ForschungFrankfurt Das Wissenschaftsmagazin der Goethe-Universität

Wandel der Wissenschaften [31. Jahrgang] [2014] [6 Euro] [ISSN 0175-0992] 2. 2014

Wozu noch Intellektuelle? »It‘s your turn« Der vergessene Retter Für Relevantes auch jenseits der Talkshows Von den Moden der Wissenschaft Philipp Schwartz und seine Liste Mit Hartnäckigkeit zum Erfolg Erweitertes Spektrum Der Freiherr und der Jude 100 Jahre Frauen an der Goethe-Universität Naturwissenschaften wachsen zusammen Medizin im Nationalsozialismus TAGEN AM FORSCHUNGSKOLLEG HUMANWISSENSCHAFTEN

Ein Ort für Ihre Veranstaltungen im Bereich Bildung und Wissenschaft in Bad Homburg vor der Höhe

Die Distanz und gleichzeitige Nähe des Kollegs zu Frankfurt am Main und zur Goethe-Uni- versität sowie seine ruhige Lage im Park der Villa Reimers bieten einen besonderen Rahmen sowohl für Arbeitskreise und Klausurtagungen als auch für Empfänge, Vorträge, Lesungen und internationale Konferenzen. Vereinbaren Sie Ihre persönliche Führung durch das Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität.

Tagungsräume Service Module In den Konferenzräumen können Ver- Natürlich stellt das Kolleg modernste Die Konferenzräume können tagewei- anstaltungen mit bis zu 60 Teilnehmern Veranstaltungstechnik bereit. Die Veran- se oder halbtags gebucht werden. Bei durchgeführt werden. Für Tagungen mit staltungen werden durch ein Tagungsbüro Tagesveranstaltungen kann zwischen dem bis zu 120 Personen steht der Vortrags- unterstützt. Auch Übernachtungsmög- Angebot eines Buffets oder dem Servieren raum zur Verfügung. Das stilvolle Ambi- lichkeiten in benachbarten Hotels können warmer Gerichte gewählt werden. ente des großen Salons der Villa Reimers gerne vermittelt werden. Individuelle bietet zudem die Möglichkeit, Diskussi- Serviceleistungen stehen in Absprache onsrunden und Besprechungen in einem mit den Veranstaltern zur Verfügung. eher informellen Rahmen auszurichten. www.forschungskolleg-humanwissenschaften.de | [email protected] | Telefon 06172/139770 Aus der Redaktion

»Liebe Leserinnen, liebe Leser, steckt die Wissenschaft in der Marketing-Falle? Kommunikationsspektrums erscheint also wünschens­ Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldi- wert, solange es sich im Rahmen guter Wissenschafts- na, die Deutsche Akademie der Technik­wissenschaften kommunikation bewegt, wie sie der Siggener Kreis aus und die Union der deutschen Akade­mien der Wissen- Hochschulpressesprechern, Wissenschaftlern und schaften haben im Juni 2014 gemeinsam ein kritisches Journalisten im April 2014 formuliert hat: »Gute Papier veröffentlicht. Ihre Diagnose: Der Ökonomisie- Wissenschaftskommunikation arbeitet faktentreu. Sie rungs- und Profilierungsdruck, der seit einigen Jahren übertreibt nicht in der Dar­stellung der Forschungserfol- auf den Hochschulen laste, führe zu einer Glaubwürdig­ ge und verharmlost oder verschweigt ihr bekannte keitskrise der Wissenschafts­kommunikation. Risiken neuer Technologien nicht. Sie macht Grenzen So zutreffend eine ganze Reihe von Beobachtungen ihrer Aussagen sichtbar. Außerdem sorgt sie für dieses Papiers auch ist, greifen die Analysen doch zu Transparenz der Interessen und finanzieller Abhängig- kurz. Zwar arbeiten deutsche Hochschulen heute keiten. (…) Sie weicht nicht für Zwecke des Institutio- wettbewerbsorientierter als noch vor 20 Jahren. Aber nenmarketings oder der Image­bildung von Faktentreue was soll schlecht daran sein, ein unverwechselbares und Transparenz ab.« Profil zu entwickeln? Die Goethe-Universität hat im Jahr Wir nehmen diese Leitlinie ernst; etwa bei ihres Jubiläums ein Leitbild verabschiedet, in dem sie der Frankfurter Kinder-Uni für die Altersgruppe der sich als Ort argumentativer Auseinandersetzung 8- bis und 12-Jährigen. Wir wollen insbesondere Kinder positioniert und Forschung und Lehre bewusst in den aus bildungsfernen Familien ermutigen, daran Kontext gesellschaftlicher Verantwortung stellt. teilzunehmen, bevor sie Schwellenängste aufbauen. Als ein Akteur im öffentlichen Diskurs hat sie mit den Die Science Tours für Jugendliche der Mittelstufe Vorlesungsreihen der Bürger-Universität ein Angebot vermitteln Einsicht in die Arbeitsweise des Wissen- entwickelt, das Möglichkeits- und Diskursräume in einer schaftlers. Sie sollen nicht nur für den Beruf des demokratischen Gesellschaft erweitert. Das wurde Forschers begeistern, sondern auch die kritische insbesondere während der Finanzkrise bei der Reihe Bewertung von Nachrichten aus der Forschung »Demokratie im Würgegriff der Finanzmärkte?« deutlich. ermöglichen. Seit Jahren sind unsere Printmedien der Es stimmt auch: Die Hochschulen reagieren auf Aufgabe verpflichtet, Wissenschaft verständlich zu die Krise des Qualitätsjournalismus, indem sie eigene erklären, ihre Abläufe transparent und ihre Akteure Angebote schaffen – ob attraktive Webseiten, soziale sichtbar zu machen. Überzeugen Sie sich davon Siggener Aufruf Medien, populärwissenschaftliche Wissenschafts­ selbst bei der Lektüre dieses Heftes, das das Thema www.bundesverband-hoch- des Jubiläumsjahres »Wissenschaft im Wandel« schulkommunikation.de/ magazine, Wissenschaftsblogs oder Uni-TV. So ist fileadmin/user_upload/Siggen/ der Facebook-Auftritt der Goethe-Universität, was die fortführt. Siggener-Aufruf-und- Unterstützung durch sogenannte Likes angeht, mit Leitlinien_2014.pdf derzeit 45.000 Fans unter Deutschlands Hochschulen Dr. Olaf Kaltenborn inzwischen führend. Eine Erweiterung des universitären Leiter der Abteilung Marketing und Kommunikation Inhalt

28 42 58 100 Jahre »Its your turn« – Physik, Chemie und Frauen an der Von Moden der Biologie wachsen Goethe-Universität ­Wissenschaft zusammen

Von den Anfängen des Frauen­ Wer hat in der Wissenschaft das Physikalische Chemie, chemische studiums bis heute hat sich viel Sagen – die Avantgarde oder die Biologie und Biochemie sind Fächer, verändert. Aber immer noch bleiben ­Forscher, die in den bekannten Denk- die nach dem Zweiten Weltkrieg ent- Forscherinnen häufiger kinderlos. mustern verharren? Der Soziologe standen. Wir stellen die Pioniere an Genderprogramme zielen deshalb Tilman Allert schildert – nicht ohne der Goethe-Universität vor: Hermann auf die nicht fachlichen Aspekte bei Vergnügen und Ironie – die verschlun- Hartmann, Gerhard Quinkert und der Förderung beider Geschlechter. genen Wege der Erkenntnisbildung. Heinz Rüterjans.

Wissenschaftler Fächerkulturen 72 Auf dem Weg zu einer in der Gesellschaft ­globalen Jurisprudenz? 37 Annäherung an Goethes Wissen- Thomas Duve 5 Spazieren gehen für schaftsbegriff: Das komplexe die Wissenschaft Diverse als Ganzes begreifen 78 Rückbesinnung nach vorn: Heike Jüngst Ulrike Landfester Wo geht’s lang in der Volkswirt- schaftslehre? 9 Science Slams 42 »It’s your turn« – Von den Moden Bertram Schefold Anne Hardy / Tobias Lang der Wissenschaft Tilman Allert 84 Mehr Vielfalt und Inter­ 14 Wozu noch Intellektuelle? disziplinarität in der VWL – Rolf Wiggershaus 46 Vom Spaten zum Massen­ Zum Reformaufruf vom spektrometer – Methodenwandel »Netzwerk Plurale Ökonomik« 20 Interview mit Eckhard Henscheid in der Archäologie Marita Dannenmann zur »Neuen« und Anke Sauter »Alten« Frankfurter Schule 88 Der tut nix, der will nur rechnen – Dirk Frank / Eckhard Henscheid 58 Hermann Hartmann – Pionier Wie der Computer Einzug in der Theoretischen Chemie die Geisteswissenschaften hält 24 Wo bleibt die Zeit für den Blick Anne Hardy Bernd Frye auf das große Ganze? Jürgen Bereiter-Hahn 65 Heinz Rüterjans und die bio­ molekulare Magnetresonanz AusstellungEN Joachim Pietzsch 28 100 Jahre Frauen an 96 »Ich sehe wunderbare Dinge« der Goethe-Universität Charlotte Trümpler Anja Störiko 70 Gerhard Quinkert – Vordenker der Chemischen Biologie 100 HUNDERT. Die Goethe-Universität Beate Meichsner 34 Nachgefragt im Präsidium ... in 100 Dingen Birgitta Wolff Michael Maaser 100 114 138 Die Goethe- EU-Gelder: Der Freiherr und Univer­sität in Zurückhaltung ist der Jude 100 Dingen fehl am Platz

100 Tage lang gaben die Archivare Bei EU-Anträgen ist die Erfolgsquote 1933 standen auch in der Frank­furter des Universitätsarchivs wohl gering, der Arbeitseinsatz hoch. Universitätsmedizin stramme Partei­ ­gehütete Geheimnisse preis. Sie Wer Fördersummen in ­Millionenhöhe gänger bereit, um ihre jüdischen ­erzählten die Geschichte der Uni- einwerben will, braucht Unter­ Kollegen aus dem Amt zu drängen. versität in 100 Objekten von der stützung. Michael Braun hat nach Vieles um die Täter wie von Ver­- Suppenkelle bis zum Senatorenring. den Schlüsseln zum Erfolg gefragt. schuer, Mengele und Hirt ist bis heute rätselhaft geblieben.

Forschung fördern ErinnerungskulturEN 152 »House of Labour« auf dem Campus Westend 103 Die Dame mit dem Hut – 123 Philipp Schwartz – Martin Allespach / Ulrike Jaspers Die Stifterin Dagmar Westberg Der vergessene Retter Astrid Ludwig Gerald Kreft Bücher 108 »Viele Bürger haben verstanden, 128 Studierende erinnern 155 Notker Hammerstein: Die Johann dass ›ihre‹ Universität an »Verlorene Denker« Wolfgang Goethe-Universität, ­Unterstützung braucht…« Philipp Hanke und Volker Kehl Band. 3: Ihre Geschichte in den Lucia Lentes Präsidialberichten 1972 – 2013 134 Akademischer Tod: Die Christoph Cornelißen 110 Vater der Wolkenkratzer Aberkennung des Doktorgrades und Förderer der Wissenschaft – Katharina Becker 157 Barbara Wolbring: Trümmerfeld Der Stifter Josef Buchmann der bürgerlichen Welt. Universität Astrid Ludwig 138 Der Freiherr und der Jude: in den gesellschaftlichen Reform- Lebensschicksale im National­ diskursen der westlichen 114 EU-Gelder: Hart umkämpft, sozialismus Besatzungszonen (1945 – 1949) doch der Einsatz lohnt sich Martina Lenzen-Schulte Michael Stolleis Michael Braun 143 Nach Diktatur und Krieg: 159 Wolfgang Schlote: Singing 120 Glosse: Rektor und sein in the Brain. Hirnforschung Im Sinne von »exzellentest« Plädoyer für eine freie Universität in Bewegung Rainer Maria Kiesow Barbara Wolbring Anne Hardy

148 Die Akademie der Arbeit in der 160 Vorschau, Impressum, Universität – Ein vergessenes ­Bildnachweis Stück Universitätsgeschichte Diether Döring Wissenschaftler in der Gesellschaft Wissenschaftler in der Gesellschaft

Spazieren gehen für die Wissenschaft Bürgerforscher gewinnen Popularität von Heike Jüngst

Forschende und sammelnde Bürger legten das Fundament des Senckenberg-Instituts und der Goethe-Universität. Unter dem Label »Citizen Science« werben Wissenschaftler ­neuerdings wieder um die Beteiligung von Hobbyforschern. Das Internet macht es möglich.

eden Mittwoch steht Heinz Kalheber schon Erfahrung hat der Mann reichlich. Mehr als morgens um halb vier auf. Von Runkel an der 200 Exkursionen leitete Heinz Kalheber schon. JLahn macht er sich dann auf den Weg nach Pflanzen sammelt er auf der ganzen Welt. Zumin- Frankfurt am Main zum Forschungsinstitut und dest auf der Nordhalbkugel, schränkt er ver- Naturmuseum Senckenberg. In dem unschein- schmitzt lächelnd ein. Kalheber ist europaweit baren Gebäude im Westen der Bankenstadt geht aktiv, pflegt Kontakte zu den Universitäten in der Mann seiner Leidenschaft nach: wild wach- Athen, Patras, Berlin. Sein privates Herbarium zu sende Pflanzen bestimmen, pressen, archivie- Hause umfasst mehr als 100.000 Belege. In Vor- ren. Kalhebers Herz schlägt für die Botanik. trägen und Publikationen lässt Kalheber interes- Pflanzen, erzählt der pensionierte ehemalige sierte Bürger an seinem Wissen teilhaben. Mathematiklehrer, faszinieren ihn schon seit seinem achten Lebensjahr. Bis heute aber könne Blender entlarvt der erfahrene Forscher schnell er nicht sagen, warum. Es gefalle ihm einfach. Für das Senckenberg-Institut sind Kalhebers 1 Spezialist für schwierige Nicht mehr und nicht weniger. Fachkenntnisse von unschätzbarem Wert. Sie Fälle: Der pensionierte Lehrer Heinz Kalheber ist das, was neuerdings als fließen ein in wissenschaftliche Arbeiten von Heinz Kahleber kennt sich bestens mit der Bestimmung »Citizen Scientist« beschrieben wird, ein for- Studierenden ebenso wie in Forschungspro- wild wachsender Pflanzen aus. schender Bürger, ein sogenannter »ernannter« jekte. »Wir leben davon, dass interessierte Bür- Wissenschaftler. Kein bezahlter professioneller ger bei unseren naturkundlichen Sammlungen Forscher und trotzdem ausgewiesener Experte mitarbeiten und zu der Forschung beitragen«, von internationalem Renommée. Der mittler- bestätigt Georg Zizka, Leiter der botanischen weile 80-Jährige kümmert sich ehrenamtlich Abteilung. um das Herbarium der botanischen Abteilung Er, Zizka, erkenne neidlos die Leistung fähi- des Senckenberg-Instituts. Kalheber wird gerne ger Laien an. Manchmal seien sie auf manchen gerufen, wenn eine Pflanzenart als unbestimm- Gebieten sogar besser als er selbst. So wie der bar gilt. Er ist der Spezialist für schwierige Fälle. leidenschaftliche Pflanzenkenner Heinz Kalhe- »Wenn Sie Pflanzen bestimmen wollen«, sagt ber. Gleichwohl kennt der Botanik-Professor die er, »dann brauchen Sie viel Erfahrung, Zeit und Stimmen der Kritiker, die so manchem Laien- Geduld.« Vom Löwenzahn etwa gebe es allein forscher Dilettantismus, Halbwissen und Besser- 1.400 Arten. Die zu bestimmen, dazu müsse wisserei gerade im Zeitalter des Copy-and-Paste man schon Experte sein. vorwerfen. Aufgrund seiner Erfahrung merke er

Forschung Frankfurt | 2.2014 5 Wissenschaftler in der Gesellschaft

aber schnell, ob jemand wirklich etwas kann deren schiere Summe allein verlässlichere, und wissenschaftlichen Standards genügt. Blen- belastbare Messungen erlaubt. Eine große Chance der gebe es zwar immer mal wieder. Das aber für die Wissenschaft. Und gleichermaßen ein war nie ein Problem. Für Georg Zizka überwiegt Gewinn für die vielen Freiwilligen. der Nutzen. Der Forscher vom Frankfurter Sen- ckenberg-Institut ist damit nicht allein. Citizen Science zwischen Tradition und Moderne Historisch gesehen ist Wissenschaftlern die Be- teiligung von Laien nicht fremd. Dass Menschen ihren Wissensdurst in Eigeninitiative stillen, genetisch vorgegeben. Zu Zeiten von Charles Darwin, Benjamin Franklin und Isaac Newton war Citizen Science eher die Regel. Nur nannte dies damals niemand so. »Auch Goethe würde man aus heutiger Sicht als Bürgerwissenschaftler bezeichnen«, da ist sich der Botaniker Georg Zizka sicher und weist darauf hin: »Forschende Bürger sind das Fundament des Senckenberg-Instituts schon seit seiner Gründung vor bald 200 Jah- ren. Im Übrigen auch ein Fundament der ­Goethe-Universität. Zur Gründung übereig- nete damals die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung einen Großteil ihrer natur- kundlichen Sammlungen. Alles die Arbeit von Bürgerforschern.« Mehr als 1,2 Millionen Herbar-Belege besitzt das Senckenberg-Institut heute. Es ist damit das fünftgrößte Institut in Deutschland. Das könne sein Vier-Mann-Team gar nicht alleine leisten, gibt Georg Zizka zu bedenken. Der Mann weiß, 2 wovon er spricht. Als Kooperationsprofessor arbeitet er für die Goethe-Universität ebenso 2 Kahleber betreut ehren­ Die Digitalisierung krempelt auch wie für die Senckenberg Gesellschaft für Natur- amtlich das Herbarium die Forschung um forschung. Die Etats sind nicht üppig, Drittmittel der botanischen Abteilung Forschende Bürger liegen bundesweit im Trend. für die Pflege des Herbariums gibt es nicht. Die- im Senckenberg-Institut. Immer mehr Menschen unterstützen freiwillig ses aber müsste dringend aktualisiert werden. die Arbeit von Wissenschaftlern. Unter dem Außerdem ist auch die Biotopkartierung nicht Label Citizen Science erfährt das bisweilen mehr auf dem neuesten Stand. 400 Pflanzen angestaubte, wenig glamouröse Image vom allein im Raum Frankfurt sind verschwunden, ehrenamtlich tätigen Sonderling neue Strahl- andere sind hinzugekommen. Umweltschutz kraft. Da helfen Seeleute, Plankton-Popula­ und Klimawandel werfen neue Fragen auf. Der tionen zu kartografieren, wühlen sich Kern- Forschungsbedarf ist groß. kraftgegner durch Leukämiestudien, lassen Apotheker historische Persönlichkeiten ihrer Jeder, der einen Hirschkäfer findet, Stadt wieder aufleben, astronomisch Interes- fotografiert ihn sierte kartieren den Sternenhimmel. Die Betei­ Ein ähnliches Problem stellte sich Christian ligung von Laien an Forschungsvorhaben ist Geske vom Servicezentrum für Forsteinrichtung populär wie nie: Das Medienzeitalter macht und Naturschutz (FENA) des Landesbetriebs es möglich. Hessen-Forst. Für die EU-Kommission in Brüssel Das Internet gilt unter Wissenschaftstheore- muss der Artenschutzexperte alle sechs Jahre tikern wie dem Bielefelder Peter Finke als das den Bestand der Hirschkäfer in Hessen bewer- effektivste Werkzeug der Citizen Science: eine ten. Der nur in Europa existierende Großkäfer Datenbank von zuvor nie gekanntem Ausmaß. unterliegt den europäischen Artenschutzricht­ Das Internet demokratisiert Wissen und Wissen- linien. Auf belastbare Daten kam Geske zu schaft. Forschungsergebnisse, Informationen Anfang nicht. Mit ein paar wenigen Kartieren- sind im Computerzeitalter allgemein verfügbar. den auf Werksvertragsbasis stieß das Unter­ Interessierte Bürger können orts- und zeitun­ nehmen Hirschkäfer-Kartierung schnell an abhängig an Forschungsprozessen teilhaben. seine Grenzen. Hirschkäfer lassen sich nicht so Profis profitieren von der riesigen Datenmenge, einfach finden.

6 2.2014 | Forschung Frankfurt Wissenschaftler in der Gesellschaft

In England hat naturkundliches Monitoring eine gewisse Tradition: ein gemeinschaftlicher Beitrag vieler Bürgerinnen und Bürger führt zu einem wissenschaftlichen Ergebnis. Die Masse macht’s. Was in England funktioniert, dachte sich Christian Geske, das funktioniert auch in Hessen. Der Erfolg gibt ihm recht. Inzwischen hat sein Sachgebiet gut 1.000 Rückmeldungen pro Jahr. Ein Heer von Ehrenamtlichen, die die Bestände von Hirschkäfern erfassen – ein Daten- schatz von unermesslichem Wert. Auch das ist Citizen Science. Monica und Hubertus Kuboth gehören zu diesen Datensammlern des Hirschkäfer-Beob- achternetzwerkes. Regelmäßig mailt Monica Kuboth ihre fotografierten Belege an Hessen- Forst. Den Frankfurter Stadtwald kennen sie 3 wie ihre Hosentasche, sagen die beiden. »Wis- sen Sie, wir gehen einfach mit offenen Augen durch die Welt und finden die tollsten Sachen«. beherrschendes gesellschaftliches Thema. Der Man glaubt es ihnen sofort. Auf dem Laptop Mehrwert ihrer Mitarbeit: durch die Rückmel- von Monica Kuboth befinden sich unzählige dungen von Hessen-Forst können die Kuboths Fotos von Hirschkäfern, seltenen Pilzen, außer- das Hirschkäfer-Projekt weiterverfolgen. Und gewöhnlichen Käfern. Das Internet dient ihr als sie fühlen sich ernst genommen. Enzyklopädie. Gleichzeitig beliefert sie dieses mit ihren eigenen Erkenntnissen. Dabei hegen Wissenschaftler und Bürger im Dialog Monica und Hubertus Kuboth keinerlei wissen- Das Neue an Citizen Science ist: Professionelle schaftliche Ambitionen. Auch Vereine sind Wissenschaftler bemühen sich seit geraumer ihnen ein Gräuel. Vielmehr will das Frankfurter Zeit gezielt um potenzielle Hobbyforscher. Aus Ehepaar auch andere an seiner Naturverbun- wirtschaftlichen Gründen. Einerseits. Forschung denheit teilhaben lassen, sich nützlich machen wird immer teurer. Vor allem aber haben die für die Belange etwa von Hessen-Forst. »Wenn Profis inzwischen verstanden, dass sie ihre 3 Der Hirschkäfer gehört die die Daten brauchen, dann gebe ich sie Fähigkeiten kommunizieren müssen, sagt Volker zu den größten europäischen ihnen gerne. Ich habe sie ja«, sagt Monica Mosbrugger, Generaldirektor des Forschungs­ Käfern. Kuboth mit einer umwerfend pragmatischen instituts und Naturmuseums Senckenberg. Der 4 Monica Kuboth mailt Art. Wenn Hessen-Forst demnächst eine App Mann hat einen Blick für die Zukunft. Er ist die Fotos von Hirschkäfern, für die Hirschkäfer-Pirsch anbietet – umso zwar auch Professor an der Frankfurter Goethe- die sie im Wald findet, an besser, Monica Kuboth wird sie benutzen auf Universität, als Chef von rund 750 Mitarbeitern Hessen-Forst. ihrem Smartphone wie immer mehr andere in ganz Deutschland ist er vor allem aber so auch. Natur und Umwelt sind seit den Reaktor­ etwas wie ein Wissenschaftsmanager. Ihn inter- katastrophen und der ökologischen Krise ein essieren die großen Zusammenhänge. »Die Gesellschaft muss heutzutage von Wissenschaft überzeugt werden«, betont Mosbrugger, »Citi- zen Science ist dafür ein gutes Vehikel«.

Wissenschaft muss emotional erfahrbar sein So sei etwa die von der Bundesregierung vor Kurzem initiierte Internetplattform www.Buer- gerschaffenwissen.de ein gelungenes PR-Instru- ment in Sachen Wissenschaftskommunikation. Die dort verlinkten Citizen-Science-Projekte verdeutlichen den Bürgern, was Forschung macht, wozu es Forschung braucht und wofür die ganzen Gelder benötigt werden. Zugleich zeigen die gelungenen Citizen-Science-Projekte, wo und wie sie sich in die Forschung ein­- bringen können. Das Senckenberg-Institut ist dort mit dem Flora-Frankfurt-Projekt verlinkt, die Hirschkäfer-Pirsch von der Behörde Hessen- 4 Forst ebenso.

Forschung Frankfurt | 2.2014 7 Wissenschaftler in der Gesellschaft

5 Volker Mosbrugger in der Umgebung des Sees Nam Co in Tibet bei der Entnahme von Bodenproben.

6 Prof. Georg Zizka bei einer Exkursion im brasilianischen Cerrado. 5 6 Das Bundesforschungsministerium fördert Data-Citizen-Science-Projekten spielen im inter- die Internetplattform bis 2016 mit knapp nationalen Ranking eine untergeordnete Rolle. 238.000 Euro. »Wissenschaft ist an Wohlstand Mosbrugger sagt das mit jener angenehmen gekoppelt, und das muss ich als Bildungspolitiker Klarheit, die Verhältnisse geraderückt. Eine völ- in einer Demokratie kommunizieren«, erklärt lig neue Dimension in der Beziehung zwischen Volker Mosbrugger. Transparenz ist eines der Wissenschaft und Gesellschaft sieht Mosbrugger demokratischen Fundamente. Transparenz kann bei dem Thema Citizen Science nicht. Noch sind auch die Wissenschaft gut gebrauchen. Sie rückt keine Qualitätsstandards für Forschungsprojekte damit mehr in die Mitte der Gesellschaft. definiert, an denen sich Bürger beteiligen. Aber Das Spannende an Citizen Science sei, dass nur von Profiforschern gesteuerte Laien-Aktivi- die einzelnen Projekte dem Menschen, vor täten, die zentral ausgewertet werden, ergeben allem den Kindern die Natur wieder näher- wissenschaftlich Sinn, sagt der erfahrene For- brächten. Als Chef des größten Naturkunde­ scher. Dafür aber wiederum gibt es zu wenige museums in Deutschland weiß er, dass Wissen- Mitarbeiter in den Forschungseinrichtungen. schaft emotional erfahrbar sein muss. Wer soll derzeit all die Daten, so nötig sie sind, auch auswerten? Bürgerforschung hat Grenzen Das Potenzial, die Forschungslandschaft zu Die Bedeutung für die professionelle For- modernisieren, hat Citizen Science indes durch- schungslandschaft aber schätzt Mosbrugger ganz aus. Langfristig. Der Prozess steht noch am nüchtern ein: Forschungsergebnisse aus Big- Anfang, ist in der Orientierungsphase. Volker Mosbrugger erkennt vor allem bei den Natur- wissenschaftlern, vielleicht noch den Sozialwis- senschaftlern, Schnittmengen zwischen Bürger- forschern und Profiwissenschaftlern. »Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass ein Kernphysi- ker einen Laien in seiner Beschleunigerhalle herumschrauben lässt.« Der größte Teil der Spit- zenforschung ist eben doch zu spezialisiert. Hier kommt Heinz Kalheber, der leiden- schaftliche Pflanzenexperte aus Runkel, wieder ins Spiel. Kalheber war nie interessiert daran, sich in den Strukturen und Zwängen einer Uni- versität oder von Forschungsinstituten zu bewe- gen. Er wollte nicht promovieren, er wollte Die Autorin nicht publizieren müssen, um auf dem interna- tionalen Forschungsmarkt konkurrenzfähig zu Heike Jüngst, geboren 1963, studierte sein. Heinz Kalheber suchte zwar immer die Erziehungs­wissenschaften und Psychologie in Berlin und arbeitet als Journalistin unter Nähe von Profiforschern, aber er genießt es bis anderem für die Deutsche Welle. Sie lebt in heute, mit seinen Forschungen und in seiner Frankfurt am Main. Neugier frei zu sein. So verliert er nicht den Sinn für Zusammenhänge, und das ist bei Citi- [email protected] zen Science von ganz besonderem Wert.  www.heike-juengst.de

8 2.2014 | Forschung Frankfurt »Goethe-Slam« – Unterhaltsame Wissenschaft in 10 Minuten Seit 2010 wetteifern Naturwissenschaftler bei den Science Slams des Physikalischen Vereins darum, wer seine Forschung am unterhaltsamsten erklären kann. Im Jubiläumsjahr beteiligten sich erstmals auch die Geisteswissenschaftler an dem Format. Jeder Referent hat höchstens zehn Minuten für zündende Ideen, witzige Einlagen und überraschende Pointen. Zum Schluss entscheidet das Publikum, wer Slam-Champion ist. Im November traten die drei besten Slammer der beiden Vorrunden vom Juli zum großen Finale gegeneinander an. 1.200 Besucher im Audimax des Campus Westend wählten den Informatiker Johannes Schildgen in einem knappen Kopf-an-Kopf-Rennen mit Kai Jäger zum Sieger.

»Der Erklär-Bär liegt unterm Tisch und weint«

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Forschung Frankfurt | 2.2014 9 Highlights aus den Goethe-Slams

Geisteswissenschaften

Dirk PreuS Matthias Warkus Biologe und Theologe, diskutiert in seinem Vortrag über die Philosoph, behandelt in seiner Doktorarbeit den Begriff der »Hygienische Grundver­sorgung von Leichen«, inwiefern es Veränderung. Thema des Vortrags: »Existenz? Das gibt’s doch moralisch vertretbar ist, die bei der Verbrennung von Leichen gar nicht!« entstehende Abwärme zu nutzen. »Ich komme auch aus dem Linksrheinischen, Sie müssen »Es gibt tatsächlich einige wenige Krematorien, die mit der bei meinem Vortag allerdings nicht mit Humor rechnen, ich Abwärmenutzung Werbung betreiben. Die werben damit, vertrete heute die theoretische Philosophie.« dass dadurch der CO -Ausstoß reduziert wird – man muss 2 »Das ist eine ganz alte Lösung, die geht zurück auf – ja nicht mehr so viel mit fossilen Energieträgern heizen wahrscheinlich – Aristoteles, dass man sagt, was wirklich – Leichen sind ja quasi nachwachsende Rohstoffe.« existiert, sind in erster Linie Lebewesen, denn bei denen ist die Sache klar: Wenn ich die nicht dramatisch beschädige, sondern nur an der Oberfläche so ein bisschen kratze, dann regenerieren die sich aus sich heraus wieder selber und das heißt, es gibt Leute, die sagen: Es gibt Menschen, aber es gibt keine Schränke.«

Michael Siegel Uni Marburg, zitiert in seinem Vortrag aus Heideggers Buch »Sein und Zeit«: »›Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins kann demnach bestimmt werden als das verfallend-entschlos- Tim Stern sene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der Welt und im Mitsein mit Anderen um Master in Internationalem Wirtschaftsrecht, fragt: das eigenste Seinkönnen geht.‹ Ja, der Erklär-Bär liegt »Was passiert, wenn das EEG auf die EU trifft?« unterm Tisch und weint. Was Heidegger damit ausdrücken »Ich hab mich mit Wettbewerbsrecht beschäftigt. will, ist so was wie: »Die Philosophie sollte sich näher am Wettbewerbsrecht, das sind Spielregeln, jeder kennt das, alltäglichen Leben orientieren.« Siedler von Catan, ist immer wunderbar, wenn es Regeln »Im besten Fall verlieren sich Philosophen dann nicht in gibt und der Zwei-Meter-Mann nicht einfach aufsteht und irgendwelchen Solo-Dribblings, sondern spielen den Ball sagt: »So, alles Holz ist mir.« So ähnlich ist das auch in der wieder zurück und das hat besonders klar und deutlich der normalen Wirtschaft.« berühmte Philosoph Lukas Podolski formuliert, mit den Worten: »Doppelpass alleine? Vergiss es!«

10 2.2014 | Forschung Frankfurt Wissenschaftler in der Gesellschaft

Naturwissenschaften

Johannes Schildgen Jenny Feige Informatiker, beschäftigt sich mit der Analyse großer Datenmengen.­ Astrophysikerin, untersucht Sternenstaub aus Supernova-­ Sie liegt beispielsweise den Empfehlungen von Amazon zugrunde. Explosionen am Beispiel des Eisen-Isotops Fe-60. Sie erklärt, wie es auf die Erde und auf den Meeresgrund gelangt: »Ein Kunde bewertet (bei Amazon) Adobe Photoshop mit fünf Sternen. Man kann sich sogar durchlesen warum: »Das Eisen-60 hat sich an ein Staubkorn geklammert. Das ›Meine Frau sieht wieder schön aus, ich habe wieder ist gut, denn jetzt kann es sich’s darauf bequem machen. Muskeln zu zeigen – mein Geld ist gut investiert.‹« Es ist jetzt ungefähr 100.000 Jahre unterwegs. Das werden wir nicht in Echtzeit betrachten … Ich muss ja morgen wieder nach Wien.«

Kai Jäger Paläontologe, erklärt einen Test, den er bei Grabungen in China anwandte: Oliver Meusel »Wenn ihr jetzt nicht wisst, ob das, was ihr im Gestein seht, Physiker, und sein Assistent Fips Schneider führen Experimente Knochen ist; da gibt’s einen einfachen Test. (Hält die Zunge zu ­»Elektro-Smog« vor: an das Fundstück.) Meine Zunge ist leicht an dem Objekt »Herr Schneider, bitte Energie!« kleben geblieben. Das heißt, da sind Hohlräume drin. Das heißt, das sind höchstwahrscheinlich Knochen. Für die, die Meusel: hier so angeekelt ›Iiih‹ gerufen haben: Das ist überhaupt nicht eklig. Wenn ihr so ein Gestein aufschlagt, das »Es stellte sich heraus, dass die elektromagnetischen Millionen von Jahren alt ist, ist das absolut steril. Ekelhaft Wellen sehr gut geeignet sind für unser Vorhaben, den wird es erst, wenn man mit mehreren Leuten auf der Elektro-Smog zu erfinden.« Grabung ist.«

Über das Zeitverständnis der Paläontologen: »Henkelotherium (ein frühes Säugetier) … ist etwa 150 Millionen Jahre alt. Klingt nach viel, ist für einen »Herr Schneider, Paläontologen etwa letzte Woche. Wir haben da ein anderes Zeitverständnis und das ist auch besonders hilfreich, wenn man bei uns mit seiner Diplomarbeit anfängt.« bitte Energie!« Wissenschaftler in der Gesellschaft

Ein klares Unentschieden Johannes Schildgen und Kai Jäger gewinnen Goethe-Slam

um großen Finale des Goethe-Slams am 15. November 2014 herrschte beim Publikum im 1 Zvoll besetzten Audimax auf dem Campus West- end gespannte Neugierde. Und es wurde nicht ent- täuscht: Gleich der erste Kandidat, Johannes Schild- gen, ein Informatiker, löste mit seinem Vortrag maximale Begeisterung aus – gemessen an der Laut- stärke des Applauses. Auch die folgenden Vortragen- den konnten Laien mit anschaulichen Beispielen erklären, warum sie gerade ihr Fach so faszinierend finden. ­Sieger wurden am Ende Kai Jäger, ein Paläon- tologe und Johannes Schildgen, beide mit 40 Punkten. Der »Bembel der Weisheit« war glücklicherweise in zweifacher Ausführung da, jedoch gab es noch eine Goethe-Statue­ als Zusatzgewinn, die man schlecht ­teilen konnte. Per Applausometer wurde dann schließ- 2 lich Johannes Schildgen ganz knapp der Sieger eines Abends, der aber – wie Enrico Schleiff, Vizepräsident der Goethe-Universität, am Anfang gesagt hatte – »kein Abend gegeneinander, sondern ein Abend für­ einander« war.

»Amazon hat von Anfang an ein geniales Empfehlungssystem 3 gehabt. Kunden, die zum Beispiel sowas gekauft haben, sonen Glas­ schneider, die sind auch an solchen Strumpfmasken interessiert. Oder wer den 4 Clearasil Anti-Pickelstift 1 Die Finalisten des Goethe Slams: Johannes Schildgen, Kai Jäger, gekauft hat, der kauft auch Dirk Preuß, Daniela Szymanski, Matthias Warkus und Michael Siegel. 2 Der Moderator, Thomas Ranft vom Hessischen Rundfunk, mit dem World of Warcraft.« Bembel der Weisheit. 3 Prof. Bruno Deiss vom Physikalischen Verein gehört zu den Initiatoren des Science Slam in Frankfurt. Johannes Schildgen 4 Mehr als 1.000 Besucher kamen zum Finale des Goethe-Slam in den Audimax auf dem Campus Westend.

