aus der normalgesellschaft. In den letzten wochen kam da der ganz große sprung: die erkenntnis, daß das unmöglich ist außer bei einer winzigen

* Damalige berufsbezeichnung für heute: Kinder- und jugendlichenpsychotherapeut.

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gruppe, bei einzelnen, ganz im engen kontakt. Ich wollte etwas eigenes und bedeutsames machen im leben, das hatte ich schon immer als fast selbstverständlich angenommen – und ich glaubte, das feld dafür sei die psychagogik. Es hätte da liegen können; das ist der geeignetste beruf für mich, der einzige, der in mir ist - - aber ich brauch dazu eine einstellung, die ich verloren habe: die annahme, es sei ein erstrebenswerter zustand, in den ich die menschen, aus ihrer persönlichen neurose, hinausführe.. Immer mehr aber hab ich gemerkt, und das war ein prozeß, der sich aus unendlich vielen unendlich kleinen teilchen zusammengesetzt hat, daß ich sie nur hineinführe in die gesellschaftliche (normal-)neurose. Selbstverständlich helfe ich ihnen doch auch damit, weiß ich schon – aber ich weiß auch, daß dieses kleine helfen überrollt werden wird in einem leben als psychagoge von der frustration, den leuten "das gute" dieser gesellschaftlichen neurotik schmackhaft machen zu sollen, - zumindest bei mir würde da die frustration alles andere überwiegen. Etwas eigenes machen (vielmehr sein)? Das kann ich auch auf andere weise; und da geh ich jetzt hin: indem ich mir ein leben aufbaue nicht für oder gegen oder soetwas in bezug auf die gesellschaft, sondern ein leben (möglichst mit gisèle), das sich reinweg aus sich selbst, aus mir heraus definiert und begründet. Basta!

Das ist schon resignation; wo du deinen teil an der gesellschaftlich definierten 'kunst' leisten willst, hommage à la documenta, da mach ich's so. Gesellschaft.. das ist, vermutlich genauso wie's ist, nötig für die masse. Wir sind auch produkte der gesellschaft – produkte, die definiert sind aus der tatsache, daß die gesellschaft sie zu a-sozialen elementen gemacht hat. Ich jedenfalls bin asozial (in diesem sinne); du nicht auch? Ich weiß es nicht genau, bei dir, aber hab das gefühl, daß du dorthin gehst – wenn auch auf einem anderen weg als ich.

Na, und dann der haufen auf dem boden liegender, hockender jugendlicher.. Eine zeitlang hatte ich das gefühl, als sei ich doch nicht allein, so gut wie allein, als sei ich nicht ein marsmensch, als seien das alles leute wie ich, die freiwillig nachdenken, die sie selber sind.. Diese illusion, denn es ist eine, war schön, ich hab mich an ihr berieselt genauso wie an der musik, was solls. Vergessen, daß es eine illusion ist, tu ich nicht. Jedenfalls hör ich in der akademiker-intelligentsia auf (und ich versichere dir, falls du meinst, ich sei dann um eine möglichkeit ärmer, mich selber auf höheren geistigen stand zu bringen: daß ich dies auf hochschulen eh nimmer mehr hätte erreichen können! Eher verblöden.) Und wenn wir soweit kommen (gise & ich), gehen wir nach kanada und bauen dort eine deutsche buchhandlung auf. Wenn's nicht klappt? Wir verhungern nicht, falls wir noch fühlen, was wir wirklich brauchen und was einem als bedürfnis nur anmanipuliert wurde..

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Auf dem festival saß plötzlich neben mir ein junge; ich hatte den in der stadt schon öfters gesehen, aber nie von nahem.. Das war schon schlimm, du! – Weißt du, mädchen, das ist eine sache, und ich möchte nie darauf verzichten; ich meine nicht das ficken (das ich eh noch nicht gemacht hab, wie du weißt), ich meine ein mädchen.. ihren körper, ihre art zu fühlen, die um soviel mehr von innen heraus kommt , die ist wie eine muschel, oder wie eine zwiebel, du kannst schale um schale abblättern.. oder du kannst es nicht. – Ja, aber jungen, das ist eine ganz andere sache.. Es ist ihr körper, es ist die art wie sie sind; schlacksig und grob, und dahinter versteckt sich so viel kindliches.. Ja, männer sind irgendwo viel mehr kinder, weil sie im allgemeinen nie die gefühlsabgründe durchleben dürfen, die mädchen, frauen durchleben. Zum teil, weil sie sich erziehungsgemäß "zusammennehmen" müssen, zum teil, weil sie diese gefühle, die auch physisch bedingt sind, gar nicht haben können. Männer spielen um soviel mehr als frauen; männer spielen ihr halbes leben lang räuber-und-gendarm, in allen stufen, und die andere hälfte monopoly, auch in allen stufen, mit allen denkbaren einsätzen und werten. Eine frau spielt nur etwas: sich selbst. (Zumindest grob vereinfacht und auf die frau als durchschnitt ist so eine aussage wohl legitim.) Ein junge im bett, das ist wie wenn du einen eisberg schmelzen läßt, der sich und dir immer wieder klarmachen will, daß er einer ist – und dabei ist er wirklich kein eisberg, sondern eine blume, die MANN spielt, und dieses "mann"-sein so falsch versteht.. Wie sollte er's auch anders, wenn wir's ihm nicht zeigen?! Wir, das sind die, die mit ihm schlafen, ob frauen oder andere männer. – Der junge, der mann definiert sich eher vom sehen, weil er seine möglichkeit zu leben zwischen seinen beinen hängen (oder stehen) sieht: Das bin ich! Er findet gewißheit eher in der aktivität nach draußen. Oft muß der junge, der mann, das fühlen erst mühsam lernen, weil er es, sollte er ein bißchen davon in sich gefunden haben, beim wichsen wieder verlernt. Wichsen, das ist als gefühl so grob behauen, daß es der tod von fühlen als bewußtsein (nicht als zustand) ist; das weiß keiner so gut wie ich..

Das mädchen wird erzogen, 'sich' von den andern her zu sehen (zu definieren), also außerhalb ihres leibs. Falls sie dennoch selbst etwas empfindet von sich, fühlt sie das eher in sich drin, alsdaß sie sich sieht. Sie findet gewißheit dann eher in sich drin. Ein mädchen ist verlegen, unsicher, vor etwas neuem, wenn sie gefühle hat: sie zögert, horcht in sich rein. Ein junge in derselben situation: er springt rein in die situation – meistens jedenfalls. (Immer gesetzt den fall, er will's wirklich und hat nicht ziemliche hemmungen; ich geh von durchschnitt, vom "normalfall" aus..) Der junge über-spielt(!) seine verlegenheit durch action – das mädchen reagiert eher mit zagen, zaudern, wenn & aber, mit rückzug in sich.

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Der junge macht sich lustig über gefühle, die er im grund ernstnimmt: er holt sich das werkzeug des denkens. – Das mädchen leugnet sie oder steigert sich rein, wenn sie sie nicht einfach hinnehmen kann; in jedemfall bleibt sie an den gefühlen dran. - - Alles vereinfachungen, insofern illegitim; lies es schnell, als flüchtige skizzen, farbschattierungen, sind keine ganzen bilder.

Bilder.. Dieser junge da... er ist 15 oder 17, sieht älter aus von der größe, vom körper her; man sieht's nur im gesicht, wie jung er ist; er hat simons haare, nur strähnig, in schmuddelsexsträhnen, herunterhängend, ohne schnitt.. aber ansonsten ist er nicht dreckig; es ist halt so bei dem! Sein gesicht, seine haut, die wirkt im gesicht we ein schlag ins herz, an den händen wie ein vergessener atemzug: Seine haut ist (ganz bestimmt!) weich und warm, aus diesem glatten, matten weiß (ja, auch hier ähnlich wie simon, nur blendender), seine hände sind keine gymnasiastenhände und (noch) keine arbeitshände, es sind die hände, denen ich ein motorrad (schwarz gefahren) zutraue, jims hände also.* Er hat ein gesicht, das ich nicht beschreiben kann (geht das überhaupt je?), es ist wie ein engel so malerhaft, malerisch, aber wie ein engel aus dem bösen.. Klischee, kitsch? Aber es paßt. Es ist schön, und ordinär. Und schön aus dieser ordinärheit. Oder so. Er hat wahnsinnig große lippen, die so ruhig in seinem gesicht liegen, der mund ist immer ein bißchen offen, die nase ist klein, gerade. Seine augen sind denen von simon auch unheimlich ähnlich, merk ich grad – nur hat simon einen ausdruck von anständigkeit, von verträumtheit – und der von ordinärer schönheit; simon von überirdischer, er von unterirdischer schönheit. Sein körper ist – bei dieser haut! – so wie der von jim, er hat vielleicht noch ein bißchen stärkere (nicht dickere) beine; und seine blue jeans war so eng; - - seinen schwanz stelle ich mir lieber gar nicht vor; obwohl gise & ich, als er da neben uns flackte, nichts anderes getan haben als das.. Natürlich hat er ein hohlkreuz und den arsch, den gang, den jim so sehr und ich ein bißchen habe, den schwulen gang. Und zwei kumpels bei sich, die, wie gise meinte, recht genau wußten, welche wirkung er verursachte (vielleicht auch auf die beiden?). - - - - - Ein kerle wär auch mal wieder nett! Das hab ich selten so deutlich gemerkt wie heut. Er hatte ungeheure boots an, die seine füße ziemlich groß machten; ich mag große füße nicht, aber zu dem paßten diese mordswerkzeuge an den füßen. Er hat die körperproportionen eines mannes, oder sagen wir jungen mannes, im körper eines jungen.. Das schaut einfach schlimm aus; so schlimm – mir ist's da echt schlecht gegangen, die zeit, als der neben mir lag. Ich meinte zu gise, als ich sie küßte, jetzt grad hätt' ich den lieber; gottseidank ist ihr nichts klarer als das.