12 2.2014 | Forschung Frankfurt Wissenschaftler in der Gesellschaft

5 Johannes Schildgen erklärt am Beispiel einer Pommes Bude, wie die Verkaufsempfehlungen bei Amazon mithilfe der Informatik erstellt werden.

Forschung Frankfurt | 2.2014 13 Wozu noch Intellektuelle? Warum der »avantgardistische Spürsinn für Relevanzen« heute weniger vernehmbar ist von Rolf Wiggershaus Wissenschaftler in der Gesellschaft

Polit-Consultants, Kommissionsspezialisten, Lebensberater – wo sind die freien Intellektuellen, die als moralische Instanz in einer immer komplexer werdenden Welt Orientierung geben? Haben die Welterklärer mit ihrem »avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen« ausgedient?

inerseits scheint an Intellektuellen kein Adorno anlässlich seines 60. Geburtstags. Einen Mangel zu sein. Ob es um Unterschriften- »philosophierenden Intellektuellen« und »Schrift- E listen bei Aufrufen und Resolutionen oder steller unter Beamten« nannte Jürgen Haber- um Ranking-Listen geht – es kommen leicht mas ihn 1963 in einem Artikel in der Frank­ Hunderte von Namen »Intellektueller« zusam- furter Allgemeinen Zeitung. Wie treffend diese men. Andererseits ist regelmäßig einzig von Jür- Charakterisierung war, macht ein Blick auf gen Habermas als »öffentlichem Intellektuel- einige Aktivitäten Adornos in der ersten Zeit nach len« die Rede und wird immer wieder einmal seiner Rückkehr aus dem US-Exil deutlich. gefragt: Wo sind die Intellektuellen hin? Um Im Sommer 1950 fand auf der Mathil- eine genauere Vorstellung davon zu gewinnen, denhöhe in Darmstadt die Ausstellung »Das wen man heute so nennen könnte und vor Menschenbild in unserer Zeit« statt. Die Eröff- ­welchen Problemen er oder sie steht, führen nung war begleitet vom ersten »Darmstädter vielleicht einige Beispiele und Gespräche mit Gespräch«. Zu den Referenten der sich über drei Frankfurter Professoren weiter. Tage erstreckenden Veranstaltung gehörte der »Ein bestimmtes intellektuelles Format österreichische Kunsthistoriker Hans Sedlmayr. gehört zur Tradition der Kritischen Theorie«, Als einst aktiver Nationalsozialist war er damals meint Rainer Forst, der als jüngster Fortsetzer noch zwangsemeritiert. Gleichzeitig war er dieser Tradition an der Frankfurter Goethe-Uni- weithin bekannt durch sein zwei Jahre zuvor versität gilt. Bescheiden fügt er hinzu, nicht erschienenes Buch Verlust der Mitte. Der Titel, jedem sei es gegeben, das so wirksam zu verkör- der rasch zum Schlagwort geworden war, stand pern wie Jürgen Habermas. Habermas selbst für die Diagnose einer zynischen Herabsetzung möchte, dass unterschieden wird zwischen den des Menschen, eines Verfalls in Gleichmacherei »Eingriffen« eines Intellektuellen und der und Anarchie, für die der Autor die kulturelle ­wissenschaftlichen Arbeit des Professors. Doch Moderne verantwortlich machte. die Realität sieht auch bei ihm anders aus. Er Als beeindruckendster Gegenspieler Sedl- 1 Adornos »Ausstrahlung«: bedauert, dass manche der Aufsätze, die er der mayrs und anderer Redner, die der modernen In fast 300 Rundfunkbeiträgen Rollentrennung wegen in den »Kleinen politi- Kunst eine Überforderung des Publikums durch und ebenso vielen Auftritten bei öffentlichen Veranstaltungen schen Schriften« publizierte, dadurch keinen Grässliches und Chaotisches vorwarfen, erwies brachte er sich zu vielfältigen Eingang in die wissenschaftlichen Diskurse fan- sich ein beredter, bei aller Leidenschaftlichkeit Themen in die öffentlichen den. Tatsächlich zeichnet sich da, wo der Titel und Schärfe wohlüberlegt formulierender Dis- Debatten ein. Marie Luise »Intellektueller« besonders gut zu passen kussionsteilnehmer: Theodor W. Adorno, von Kaschnitz notierte 1957 in ihrem Tagebuch: »Er redet scheint, gegenüber früheren Zeiten eine enger dem im Jahr zuvor der Band Philosophie der leicht, schreibt schwer…«. gewordene Wechselbeziehung zwischen den neuen Musik erschienen war und der seit eini- beiden Rollen ab. gen Wochen außerplanmäßiger Professor für Philosophie und Soziologie an der Goethe-Uni- Ein »philosophierender Intellektueller«: versität war. Er bekam starken Beifall, als er der Musikkritiker, Komponist, Essayist und meinte, die Abspaltung des breiten Publikums Professor Theodor W. Adorno von der modernen Kunst sei offensichtlich, Eine mit Bewunderung vorgenommene Etiket- doch komme es darauf an, »diese Tatsache sel- tierung als Intellektueller erlebte Theodor W. ber einmal zu begreifen, anstatt nur in einer

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nicht ganz fairen Weise aus dieser Tatsache sel- ten ihr nach Adornos Ansicht eher, indem sie sie ber ein Werturteil über die moderne Kunst en als harmlos und bloß gewöhnungsbedürftig bloc abzuleiten«. Als er erklärte, »das Anliegen hinstellten. Da habe Sedlmayr mehr Recht, der Lebendigkeit heute« werde nur »von der wenn er das Element der Negativität in der Kunst vertreten, die sich weigert, nach den modernen Kunst hervorhebe. Konventionen, nach den Warenklischees, nach Diese Leidenschaft für eine neue Kunst, dem Geist der illustrierten Zeitungen, des Radios die – wie es noch zuletzt in der posthum und der Magazine sich zu richten«, erhielt er ­erschienenen Ästhetischen Theorie hieß – in abermals Beifall und noch größeren, als er »ein Niemandsland, stellvertretend für die schloss: »Daß infolgedessen heute wahrschein- bewohnbare Erde« geleite, war die Quelle und lich nur der Künstler die Sache der Gesellschaft Triebkraft für Adornos gesellschaftskritische vertritt, der sich nicht zu einem Mundstück Analysen und – so der Titel eines seiner Essay- derer macht, die da prätendieren, für die Gesell- bände – Eingriffe. Als der Spiegel ihn im Mai schaft reden zu dürfen, während sie in Wirklich- 1969 zum Verhältnis zwischen seinen theoreti- keit darauf ausgehen, die Gesellschaft zu beherr- schen Analysen und der studentischen Protest- schen und an der Nase herumzuführen.« bewegung und ihren Praktiken befragte, warnte 2 Alexander Kluge über (Darmstädter Gespräch: Das Menschenbild in er vor kurzschlüssigen Vorstellungen über seinen Freund Jürgen unserer Zeit, hrsg. von Hans Gerhard Evers, den Zusammenhang von Theorie und Praxis, Habermas am Vorabend von Darmstadt o. J., S. 211 f.) gestand aber durchaus zu: »Ich würde schon dessen 80. Geburtstag. Adorno schätzte die Auseinandersetzung glauben, daß etwa die Kritik gegen die Manipu- Habermas vereinige beides: intellektuelles und politisches mit Kritikern moderner Kunst. Das bot die Gele- lation der öffentlichen Meinung, die ich auch in Temperament sowie die genheit, anhand der Vorwürfe und Widerstände ihren demonstrativen Formen für völlig legitim Fähigkeit, Gedanken nicht den spezifischen Charakter moderner Kunst zu halte, ohne das Kapitel ›Kulturindustrie‹ in der dogmatisch erstarren klären und ihr Verhältnis zum Stand der gesell- Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und zu lassen, sie beweglich zu halten. Damit griff Kluge schaftlichen Entwicklung zu beleuchten. Solche mir nicht möglich gewesen wäre.« Im Univer­ den Titel der an diesem Abend Kritiker und die Auseinandersetzung mit ihnen sitätsbereich machten ihn dagegen die Bücher, in der Nationalbibliothek wirkten der Neutralisierung von Kunst entge- die ihn als philosophierenden Intellektuellen eröffneten Ausstellung gen, trugen dazu bei, dass sie nicht der Gleich- erwiesen – die zusammen mit »...die Lava des Gedankens im Fluss« auf, die Habermas und gültigkeit und dem glatten Konsum verfiel. verfasste Dialektik der Aufklärung, die Philoso­ seinem Werk gewidmet war. Gewisse Befürworter moderner Musik schade- phie der neuen Musik und die Minima Moralia –, einerseits zur peripheren Figur im Establish- ment, die niemals einen Ruf an eine Universität erhielt. Andererseits wurde er zum nonkon­ formistischen Professor mit überwältigendem studentischem Zulauf, großem publizistischem Erfolg und langfristiger gesellschaftskritischer Wirkung.

Ein »sogenannter Intellektueller«: der Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Fatih Akin Mit einem Film über das Leben von Hrant Dink wollte der Filmemacher Fatih Akin seine Trilo- gie Liebe, Tod und Teufel abschließen. Hrant Dink, Mitbegründer und Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos, war im Januar 2007 beim Verlassen des Zei- tungsgebäudes auf offener Straße erschossen worden. Seit Jahrzehnten dulden der türkische Staat und türkische Nationalisten keine Alter- native zur offiziellen Geschichtsschreibung, wonach es sich beim armenischen Genozid um eine Lüge handelt. Fatih Akin, der 1973 in Hamburg geborene, dort aufgewachsene und lebende Sohn türkischer Einwanderer, musste sein Vorhaben aufgeben. Er fand keinen türki- schen Schauspieler, der bereit war, die Rolle von Hrant Dink zu übernehmen. Doch das Thema ließ ihm, der in seinen Filmen Antwor- ten auf Fragen sucht, »die ich mir im Leben 2 stelle«, keine Ruhe. Statt eines Films über das

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Leben Hrant Dinks entstand The Cut. Der ­Spielfilm erzählt die fiktive Geschichte eines Armeniers – gespielt von Tahar Rahim, einem Franzosen algerischer Herkunft –, der den Völ- kermord an den Armeniern überlebt und sich auf die Suche nach seinen Töchtern begibt. »Es ist nur ein Film«, sagte Akin in einem Interview mit Agos, »ich bin mir sicher, dass die türkische Gesellschaft, deren Teil ich bin, reif ist für diesen Film.« (zitiert nach: Hamburger Abendblatt, 21.8.2014). Das Kernproblem gleicht dem, worum es in Alexander und Margarete Mitscherlichs Essay über Die Unfähigkeit zu trauern ging. Werden Vorgänge, in die ein Staat, eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft schuldhaft verstrickt sind, verleugnet, in ihrer Bedeutung umgewertet, der Verantwortung anderer zugeschoben, absorbiert 3 das ein erhebliches Maß an psychischer Energie. Und je größer der Aufwand, um Gewissensan- klagen und Selbstzweifel abzuwehren, desto wandel der Öffentlichkeit und zu den ihr 3 Der deutsch-türkischer aggressiver die Reaktion auf Versuche, durch ­angepassten Kategorien von Personen und Filmregisseur Fatih Akin bei Anerkennung des Verdrängten blockierte politi- ­Auftrittsweisen. »titel, thesen, temperamente« im Gespräch mit Max Moor. sche, soziale und kulturelle Entwicklungen frei- Im Internet gehen Beiträge von Intellektuel- Mit seinem jüngsten Film zusetzen. »Wir drohen öffentlich der Zeitung len in der Masse unter. In einer Welt fragmen- „The Cut“ brach Akin mit Agos, den armenischen Faschisten und den tierter Öffentlichkeiten besteht keine Chance dem Tabu des von Türken an sogenannten Intellektuellen«, verkündete die für ihre wichtigste kommunikative Funktion: den Armeniern 1915/16 begangenen Völkermords. extreme nationalistische Turkish Turan Associa­ »die Kraft, einen Fokus zu bilden«. Auch das Ihn zeichnet – wie Adorno – tion. Akins Film werde »in keinem einzigen Fern­sehen bietet selbst mit Formaten, die die Fähigkeit aus, Verdrängen Kino in der Türkei gezeigt werden«, denn das sich als ­Diskussionsforen zu eignen scheinen, nicht zu akzeptieren. wäre »ein erster Schritt, die Türkei dazu zu brin- keinen günstigen Rahmen für einen klassischen gen, die Lüge vom armenischen Genozid zu Intellektuellen. Der würde, »in der eigenen akzeptieren«. Zunft« zu Reputation gelangt, sei es als Schrift- steller oder Physiker oder was auch immer, »Ein avantgardistischer Spürsinn »von ­seinem Wissen und seiner Reputation für Relevanzen« einen öffentlichen Gebrauch« machen, indem An Adorno und Akin zeigt sich etwas, was er sich in eine Debatte einmischt und dabei auch früher schon für manche Intellektuellen an ein ­Publikum wendet, das in erster Linie charakteristisch war und was sie heute viel- an Argumenten und deren Austausch interes- leicht noch als einziges auszeichnet. Haber- siert ist. Doch für solche Auftritte ist kein mas nannte es einen »avantgardistischen Platz in ­heutigen Talkshows, in denen Politiker Spürsinn für Relevanzen«. um die Besetzung einflussreicher Themen Als er 2006 in der Wiener Universität den und Begriffe konkurrieren, Experten Daten und Bruno Kreisky Preis entgegennahm, bekundete ihre Interpretationen anbieten und Journalisten er ein gewisses Verständnis für die rituelle Klage als hauptberuflich für die öffentlichen Dinge über den Niedergang »des« Intellektuellen. Zuständige auftreten. ­Vermissten wir nicht »die großen Auftritte und Was bleibt dann für einen Wissenschaftler Manifeste der Gruppe 47, die Interventionen oder Künstler, der grundsätzlich zum parteineh- von Alexander Mitscherlich oder Hellmut menden öffentlichen Engagement bereit ist, ­Gollwitzer, die politischen Stellungnahmen von aber nicht zum Medienintellektuellen werden Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre will, der, früher oder später von professionellen Bourdieu, die eingreifenden Texte von Erich Leistungen abgekoppelt, nur noch von seiner Fried oder Günter Grass« (Ein avantgardistischer Prominenz und seinem Unterhaltungswert Spürsinn für Relevanzen, in: Ach, Europa, Frank- zehrt? Die Antwort, die Habermas in seiner furt / M. 2008, S. 81, 83)? Seine schließ­liche Wiener Rede gab, lautete: Der auf seinen Ruf Antwort lautete knapp und nüchtern: »Wir bedachte Intellektuelle sollte dann intervenie- ­vermissen ihn (den klassischen Intellektuellen, ren, wenn das Tagesgeschehen entgleist und R. W.) nicht, weil alle anderen seine Rolle andere noch beim »business as usual« sind. Das längst besser ausfüllen.« Er erläuterte das mit zeuge von einem »avantgardistischen Spürsinn Beobachtungen zu einem erneuten Struktur- für Relevanzen«.

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che Verflechtung und weltumspannende Tech- nologien und Kommunikationsmedien immer mehr zusammenwächst und sich auch das Recht vereinheit­lichen würde, alles von einheitlichen und letztlich rational begründeten Prinzipien getragen sein würde. Doch die überraschende Erfahrung ist, dass wir eher mit einem Rechts­ pluralismus konfrontiert sind. Wie im Mittelalter gibt es sehr viele unterschiedliche autonome Bereiche mit unterschiedlichen Rechtsordnun- gen und teilweise jenseits des Staates gesetzten ­Normen. Das große Problem ist dann, wie man große Kollisionen zwischen ­diesen unterschied- lichen normativen Ordnungen regelt. Das ist genau das Problem, das der Rechtspluralismus 4 beschreibt.« Weil Ursachen- und Wirkungszusammen- hänge komplexer und überraschender denn je 4 Raum für öffentliche Wechselbeziehung von Beruf und öffentlichem sind, ist es schwieriger geworden, Konflikte so Debatte – das Forschungs­ Engagement kennzeichnet den Intellektuellen zugespitzt zu formulieren, dass die dahinter kolleg Humanwissenschaften von heute ­stehenden Auseinandersetzungen erkennbar in Bad Homburg. Hier engagiert sich auch Diese Sicht teilen die drei Frankfurter Professo- werden. Entsprechend ist das intellektuelle Enga- Klaus Günther, dabei geht es ren, mit denen ich sprach. Rainer Forst, Profes- gement stärker auf Sachkenntnis angewiesen. häufig um die komplexen sor für politische Theorie und Philosophie, und Habermas wünschte sich stets, dass unterschieden Themen der Globalisierung. Klaus Günther, Professor für Rechtstheorie, würde zwischen der Rolle des Intellektuellen und Strafrecht und Strafprozessrecht, sind auch der des Wissenschaftlers. Die Jüngeren betonen Sprecher des Exzellenzclusters »Die Heraus­ dagegen, es sei wichtiger geworden, dass die Rolle bildung normativer Ordnungen«. Axel Hon- des Intellektuellen an den eigenen wissenschaft­ neth, Professor für Sozialphilosophie, ist lichen Hintergrund angebunden ist. Als Intellek- zugleich Direktor des Instituts für Sozialfor- tueller zu intervenieren, so Klaus Günther, stelle schung, dessen zentrales Thema lautet: »Para- für ihn eine Herausforderung dar, beides zu verei- doxien kapitalistischer Modernisierung«. Sie nen: das Berufliche und die Fähigkeit, anderen haben es bei ihrer Arbeit von vornherein unter die Augen zu öffnen für die entscheidenden anderem mit einer ständig fortschreitenden Dinge. Das bedeute, sich auch »in dem Bereich, in Spezialisierung in dem man zuhause ist, gerade auf solche intellek- der wissenschaftli- tuellen Interventionen hin noch einmal beson- chen und universi- ders kundig zu machen oder in der Richtung wei- tären Welt einer- ter zu forschen, so dass das ineinandergreift und seits und einer die Rollen sich ergänzen.« Steigerung unüber- Den, der von solcher Wechselbeziehung schaubarer Komple- ­inspiriert ist, treibt es über das in der Zunft Pro- xität in der ­globa- duzierte hinaus. Das macht ihn dort leicht zur lisierten Welt ande- peripheren Figur, disponiert aber zu disziplin­ rerseits zu tun. Die übergreifender Kooperation und Kenntnis. Er Zeit relativ klarer habe, so Günther, immer »nur Themen aufge- Fronten und Ziele griffen, die mich intellektuell interessiert ist spätestens seit haben«, Dinge, die ihn umtrieben. »Um zu Der Autor den 1990er Jahren sagen: Moment mal, das ist eine gefährliche vorbei. Entwicklung, oder: Hier verändert sich das Dr. Rolf Wiggershaus, 69, hat in Tübingen »Blickte man auf Strafrecht plötzlich massiv, muss man sich und Frankfurt Philosophie, Soziologie und die Nationalstaats- immer wieder eine Außenperspektive verschaf- Germanistik studiert. Seine große Studie zur entwicklung zurück«, fen. Dazu braucht man eben den Kontakt zu Geschichte und Theorie der »Frankfurter so Klaus Günther, anderen Wissenschaften. Erst mit einer gewis- Schule« ist zu einem vielfach übersetzten »konnte man sich sen sozialwissenschaftlichen Analyse kann man Standardwerk geworden. Zuletzt erschien eine Wiederholung dann sagen: Aha, da läuft im Strafrecht gerade von ihm in der Biografienreihe der Goethe- dieses Prozesses vor- etwas schief.« Universität »Gründer, Gönner und Gelehrte« stellen, also dass im der Band über Max Horkheimer. Maße der Globali- Wider den Sog der Medien [email protected] sierung die Welt Und wie können sich Intellektuelle davor bewah- durch wirtschaftli- ren, dem Sog der Medien zu erliegen? Eine Frage,

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die in meinen Gesprächen mit den Frankfurter ventionen sich im Horizont öffentlich geteilten 5 Axel Honneth im August Wissenschaftlern immer wieder Thema war. Sie Selbstverständnisses bewegen und der damit 2013 in der Frankfurter Börse. wollen sich nicht vereinnahmen lassen. Wichtig rechnen kann, öffentlich Gehör zu finden, und Philosophen treffen auf Finanz- experten – Beginn eines ist ihnen ein mediales Format, bei dem der Wis- dem »Gesellschaftskritiker«, der diesen Hori- gemeinsamen Reflexions­ senschaftler, Schriftsteller oder Künstler, der sich zont überschreitet, das herrschende Selbst­ prozess über Werte in der öffentlich äußert, damit rechnen kann, dass sein verständnis infrage stellt und dabei auf tiefer Finanzwelt? Mit der Vortrags- Thema im Mittelpunkt steht oder jedenfalls nicht liegende Normen stößt – nämlich immer noch reihe stellten sich das Exzellenzcluster »Die zur Marginalie wird. »Ich mache das eigentlich und wieder auf den Prinzipienkatalog der Herausbildung normativer nur noch, wenn ich das Gefühl habe«, so Klaus Französischen Revolution. Er dient als Rich- Ordnungen« und die Deutsche Günther, »ich habe ein eigenes existenzielles tungsweiser beim Hinterfragen kultureller, Börse AG der aktuellen Krise. Interesse an der Thematik und ich kann mit mei- ökonomischer und sozialer Voraussetzungen 6 »Die öffentliche Rolle nem wissenschaftlichen Hintergrund etwas zur unserer gegenwärtigen Lebensform. Adorno der Intellektuellen« war im öffentlichen Debatte beitragen. Und dann trete und Habermas zeugen für Honneth davon, November 2010 Thema des ich an die Medien heran.« dass es möglich ist, beides in einer Person vom Exzellenzcluster organi- Qualitätszeitungen und Teile des Rundfunks zu vereinen: tagespolitische Intervention und sierten »Frankfurter Stadt­ gespräch«. Es debattierten bieten noch am ehesten geeignete Möglichkei- Zivilisationskritik. Thea Dorn und Rainer Forst ten. Das Fernsehen dagegen setzt bis in den Man kann das zu einer Forderung zuspit- (Moderation Peter Siller). Dorn öffentlich-rechtlichen Bereich hinein auf Ereig- zen: Nur, wenn beides miteinander verbunden beklagte, dass es in Deutsch- nishaftigkeit, Sichtbarkeit, Unterhaltungswert. ist, kann man von einer spezifischen intellek- land keine öffentlichkeits­ relevanten Intellektuellen In einer Situation unregulierter Konkurrenz tuellen Intervention sprechen. »Eine Pro­ unter sechzig gebe. Das wollte zwischen Medienintellektuellen, die mit schnel- blematik in einen historischen Rahmen zu Forst so nicht stehen lassen, len und überraschenden Behauptungen, Assozi- ­stellen, der die Problematik neu erscheinen wies aber auf die veränderten ationen und Schlussfolgerungen ohne erkenn- lässt«, so Rainer Forst, »die Begriffe, in denen Verhältnisse bei fortschreiten- der wissenschaftlicher bare Richtung und Logik brillieren, und ein Problem formuliert wird, zu hinterfragen Spezialisierung hin. Intellektuellen »mit avantgardistischem Spür- und zu sagen, das muss man ganz anders sinn für Relevanzen«, die nachdenkliche Fest- betrachten – wenn Intellektuelle so etwas stellungen, interessante Argumente und klar zustande bringen und nicht nur eine Stimme formulierte Alternativen ins Feld führen oder zu sind, die zu bestimmten Problemen Ratschläge führen versuchen, würden Letztere geradezu erteilt, die andere auch erteilen, wenn sie fehl am Platz wirken. »Die größte Autonomie ­helfen, ein Problem tiefer und besser zu ver­ und Selbstbestimmung über das eigene Wort stehen, dann sind sie nach wie vor unverzicht- und den eigenen Auftritt«, so Axel Honneth, bar. Wenn die wissenschaftliche Arbeit dazu »hat man in der Presse. Auch im Rundfunkt geht beiträgt, dann sollten Wissenschaftler sich das noch eher. Es geht kaum mehr im Fernse- als Intellektuelle betätigen.« hen. Sobald man gewissermaßen dort die Tür Was also ist die Antwort, die sich aus den Bei- geöffnet hat, verfügt man nicht mehr über sich spielen und Gesprächen für die Titelfrage ergibt? und setzt eine Art Verfremdungseffekt ein.« Die schnelle Wirkung im Meinungsaustausch ist nicht zu verachten. Doch wichtiger kann die Zwischen tagespolitischer Intervention Fern- und Tiefenwirkung einer Konterbande und Zivilisationskritik sein, die auf vielerlei Wegen Adressaten zu errei- Axel Honneth unterscheidet zwischen dem chen und zur Umorientierung einer Lebensform »normalisierten Intellektuellen«, dessen Inter- beizutragen vermag. 

Forschung Frankfurt | 2.2014 19 »Am Tresen der Vollidioten«: Eckhard Henscheid (rechts im Bild) mit dem Gastronom Hans Joachim Mentz unter einem Foto aus der legendären Kneipe Mentz in den 1970er Jahren.

» Was ist eigentlich mit einer Robert-Gernhardt-Straße in Frankfurt?«

Interview mit Eckhard Henscheid zur »Neuen« und »Alten« Frankfurter Schule Wissenschaftler in der Gesellschaft

Seit 50 Jahren ist Eckhard Henscheid nicht recht weiterführend. Gemeint fern ist Adornos Rundkopf auch durch- schon Mitglied der »Neuen Frank­ war: Kommunisten, Sozialisten und so aus rechtens Gallionshaupt der in der weiter waren die Frankfurter Philoso- Frage genannten Mentz-Humorkritik- furter Schule« – Deutschlands phen und Soziologen nie! Wir übrigens Kolumne. Humorist war aber wohl »erfolgreichster Boygroup« (Oliver auch nicht. Höchstens: manchmal. ­keiner von der Alten Schule. Das Spät- Maria Schmitt). Doch in welchem mitglied Habermas schon gar nicht. Der Verhältnis steht die »Neue« eigentlich Frank: Die Rubrik »Humorkritik« in der war und ist völlig humorfrei. zur »Alten« Frankfurter Schule von TITANIC wird ja mit einem leicht ver­ Horkheimer, Adorno & Co? Impliziert fremdeten Adorno-Foto geschmückt, ein Frank: In Ihrem Roman »Die Vollidioten« jährlicher Adorno-Ähnlichkeitswettbe- taucht auch ein gewisser Max Horkhei- die Namensgebung (heimlichen) werb wurde im Rahmen der Buchmesse mer auf, der in der Bierkneipe »Mentz« Respekt oder (ironische) Distanz? veranstaltet. Wie sehen Sie heute den gerne am Spielautomaten seine Zeit Hat die »Spaßgesellschaft« der berühmtesten Sozialforscher der Frank- verbringt und Geld verprasst – wie viel Kritischen Theorie endgültig den furter Schule, kann er auch witzig sein? Fiktionales, wie viel Reales steckt in Garaus gemacht? dieser Figur? Henscheid: Adorno zum Beispiel konnte, wenn er wollte und nicht zufällig ver- Henscheid: Max Horkheimer war wohl Frank: Herr Henscheid, Sie haben in blendet war von seinen eigenen Vorur- realiter nie im »Mentz«. Adorno auch einem Aufsatz aus dem Jahre 1985 den nur in der Halb- oder Viertelerinnerung Unterschied der beiden Frankfurter der ­beiden Mentz-Wirte. Einige Satelli- Schulen folgendermaßen beschrieben: ten und Sternschnuppen dieser Großen » […] es [handelte] sich bei der alten aber hockten schon zeitweise gerne Frankfurter Schule um ostentativ seriöse drin. Mein kurioser Roman-»Hork­ und meist professorale Herrschaften heimer«? Das war wohl damals, schon schwergewichtigen Gehalts; indessen vor dem Roman, ein kurze Zeit kurren- die NFS eher mit dem Leichten, Spieleri- tes Gruppen-Insider-Späßchen. schen, Komischen und nicht partout Wissenschaftlichen zu tun hat.« Gibt Frank: Ist die Goethe-Universität, die es aber auch intellektuelle Gemeinsam- bis vor Kurzem noch wie die TITANIC- keiten, teilt man den Aufenthalt im Redaktion ihren Hauptstandort in »Grandhotel Abgrund«? Bockenheim hatte, ein lokaler Bezugs- punkt für Ihre Humorproduktion (ge- Henscheid: Da gehen die Ansichten aus- wesen), gibt es persönliche Bezüge der einander, auch unter uns, den Indivi- TITANIC-Redakteure in die Uni hinein? duen der »Neuen Frankfurter Schule«. Der vor acht Jahren verstorbene Robert Henscheid: Nein, es gab keine großen Gernhardt, von uns immer als so etwas Bezüge. Ich las an der Frankfurter Uni wie der Schuldirektor verstanden, und Zeichnung: F. W. Bernstein nur ein einziges Mal als Gast in einem auch ich selber: Wir waren wohl immer Sprachkritik-Seminar. Insgesamt dürfte des Konsensus einer starken Abhängig- teilen-Ressentiments, durchaus auch da das Jesus-Wort gelten vom Prophe- keit der Neuen von der Alten Frankfur- witzig sein, satirisch-polemisch vor ten im eigenen Vaterland – hier in der ter Schule. Was Kritik, Spott, Satire auf allem. Zum Beispiel mit seinen Attacken Variante: Von den genuin akademischen diese durch jene nicht ganz ausschloss – auf die obsolete Bourgeoisie-Kultur; Köpfen wurden wir wohl am wenigsten auch wenn das Horkheimer und Adorno etwa mit seinem schönen und kraftvol- und langsamsten erkannt und aner- kaum gebilligt hätten, sie waren doch len Schimpf auf einen amerikanischen kannt. Im Grunde bis heute. Zum Teil stark altmodisch-akademisch-autoritäts- Konzertführer von 1936 ff., nachzu­ aus plausiblen Pro-domo-Gründen der mäßig geprägte Herrschaften. Andere, lesen im Aufsatz »Theorie der Halbbil- eigenen Lagerverteidigung. Aber: Es gab vor allem unsere Zeichner Waechter, dung« von 1962; wenn er sich da über auch immer Ausnahmen. Uns zugetane Traxler, Poth, Bernstein, sahen das die einer Tschaikowski-Sinfonie aufge- Professorenköpfe. sicher etwas anders – die kamen halt klebte Verbalisierung des bekannten auch mehr von Dürer, Vermeer oder Haupt-Themas lustig macht: »Sorrow is Frank: Die Frankfurter Schule sei, so mindestens Wilhelm Busch her. Meine ended – it seems Tschaikowski will be sagen einige Beobachter, heute nicht zitierte Meinung von 1985 will ich hier calm again.« Adorno, im Gegenteil, läuft mehr so gesellschaftskritisch wie in gerne nochmals absegnen, jedenfalls im zu Zorn in Hochform auf: »Diese Explo- früheren Jahren – trifft das auch auf die Kern. Kaum mehr verstanden wird sion von Barbarei – die idiotischen Sätze, »Neue Frankfurter Schule« zu? Mutieren wohl heute noch das »Grandhotel die da gesungen werden – nach dem Satire und Humor in der »Spaßgesell- Abgrund«. Das war eine reichlich höh- ­Cliché des langmähnigen Slawen, eines schaft« zu reinen Dienstleistungen? nische Metapher von Georg Lukács auf rasenden Halbirren, der immerhin auch die Adorno-, Horkheimer- und Co- seine ruhigen Phasen hat.« Und so wei- Henscheid: Also, ich persönlich hatte Schule – und schon im Originalkontext ter … Sehr schön und talentiert. Inso- wirklich nie mit »Spaßgesellschaft« zu

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Kritische Theorie – schmunzelnd

egen Umbauarbeiten im Grandhotel Abgrund Oskar Negt / Alexander Kluge u. a.: Kritische Theorie Wfanden die Gruppenstunden der »Frankfurter negativ zu Ende gedialektikt). Aber Adorno war Schule« zu Beginn der 60er Jahre im Gasthaus Mentz / schon tot. Krenz im Bornwiesenweg statt. Erinnerte sich später der Wirt Hans Mentz, er habe, »als die Herren Gelehrten noch schauen mußten, wo sie blieben«, den gesamten Vertretern der Krit­ ischen Theorie »von Adorno bis Alfred Schmidt« 20 Mark geliehen bzw. »die Herren haben hier in die Kneipe ihre Studenten mitgebracht und Vorlesungen gehalten«. (cf. Eckhard Henscheid, Die Vollidioten, p. 183).

Zeichnung: F. W. Bernstein

agegen war der alte Adorno seinerseits arg hinter Dden Röcken her. Als ihn Max Horkheimer deshalb sogar einmal verwarnen mußte, wenn das so weitergehe, entziehe er ihm mit Rücksicht auf die Springerpresse die venia legendi, außerdem habe er doch zuhause schon eine Frau, – da überraschte der noch immer geistig rüstige Adorno den Chef mit dem Satz: »Nur wenn das, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles. Hehe!« Seitdem hatte Adorno seinen Spitznamen­ »Teddy« (meint: der Fuchs) weg.

Zeichnung: F. W. Bernstein er späte Max Horkheimer hatte es bekanntlich stark mit dem Geldautomaten­spielen, heimlich indessen Aus: Eckhard Henscheid »Wie Max Horkheimer D einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über auch im tessinischen Montagnola mit einer »theologia Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach.« occulta«. Gottseidank kam ihm Adorno nicht mehr drauf, Mit Zeichnungen von F. W. Bernstein. Zürich 1983, sonst »hätte es vielleicht was gegeben« (Alfred Schmidt / Haffmans Verlag, ISBN 3 251 00013 6, S. 58 – 60.

tun. Und bekämpfte sie immer tapfer. Bis Henscheid: Für die TITANIC bin ich seit heute. Andererseits werden in dieser Langem kaum mehr zuständig. Ich »Spaßgesellschaft« vulgo in der nach- glaube aber, dort arbeitet man jetzt viel- wachsenden Jugend relevante Grund- fach mehrgleisig: altmodisch print­ ausrüstungsbegriffe wie »Ideologiekri- medial und eben auch internetig. tik« und »Kulturkritik« und Ähnliches schon gar nicht mehr verstanden. Das Frank: Gehen TITANIC-Redakteure wie ist denen Hekuba, spanische Dörfer, Opa- Martin Sonneborn oder Oliver Maria denken. Sei’s drum. Wir wissen es besser. Schmitt künftig lieber in die Politik? Aber die Dialektik der Aufklärung­ geht halt krumme Wege – muss laut Horkhei- Henscheid: Sonneborn und Schmitt mer / Adorno zeitweise wieder­ in den ­gingen ja mehr halbernstlich »in die Mythos, die Voraufklärung­ retour. Politik«: der eine als Ein-Prozent- Parteifunktionär nach Brüssel – der Frank: Satire und Humor finden zu­- andere scheiterte vorerst mit 1,8 Pro- nehmend im Internet statt, Auflagen zent bei der Frankfurter OB-Wahl. Will von Zeitungen und Zeitschriften gehen aber nächstens nochmals antreten. zurück – wie geht die TITANIC mit Und hofft dann meines Wissens auf diesem Medienwandel um? 2,4 Prozent. Und auf die endgültige Zeichnung: F. W. Bernstein

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die seine Frankfurter akademische Kar- fikant-scheußliches Wort kreiert, sondern riere torpedierenden Machthaber als böse politische Gesinnung abgetadelt. Eckhard Henscheid »Halunken« beschimpfte? Gab’s und Von den unnachgiebigen Gutmenschen. gibt’s bei uns nicht. Oder nur sehr sel- Sonst müsste ja längst das Horrorwort ten. Beinahe nicht. Was »Lebens­ des letzten Jahrfünfts, »okay« (in allen genüsse« angeht, da stehen wir den Tonlagen und Bedeutungen), gewürdigt Alten aber hoffentlich kaum nach. worden sein. Wein, Weib und Gesang, das sind auch unsere Leitbilder – wie sie, wie man Frank: Hätten Sie einen Geburtstagsgruß liest, die Adornos waren. Gerade Ador- und/oder -wunsch für die 100 Jahre alte nos! Der doch »Leitbilder« vorgeblich Goethe-Universität parat? ablehnte! Kein Wort wahr. Henscheid: Selbstverständlich: Apage, Frank: Ihr Roman »Die Vollidioten«, im Satanas – äh, vielmehr: Cetero censeo, Frühjahr noch Stadtgespräch in Frank- Francofortem – äh, nein. Natürlich: Ad furt, spielt im Nordend und hat Ihnen nun multissimos annos! *  eine Kneipe mit Ihrem Namen beschert. Hat die »Neue Frankfurter Schule« nun * Anmerkung Henscheid: absichtlich damit ein Hauptquartier erhalten, kann falsches Latein! man die NFS damit als endgültig etabliert in Frankfurt betrachten, in der »Hochburg der Satire«? ckhard Henscheid wurde 1941 in Zum Weiterlesen Amberg / Oberpfalz geboren. Er zählt Henscheid: Mit (sozusagen meinem E Oliver Maria Schmitt: neben Robert Gernhardt, Chlodwig Lokal) »Henscheid« eine »Hochburg der Lachstandort­verbesserer. Poth, F. W. Bernstein und anderen zur Satire« sicher. »Hauptquartier«? Na ja, Über die Neue Frankfurter­ Schule. »Neuen Frankfurter Schule« (NFS); 1979 ich werde als inzwischen wieder mehr in In: Merkur 2002, H. 9/10, S. 935–943. war er eines der Gründungs­mitglieder Bayern Wohnhafter wohl eher selten der Zeitschrift TITANIC. Er arbeitete als dort sein. Und nach dem Rechten sehen. Journalist und Redakteur, bevor er Und die – wie man hört schon recht freier Schriftsteller wurde. Sein gefüllte – Kasse der Wirtsleute ausrauben. literarisches Werk umfasst Romane, Aber: Was ist eigentlich mit einer Robert- Erzählungen, Satiren, Essays und Gernhardt-Straße in Frankfurt? Einen Glossen. Sein Roman »Die Voll­idioten. Matthias-Beltz-Platz gibt es ja immerhin Ein historischer Roman aus dem Jahre seit Kurzem. Erfreulicherweise. Er war 1972«, Teil der »Trilogie des laufenden ein NFS-Nahestehender. Schwachsinns«, wurde 2014 für »Frankfurt liest ein Buch« ausgewählt. Frank: Sprachkritik nimmt in Ihrem Gesamtwerk einen großen Raum ein, zum Beispiel mit dem Buch »Dummdeutsch«. Kürzlich Etablierung seines damaligen Wahl- erst haben Sie in einem Inter- kampf-Titels: »Oberbürgermeister der view mit einem Fußballmagazin­ Herzen«. die übermäßige Verwendung des Wortes »Wahnsinn« im Frank: In Ihrer Anekdotensammlung Sprachschatz von Bundestrainer »Wie Max Horkheimer einmal sogar Joachim »Jogi« Löw heftig Adorno hereinlegte« erscheint die getadelt. Was halten Sie Frankfurter Schule um Horkheimer und eigentlich von der Kategorie Adorno wie eine Jungs-Gang, die »Unwort des Jahres«? merkwürdige Privatsprachen pflegt, sich Der Interviewer in eitlen Fehden ergeht und ansonsten vor Henscheid: Im Prinzip meint allem den sinnlichen Genüssen des dieses »Unwort des Jahres« Dr. Dirk Frank, 48, ist seit 2012 Presse­referent Lebens zugetan ist. Ist das (auch) ein schon etwas Richtiges. Und an der Goethe-Universität. In seiner Dissertation »Narrative Gedankenspiele. Der metafiktionale Selbstbild der NFS? meinen eigenen Intentionen Roman zwischen Modernismus und Postmoder- Verwandtes. Nur bringen die nismus« hat er sich unter anderem mit den Henscheid: »Eitle Fehden« bei der »Neuen Preisver­leiher meist den Kern Erzählungen Robert Gernhardts beschäftigt. Frankfurter Schule«? Etwa im Stil, in der Sache durcheinander. Und [email protected] dem sich einst Horkheimer / Adorno und ihr Amt dazu. Es wird in aller Golo Mann betätigten, welcher Letztere Regel kein besonders zeitsigni-

Forschung Frankfurt | 2.2014 23 Wo bleibt die Zeit für den Blick auf das große Ganze?

Von den Zwängen der Spezialisierung und dem Wunsch, den Überblick zu bewahren von Jürgen Bereiter-Hahn Wissenschaftler in der Gesellschaft

Jetzt, nach Beendigung vieler Jahre der Lehre und Forschung an der Goethe-Universität, kann ich diese Zeit mit einem Abstand überdenken. Der Freiraum für solch nicht zweckgerichtetes ­Verhalten ist während der praktischen Tätigkeit an der Universität äußerst gering und muss hart erkämpft werden, wie jedes Stück Freiheit. Rückblickend sehe ich, dass der Wunsch, über das Detailwissen hinaus ganzheitliche Zusammenhänge zu betrachten und über die eigene Fachgrenze hinauszugehen, meinen Weg geprägt hat.

ls ich 1972 frisch habilitiert meinen Dienst einen Antrag bei der DFG erfolgreich zu platzie- antrat, war außerhalb meiner Verpflich- ren, also auch entsprechend gute Ergebnisse Atungen als Hochschullehrer und dem vorzuweisen und zu publizieren. Engagement in der akademischen Selbstverwal- tung für nichts anderes Zeit. Ich hielt wöchent- Gesprächskreis Naturwissenschaft lich vier Stunden Vorlesung für Erstsemestler und Theologie der Biologie (später sieben Stunden) und bot Mein Arbeitsgebiet, die Zellbiologie, war damals dazu ein Praktikum, ein Seminar und Veranstal- in der Zoologie kein etabliertes Gebiet. So war es tungen für Fortgeschrittene an. Zusätzlich schon innerhalb meiner Disziplin schwierig, den wollte der Fachbereich das Studium reformie- größeren Kontext im kontinuierlichen Austausch ren. In endlosen Sitzungen wurde der Frage mit Wissenschaftlern über dem Doktoranden­ nachgegangen, wie die Lehre im Grundstudium niveau zu diskutieren. Mein nächster Ansprech- auszusehen habe –, und ich war mittendrin, partner war Karl-Ernst Wohlfahrt-Bottermann denn natürlich wollte ich den Studierenden in Bonn. Jedoch war das studentische­ Interesse eine optimale Einführung in den Stand der Bio- an der Zellbiologie sehr groß und ich hatte ent- wissenschaften bieten. In diesem Sinne wirksam sprechend viele Diplomanden und Doktoran- zu werden, bedeutet, sich über die reine den, die ich gemeinsam mit meiner technischen Beschäftigung mit dem Fachwissen hinaus Assistentin Monika Vöth betreute. hochschulpolitisch zu engagieren. Diese Ein- Hingegen war der Austausch mit zwei sicht veranlasste mich über all die Jahre, Aufga- Frankfurter Philosophen, Peter Roos und Wolf- ben im Fachbereichsrat, im Senat und Konvent gang Kuhlmann, außerordentlich fruchtbar. Wir sowie als Dekan, Vizepräsident und Baubeauf- veranstalteten gemeinsam mehrere Seminare tragter zu übernehmen – und damit die Ent- zur Wissenschaftstheorie, zum Beispiel zu der wicklung der Universität mitzugestalten. Frage, warum Zielgerichtetheit in der Evolution 1 Bildserie zum Verhalten Parallel zur Etablierung neuer Lehrkonzepte kein Thema für Naturwissenschaften sein kann. von Mitochondrien in einer bekam meine Gruppe ein schönes Elektronen- Diese Seminare waren sehr gut besucht und die lebenden Zelle. Jedes der länglichen Gebilde entspricht mikroskop, es ging aufwärts: mit korrelativer Studierenden diskutierten mit beeindruckendem einem Mitochondrium mit Mikroskopie (Vergleich Licht- / Elektronenmik- Fleiß und Konsequenz die anstehenden Fragen. einer Dicke von etwa 1/2000 roskopie) konnten die komplizierte Form von So verstanden sie Grenzen und Möglichkeiten Millimeter. Die Membran­ Hautzellen und die Bewegung von Mitochond- naturwissenschaftlicher Forschung. Parallel dazu proteine wurden grün markiert; die Rotfärbung ist rien erschlossen werden. Dennoch ging es entwickelte sich ein Gesprächskreis Natur­ ein Maß für das elektrische aufgrund meiner vielen Verpflichtungen mit wissenschaft und Theologie mit Kollegen dieser Potential über die innere den wissenschaftlichen Ergebnissen nicht so Fachbereiche. Diese fachübergreifende Beschäf- Membran der Mitochondrien. recht voran. In dieser Situation half mir ein tigung stellte eine stete kritische Distanz zum wohl­wollender Gutachter der Deutschen For- eigenen Forschen sicher und erweiterte den schungsgemeinschaft (DFG) für die nächsten Blick für größere Zusammenhänge. zwei Jahre über die Runden – unter Vorweg- nahme der zu erwartenden Erfolge. Forschung Laborverbot mit fruchtbaren Folgen war für mich in all den Jahren nur möglich, Wie Muße und eine stimulierende Umgebung wenn es mir gelang, alle zwei Jahre mindestens Erkenntnis fördern können, erfuhr ich bei

Forschung Frankfurt | 2.2014 25 Wissenschaftler in der Gesellschaft

einem Aufenthalt als Berater in einem Krebsfor- Mechanik und biochemische Regulation erwie- schungsinstitut in den USA: Nachdem ich einige sen sich als eng verzahnt. Da mechanische Pro- Stunden lang das Experimentieren meines Gast- zesse stets an Actio und Reactio gebunden sind, und Auftraggebers beobachtet hatte, wies ich sind auch sie nur in einer ganzheitlichen ihn auf thermodynamische Fehlbeurteilungen Betrachtungsweise fassbar. Sie reicht von den Zellstrukturen bis zu den »Bauplänen« viel­ zelliger Organismen und deren Abwandlung im Entsorgung defekter Proteine in der Zelle Laufe der Evolution. Dieses Thema beschäftigte mich sowohl in der Lehre (Evolutionstheorie) als auch in der fruchtbaren Auseinandersetzung oxidiertes Protein mit dem Biologen Wolfgang Gutmann vom Sen- ckenberg-Institut und dem Architekten Frei Otto (Stuttgart).

Das Ultraschallmikroskop: Biochemie in Biophysik übersetzen ROS 1983 erhielt ich Besuch von Prof. Calvin Quate (Stanford University), dem Erfinder des hoch- Plasmamembran auflösenden Ultraschallmikroskops. Er warf einen dicken Stoß Fotos auf den Tisch und fragte, was ich davon hielte. Die Ultraschall­ Anterograde Bewegung bilder von Zellen sahen den Abbildungen von Zellen im reflektierten Licht sehr ähnlich.­ Dazu hatte ich vor einiger Zeit eine Theorie Elimination über Autophagie ­aufgestellt und dementsprechend interpretierte ich die ­Bilder. Das Ergebnis dieses sehr inten­ RetrogradeFusion Bewegung und Teilung siven Gespräches war, dass ich als Erstanwender an der Entwicklung eines Gerätes durch die Firma Ernst Leitz in Wetzlar beteiligt wurde. Eines der ersten funktionstüchtigen Instru- 2 Mitochondrien produzieren seiner Ergebnisse hin. Das erboste ihn derart, mente kam, durch die DFG finanziert, nach freie Sauerstoffradikale (ROS), dass ich eine Woche Laborverbot erhielt. Ich Frankfurt. Damit eröffneten sich völlig neue die Eiweiße oxidieren und nutzte die Zeit, das Buch von Efraim Racker » A Möglichkeiten zum Studium der Zellmechanik, dadurch ihre Funktion stören. Bei der Teilung werden New Look at Mechanisms of Bioenergetics« zu doch mussten über mehrere Jahre hinweg erst Mitochondrien-Abschnitte lesen und die dort geäußerten Ideen weiterzu- die erforderlichen Auswertungsverfahren ent- mit geschädigten Proteinen denken. Das unerwartete Geschenk einer freien wickelt werden. abgetrennt. Das Fluoreszenz- Woche sollte meine Forschungsarbeiten in den Parallel dazu konnte das Gerät mit der bild zeigt, wie die schadhaften Mitochondrien in Vakuolen nächsten 15 Jahren wesentlich bestimmen. Ich Gruppe des Physikers Wolfgang Grill über die eingeschlossen und verdaut hatte eine Hypothese gefunden, die das Inva­ Ultraschall- Phasenkontrastmikroskopie für bio- werden (Autophagie). sionsverhalten von Tumorzellen über die Wech- logische Anwendungen weiter verbessert wer- Die Autophagie-Vakuolen selwirkung ihres Energiestoffwechsels mit der den. Erstmalig war es möglich, zelluläre Elastizi- sind grün markiert. Sie umschließen die hier rot Cytoskelettstruktur erklärte. Damit hatte ich auf tät und Strukturbildung durch Quervernetzung gefärbten, geschädigten der Ebene von Zellen den angestrebten ganz- fädiger Cytoskelettstrukturen hochaufgelöst zu Mitochondrienabschnitte. heitlichen Ansatz gefunden. bestimmen, ohne die Zellfunktion zu stören. An Von nun an versuchte ich den Studierenden Gelen aus Zellbestandteilen ließen sich mit systematisch zu vermitteln, dass die Dynamik hoher Empfindlichkeit molekulare Wechsel­ biologischer Strukturen eine wichtige Voraus- wirkungen messen. Biochemie konnte in Bio- setzung für zelluläre Funktionen ist. Im neu physik übersetzt werden. Zellform und Zell­ geöffneten Forschungsfeld begann ich, Gradien- bewegung wurden so von den Eigenschaften ten der Energieversorgung innerhalb von Zellen von Gelen bis zur Zellmechanik interpretiert. nachzuweisen. Ich fand lokale Restriktionen Einen entscheidenden Anteil hatte die Kom- von Stoffwechselreaktionen (Glykolyse) ohne bination molekulargenetischer Methoden, die trennende Membranen. Diese Phänomene lie- durch einen neuen Mitarbeiter (Dr. Dirk ßen sich durch die dynamische Zusammenlage- Schmitz) in die Gruppe kamen, mit den physi- rung von Enzymen und Cytoskelettstrukturen kalischen Messungen. Auch dies ist ein Beispiel erklären, die zu einer wechselseitigen Funk­ dafür, wie Interdisziplinarität die eigenen fachli- tionssteuerung der molekularen Partner führte. chen Grenzen erweitert. Ein wichtiges Ergebnis Da das Cytoskelett für die Zellform und die Fort- dieser Zusammenarbeit war die Erkenntnis, dass bewegung von Zellen verantwortlich ist, gewan- die Aktinpolymerisation abhängig ist von Enzy- nen diese Eigenschaften eine neue Bedeutung. men der Glykolyse, und zwar je nachdem, ob

26 2.2014 | Forschung Frankfurt Wissenschaftler in der Gesellschaft diese Enzyme ihr natürliches Substrat zur Verfü- Jahren den ersten Fluoreszenzfarbstoff identi- gung haben oder nicht. Diese Mechanismen fiziert hatte, der an lebenden Zellen die Bestim- wirken im Konzert mit Ionentransportvorgän- mung der mitochondrialen Energieladung gen, die für den hydrostatischen Innendruck (Membranpotenzial) ermöglichte. Das war ein von Zellen verantwortlich sind. Indem wir wichtiger Schritt zu einer »Biochemie in der Druck und Volumen auf zellulärer Ebene lebenden Zelle«. bestimmten, konnten wir ein neues Modell der Das Spannungsfeld zwischen ganzheitlicher Zellmigration entwickeln. Ebenso klärten wir Betrachtungsweise und Detailerforschung eines auf, wie die Zelle ihr Volumen reguliert: Sie kleinen Ausschnittes biologischer Prozesse war überträgt die Spannung von Mikrofilamenten vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt an der Zellmembran auf einen regulierenden meine zentrale Herausforderung, sie beein- Ionenkanal (TRPV4). flusste meine Fragestellung und die Wahl der Methoden. Diese Schulung war für meine Tätig- Im Grenzgebiet zur Medizin keit als Vizepräsident eine wichtige Vorausset- In einer weiteren interdisziplinären Zusammen- zung bei der Formung der Cluster im Rahmen arbeit interessierte ich mich gemeinsam mit in der Exzellenzinitiative.  August Bernd vom B-Labor der Dermatologie dafür, wie mechanische Kräfte sich auf die Dif- ferenzierung und Teilungsaktivität von Hautzel- len auswirken. Diese Arbeiten gipfelten in einer verbesserten Technik zur Zucht menschlicher Haut für Transplantationen nach schweren Prof. Dr. Jürgen Bereiter-Hahn Schädigungen wie Verbrennungen. Bei diesem Projekt sowie bei einem weiteren zur Züchtung EIN LEBEN FÜR DIE WISSENSCHAFT eines Nierenäquivalents (unter anderem mit Prof. Helmut Geiger und Dr. Patrick Baer von rof. Dr. Jürgen Bereiter-Hahn, 2006 wurde er emeritiert. Heute der Klinik für Innere Medizin III an der Goethe- PJahrgang 1941, studierte Biolo- ist er tätig als Ombudsmann für Stu- Universität) konnten durch dreidimensionale gie, Biochemie und Philosophie an dierende, wissenschaftl­iche Mit­ Zellkulturen die großen Einschränkungen über- der Goethe-Universität. Er promo- arbeiterinnen und Mitarbeiter; er ist wunden werden, die das Arbeiten mit Zellkultu- vierte 1967 am Institut für Kinemati- Vorsitzender des Bewertergremiums ren in Flaschen und auf Glasscheiben oft so sche Zellforschung in Frankfurt. für Erfindungen aus der Goethe- unbefriedigend machen. 1972 schloss er seine Habilitation Universität (bei INNOVECTIS), Vor- Das letzte große Thema, das dank der För- über Cytoskelettdynamik in Epider- sitzender des Stiftungsrates der derentscheidungen bei der DFG und der Euro- miszellen der Fischhaut ab und Stiftung zur Förderung der internati- päischen Union (EU) den Reigen meiner For- erhielt eine Professur für Zellbio­ onalen wissenschaftlichen Bezie- schung zu Energiestoffwechsel, Zellstruktur logie (Kinematische Zellforschung) hungen der Goethe-Universität und und Differenzierung beziehungsweise Zelltod an der Goethe-Universität. For- Mitglied des Human Spaceflight and beschloss, waren Arbeiten zur Rolle von Mito- schungsaufenthalte führten ihn zu Expolaration Advisory Panel und chondrien bei Alternsprozessen im Rahmen Prof. Britton Chance (Philadelphia), des Future Technology Advisory eines von Prof. Heinz D. Osiewacz koordinier- Prof. Bo Thorell (Stockholm) und Panel der ESA. ten EU-Projektes. Mich beschäftigte hierbei die Prof. Eli Kohen (Miami). Jürgen Rolle von Mitochondrien als integrativem Bereiter-Hahn ist Autor mehrerer [email protected] Bestandteil von Zellen, deren Schädigung, Fachbücher. Seine von 2000 bis 2004 Überlebensstrategie und Abbau. Die bis dahin in Zusammenarbeit­ mit dem Institut entwickelten mikros­kopischen Methoden er- für den wissenschaftlichen Film möglichten in Kombination mit molekularer in Göttingen herausgegebene CD- Genetik neue Einsichten in die Dynamik von Serie »Die Zelle« wurde mit sechs Mitochondrien. Beispielsweise konnten wir Preisen ausgezeichnet. nachweisen, dass die Fusion von Mitochond- 1985 / 1986 war Bereiter-Hahn rien deren Stressresistenz erhöht und die Dekan des Fachbereichs­ Biologie, Lebensspanne von Zellen sich verlängert, 1996 bis 2000 Sprecher des Konvent- indem geschädigte Mitochondrien eliminiert vorstandes, 1993 bis 1995 Sprecher werden. Diese letzten Jahre waren durch eine des Biozentrums und 2003 bis 2006 sehr fruchtbare Kooperation mit Dr. Marina Vizepräsident der Goethe-Univer­ ­Jendrach geprägt. Nun hatte ich die Gesprächs- sität. Er engagierte sich außerdem partnerin, die in den frühen Jahren so sehr als Baubeauftragter für das Biozent- fehlte. Wenngleich diese Arbeiten nicht über rum und das Buchmann Institute for die Organisationsebene der Einzelzelle hinaus- Molecular Life Sciences. gingen, so schloss sich doch der Kreis vom Organell zur ganzen Zelle, da ich in den 1970er

Forschung Frankfurt | 2.2014 27 Mit Hartnäckigkeit und starkem Willen zum Erfolg Wissenschaftlerinnen an der Goethe-Universität gestern und heute von Anja Störiko Wissenschaftlerinnen in der Gesellschaft

Von den hart umkämpften Anfängen des Frauenstudiums bis heute hat sich viel verändert. Doch Familienplanung und Mobilität sind weiterhin kritische Punkte für weibliche Karrieren in der Forschung. Deswegen sind Wissenschaftlerinnen auch heute noch häufiger kinderlos als ihre männlichen Kollegen. Erst allmählich schärfen Genderprogramme das Bewusstsein für die nicht fachlichen Aspekte der Nachwuchsförderung beider Geschlechter. Und ­Mentoringprogramme helfen Frauen bei den letzten Schritten zur Professur wie Networking, Auftreten, Bewerben und Verhandeln.

elten (be)trifft einen als Journalistin eine zwar schon 1754 die Sondererlaubnis Friedrichs trockene Statistik während der Artikel­ des Großen zur Promotion erhalten, und ab 1900 Srecherche so persönlich: Frauen mit Studi- gab es die ersten »ordentlichen« deutschen Stu- enbeginn 1984 promovierten laut »Expertise zu dentinnen. Doch selbst als 1912 die Mikrobiolo- Frauen in Wissenschaft und Forschung« zwar gin Lydia Rabninowitsch-Kempner den Profes- vergleichsweise häufig, doch schon während sorinnentitel erhielt, war an eine Lehrerlaubnis der Promotion suchten sie nach Berufs­ nicht zu denken. Die Vorbehalte gegen weib­ alternativen außerhalb der Wissenschaft. Diese liche Forscherinnen waren zu groß. Expertise der Robert Bosch Stiftung liest sich Dass heute über die Hälfte der Abiturienten wie mein persönlicher Lebenslauf: 1984 Studi- und Studienabsolventen weiblich ist und die enbeginn, dann Promotion – doch statt wissen- Zahl der Promotionen über 40 Prozent liegt, darf schaftlicher Karriere Familie und Selbstständig- daher als Erfolg betrachtet werden. Dennoch keit. So wenig ich selbst beantworten kann, »gibt es immer noch eine Frauen- und Förder- was wann und warum den Ausschlag gab, nicht lücke«, so Astrid Franzke, die das an der Goe- die Wissenschaftskarriere fortzusetzen, so wenig the-Universität angesiedelte hessische Mento- Mit Hartnäckigkeit liefert auch die Bosch-Studie eine durchgängig ring-Projekt »ProProfessur« betreut. »Gerade plausible Antwort für diese typische Akademi- erst wurde die Quote von 20 Prozent Professo- kerinnen-Laufbahn. Der Kinderwunsch spielte rinnen bundesweit erreicht«, beschreibt sie den und starkem Willen eine entscheidende Rolle, die hohen und geringen Anteil weiblicher Führungskräfte an ­strikten Anforderungen an Zeit und Mobilität, den Hochschulen. In der höchsten Besoldungs- die unsicheren Aussichten, die Strukturen des stufe liegt der Frauenanteil sogar unter 15 Pro- zum Erfolg Wissenschaftsbetriebs an sich, aber auch die zent, und in den außeruniversitären For- Überzeugung, abseits der klassischen Wissen- schungseinrichtungen ist er mit 11 Prozent noch schaft eher die Balance zwischen Familie, Freizeit niedriger. Die Goethe-Universität steht ver- Wissenschaftlerinnen und erfüllender Arbeit finden zu können. gleichsweise gut da (siehe Kasten). an der Goethe-Universität Der Jubiläumsband »Einzeln & Gemeinsam – 1 Von dem Klischee der Vor 100 Jahren: Zäher Kampf um das 100 Jahre starke Frauen an der Goethe-Univer- Judaistin in der Bibliothek ist gestern und heute Frauenstudium sität« schildert, welche Hürden und Vorurteile Rebekka Voß weit entfernt. Wenn sie eine kreative Pause Dass sich Frauen die Frage nach einer wissen- Frauen überwinden mussten, und wie viel braucht, spielt sie gern schaftlichen Karriere überhaupt stellt, ist ver- Eigensinn, Beharrlichkeit und Durchsetzungs- mit ihrem Mitarbeitern von Anja Störiko gleichsweise neu: Vor 90 Jahren erhielten die vermögen nötig waren, um als Frau erfolgreich Tischfußball. Chemikerin Margarete von Wrangell und die zu sein. »Ich war ein Eigener, ein Selberaner«, Erziehungswissenschaftlerin Mathilde Vaerting erinnerte sich beispielsweise die Frankfurter die ersten außerordentlichen Professuren an Rechtswissenschaftlerin Henriette Fürth rück- deutschen Universitäten. Erst seit drei Genera­ blickend an ihren Kampf für Arbeit und Frauen- tionen haben Frauen überhaupt die Option, rechte. Die Mathematikerin Helene Braun eine Wissenschaftskarriere einzuschlagen. Die schildert ihren Eigensinn und ihren Fleiß. Die Anfänge waren zäh und von Rückschlägen und erste Inhaberin eines Lehrstuhls für Frauen- und frauenfeindlichem Hohn und Spott begleitet. Geschlechterforschung, Ute Gerhard, betont: Die Ärztin Dorothea Christiane Erxleben hatte »Einfach war es dennoch nicht.« Stadträtin

Forschung Frankfurt | 2.2014 29 Wissenschaftlerinnen in der Gesellschaft

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2 Nargess Eskandari-Grünberg, Stadträtin in Frankfurt. 3 Seyla Benhabib, Philosophin. 4 Ute Gerhard, erste Professorin für Geschlechter­ forschung in Deutschland. 5 Jamila Adamou, Gründerin der »Initiative Schwarze 2 Menschen in Deutschland«. 6 Emmy Klieneberger-Nobel, Bakteriologin. 7 Hel Braun, Mathematikerin. 8 Henriette Fürth, Frauenrechtlerin. 9 Marion Gräfin Dönhoff, Journalistin und Herausgeberin der »Zeit«. 10 Margarete Mitscherlich, Psychoanalytikerin. 11 Charlotte Mahler, erste Chefärztin und Klinikdirektorin in Deutschland. 12 Stefanie Dimmeler, Biologin, Molekulare Kardiologie. 13 Christiane Nüsslein-Volhard, Biologin, Nobelpreisträgerin für 4 5 Medizin 1995.

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30 2.2014 | Forschung Frankfurt Wissenschaftlerinnen in der Gesellschaft

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100 Jahre starke Frauen an der Goethe-Universität

um 100. Geburtstag der Goethe-Universität Z erschien ein Buch, das »den kleinen Teil der Frauen sichtbar machen möchte, die seit 1914 an der Goethe-Universität gewirkt haben oder für die Entwicklung der Universität bedeutsam waren«. Vier Autorinnen porträtieren über 50 Frauen – von der ersten Frankfurter Professorin über Stifterin- nen, Politikerinnen und Feministinnen bis zum »Guten Geist der Mensa«. Neben ihrem Durchset- zungs- und Beharrungsvermögen fasziniert vor allem die Vielfalt dieser »starken Frauen« der ver- gangenen 100 Jahre.

Helma Lutz, Marianne Schmidtbaur, Verena Specht-Ronique, Anja Wolde (Hrsg.) Einzeln & Gemeinsam – 100 Jahre starke Frauen an der Goethe-Universität Frankfurt 2014, ISBN: 978-3-00-045686-2, 124 S., 17 Euro 13

Forschung Frankfurt | 2.2014 31 Wissenschaftlerinnen in der Gesellschaft

FRAUENANTEIL AN DER GOETHE-UNIVERSITÄT (Stand Sommersemester 2014)

Studentinnen: 58 % Promotion: (abgeschlossen50 2013) % Habilitationen: 32 % (Durchschnitt 2011 – 2013)

C3/W2-Professorinnen: 25 % Juniorprofessorinnen: 33 % C4/W3-Professorinnen: 20 %

Professorinnen insgesamt: 23 %

­Nargess Eskandari-Grünberg, die mit 20 Jahren und durch Seminare zu Themen wie Forschungs- als Flüchtling in die Bundesrepublik kam, förderung, Führungsanforderungen und Beru- schloss ihr Studium als eine der Schnellsten und fungscoaching unterstützt. »Der größte Teil ver- Besten ab – und musste dafür hart arbeiten. folgt hartnäckig das Ziel Professur«, beschreibt Leiterin Franzke die ehrgeizigen Frauen. Das Glückliche Umstände und engagierte Mentoren Programm schließe eine Förderlücke, denn Doch auch von Förderung, Unterstützung und »viele meinen, die sind ja schon so weit, die glücklichen Zufällen ist in der Vita jeder dieser können das alleine schaffen«, so Franzke. Dabei Frauen zu lesen: »Ich bin in privilegierten sind es häufig die kleinen letzten Schritte, wie ­Verhältnissen groß geworden«, schildert etwa Networking, Auftreten, Bewerben, die den Jamila Adamou, die heute an der Landes­ ­jungen Frauen weiterhelfen. »In den Wissen- zentrale für politische Bildung in Wiesbaden arbeitet. Die Philosophin Seyla Benhabib ist dankbar, dass ihre Karriere in die Zeit des Femi- nismus fiel: »Diese Bewegung hatte ich immer im Rücken.« Und wie viele andere wäre auch ProProfessur die erste Habilitation an der Goethe-Universität nicht ohne einen starken Mentor möglich roProfessur ist ein gemeinsames Projekt ­gewesen: Der Leiter des Frankfurter Hygiene- Pder fünf hessischen Univer­sitäten Instituts, Max Neisser, suchte mehrere Jahre (Frankfurt, Darmstadt, Gießen, Kassel, hartnäckig­ nach einem Zweitgutachter – den er Marburg). Bereits im vierten Durchgang schließlich in Heidelberg fand – für die Habili­ werden 45 Wissenschaftler­innen aller tation der Mikrobiologin Emmy Klieneberger- Fachrichtungen auf dem Weg zur Professur Nobel 1930. 18 Monate in ihrer Karriere­planung Mentoren sind auch das Stichwort für das unterstützt, einerseits von einer ausgewähl- hessische Programm ProProfessur, das seit 2007 ten Mentorin oder einem aus­gewählten 38 Frauen zu einer erfolgreichen Berufung Mentor, andererseits mithilfe von Intensiv- geführt hat. 178 Wissenschaftlerinnen haben trainings zu Schlüsselqualifikationen und das 18-monatige Programm mittlerweile durch- Führungskompetenzen. laufen (siehe »ProProfessur«, Kasten rechts). www.proprofessur.de Frauen kurz vor der Professur werden von einem Mentor oder einer Mentorin begleitet

32 2.2014 | Forschung Frankfurt Wissenschaftlerinnen in der Gesellschaft schaftsstrukturen ist immer noch das männliche der-Programme tragen viel dazu bei, dieses Karrieremodell bevorzugt: Vollzeit, jederzeit Thema in den Instituts-Strukturen bewusst verfügbar, 150 Prozent Leistung …« schildert zu machen. So verlangt beispielsweise die Franzke die Barrieren. Deutsche Forschungsgemeinschaft mittler- Das spiegeln auch aktuelle Studien wider: weile in allen Förderprogrammen, Kommissi- Laut Bosch-Studie scheiden deutlich mehr onen und Gutachtergremien Gleichstellungs- Frauen als Männer aus der wissenschaftlichen bemühungen, sodass die Universitäten und Laufbahn aus. Verantwortung für die Kinder­ Forschungseinrichtungen um das Thema nicht betreuung und eingeschränkte Mobilität gelten mehr herumkommen. Dies wirkt über die als Hauptgründe für diesen »brain drain«. Laut Frauen hinaus. »Beispielsweise melden uns einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums viele Mentoren zurück, dass sie ihren wissen- Berlin ist unter Wissenschaftlerinnen die »klas- schaftlichen Nachwuchs nun anders fördern, sische Arbeitsteilung« immer noch am weites- persönlicher und mit offenerem Blick für das ten verbreitet: Die Familienverantwortung tra- Nicht-Fachliche«, so Franzke. Zudem fragten gen sie selbst, zusammen mit einem Netz aus auch Männer immer häufiger bei Berufungs- Kindertagesstätten und Verwandten. Gerade in verhandlungen nach Kinderbetreuung­ oder dieser Konstruktion haben sie aber statistisch Dual-Career-Chancen für ihre Partnerin. schlechtere Karrierechancen als jene, die zu »Unser Ziel ist keine starre 50-Prozent-Quote, Hause von ihren Partnern oder ihrer Familie sondern eine Vielfalt an Lebensmodellen, die entlastet werden. Zudem sind Wissenschaftlerin- Männern wie Frauen im Endeffekt gleichsam nen häufiger kinderlos als Wissenschaftler. zugute kommt.«

ProProfessur schließt eine wichtige Karriere mit Kindern muss möglich sein Förderlücke Die ersten Frauen-Förderprogramme entstan- Das gilt auch für Rebekka Voß (37), die den Mitte der 1980er Jahre. Heute, eine Gene- 2012 / 2013 am Förderprogramm ProProfessur ration später, sind die Erfolge sichtbar: Erstmals teilnahm. Die Judaistin hatte 2010 eine Junior- wird 2015 eine Frau an der Spitze der Goethe- professur in Frankfurt angenommen. »Das Pro- Universität stehen, Frankfurt stellte als erste gramm hat mir sehr viel gebracht«, lobt sie die Großstadt gemeinsam zwei (Ober-)Bürger- Förderung. In der Evaluationsphase zur Halbzeit meisterinnen, der bundesdeutschen Politik der Juniorprofessur kamen Informationen, wie steht eine Frau vor. Die Mehrzahl der Frauen man sich bewirbt und verhandelt, gerade recht: dieser Generationen hat aber ihre Karriere »Ich konnte sehr viel direkt anwenden, was ich zugunsten der Familie zurückgestellt. Viele in den Seminaren und im Austausch mit meiner werden den Schritt weg von der Wissenschaft Mentorin und Frau Franzke gelernt habe.« Es nicht bereuen, sondern flexiblere, spannende gelang ihr, ein Stellenangebot des City College und vielfältige andere of New York erfolgreich zu verhandeln und Tätigkeitsfelder gefun- schlussendlich in Frankfurt eine volle Professur den haben. zu erhalten. Darüber hinaus schätzt Voß den Doch zumindest die Zusammenhalt und Austausch in der Gruppe, Renteninformation trifft die neuen Kontakte: »Das Netzwerk ist eine mich persönlich jedes Investition in die Zukunft«, ist sie sich sicher. Jahr aufs Neue: Mein Mobilität und Familienplanung sieht auch sie Mann wird mit exakt als kritische Punkte der Wissenschaftlerinnen- gleicher Ausbildung das Karriere. Da ihr Mann in Düsseldorf arbeitet, Dreifache meiner Rente pendelt sie zwischen Wohn- und Arbeitsort. erhalten – obwohl ich »Mit Kindern wäre das schwieriger«, gibt sie zu. mit drei Kindern nie »Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, mehr als zwei Wochen dass man hinbekommt, was man wirklich aufgehört habe zu arbei- möchte«, zeigt sie sich zuversichtlich. Ähnlich ten. Frauenförderung ist Die Autorin wie in der Vergangenheit gehören auch heute weiterhin notwendig – noch eine Portion Hartnäckigkeit und starker und die selbstverständ­ Dr. Anja Störiko, Jahrgang 1965, studierte und Wille zu einer erfolgreichen Karriere dazu. liche Work-Life-Balance promovierte in Mikrobiologie an den Univer­ »Kinder bekommen nun mal die Frauen – und für alle. Vielleicht errei- sitäten Würzburg und Tübingen. Sie arbeitet das in einer langen und wackeligen Zeit mit chen Männer mit mehr als freie Journalistin für Publikumszeitschriften, ist Redakteurin der Fachzeitschrift »BIOspekt- befristeten Stellen«, beschreibt Voß die Risiken Berufspausen, Familien­ rum« und hat einige Bücher zu Gesundheits­ des Wissenschaftsbetriebs. nähe, Sozial- und Frei- themen verfasst. Ein Ziel jeglicher Frauenförderung ist zeitverhalten eines Tages [email protected] daher vor allem die »Work-Life-Balance«, das auch die höhere Lebens- Einbetten von Berufs- und Sozialleben. Gen- erwartung der Frauen? 