* Jim war einer der internatler; wir waren während meiner zwei jahre im internat die meiste zeit zusammen.

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UND DER GEHT NICHT MIT MIR INS BETT !! DAS IST DIE ALLERGRÖSSTE UNGERECHTIGKEIT DER WELT ! FRAGEN ? HOFFNUNGSLOS: ENTWEDER ER IST HETEROSEXUELL, DANN ISTS NICHTS, ODER ER IST HOMOSEXUELL, DANN MACHTS KEINEN SPASS, WEIL ER'S DANN TODERNST NIMMT UND MIT MIR GEHEN WILL. UND DAFÜR IST ER MIR ZU PRIMITIV. DENN DAS IST ER, DA BIN ICH MIR ZIEMLICH SICHER.

Und dann hat mich so ein typ mit jenseitslangen haaren angeflirtet, ich denk, das ist ein mädchen, das ich kennen müßte, aber vergessen hab, da steht es auf und ich merk, es ist ein kerle. Aber im gedränge war er weg; auch scheiße. Der war nichts soo berühmtes, aber immerhin. Halb drei nachts. Noch nicht im bett. Martin, was meinst du, kommst du irgendwann im laufe deines lebens zu uns rüber? 's wär mal wieder nett. Briefe sind eine sache, musik & toast & wein & käse & augen, die einen anschauen, mimik, gestik., all das ist eine ganz andere sache, das weißt du ja. Aber nur kommen, wenn du DA bist, geistig, emotional, in richtung auf mich, auf mein nana'nke'pichu.* Vielleicht dauert das noch ewig – ich weiß es nicht. Dieser typ.. Ich flipp noch aus, wenn ich an den denke. Sex ist schon was ganz schön gefräßiges, wenn mensch es mal angefangen hat über wichsorgien hinaus. – Aber arg schön, wenn mensch sich nicht auffressen läßt, sondern nur immer mal anknabbern läßt, und das tu ich. Sex – der soll mich ruhig ab und zu beherrschen – aber dann wieder bin ich unabhängig von ihm. Jetzt geh ich ins bett; allein, allein mit meinem schwanz; ein bißchen wenig, und ein bißchen altgewohnt, aber was will ich machen.. Schlaf gut, martin. Mal' mal 'ne SCHNECKE in die luft und pust' sie weg.. oder irgendwo hin. **

* Nana'nke'pichu (ketchua: 'Nicht-Heim') habe ich zeitweise schon "mein" zimmer im internat und später "meine" wohnungen genannt, die ich nicht als 'burg gegenüber einer feindlichen außenwelt' verstanden habe, sondern als kristallisationspunkte für STRASSENKOMMUNE. (Anais nin hatte ihr hausboot auf der seine bei paris so genannt.) ** Die schnecke (spirale) war ein internatskommunensymbol für erotik/sex im erweiterten sinne.

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10. september 75 * Martin an mondrian

An Wolfgang

Gepaarte Einsamkeit, zweifach gelebter Gedanke des Lebens. Einfache Sätze. Du, der die Kunst denkt, wahrlich bewirktest ein Schmunzeln im Winkel der Dunkelheit. Das Lob verstummte dir im Rachen des Tollhauses. Sei's drum !

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8. oktober 75 * Martin an mondrian

Immer wieder muß ich die Hoffnung ertragen einmal dich besuchen zu können: immer wieder wird nichts draus, ich selbst durchkreuze den Plan. Das Unvollendete! Für die Schule arbeite ich kaum noch etwas, ich sage mir das muß von selbst kommen, wenn die Lehrer etwas taugen. Das klingt überheblich, nicht wahr? Aber es ist nicht überheblich, einfach weil es eine logische Konsequenz aus der schulischen Zielsetzung ist. Wenn diese Einrichtung schon zu meinen Gunsten falsch geordnet ist, will ich das auch ausnutzen, notfalls auch verteidigen. (Übrigens klappt das: mein Notendurchschnitt beträgt 1,9) Ich gebe Nachhilfe in Französisch, Deutsch und Mathe, verdiene (steuerfrei) monatlich zwischen 190 und 230 DM und amüsiere mich über die Unfähigkeit meiner Schüler aus Situationen wie Schule, Familie, Beobachtungen logische Schlüsse zu ziehen. Mein Sarkasmus kennt zur Zeit keine Grenzen. (In dieser Situation würde ich ein Mädchen wahrscheinlich bis zum Irrsinn treiben; Konsequenz: zur Zeit habe ich keine Freundin, im gemeinen Sinn. Andere schon.) Ich fürchte, wenn ich mit dem Brief fertig bin, ähnele ich sehr einem Mephisto. "Ich habe, um mich vom Urteil anderer frei zu machen, alle Distanz die mich von mir trennt." sagt Artaud. (Ich weiß nicht ob ich es dir schon mal geschrieben habe, wenn ja, verzeih mir das bitte.) Das ist ungefähr die Stimmung die ich jetzt habe: Distanz zu mir selbst. Diese Momente gebrauche ich um das, was ich geschaffen habe, zu betrachten. Das ist der Moment von dem du einmal sagtest (es war noch in Heidelberg): "Ich glaube alles was dir über den Weg läuft, muß über deine Klinge springen." Ganz recht: in solchen Momenten urteile ich sehr schnell, spitz, voreilig und kaltschnäuzig (du erinnerst dich?) – aber dann beurteile ich mich auch selbst, sage mir: Was du da gemacht hast, Meister, war scheiße. Es ist schon schlimm, ich habe mich dann nämlich nicht mehr unter Kontrolle, und Menschen in meiner Nähe haben nur noch zwei Möglichkeiten: zu lachen oder zu verzweifeln. Und in ihrer Unsicherheit, in ihrem Schwanken halten sie mich mit ängstlicher Geste für verrückt. Aber gerade die Unsicherheit macht mich rasend, und dann, zum Teufel, werde ich unausstehlich. Es macht mir ein diebisches Vergnügen ihnen dann ihre Selbstsicherheit zu nehmen, auf intellektuellem Wege. Sie fordern mich heraus, auch wenn es tausendmal nicht ihre Absicht ist, und es ist genauso wenig meine Absicht sie dann unterzubuttern. – Ich reagiere sehr schnell, du weißt ja. Chianti, Toast mit eingezogener Butter, Knoblauchpulver, Tee.. – du, ich sage nichts darüber, jetzt, es wäre abscheulich.

Meine Art Menschen zu mögen, ist, ihnen manchmal auch in den Arsch zu treten, um zu sehen wie sie reagieren. Oft tun sie das falsch.

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Wolfgang gedacht

Mandeltraurige Augen, die mich anblickten, geboren zu werden, täglich.

Ablehnende Zustimmung.

Und Gespräche um das Licht.

Freudige Trauer.

Dort, und Brot und Wärme, geflackerte Schimmer einer Ewigkeit.

Und immer. (1/10/75)

24. oktober 75 * Martin an mondrian

Ich glaub, jetzt bin ich völlig verrückt geworden: Ich lese gleichzeitig 'Ada' (Nabokov), 'Die Eiszeit' (Ernst Herhaus) und 'Perrudja' (H.H.Jahnn). Gleichzeitig! – Totaler Irrsinn.

Ich schau aus dem Fenster, seh die Bäume, de Farben, Vögel und sie sehen mich an mit ihrer ganzen Natürlichkeit und dann werde ich unsicher. Plötzlich ist meine Position, meine Stellung innerhalb dieses wunderschönen Formengebildes gar nicht mehr so eindeutig und überlegen wie sonst. Ich bewundere die Natur wegen ihrer Trägheit, ich bewundere, daß sie dem schwächsten Druck nachgibt und doch sich behauptet, später. Ich bewundere ihre

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einfache Logik, und die Tatsache, daß sie kein Bewußtsein hat. Ja, ja, ich sag das so einfach hin, vielleicht ist es gar nicht so einfach. Mag sein. Wie sagt mein Zeichenlehrer: "Wenn du eine Form suchst, dann geh und finde sie in der Natur."