Forschung Frankfurt | 2.2014 33 Nachgefragt im PräsiDium ...... bei Prof. Birgitta Wolff

Was reizt Sie am Amt der Präsidentin im Umgang mitein ander und mit den die noch anstehenden großen Baupro- der Goethe-Universität? Herausforderungen der Organisation jekte beschleunigen können, ohne dass einer so großen Universität. es »auf Kosten« anderer geht. Dazu Die Goethe-Uni hat mit ihrer Tradition brauchen wir neue Finanzierungs­ und den in jüngerer Zeit wieder Können Sie uns erste Ideen nennen, modelle, da wir den knappen Kuchen erreichten Erfolgen ein riesiges die Sie gern in Ihrer Amtszeit verwirk­ der Landesmittel nicht weiter vergrö- Potenzial, aus der Breite vieler lichen möchten? ßern können, beispielsweise innovative Disziplinen für die Gesellschaft Bau­kooperationen mit externen Besonderes und Wichtiges zu leisten – Meines Erachtens ist es für die Akzep- Partnern, ein gezieltes Fundraising und in Forschung und Lehre sowie »Third tanz und das Ansehen der Goethe-Uni Matching-Agreements. Mission«, also Interaktion mit der wichtig, noch stärker hervorzuheben, Es wäre beispielsweise eine schöne Zivilgesellschaft. Diesen erfolgreich dass nicht nur sie selbst vom Status Vision, eine neue Zentralbibliothek eingeschlagenen Weg würde ich gern einer »autonomen Stiftungsuniver­ nicht erst nach 2020 planen zu weiterführen. sität« profitiert, sondern auch das können, sondern vielleicht schon eher. Land und die hessische Hochschul- Und vielleicht auch inhaltlich und Welchen Eindruck haben Sie bisher von Community. Wir müssen noch mehr architektonisch nochmal neue Akzente der Goethe-Universität gewonnen? universitätsübergreifende Win-Win- zu setzen. Eine Zentralbibliothek sollte Situationen initiieren, beispielsweise wirklich zentral sein. Sie könnte Trans- Hier gibt es viele hochmotivierte, kluge arbeitsteilige Kooperationen – ver- parenz signalisieren und die Wichtig- Köpfe, die Freude am Denken und stärkt auch in der Lehre – mit anderen keit von Inhalt, nicht Verpackung. Ich Tun haben – beste Voraussetzungen für Hochschulen. Zusammen mit unseren bin sicher, dazu hätte nicht nur ich ein Kreativität und den Mut, Neues zu Partnern – dem Land, der Stadt und all paar Ideen. Die müssten wir gemein- entwickeln und auszuprobieren. In der unseren Freunden und Förderern – sam entwickeln und umsetzen. Wissenschaft und Lehre, aber auch könnten wir auch überlegen, wie wir 34 2.2014 | Forschung Frankfurt ? Was bedeutet für Sie Führung? Streiterin für die Wissenschaft

Das Wichtigste ist: gemeinsam gute ie ist die erste Frau an der Spitze vielen Fachbereichen der Goethe- Ideen entwickeln und diese umsetzen. der Frankfurter Goethe-Univer- Universität Sympathie und Ansehen Ich sehe meine Rolle nicht darin, jede Ssität: Birgitta Wolff tritt am erworben. Dass sie bereit ist, für die Idee selbst zu haben und jedes 1. Januar 2015 ihr Amt als Präsidentin Interessen von Forschung und Lehre Problem­ selbst zu lösen. Das wäre eine von Deutschlands drittgrößter Hoch- zu kämpfen, hat sie schon in ihrem Anmaßung von Wissen. Es geht schule an. 1965 im westfälischen Amt als Wissenschaftsministerin von darum, Prozesse anzustoßen und zu Münster geboren, wuchs Birgitta Sachsen-Anhalt bewiesen: Weil sie moderieren, mit denen wir unter Wolff in einer Familie mit drei sich dem Sparkurs der Landesregie- Einbeziehung ganz vieler kluger und Geschwistern auf. Nach dem Abitur rung nicht beugen wollte, musste sie gut informierter Köpfe gemeinsam die hat sie zunächst eine Banklehre gehen. Eine klare Aussage für ihre bestmöglichen Ideen finden. Solche absolviert, dann studierte sie Wirt- Präsidialzeit: Sie will sich einsetzen Prozesse anzu­stoßen, zu moderieren schaftswissenschaften an der Univer- für ein Ende der »exzessiven Projekti- und durchaus auch zu steuern, sehe sität Witten/Herdecke, in Melbourne tis« und eine bessere Grundfinanzie- ich als meine Aufgabe. Meine Verant- und Paris. An der Ludwig-Maximili- rung der Wissenschaft, betonte sie in wortung ist dann, dafür zu sorgen, ans-Universität in München wurde sie einem Interview. Wissenschaftler soll- dass wir unsere Herausforderungen promoviert, forschte dann in Harvard ten mehr Freiräume haben und nicht meistern, aber nicht, jede Frage selbst und wurde wiederum in München ständig an den nächsten Zwischen­ zu beantworten. habilitiert. bericht für ein Projekt oder die nächste Seit 2000 hat Birgitta Wolff den Abrechnung denken müssen. Welche Botschaft haben Sie für Lehrstuhl für Internationales Manage- Der Weggang von Magdeburg die Studierenden? ment an der Otto-von-Guericke-Uni- fällt ihr nicht leicht, räumte Birgitta versität in Magdeburg inne, wo sie Wolff ein. Doch sie freue sich auf die Meine Botschaft für die Studierenden trotz anderweitiger Berufungen – neue große Aufgabe in Frankfurt, wo ist grundsätzlich dieselbe wie für uns nach Münster, Wien, Bremen und auch Verwandte von ihr leben. Ent- alle: Universität ist keine Torte, die Aachen – bis heute geblieben ist. Die spannung und Ausgleich findet sie in verteilt wird, sondern ein Kuchen, den Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Per- der Musik und beim Reiten: Sie spielt wir gemeinsam backen wollen. Es geht sonalökonomik, Unternehmensorga- Gitarre, Klavier und Jagdhorn und hat nicht darum, dass eine Gruppe die nisation und international verglei- zwei eigene Pferde. andere »bedient« oder irgendwas chende Studien – alles Themen, die Anke Sauter »liefert«, sondern wir wollen gemein- auch bei der Führung einer großen sam etwas für die Gesellschaft erarbei- Universität von Bedeutung sind. Ihre ten. Dafür gibt uns das Land sehr viel Internationalität hat sie zudem als Geld, und dafür kann es auch etwas Gastprofessorin in den USA, der Ukra- von uns allen erwarten. ine, in Kuba, Brasilien und in China Deshalb: In der Uni geht es nicht unter Beweis gestellt. 2010 wurde Bir- um »Mitschwätzen« oder »Fordern«, gitta Wolff Kultusministerin und später ebenso wenig wie um »Konsumieren«, Ministerin für Wissenschaft und Wirt- sondern um die gemeinsame Entwick- schaft in Sachsen-Anhalt. Ihre Auf- lung von guten Lösungen für konkrete gabe war es unter anderem, den Wis- Herausforderungen. Zum Beispiel senstransfer zwischen Hochschulen die Weiterentwicklung von Bologna- und Unternehmen zu verbessern. Vom Studiengängen,­ die zu den wissen­ Deutschen Hochschulverband (DHV), schaftlichen­ Ansprüchen der Goethe- in dem Deutschlands Professoren Uni und zur Idee universitärer Freiheit organisiert sind, wurde die CDU-Politi- für innovatives Denken passen. Es geht kerin bundesweit zweimal in Folge zur um Mit-Arbeit, gemeinsame lösungs­ »Wissenschaftsministerin des Jahres« orientierte und kreative Anstrengun- gekürt. gen. Studieren und Forschen in Birgitta Wolff gilt als geradlinig, seiner umfassendsten Form. Darauf unprätentiös und unkompliziert – und freue ich mich. als eine Frau, die weiß, was sie will. Dass ihre Wahl ins Präsidentenamt im Juli kein Durchmarsch war, nahm die 49-Jährige sportlich. Sie sehe es als besondere Aufgabe, auch diejenigen zu gewinnen, die sie nicht gewählt haben. Auf alle Beteiligten zugehen, Gespräche führen und hören, wo der Schuh drückt: Birgitta Wolff hat sich durch ihre zugewandte Art schon in

Forschung Frankfurt | 2.2014 35 Fächerkulturen Fächerkulturen

»Am widerwärtigsten sind die kricklichen Beobachter und grilligen Theoristen, ihre Versuche sind kleinlich und complicit...« Eine Annäherung an Goethes Wissenschaftsbegriff: Das komplexe Diverse als Ganzes begreifen

von Ulrike Landfester

»Ach!« würde Goethe vermutlich ausrufen, sähe er die ­Klein- teiligkeit der heutigen Forschung – und auch sein Faust verzweifelt­ am gestaltlosen »Wissensqualm«. Goethe wehrt sich vehement gegen eine Zersplitterung der Wissenschaft in unzählige Einzel­ phänomene. Er schätzt die Universalisten, »die das Allgemeine im Auge haben und gern das Besondere an- und einfügen möchten«.

er wohl berühmteste Stoßseufzer der Litera- auch der geheimnisvollsten Wissensformen, turgeschichte, Fausts »Habe nun ach ...«, und Margarete schließlich bezahlt für den – all- Deröffnet ein Drama, das neben vielen zumenschlichen – Irrtum, sich für das eigent­ anderen Etikettierungen durchaus auch die des liche Objekt von Fausts Begierde gehalten zu ersten Wissenschaftsdramas dieser Geschichte haben, mit dem Leben. verdient. »Die« Wissenschaft – in jenem umfas- senden Sinn, den schon der junge Goethe ihr »Und so wäre denn endlich Wissenschaft zuschrieb – steht darin als substanzielle, viel- das Theorem, Kunst das Problem.« leicht sogar wichtigste Komponente der han- Eine präzise Bestimmung dessen, was Goethe 1 »Ginkgo Biloba«, eine von delnden Figuren auf der Bühne des Geschehens: unter Wissenschaft verstand, ist – dies sei an Goethe am 15. September 1815 Faust verzweifelt an dem gestaltlosen »Wissens- dieser Stelle gleich vorausgeschickt – in seinem geschriebene Fassung des berühmten Gedichts, das er qualm«, mit dem ihn seine akademischen Werk nicht zu finden. Wohl gibt es zahlreiche 1819 in seiner Sammlung ­Studien eingenebelt haben, und verkauft seine Belegstellen für das Wort »Wissenschaft« – »West-östlicher Diwan« Seele dem Teufel, um endlich an die wahren ­Goethe verwendete es umgangssprachlich für veröffentlichte. Die beiden Geheimnisse der Natur zu gelangen; sein Ackerbau wie Mathematik, für Architektur wie Ginkgo-Blätter hat er selbst mit Klebestreifen befestigt. ­Famulus Wagner, die Karikatur eines zeit­ Verführung –, aber kaum jemals äußerte er sich Das Original befindet genössischen Akademikers, sieht in seiner fan- konzeptionell zu »der« Wissenschaft, auch und sich im Goethe-Museum tasielosen Pedanterie sogar in klassischen gerade nicht in seinen thematischen natur­ in Düsseldorf. ­Trauerspielen nur ein Repertorium potenziell wissenschaftlichen Schriften. Wenn er seinen berufsnützlicher Informationen; Mephisto stößt Wissenschaftsbegriff überhaupt reflektierte, Faust mit seiner spitzzüngigen hermeneutischen geschah dies typischerweise in seinen poeti- Ironie immer neu auf das Allzumenschliche schen Schriften, wie beispielsweise in einem

Forschung Frankfurt | 2.2014 37 Fächerkulturen

seinem eigenen Ausdruck zugrunde legt. So ist Goethes gesamtes Werk als ein solcher Annähe- rungsprozess an das die Welt im Innersten Zusammenhaltende zu verstehen. Schon lange vor den streng stilisierten Dramen der klassi- schen Zeit prägt dies auch die Dichtungen seiner frühen Sturm-und-Drang-Jahre: So genialisch sie in Form und Inhalt auch inszeniert sind, ­zeigen doch auch sie gerade am Genie dessen Unterworfenheit – und Begabung – durch das Naturgesetz, das Goethe später als Morpho- logie – Gestaltlehre – beschreiben wird. Deshalb sind Goethes naturwissenschaftliche Schriften 2 immer von meisterlicher rhetorisch-stilistischer Geschliffenheit, so eng sich ihre rigoristischen Aphorismus aus dem späten Roman Wilhelm Gliederungsstrukturen oft auch an die sachlich 2 Augenvignette, 1791: Meisters ­Wanderjahre: »Ich denke«, heißt es objektivierenden Gepflogenheiten­ zeitgenössi- Dieser Holzschnitt nach hier, »Wissenschaft könnte man die Kenntnis scher Wissenschaftsdiskurse anlehnen, so dass einer verschollenen des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wis- eine trennscharfe Abgrenzung zwischen poeti- Handzeichnung Goethes war für den Umschlag des sen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur Tat scher und naturwissenschaft­licher Rede weder »Optischen Kartenspiels« zur verwendet; Wissenschaft wäre Vernunft, und möglich noch legitim ist. »Farbenlehre« gedacht. Kunst ihr Mechanismus, deshalb man sie auch Auch dies ist ein Effekt von Goethes Wissen- Übrigens hatte er praktische Wissenschaft nennen könnte. Und so schaftsbegriff, ein Effekt, der in der Entwicklung seine rechtes Auge zu diesem Zweck abgezeichnet: wäre denn endlich Wissenschaft das Theorem, wurzelt, die die Rhetorik im 18. Jahrhundert »Das Auge war vor allen Kunst das Problem.« zur literarischen Ästhetik durchlaufen hatte. Die anderen das Organ, womit Macht die schiere Trockenheit dieses Apho- Ästhetisierung naturwissenschaftlicher Inhalte ich die Welt faßte.« rismus auf den ersten Blick Hoffnung auf eine war für Goethe keine Vermischung kategorial Definition, die, wo vielleicht nicht mit unserem verschiedener Elemente oder gar ein strate­ heutigen Wissenschaftsbegriff kompatibel, so gischer Kunstgriff zur Plausibilisierung seiner doch wenigstens als Instrument zur Lektüre von Hypothesen, im Gegenteil: Goethe begriff die Goethes wissenschaftlichem Werk brauchbar von ihm beschriebenen Gesetzmäßigkeiten als wäre, so ist man auf den zweiten Blick wie Faust in sich sinnlich schön, so dass diese Ästhetisie- »so klug als wie zuvor« – nicht zuletzt, weil der rung die einzig angemessene Ausdrucksform für Kontext des Aphorismus nur zu deutlich macht, ihre Darstellung war. Die Erfahrung dieser dass Goethe diese Trockenheit als ironisches Schönheit galt es ihm als sinnliche Erfahrung Stilzitat einsetzt, um das Informationsbegehren schön geschriebener Texte an seine Leser seiner Leser an einer Karikatur von Wagners ­weiterzugeben, und dies umso mehr, als für ihn akademischer Pedanterie ins Leere laufen zu das Schreiben solcher Texte seinerseits ana­ lassen. Dieses Verfahren ist selbst ein Effekt von logen, ja strukturell denselben universellen Goethes Wissenschaftsbegriff. Der Wissenschaft- Gesetzmäßigkeiten­ gehorchte. ler in Goethes Sinn nämlich zielt mit seiner Sehnsucht nach dem Wissen darüber, »was die Wissenschaftliche Gegenstände, ihre Welt / Im Innersten zusammenhält«, nicht auf übergreifende Einbettung in Raum und Zeit – Information, sondern auf Erkenntnis: »Schau und das Fiktionale alle Würkungskraft und Samen / Und tu nicht Der Begriff der Erfahrung ist in diesem Zusam- mehr in Worten kramen.« Ziel der Erkenntnis- menhang zentral. Zwar unterschied Goethe in wut, die Faust im zweiten Teil der Tragödie seinem Werk zwischen wissenschaftlichen und durch die ganze unübersichtlich gewordene poetischen Inhalten. Diese Unterscheidung war Lebenswelt der Moderne treibt, ist nicht ­weniger aber eine graduelle und keine absolute, weil der als eine Gesamtschau dieser Welt schlechthin. Vorgang der Ver-Dichtung dieser Inhalte die- Eine solche Gesamtschau aber ist definitorisch, selbe Fähigkeit erforderte, auf der Grundlage »in Worten kramend«, weder als Erkenntnis- von eigenen Erfahrungen auf Zusammenhänge modell noch als Gegenstand zu fassen. zurückzuschließen, die mit den begrenzten Mit- teln menschlicher Sinneswahrnehmung nicht Sein gesamtes Werk ein Annäherungsprozess an abschließend objektiviert werden konnten. das, was die Welt im Innersten zusammenhält Anders formuliert heißt das, dass Goethe auch Einen Zugang zu ihr gewährt allein ein Prozess wissenschaftliche Gegenstände in ihrer über- der Annäherung, der die Gesetzmäßigkeiten, greifenden Einbettung in Raum und Zeit im die er zu erschließen versucht, abbildet. Und dies Modus der Fiktionalität bearbeitete, da nur die- macht Goethe, indem er diese Gesetz­mäßigkeiten ser Modus es erlaubte, das große Ganze wenigs-

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tens anzudeuten. In einem Brief vom 30. August Die doppelte Bedeutungsebene 1799, in dem er Johann Georg Schlosser zu der »Urpflanze« – Morphologischer Prototyp einer »kleinen Communication« über die Bota- und Symbol für die römische Antike nik einlud, legt er diese Haltung selbstbewusst So ist beispielsweise die »Urpflanze«, der Goethe offen: Er habe, schrieb er, in seinen botanischen in Italien nachspürte, in der Buchbearbeitung Studien »den Weg der Metamorphose sehr vor­ seiner Reiseaufzeichnungen zur Italienischen theilhaft gefunden die Ansicht ist geistig genug und da man die Idee immer durch die Erfahrung sogleich ausfüllen und bewähren kann so hat mir diese Vorstellungsart immer viel Zufrieden- heit gegeben«. Er sah mithin seine These zur Metamorphose der Pflanzen nicht als Behaup- tung einer absoluten Wahrheit an, sondern als eine »Vorstellungsart« mit der Funktion eines »Wegs«, eines Instruments, das ihm ermög- lichte, seine Beobachtungen in eine Form zu 3 fassen, in der er die Geheimnisse des Pflanzen- wachstums modellhaft denken und vermitteln Reise sowohl als eine echte Pflanze zu lesen als konnte – als ein Modell, dessen Logik auch weit auch als Symbol für die Goethe tief prägende jenseits der Botanik galt. Erfahrung der römischen Antike, aus der dann die Kunstlehre der Weimarer Klassik her­ vorging. Die Beziehung dieser beiden Bedeutungsebenen ist diejenige, die Goethe in seinem Gedicht über den Gingko Biloba als »eins und doppelt« beschrieb: Als Pflanze ist sie der morphologische Prototyp des- sen, was Goethes klassische Ästhetik nach der Reise wissen- schaftlich wie poetisch hervor- brachte – in der Überzeugung, dass »die« Wissenschaft nicht aus dem Lebenszusammenhang der von ihr untersuchten Phä- nomene herausgelöst werden darf, wenn sie Anspruch auf 3 Studien Goethes zu den Wahrheit erheben will – und, Blattformen der gefüllten ebenso wichtig, dass sie nicht Nelke. Für ihn war dies eine Darstellung der stufen- von dem Subjekt getrennt wer- weise verlaufenden Metamor- den kann, das dieser Wahrheit phose. In seinen Schriften auf der Basis seiner Erfahrun- zur Morphologie folgte er der gen nachgeht. Idee der Urpflanze – ganz im Gegensatz zu dem schwedi- Die von Faust so bitter emp- schen Botaniker Carl von fundene Unlebendigkeit von Linné, dessen System zur »Tiergeripp und Totenbein«, Bestimmung von Pflanzen sich den Hilfsmitteln seiner akade- durchgesetzt hatte. mischen Natur­forschung, ver- 4 Typus der einjährigen sinnbildlicht demgegenüber ein höheren Pflanze und Typus Wissenschaftsverständnis, das des Insekts, um 1790 – Goethe bis ins hohe Alter hin- aus dem »Entwurf einer vergleichenden Anatomie«. ein als nicht nur unzuläng- lich, sondern als geradezu schädlich beklagte. »Am wider- wärtigsten sind die kricklichen Beobachter und grilligen Theo- risten, ihre Versuche sind klein- lich und complicirt, ihre Hypo- thesen abstrus und wunderlich«, 4 schrieb er 1828 an Carl Fried-

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5 Goethes Aquarell »Symbolische Annäherung zum Magneten« von 1798. Er war der Überzeugung, dass die subjektive sinnliche Wahrnehmung von Naturphänomenen am Anfang aller Erklärungsversuche stehen müsse.

6 Optisches Kartenspiel, 1791. In der Spielkartenfabrik seines ehemaligen Dieners Sutor in Weimar stellt Goethe mit ihm kleine Täfelchen her, die zu den in dem ersten Stück der »Beyträge zur Optik« beschriebenen Versuchen dienen sollten. Dazu stellte er auch die beobachteten verschiedenen Spektren dar. So entstand Goethes »Optisches Kartenspiel« von 27 Karten.

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rich Zelter: »Dergleichen Geister finden sich leicht mit Worten ab und hindern die Fort- schritte der Wissenschaft: denn man muß ihnen doch nachexperimentiren und auf­ klären, was sie verdüstert haben.« Was Faust »Wissensqualm« nennt, war für Goethe das Resultat einer zergliedernden Vereinzelung natürlicher Phänomene, die ihre Gegenstände, statt durch die Synthetisierung von Erfahrun- gen ihrem inneren Leben nachzuspüren, ana- lytisch abtötete und damit gegen den eigent­ lichen Auftrag der Wissenschaft in seinem Sinne verstieß. »Dergleichen Geister« nannte Goethe in einem späten Aphorismus abschätzig »Singularisten« im Gegensatz zu »Univer­ salisten« wie ihm selbst, »die das Allgemeine im Auge haben und gern das Besondere an- und einfügen möchten«.

Goethes Farbelehre und der Streit mit dem »Singularisten« Isaac Newton Ein solcher »Singularist« war für ihn Isaac New- ton. Heute ist hinlänglich bekannt, dass Newton mit seiner 1704 erschienenen Abhandlung Opticks or a treatise of the reflections, refractions, inflections and colours of light in der Sache – den unveränderlichen physikalischen Eigenschaften von Licht – im Recht und Goethe mit den Schlussfolgerungen, die er aus seinen Prismen- 7 versuchen zur Subjektivität der Lichtwahrneh- mung gezogen hatte, im Unrecht war. Die hoch- emotionale Kritik aber, die Goethe unter 7 Farbtafel I vollendet, 1806. »Erste Figur: Das einfache, anderem in seiner 1810 erschienenen Farben­ aber doch zur Erklärung des allgemeinen Farbwesens völlig hinreichende Schema…. Die nachfolgenden Figuren sind lehre an Newton übte, galt mindestens ebenso meistens physiologischen Erscheinungen gewidmet…«. sehr wie der Sache selbst auch Newtons wissen- Die Veröffentlichung zu Studien seiner Farbenlehre kündigte schaftlichem Verfahren, das für Goethe den Goethe an seinem Geburtstag (28.8.1791) der Öffentlichkeit Kern des von Newton bearbeiteten Problems an. Durch die beigegebenen Tafeln, deren Entwurf und Druck er selbst überwachte und korrigierte, konnten die völlig verfehlte: Nur, so Goethes These, weil Leser Goethes Beobachtungen selbst nachvollziehen. Licht und physisches menschliches Sehver­

40 2.2014 | Forschung Frankfurt Fächerkulturen mögen einander fundamental verwandt, also Universität­ im Kleinen, die die verschiedenen von den gleichen Gesetzmäßigkeiten organisiert Disziplinen­ in einer Weise miteinander verband, seien, könne das Licht seine Wirkung auf den wie sie in den großen Institutionen bereits nicht Menschen ausüben. Das Licht aber in seine mehr möglich war. ­physikalischen, chemischen und allenfalls auch Goethe war sich früh darüber im Klaren, ästhetischen Komponenten zu zerlegen und dass der ganzheitlich gebildete »uomo univer- diese einzeln zu untersuchen, zerstöre den For- sale« des frühneuzeitlichen Humanismus ein schungsgegenstand, weil es ihn von der leben­ bildungspolitisches Auslaufmodell war, schon digen Komplexität der conditio humana trenne deshalb, weil die explosionsartige Zunahme und ihn damit faktisch überflüssig mache. gerade naturwissenschaftlicher Wissensbestände im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Auf- Wider den Spezialisierungsdruck – Die huma­ klärung die Kapazität eines Einzelnen längst nistische Tradition des »studium generale« überforderte – eine Tatsache, die Goethe bereits Mit dieser Haltung reagierte Goethe auch auf in der Farbenlehre ausdrücklich thema­tisierte: die Entwicklung, die die akademische For- »In der Wissenschaft kann also nicht verlangt schung in seiner Zeit zu nehmen begonnen werden, daß derjenige, der etwas für sie zu hatte. In dem Katalog der Fächer, deren Stu- ­leisten gedenkt, ihr das ganze Leben widme, sie dium Faust so unbefriedigt gelassen hat – »die ganz überschaue und umgehe.« Dieser Ent- Philosophie, / Medizin und Juristerei, / Und wicklung gegenüber insistierte er auf dem ­leider auch die Theologie« –, spiegelt sich jene ­heuristischen Wert einer erfahrungsgesättigten akademische Ausdifferenzierung wissenschaft­ »Vorstellungskraft«, die, gerade weil sie nicht licher Disziplinen, die – heute selbstverständ- alles Wissen systematisch in sich aufnehmen lich – gegen Ende des 18. Jahrhunderts eben an konnte, als ganzheitliche Vision des Weltzusam- Dynamik zu gewinnen begann. Noch hielt sich menhangs zu kultivieren war. die humanistische Tradition des »studium gene- rale«, mit dem Kenntnisse in den sieben freien Die Freiheit der Natur – und die Grenzen Künsten zur Basisausbildung der Studierenden der Wissenschaft gehörten. Die Institutionalisierung aber der Wie radikal Goethe dieses Programm umsetzte, ­akademischen Lehre und Forschung in den Uni- zeigt eindrücklich sein letzter Roman Wilhelm versitäten des modernen Europa ermunterte Meisters Wanderjahre: Von nach dem Grundstudium zunehmend zur Spe- der Struktur her ein zialisierung, zumal die Professionalisierung Bild eben jenes Zer­ bürgerlicher­ Brotberufe ihrerseits nach unter- splitterten, Vereinzel- schiedlichen Kompetenzprofilen zu verlangen ten, das Goethe in der begann. Wissenschaft seiner Zeit Goethe hatte diesen Spezialisierungsdruck ablehnte, modelliert er in einer wenngleich recht milden Form selbst die Kultur einer schöp- erfahren. Nach der ersten Studienzeit in Leipzig, ferischen Imagination, wo er sich noch frei dem Studium der schönen die angesichts dieser Künste hatte widmen können, hatte er – »ach!« – Zersplitterung doch in auf den nachdrücklichen Wunsch seines Vaters der Lage ist, das kom- hin in Straßburg ein ungeliebtes Jurastudium plex Diverse als Ganzes abgeschlossen und war dann nach Weimar zu begreifen. Kein berufen worden – allerdings nicht seiner juristi- Wunder also, dass die Die Autorin schen Qualifikationen wegen, sondern als Autor oben zitierte Definition Prof. Dr. Ulrike Landfester, 52, ist seit Beginn des Erfolgsromans Die Leiden des jungen sich gerade in diesem ihrer akademischen Laufbahn ein bekennender Werthers, der Herzog Carl August tief beein- Roman findet – zusam- Fan Goethes. Sie promovierte in München über druckt hatte. Anders als viele seiner Zeitgenos- men mit einer weite- die Funktion von Kleidung in Goethes Frühwerk sen fand ­Goethe mit ihm einen Dienstherren, ren aphoristischen Lek- und schrieb ihre Habilitationsschrift über Bettine der ihm seinen vielfältigen Interessen in relati- türeanweisung, die dies- von Arnim, die Autorin des 1835 erschienenen ver Freiheit nachzugehen erlaubte und ihm mal ganz unironisch halbfiktionalen Buchs »Goethes Briefwechsel 1815 sogar, wie er an Sulpiz Boisseré schrieb, in Szene gesetzt wird: mit einem Kinde«. Derzeit arbeitet sie an einem »die Oberaufsicht über alle von dem Großher- »Die Natur hat sich Buch über Goethes Schriftbegriff in seinem kulturgeschichtlichen Kontext. Bevor sie 2003 an zog unmittelbar aus­fließendeAnstalten für Wis- so viel Freiheit vorbe­ die Universität St. Gallen (Schweiz) auf einen senschaft und Kunst« übertrug: »Es ist vielleicht halten, daß wir mit Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur das wundersamste Departement in der Welt, ich Wissen und Wissen- berufen wurde, war sie Professorin für Germa- habe mit neun Männern zu thun, die in einzel- schaft ihr nicht durch- nistik an der Goethe-Universität in Frankfurt. nen Fächern alle selbständig sind, unter sich gängig beikommen oder [email protected] nicht zusammenhängen und, bloß in mir verei- sie in die Enge treiben nigt, eine ideelle Akademie bilden«, eine Art können.« 

Forschung Frankfurt | 2.2014 41 »It’s your turn« Von den Moden der Wissenschaft

von Tilman Allert Illustrationen: Katinka Reinke Fächerkulturen

»It’s your turn« Von den Moden der Wissenschaft

von Tilman Allert

Hat in den Universitäten wirklich die Avantgarde das Sagen? Oder prämiert die »community of scientists« eher die Treue zu bekannten Denkmustern? Der Soziologe Tilman Allert schildert – nicht ohne Vergnügen und Ironie – die verschlungenen Wege der Erkenntnisbildung.

on Moden sind wir umgeben, in Moden das Sagen. Die graue Maus und nicht der Papa- bewegen wir uns. »Sagenhaft«, rief in den gei ist das Wappentier der Wissenschaft. V 1950er Jahren, wer aus dem Staunen nicht herauskam, und das Sensationelle, das überra- Das Modische in der Wissenschaft – Im Spagat schend Wider- oder Erfahrene in Worte zu fassen zwischen Gewissheit und Zweifel suchte. »Irre«, »krass«, »abgefahren«, so lautet Überzeugend ist das allerdings nur auf den ersten die semantische Formel der Gegenwart für ver- Blick. Wer genauer hinschaut, erlebt sein blaues gleichbare Exklamationen. Ein anderes Beispiel: Wunder. Die Wissenschaft ist nämlich vergleich- Zurzeit ist alle Welt »gut aufgestellt«, Unter­ bar modenabhängig, ja mehr noch: Sie ist gera- nehmen, Universitäten, Fußball-Mannschaften dezu auf eine der Mode vergleichbare Destruk­ selbstredend, aber auch Nationen vor irgend­ tivität angewiesen, eine geradezu quirlige einem Gipfel, Regierungschefs vor einem Gipfel- Destruktivität, die wir seit dem Erkenntnistheore- foto oder Paare vor der Eheschließung. Kurzum, tiker Karl Popper den Falsifikationismus nennen. unsere Sprache, mit Martin Heidegger gesagt, das Die »community of scientists« prämiert Para­ »Haus des Seins«, Resonanzraum der Wirklich- digmentreue, gewiss; aber im Kern ist sie eine keitserfahrung, ist modenabhängig – nicht weiter Widerlegungsgemeinschaft und gerät damit, oft schlimm, damit lässt sich leben, bringt es doch ohne eigenes Zutun und zuweilen sogar, ohne Schwung in das Verhältnis der Generationen. das überhaupt zu bemerken, in die Nähe des Abgesehen davon hält es ja auch jung, wenn Modischen. Wie das? Erkenntnisbildung ist man irgendwann nichts mehr versteht. Mode ist bekanntlich innovationsverpflichtet; aber Inno- nicht nur erfinderisch, sie macht erfinderisch. vation, so der nimmermüde Niklas Luhmann, Die Wissenschaft hingegen, so wähnen wir, entsteht paradoxerweise unter der Bedingung der ist von dergleichen weit entfernt – oder etwa Blindheit. Die Neugier, das Herzensanliegen all nicht? Es gibt ja wohl nichts Unverträglicheres derer, die sich von den Brüsten der »Alma Mater« als Erkenntnisbildung und Mode! Ist nicht das ernähren lassen, schreibt zwar Fügsamkeit gegen- Fluide des Modischen der ärgste Feind von Vali- über paradigmatisch Bewährtem vor, fordert aber dität und Reliabilität, den methodologischen kognitiv zugleich den Zweifel. Damit nun dieser Zwillingen, die die Seminare der Universitäten Spagat zwischen Gewissheit und Zweifel auch bevölkern, gekleidet im farblosen Kittel solider anspruchsvoll genug und vielversprechend arti- akademischer Arbeit in Labor und Bibliothek? kuliert werden kann, spricht man von »turns«. Da kann kommen, wer will; denn in den heili- So klingt das Modische in der Wissenschaft. gen Hallen der Wissenschaft widersetzt sich das Beispiele gibt es genug. Die Bescheidenheit Paradigma dem Wirbel begrifflichen Kostüm- gebietet es, auf die eigene Disziplin der Sozio­ tauschs – eine Binsenweisheit, die der Wissen- logie, die ja eine vergleichsweise juvenile Veran- schaftsforscher Thomas Kuhn auf den Punkt staltung der Wirklichkeitserschließung darstellt, gebracht hat. Ausdruckskräftig und konferenz- exemplarisch zurückzugreifen. Hier wimmelt es fähig sind diejenigen, die im bewährten kon­ von »turns«. An den »linguistic turn« kann sich zeptuellen Selbstverständnis daherkommen, kaum noch jemand erinnern. Handeln, um das paradigmatisch im Mainstream. An Universitä- es in der Soziologie geht, erfolgt im Sprechen. ten haben Modemuffel und nicht Exzentriker Normativität, Regelsetzung, wie kommt das

Forschung Frankfurt | 2.2014 43 Fächerkulturen

Begabung: Meist geht die Sache faustisch los. Irgendjemand glaubt gefunden zu haben, was die Welt im Innersten zusammenhält, zweifelt an allem, was bisher gedacht wurde, schreibt Bücher über Bücher und hinterlässt auf den Fluren des forschenden Kollegiums, vom Raunen begleitet (hat der / die keine Kinder, muss der/die nicht auch mal zum Elternabend oder mal einen ­Drachen steigen lassen?), Spuren der Erkennt- niskehre. Sie beflügeln den Mut, sich mit dem Paradigma anzulegen oder doch zumindest einen »turn« zu initiieren. Generationaler Wandel: Kaum promoviert, als »high potential« schon früh eingestuft, bringt es die jüngere Generation zum Aufstieg in die schöne Welt der Professuren, und ein ­solcher Sprung ist mit Bewährungszwang ver- knüpft. So entstehen Ansätze oder eben »turns« kraft Konstellation, nicht zwingend kraft Bega- bung oder auch nicht zwingend kraft Motiv. Verfeinerung der Instrumente: Galilei war bekanntlich ganz aus dem Häuschen, als er sich vor frisch entwickelten Fernrohren das Sternge- zustande? Durchs Sprechen, »how to do things wusel endlich näher ranholen konnte. Ähnlich with words«, rief ein Nachbar aus der Philoso- glücksbringend ermöglicht zum Beispiel den phie, ein weiterer, Ludwig Wittgenstein mit Sozialwissenschaften das Tonbandgerät den Namen, mahnte früh, im Sprechen käme eine längst fälligen Abschied vom »Häufig-Selten- Lebensform zum Ausdruck. Der »linguistic Nie« des nicht sehr ergiebigen Fragebogens. Ganz turn« hat es zum Klassiker geschafft, für viele prominent und mit erheblichen Folgen für die sogar bis zur Paradigmennähe. Etliche haben Erkenntnislust ist die Entwicklung der bildgeben- sich dem angeschlossen. In geraumem Abstand den Verfahren, die sogar den Neurowissenschaf- entstand der »spatial turn«, demzufolge alles ten mit einem Schlag zur Meisterschaft im Wett- Literatur Handeln im Hinblick auf seine Raumabhängig- kampf der »turns« verholfen hat. Denn von den keit thematisiert wird. Wer handelt, steht »turns« ganz benommen, so stellt sich seit gerau- Allert, Tilman (2013), »Mit der Zeit gegen die Zeit«. irgendwo herum, schläft auf dem Land oder in mer Zeit der Zustand dieser Disziplin dar, wenn Jil Sander zum siebzigsten Städten, liegt und isst in Räumlichkeiten, am sie uns die ganze Welt erklären will und im Geburtstag, Tisch oder während der S-Bahn-Fahrt. Tau- Schwindel ihrer selbst erzeugten »turns« mittler- Frankfurter Allgemeine sende Forschungsprojekte zog wiederum der weile bei der Neuro-Philosophie angelangt ist. Magazin »Mode«. »body turn« nach sich. Irgendjemand war auf Kuhn, Thomas S. (2003), die Idee gekommen, dass Menschen auch Kör- In den Charts ganz oben – mit »Inklusion« Die Struktur wissenschaft­ per haben. Dem »body turn« folgten weitere, zur öffentlichen Aufmerksamkeit licher Revolutionen, Frankfurt am Main, Suhrkamp. der »visual turn« sei als der derzeit prominen- Man sieht: Anderen Wissenschaften geht es teste im Taumel der Kehren angeführt, wenn- nicht anders. Selbst die ewig um Anerkennung Popper, Karl R. (1997), Ausgewählte Texte zu gleich der »animal turn«, wie man hört, schon ringende Erziehungswissenschaft, die mit dem Erkenntnistheorie, Philosophie die Zeitschriften zu füllen beginnt. »Präfix«-Wechsel von »Erziehung« zur »Bil- der Naturwissenschaften, dung« erst jüngst und nationwide mit schicken Metaphysik, Sozialphilosophie, Spuren der »Erkenntniskehre« Seriositätskorsagen ausstaffiert wurde, steht hrsg. von David Miller, Tübingen, Mohr Siebeck. Geht man der Frage nach, wie es zur Mode, zu derzeit in den Charts ganz oben und kann sich den »turns« der Wissenschaft, die zum mönchi- mit »Inklusion« wenigstens über mangelnde Luhmann, Niklas (1998), Die Wissenschaft der schen Schwarz der paradigmatisch erhabenen öffentliche­ Aufmerksamkeit nicht beklagen. Gesellschaft, Abstraktion gar nicht passen wollen, kommt, stößt Wenn abschließend – für manche überraschend – Frankfurt am Main, Suhrkamp. man auf vier Dinge: eingebaute Destruktivität im das Plädoyer fürs unvermeidbar Modische aus Weber, Max (1988), Erkenntnisvorgang, Begabung, generationaler der Feder eines der großen Paradigmenträger, Die »Objektivität« sozialwissen­- Wandel und Verfeinerung der Werkzeuge. Max Weber, Geburtstagskind des Jahres 2014, schaftlicher und sozialpoliti- Eingebaute Destruktivität: Die wohl wich- erinnert sei: »Es gibt Wissenschaften, denen scher Erkenntnis, in: ders., tigste Antriebsquelle des wissenschaftlichen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Arbeitens ist die Widerlegung. Sie ist kognitiv sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen Johannes Winckelmann, zwingend, affektiv irritiert sie die Eitelkeit der der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets Tübingen, Mohr Siebeck. Entdecker, sorgt hingegen für den Schwung, neue Problemstellungen zuführt. Bei ihnen liegt von dem hier die Rede ist. die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die

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Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Für das Kollegialverhältnis untereinander: Konstruktionen im Wesen der Aufgabe« (Weber, Lasst viele Paradigmen sprießen! Wenn auch die S. 206), so mag manchem aus den Laboren der Wissenschaft sich vor dem Modischen nicht Naturwissenschaft durch den Kopf schießen: schützen kann, ja, wenn sie sogar in der Buntheit »Da haben wir’s. So sind se, die Sozialwissen- ihrer Klamotten, sprich in der Paradigmen-Viel- schaften. Typisch für die, die an den Objektiva­ falt nicht aus Scham im Boden versinken muss, tionen des Geistes arbeiten – für uns, die wir es sondern diese Buntheit als Kostümierung des für mit der Natur zu tun haben, wird das Gedöns ihre Arbeit lebensnotwendigen Streitens zwi- der ›turns‹ oder gar ein solcher Blankoscheck schen Prêt-à-porter und Klassik, Konfektion und für Modische vehement zurückzuweisen sein.« Avantgarde, versteht, dann mag sich auf dem Aber gerade die derzeitige Prominenz der Catwalk der Disziplinen die produktiv-knisternde erwähnten Neuros mahnt zur Vorsicht, wenn da Atmosphäre einstellen, die sich der alte Hum- jemand meint, je näher an der sogenannten boldt einst erträumt hatte. Natur des Menschen, desto moderesistenter Für das Verhältnis zur Öffentlichkeit: Das seien die Konzepte. Maul nicht so voll nehmen, um den Tanz der Wissensgesellschaft um das goldene Kalb »Erkenntnis« nicht unnötig anzutrommeln. Was Fluggesellschaften zugemutet wird, stünde auch der Wissenschaft gut an: Öfter mal eine Lärmpause einlegen! Und für die Lehre: Es gibt ein Erkennen vor dem »turn«. Wie wäre es, wenn man sich zukünf- tig mehr auf das Wie als auf das Was konzen­ trieren würde? Wie macht man sich blind, um sehen zu können? Das ist die Frage, die vor allem Herumexperimen- tieren der Didaktik zu stellen ist. Nicht der »turn« und die schicke Semantik, die binnen Kurzem den Kopf verdreht, sondern die ­Fragestellung, die dem »turn« zugrunde liegt, ist entscheidend. Den Stand des Denkens vor dem Von der produktiv-knisternden Atmosphäre, »turn« sichtbar zu die sich Humboldt einst erträumt hatte machen, die zukünftigen Was nun? Sollen wir im Angesicht der hier nur Wissenschaftler vom aufgedeckten Moden-Abhängigkeit der Wissen- Anfang her zu schulen Der Autor schaften verzweifeln und unseren Krempel hin- und nicht vom letzten schmeißen? Gemach. Sokrates, der lange bevor Schrei, das wäre die Auf- Prof. Dr. Tilman Allert, 67, hat seit zwei Jahren die Chose mit der Wissenschaft so richtig Fahrt gabe für die Lehrenden. eine Seniorprofessur an der Goethe-Universität, aufnahm und im Wunderland Europa von Und wer im Ensem- außerdem ist er Dozent an den Staatsuniversi­ Bologna­ bis Heidelberg mit den schicksten Hal- ble dieser Empfehlungen täten Tiflis (Georgien) und Yerewan (Armenien). Zu seinen Forschungsgebieten zählen die tebahnhöfen ausstaffiert wurde, Sokrates, der besonders gut aufgestellt Soziologie elementarer Formen sozialen Lebens, gewusst hat, dass, wer was weiß, eigentlich gar sein möchte, dem sei die Familien- und Professionssoziologie. Allert, der nichts weiß, hat sich nicht umgebracht, er Maxime der Jil Sander, seit 2000 an der Goethe-Universität lehrt und wurde umgebracht! Nichts zu wissen, steht der Grand Dame der forscht, ist vielen Frankfurtern durch seine nicht nur am Anfang unseres Tuns, die Imper- Zurückhaltung, des ästhe- erfolgreiche Vortragsreihe »Wie wir wurden, fektion begleitet die, die Wissenschaft betreiben tischen Minimalismus in wer wir sind – Deutsche Biographien« im und adelt sie sogar gegenüber jenen, die da der Mode, ans Herz gelegt: Rahmen der Bürger-Universität bekannt. Neben glauben, irgendetwas Gesichertes behaupten zu »Mit der Zeit gegen die einer Vielzahl von Essays unter anderem in der können. Abgesehen davon wollen wir die Sache Zeit«, darin läge das­ Frankfurter Allgemeinen zählen zu seinen mit der Vergleichbarkeit von Mode und Wissen- Geheimnis akademischer wichtigsten Veröffentlichungen: Der deutsche schaft auch nicht übertreiben. »turns« sind Exzellenz, der gelassene Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste, Frankfurt, 2005, sowie Die Familie. Fallstudien schließlich nicht jahreszeitenabhängig. Von Umgang mit »turns« und zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform, Berlin / Sommer- oder Winterturns war bislang noch Paradigmen.  New York, 1998. nicht die Rede. Aber sehr wohl lassen sich für die Ernüchterten ein paar lessons to be [email protected] learnt formulieren:

Forschung Frankfurt | 2.2014 45 Vom Spaten zum Massenspektrometer Methodenwandel und Erkenntnisgewinn in der Archäologie von Anke Sauter Fächerkulturen

Fernerkundung und GPS, Massenspektrometrie und Röntgen­ fluoreszenzanalyse: In der Archäologie gehören diese naturwissen- schaftlichen Methoden inzwischen zum Standard-Repertoire. Was macht dies mit einem Fach, das sich selbst als eine der wichtigsten Kulturwissenschaften sieht? Lassen sich Fragen zum Leben unserer Vorfahren heute aus anderen Blickwinkeln beantworten?

iese Nachricht erschütterte 2006 die Fach- Ausgrabungen sind sie für die Planung unab- welt – nicht nur in Italien: Die kapitolini- dingbar, während der Ausgrabung begleiten sie Dsche Wölfin, das berühmte Sinnbild der die Arbeit ebenso wie bei der anschließenden römischen Antike, das bislang als etruskisch- Analyse und Einordnung von Fundstücken. Die 1 Gehört das zusammen? italisch galt, wurde zweifelsfrei als ein Artefakt »Wissenschaft vom Spaten« – dieses Schlagwort An die 5.000 Bronzefragmente aus dem Mittelalter »entlarvt«. Dass die beiden prägte einst Heinrich Schliemann – hat inzwi- aus den nördlichen römischen Menschenkinder, die an den Zitzen der Wölfin schen weit komplexere Instrumentarien zur Provinzen werden mithilfe trinken, nachträglich in der Renaissance hinzu- Verfügung. Eigenes naturwissenschaftliches modernster Technik neu analysiert. Bei der Zuordnung gefügt worden waren, war schon bekannt. Nun Wissen und eine gewisse Methodenpraxis sind hilft natürlich auch der geübte aber wurde durch Material- und Technikanaly- für den Archäologen unerlässlich. Blick der Archäologen. sen belegt, dass es sich bei der Wölfin um einen Dieser Entwicklung trägt das Institut für mittelalterlichen Guss des 12. / 13. Jahrhunderts Archäologische Wissenschaften an der Goethe- 2 Sechs Minuten dauert es, um mit dem tragbaren handeln muss – um die Kopie eines wohl stark Universität mit dem Angebot eines eigenen Röntgenfluoreszenz-Spektro- beschädigten antiken Originals. Die mittelalter- Nebenfachstudiengangs »Archäometrie« beson- meter die Zusammensetzung lichen Bronzegießer hatten diesem eine Nega- ders Rechnung, der 2001 aus dem Graduierten- einer Scherbe zu analysieren. tivform abgenommen, die beschädigten Stellen kolleg »Archäologische Analytik« (1997– 2006) An der Forschungsstelle Keramik an der Universität ergänzt und die Wölfin neu gegossen. hervorgegangen ist; betreut wird er von der Frankfurt ist das Gerät Viele Archäologen und Kunsthistoriker Mineralogin Sabine Klein. Bei Prof. Dr. Sabine inzwischen unverzichtbar. taten sich schwer, den vermeintlichen Sturz der Ikone zu akzeptieren, war die Wölfin doch ein Symbol für das antike Rom und für die glanz- volle Vergangenheit Italiens. »Die neuen, auf- grund von sorgfältigen herstellungstechnischen, restauratorischen und naturwissenschaftlichen Untersuchungen sowie der Interpretation einer mittelalterlichen Textquelle gewonnenen Erkenntnisse schlagen in der Objektbiografie dieses hoch bedeutenden Bildwerkes ein völlig neues Kapitel auf«, meint Prof. Dr. Hans-Mar- kus von Kaenel, der sich seit Jahren mit römi- schen Großbronzen befasst und 2012 an der Goethe-Universität ein Kolloquium über die kapitolinische Wölfin organisiert hat. Die »Lupa« – nur ein Beispiel dafür, wie neue Methoden zu völlig neuen Erkenntnissen in der Archäologie führen können. Ohne die Naturwissenschaften wäre die Archäologie heute nicht denkbar. In vielen Sta- dien ihrer Arbeit setzen Archäologen naturwis- senschaftliche Methoden ein: Im Vorfeld von 2

Forschung Frankfurt | 2.2014 47 Fächerkulturen

Klein und anderen Frankfurter Mineralogen, Funde, die sich in der gleichen Schicht befan- aber auch physischen Geografen und Geophysi- den, gehörten zusammen. »In Schichten steckt kern lernen die Studierenden verschiedene Geschichte«, erklärt der Frankfurter Prähistori- Methoden zur Analyse anorganischen Materials, ker Peter Breunig, der die einzige deutsche der Geländeprospektion und der Landschafts­ Archäologie-Professur innehat, die sich auf den archäologie kennen, bei Prof. Dr. Katharina afrikanischen Kontinent konzentriert. Neumann und Dr. Astrid Stobbe die Möglichkei- Ein wesentlicher Anhaltspunkt bei der ten der Archäobotanik und in Blockseminaren Datierung war auch der ägyptische Kalender, an der Universität Basel die Teilfächer Archäo- der für die Zeit vor 5000 Jahren exakte Daten zoologie und Anthropologie. In den Studien- liefert. Konnten die Archäologen beispiels- gang involviert ist auch ein Professor für Alters- weise eine ägyptische Steinvase zeitlich zuord- bestimmung (Universität Heidelberg) sowie ein nen, schlossen sie parallel dazu auf das Alter 3 »Ein großer Durchbruch Professor der TU Darmstadt, der die Studieren- anderer Fundstücke aus derselben Schicht. Auf für die Archäologie«: Vor allem in der Vor- und den in Statistik unterrichtet. diese Weise wurden etwa Funde auf Kreta Frühgeschichte liefert die datiert. Anhand der Altersbestimmung der C14-Methode wichtige »In Schichten steckt Geschichte« minoischen Artefakte wiederum zogen die Informationen. Zum Beispiel So wie der Spaten vor allem Mittel zum Zweck Fachleute Schlüsse, was das Alter von Fund­ am Mannheimer Klaus- Tschira-Archäometrie-Zentrum war und ist, so sollten auch die verschiedenen stücken auf dem Festland angeht, die zusam- können mit modernster naturwissenschaftlichen Methoden vor allem men mit minoischen Stücken gefunden Technik kleinste Proben ein Instrument sein, um archäologische Frage- wurden – und so weiter. Gewisse Unschärfen – untersucht werden. stellungen voranzubringen. Und die leiten sich heute weiß man, dass der Fehler bei über einem Im Bild: Bernd Kromer, Leiter des Zentrums, mit dem ab aus dem griechischen Wort »archaiologia«, Jahrtausend lag – musste man einfach hin­ AMS-Gerät. Die Beschleuni- das wörtlich übersetzt »Erzählungen aus der nehmen. Bis zur Erfindung der C14-Methode: ger-Massenspektrometrie alten Zeit« bedeutet. Und um etwas über die Diese Methode ist ein Paradebeispiel dafür, (AMS) vereinigt die Methoden »alte Zeit« zu erfahren, hat der Archäologe wie sich der Siegeszug eines neuen Verfahrens der Massenspektrometrie und kernphysikalische auch früher schon stets die Expertise anderer bei allem anfänglichen Argwohn nicht auf­ Untersuchungsmethoden. Wissenschaftsdisziplinen zurate gezogen. Form- halten lässt. Mit dem C14-Verfahren, auch Radiokohlen- stoffmethode genannt, lässt sich das Alter orga- nischer Funde bestimmen. Dies ist möglich, weil alle lebenden Organismen Kohlenstoff aus der Atmosphäre aufnehmen. Kohlenstoff gibt es in drei »Arten«, die man Isotope nennt: C12, C13 und C14, je nach Anzahl der Protonen und Neu- tronen im Atomkern. Stirbt der Organismus, wird kein C14 mehr aufgenommen. Das bereits vorhandene C14 zerfällt nun langsam mit einer Halbwertszeit von 5.730 Jahren. C12 allerdings bleibt unverändert erhalten. Aus dem Verhältnis von C12 und C14, das mithilfe eines Massenspek- trometers oder mit einem radiometrischen Messverfahren ermittelt werden kann, lässt sich nun das Alter des Fundes bestimmen – voraus- gesetzt, der Fund ist nicht älter als 50.000 Jahre, denn dann ist zu viel C14 zerfallen. Ist das Alter organischer Funde bekannt, können die Archäo- logen wiederum auf das Alter nicht organischer 3 Fundstücke aus demselben Fundzusammen- hang schließen. analyse und Stilvergleiche waren jedoch lange Zeit das wichtigste Mittel, um gefundene Arte- Die »Revolution«: Die Radiokohlenstoff-Methode fakte aus vorgeschichtlicher Zeit einer bestimm- »Die Datierung durch die C14-Methode des ten Epoche und Kultur zuzuordnen – wobei US-amerikanischen Chemikers Frank Libby war »Vorgeschichte« die vorschriftliche Zeit einer ein großer Durchbruch für die Archäologie«, Kultur meint. Bei der Erforschung der Schrift- sagt Prof. Dr. Rüdiger Krause, prähistorischer kulturen waren stets die Philologien mit im Archäologe in Frankfurt, der unter anderem in Boot. Wichtige Hinweise lieferte schon im Bernstorf, im Montafon und im Trans-Ural 19. Jahrhundert die Stratigrafie: Denn die forscht. Er könne sich daran erinnern, dass es in Kenntnis von den Bodenschichten und ihrem den 1980er und 1990er Jahren noch viele Skep- Alter unterstützte die zeitliche Zuordnung; tiker gab. Vor allem die älteren Archäologen

48 2.2014 | Forschung Frankfurt Fächerkulturen wollten an der vergleichenden Methode fest­ duen, die in einem aufgegebenen Töpferofen halten – so zum Beispiel der Frühgeschichtler vor dem Römerlager von Haltern an der Lippe Vladimir Milojcˇic´ (1918 –1978), der sein Lebens- (heute Nordrhein-Westfalen) verscharrt wor- werk, die »Chronologie der jüngeren Steinzeit den waren, sechs Männer als Germanen identi- Mittel- und Südosteuropas« (Berlin 1949) bedroht sah. Er wollte nichts davon wissen, was die Radiologen machten und akzeptierte ihre Ergebnisse nicht. Tatsächlich mussten durch Libbys Erfindung frühere Forschungswahr­ heiten revidiert werden: Bislang waren die Archäologen zum Beispiel davon ausgegangen, dass das Neolithikum Europas, also die Sesshaf- tigkeit des Menschen, erst um 3000 vor Christus begonnen hatte, nun zeigte es sich, dass diese Datierung um 2000 bis 3000 Jahre nach vorne korrigiert werden musste. Doch die C14-Methode allein stellte sich als nicht exakt genug heraus: Aufgrund des stark schwankenden C14-Gehalts in der Atmosphäre ist eine zusätzliche Kalibrierung, also eine Art Eichung notwendig. Mithilfe der Jahresringe von Bäumen kann ermittelt werden, welcher C14-Gehalt in den einzelnen Jahren in der Atmosphäre vorhanden war. Auf diese Art und 4 Weise konnte im Zusammenspiel der beiden Messmethoden eine zuverlässige Kalibrierungs- fizieren. Vier stammten sicher, zwei weitere mit 4 Aus welcher römischen kurve erstellt werden, die inzwischen bis in die großer Wahrscheinlichkeit aus der Region. Vier ­Töpferei diese Scherbe Mitte des 13. Jahrtausends zurückgeht. Heute weitere Männer waren dagegen weit weg im stammen könnte, darüber gibt unter Umständen eine Daten- sind diese Verfahren längst Standard, sie werden Schwarzwald oder in Böhmen aufgewachsen. bank Aufschluss, die im Zuge auch von kommerziellen Firmen angeboten. »Diese Ergebnisse werfen neues Licht auf Ereig- eines DFG-Projekts an der Aber noch immer spricht man von der »radio- nisse im Umfeld der Varus-Niederlage im Goethe-Univer­sität erstellt carbon revolution«. Wobei C14-Datierungen Jahre 9 nach Christus«, stellt Hans-Markus von wurde und immer weiter anwächst. Darin wird auch die nicht für alle archäologischen Disziplinen gleich Kaenel, Professor für Archäologe und Geschichte per Materialanalyse ermittelte wichtig sind: In den Jahrhunderten der römi- der römischen Provinzen, fest. »Offenbar waren Zusammensetzung des Tons schen Kaiserzeit beispielsweise spielen sie im nicht nur Germanen aus dem Lippe-Raum, son- aufgelistet. Vergleich zu anderen Datierungsmöglichkeiten dern auch Kontingente, die zum Teil von weit nur eine untergeordnete Rolle. herkamen, an einem gescheiterten Überfall auf das Römerlager Haltern beteiligt.« Die Zähne zeigen es: Woher stammt ein Mensch? Und auch anorganische Funde geben mit- Nicht allein das Alter organischer Überreste ist hilfe naturwissenschaftlicher Methoden viel von von Interesse. Auch die Biografie des Menschen ihrer Geschichte preis. So gibt es an der Univer- wird durch archäometrische Methoden beleuch- sität Frankfurt eine Forschungsstelle Keramik, tet: Mithilfe der Sauerstoff-Strontium-Analyse wo der für die Menschheitsgeschichte so wich- von Zähnen kann man beispielsweise heraus- tige Werkstoff Ton unter verschiedenen Aspek- finden, in welcher Gegend ein Mensch aufge- ten untersucht werden kann; dort befindet sich wachsen ist. Das ist möglich, weil in Gesteinen ein umfangreiches Keramikarchiv. Sechs Minu- verschiedene Isotope des Spurenelements ten dauert es, um mit einem portablen Röntgen- Strontium vorkommen, und das Verhältnis die- fluoreszenz-Spektrometer die Zusammensetzung ser Isotopen von Region zu Region variiert. Aus einer Scherbe zu analysieren (s. Foto S. 47). dem Boden und dem Grundwasser nehmen Diese wiederum lässt Rückschlüsse auf den Pflanzen diese Isotope auf, diese Pflanzen die- ­Herstellungsort und auf wirtschaftliche Zusam- nen wiederum als Nahrung für den Menschen. menhänge zu. Im Zuge eines Projekts der Deut- Im Organismus lagert sich das Strontium in schen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurde Knochen und Zähnen ab. Da der Zahnschmelz unter der Leitung von Dr. Markus Helfert eine bis zum vierten Lebensjahr fertig ausgebildet ist, umfangreiche­ Datenbank mit römischen Kera- gibt das Strontium darin Auskunft über die mikprodukten aus Hessen erstellt, die ­ständig Region, in der der Besitzer des Zahns seine frühe weiter anwächst. Kindheit verbracht hat. Bei der Untersuchung von Metallen leisten Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler naturwissenschaftliche Analyseverfahren ebenso unter den Überresten von insgesamt 24 Indivi- wichtige Dienste. »Wir können die Form

Forschung Frankfurt | 2.2014 49 »Es geht um den Menschen als kulturelles, nicht als biotisches Wesen« Interview mit Dr. Stefanie Samida und Prof. Dr. Manfred K.H. Eggert, die eine Streitschrift über das Verhältnis zwischen Archäologie und Naturwissenschaften verfasst haben.

Sauter: Was hat Sie zu Ihrer Streitschrift bung möglich ist, nur um seiner selbst lichen Verständnis resultieren. Wobei ein motiviert? willen geschieht und die vermeintlich Teil des Problems ist, dass viele Archäolo- »harten Fakten« dann 1 : 1 übernom- gen positivistisch denken und glauben, E ggert: Wir haben uns schon häufig mit men werden. Dabei fehlt häufig das Ver- dass Zählen und Messen unsere Pro­ den Fragen der Zusammenarbeit zwi- ständnis für die naturwissenschaft- bleme lösen. Aber das ist ein Irrglaube. schen Archäologie und Naturwissenschaf- lichen Fächer. Die Archäologen wissen ten beschäftigt und festgestellt, dass das nicht, wie methodisch vorgegangen Sauter: Wie löst man archäologische selten gut läuft. Die Zusammenarbeit ist wird, was dort fachintern diskutiert wird Probleme stattdessen? oft stümperhaft, die Ergebnisse sind unbe- und wo die Probleme der jeweiligen friedigend. Das wollten wir benennen. Methode liegen. Die naturwissenschaft- Eggert: Das funktioniert nur, wenn sich lichen Daten werden noch zu wenig alle Beteiligten im Vorfeld darauf einigen, Sauter: Welche Rolle spielen die Natur- einer kritischen Prüfung unterzogen. dass sie interdisziplinär zusammenarbei- wissenschaften für die Archäologie?

Eggert: Eine moderne Archäologie ohne Naturwissenschaften ist nicht vorstellbar. Aber es kommt darauf an: Wie sieht die Zusammenarbeit konkret aus? Oft läuft es so: Die Naturwissenschaftler bekom- men einen Auftrag, sie liefern einen Bericht, und dieser Bericht wird im schlimmsten, aber häufigsten Fall an die archäologische Publikation hinten ange- hängt. Irgendwo im Text wird als Syn- these darauf Bezug genommen. Das ist für mich keine gute Zusammenarbeit.

Sauter: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Samida: Die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie ist eine Historische Kultur- wissenschaft – die epistemologischen Sauter: Und wie könnte man diesen ten wollen. Nicht nur um das Geld der Interessen sind also konträr zu den Inte- Missstand beheben? DFG zu bekommen, sondern um tatsäch- ressen der Naturwissenschaften. Aus lich etwas zu erreichen. Das setzt aber meiner Sicht ist daher wichtig, ein E ggert: Wir müssen einen Weg finden, voraus, dass man Ziele definiert und sich gegenseitiges­ Verständnis zu schaffen uns so mit den Naturwissenschaften aus- während des ganzen Forschungsprojek- und darüber hinaus ein Verstehen der zutauschen, dass auch sie sagen: Mensch tes austauscht. Wie ist der Stand? Müssen jeweiligen Arbeitspraxis und erkennt- ja, natürlich, die Daten haben wir, aber wir unsere Strategie ändern? nistheoretischen Möglichkeiten. Da interpretieren können wir sie nicht. Das sehe ich derzeit noch große Defizite – können wir nur gemeinsam. Sauter: Aber die Regie geht von der letztlich auf beiden Seiten, weil man Archäologie aus? sich zu wenig aufeinander einlässt. Sauter: Also die Naturwissenschaften als Partner- statt als Hilfswissenschaften? Eggert: Man hat uns Arroganz vorge­ Sauter: Können Sie das noch etwas worfen, weil wir die ­Deutungshoheit näher ausführen? Eggert: Die Naturwissenschaften als Hilfs- behalten wollen. Da kann ich nur sagen: wissenschaft zu sehen, ist vollkommen Geht es um kulturwissenschaftliche Samida: Ich habe oft den Eindruck, dass überholt, wenngleich es oft immer noch oder naturwissenschaft­liche Fragen? Es in archäologischen Projekten alles das, Realität ist. Wir meinen, Zusammenar- geht um den Menschen als kulturelles, was an naturwissenschaftlicher Bepro- beit kann nur aus einem nachbarschaft­ nicht als biotisches Wesen. Das ist

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beschreiben und sagen, ob es sich zum Beispiel um Bronze oder Kupfer handelt«, sagt von Kaenel. Die Materialanalyse gibt darüber hinaus Aufschluss über die genaue Zusammensetzung des Materials und damit über dessen Herkunft. So wissen die Archäologen inzwischen, dass für die frühen Kupfermünzen aus der Zeit des Augustus Kupfer aus der Toskana verwendet wurde, während die Römer später zu Rohstoff von der Iberischen Halbinsel wechselten. In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts nach Chris- ein himmelweiter Unterschied. Beides tus kam der Bergbau ins Stocken, das Material muss und soll erforscht werden, aber für wurde recycelt und war entsprechend verun­ kulturelle Fragen sind zunächst die reinigt. So geben einfache Münzfunde auch Archäologen zuständig. Aufschluss über das Ressourcenmanagement und damit zusammenhängende Probleme Sauter: In Frankfurt gibt es den jener Zeit. Nebenfach­studiengang Archäometrie. Ist das für Sie der richtige Weg? Neue Erkenntnis: Auch in den Provinzen standen viele Bronzestatuen Samida: Ich kenne nicht die Feinheiten, Längst bekannte Artefakte neu zu analysieren, aber ich gehe davon aus, dass man die ist Ziel eines umfangreichen Forschungspro- Lehren aus der Vergangenheit gezogen jekts, das vom Archäologischen Landesmuseum hat. Diejenigen, die diesen Studiengang Baden-Württemberg, dem LVR-LandesMuseum belegen, sind sicherlich viel besser dran als Bonn und den Archäologen der Goethe-Univer- die meisten anderen, die von den Natur- sität mit Mitteln der VolkswagenStiftung durch- wissenschaften keine Ahnung haben. geführt wurde. Untersucht werden fast 5.000 Objekte aus 132 Fundplätzen entlang des Limes Sauter: Wie waren die Reaktionen auf und dem angrenzenden zivilen Hinterland, die Ihre Schrift? in deutschen Museen verteilt sind. Dabei han- delt es sich zum Teil um sehr kleine Fragmente Eggert: Hervorragend. Wir haben fast nur von römischen Bronzestatuen, die in mühe­ 5 Sascha Heckmann positive Reaktionen bekommen. voller Arbeit erfasst werden. Neben der archäo- und Claudia Sarge haben logischen Beschreibung und ikonografischen nach­gewiesen, dass im nördlichen Grenzraum des Einordnung der Fragmente finden auch römischen Reiches Bronze­ Dr. Stefanie Samida (41) ist Archäologin umfangreiche archäometrische und herstel- statuen in großer Zahl und Medienwissenschaftlerin. Sie lungstechnische Untersuchungen statt, darun- verbreitet waren – darunter arbeitet heute am Zentrum für Zeithistori- ter materialanalytische Verfahren, aber auch auch Reiterstatuen. Bei der Zuordnung der Fragmente sche Forschung in Potsdam und leitet Röntgen-, CT- und 3D-Scan-Verfahren. Sascha hilft ihnen die eigens erstellte das Projekt »Living History. Reenacted Heckmann und Claudia Sarge, die bei Prof. von Datenbank. Prehistory between Research and Popular Performance«.

Prof. Dr. Manfred K.H. Eggert (73) war von 1988 bis 1993 Professor für Ur- und Frühgeschichte in Erlangen. Von 1993 bis zur Pensionierung 2006 war er ordent­ licher Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen. Prof. Eggert ist Mitglied des Beirats des Frankfurter Graduiertenkollegs »Wert und Äquivalent«.

Die gemeinsame Schrift von Stefanie Samida und Manfred K.H. Eggert ist 2013 unter dem Titel »Archäologie als Natur- wissenschaft? Eine Streitschrift« als Band 5 der Reihe Pamphletliteratur im Vergangenheitsverlag erschienen; es umfasst 126 Seiten und kostet 12,90 Euro. 5

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Kaenel promovieren, erstellen eine umfangrei- ten angesiedelt ist und die Synergie zwischen che Datenbank zu diesen Artefakten, die bislang Archäologie und Geowissenschaften fördert. oft unbeachtet in Museumsdepots lagerten. Ein »Wer schon früh weiß, dass er einmal Archäolo- Ergebnis dieses Projekts besteht im Nachweis, gie ­studieren will, hat Chemie und andere dass auch im nördlichen Grenzraum des Impe- Naturwissenschaften oft weit hinter sich gelas- rium Romanum in einem bisher nicht vermute- sen«, sagt Sabine Klein. Die Zusammenarbeit ten Ausmaße lebens- und überlebensgroße der ver­schiedenen Disziplinen sei nicht immer leicht, ja, oft eine Gratwanderung: »Geisteswis- senschaftler haben eine ganz andere ­Sprache und Denkweise als Naturwissenschaftler.« Aber das sei gerade das Reizvolle an dem interdiszip- linären Fach Archäometrie, womit die Studie- renden auch noch wichtige »soft skills« für ihre spätere Berufstätigkeit erwerben.

Gewusst wie: Welche Methode ist angemessen? Um die Archäologen auf ihre spätere Arbeit vorzubereiten, lernen sie die unterschiedlichen Methoden kennen mit deren Möglichkeiten, aber auch Kosten und Problematiken. Am Ende sollen sie in der Lage sein, ein Projekt mit all seinen Erfordernissen zu planen. »Was gerade angesagt ist, ist nicht immer adäquat«, so Klein. So sind hochsensitive Analysen, für die das Objekt der Untersuchung chemisch 6 aufgelöst oder mit einem Laser verdampft wer- den muss, sehr teuer. Im Frankfurter Geo­ wissenschaftlichen Institut steht eine Vielzahl von Geräten zur Verfügung: darunter für die Archäometrie zwei Massenspektrometer, ein Laser, eine Elektronenstrahlmikrosonde, ein Röntgenfluoreszenzgerät und Polarisations­ mikroskope. Hier können Objekte auf ihre Gefügeeigenschaften, ihre chemische Zusam- mensetzung und Isotope bestimmter ­Elemente untersucht werden. Die C14-Methode selbst wird hier nicht betrieben: »Darauf haben sich andere Universitäten und Institute speziali- siert«, sagt Klein. Aber schon vor Beginn einer Grabung ist moderne Technik im Einsatz: Fernerkundung und GPS sind elementare Hilfsmittel, um ein 7 Gelände zu vermessen. Drohnen über Fundstel- len liefern dreidimensionale Modelle der Gege- benheiten vor Ort. Durch magnetische Prospek- 6 Ohne menschliche Helfer Bronze­statuen von Kaisern, Göttern und bedeu- tion kann sich der Archäologe ein erstes Bild geht es freilich bei keiner tenden Persönlichkeiten aufgestellt waren. davon machen, wo er welche Befunde erwarten archäologischen Ausgrabung, Doch welche Methode ist für welches Fund- kann: Feine Sensoren messen den Magnetismus auch nicht bei der Grabung im syrischen Tell Chuera, material und welche Fragestellung geeignet? In des Bodens, und weil das menschliche Eingrei- die Jan-Waalke Meyer viele Frankfurt lernen das die circa 50 angehenden fen den natürlichen Magnetismus durcheinan- Jahre geleitet hat. Archäologen, die das Nebenfach Archäometrie derbringt, ergibt sich ein aufschlussreiches Bild studieren, bei Sabine Klein und den naturwis- der Kulturlandschaft. Ein Hektar pro Tag ist für 7 Wo hat der Mensch Spuren im Erdreich hinter­ senschaftlichen Kollegen. Das Studienangebot solche Geräte kein Problem – frühere Generati- lassen? Mit Hilfe der ist breit angelegt, um einen möglichst großen onen hatten keine Möglichkeiten, eine solch magnetischen Prospektion Überblick zu verschaffen. Die Organisation des große Fläche zu erfassen. Heute weiß man früh- werden im Vorfeld einer Studiengangs erfordert eine intensive Studien- zeitig, was man erwarten kann. »So weiß man Grabung in Nigeria wichtige Erkenntnisse gewonnen. fachberatung sowie eine sorgfältige Organisa- zum Beispiel, wenn ein Gehöft von einem tion des Veranstaltungsangebotes. Dies über- ­Graben umgeben war und kann weitere Hypo­ nimmt die Koordinationsstelle Archäometrie, thesen aufstellen: Warum? Wofür wurde der die im Institut für Archäologische Wissenschaf- Graben gebraucht?«, erklärt Peter Breunig.