Vor meinem Fenster sitzt eine Meise. Sie hackt einen Sonnenblumenkern; dauernd schaut sie hoch, beobachtet, frißt weiter, beobachtet wieder, ängstlich, aufgeregt dann von einem Ast zum anderen, schaut mich an, pfeift noch einmal, wippt mit dem Schwanz, ich bewege mich nicht, aber scheinbar hat sie mich durchschaut: beobachten läßt sie sich nicht. Weg. Weg. Meine Gedanken auch.

27. oktober 75 * Mondrian an martin

"Exzentrizität ist des größten Kummers größtes Heilmittel." (Nabokov: 'Ada oder Das Verlangen', seite 332) - - Die ada! Daß du sie liest – die ada! Da kann ich nur dankbar sein: daß du auch dieses so andere willst! Und die natur.. jetzt sind wir wieder da, wie so oft. NATUR. Plötzlich, schreibst du, ist dir deine stellung innerhalb dieses formengebildes gar nicht mehr so eindeutig und überlegen wie sonst.. Ich kann jacques hamelink ('Horror vacui') zitieren, der mir mal schrieb: "Beim Blumenvolk wirst du im Verdacht der Perversität stehen" - - und dir ist sowas aufgefallen sicherlich zum teil jetzt angesichts des 'Perrudja'. Weißt du, ich hab beim lesen dieses buches so sehr, so wahnsinnig sehr dich vor mir gesehen – leiblich fast, ja: diese mischung aus spontaneität und echtheit, von naturverwurzeltsein – denn das bist du, irgendwo, ich kann es nicht sagen wieso, aber ich spüre es seit ich dich kenne, im internat schon. Es ist eine orientierung am materiellen, an den phänomenen des lebens; es manifestierte sich wohl zuerst in deinem ersten, dem regengedicht, deinem benehmen bei dem gewitter damals (weißt du noch? sicherlich), auch dein bewußtes essen (in der 'freßkommune' mit fröschle).. Kannst du etwa verstehen, was ich meine? (Nein, schon längst vorher: dein chemielabor!)

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Glücklicherweise greift es deine "überlegene Stellung" an, das erschrecken, das wundern über dinge in der natur, - deswegen, martin, häng ich irgendwo so an dir – nicht wegen deiner intellektuellen kompetenz, als vielmehr wegen deiner echtheit, ungebrochenheit, mit der du gegebenenfalls auch.. unecht dich darstellst, auslebst.

Hast du mal gedichte von stefan george gelesen? von hölderlin? (Das zweite frag ich, weil frau hannsmann, als ich ihr was von dir zu lesen gab, dich daraufhin mit hölderlin assoziierte; es hatte ihr sehr gefallen. Kennst du gedichte von ihr?) Ja, 'Perrudja' - - Dein verlangen nach stärke, nach integrität der gefühle, und deine schwäche – du bist schwach und bist stark, weil du mehr aus deiner schwäche machst als andere, die meisten, aus ihrer stärke – und genauso ist perrudja. Schwäche? – Ja, in deinen gefühlen bist du schwach, schwankend, zaghaft. Das weißt du, oder? Genau wie perrudja. Irrsinnig starke gefühle haben und nicht wagen, sie auszuleben, - vielleicht eher so.

Dieses mädchen, der ich deine briefe zeigte.. – perlen vor die säue geworfen! Sie ist 19, sie sah in dir das, was menschen meist zu sehen meinen, wenn sie das besondere an anderen nicht sehen wollen; sie meinte, du seist arrogant – sie kann eben nicht akzeptieren, daß jemand mit 17 da sein kann, wo du bist. Sie meinte, es sei nutz- und witzlos, sich einfach so in den tag hinein so "zu verkünsteln" – es komme darauf an, eine zielvorstelung zu haben. Sie hat, obwohl sie intelligent und gebildet ist, jetzt schon ihre zielvorstellungen um sich rum aufgebaut, deswegen wird es auch bald aus sein mit ihrer entwickelung!*

* Nachtrag 1988: Sie kommt aus einem künstlerelternhaus, hat mit 16 die 'Dialektik der Aufklärung' gelesen und gemeint, sie zu verstehen, hat sich während der ganzen schulzeit ganz selbstverständlich als avantgarde gefühlt. Ich habe jahrelang versucht, mit ihr in authentischen kontakt zu kommen und bin immer neu verzeifelt an ihren gebildeten worthülsen; später ist sie dann geschichtslehrerin geworden Auf einen brieflichen kontaktversuch im jahr 2006 kam keine antwort..

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30. april 76 * Martin an mondrian

Dein brief, - ich mußte lachen, ihn zweimal lesen, - mein gott, ich dachte, ich hätte ihn selbst geschrieben!* - Das Gefühl, daß da einer ist, der genauso denkt und fühlt, auffaßt, sich an eigentlich sinnlose Beschäftigungen verliert, immer wieder dieses Gefühl, und das Gespür, daß dahinter sich eine wunderschöne Wahrheit verbirgt, so geheimnisvoll katzenhaft, - ja! – daß ich weinen könnt, - und manchmal tu ichs.

Du weißt, ich denke über Kunstwerke recht unvernünftig. Mich faszinieren sie nur während ihrer Entstehung; der Schöpfungsakt scheint mir das wichtigste, und am meisten ausschlaggebend für die Rezeption des Werkes durch die Gesellschaft. Der Schöpfungsakt, - ein Zeitpunkt maximaler Konzentration und Aufnahmefähigkeit, unbedingt der sensibelste Moment für den Künstler. Jedes Kunstwerk, das ich betrachte (besonders meine eigenen), ist bloße Erinnerung an seine Entstehung. Eine Folge davon könnte sein den Herstellungsprozeß für ein Werk so lange wie möglich herauszuzögern, - bei mir ist aber genau das Gegenteil der Fall: ich versuche, so schnell wie möglich, so intensiv wie möglich zu arbeiten. Die längste Zeit, die ich brauchte, etwas "herzustellen", waren 6 Stunden für eine Gipsstatuette (9 cm hoch). Dauerhaftes zu schaffen dürfte nie die Absicht eines Künstlers sein, diesen Anspruch hegt nicht einmal der Inhalt seines Werkes. Du erinnerst dich vielleicht: "Kunst ist, indem sie wird." Immer noch beschäftigt mich dieser Satz, den ich einmal geschrieben hab, um mir eine Orientierungshilfe für meine Werkbetrachtung zu schaffen. Dieser Satz charakterisiert meinen zweiten Ansatz zur Kunstbetrachtung. (Der erste ist der, der den Weg über die Schöpfung nimmt, aber er taugt nur für den Kunstschaffenden.) Um ein Kunstwerk interessant zu gestalten, geben sich dem Künstler viele Möglichkeiten: er kann es zum Beispiel so differenziert anlegen, daß ein Betrachter sehr genau hinschauen muß, um es zu erfassen. Oder er gibt seinem Werk einen "Schock-Charakter", oder er verfremdet es (das alte Spiel der Relation zwischen Inhalt und Form), oder.. oder. Die Möglichkeit, die ich zur Zeit versuche, ist, ein Werk sich ändern zu lassen, durch Lichtauffall, Änderung der Lage, Hinzufügen oder Wegnehmen von Teilen. Das geht bei kleinen Plastiken sehr gut, macht Spaß und bringt immer neue Ergebnisse. Die ästhetisch wertvollsten Werke sind mir diejenigen, die variabel sind. Das schließt aber nicht aus, daß ihre Form und ihr Inhalt außer acht gelassen werden

* Gemeint ist der durchschlag eines briefes an jemand anderen, den ich martin geschickt hatte.

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können. Wichtig aber ist, daß sich die Aussage, die getroffen wird, ändern kann. (Unterschiedlich ist sie sowieso: jeder faßt ein wenig anders auf)

Jetzt hab ich wohl einen ganzen Haufen ungeordneter Ansätze wahllos getippt, - durcheinander, aber ich hoff doch, daß du dich zurechtfindest, - zumal es wahrscheinlich schon wichtig ist.