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Allerdings funktioniert diese Methode nur dann, wenn der Untergrund geologisch nicht allzu aktiv ist. »Heute würde man keine Grabung anfangen wie noch in den siebziger Jahren«, sagt Jan- Waalke Meyer, Professor für Vorderasiatische Archäologie in Frankfurt. Durch die modernen Methoden der Geophysik erfahren die Archäo- logen mehr über das Gelände als früher bei monatelangen Grabungen. »Früher haben wir stets an der höchsten Stelle des Geländes zu gra- ben begonnen«, erzählt Meyer, der über viele Jahre die Siedlung Tell Chuera in Syrien erforscht hat. Ein spezifisches Problem dort ist, dass die verbauten Lehmziegel längst verwittert sind, doch auch hier hilft die Geomagnetik wei- ter, die nicht sichtbare Strukturen sichtbar 8 machen kann. »Kaputt macht man als Archäo- loge immer etwas. Aber so kann man relativ große Flächen überschauen und viel gezielter in Frankfurt inzwischen eine einzigartige Ver- 8 + 9 Bei der Bestimmung vorgehen«, erklärt der Professor. Das Graben gleichssammlung moderner Pflanzen. von Baum- und Pflanzenarten übernehmen heute nicht mehr nur die Archäo- Katharina Neumann kümmert sich auch um kann die Frankfurter Archäobotanik-Professorin logen. In Tell Chuera waren stets bis zu 120 ein- »Phytolithe«, also »Pflanzensteine«: Das sind Katharina Neumann auf heimische Arbeiter unter Anleitung der Wissen- Silikatablagerungen, die in Form von Kiesel- Vergleichssammlungen schaftler im Einsatz. säure im Boden vorkommen, von Pflanzen auf- zurückgreifen, zum Beispiel Auch die Messung des elektrischen Wider- genommen werden und sich im Gewebe abla- auf eingefärbte Holzdünn- schnitte, die verschiedene stands im Boden mithilfe von Sonden kann gern und fest werden. Stirbt die Pflanze, bleibt Baumarten im Quer-, wichtige Erkenntnisse liefern oder der Einsatz dieses Silikat übrig und gibt Auskunft über die Tangential- und Radialschnitt von Wärmebildkameras, und auch die Röntgen- Geschichte der Pflanze. Durch die Analyse die- zeigen (Bild oben) fluoreszmessung von Bodenproben, die in regel- ser winzigen Teilchen können sich die Archäo- oder auf die Vergleichs­ sammlung für Früchte und mäßigen Abständen entnommen werden, gibt logen mithilfe der Archäobotanik ein Bild von Samen (Bild unten). Aufschluss über zu erwartende Funde. Ein Prob- Aktivitätszentren machen: Wurde auf einem lem sei allerdings, dass der Archäologie als »Geis- Platz Vieh gehalten, gibt es also Dungablagerun- teswissenschaft« an der Universität weniger gen? Oder handelt es sich um den Fußboden Räumlichkeiten zustehen, als sie für ihre Gerät- schaften und Sammlungen eigentlich bräuchte, meint Breunig. Afrika-Archäologe Breunig kennt keine Berührungsängste mit der moder- nen Technik: Für ihn ist sie integraler Bestandteil moderner Archäologie, die Geräte gehören unbedingt dazu. Seinen spektakulärsten Fund hat Breunig allerdings weitgehend ohne natur- wissenschaftliche Methoden gemacht: Das »älteste Boot Afrikas«, ein 8000 Jahre alter Ein- baum, den er 1998 zum Vorschein brachte, war ein Zufallsfund.

Winzige Pflanzenreste machen Vergangenheit wieder lebendig Breunig arbeitet in Afrika eng mit der Archäo- botanik zusammen, die in Frankfurt von Profes- sor Katharina Neumann betreut wird. Die Archäobotanik gibt Aufschluss über die frühere Beschaffenheit der Vegetation und über Fragen der Ernährung, indem sie sogenannte Makro- reste, also Samen, Früchte und Holz, oft in ­verkohltem Zustand, untersucht – oder aber in jüngerer Zeit auch Mikroreste wie Stärkekörner von Getreide und Pflanzenknollen. Für die Bestimmung archäobotanischer Funde existiert 9

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10 Kleine Löcher, eines Hauses? Wird etwas Besonderes gefun- Mithilfe der Archäobotanik haben Forscher großer Erkenntnisgewinn: den, etwa ein Hausgrundriss, sind die Archäo- herausgefunden, dass Getreide im Nahen Osten Nur das Material aus botaniker stets mit im Boot. erst viel später gezielt angebaut wurde als dem Inneren einer Münze vermag deren Herstellungs­ Auch zu einer der Hauptfragen der vorge- bisher angenommen –, und zwar lange, nach- geschichte korrekt schichtlichen Archäologie konnte die Archäo- dem die Menschen sesshaft wurden. Woraus zu erzählen. Um eine botanik einen wichtigen Beitrag leisten: Wie lässt sich das schließen? Für die Archäobotani- repräsentative Menge von kam es zu gezieltem Anbau von Pflanzen, zu ker beginnt der planvolle Anbau mit dem 15 bis 30 Mikrogramm zu erhalten, sind meist Sesshaftigkeit und Viehzucht? Lange Zeit waren Getreide, dessen Ähren bei der Reife nicht drei Bohrungen notwendig. die Wissenschaftler davon ausgegangen, dass auseinanderfallen und die sich somit besser ern- Der Bohrer wird jedoch diese drei Neuerungen etwa zur gleichen Zeit ten lassen. Die Menschen haben sich die möglichst dort angesetzt, auftraten – im so genannten »Neolithischen ­zufällige Mutation für eine effektivere Ernte wo die Münze – in diesem Fall ein römisches Exemplar – Bündel«. Dies war nach heutigen Erkenntnis- zunutze gemacht. »Diese Entwicklung zum schon leicht beschädigt ist. sen jedoch nur bei den frühesten neolithischen Feldbau war mit großen gesellschaftlichen Ver- Kulturen Mitteleuropas der Fall. änderungen verbunden: Auf einmal gab es ­Reiche und Arme – und natürlich auch soziale Spannungen«, erklärt Katharina Neumann die Bedeutung dieser Erkenntnis. Der Übergang vom Jäger und Sammler zur »Vom Objekt zur Landwirtschaft war ein allmählicher Prozess. Kulturgeschichte. Das konnte die Archäobotanikerin Dr. Astrid Stobbe auch bei Grabungen im Ural nachwei- Wie Archäologen sen, die unter Leitung von Rüdiger Krause arbeiten« durchgeführt wurden: Dort hielten die Men- schen bereits Vieh, sammelten aber weiterhin nter diesem Titel haben die fünf Wildpflanzen für ihre Ernährung. Auch in Fern- Uarchäologischen Fächer an der ost gab es lange Zeit keine Kulturpflanzen, Goethe-Universität Frankfurt gemeinsam obwohl die Menschen bereits in festen Siedlun- eine Ausstellung konzipiert. Anhand einiger gen lebten. weniger Objekte erfährt der Besucher, wie Archäologen vom Objekt ausgehend mithilfe »Heute kann man Fragen stellen, die früher unterschied­licher Methoden zur Erkenntnis gar nicht aufkamen« gelangen. »Archäologie als Naturwissenschaft?« – die kleine Streitschrift der Archäologen Manfred Die Ausstellung im siebten Stock des Eggert und Stefanie Samida hat voriges Jahr für IG-Farben-Hauses am Campus Westend einiges Aufsehen in der Fachwelt gesorgt. Darin ist bis 31. März 2015 zu sehen. stellen die Autoren keineswegs grundsätzlich Öffnungszeiten: dienstags 15-18 Uhr, die Zusammenarbeit mit den Naturwissen­ während der Semesterferien 16-18 Uhr; schaften infrage, mahnen jedoch die Fachkolle- am letzten Sonntag im Monat: 11-13 Uhr gen, auch die eigenen Kenntnisse nicht zu ver- sowie auf Anfrage unter Tel. 069-798-34205. nachlässigen und sich erst über das eigene Forschungsinteresse im Klaren zu sein, bevor sie die anderen Disziplinen hinzuziehen. Dann

54 2.2014 | Forschung Frankfurt Fächerkulturen aber gelte es, über die gesamte Dauer eines Pro- ­Einfluss gehabt: »Zum Beispiel haben die Kom- jekts partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. munikationswissenschaft oder die Soziologie (s. Interview auf S. 50) Archäobotanikerin Neu- einiges bewirkt«, sagt Raeck. So interessieren mann kennt Manfred Eggert aus gemeinsamen sich die Wissenschaftler inzwischen weniger für Projekten – und gibt ihm recht: »Erstmal spektakuläre Funde, wie sie noch die frühen geht es um die Frage: Was wollen wir überhaupt Archäologen anlockten, als für das Zusammen- wissen?«. Erst dann könne die geeignete leben der Menschen – Stichwort »soziologischer Methode gefunden werden. »Die Archäologie Raum«. Und hierbei helfen wiederum die erwartet von den Naturwissenschaften oft mehr, Naturwissenschaften, indem etwa die Gelände- als diese leisten können«, hat Neumann beob- erkundung leichter größere Siedlungszusam- achtet. So ist es zum Beispiel nicht möglich, aus menhänge deutlich machen kann. Raeck warnt archäobotanischen Bodenproben das Klima zu jedoch davor, die Archäologie könne ihre Iden- rekonstruieren. tität verlieren, wenn sie sich selbst als Natur­ Gerade in Deutschland sei die Archäometrie wissenschaft sehe. Sie würde vor allem im sehr weit entwickelt, erklärt die Niederländerin Fächerverbund nicht mehr das leisten, wofür Fleur Kemmers, Inhaberin einer Lichtenberg- sie eigene Kompetenz hat. »Wir dürfen Stiftungsprofessur der VolkswagenStiftung an unsere eigenen Methoden, zum Beispiel Form- der Goethe-Universität. »Messen darf aber analyse und Stilkritik, nicht ganz vernach­ immer nur Mittel zum Zweck sein und nicht das lässigen«, sagt er. Ansonsten könne es durch Ziel an sich«, so Kemmers. Für ihr Fach, die die neuen Methoden nicht nur zum Erkenntnis- archäologische Numismatik, eröffnen die gewinn kommen, sondern auch zum Verlust Methoden der Materialanalyse ganz neue Mög- von Erkenntnis.  lichkeiten. So untersucht sie ­derzeit, woher das Silber für Münzen in den griechischen Kolonien (Siehe auch Kurzinterviews der Archäologen in Italien stammte. Führen sie auf die gleichen auf den Folgeseiten.) Quellen zurück wie im Mutterland? Dafür müs- sen den Münzen Materialproben entnommen werden. »Das tut den Konservatoren schon weh, aber wir haben ja eine gute Begründung«, sagt Kemmers. Das winzige Loch am Rand der Münze ist der Preis dafür, dass die Münze etwas über ihre Geschichte verrät: Mithilfe der Material- analyse weiß die Numismatikerin, aus welcher Region das Silber stammte, ob es direkt zur Münze gebracht oder mit anderem Silber ver- mischt wurde – und damit erschließt sich vieles über die Organisation von Handelsnetzwerken. »Heute kann man Fragen stellen, die früher gar nicht aufkamen – oder die man früher nicht beantworten konnte«, sagt Wulf Raeck, Professor für Klassische Archäologie in Frank- furt. So führe zum Beispiel die Erkenntnis, dass der Marmor für Skulpturen der römischen Kai- serzeit seit dem 1. Jahrhundert vor Christus immer seltener aus dem italienischen Carrara, Die Autorin sondern aus Kleinasien stammte, zu neuen Dr. Anke Sauter, 46, ist seit Juni Wissenschafts- Fragen: Über welche Routen und auf welche redakteurin in der Abteilung Marketing und Weise wurde das schwere Material nach Rom Kommunikation der Goethe-Universität. Sie hat gebracht? Manchmal überstrahlten die durch in Bamberg Germanistik, Journalistik und naturwissenschaftliche Methoden gewonne- Geografie studiert und eine Dissertation über nen Erkenntnisse das, was man schon immer den Literaturhistoriker, Stillehrer und Sprach­ wusste: Dass griechische Plastiken farbig puristen Eduard Engel geschrieben. Nach dem waren, habe die Wissenschaft schon vor Brink- Studium hat sie zunächst als Redakteurin bei manns Ausstellung »Bunte Götter« gewusst. einer bayerischen Tageszeitung und dann einige Aber erst durch Pigmentanalyse, Streiflichtfo- Jahre als freie Journalistin gearbeitet. Jetzt kümmert sie sich unter anderem um die Ver- tografie und andere moderne Methoden wurde besserung der internationalen Kommunikation dies deutlicher sichtbar. an der Goethe-Universität. Auf Fragestellung und Blickrichtung der [email protected] Archäologen haben auch die anderen Geistes- und die Sozialwissenschaften stets großen

Forschung Frankfurt | 2.2014 55 Jan-Waalke Meyer Peter Breunig Professor für Vorderasiatische Professor für Vor- und Frühgeschichte, Wulf Raeck Archäologie Archäologie Afrikas Professor für Klassische Archäologie

Was war Ihr tollster Fund? Was war Ihr tollster Fund? Was war Ihr tollster Fund? Mein »tollster« Fund ist eigentlich ein Das mit 8000 Jahren älteste Boot Ich suche nicht nach Funden, sondern Befund: der Nachweis, dass Tell Chuera Afrikas – bei den Ausgrabungen nach Ergebnissen, die sich möglicher- um 3.100 vor Christus als urbanes Zentrum 1994 und 1998. weise erst nach langer Zeit und durch gegründet wurde. Als Fund würde ich ein Kombination verschiedener Befunde (zum gut erhaltenes Grab anführen, mit Wonach suchen Sie noch immer? Beispiel Fundkomplexe, die mehrere zahlreichen Bronzewaffen, den Resten Das Suchen nimmt in der Wissenschaft Funde enthalten) einstellen. einer Kompositstatue und anderem kein Ende. Ich suche nicht nach einzelnen mehr. Funden oder Schätzen, sondern nach dem Wonach suchen Sie noch immer? Verständnis für die großen Zusammen- Ich suche noch immer nach Antworten Wonach suchen Sie noch immer? hänge und wichtigsten Etappen der auf Fragen, die oft andere schon beant- Woher die Menschen kamen, die kulturellen Entwicklung in der frühen wortet zu haben glauben (es gibt ja in der Tell Chuera gegründet haben. Menschheitsgeschichte. Archäologie fast keine gesicherten Fakten). Zum Beispiel: Wer gründete in Was ist für Sie die wichtigste Was ist für Sie die wichtigste welchem historischen Kontext die Stadt naturwissen­schaftliche Methode? ­naturwissenschaftliche Methode? Priene? Wen stellt der Bronzekopf aus Die Geophysik. Ich würde heute keine Die Radiokohlenstoff-Datierung. Sie hat dem Wrackfund von Porticello dar? Grabung mehr beginnen, ohne vorher unser Bild von der Vergangenheit geophysikalische Messungen durch­ revolutioniert und ist für die vorchristliche Was ist für Sie die wichtigste geführt zu haben. Dadurch wird meines Zeit die am umfangreichsten anwendbare ­naturwissenschaftliche Methode? Erachtens jede Grabungsstrategie Methode, das Alter archäologischer Materialanalytische Verfahren, bei­ bestimmt. Funde und Befunde zu datieren. spielsweise zur Keramik- oder Marmor­ bestimmung (etwa Röntgenfluoreszenz- analysen, Neutronenaktivierungsanalyse, Isotopenbestimmung).

Drei Fragen an die Frankfurter Archäologen

56 2.2014 | Forschung Frankfurt Hans-Markus von Kaenel Professor für Archäologie und Geschichte Fleur Kemmers der römischen Provinzen sowie Hilfs- Rüdiger Krause Professorin für Münze und Geld in wissenschaften der Altertumskunde Professor für Vor- und Frühgeschichte der griechisch-römischen Antike

Was war Ihr tollster Fund? Was war Ihr tollster Fund? Was war Ihr tollster Fund? Mein erster – im Alter von sieben Jahren! Natürlich ist es ein tolles Gefühl, einen Ein bekannter Spruch in der Archäologie Als 1954 die romanische Dorfkirche von ganz besonderen Fund im Kontext einer lautet: »The goal of archaeology is not Einigen am Thuner See (Schweiz) Siedlung oder eines Gräberfeldes zu to find things, but to find out things.« In renoviert wurde, fanden archäologische bergen. Es sind aber meist vergleichs- diesem Sinne war es bei mir die Ent­ Grabungen statt, die unter anderem einen weise unscheinbar kleine Objekte. Meine deckung, dass in der römischen Kaiser- Vorgängerbau aus dem 7. Jahrhundert tollsten »Funde« bestehen im Erkennen zeit zielgruppenorientierte Lieferungen zutage brachten. Als Sohn des Pfarrers von Zusammenhängen und in der von Münzgeld stattgefunden haben. konnte ich auf der Grabung mitarbeiten, Rekonstruktion von Prozessen, die u. a. an der Bergung von früh- und schließlich zu einem historischen Gesamt- Wonach suchen Sie noch immer? hochmittelalterlichen Gräbern mit ihren bild führen, wie etwa der Lebens-, Die Frage, die ich gerne gelöst sehen charakterist­ischen Beigaben. Seit Wirtschafts- und Umweltverhältnisse würde, ist: Wer, einerseits in den diesem Zeitpunkt stand mein Berufsziel, am Nordrand der Eurasischen Steppe im ­griechischen poleis, anderseits im Archäologe zu werden, fest. Trans-Ural während der Bronzezeit. kaiserzeit­­ l­ichen Rom, hat die Entscheidung getroffen, welche Bilder auf den Münzen Wonach suchen Sie noch immer? Wonach suchen Sie noch immer? geprägt wurden? Nach den Namen der römischen Nach dem Goldschatz! (lacht …) ­Truppeneinheiten, die in den verschiedenen Was ist für Sie die wichtigste von uns entdeckten Militäranlagen in Was ist für Sie die wichtigste natur­ ­wissenschaftliche Methode? Südhessen stationiert waren. ­naturwissenschaftliche Methode? Die geochemische Analyse von Arte­ Es ist nicht die wissenschaftliche fakten aus Metall, Keramik, Glas oder Was ist für Sie die wichtigste Methode. Die Vielzahl der Möglichkeiten anderen Materialien, die Aussagen ­naturwissenschaftliche Methode? macht die Archäologie zu einer spannen- zu ihrer Zusammenstellung, Anfertigung Die Wichtigkeit richtet sich nach dem den Wissenschaft, die weit über ihre und Provenienz ermöglicht. Gegenstand der Studie, an der ich gerade eigenen historisch-archäologischen arbeite; zurzeit sind es die verschiedenen Methoden hinaus Zusammenhänge Analyseverfahren zur Charakterisierung erkennen und erschließen lässt. und Provenienz-Bestimmung von Zu nennen wären etwa die molekulare Metallen und Keramik. DNA-Analyse bei Tieren und Menschen, geophysikalische Methoden zur Sicht­ barmachung von Baustrukturen oder Gräberfeldern im Untergrund, die ver- schiedenen Methoden der Geochemie – und natürlich die diversen Datierungs­ methoden wie C14.

Forschung Frankfurt | 2.2014 57 Hermann Hartmann – Pionier der Theoretischen Chemie »Er war der erste Chemiker in Deutschland, der Quantenmechanik wirklich konnte« von Anne Hardy Fächerkulturen

Hermann Hartmann prägte wie kein anderer die Forschung auf dem Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie. Seine Schüler, von denen viele später Professoren wurden, haben ihn als einen begnadeten, manchmal unkonventionellen Lehrer in Erinnerung.

r hat die Theoretische Chemie als eigenes und Französisch war auch antikes Latein als Fach etabliert und die fachlichen Grundlagen Sprache zugelassen. »Einen jungen Doktoran- Efür viele Fächer geschaffen, die heute am den, dem der Große Meister die Beurteilung Biozentrum in Frankfurt vertreten sind, insbe- und Bearbeitung solch exotischer lateinischer sondere die biophysikalische Chemie«, sagt Arbeiten übertragen hatte, kostete das manche Hans Wolfgang Spiess über seinen Doktorvater Oster- oder Weihnachts-Feiertage«, erinnert Hermann Hartmann. »Ich kam damals nach sich Eugen Schwarz, der später Professor für meiner Promotion in Aachen zu ihm, weil er als Theoretische Chemie an der Universität Siegen der Papst der theoretischen Chemie in Deutsch- wurde. Hartmann begründete für den deutsch- land galt«, erinnert sich Karl Hensen. »Er war sprachigen Raum das »Symposium für Theoreti- ein brillanter Lehrer, der die Studierenden vom sche Chemie (STC)«. Die erste Konferenz fand ersten Semester an durch seinen Vortragsstil 1965 in Frankfurt statt. 2014 feierte das Sympo- ­faszinierte«, schwärmt Hans Sillescu. Alle drei sium sein 50jähriges Bestehen in Wien. Zeitzeugen wurden später Professoren: Spiess Um den Rückstand der theoretischen Che- war zuletzt Direktor am Max Planck-Institut für mie gegenüber den angelsächsischen Ländern Polymerforschung im Mainz, Hensen Professor aufzuholen, rief Hartmann 1962 die erste inter- für ­Physikalische und Theoretische Chemie an nationale Sommerschule für theoretische Che- der Goethe-Universität und Sillescu Professor für mie in Konstanz ins Leben. In diesen über viele Physikalische Chemie an der Universität Mainz. Jahre weitergeführten Ferienkursen vermittelte Dass etwa zehn Professuren in der Theo­ er zusammen mit international anerkannten retischen Chemie ab den 1960er Jahren mit Kollegen, darunter Manfred Eigen und Ger- Hartmann-Schülern besetzt wurden, war kein hardt Ertl, Chemikern das mathematische und Zufall. Bereits 1954 verfasste Hartmann ein physikalische Handwerkszeug für die Arbeit im Lehrbuch zur Theorie der chemischen Bindung. Grenzgebiet zwischen Chemie und Physik. Sei- »Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist, dass nerzeit war das die einzige Möglichkeit für 1 Hermann Hartmann im hier ein Chemiker sich in die Domäne der Nachwuchswissenschaftler, Kenntnisse in dem April 1968. Aufgrund seiner ­Physik wagte« 1, würdigt Karl Jug die Leistung neuen Fachgebiet zu erwerben. »Wir nannten schmerzvollen Erfahrungen während des Nationalsozialis seines Doktorvaters. Er habe gezeigt, wie man es unsere innere Mission, an den Fakultäten für mus stand er der Politisierung Quantenmechanik aus der Sicht des Chemikers Chemie der deutschen Universitäten nach und der Hochschulen kritisch anwendet, lange bevor komplizierte chemische nach die theoretische Chemie zu etablieren und – gegenüber. Prozesse quantitativ aus der Lösung der Schrö- wenn möglich – auch mit einem Hartmann- dinger-Gleichung abgeleitet werden konnten. Schüler zu besetzen«, erinnert sich Sillescu. Jug wurde später Professor für Theoretische Hartmanns Frankfurter Institut in der Chemie an der Universität Hannover. Robert-Mayer-Straße hatte die Struktur eines Departments mit fünf Professuren. Anfang der Den Rückstand in der theoretischen Chemie 1960er Jahre arbeiteten dort 100 Wissenschaft- aufholen ler, darunter 20 Theoretiker. Sie kamen etwa 1962 gründete Hartmann die weltweit erste zur Hälfte aus der Physik und aus der Chemie. Zeitschrift für Theoretische Chemie »Theoretica »Es gab einmal eine Diskussion in der naturwis- Chimica Acta« (TCA). Neben Deutsch, Englisch senschaftlichen Fakultät, ob Hartmann auch

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tik entdeckte der 13-Jährige »schlagartig«, als er wegen einer Prügelei nachsitzen musste. In dem großen Raum mit Eisenofen inspizierte er den Papierhaufen zum Anheizen und fand darin ein Büchlein über Geometrie, das ihn fesselte. In der Bibliothek des Klosters Neuburg stieß er dann auf Descartes Geometria und kam dar­ über zur Philosophie. »Von da entwickelten sich zwei Interessenrichtungen, die eine nach der exakten Naturwissenschaft und die andere nach der Kultur- und Geistesgeschichte. Die besten Noten im Abitur bekam ich in den Fächern Griechisch und Physik. Chemie war kein Unter- richtsfach« 2, berichtet Hartmann. Auch in ­späteren Jahren zitierte er lateinische und grie- chische Klassiker. Im politisch einschneidenden Jahr 1933 begann Hermann Hartmann sein Chemie-Stu- dium an der Technischen Hochschule in Mün- chen bei den Nobelpreisträgern Hans Fischer und Heinrich Wieland. Zu den »tiefsten Ein­ drücken seiner ersten Studienjahre« zählte er eine Vorlesung über den Hammurabi Kodex und die Vorträge im physikalischen Kolloquium von Arnold Sommerfeld und Walter Gerlach. Sommer­feld gehörte zu den Begründern der Quantenphysik in Deutschland; Gerlach hatte 2 elf Jahre zuvor an der Universität Frankfurt zusammen mit Otto Stern das wegweisende Stern-Gerlach-Experiment durchgeführt. 2 Hartmann 1950 im befähigt sei, Physik-Diplomanden auszubilden. Wegen persönlicher Differenzen mit seinem Physik-Institut (dem heutigen Das stieß auf starke Widerstände. Worauf ein Doktorvater Klaus Clusius wechselte Hartmann Physikalischen Verein), wo die Theoretiker fragte, ob hier im Raum noch Anfang 1939 mit dem damaligen Privatdozen- Physikalische Chemie bis zum Bezug ihres eigenen Neubaus jemand sei, der – so wie Hartmann – eine ten Peter Wulff nach Frankfurt. Wenig später 1952 untergebracht war. gemeinsame Arbeit mit Sommerfeld publiziert wurde er zur Wehrmacht eingezogen, im Früh- habe. Das hat die Diskussion beendet«, erinnert jahr 1940 aber aufgrund einer Erkrankung wie- sich Spiess. »Hartmann war der erste Physiko- der entlassen. 1940 arbeitete er noch einmal mit chemiker in Deutschland, der Quantenmecha- Sommerfeld über ein Problem der Quanten­ nik wirklich konnte«. mechanik, nämlich den beschränkten Rotator. »Die Verlockungen von Seiten der Physik Die Arbeit erschien unter beider Namen in waren sicher beträchtlich«, vermutet Sillescu. der angesehenen Fachzeitschrift »Annalen der Andererseits war die Quantenchemie, so wie sie Physik«. die Physiker verstanden, bereits mehr oder Hartmann schloss seine Doktorarbeit 1941 weniger abgeschlossen, als Hartmann sein Stu- ab und übernahm vertretungsweise eine Assis- dium begann. Den Physikern genügte es, ein tentenstelle im Physikalisch-Chemischen Insti- einfaches Modellsystem wie das Wasserstoff- tut der Universität Frankfurt. Hier habilitierte er Molekül-Ion berechnen zu können. Die von sich 1943 mit einer Arbeit, in der er das semi- Hartmann mit entwickelte Theoretische Chemie empirische quantenmechanische Modell Erich widmete sich dann komplexen Molekülstruktu- Hückels verwendete, um die Eigenschaften einer ren. Seine bedeutendste wissenschaftliche Leis- Reihe aromatischer Verbindungen zu erklären. tung ist die Ligandenfeldtheorie, die Struktur, Weil er sich weigerte, an nationalsozialistischen Farbe und Magnetismus von Übergangsmetall- Schulungsprogrammen teilzunehmen, erhielt er Komplexverbindungen erklärt. Nach Hartmann die venia legendi erst 1946. benannt ist ein ringförmiges Potential. Warum sind die Komplexe der Griechisch und Physik beste Abiturfächer Übergangsmetalle bunt? Hermann Hartmann, geboren am 4. Mai 1914 in Die Ligandenfeldtheorie entstand kurz nach Bischofsheim in der Rhön, verlebte seine Schul- Kriegsende in Laubach, Oberhessen, wohin zeit in Neuburg an der Donau, wo er das huma- Hartmann mit seiner Familie aus dem zerstörten nistische Gymnasium besuchte. Die Mathema- Frankfurt geflüchtet war – ebenso wie der Phy-

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siologie-Professor Albrecht Bethe und Hart- tigung der Ligandenfeldtheorie mithilfe spektros­ manns Doktorand Friedrich Ernst Ilse. Gemein- kopischer Methoden. sam berechneten sie die Energieniveaus des Zum Wintersemester 1951 ging Hartmann Übergangsmetall-Ions im Zentrum des Kom­ als Abteilungsleiter an das Max-Planck-Institut plexes mit quantenchemischen Methoden, für Physikalische Chemie in Göttingen. Es betrachteten aber die umliegenden Liganden als stand unter der Leitung von Karl Friedrich Punktladungen, die ein elektrostatisches Feld, ­Bonhoeffer­ , dem Bruder des Theologen Dietrich das Kristallfeld, erzeugen. Die Kristallfeldtheorie Bonhoeffer. 1952 folgte Hartmann dem Ruf hatte Hans Bethe, der Sohn Albrecht Bethes, nach Frankfurt als Direktor des Instituts für bereits 1929 aufgestellt. Hartmann und Ilse Physikalische Chemie, das unter seiner Leitung kombinierten sie mit der klassischen elektro­ neu gebaut wurde. Es entwickelte sich zu statischen Theorie der Komplexverbindungen einem international bedeutenden Zentrum für von Alfred Magnus, der zu dieser Zeit Professor Forschung und Lehre. In den Anfangsjahren für Physikalische Chemie an der wiedereröffne- prägte ihn der fachliche und freundschaftliche ten Universität Frankfurt war. Austausch mit Friedrich Hund, der bis 1956 Dass Hartmann lange Zeit international als Professor für Theoretische Physik in Frank- nicht als Begründer der Ligandenfeldtheorie furt lehrte. wahrgenommen wurde, dürfte darauf zurück- An seinem Institut etablierte er im Laufe der zuführen sein, dass die Arbeit erst 1951 in der Jahre eine große Bandbreite spektroskopischer Zeitschrift für Physikalische Chemie erschien Methoden. »Experimentell hat er unglaublich und diese im Ausland kaum gelesen wurde. »Zu früh wichtige Techniken etabliert, unter ande- meiner Zeit wurde Hartmann gefragt, warum er rem die Kernresonanzspektroskopie mit der sich mit Metall-Komplexen beschäftige«, erin- Vision, dass sie für Biomoleküle von Interesse nert sich Spiess, der 1968 bei Hartmann promo- wäre. Er hatte die Bedeutung von Stickstoff für vierte. »Er hat geantwortet, dass auch Chloro- biologische Systeme erkannt und wollte die phyll zu den Metallkomplexen gehört. Er hatte Struktur von Aminosäuren aufklären. Das war also die Biochemie und Biophysik damals damals viel zu früh. Zu unserer Zeit sind wir so durchaus schon im Visier«. weit nicht gekommen«, sagt Spiess. Als Hans Sillescu 1961 mit seiner Doktorarbeit anfangen Aufbau der physikalischen und theoretischen wollte, hatte die Deutsche Forschungsgemein- Chemie in Frankfurt schaft Hartmann gerade ein Kernresonanz­ Da das physikalisch-chemische Institut im Krieg spektrometer bewilligt. »Ich lief als Doktorand zerstört worden war, nahm Hartmann seine mit einer Viertelmillion durch die Gegend, um ­dortige Arbeit unter bescheidenen äußeren eine Firma zu finden, die mir ein geeignetes Bedingungen auf. Rückblickend bezeichnete er Gerät liefern konnte. Wir hatten damals eine die Zeit als »theoretisch wie experimentell sehr unglaubliche Freiheit, weil der große Meister intensiv« 3. 1950 erbrachte sein Doktorand Hans- mit einem zweiseitigen Antrag bei der DFG Ludwig Schläfer die erste experimentelle Bestä- diese Mittel bekam«, erinnert er sich.

3 Hermann mit seiner Mutter.

4 Hermann mit seiner Mutter und dem älteren Vetter Hans.

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Hartmann war auch der erste Professor, der Größe einer Schublade«, sagt Spiess. Deshalb an der Universität Frankfurt eine Zuse-Rechen- kamen er und seine Kommilitonen auf die Idee, maschine anschaffte – noch vor den Physikern. sich zum Zusammenschreiben der Doktorarbeit »Die Zuse 23 füllte einen Raum. Daran durften in Hartmanns kaum genutzter Privatbibliothek nicht nur Theoretiker arbeiten, sondern auch auszubreiten. »Die Sekretärin warnte uns recht- wir Experimentatoren. 1967, als ich meine zeitig vor, wenn er mal in seine Bibliothek Doktorarbeit­ machte, war sie schon total veral- wollte. Aber die Enge hat auch die Zusammen- tet. Ich habe sie nur noch zum Programmieren arbeit gefördert. Nichts ist schlimmer als ein mit Lochstreifen benutzt. Das war pädagogisch ­Institut, in dem auf dem Gang nur drei Leute unheimlich wertvoll. Die Alternative war, seine sitzen«, schmunzelt er. Lochkarten in Darmstadt abzugeben. Es gab einen Run pro Tag. Und wenn ein Tippfehler Ein begnadeter Lehrer darin war, war wieder ein Tag weg«, erinnert Hartmanns dreisemestrige Vorlesung zur Ein- sich Spiess. führung in die theoretische und physikalische Auch das erste Ionen-Zyklotron-Resonanz- Chemie zog jahrzehntelang Chemie- und Phy- Massenspektrometer in Deutschland stand an sikstudenten an und führte sie schließlich sei- Hartmanns Institut. »Das war eine sehr fort- nem Arbeitskreis zu. 4 Martin Trömel, der später 5 Visite ehrbarer schrittliche, ausgefeilte Methode, um chemische Chemieprofessor an der Goethe-Universität Wissenschaftler in der Reaktionen in der Gasphase zu verfolgen und wurde, berichtet: »Ich entsinne mich vieler DECHEMA anlässlich der zu beeinflussen«, erklärt Dieter Schuch, Hart- Stunden, in denen wir Studenten den Gedan- Promotion Hermann Hartmanns. manns letzter Doktorand. Er wurde später Pro- kengängen zu folgen suchten, die uns in seinem fessor am Institut für Theoretische Physik der Vortrag wunderbar klar und durchsichtig 6 Mit einem Fackelzug Goethe-Universität. »Das Gerät stand in einem erschienen. Wenn ich das dann an Hand meiner dankten die Studenten Raum, in dem ein Gewirr von Strippen und Notizen nachvollziehen wollte, war es freilich Hermann im November 1962, als er einen Ruf an die Drähten herrschte. Es sah aus wie ein maus- oft nicht mehr so einfach, und manches habe Technische Hochschule graues Klavier. Der Magnet konnte über zwei ich erst viel später wirklich begriffen.« 5 München ablehnte. Schienen bewegt werden.“ Hartmann brachte in seine Vorlesung nie ein »Er hat die Chemie auf allen Ebenen betrie- Konzept mit. »Er entwickelte eine ganze ben«, so charakterisiert Hartmanns Sohn Olaf Geschichte, das Tafelbild war strukturiert, und die Stärke seines Vaters. Talentierte Doktoranden dann stimmte manchmal das Ergebnis nicht. Ein ermutigte er früh zu selbstständigem wissen- Teil der besseren Studenten wusste schon, wo er schaftlichen Arbeiten. Mit der Empfehlung einen Vorzeichenfehler gemacht oder etwas ver- »Schreib’ mal einen Review-Artikel« ermutigte gessen hatte«, erinnert sich Spiess. Dann trat er seine Mitarbeiter, neue Arbeitsgebiete zu Hartmann einen Schritt zurück und versuchte, erschließen, überließ ihnen auch gleich die sich zu orientieren. »Wenn er einen kannte, Betreuung von Diplomanden. So fügte er seinem fragte er: Haben Sie es schon gesehen? Das war Arbeitskreis immer neue »Zellen« hinzu. beeindruckend. Man war nicht nur passiver In den 1960er Jahren platzte das Institut aus Zuhörer, sondern Teil des Ganzen.« allen Nähten: »Mein Arbeitsplatz hatte die Trotz seiner vielfältigen Verpflichtungen als Institutsdirektor engagierte sich Hartmann auch als Vorsitzender des Diplomprüfungsausschus- ses. Er wollte die jungen Leute kennenlernen und fördern. Wenn Studenten neben dem ­Chemiestudium ein halbes Physikstudium absol- viert hatten, erließ er ihnen – nach Absprache­ mit dem Organiker Prof. Theodor Wieland – auch zeitraubende »Literaturpräparate«.­ Sie gehörten zu den Hürden des Studiums. »Ich habe bei Hartmann immer wieder erlebt, dass zuerst der Mensch kam, auch wenn er gelegent- lich einiges auf seinen Ordinarienbuckel­ neh- men musste, was dem Buchstaben irgend­ welcher Verordnungen vielleicht zuwiderlief« 6, erinnert sich Sillescu. Die Studierenden wussten diesen Einsatz zu schätzen. Als Hartmann 1962 eine Berufung an die Technische Hochschule München ablehnte und 1965 einen Ruf an das Max Planck-Institut für Chemie in Mainz, dankten sie ihm mit Fackelzügen. Hartmann begründete seine Ent- 5

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Anmerkungen

Die Zitate ohne gesonderten Nachweis beziehen sich auf mündliche Mitteilungen von Hans Sillescu und Hans Wolfgang Spiess am 25.2.2014, von Karl Hensen am 6.3.2014 und 24.4.2014, von Olaf Hartmann und Dieter Schuch am 24.4.2014 sowie schriftliche Mitteilungen von Eugen Schwarz am 5.4.2014.