Das Chaos ist mir ein guter Freund: es eröffnet so viele Möglichkeiten und Richtungen, und ist der erfolgreichste äußere Schutz gegen Mittelmäßigkeit, den ich kenn. Der innere liegt in der Entwicklung, die immer in Bewegung sein muß, um das äußere Chaos zu ermöglichen. Ich hänge an nichts gegenständlichem, kann alles weggeben und mein ewiger Bezugspunkt ist der Traum, die Anerkennung seiner Kraft. comment Ça va? - ich liebe dich Dein Martin

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6. juni 76 * mondrian an martin

Das ist mein aufstand: übers wichsen reden und weinen, zu hoffnungslosen verhältnissen mich bekennen; pasodoble hören, kinderarmbänder tragen und briefe an emanzipatorische frauengruppen schreiben, da mitmachen wollen; vor einem jahr lernte ich inge kennen, ein mädchen aus giselas klasse, wir waren neugierig aufeinander, wir sind miteinander ins bett gegangen (aber da wird keine "beziehung" draus, nur eine freundschaft) und sie hat mir gesagt, sie spüre, wie ich mich vergewaltige, wie ich einen großen teil von mir abgebaut hab wegen gise. Es hat gestimmt. Danach fing ich wieder an zu malen, in bücher reinzuhorchen und musik zu lesen. Und dann merkte ich, wie sehr mich das ankotzt, an kühlschränke und waschmaschinen zu denken und wohnung und geldausgeben und geldverdienen, - als familie mit gisela, in einem jahr in berlin. (Weil wir doch nach westberlin gehen wollen.) - - Wer bin ich geworden in den 2 jahren mit gisèle? In 30% kennt sie mich als einzige, neben jim, der mich da ein bißchen gekannt hat, ein bißchen. Als liebesbeziehung. Aber die 70% sonstnoch ?!?!?!?!?!??? Soviel liebe und kummer, verzweiflung und glück in dieser zeit, aber ich will nicht mehr so weiter. Aber sie ist dabei, den zweiten teil ihrer persönlichkeit rauszuarbeiten, den teil, der unabhängig von mir werden muß und werden wird, - also irgendwie etwas ganz ähnliches wie bei mir jetzt. Es ist mein aufstand, meinen weg zu gehen. Ob sie mitkommt, weiß ich nicht. Ist auch nicht die hauptsache – die hauptsache ist, daß ich meinen weg gehe. Immernoch höre ich pasodoble – in dem rhythmus ist der brief geschrieben, die sonne von perpignan und arles ist drin: Olé! Auch wenn's albern klingen mag. Es ist, ich sagte es schon: mein aufstand. Hommage à MC: "Konsequenz ist Mittelmäßigkeit!"

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24. juni 76 * Martin an mondrian

- Zur Erhöhung des befreiten Subjektes gehört als Schatten dessen Erniedrigung zum Austauschbaren, zum bloßen Sein für anderes dazu.. ADORNO

Und was, Wolfang, ist vernichtender für Mittelmäßigkeiten, als diese Erkenntnis? Ein Doppelleben führen ist endlich die Aufgabe, die ein Intellektueller zu lösen hat, immer doch in der Hoffnung, eine Synthese beider herbeiführen zu können. - Wenn ich mir lange dieses geringe, verschwindend geringe Ergebnis zweijähriger Proteste (du weißt es) anschaue, resigniere ich fast. Was sich uns noch bietet zur Betrachtung, Arbeit, Erfahrung: Geringfügigkeiten, die, im Mittelmaß vergessen, unser Leben ausmachen werden. Geheime Schwingungen, Unsichtbares, den freien und freizügigen Regeln ästhetischer und sozialer Zwecklosigkeit unterworfen, - es kann schmerzen, foltern, hm? Winzige Explosionen, zerstörend, aber doch gerichtet und hervorbringend, Rückschläge. - Das Vergehen aller ist die Zerstörung solcher Heimlichkeiten., in einem unwiderrufbaren Moment nicht wahrgenommen, - Geringfügigkeiten, die wir beachten lernen müssen (wie du diesen Jungen bei dem Folkfestival), die dann zu dem Wertvollsten zählen werden, was wir besitzen. – Nein, Wolfgang, ich habe nicht resigniert, nicht aufgegeben. Ich habe sehr viel gelernt, emotionell: Liebe, Ekel, Trauer, Freude, Freiheit. Und absurderweise ist das Ergebnis dieser Erfahrungen immer ähnlich: Isolation, Desintegration. Scheinbar sind solch extremen Gefühlsregungen so einseitig und subjektiv, daß sie sich den sozialen Boden selber wegziehen. Was sich jetzt breit macht in mir, ist der Träumer, der Utopist, das "individuierte Subjekt"; - ohne jedoch kritische Anstrengungen aufgegeben zu haben. Fast kindliche Faszination in mir zu erzeugen, gelingt immer häufiger; Faszination als Staunen über Bekanntes, Alltägliches. Schließlich werden zwei Welten in mir sein: eine erlebende und eine ausführende. Und unverhohlen kann ich jedem entgegnen, der mir das zum Vorwurf macht: Hoffnung ist mir geblieben, beide zu vereinen, reale Chancen nicht. Vor allem jedoch bin ich so frei, beide Welten in mir zu vereinen, Erleben und Ausführen gemeinsam in mir zu bewirken und zu realisieren. Abhängigkeit abzuleugnen wäre stümpferhaft, selbstherrliches Gewäsch, - Freiheit als subtilen, distanzierten Gefühlszustand, der eben Selbstbetrachtung (- die Kausalitäten häufen sich -) ermöglicht, gelingt aber ebenso dort, in der Abhängigkeit. Tagtäglich unvermittelt anfangen, mit "und", und unablässig Welt erfahren, erfassen und wiedergeben. Das unmittelbar subjektive dieser Tätigkeit ist die Chance, Erleben hin zu dem zu steigern, was antizipatorisch möglich ist. Dein "Aufstand" ist mehr noch, als du ihm zutraust: er ist eine Explosion. Gisela erfährt bei sich das gegenteilige: Implosion. – Ihr Aufstand wird später kommen, wird zu

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deinem verschieden sein, so daß sie fast von selbst ihren Weg findet. Der "Lehrer" Wolfgang ist dann überflüssig geworden. (Es ist ähnlich meiner Situation, als Christine mir sagte: "Das ist alles so neu für mich; - Martin, du mußt mir Zeit lassen.") Die Fähigkeit des bewußt-sein eines Zustandes, eines Ganzen, versetzt immer in die Situation des Reproduzierenden bzw. Reflektierenden und nimmt der Wahrhaftigkeit des eigentlich geschaffenen jegliche Spontaneität. Dortraus nimm die Energie nicht, die du für deine Ausdehnung brauchst.

27. juni 76 * Mondrian an martin

Wenn ich an dich denke, könnt ich auch flippen, - hab ich grad zu gise gesagt. Wir sind so "verschieden" – du schreibst druckreife sachen (dein brief, der vor mir liegt, ist es!), und ich kotze HERZEN und SONNEN aus mir raus - - und doch, du könntest HERZEN und SONNEN rauskotzen und ich könnte druckreif schreiben. Nächsten samstag gehen wir für 2 wochen auf interrail-tour nach spanien usw. Hast du nicht lust mitzukommen (das ist eine assoziation – nicht mehr, nicht weniger. Aber assoziationen sind mehr als was gesetz und katechismus für andere sind, für mich). Gise sagt grad, es wäre für sie dann doppelt was zu tun: den urlaub zu bewältigen und dich. Aber das ist für sie kein negatives argument!! Was mehr vernichtend ist für mittelmäßigkeiten als jene erkenntnis? Dem einfach zu sagen, ich will mit ihm ins bett, mit dem ich das will, oder dem eine knallen, dem ich eine knallen will, - und am meisten wenn's derselbe ist! Ich höre Deep Purple. Deep Purple hören und danach eine violinsonate. Das ist vernichtender für mittelmäßigkeiten als jede erkenntnis. Die vielfalt des lebens zulassen.

Verstehst du, theorie & erkenntnis ist etwas, über das mensch hinauswächst, - nicht der endpunkt! Warum hat rimbaud aufgehört zu schreiben? Das ist die wichtigste frage der menschen fast, - oder symptom für die wichtigste frage der menschen. (Adorno über die unmöglichkeit, nach auschwitz noch gedichte zu schreiben..)

Dein brief ist trotzdem wunderbar. Er sagt besser als ich es je gedacht oder gelesen hätte, was geschieht in "unsereinem". Vielleicht ists ein kleiner trost (was sowas normalerweise nie sein kann), wenn ich dir sage, daß du über das alles hinwegleben

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wirst und die synthese ereichen wirst in diesem doppelleben. Daß du näher dran bist als die meisten menschen, zumindest das.

Ich hab mit gisela geredet – sie hat recht: du wirst es nicht erreichen. Du hast recht. Ich werds auch nie erreichen. Alleine hätte ich jetzt gesagt, es ginge. Nein: die synthese ist zu hoffen, aber unmöglich. Niemals können wir unser bewußtsein vergessen, wir!! Niemals können wir sein wie die.. Grad hab ich geheult, als mir klarwurde die fundamentale diskrepanz in mir: hin- und hergerissen zwischen ekel vor der dummheit und primitivität der menschen und ihrer wunderbar-heit! Das ist mehr als ein mensch, als ich fassen kann. Das ist leben, ich weiß es ja. Aus atomen soetwas zusammenkombiniert!