1 Karl Jug, aus dem Manuskript zu einem Buch mit dem voraussichtlichen Titel: »Zweihundert Jahre Entwicklung der Theoreti- schen Chemie im deutsch­ sprachigen Raum (1800 – 2000) 2 Hermann Hartmann, Curriculum vitae, bis 1967, publiziert in: Leopoldina, Mitteilungen, Reihe 3, Jahrgang 13 (1967) 3 Hartmann, Curriculum vitae 6 4 Hans Sillescu: Hermann Hartmann zum 65. Geburtstag, in: Berichte scheidung damit, dass die Förderung der über. Oft merkten die Prüflinge nicht, dass die der Bunsengesellschaft ­Theoretischen Chemie »in erster Linie auch Prüfung schon angefangen hatte.« für Physikalische Chemie ein Unterrichtsproblem darstellt, das von der Bd. 83 (1979), S. 461 Universität aus besser in Angriff genommen »Ich diskutiere nicht« – 1968 und das Ende 5 Martin Trömel: Hermann werden kann.« 7 Die Hessische Landesregierung der alten »universitas« Hartmann und die Theoreti- richtete ihm daraufhin in der Gräfstraße ein Hartmann war ein Ordinarius der alten Schule. sche Chemie im 20. Jahrhun- dert, in: ders. Die Frankfurter ­Institut für Theoretische Chemie ein, das auf »Die Mitarbeiter, Doktoranden und Habilitan- Gelehrtenrepublik. Neue Folge Hartmanns Wunsch allen Interessenten von den redete er mit Meister an und sie nannten (Hrsg. G. Böhme), Schulz- anderen Hochschulen zur Verfügung stehen ihn Großer Meister«, berichtet Karl Hensen, der Kirchner Verlag, Idstein 2002, sollte. in den 1960er Jahren habilitierte. Die Studen- S. 199 – 214 »Hartmann konnte auch unkonventionell tenproteste von 1968 waren mit Hartmanns 6 Ebenda, S. 8 sein«, berichtet sein ehemaliger Assistent Karl Vorstellung der universitas unvereinbar. Die 7 Hartmann, Curriculum vitae Hensen. »Er wohnte in Glashütten, und wenn Vehemenz der Proteste traf ihn umso mehr, 8 Trömel, Hartmann es abends spät wurde, übernachtete er manch- berichtet Olaf Hartmann, als er in den Jahren mal in seinem Büro in der Theoretischen Che- 1967 / 68 als Vertrauensdozent ein offenes Ohr mie. Er kam dann morgens im Schlafanzug aus für die studentischen Anliegen gehabt hatte. »In dem Nachbarbüro und wünschte mir unge- dieser Zeit ist kein einziger Student zu mir zwungen einen guten Morgen.« Über Kollegen gekommen«, habe sein Vater beklagt. konnte er zuweilen hart urteilen: »Der ist so Während Hartmanns Vorlesung äußerten dumm, dass er brummt.« Insbesondere mochte einige Studierende lautstark den Wunsch, über Hartmann keine Angeberei. politische Themen zu »diskutieren«. Er kün- »Er war so, wie ich mir als Kind den deut- digte an, die Vorlesung abzubrechen, und schen Professor vorgestellt hatte: Sein Wissen machte dies auch wahr, als die Störenfriede war breit gefächert. Man bekam von ihm pro- keine Ruhe gaben. Wenig später erschien in funde Antworten, egal ob man ihn zu Kunst, ­seinem Vorzimmer eine Delegation von zehn Musik, Kultur oder Politik befragte. Er kannte Studierenden mit dem Wunsch, diesen Ent- sich manchmal besser aus als die Experten«, so schluss mit ihm zu diskutieren. Hartmann ließ Schuch. »Wenn man ihn besuchte, wusste er durch seine Sekretärin Frau Moldenhauer aus- immer etwas Interessantes zu erzählen und richten, er wolle nicht diskutieren, denn das sei wusste es auf angenehme Art zu vermitteln. im ­aktuellen Sprachgebrauch gleichzusetzen Auch als Prüfer war er bei den Studenten außer- mit »sprechen über Dinge, von denen man ordentlich beliebt. Mit viel psychologischem nichts ­versteht«. Die Studierenden hätten dar- Einfühlungsvermögen gelang es ihm, die Situa- aufhin gebeten, mit ihm »reden« zu dürfen. tion zu entspannen. Er begann ein allgemeines Hartmann empfing die Delegation und ließ Gespräch und leitete allmählich zur Chemie seine Sekretärin Tee kochen. Erstaunt darüber,

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7 Hartmanns Schüler Hans Sillescu als Student und Hans Wolfgang Spiess, Direktor des Max-Planck- Instituts für Polymerforschung. 7

wie umgänglich er war, äußerten die Studenten Durch die Hochschulreform von 1971 verlor nach zwei Stunden die Bitte, Hartmann möge Hartmann seinen Posten als Institutsdirektor auf die Vorlesung wieder aufnehmen. Daraufhin Lebenszeit und musste sich einer demokrati- fragte er sie, warum sie nicht zuvor den Unruhe- schen Wahl stellen. »Zu Anfang weigerte er sich stiftern Einhalt geboten hätten. »Er sagte ihnen: strikt. Er sagte: ›Ich muss mich nicht zum Direk- Auch bei den Nazis war die schweigende Masse tor wählen lassen, ich bin das‹. Schließlich ließ das eigentlich Gefährliche. Dagegen muss man er sich von seinen engsten Mitarbeitern über- rigoros vorgehen«, schildert Hensen die Szene. zeugen«, berichtet Hensen. Der Tag der Wahl Hartmann habe befürchtet, dass sich eine Politi- kam, und Hartmann erhielt keine Mehrheit. sierung der Hochschule, wie er sie bereits wäh- »Das hat ihn sehr getroffen«. Mit dem, was von rend des Nationalsozialismus erlebt hatte, wie- der Universität nach der Hochschulreform übrig derholen könnte. Dagegen habe er sich mit blieb, wollte er fortan nichts mehr zu tun haben. einer Leidenschaft gewandt, »die ich an ihm »Die Gesamtentwicklung der Demokratisierung sonst nie erlebt habe« 8, berichtet Trömel. Hart- der Hochschulen passte nicht in sein Weltbild. mann blieb bei seiner Entscheidung. »Er sagte Für ihn war das der Verlust der alten universitas, zu König und mir: Das sind ja doch arme wie er sie kannte. Er hat sich mit Adorno getrof- Schweine. Sie verlieren dadurch vielleicht ein fen. Er sprach fließend griechisch. Es passte nicht Jahr ihres Studiums«, berichtet Hensen. Und so mehr in den Zeitgeist nach der Hochschulre- wurden alle Studierenden des ersten und form. Er hat es wohl bedauert, dass er den Ruf ­zweiten Semesters zu einem Privatissimum bei nach Mainz abgelehnt hat«, sagt Spiess. Hartmann eingeladen. Hartmann lehrte an der Goethe-Universität bis zu seiner Emeritierung 1982, zog sich aber vom regulären Universitätsbetrieb zurück, indem er mit Unterstützung der Akademie der Wissen- schaften und Literatur zu Mainz 1973 an seinem Wohnort in Glashütten eine Arbeitsstelle für Theoretische Chemie errichtete.

»Wir denken lieber« Als Hartmann 1962 gefragt wurde, ob er an ­seinem Institut Computer habe, antwortete er: »Ja, haben wir auch, aber wir denken lieber«, erinnert sich Hensen. Er stand der numerischen Lösung von Problemen mithilfe von Computern kritisch gegenüber. »Am number crunching Die Autorin war er nicht interessiert. Er wollte verstehen anhand einfacher Modelle. Da ist die Entwick- Dr. Anne Hardy, Jahrgang 1965, studierte Physik lung der theoretischen Chemie über ihn hinweg an der RWTH Aachen und schloss mit einer gegangen«, urteilt Spiess. Die große Leistung Diplomarbeit in Physikalischer Chemie ab. Sie Hermann Hartmanns sieht er vor allem darin: promovierte in Wissenschaftsgeschichte an der »Er war ein Mann der ersten Stunde. Er hat die TU Darmstadt. physikalische Chemie im wahrsten Sinne des [email protected] Wortes aufgefasst als Bindeglied zwischen ­Physik und Chemie.« 

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Startrampe für Nanokosmologen Heinz Rüterjans etablierte in Frankfurt die biomolekulare Magnetresonanz

von Joachim Pietzsch

Frankfurt ist eine weltweit sichtbare spiel der Moleküle immer deutlicher nach. Auf 1 Prof. Heinz Rüterjans 1993 Hochburg der biophysikalischen Chemie. dieser Entdeckungsreise ist die Magnetresonanz- mit einem Modell des spektroskopie ein unverzichtbares Gefährt. Im Verdauungs-Moleküls Trypsin Jenseits der Fachwelt ruft diese Aussage mit Trypsin-Inhibitor. aber eher Achselzucken hervor. Dabei Gegensatz zur Röntgenkristallografie, die künst- lich erstarrte Strukturen entschlüsselt, vermag könnte sich die Disziplin mit Fug und Recht diese Technik die Form von Molekülen in ihrer »Nanokosmologie« nennen und damit natürlichen Umgebung zu erfassen und damit einiges Aufsehen erregen. deren Dynamik zu verstehen. Wenig wahrge- nommen von der Öffentlichkeit versteckt sie it physikalischen und chemischen sich als »NMR« (für »Nuclear ­Magnetic Reso- Methoden dringen Forscher – einer nance«) im Jargon der Grundlagenforschung, MRaumfahrt ins Innere des Körpers ver- während sie in ihrer medizinischen Anwendung gleichbar – immer tiefer in die kleinsten Dimen- als Kernspintomografie einen hohen Bekannt- sionen des Lebens vor, die viel weiter von unse- heitsgrad genießt. ren alltäglichen Größenordnungen entfernt sind Heinz Rüterjans, der 1978 auf den neu als der Mond, und zeichnen dort das Zusammen- geschaffenen Lehrstuhl für Biophysikalische

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2 Arbeitsgruppen, die heute am Zentrum für Biomolekulare Magnetische Resonanz arbeiten. Die modernen Spektrometer stehen Wissenschaftlern aus ganz Europa zur Verfügung.

Chemie an der Goethe-Universität berufen Natürlich wusste Rüterjans auch vom spezifi- wurde und ihn bis zu seiner Emeritierung 2003 schen Genius Loci Frankfurts für sein Fachgebiet. ein Vierteljahrhundert lang innehatte, verhalf Hatten doch hier Otto Stern und Walther Gerlach nicht nur der NMR in Frankfurt zu einem gran­ im Februar 1922 ihr berühmtes Experiment aus- diosen Aufschwung, der die Goethe-Universität geführt, bei dem sie einen Strahl von Silber­ zu einem ihrer Weltzentren werden ließ. Er war atomen in einem nicht homogenen Magnetfeld auch maßgeblich daran beteiligt, den Studien- in zwei Teile trennten. Dadurch wiesen sie gang Biochemie zu gründen und das Biozentrum nach, dass Atome einen eigenen Magnetimpuls auf dem Campus Riedberg ins Leben zu rufen. haben, und entdeckten vor allem, dass dieser nur bestimmte Richtungen einnehmen kann, Die Stadt hatte ein schlechtes Image, wenn die Atome dem Einfluss eines äußeren aber die Uni lockte ihn Magnetfeldes ausg esetzt sind. Ihre magnetischen Dabei hatte ihm eigentlich nichts ferner gele- Momente oder Spins sind dann im Raum quanti- gen, als nach Frankfurt zu gehen. Als Professor siert und liegen meist nur in zwei Zuständen vor, für biophysikalische Chemie in Münster hatte er deren Energiegehalt sich umso mehr voneinan- sich in den 1970er Jahren zu einem heraus­ der unterscheidet, je stärker das äußere Magnet- ragenden Spezialisten für die Analyse von Bio- feld ist. Auf dieser in Frankfurt gewonnenen molekülen mithilfe der Magnetresonanz entwi- Erkenntnis aufbauend, entwickelten Isaac Rabi, ckelt. Er war ein Pionier auf einem Zukunftsfeld, Felix Bloch und Edward Purcell in den USA bis das es erst zu erschließen galt, und konnte dem- Ende der 1940er Jahre das Grundprinzip der entsprechend zwischen verschiedenen Ange­ NMR-Spektroskopie, das sich zunächst auf die boten renommierter Universitäten wählen. Das Aufzeichnung des magnetischen Spins von Was- Image von Frankfurt aber war damals auf einem serstoffkernen konzentrierte. Tiefpunkt. »Meine Frau und ich hatten ausge- macht, dass diese Stadt überhaupt nicht in Frage Magnetfelder bändigen Wasserstoffkerne kam.« Dass ihm die dortige Universität jedoch In wässriger Lösung richten sich diese Spins eine einmalige Chance böte, Neues aufzubauen, normalerweise zufällig in beliebige Richtungen und es sich deshalb lohne, nach Frankfurt zu aus. In einem Magnetfeld jedoch drehen sie sich wechseln, davon überzeugten ihn sowohl sein wie ein Kreisel um dessen Achse, so wie der Münsteraner Chef Ewald Wicke als auch Frank- Nordpol eines kleinen Stabmagneten den Süd- furter Kollegen, die seine wissenschaftliche pol des ihn umgebenden Feldes sucht – oder Leistung und seine interdisziplinäre Kollegialität umgekehrt, denn nach den Quantengesetzen schätzten, darunter Hugo Fasold, mit dem er kann jeder Wasserstoffkern nur eine von zwei später den Studiengang Biochemie schuf. Richtungen zum Magnetfeld wählen. Die Fre-

66 2.2014 | Forschung Frankfurt Fächerkulturen quenz des Kreisels ist proportional zur Stärke Arbeitsgruppe von Münster an den Main zog. des äußeren Magnetfelds. Durchpulst man die Fünf Tonnen wogen die Geräte, und um sie in Flüssigkeit nun mit Radiostrahlen, deren Fre- das Gebäude der Sofort-Chemie in Niederrad zu quenz der Rotation der beiden Spins entspricht, wuchten, mussten dessen Fenster teilweise ein- dann springen diese von einer Energiestufe zur gerissen werden. Im Lauf der Jahre wurden dort anderen. Die Energie, die die Radiostrahlen auf dem Klinikumsgelände unter Rüterjans’ dabei verbrauchen, wird gemessen. Sie ergibt Ägide weitere Deutschlandpremieren der NMR- das NMR-Signal für das jeweilige Wasserstoff­ Leistungsfähigkeit gefeiert, erst 500, dann 600 atom. Diese Resonanz ist für jedes Wasserstoff­ Megahertz, sensible Riesen, die so empfindlich atom eines Moleküls verschieden, denn sie waren, dass sie anzeigten, »wie der Zug nach hängt von seinen Wechselwirkungen und elekt- Basel nach dem Überqueren des Mains von der romagnetischen Kopplungen mit den Atomen Brücke ›hüpfte‹«, wie sich ein Rüterjans-Mitar- seiner Umgebung ab. Mit speziellen Techniken beiter erinnert. Denn 200 Meter entfernt zogen lassen sich diese Unterschiede messen und zur die Bahngleise vorbei und jeder Zug brachte die Strukturbestimmung heranziehen. Auch Bewe- Spektrallinien zum Zittern. gungsvorgänge des Moleküls kann die NMR- Gleich nach seiner Ankunft in Frankfurt Spektroskopie erfassen. hatte sich Rüterjans darangemacht, das erste 500-Megahertz-Spektrometer bei der Deut- Kindertage der NMR in den USA schen Forschungsgemeinschaft zu beantragen. Als Heinz Rüterjans Chemie studierte, war dieses Sein kooperatives Naturell gereichte ihm dabei Wissen noch kaum in die Lehrbücher eingedrun- zum Vorteil, band er doch zehn verschiedene gen. Erst als Postdoktorand bei Harold Scheraga Arbeitsgruppen der Goethe-Universität und an der Cornell University begann Rüterjans Mitte benachbarter Universitäten ein, um die Bewilli- der 1960er Jahre, die Kernresonanzmethode ein- gungschancen zu erhöhen. Kein leichtes Unter- zusetzen, um die Vorgänge im aktiven Zentrum fangen, denn am Fachbereich Chemie gab es des Enzyms Ribonuclease zu studieren, dessen Widerstände gegen den Neuankömmling, der Struktur damals noch nicht aufgeklärt war. dem konkurrierenden Fachbereich Biochemie, Zurück aus den USA, hielt er 1966 seinen ersten Pharmazie und Lebensmittelchemie angehörte. Vortrag in Deutschland vor der Gesellschaft für Rüterjans konnte aber Horst Kessler, der sich biologische Chemie in Frankfurt und beein- an seinem Lehrstuhl für organische Chemie druckte im Altbau der Chemie sein Publikum mit NMR-Analysen bereits erfolgreich etabliert seinen Forschungsergebnissen. »NMR-Studien hatte, bald als Mitantragsteller gewinnen. Kess- an biologischen Makromolekülen waren damals lers Gruppe, darunter seine Doktoranden Chris- etwas völlig Neues.« Bei Scheraga hatte Rüter- tian Griesinger (der 1990 sein Nachfolger jans mit einem 60-Megahertz-Gerät gearbeitet, wurde), und Harald Schwalbe (der 2001 Grie- dessen Magnetfeld zu schwach war, um aus­ singers Nachfolger wurde), stand ein Fünftel der reichend differenzierte Signale zu erhalten. Er Messzeit am Spektrometer zur Verfügung. Frei- wusste, dass er NMR-Spektrometer mit einer lich blieb diese Zeit ein äußerst knappes Gut, das 3 Frank Löhr bei wesentlich höheren Auflösung brauchte, um gerecht zu verteilen Rüterjans weitgehend sei- Wartungs­arbeiten am seine Forschung fortzusetzen. nem »Innenminister« Helmut »Knut« Hanssum 500 MHz Spektrometer. Tatsächlich gelang es ihm später in Münster, überließ. das erste NMR-Spektrometer in Deutschland auf- zustellen, das einen supraleitenden Magneten enthielt, der eine Auflösung von 270 Megahertz ermöglichte. Es war gleichzeitig das erste Gerät mit automatisch integrierter Fourier-Transforma- tion, einer mathematischen Operation, die eine zeitabhängige in eine frequenzabhängige­ Funk- tion verwandelt, was die Resonanzen aus extrem kurz gesetzten Radioimpulsen in ein lesbares Spektrum übersetzt und so die NMR-Sensitivität erheblich erhöht. Damit profitierte Rüterjans von einer Erfindung seines Züricher Kollegen Richard Ernst, der unter anderem dafür 1991 den Nobel- preis für Chemie erhielt.

Das Spektrometer passte nicht durch die Fenster Für die Goethe-Universität war es ein Glücks- fall, dass Rüterjans das moderne Spektrometer mitnehmen durfte, als er 1978 mit seiner

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Väter des Biozentrums tätsgebäude in Deutschland (ist), die man lieber So wuchsen die einst getrennten Fachbereiche, verlässt als betritt«. Heinz Rüterjans zog mit dem die heute längst vereint sind, nicht zuletzt durch Institut für biophysikalische Chemie in das erste die gemeinsame Nutzung einer teuren Methode Obergeschoss. Die NMR-Spektrometer fanden in allmählich zusammen. Dabei wurde ihnen im einem eigens errichteten Anbau mit besonders Lauf der 1980er Jahre immer bewusster, dass sie festem Fundament Platz. »Der Umzug ins Bio- auch räumlich näher zusammenrücken müssten. zentrum war ein ganz gewaltiger Sprung«, erin- Die Pläne für ein Biozentrum neben den chemi- nert sich Rüterjans. »Der Austausch zwischen schen Instituten auf dem Riedberg nahmen den Disziplinen erreichte eine Intensität, die vor- Gestalt an. Der Biochemiker Hugo Fasold, damals her nicht möglich schien.« zeitweilig Vizepräsident der Goethe-Universität, Von den neuen Möglichkeiten beflügelt, und Heinz Rüterjans gehörten zu den treibenden knüpfte Rüterjans, unterstützt von seinem Kol- Kräften für deren Verwirklichung. Sie fanden die legen Griesinger und gefördert von der Euro­ Unterstützung von Universitätspräsident Klaus päischen Union, ein immer dichteres Netz Ring, selbst ein Biologe, der im Bau des Bio­ ­europäischer Zentren für biomolekulare NMR. zentrums eine Schlüsselinvestition in die Weiter- Birmingham, Florenz, Frankfurt, Lyon und entwicklung der Universität Frankfurt sah. Utrecht sind nur seine wichtigsten Knoten- Wie sinnvoll es sei, in Frankfurt eine fächer- punkte. »Zeitweise haben bei mir gleichzeitig übergreifende Kooperation der Naturwissen- Wissenschaftler aus zehn Nationen gearbeitet.« schaften in Forschung und Lehre baulich zu Mit der Anschaffung immer größerer Geräte begründen, erkannte auch die Landesregierung und der Einrichtung einer Professur für Festkör- und schrieb im Frühjahr 1987 einen Architektur- perspektroskopie stießen die NMR-Räume auf wettbewerb aus, aus dem die Wiener Architekten dem Riedberg an ihre Grenzen. Eine Erweite- Holzbauer und Mayr als erste Preisträger hervor- rung wurde notwendig. gingen. Im selben Jahr erhielt Heinz Rüterjans einen Ruf auf einen NMR-Lehrstuhl an der Krönender Abschluss einer Karriere Freien Universität Berlin. In den Bleibeverhand- Im Schulterschluss mit Universitätspräsident lungen bestand er im Einklang mit seinem Kolle- Werner Meißner warb Rüterjans dafür millio- gen Fasold darauf, baldmöglichst einen Studien- nenschwere Unterstützung von der Landesregie- gang Biochemie in Frankfurt einzurichten. rung ein. Dabei beeindruckte ihn vor allem das Am 7. November 1989 erfolgte der erste Spa- engagierte Entgegenkommen von Wissenschafts- tenstich für das Biozentrum, am 14. Januar 1994 ministerin Ruth Wagner. Der krönende Abschluss wurde es offiziell eröffnet – ein langgestreckter seiner Karriere war 2002 die Gründung des Zen- Bau, der sich dem bestehenden Chemie-Ensem- trums für biomolekulare magnetische Resonanz ble anschmiegt und mit drei Querhäusern wie (BMRZ) auf dem Campus Riedberg, das heute mit Fingern ins Land zeigt. Ein Zentrum, dessen über 16 NMR-Spektrometer verfügt. »Das NMR- gläsern überdachte Eingangsgalerie »Kommuni- Zentrum in Frankfurt gäbe es nicht ohne Heinz kation unumgänglich werden« lässt, wie es Rüterjans. Er hat die Weichen gestellt«, bekräf- Klaus Ring formulierte, und damit »weit ent- tigte sein Schüler Thomas Peters bei seiner Ver- fernt von der Gesichtslosigkeit anderer Universi- abschiedung 2003. Auf diesen Weichen fahren die Forscher des Fachbereichs 14 immer neuen Entdeckungen entgegen. Gerade hat der Wissenschaftsrat ihnen rund 24 Millionen Euro für die Anschaffung des ersten 1,2-Gigahertz-Spektrometers in Deutsch- land bewilligt. »Konnten wir uns bisher die Fal- tung und Fehlfaltung von Proteinen im Sekun- dentakt anschauen, so werden wir mit dem neuen Spektrometer um einen Faktor zehn schneller sein. Damit kommen wir in biologisch relevante Zeitskalen, was auch dazu beiträgt, die Entstehung von Krankheiten wie Alzheimer bes- ser zu verstehen«, erklärt der Haupt­antragsteller Harald Schwalbe. »Wir werden mithilfe dieses Der Autor Spektrometers­ auch sehr kurzlebige Zwischen- Joachim Pietzsch, 55, lebt und arbeitet als freier produkte biochemischer Reaktionen strukturell Wissenschaftsjournalist in Frankfurt am Main. charakterisieren können«, ergänzt BMRZ-Leiter Clemens Glaubitz. Aus der Frankfurter Schule www.wissenswort.com der Nanokosmologie, so steht zu erwarten, wird noch viel Neues zu hören sein. 

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Neben dem Periodensystem hängt der genetische Code Gerhard Quinkert schuf das Frankfurter Modell der Chemischen Biologie

von Beate Meichsner

Mit dem Namen Gerhard Quinkert verbindet man in Frankfurt vor allem die Öffnung der Chemie für die Biologie. Das war damals ein außergewöhnlicher Schritt, der dank einer gezielten Berufungspolitik realisiert wurde. Der Organische Chemiker hat das »Frankfurter Modell« Ende der 1970er Jahre entwickelt.

uinkerts Modell sah vor, neben einer er spezifisch chemische Antworten auf ­biolo ­starken organischen Synthesechemie, die gische Fragestellungen erarbeiten. Q durch seine Professur und die seiner So wurden als Vertreter dieser neuen Metho- Die konsequente Öffnung Nachfolger (Johann Mulzer und Michael Göbel) den die NMR-Spektroskopiker Horst Kessler, der Chemie für die Biologie vertreten sein würde, molekularbiologische, Christian Griesinger und Harald Schwalbe beru- war Prof. Gerhard Quinkert auch in seinen Vorlesungen strukturbiologische und moleküldynamische fen, der Bioorganiker Joachim Engels und der ein großes Anliegen. Methoden zu etablieren. Auf diese Weise wollte Kristallograf und Kraftfeldentwickler Ernst Egert. Mit seiner strategischen Ausrichtung hat das Institut bis heute eine Vorreiterrolle in Sachen Berufungspolitik. 1995 startete in der ersten Runde ein von der Deutschen Forschungsge- meinschaft (DFG) gefördertes Graduierten­ kolleg zum Thema »Chemische und Biologische Synthese von Naturstoffen«. Das Forschungs- konzept – Organische Synthese und Struktur- biologie mit physikalischen Methoden sowie Chemieinformatik zu verknüpfen – ist bis heute über die vorhandenen Professuren verankert und spielt auch bei Neuberufungen eine wesent- liche Rolle. Auch die Rolf-Sammet-Gastprofes- suren, von Quinkert vor mehr als einem Viertel- jahrhundert initiiert, präsentieren jedes Jahr aufs Neue aktuelle Themen der Chemie an der Nahtstelle zur Biologie.

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Das Freitagsseminar Ein Höhepunkt des Chemiestudiums

egendär waren die Freitagsseminare von Antworten kamen, nach denen er uns nicht L Prof. Quinkert. Großer Auftritt. Wissenschaft gefragt hatte. und Wissenschaftsgeschichte und -politik. Die Quinkert hatte ein sehr genaues Gespür Herausforderung bestand darin, dass Quinkert dafür, was wir würden hinbekommen können. eine Aufgabe an die Tafel malte und die Dabei war er im Lob überschwänglich, aber Studenten bat, diese zu lösen: zum Beispiel: man wollte auch nicht in den Blickwinkel seiner Prof. Harald Schwalbe Wie würden Sie dieses komplexe Molekül Kritik kommen, das konnte sehr ungemütlich studierte von 1985 bis 1990 Chemie an der synthetisieren? werden. Aber dieses Freitagsseminar, von 16 Goethe-Universität. Er Quinkert ließ uns auf dieser Basis allein. bis 18 Uhr, jede Woche, insbesondere in der besuchte während seiner Mehr suggestive Fragen gab es nicht. Und das Vorlesungsfreien Zeit, war ein Höhepunkt des Studienzeit das Freitags­ größte Lob, das er verteilte, war, wenn wir mit Chemiestudiums.« seminar von Prof. Quinkert.

Gerhard Quinkert, von 1970 bis 1995 Direk- Proteine oder Polyketide einbauen zu müssen, tor des Instituts für Organische Chemie der verwendet die Arbeitsgruppe von Martin Gri- Goethe-­Universität, hat auch nach seiner Eme- ninger Fettsäuresynthetasen. Natürlich gibt es ritierung den »biologischen« Weg der Frankfur- viele Überlappungen der Chemischen Biologie ter Chemie konsequent weiterbegleitet. Mit mit der Biochemie. So wie man biologische Stolz verweist er darauf, dass heutzutage in den Zusammenhänge in der Sprache der Chemie ­Chemiehörsälen der Frankfurter Universität das verstehen lernt, dienen die Methoden der Che- ­Periodensystem und der genetische Code gleich- mie heute als Werkzeuge, um diese Zusammen- berechtigt nebeneinanderhängen. Nicht ohne hänge zu verändern – insbesondere im medizi- anzudeuten, dass heute ein phylogenetischer nischen Kontext. Stammbaum eigentlich verpflichtend dazukom- Heutzutage befassen sich die Frankfurter men müsste, um den Aspekt der Evolution in Forscher am Institut für Organische Chemie und der Biologie als wesentlich andere Modell­ Chemische Biologie mit der chemischen und bildung im Vergleich zur Physik zu betonen. biologischen Synthese von Molekülen. Sie Aus seiner Sicht – und diese Sicht ist mittler- bestimmen die Struktur von Biomakromole­ weile Allgemeingut – gehören Chemie und Bio- külen mit NMR-Spekt- logie zusammen. roskopie und Röntgen- strukturanalyse sowie der Besser als die natürlichen Vorbilder chemischen Informatik Chemische Biologie bedeutet, biologische Fra- und untersuchen die gestellungen mit chemischen Methoden zu Funktion von biologisch lösen. Hier hat die Synthesechemie eine wich- aktiven Molekülen. Ihr tige Aufgabe. Ihr Ziel ist nicht nur, kleine natür- Ziel ist es, auf der Grund- liche Moleküle zu synthetisieren, die in leben- lage von Experimenten den Zellen wirken, sondern auch völlig neue und theoretischen­ Kon- Substanzen, die besser wirken als ihre natür­ zepten diejenigen­ Merk- lichen Vorbilder. Photochemie war eine der Spe- male von Molekülen zu zialitäten von Quinkert. Interessanterweise identifizieren,­ die biolo- spielt die Nutzung von Licht heute erneut eine gisch aktiv sind. herausragende Rolle im Institut, vertreten durch Den Grundstock zu Die Autorin die Gruppen von Alexander Heckel und Harald all dem hat Gerhard Schwalbe: Sie verwenden Licht als gezieltes Quinkert gelegt, als er Dr. Beate Meichsner, 59, studierte Chemie exogenes Schaltsignal. Und zur Synthese wer- gegen manchen Wider- an den Universitäten in Köln und München. den inzwischen ganze Zellen und ihre gentech- stand seine Idee von den Die freie Wissenschaftsjournalistin ist mit dem Ehepaar Quinkert seit vielen Jahren befreundet. nisch veränderten Varianten herangenommen, zwei Fächern, die zusam- aber auch isolierte zelluläre Maschinen wie die mengehören, in die Tat [email protected] Ribosomen. Um nicht natürliche Bausteine in umgesetzt hat. 

Forschung Frankfurt | 2.2014 71 Auf dem Weg zu einer ­globalen Jurisprudenz? Rechtswissenschaft zwischen Nationalstaat und Weltgesellschaft von Thomas Duve

Die Welt des Rechts lässt sich heute nicht mehr so leicht in nationale oder internationale Sphären ordnen. Wo Lawmaker als private Akteure in einer globalisierten Ökonomie die Normen häufig nachhaltiger bestimmen als staatliches Recht, da ändern sich auch die Anforderungen an die Rechtswissenschaft. Illustration: Elmar Lixenfeld

ie Rechtswissenschaft als Teil des Wissen- also eine wesentliche Leistung für das Funk­ schafts- wie auch des Rechtssystems ist tionssystem ›Recht‹. Und sie strukturiert, beob- Ddurch die fortschreitende Globalisierung, achtet und kritisiert dieses Recht – nicht zuletzt Digitalisierung und Ökonomisierung gleich in darin liegt ihr Anspruch auf Wissenschaftlich- zweierlei Hinsicht betroffen: einmal durch die keit begründet. Herausbildung globaler Wissensstrukturen, aber Es war neben ihrer intellektuellen Leis- 1 »Coram iudice et in alto auch durch die Veränderungen ihres Gegen- tungsfähigkeit dieses gestalterische Potenzial, mari sumus in manu Dei.« stands, der juridischen Steuerungs- und Ent- das der deutschen Rechtswissenschaft im 19. (»Vor dem Richter und auf hoher See sind wir in Gottes 1 scheidungssysteme. Die damit verbundene und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Hand.«): vom Navigieren in Tendenz zur Internationalisierung und Trans­ international eine Sonderstellung verliehen hat. fluiden Rechtsräumen. nationalisierung steht im Fall der Rechts- Ihre Diskussionen und Ergebnisse wurden in wissenschaft – anders etwa als bei den Natur- vielen Nationalkulturen in und jenseits Europas wissenschaften – in einer nicht unerheblichen beobachtet und in die jeweiligen Normen­ Spannung zu Forschungsgegenstand und einer systeme übersetzt. Von Asien bis Amerika rezi- der wichtigen Aufgaben der Rechtswissenschaft pierte man – meist sprachlich und stets kulturell selbst: Denn diese richtet sich auf das trotz aller übersetzte – Texte von Autoren deutscher Spra- europäischen oder internationalen Impulse che, man las Gesetze und Verfassungen aus der auch heute noch überwiegend nationalstaatlich Werkstatt der deutschen Rechtswissenschaft. gesetzte Recht. Die Rechtswissenschaft muss Viele nationale Rechtsordnungen, aber auch das dem nationalen Rechtssystem neben einer leis- europäische und das internationale Recht tungsfähigen juristischen Dogmatik auch gut ­zeugen noch heute von diesem Einfluss. Aber: ausgebildete Juristinnen und Juristen zuführen, unsere Sprache, unser immer feingliedrigeres als Ministerialbeamte, Wissenschaftlerinnen Systemdenken und zum Teil auch unser aus oder Richter. Sie trägt damit – idealiter – zur ­dieser Zeit des Glanzes stammendes Selbstver- Gewährleistung von Rechtssicherheit bei, erfüllt ständnis haben inzwischen die internationale

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die Industrienationen oder Räume intensiver rechtlicher Kooperation beschränkt. Im Gegen- teil: Durch Einbindung der sogenannten Ent- wicklungs- und Schwellenländer in die ­Welt- wirtschaft, als Produktionsstätten oder Rohstoff- lieferanten, wurde die dort lebende Bevölke- rung vielfach Regeln und Praktiken unter­ worfen, die weder lokal noch staatlich noch international legitimiert, sondern allein von nicht-staatlichen Akteuren entworfen worden sind. Die angesichts von Korruption, Bürokratie und Arbeitslosigkeit in vielen Staaten durchaus mit Hoffnungen begonnenen Prozesse der ­Deregulierung und Öffnung für ausländische Investitionen haben sich nicht selten als kontra- produktiv erwiesen: Die im staatlichen Rechts- system potenziell verfügbaren Sicherungen gegen die Akkumulation von Marktmacht, Kontrollmechanismen und Rechtsschutzinstan- zen laufen in dem größeren Raum nicht-staat­ lichen Handelns leer, mit zum Teil gravierenden Folgen für die Menschen. 2 In den letzten Jahrzehnten hat sich so auch ein regelrechter Markt für dieses neben den 2 Transnationales Recht Rezeption der deutschen Rechtswissenschaft staatlichen Strukturen praktizierte »Recht« mit vor der Zeit nationaler deutlich beeinträchtigt. seinen entsprechenden kommunikativen und Rechts­ordnungen. institutionellen Netzwerken gebildet. Zum Teil Vorwort eines Texts zu »Gerechtigkeit und Recht« Ein neuer Markt: Wenn private »Lawmaker« konnte man dabei auf schon seit den späten in der »lingua franca« und »Legal Entrepreneurs« aktiv werden 1960er und 1970er Jahren intensivierte Versu- der Frühen Neuzeit: Die Welt des Rechts lässt sich heute nicht mehr che aufbauen, mit dem Recht europäischer oder Latein (Pedro de Aragon, so leicht in nationale, regional integrierte oder nordatlantischer Provenienz eine nach dem »De Iustitia et Iure«, Venedig, 1608). internationale Sphären ordnen. Die großen westlichen Vorbild entworfene Modernisierung Umwälzungen der letzten Jahrzehnte – Globali- zu exportieren (Theorien des »Legal Transplant«; sierung, Ökonomisierung, Digitalisierung – »Law and Development«). Inzwischen sind viele haben einen Prozess der »Entstaatlichung« von dieser modernisierungstheoretisch inspirierten Recht und Justiz beschleunigt, zu einer umfang- Hoffnungen gescheitert, und nicht selten domi- reichen Verlagerung der Rechtserzeugung und nieren inzwischen große Anwaltsfirmen und Rechtsdurchsetzung auf private Akteure geführt Beratungsunternehmen, aber auch eine stetig sowie zum Anwachsen neuer Formen von Nor- wachsende Vielfalt von ganz unterschiedlichen mativität, an denen die Staaten nicht mehr oder »Legal Entrepreneurs« das Feld. Nicht zuletzt nur noch gering beteiligt sind. Die Produkte US-amerikanische Hochschulen haben diesen ­solcher nicht-staatlichen Regelungskollektive Markt für sich entdeckt, auch die großen Verlage beeinflussen schon jetzt nationalstaatliches tummeln sich zusehends auf ihm – und pro­ Recht, lösen Veränderungen aus und betreffen duzieren für ihn. Das bleibt nicht ohne Rück­ in vielen Fällen die Menschen unmittelbar. In wirkungen auf die Wissenschaft selbst, die sich einigen Lebensbereichen werden inzwischen sprachlich und konzeptionell anglisiert. Nicht die früher auf der Grundlage nationalen Rechts wenige Beobachter sind beunruhigt über die entworfenen Vereinbarungen von neuen Regel- Herausbildung dieser sich selbst stabilisierenden werken verdrängt, oft auf aus dem angloameri- und kaum kontrollierten Regelsysteme. Globali- kanischen Recht stammenden Praktiken beru- sierung, Ökonomisierung und Digitalisierung hend, auf Modellvereinbarungen oder auf der haben also nicht nur viele Rechtsfragen auf­ Normsetzung und Rechtsprechung transnatio- geworfen, sondern auch die Welt des Rechts – naler »(Judicial) Lawmaker«. Eine große Masse und die Art, wie wir unser Wissen vom Recht neuer nicht-staatlicher Normen und Entschei- erzeugen – selbst verändert. dungsinstitutionen ist herangewachsen – beson- ders sichtbar im Umfeld des Internets, im Vom Navigieren in fluiden Rechtsräumen – Bereich der Wirtschaft und im Sport. 2 Grenzen und Notwendigkeit einer Die Bedeutung dieses die Grenzen nationaler »Transnationalen Rechtswissenschaft« oder auch supranationaler Institutionen über- Seit mehr als 50 Jahren steht mit »Transnational schreitenden Rechts ist keineswegs auf Europa, Law« ein Begriff zur Bezeichnung für nicht-