Aber die synthese ist unmöglich. Gise hat mir gezeigt, daß du recht hast. Und doch ist die hoffnung immer da. Das bewußtsein um diese hoffnung war mir nie da – du hast mirs gezeigt. O martin. Es ist ein dreierverhältnis mittlerweile, - oder, ist christine dabei? Wie ist christine? Wenn ich mir vorstelle, daß menschen

(ich hab mit gisela weitergeredet, der satz ist vorbei) (der satz, da ist er:) daß menschen solche verhältnisse haben können: nicht zwei leute, sondern genauso legitim drei oder 4 oder oder, und sie tun miteinander was sie wollen, was eben geschieht, gehen ins bett miteinander oder reden oder besaufen sich miteinander oder sagen sich sachen und machen was auf der welt.. - - Ein bißchen war's ja in unserer kommune so – das sich vorstellen (und: wenn ein mensch das denken kann, kann's die menschheit ausführen, das ist ein gesetz!) – und wissen, daß die menschen es nicht tun, es nicht zulassen (in sich nicht und bei andern nicht) - vielleicht nie - - das ist schlimm.

Zu wissen, was die menschheit kann und doch nie tut, - das ist schwer. Das erinnert (und du erinnerst) mich mal wieder an (frau hannsmann:) hölderlin und (meine assoziation:) rimbaud.

Gott, du hast recht, wenn du alkohol in mir vermutest, aber ich hoffe, du denkst nicht, das täte der echtheit meiner aussagen abbruch ?!

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23. august 76 * mondrian an martin

"Die Dinge schienen nicht aus Holz und Stein, sondern aus einer grandiosen und unendlich zarten Immoralität zu bestehen, die in dem Augenblick, wo sie sich mit ihm berührte, zu tiefer moralischer Erschütterung wurde." (Robert Musil: 'Der Mann ohne Eigenschaften'. I/40)

..Algecira', dieser schon fast marokkanische ort neben gibraltar; ich glaubte feuer zu atmen; das ist kein aphorismus; es war – ich war ein anderer da.. Das nächste mal gehe ich rüber nach afrika. A F R I K A .. China, amerika lockt mich wenig. Afrika ist es; und mit gise kann ich sowas machen. – Ich mit jemandem in urlaub gehen; außer mit internatlern wär mir das annähernd unmöglich gewesen. Das hat nichts mit liebe zu tun; - es ist, weil sie 'der typ neben mir' ist, unabhängig von mir, in ihrem eigenen leben drin. Ich wollte eine frau 'wie roger' – ich hab sie bekommen (bis zur neige, im guten wie im schlechten). (...) Ich ändere mich! – Und daran ist großenteils gise schuld. Sie gibt mir mut, dinge anzuziehen und zu machen, von denen ich früher gemeint hätte, die passen nur zu typen wie jim oder clemens - - Mittlerweile hab ich eine liste von an die 12 berufen, die ich mir für mich vorstellen kann. Buchhändler steht natürlich nicht drauf; aber das ist schon recht so – das ist eine absprungbasis.* Du weißt, daß ich nach ende meiner lehre nächstes jahr nach berlin will? Gise auch mit, wenn sie bis dahin noch bei mir ist. Berlin? Weil es auch heut noch die einzige stadt ist, in deutschland, die lebt, als stadt lebt.. Ja; kein altes, veraltetes bild, sondern es wird dauernd bestätigt von leuten, die dort sind oder waren.. Nicht für immer, aber für so 5 jahre (vorläufig). Wär das nicht nach dem abi auch was für dich? Gott, .. leben kann mensch überall, denken auch – aber dort machts vielleicht ein bißchen mehr spaß.

* Zu diesem zeitpunkt befand ich mich in einer buchhändler-lehre.

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7. september 76 * Mondrian an martin

Dein bildhauerkatalog kam ins haus grad als ich einen brief an samuel beckett nach berlin schrieb; am liebsten hätte ich's gleich mit reingesteckt; nur die vernunft hielt mich davon an (er weiß, was ich meine, oder sowieso nicht). STEINE – das hat mehr zukunft momentan, als alle schreibereien; es ist so viel, so unberührt noch, diese steine – sie machen mit mir so viel; - kann nur davon schwärmen; und ich tu so wenig, das merk ich jetzt wieder mal. Vielleicht hätte ich dieses gefühl nicht mehr, wenn ich nur wollte: mich in action stürzen und hektik – so tun als täte ich was, als sei ich was: "Ich bin intellektuell!" Aber so bin ich halt nicht.

Stehen die steine da noch in st. wendel? Obwohl, sie sind unwesentlich, genauso wie die bilder in der kommune, wie du richtig sagst. Wesentlich ist die tat, - das tun. Die margarete hannsmann schickt zeitschriften mit essays und gedichten – ich werd ihr nicht gerecht mit meinen briefen und notizen, aber sie mir auch nicht. Es ist eine don quichotterie um die beiden, sie & HAP; obwohl sie das in ihm sieht, betrifft es eher sie selbst. Sie macht zu vieles und dadurch nichts. (Er ist ganz und gar bei sich, - ein stein, ein baum.)

Ich werde mein leben lang versuchen, die leute zum schaffen zu bringen. Und oft betrifft das auch die, die der meinung sind, sie seien drin im schaffensprozeß: künstler. - - Kunst. Was ich davon halten soll – ich weiß es nicht. Ein handke gehört wiedermal her; einer von dessen (damaliger) qualität – mit dem eisernen besen durchkehren. Ich bin zu alt dafür, - aber vielleicht - - Jedenfalls sähe ich meine stellung lieber in so einer funktion als der des bestsellerautors à la böll. Des großschriftstellers, wie musil sagen würde.

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15. september 76 * Martin an mondrian

Über den berg sein, - wohin, wolfgang, wohin soll ich gehen? Hast du das je gewußt? Ich nicht, ich weiß es heute auch noch nicht. Das hat nichts zu tun mit entscheidungsmüdigkeit oder entscheidungsangst, sondern mit der Summe, der Unsumme von Erfahrungen, die, anstatt ein Ich zu zentrieren, es sich verwischen lassen, ausdehnen lassen bis ins Ungewisse. Was ich dir sagen will: Ich habe Erfahrungen gemacht, im weitesten Sinne des Wortes, Erfahrungen, die mir eine Existenz sichern werden, - aber ein Leben, so, wie wir es meinen? Wohl kaum. Solches Leben muß immer wieder, FORTWÄHREND neu angegangen werden als Ergebnis schöpferischer Tätigkeit: eine Kraft, um die Existenz zu bestehen.

24. september 76 * Mondrian an martin die erde schützen -- leer, weiblich -- jims mund -- menschen: Vier kleine FIMO-figuren an dem tag, an dem beckett mir ein antwortbriefchen geschickt hat, aus berlin. Dieses formen, das war meine größte entdeckung der letzten zeit: formen, stein.. Steine. Ich schicke dir LEER, WEIBLICH. Sie hat am meisten mit dir zu tun, find ich. DIE ERDE SCHÜTZEN – das brauchen wir wohl beide nicht zum aufstellen: es ist aus der erde fließen und in sie hinein, sie lieben; ich wünsch es gisèle, deshalb hat sie's. Innenläufiges sich-winden nach oben, theoretisch: denn es geht eben nicht nach oben, sondern in sich rein. Daß wirkt in diese größe nicht, außerdem. ..ein Kommen und Gehen, Hauptsache, das Spiel bleibt in Bewegung, schreibt biby wintjes, der büchervertreiber* der alternativpresse, die ich entdeckt hab auf der mainzer minipressenmesse.

* ULCUS MOLLE INFO (Bottrop)

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27. september 76 * Martin an mondrian

Heute bin ich in einer wunderbaren Stimmung. Ein Zustand zwischen Himmel und Erde, zwischen Feuer und Wasser. Als ich in die Schule kam, dachte ich an Platon, an die Anamnesis und das Höhlengleichnis, an Novalis und seine romantische Theorie, die mir nahe steht, wie wohl kaum eine andere. Mir fielen Künstler ein die ich lange vergessen hatte: Turner, Utrillo, Duchamps, Arp, Seurat und Goya. Dürer dazu. Ich hörte im Geist die Balletsuite "Romeo und Julia" von Prokofjeff, die Nocturnes von John Field und allerhand Paukentöne scheinbar von Beethoven. Klassenkameraden, die in Prag waren, hörte ich zu, wie sie von der Stadt sprachen, den wandernden Wechselstuben (Kurs 1:10), dem schmuddeligen Hotel, und war doch schon wieder auf Kreta, einen Traum lang. In einer Pause unterhielt ich mich mit einem Mädchen. Ich weiß nicht mehr, über was. Ich weiß nur noch, daß ich sie fragte, fast unvermittelt: "Ich würde dir gerne einen Kuß geben." Sie schaute mich verdattert an, lachte, verstummte, begann wieder von neuem zu lachen, stockte und sagte schnell, im Weggehen: "Davon reden wir ein andermal". Was für eine Verheißung! sie sagte: wir. Ich hätte das zu jedem sagen können heute morgen, jeder hätte Anlaß sein können dazu. Was bei ihr die Sache ein wenig begünstigt hat, war, daß ich ein bißchen verliebt bin in sie, verstehst du? Aber sonst... Als sie weg war, überdachte ich die Situation noch einmal, schnell und detaillos, und fing an zu lachen. Es war ein befreiendes Lachen. Ich hatte das Gefühl mit diesem Satz eine Welt von Dummheiten, ignoranten Begriffen und Lügen loszuwerden, die ich jahrelang mit mir herumgeschleppt hatte, in der marternden Hoffnung, ihnen doch noch ein Quäntchen Geist und Sinn abgewinnen zu können. Sinnlos. Die Erde ist rund, mehr war nicht wichtig heute morgen. Ich war sogar wieder in der Lage, über einigen geistlosen Blödsinn zu lachen und seine Nuancen an Traurigkeit so umzusetzen, daß sie Bedeutung für mich erhielten, die Freude nämlich, die in jeder winzigen Melancholie verborgen ist. Vor ein paar Monaten haben wir einen künstlerischen Arbeitskreis gegründet, dessen verheißungsvoller Name allerdings nur Vorwand ist, Unsinn zu treiben. Über Ansätze, wie Texte machen, Lieder, Musik, Bilder, wird er wohl nie herauskommen, aber das soll auch nicht Ziel sein. Ziel für mich war, mich endlich wieder mit anormalen Menschen, im unverträglichen Sinne, zu unterhalten, mich treiben zu lassen, nichts zu tun, als gedanklich zu arbeiten. Sicherlich, ich nutze andere dazu aus, radikal sogar, schonungslos, wie Miller einmal sagte: Ich habe alle meine Freunde ermordet; - dennoch nehme ich mir das nicht übel, - mein geistiges Parasitentum. In mir rührt sich bei diesem Gedanken noch nicht einmal der Funke eines Gewissensbisses. Meine eigenen Notizen für die paar Monate, die vorbei sind, sind räudig. Nicht mal ein Drittel von dem, was ich letztes Jahr zustande gebracht habe. Ich geb mir aber auch keine Mühe, sogar die beträchtliche Differenz beeindruckt mich nicht. Nicht

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mehr, - anfangs allerdings schon. Ich versuchte gewaltsam mich zum "arbeiten" zu zwingen, aber das ist ebenso zwecklos und fruchtlos, wie ein auf den Kopf stehendes Buch zu entziffern.

Ich begebe mich jetzt auf die längste Reise meines Lebens: auf die Suche nach mehr von mir selbst, auf die Suche nach neuen Werten, die, als theoretische Überlegungen, ich schon innehabe, auf die Suche nach meinem Platz in der Welt. Ich werde wohl viel verlieren, aber ich bin bereit dazu. Ich hänge an absolut nichts mehr, als meinen Ideen und meinem Leben, und so erlebe ich jede Erfahrung, jeden Gedanken, jedes Geschenk, gleichgültig von wem, jede Möglichkeit der Orientierung, jedes Bild, Geldstück, Buch, Wort, jeden Gegenstand als Glück und meine Betrachtungen darüber werden immer zärtlicher und filigraner: der Aufbruch in die neue alte Welt. Für diesen Anstoß, Wolfgang, danke ich dir, wie ein Mensch nur danken kann, mit allem was er ist, was er denkt und fühlt, besitzt und verliert, mit seinem ganzen Herzen: eine Ewigkeit lang. – Ich weine. Wo wir uns wiederbegegnen werden, wird Neues sein; der Aufbruch in die Welt der nicht mehr selbstverständlichen Dinge.

Oktober 76 * Mondrian an martin

..Aufbruch in eine welt der nicht mehr selbstverständlichen dinge, sagst du? – Ja, und der wieder selbstverständlichen dinge. Wie als ich jetzt in heidelberg zwei tage lang so stockvoll war wie niemals in meinem leben zuvor; ich liebe mich.. Ich gefalle mir unheimlich, irgendwie. Einmal möchte ich das sagen. Und ich möchte den treffen, der mir endlich mal zeigt, daß ich ganz hundsgemein üblich bin, einfach ein mensch. Ich kann doch logischerweise nicht annehmen, daß ich "so besonders bin"! Auf der buchmesse hatte ich eine lila hose an; ich konnte sie grad noch anziehen – aber, seit ich mich anschaue, dank gise, dank inge, dank mir selbst, dank dem reden- können zu dir auch, merke ich, daß ich halt auch ganz gern aussähe wie die kerle, die all das anziehen können, was sie wollen. Albern? Ja. Na und.

Das dir zu schreiben klänge profan für viele, als antwort auf deinen brief (der so wunderschön ist wie ein stirnrunzeln des kili-man-dscharó) – aber da ist viel drin, es ist ich; wie ein kleines kind geb ich dir (verschwitzes händchen, die alte - und doch so echte metapher: bonbon- und erdeklebrig!) mein bündel leben in die hand,

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nimms! Dieses hin und her von philosophie zu jahrmarktsrummel, - zoophilie ist das! – versteht bei mir außer dir doch nur miller; ich wüßte momentan sonst keinen. Und miller ist weit weg. ("Ich entdeckte, daß es darum ging, so zu malen und zu schreiben, als ob ich nichts wüßte, was natürlich der Fall war." – 'Insomnia', von 1974)

Das ist schön, mit dem kuß, so schön wie wenig, was ich je hörte zu diesem thema; das ganz kleine wagen.. Allerdings, das prinzip wird ein wenig verkleinert dadurch, daß du "ein bißchen verliebt" warst in sie. Verstehst du das? Ich saß einmal im zug einem mächen gegenüber, 19 etwa. Sie sah nicht häßlich, nicht besonders hübsch aus und ich sah sie während der ganzen fahrt; ich sah ihr gesicht aus sich heraustreten und lebend werden; ich sah sie lächeln, weinen, glaubte sie schreien zu hören, wie wir männlichen armen würstchen so wenig schreien können (oder es nicht tun?), so vieles – dabei saß sie nur da. Ich wollte nichts von der, aber ich spürte, wie ich DIE SCHÖNHEIT DES MENSCHEN in ihr, durch sie begriff. Die schönheit in dem leiblichen leben, - der körper ist.. denkt, fühlt, leidet, liebt, all das – da kommts auf die klischeebegriffe natürlich nicht an. Am ende der fahrt ließ ich ihr, gab ich ihr wortlos ein zettelchen, auf das ich geschrieben hatte, daß sie mir die schönheit der menschen gezeigt hat, daß sie schön sei.. – War der letzte teil albern? Ich wollte ihr das so gern sagen, wollte aber doch garnichts von ihr! Deshalb der zettel, im rausgehen – Seither spüre ich oft (bei frauen eher als bei männern; ich bin eben doch mehr hetero als schwul) das leben, die leibliche schönheit.. Früher konnte ich mir nicht vorstellen, daß "alte" (zum beispiel 40jährige) körper noch sex mögen, daß mensch deren körper noch mögen kann – jetzt sehe ich auch solche körper mit den augen dessen, der die schönheit sieht, die im leben ist. (Kennst du lucian freud, den maler?)

Ich wünsch dir, daß du diesen satz, oder ähnliche (ganz kleine wörter), wie zu dem mädchen, noch oft sagen wirst, sagen willst und wirst. Dir und mir wünsche ich das. Es gibt keine schöneren begriffe; wenn ich doch immer mutig genug dazu wäre! Bei dir damals, das war das erste, allererste mal, wo ich ein risiko überhaupt vergleichbarer größenordnung eingegangen bin, übrigens. - Zumindest für mein gefühl war das so. Also, wie du siehst, deinen dank kann, muß ich dir zurückgeben. Ich möchte dir dauernd was schicken; was in meinem haushalt möchte ich dir nicht schicken?!! Das sind wieder halbe liebesbriefe..

Komisch; ich könnte genauso einen schönen stil schreiben wie du; wieso tu ich's nicht?

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16. november 76 * Mondrian an martin

Dieser brief ist teil eines abgesangs, der sich schon über ein jahr hinstreckt.. Vor der internatszeit hab ich mir die leute angesehen und es ging SONNE hin und her; das war schön. Es gab 150 weisen von begegnungen und keine mußte gegen andere je ernsthaft abgewogen werden; ich war ein mosaikbild, aber die einzelnen teile ließen einander ganz selbstverständlich leben. In der internatskommune hab ich versucht, anderen den weg über die brücke zu MING und zur SONNE* zu zeigen; ich merkte, daß das legitim war; du hast es mir später oft bestätigt. Nur hatte ich nicht beachtet, daß die in der kommune nicht gleichsetzbar sind mit den menschen draußen.. Dann kam gisela. Sie hat drei jahre lang, oder zwei jahre jedenfalls, ohne daß es mich störte, all meine SONNE geschluckt, war andererseits für mich ersatz für alles andere, ohne daß mir ein fehlendes bewußt wurde. Als giselas (frühere) freundin mir sagte: dir fehlt was, wo ist das? da merkte ich es wieder; natürlich nicht zuletzt durch diese beziehung mit inge selbst. – Du warst der einzige gewesen zwei jahre lang, der 50% von mir gesehen hat, der darauf angesprochen hat. Inge wurde dann ein neuer anfang (als begegnung und freundschaft, nicht als "verliebtheit"); inzwischen sind die beiden verfeindet, von gise ausgehend; ein erster keil zwischen ich und ich. Jetzt, ein jahr später, glaube ich kaum noch dran, daß es lang weitergeht mit gisela & mir. (...) Warum? Weil sie die menschen verachten, hassen möchte; weil sie sie nicht lieben kann. Du siehst, sie scheint roger sehr ähnlich auch darin. Und ich? weiß, daß mir LIEBE, die nicht auf "zusammenleben", auf "ehe" gar, auf "sexuelle verhältnisse" oder sonst ähnliches zielt, sondern die zum beispiel meint, was hinter unserem austausch steht und garnicht auf zustände zielt, sondern auf bewegungen, wichtiger ist und bleiben wird als die, bei der mensch "verliebt" ist. Ich bin verliebt in gise, 150 mal mehr als ich es je wieder sein werde; aber diese liebe würde zum tod, wenn sie mir das zu rauben vermöchte, woraus sie entstanden ist.

Das schlimme ist, in ein, zwei jahren wird gisèle wohl da drüber weg sein – nur entscheidet sich unser verhältnis in dieser zeit jetzt, nicht später. Und ich habe es nicht geschafft, das licht in ihr anzuzünden. "Die Schönheit und die Güte sind zwei archaische Stadien des Fortschritts, der noch vor uns liegt." – dieser satz aus dem dritten EMMANUELLE-buch hängt bei mir im zimmer an der wand. **

* MING: chinesisch; zusammengesetzt aus den zeichen für MOND und SONNE; meint: klarheit, intelligenz, denken. SONNE: Lebensfreude, lebenskraft. (Beides sind internatskommunen-symbole) ** Emmanuelle Arsan (i.d. maryat rollet-andryane): 'Les enfants d'Emmanuelle (deutsch: 'Emmanuelle oder die Kinder der Lust')

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Das nur dazu. Ich? baue immer mehr leute ab, bei denen ich noch vor einem jahr missionarisch mich betätigt habe. Ich halte niemanden mehr; und ich halte vor allem keinen mehr von denen, die gezeigt haben, daß sie nicht bereit sind, auf die rückendeckung des platten verstandes zu verzichten. Ihr intellektualismus sei ihnen ein guter führer ins grab. In zehn jahren sind sie lehrerinnen oder mit einem lehrer oder wissenschaftler verheiratet und überzeugte SPIEGEL-leserinnen; für männer gilt analoges. Verstehst du, was ich meine, wenn ich sage: lassen wir sie gehen? Und: es tut wiedermal not, alleine zu sein, esoterisch und eigenbrötlerisch? (...) Lauter so sachen; dauernd jetzt häng ich leute ab, die ich mag, die aber bloß einen "wolfgang" beanspruchen, der nur in ihrer phantasie existiert. Das tut gut. Und bei gisela wird's genauso gehen. Sonst gibt's mich in 10 jahren nicht mehr, nur noch den mann von gisela, und wir haben dann gemeinsame freunde, mit denen wir gemeinsame, gleiche verhältnisse haben. Und ich habe dann ein schlechtes gewissen, wenn ich an all das denke, was ich auch noch sein könnte – wie an einen traum.

Wenn dich die schule nicht schafft, nicht der bund, nichtmal die uni, wenn das alles nichts nützt, nichtmal das geschäft, die arbeit, der chef – aber dieses ding, was sie "liebe" nennen und "freundin", das schafft dich zuletzt doch. Fangschuß. Mich nicht. Denk dran, wenn du in diese lage kommst. Oder, wenn du meinst, die gefahr gibt’s dann bei dir nicht, dann mußt du mir die frau zeigen: ein wunder, wenn's nichtmal gisèle schafft, offen zu bleiben für das weiterwachsen beider innerhalb der beziehung, - gise, nächst roger das grellste wesen und nächst krümel das menschlichste und nächst roger und dir das klügste, das ich kenne.

Grabgesang.. hoffentlich nicht auf mein verhältnis mit ihr; es wäre schade drum. Aber jedenfalls wird es nicht überleben, falls es gegen mich lebt, gegen MING und die SCHNECKE und die SONNE und DIE BRÜCKE MIT DEM LOCH IN DER MITTE (von roger : die gefahr, die zur weiterentwicklung immer dazugehört).

Ich hätte dir einen stapel bücher mitschicken wollen, aber ich tu's nicht; du bist soviel direkter und klarer auf deinem weg, was soll ich dir da mit brocken; ich hoffe, meine briefe lassen sich lesen wie schmetterlingsassoziationen, wegzuwischen, wenn sie nicht rein passen. Martin,du bist drei jahre vor mir; die muß ich jetzt wieder einholen. (Nicht so ernst nehmen; aber irgendwie stimmts doch!)

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Als ich an jacques hamelink kürzlich einen brief in ganz unpoetischem stil schrieb zum thema, 'wie stehst du zu ulrike meinhof?', da hat er reagiert wie ein deutschlehrer, zu dem mensch sagt, goethe ist scheiße. Daß ich ihn mit sowas behellige. Darauf hab ich ihm einen neuen brief geschrieben, in dem ich dieselben aussagen poetisch und allegorisch verbrämt habe, und da hat er geantwortet, wir seien freunde wie immer, und SONNE und was weiß ich noch, und an der sprechplatte von paul celan sei er sehr interessiert. Wenn ich geld hätte, würde er sie als abschiedsgeschenk bekommen. – Nein, martin: mensch kann nur ganz unten bleiben, immer ganz unten. Sieh dir bloß die 'Eremitenpresse' an – was war das mal?! Und jetzt: ein bibliophilen-verlägle mit dem haut goût von underground (und riesigem stand in frankfurt). Nein, danke. Unten bleiben ist das einzige rezept gegen die finsteren instinke im menschen (in einem selbst). Was solls. Nie regeln aufstellen. (Nie 'nie' sagen.)

Kürzlich ist's mir zum zweitenmal passiert, daß nachts besoffene leute an mein fenster geklopft haben und wollten rein.* Beidesmal mädchen aus der spielplatzzeit (vor dem internat); die eine hat dann den halben flur vollgekotzt; das war schön wie für andere ein blumenstrauß - weil ich sie doch liebhab und ihr das dadurch so deutlich zeigen konnte! Im übrigen war es ja einfach das leben.. So sollen sie zu mir kommen: wie sie halt sind, nicht angemeldet und vorgeplant und eingewiesen und zurechtgemacht. Aber was hat dann gisela dazu gesagt - - ?! Entweder sie schafft's und wird offen, oder sie ist weg von fenster. Die meisten werden sagen: da kann seine liebe zu ihr aber nicht groß sein! Doch, größer als alles – außer meiner liebe zu den menschen.

* Ich wohnte in einer kleinen kellerwohnung, die zur wohnung meiner eltern gehörte.

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24. dezember 76 * Mondrian an martin

Das gedicht nach auschwitz ist tatsächlich unmöglich; wobei adorno nicht nur auschwitz fühlte, wenn er's auch meinte. Es ist der grad an nicht mehr unschuldig sein. Es ist das bewußtsein der prinzipiellen relativität, das zumindest er hatte, das aber ein welt-bewußtsein ist, jetzt. Diese gesellschaft wird nie wieder unschuldig sein, sauber geteilt in gut und schlecht, recht und unrecht.. - Tiefste aussagen über das leben kommen von horsti oder patrick, den 11jährigen, und adorno, von emmanuelle arsan (der angeblichen pornografin) und jo imog und von uns; es gibt keine ebenen mehr; kunst ist ein anderes geworden. "Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen" ('Minima Moralia' # 143) – eine ordnung, deren vorläufiger höhepunkt bislang die fabrikmäßige ermordung von millionen menschen war.

Meine chefin *versichert mir mit tränen in den augen, "man mag sie!" (nämlich die belegschaft) – und gestern war eine kundin da, ein ausgefreaktes mädchen etwa deiner kompetenz in bezug auf literatur, und ich war nach einer halben stunde kundengespräch mit ihr wie erschlagen vor glück, endlich mal wieder "normal", d.h., in meinem eigenen jargon und meiner sprachkompetenz reden zu können! Da merkte ich erst, wie ich chamäleonisch fast jede aussage vor dem aussprechen auf kinderniveau (naja) runterformuliere; und wenn ich einmal in einer mir relativ wichtigen diskussion mit kunden oder chefin oder kollegen "normal" geredet hatte, waren die prompte folge gesichter wie bahnhof und "häh??!" und ich mußte dann gaanz langsam.. Na, du kennst das ja wohl auch.

* Margot frey-hauber von der 'Bücherstube Hauber' in nürtingen, in der peter härtling während seiner schulzeit (etwa 1948-52) die neue literatur entdeckte..

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Und meine mutter hab ich heute wiedermal vor den kopf gestoßen, als ich ihr erklärte, daß sie endlich (nach 5 jahren) akzeptieren soll, daß es zwecklos ist, mich zum heutigen "feiern" überreden zu wollen.

Es tut gut, mal wieder zu sehen, wo ich nicht bin. Ich will niemandem wehtun, ich will nicht einfach 'nein' sagen aus prinzip, aus willkür, aber es ist eben so, daß NEIN in den meisten fällen für mich die einzige mögliche antwort ist, in der welt der erwachsenen..

Dein wunderschöner satz: "Ich weiß, daß ich mich auf mich verlassen kann" – natürlich steht er jetzt auf meinen BLÄTTERN. Der sagt alles, was ich grad jetzt fühle. Und es ist ein gefühl, wegen dem ich manchmal, wenn ich irgendwas tue, ganz urplötzlich SCHREIEN könnte aus überschäumender freude: ICH! - ICH!! Je m'aime! J'aime la vie! – Das ist's! Auf mich kann ich mich verlassen, weil ich mich auf's leben verlassen kann, und deswegen kann mir keiner was. Ich kann zu allen menschen vertrauen haben, denn ich versöhne mich nach jeder enttäuschung leicht wieder, - denn jedes weggehen von jemandem führt mich doch in jedemfall wieder zu mir her!

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28. mai 77 * Mondrian an martin

1969 saß ich auf dem sportplatz meiner kirchheimer schule, nachts, und um mich radelte auf meinen fahrrad coni; damals schrieb ich 'Verlobung', ein gedicht über das gefühl zwischen uns, über die SONNE in der nacht – und vorhin saß ich am selben platz, acht jahre später; coni hat ein kind und ist geschieden; SONNE? In der nacht? Ich merkte, daß ich derselbe bin; ich könnte dort weitermachen, in dieser nacht, als sie von ihrer mutter dann gerufen wurde, anknüpfen. Und doch: eine kategorie von leben fehlt; und wenn ich anfange zu fragen, dann scheint mir, es sei eben diese: Mensch kann nicht fragen; es gibt keine antworten (bei sowas). An deren haus gehe ich fast täglich vorbei und war doch seit fünf oder sechs jahren nicht mehr drin; für die alle bin ich vermutlich alt geworden, der von damals, - distanz würde da sein – und die will ich nicht erleben; lieber garnichts. Martin, ich muß dieses stück leben finden, das ich damals bei der 'Verlobung' noch hatte, und nun nicht mehr – und vielleicht ist es nur eines von ein paar stücken, die mir da fehlen.. ? Im september geh ich also nach wuppertal, aller wahrscheinlichkeit nach mit gisèle. Aber ich muß sie lassen, sie ist so jung, so verletzlich und, vor allem, noch so leicht aus ihrer bahn zu lenken – und sie muß doch ihren eigenen weg finden, gehen - - Das ist die einzige chance, nicht später rettungslos mir unterlegen zu sein. Du weißt nicht, wie glücklich ich bin, wenn ich immer wieder merke, daß ich dir zwar geholfen habe, aber dich nicht, von anfang an nicht in den sog meines lebens gezogen habe.. – wie das ja so oft hand in hand geht! – Du nimmst dir, wie ich glaube gemerkt zu haben, nur das, was DU dir nehmen willst, läßt dir von mir nichts aufdrängen, aufschwatzen! Du. Es ist schön, so DU sagen zu können; meinst du, ich kanns zu dir? Meinst du, ich sehe richtiges, wenn ich DU sage? Meistens ist es ja nicht so. Manchmal hab ich mich gefragt, ist das, was hinter deinen wörtern steht, mehr oder weniger stark als diese? Nur im ersten fall wären sie echt.

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9. august 77 * Mondrian an martin*

Es gibt eben, im tiefsten, nur zwei wege: den des intellekts als tragendem gerüst und den der spontaneität, des gefühls als fundament. – Alle, die ich kenne, haben sich über kurz oder lang entschieden für einen der beiden, außer roger bislang. Und mir, denn ich mag das nicht, ich meine, beides muß gehen, beides gehört zusammen; scheiß dualismus, seele – körper. Das ist mir so sinnfremd, so leer.. Es tut weh, martin, mit dir da zu sitzen und nur über bücher und philosophie reden zu können. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst; ich verstehe, daß es jetzt nicht anders geht; aber ich warte, und hoffe so sehr, es wird anders. Du bist stark genug dazu und kannst genug! (...) Ohne die komune und, ich muß es sagen, auch wenn das vorbei ist, ohne S., wäre ich auch in diesem dilemma. Meine musil-tagebücher sind gekommen. Also, wenn es einen gibt, der dein lieblingsdenker sein müßte, in dem wir beide uns übrigens treffen, ist es robert musil! Aber diese leserei bringts eh nicht. Ich steige mehr und mehr zu den alternativen um. Weniger gute literatur, zugegeben – dafür aber mehr literatur als brief, kommunikation – leben. LEBEN.

Scheißintellekt. Ich sage das, auch wenn ich weiß, daß ich da schnell in die rubrik 'hippie' subsummiert werde. (Nichts gegen hippies!) Aber ich weiß, daß ich's intellektuell mit jedem dieser subsummierer aufnehme, also kann ich's sagen. Scheißintellekt. Darauf läuft's raus.

Im zug nach wuppertal (zum wohnung angucken; am 16.8. ziehen wir um) ein mädchen (14), das in mannheim umsteigt, und noch aus dem zugfenster durch einen anderen zug hindurch haben wir uns zugewinkt. Sie fährt noch wie ich über die rheinbrücke und dennoch ist sie wieder weg aus meinem, ich aus ihrem leben. Aber die begegnung hat stattgefunden.

Ich mag dich; ich hatte das gefühl,dein weggehen war für dich komisch; für mich jedenfalls war's dies. Bis später.

* Anfang august 1977 war es endlich zu martins besuch bei uns in kirchheim gekommen.

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17. januar 78 * Mondrian an martin

Arbeitslos; von nun an: ausschließlich non-karriere-jobs, non-geistige jobs, reiner verkauf meiner arbeitskraft, um voraussetzungen zum konsum zu schaffen. Konsum: in dem maße, in dem ich bereit bin, dafür meine zeit und meine energie zu verkaufen; - in dieser kausalität, nie mehr andersrum! Ebene eins meiner eigentlichen "arbeit" dann: Mitarbeit in der alternativ-scene, auch hier in elberfeld versuch dazu. Gedichtheftchen kommt raus: 'Unter anderm sex' betitelt. Ebene zwei: Manuskript 'WIR INTERNATLER' machen. "Wie Zwiebelhäute legt sich Bedeutung über Bedeutung, Wesenhaftigkeit über Wesenhaftigkeit.." – Wohin diese arbeit führt? Hoffentlich nicht zu ebene eins zurück, sondern zu ebene drei: Jegliche menschliche logik, philosophie und wissenschaft läßt sich deckungsgleich zurückführen auf molekulare logik, ist in ihr bereits enthalten! Diese hat ihre begründung wiederum in den eigenschaften (u.a.) des wasserstoffatoms. Mit andern worten: der zusammenhang des lebens. Oder: TAO. Und: handke, 'Die Sinnlosigkeit und das Glück', in: 'Als das Wünschen noch geholfen hat' – Ebene vier: Durch information und weiterbildung mir ein gewisses politisches verständnis zu verschaffen, denn "es hat doch erst angefangen!" (p.p.zahl)

Meine sowieso ständige arbeit daran, verbindungen zu knüpfen, fäden zu ziehen (auch indem ich dir meine HANS IMHOFF-rezension schicke!!), ist arbeit an der ersten ebene, der dritten und vierten. Versuche der integration.

Die unmöglichkeit, all dies zusammenzuschließen, wird mir beim schreiben erst klar, aber in diese richtung wird es gehen. Na, umwerfend ist dieser brief nicht.

[Zwischen martin und mir gab es noch bis 1992 ab und an briefliche kontakte, aber kaum mehr wirklichen austausch.Unsere wege haben wohl doch immer weiter auseinander geführt..]

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