74 2.2014 | Forschung Frankfurt Fächerkulturen staatliches Recht und nicht-staatliche Verfahren zur Verfügung, die sich über mehr als eine Juris- Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte diktion erstrecken. Die starke Präsenz dieses »Transnational« oder »Global Law« vor allem 50 Jahre Forschung zur seit den 1990er Jahren, die Erschließung von Ausbildungs-, Rechtsberatungs- oder Publikati- Transnationalen Rechtsgeschichte onsmärkten bedeutet freilich noch lange nicht as Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in die Entstehung einer »Transnationalen Rechts- Frankfurt ist eines von 83 Instituten der Max-Planck-Gesell- wissenschaft«. Denn allein die Beschäftigung schaft. Seit seiner Gründung im Jahr 1964 erforschen hier mit einem Gegenstand konstituiert noch keine D Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Grundlagen zur Wissenschaft. Ein Blick auf das Europarecht und Geschichte des Rechts in und jenseits von Europa. Während der seine Geschichte mag das verdeutlichen: Auch Gründungsdirektor Helmut Coing die Anfangsjahre maßgeblich mit hier hatten zunächst Enthusiasten und politi- seinen Arbeiten zur Privatrechtsgeschichte in Europa prägte, sche Akteure das Feld besetzt, während die nati- ergänzten Walter Wilhelm, Dieter Simon, Michael Stolleis und Marie onalen Rechtswissenschaften das europäische Theres Fögen dieses Forschungsfeld sukzessive um die Geschichte Recht lange Zeit in ihre eigenen Bezugssysteme des Öffentlichen Rechts, des Völkerrechts, des Strafrechts, des Rechts übersetzt und damit nationalisiert oder um des modernen Osteuropas und der europäischen Diktaturen des die Präsenz ihrer eigenen Traditionen auf 20. Jahrhunderts. Heute akzentuiert Thomas Duve den transnationalen ­europäischer Ebene und die damit verbundene Ansatz der europäischen Rechtsgeschichte mit globalhistorischen Deutungshoheit über das Recht gekämpft Perspektiven und Forschungen zur Rechtsgeschichte in Lateiname- haben. Noch heute heißt es, dass eine über die rika. Die Forschungsschwerpunkte des Instituts sind Multinormativität, Summe nationaler Diskurse hinausgehende Translation, Rechtsräume und Konfliktregulierung. europäische Europarechtswissenschaft, die Der interdisziplinäre Forschungsansatz, die institutseigene nicht nur über dieselben Gegenstände spricht, Spezialbibliothek mit inzwischen über 420.000 Medieneinheiten, die sondern ihre Grundbegriffe und Methoden Publikationen und die interinstitutionelle wie internationale Vernetzung europäisiert, noch am Anfang stehe. 3 bieten weltweit einmalige Arbeitsbedingungen. Sie haben das Institut Die institutionellen und intellektuellen Her- über die Jahre zu einem Referenzpunkt der weltweiten »scientific ausforderungen einer »Transnationalen Rechts- community« werden lassen, die über die Vergangenheit und Gegen- wissenschaft« dürften nun um noch einiges wart unserer nationalen und transnationalen Rechtsordnungen ­größer sein. Denn können wir im Fall Europas forscht. Im Jahr 2013 hat das Max-Planck-Institut einen eigenen auf ein teilweise jahrhundertelanges Kommu­ Neubau auf dem Gelände des Campus Westend bezogen. nikationsgeschehen blicken, auf intensive Ver- Die Zusammenarbeit mit der Goethe-Universität und der Wissen- flechtungen, auf die Herausbildung einer in schaftsregion Rhein-Main spielt eine wichtige Rolle. Mit fünf Profes- vielerlei Hinsicht ähnlichen Grammatik und suren messen Universität und Fachbereich der Rechtsgeschichte eine eines Vokabulars des Rechts, nicht zuletzt auch auch im internationalen Maßstab herausragende Bedeutung zu. Durch auf identitätsstiftende Prozesse der »Europä­ Kooperationen etwa im Exzellenzcluster »Die Herausbildung normati- isierung Europas«, so ist dies im Weltmaßstab ver Ordnungen« , dem LOEWE-Schwerpunkt »Außergerichtliche und natürlich nicht der Fall. Und verfügen wir im Gerichtliche Konfliktlösung« (2012 – 2014) oder das von Universität und Fall Europas über einen festen institutionellen Max-Planck-Institut an der Mainzer Akademie der Wissenschaften Rahmen, ein Umfeld politischer, wirtschaft­ und der Literatur durchgeführte Langzeitvorhaben ›Die Schule von licher und rechtlicher­ Integration und arbeiten Salamanca‹ (seit 2013) tragen Universität und Max-Planck-Institut auf einen europäischen Forschungsraum hin, dazu bei, den Standort Frankfurt am Main als Ort der Normativitäts­ in dem sich gemeinsame Themen, Methoden, wissenschaft zu profilieren. Praktiken und Infrastrukturen herausbilden, so fehlt alles dies im Fall einer »Transnationalen Informationen im Internet: www.rg.mpg.de Rechtswissenschaft«. Sind die Ausgangsbedingungen damit schwieriger, so sind es auch die Aufgaben selbst: Denn in intellektueller Hinsicht braucht eine »Transnationale Rechtswissenschaft« die Bereit- schaft und das Können, sich von eigenen Kate- gorien, Methoden und Prinzipien zu emanzi­ pieren, um neue Verfahren und Erkenntnisse zur Problemlösung zu gewinnen. Sie muss in wohl noch höherem Maße als im europäischen Kontext offen sein für andere Vorstellungen von Normativität, für andere Binnenstrukturen von Recht und Rechtswissenschaft und unter Umständen weit auseinanderliegende Rechts- kulturen und Traditionen miteinander in ein

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3 »global law« und ­«trans­national law« – zwei »global law« und «trans­national law« und ihre Häufigkeit Begriffe machen Karriere: Die Häufigkeit­ der Wort-­­ in % ver­wendung »transnational 0.00000300 law« und »global law« im ­englischen Corpus des Google 0.00000250 NGram Viewer, 1930–2008.

4 Translation ist immer auch 0.00000200 Veränderung. Deutsche, lateinische und chinesische 0.00000150 Notizen eines chinesischen Wissenschaftlers bei einer internationalen Tagung am 0.00000100 Max Planck Institut für ­euro- päische Rechtsgeschichte. 0.00000050

0.00000000 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000

global law transnational law 3

Gespräch bringen. Sie ist nicht zuletzt eine the- stellen wir das, was wir nur in Verbindung mit oretische Aufgabe: Denn kann man überhaupt dem Staat denken können, in einen Zusam- eine Rechtslehre entwerfen, die hinreichend all- menhang zu Normativitäten, die ohne das aus- gemein ist, nicht von kulturellen Vorannahmen kommen, was wir als Staat bezeichnen? ausgeht, sich normativen Vorstellungen auf der Viele solcher Fragen werden seit einiger Zeit ganzen Welt öffnet – und dann doch noch auch von Rechtswissenschaftlerinnen und irgendwie aussagekräftig bleibt? Und haben wir Rechtswissenschaftlern intensiv diskutiert, überhaupt eine gemeinsame Basis, wenn wir meist im englischen Sprachraum, oft unter dem mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Stichwort »General Jurisprudence«, einer All- Rechtskulturen (wie auch immer wir diese defi- gemeinen Rechtslehre unter den Bedingungen nieren) über »Wissenschaftlichkeit« sprechen? der Globalisierung. Diese Diskussionen wie Welchen Rechtsbegriff legen wir zugrunde, wie auch der breitere kulturwissenschaftliche Glo- balisierungsdiskurs zeigen, wie sehr eine solche »Global Jurisprudence« oder auch »Trans­ nationale Rechts­wissenschaft« der disziplinären Öffnung über die Rechtswissenschaft und ihre engeren Äquivalente hinaus bedarf: Nur im ­Verbund von Kulturwissenschaften, Sozial­ wissenschaften und Regionalstudien dürften wir nämlich in der Lage sein, in der Welt von Multinormativität, von konstanten Translations­ prozessen und fluiden Rechtsräumen zu navi- gieren, ohne unterzugehen.

Freiräume der Reflexion über Recht und Der Autor andere Formen Normativität Es dürften nicht zuletzt die rechtswissenschaft­ Prof. Dr. Thomas Duve, 47, ist seit 2010 lichen Grundlagendisziplinen sein, die heute Geschäftsführender Direktor des Max-Planck- in einer besonderen Verantwortung stehen: Instituts für europäische Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie, Rechtstheorie, Rechtsethno­ Professor für vergleichende Rechtsgeschichte logie und Rechtsgeschichte. Ihnen mag zugute- am Fachbereich Rechtswissenschaft der kommen, dass sie selbst gerade einen Prozess Goethe-Universität. Seine Forschungsschwer- der Transnationalisierung durchlaufen, und sie punkte liegen in der Rechtsgeschichte der dürften sich wegen der für ihre Methode grund- Frühen Neuzeit und der Moderne, mit einem legenden Distanzierungstechnik besonders besonderen Interesse an den Austauschprozes- sen zwischen Europa und Lateinamerika. dafür eignen, einen Raum der Reflexion über Recht und andere Formen der Normativität zu [email protected] eröffnen. Sie sind allerdings gerade wegen ­dieser Transnationalisierung, wegen der durch die Ver-

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Anmerkungen

1 Zum Folgenden insgesamt: Thomas Duve, Internationali- sierung und Transnationalisie- rung der Rechtswissenschaft – aus deutscher Perspektive, LOEWE-Schwerpunkt »Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung« Arbeitspapier 6 (2013), URL: http://nbn-resolving.de/urn/ resolver.pl?urn:nbn:de:heb is:30:3-277904; ders., German Legal History: National Traditions and Transnational Perspectives, in: Rechtsge- schichte – Legal History Rg 22 (2014) 16-48, URL: http://rg.rg. mpg.de/article_id/927; ders., Rechtsgeschichte – Traditio- nen und Perspektiven, Kritische Vierteljahresschrift 4 für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 2014, 96–132 änderungen im Wissenschaftssystem forcierten chen nicht nur einen intellektuellen und 2 Vgl. dazu die Beiträge in Öffnung für interdisziplinäre Zusammenarbeit, ­institutionellen (Frei-)Raum, sondern auch Stefan Kadelbach, Klaus der damit verbundenen Erosion disziplinärer einen ganz konkreten Ort. Frankfurt ist – das Günther (Hrsg.), Recht ohne »Kanones« und ihrer gleichzeitigen institutio- wird man auch ohne übertriebene Selbst­ Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, nellen Ausdünnung an den deutschen Univer­ anpreisung, eine der unangenehmsten Folgen Frankfurt am Main 2011, sitäten zum Teil in einer prekären Lage. Diese der Ökonomisierung des Wissenschaftsbe- insbes. die Einleitung der dürfte sich wohl kaum anders als durch die auch triebs, sagen dürfen – bereits heute ein solcher. Herausgeber, 9 ff. vom Wissenschaftsrat in seinen grundlegenden Schon für die Gründung der Universität war 3 Bogdandy, Armin von, Empfehlungen für die Rechtswissenschaften aus das Nachdenken über Staat und Gesellschaft Deutsche Rechtswissenschaft dem Jahr 2012 empfohlene Stärkung der Integ- ein ­wichtiger Impuls, und heute steht der im europäischen Rechtsraum, in: Juristenzeitung 3/2011, 1– 6; ration von Grundlagen und sogenannten dog- Name der Stadt weltweit für kritische­ und Wahl, Rainer, Die Rechts­ matischen Fächern beheben lassen. 4 konstruktive Beobachtung der Grundlagen bildung in Europa als Ent- Mit etwas Mut öffnet sich gerade im Bereich unserer normativen Ordnungen. Die kleine wicklungslabor, in: Juristen­ der »Transnationalen Rechtswissenschaft« den Disziplin der Rechtsgeschichte hat mit dem zeitung 18/2011, 886–870 Fachbereichen und den mit diesen kooperie­ Max-Planck-Institut für europäische Rechts­ 4 Wissenschaftsrat, renden außeruniversitären Forschungsein­ geschichte in Frankfurt ein Zentrum, das vor Perspektiven der Rechts­ wissenschaft in Deutschland. genau 50 Jahren mit einem europäischen – richtungen wie den Max-Planck-Instituten ein Situation, Analysen, faszinierendes Feld der gemeinsamen Forschung also trans­nationalen – Programm antrat und Empfehlungen, Drs. 2558-12 und der forschungsnahen Lehre, gerade im sich nun verstärkt globalen Perspektiven auf vom 9.11.2012, online: http:// Bereich der Graduiertenförderung. Ihr besonde- die Rechtsgeschichte widmet. www.wissenschaftsrat.de/ download/archiv/2558-12.pdf res Profil könnte in einer informierten und Universitäre und außer­universitäre For- ­dennoch kritischen Distanz und Beobachtung schungseinrichtungen, die Bedeutung der ­dessen liegen, was in der Welt des Rechts Grundlagenfächer im Fachbereich­ Rechts­ geschieht – nicht so sehr im Abarbeiten wissenschaft, aber auch für die deutschen der Beratungsbedürfnisse der ökonomischen ­Geistes- und Sozialwissenschaften folgenreiche Akteure. Ein stärkeres Engagement und Profil Tagungen wie die im Forschungskolleg Human- in diesem Bereich könnte zugleich einen Beitrag wissenschaft der Goethe-Universität oder der zur funktionalen Differenzierung auf dem Feld Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg der Juristenausbildung leisten, sowohl inner- abgehaltenen, zahlreichen Forscher- und Gra- halb der nationalen wie internationalen Uni­ duiertenkollegs, die Stärke der Historischen versitätslandschaft als auch im Blick auf den Geisteswissenschaften, seit 2007 schließlich politisch geförderten, in den letzten Jahren der Exzellenzcluster »Die Heraus­bildung nor- dynamisch steigenden Anteil der Fachhoch- mativer Ordnungen« – diese und manche schulen an der Juristenausbildung. anderen Institutionen und weltweit ausstrah- lende Personen haben Frankfurt bereits heute Frankfurt – ein wichtiger Ort auf der Weltkarte zu einem wichtigen Ort der Normativitätsfor- der Normativitätsforschung schung auf der Weltkarte werden lassen. Wir Auch Reflexion, die hier skizzierte Forschung werden ihn in Zukunft sicher noch mehr brau- und die mit ihr einhergehende Lehre, brau- chen, als dies heute der Fall ist. 

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Fächerkulturen Rückbesinnung nach vorn: Wo geht’s lang in der Volkswirtschaftslehre? Ein Fach im Wandel: Zwischen Theoriegeschichte und Ökonometrie von Bertram Schefold

»Ökonomische Modelle und Geschichtswissenschaften gehören zusammen«, konstatiert der französische Wissenschaftler Thomas Piketty, dessen Thesen weltweit diskutiert werden, und ergänzt in einem Interview in der »Süddeutschen Zeitung« ­provokant: »Forscher arbeiten mit hochentwickelten Modellen und anspruchsvoller Mathematik, um Kleinigkeiten zu erklären. ­Manchmal zeigen diese Modelle auch gar nichts.« Der Frankfurter Ökonom Bertram Schefold nimmt die Entwicklung seines Fachs – insbesondere in Frankfurt – unter die Lupe.

er forscht, denkt gern, die Wissen- Fortschritte gerichtet ist. Aber Lehrmeinungen schaft sei kumulativ; sie enthalte in haben ihre besondere Bedeutung relativ zu dem W ihrer gegenwärtigen Form die wahren Zeitalter, in dem sie sich verbreiten. Ergebnisse der Arbeiten der früheren Generati- Eine Theoriegeschichte, die den Wechsel­ onen und habe deren Irrtümer abgeschüttelt. bezügen zwischen dem Wirtschaftsdenken und Wer forscht, fühlt sich an der Spitze seiner Teil- anderen geistigen Strömungen oder realen disziplin; der Blick von oben scheint die beson- ­Entwicklungen nachgeht und eine gewisse zeit- dere Bedeutung der eigenen Fragestellung zu liche Bedingtheit wissenschaftlicher Wahrheit bestätigen. Freilich dachten frühere Generatio- anerkennt, heißt relativistisch. Ein Spezialfall 1 Ausgewählte Beispiele nen auch schon so; deren Wahrheiten – heute ist der Materialismus, der die wirt­schaftlichen zur ökonomischen Dogmen­ vergessen – können morgen wiederkehren und Vor­stellungen auf die wirtschaftsgeschicht- geschichte aus der Bibliothek des Autors: Aufgeschlagen ist gegenwärtige verdrängen. Deshalb das andere lichen ­Gegeben­heiten zurückführt. Er kann das Hauptwerk Kaspar Klocks, Bild der Wissenschaftsentwicklung: Jede Gene- in der Marx’schen Ideologiekritik bestehen, »TRACTATUS DE AERARIO «, ration sollte versuchen, die alten Gedanken kann aber auch mit einer liberalen Interpre­ das mit weiteren Werken wiederzufinden und ihnen eine neue Gestalt zu tation der Determinanten der Wirtschaftsent- Klocks zusammengebunden ist (1651 und 1671). Klock gilt geben. Es gelingt nicht immer; damit gibt es wicklung verbunden sein. Zum Beispiel: Wer als Vertreter des älteren nicht nur Erkenntnisgewinne, sondern auch »Globalisierung« sagt, meint meist eine durch deutschen Kameralismus. Bei Verluste, und auch in Frankfurt ist nicht alles, Marktkräfte vorangebrachte technische Ent- dem kleinen Bändchen davor was man hier einmal wusste, noch präsent. wicklung, welche die Formen des menschlichen handelt es sich um das Werk »MANUALE DI ECONOMIA Echte und bleibende Fortschritte der Wis- Verkehrs und unsere W­ ahrnehmung beein- POLITICA « von Vilfredo Pareto senschaft wollen wir nicht leugnen, wir sehen flusst. Max Weber (1864 –1920) erscheint in (1906, Neoklassik), der damit sie besonders in Verbindung mit der Entwick- seinen Deutungen der Geschichte sozusagen einen Meilenstein in der lung der mathematischen und der naturwissen- zu zwei Dritteln als Determinist, zu einem Entwicklung der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie schaftlichen Methoden, die seit den Anfängen ­Drittel als Idealist, indem er durch Analysen gesetzt hat. im 18. Jahrhundert einen Teil der wirtschafts- der Wirtschaftsethik beweisen wollte, der wissenschaftlichen Methodik ausmachen. Eine moderne Kapitalismus sei durch eine kon­ Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen tingente religiöse Entwicklung im Westen oder eine »Dogmengeschichte«, wie man das wesentlich mit verursacht, im Osten aber durch früher gern nannte, soll positivistisch heißen, andere religiöse Konstella­tionen lange ver­ wenn sie primär auf die Feststellung solcher hindert worden.

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Politische Ökonomie ist eigentlich derjenige waltete, um daraus den Bedarf des Instituts zu Spezialfall des Relativismus, der die Staatsfor- bestreiten. Die Kontrolle der oberen Instanzen men für Ausprägungen und Determinanten – es beschränkte sich darauf, das Heft, in dem Buch besteht ja eine Wechselwirkung – des Wirt- gehalten wurde, alle zwei Jahre zu kontrollie- schaftsdenkens hält. Die staatlichen Tätigkeiten, ren. So wurden wissenschaftliche Einzelleistun- die Modalitäten der Einnahmen und Ausgaben, gen und persönliche Profilierungen möglich, die Organisation des Geldwesens und anderer die in die Universität, in die Stadt und ins Fach Teilbereiche des Wirtschaftens stehen mit den ausstrahlten. kulturellen Formen und den politischen Inter- Zunächst ein Blick auf die Entwicklung in essen in enger Verbindung. Diese wurde im Frankfurt: Die wesentlichen, teils formalen, teils 2 19. Jahrhundert am deutlichsten, als die soziale inhaltlichen Zäsuren sind dabei 1901, als die und die wirtschaftliche Klassenbildung sich Akademie für Sozial- und Handelswissenschaf- besonders eng verzahnten und die klassische ten (die 1906 ins Jügelhaus zog) die Tore öff- Nationalökonomie die resultierenden Konflikte nete, 1914, als die Universität gegründet wurde, betonte, die neoklassische einen möglichen 1932, als sie Goethe-Universität genannt wurde. Ausgleich durch Gleichgewichte an den Märk- Die zwölf Jahre des Nationalsozialismus zogen ten unter Vollbeschäftigung suchte. die erzwungene Emigration oder den inneren Rückzug gerade der Besten nach sich. 1970 Ein Ordinariensystem, erfolgte die Auflösung der alten Fakultät der das Vielfalt zum Prinzip erhob Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Ver- Die Ökonomen der Akademie für Sozial- und bindung zwischen Wirtschaftswissenschaften, Handelswissenschaften, der Frankfurter und Gesellschaftswissenschaft und Politologie wurde 3 dann der Goethe-Universität waren und sind damit zwangsläufig schwächer. Neue Verände- Erben der grundlegenden Schulenbildung in rungen um 2000 wurden teils durch Vorgaben den Wirtschaftswissenschaften, wie sie sich im von außen wie den Bologna-Prozess, teils durch 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Gleichzeitig einen noch zu erläuternden Wandel im Fach haben sie sich relativ zu diesen Schulen in selbst herbeigeführt, der lokal und weltweit zu erstaunlich verschiedenartiger und individueller beobachten ist. Weise positioniert. Das alte deutsche Ordinari- Zu den herausragenden Wissenschaftlern, ensystem, das so divergente Entfaltung erlaubte, die Hitlers Terrorregime zur Flucht zwang, wird heute kaum mehr verstanden. Das Deut- gehörte Adolf Löwe (1893 –1995), in der Emig- sche Reich besaß mehr Universitäten in dichte- ration Adolph Lowe. Obwohl ein als religiöser rer Vernetzung als andere Länder Europas. In Sozialist über das Fach hinausgreifender Gelehr- den vielen kleinen Universitäten gab es in jeder ter, verkörperte er den Typus des Theoretikers 4 Teildisziplin zumeist nur einen Hauptvertreter, seiner Generation. Er hatte in Kiel mit seinen der mit den Kollegen seines Spezialfachs an Schülern grundlegende Ideen zu dem, was anderen Universitäten die speziellen und mit ­später Input-Output-Analyse wurde, und zum den Fakultätskollegen der eigenen Universität Zusammenhang von Wirtschaftswachstum, allgemeinere Diskussionen führte. technischem Fortschritt und Arbeitslosigkeit Solange auch die Studentenzahlen klein erarbeitet. Er kam 1931 nach Frankfurt und genug blieben, wurde bei einfachster Organisa- musste 1933 wegen seiner politischen Über­ tion der Lehre ohne Zwischenprüfungen, Klau- zeugungen und seiner jüdischen Herkunft als suren und dergleichen direkt auf die Promotion einer der Ersten gehen. Über England emigrierte hin studiert. Vom ersten Semester an wurde zu er in die Vereinigten Staaten und wurde an der selbstständiger Arbeit in Bibliotheken angeregt. New School for Social Research berühmt. Er Die Studierenden sollten sich in den Prosemina- arbeitete an sogenannten Traversen-Analysen, ren und Seminaren emporarbeiten, und wenn wie sie auch John Hicks (1904 –1989), einer 5 sie durch in den Seminarvorträgen bewährtes der einflussreichsten Ökonomen des 20. - Jahr Selbststudium und das Hören einiger Vorlesun- hunderts, erforschte. In der Theoriegeschichte gen eine genügende Wissensgrundlage erlangt machte sich Lowe zuerst als Konjunkturforscher hatten, suchten sie sich das Thema einer Disser- einen Namen. In den 1920er Jahren schrieb er tation. Einige Honorarprofessoren und viele Pri- den viel zitierten Aufsatz »Wie ist Konjunktur- vatdozenten ergänzten jeweils den Unterricht forschung überhaupt möglich« und trat als Kri- der die zentralen Felder abdeckenden Ordina- tiker der Schumpeter’schen Konjunkturtheorie rien. So konnte jede Universität mit mäßigen hervor; er warf ihr vor, die Länge des Konjunk- Mitteln eine erstaunliche Vielfalt des Wissens turzyklus nicht bestimmen zu können. Später vermitteln. Die Verwaltung war sehr einfach. hat dann Joseph Schumpeter (1883 –1950) in Ich erinnere mich, wie noch 1960 in Basel ein seiner in Amerika geschriebenen Arbeit drei Ordinarius seinen Etat hatte und das ihm zuge- Zyklen unterschiedlicher Länge bestimmt, deren 6 wiesene Geld auf einem Postscheckkonto ver- Unterscheidung auf Lowes Anregung zurück-

80 2.2014 | Forschung Frankfurt Fächerkulturen geht. Lowe ist ein Name, der in einer positivisti- zog sich im Konflikt mit den Machthabern 1933 schen Theoriegeschichte erscheinen könnte. aus dem Amt zurück. Er führte Laums Unter­ Der Österreicher Karl Pribram (1877 –1973), suchungen, gestützt auf ethnologische Berichte der auch das Schicksal der Emigration erlitt, hat über die verschiedensten Kulturen, in Arbeiten ein in Frankfurt begonnenes Werk über Ökono- weiter, die er in innerer Emigration während mische Theoriegeschichte in jahrzehntelanger der nationalsozialistischen Herrschaft verfasste, Arbeit in den Vereinigten Staaten beendet. und, nachdem er nach dem Krieg wieder ins Seine »History of Economic Reasoning« gilt als Amt eingesetzt worden war, im Alter ergänzte. eines der bedeutendsten Werke der Ökonomi- In seinen Händen wurden die Begriffe der Geld­ schen Theoriegeschichte und kann sich nach entstehungslehre zu Kategorien, die auf das Umfang und Inhalt mit Schumpeters »History of moderne Geld angewandt werden konnten. Er 7 Economic Analysis« messen. sprach nicht nur von einer Kaufkraft des Geldes, sondern auch von einer Kaufmacht. Nach seiner Die 1920er Jahre: liberalen Vorstellung ist das Geld ein Mittel Als Ökonomie auf Geschichte traf ­individueller Entfaltung, das allen gleichmäßig Es war für die 1920er Jahre charakteristisch, zur Verfügung stehen sollte, aber die Verfü- dass nicht nur reine Theorie betrieben wurde, gungsmacht über Geld wurde oft willkürlich sondern dass die Ökonomie die Tradition der beschränkt, wenn beispielsweise der Landkauf Historischen Schule fortsetzte und Theorie und dem Adel vorbehalten blieb. Diese beiden Bei- Geschichte relativistisch miteinander zu verbin- spiele, die Werke des Privatdozenten Laum und den suchte. Ein ganz ungewöhnliches Beispiel die des vormaligen Universitätsrektors Gerloff, ist die These des Frankfurter Privatdozenten sind in einer Dissertation von Felix Brandl Bernhard Laum (1884 –1974), der, von der jüngst im Rahmen einer relativistischen Theo- 8 Alten Geschichte herkommend, später ein Pro- riegeschichte, die Entwicklung der Frankfurter fessor der Nationalökonomie in Marburg, die Fakultät für Wirtschafts- und Sozial­wissen­ Vermutung aufstellte, das Geld sei nicht schaften einbeziehend, dargestellt worden. ursprünglich aus dem Tauschhandel entstan- 2 adolf Lowe (1893 –1995): den, sondern sei auf einen bestimmten religiö- Als die Ökonomie noch politisch war … Der religiöse Sozialist zählt sen Zusammenhang zurückzuführen. Die meis- Unter den Ökonomen, die vor allem politische zu den großen Theoretikern seiner Zeit. ten leiten das Geld aus einem als ursprünglich Ökonomie betrieben, wäre zuerst Franz Oppen- angenommenen Tauschbedürfnis ab. Das heimer (1884 –1943) zu nennen, der zu Beginn 3 karl Pribram (1877 –1973) behauptete der Gründer der Österreichischen der 1920er Jahre mit seiner intellektuellen beschäftigte sich intensiv Schule der Nationalökonomie, Carl Menger Wucht und seiner phänomenalen Produktivität mit ökonomischer Theorie­ geschichte. (1840 –1921), während in Deutschland in der die Fakultät dominierte. Er vertrat die These, die Folge der Historischen Schule Georg Friedrich Arbeiter seien wirtschaftlich und politisch 4 Wilhelm Gerloff (1880 –1954) Knapp (1842 –1926) das Geld mit der Saldie- wegen der sogenannten Bodensperre schwach. prägte die Finanzwissenschaft. rung von Schuldverhältnissen und mit dem Grund und Boden befänden sich überwiegend Zweimal war er Rektor der Universität Frankfurt: von Staat als regelnder Instanz in Verbindung in den Händen der Adelsschicht und deren Oktober 1926 bis Oktober 1927 brachte. Laum hatte Homer und die griechi- Nachkommen, so dass es den Arbeitern nicht und von Oktober 1932 bis April schen Quellen als Althistoriker studiert. Ihm fiel möglich sei, durch Bebauung eigenen Bodens 1933. Er war ein erklärter auf, ­welche Faszination die Reichtümer in der einen Unterhalt selbstständig zu erarbeiten, der Gegner der Nationalsozialisten und wurde nach deren homerischen Adelsgesellschaft ausüben, wie sie dann eine Minimalgrenze für die Entlohnung Machtergreifung abgesetzt. getauscht werden –, und zwar nicht als Waren, der Fabrikarbeiter darstellen würde. Oppen­ sondern als Geschenke und Ehrengaben, und heimers genossenschaftlichem Sozialismus 5 Franz Oppenheimer (1884 –1943) wie es ein Bedürfnis gibt, den Wert des Darge- stand der Liberalismus anderer Vertreter der war theoretischer National­ ökonom und erster Soziologie- brachten vergleichend zu preisen. In einer kom- Nationalökonomie in Frankfurt gegenüber, Professor an einer deutschen plexen Argumentation suchte Laum zu zeigen, unter denen Ludwig Pohle (1869 –1926), schon Universität. dass die Mittel des monetären Tauschs zuerst 1901 Professor an der Akademie für Sozial- und eine andere Funktion im Rahmen des Opfer­ Handelswissenschaften und später erster Dekan 6 Fritz Neumark (1900 –1991) gehört zu den einflussreichsten rituals gehabt haben mussten. der Fakultät, als ein mit Schumpeter wetteifern- Finanzwissenschaftlern der Entwicklungsökonom herausragte. in den Aufbaujahren der Von der Kaufkraft und Die hier nur mithilfe weniger Beispiele Bundesrepublik. der Kaufmacht des Geldes angedeutete Tradition der Frankfurter National­ 7 Heinz Sauermann (1905 –1981) Laum meinte, einen ähnlichen Ursprung des ökonomie konnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat die experimentelle Geldes aus der religiösen Sphäre auch bei ande- sehr erfolgreich wiederbelebt werden, indem Wirtschaftsforschung ren Kulturen feststellen zu können. Der als Fritz Neumark (1900 –1991), ein Schüler begründet. Ökonom bedeutendere Wilhelm Gerloff (1880 – ­Gerloffs, der vor 1933 Privatdozent gewesen 8 ludwig Pohle (1869 –1926) 1954), Finanzwissenschaftler in Frankfurt, zeit- war, sich bereitfand, aus der Emigration in setzte sich als Liberaler weilig Rektor der Universität, war ein standhaf- die Türkei nach Frankfurt zurückzukehren, für die Überwindung des ter liberaler Gegner des Nationalsozialismus und und hier zum einflussreichsten Finanzwirt- Katheder­sozialismus ein.

Forschung Frankfurt | 2.2014 81 Fächerkulturen

schaftler der jungen Bundesrepublik wurde. einem Ordinarius betreut wurden, bis Ende der Mit Heinz Sauermann (1905 –1981), der von 1990er Jahre unangetastet. Dann setzte ein der Soziologie zur Nationalökonomie gekom- Schub von Reformen ein, teils innerhalb des men war und die experimentelle Wirtschafts- Fachbereichs selbst angestoßen, teils voran­ forschung begründete, ein heute weltweit getrieben durch die Notwendigkeit, sich an betriebenes Fach, entstand ein fruchtbares den Bologna-Prozess anzuschließen. Für die Umfeld, aus dem zahlreiche Ökonomen der Volkswirte bedeutete diese neue Schwerpunkt- Bundesrepublik hervorgingen, die anderswo bildung den Verzicht auf Fächer wie Sozial­ Lehrstühle ­erhielten. politik, die auch in der Zeit der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften konstitutiv gewesen waren, eine engere Verzahnung mit der Betriebswirtschaftslehre und eine Erweite- rung der monetären und makroökonomischen Forschung, der in Frankfurt besondere Bedeu- tung zukommt. Seither ist für eine Weile die traditionelle politische Ökonomie ebenso zurückgetreten wie die reine Theoriebildung. Es ist eine weltweite Tendenz zu beobachten, weniger Monografien zu schreiben und vermehrt die Ergebnisse ­empirisch gestützter Arbeit, deren Potenzial mit den computergestützten Techniken enorm gewachsen ist, in Zeitschriften zu veröffent­lichen. Damit hat sich auch die Ausrichtung der meisten Ökonomen grundsätzlich verändert: Die Ideen- geschichte wurde in den Hintergrund gedrängt, es wird seltener versucht, große theoretische Synthesen zum Verständnis des Gesamtzusam- menhangs der Wirtschaft zu erarbeiten. Die Mehrheit der Ökonomen wendet sich stattdessen intensiv den einzelnen Sachproblemen­ zu, wobei die Fragestellungen oft über die traditionelle 9 Abgrenzung des ökono­mischen Bereichs hinaus- greifen. So werden ­beispielsweise mit den Mit- 9 Der französische Veränderte Dimensionen: Vom großen Ganzen teln der ökonomischen Methodik auch juristi- ­Wirtschaftswissenschaftler zum kleinteilig Berechenbaren sche Probleme untersucht, und selbst die Thomas Piketty (geb. 1971) Theorie und Politik waren in Frankfurt nie so Wirtschaftsgeschichte bedient sich zunehmend hat mit seinem im September auch in deutscher Sprache scharf getrennt, wie dies in anderen ökonomi- ökonometrischer Modelle. Die veränderte erschienenen Buch »Das schen Fakultäten nach der deutschen Tradition methodische Orientierung geht mit einer Grup- Kapital im 21. Jahrhundert« üblich war. Als mit der Studentenrevolte und pierung in Abteilungen einher, in der die Diskus- weltweite Aufmerksamkeit der Universitätsreform die Fakultät in einen sionen zwischen Fachkollegen­ auf eng benach- erzeugt. Er ist Professor an der Paris School of Fachbereich Wirtschaftswissenschaften und barten Gebieten geführt werden. Dazu gehört Economics und der École des einen Fachbereich Gesellschaftswissenschaften beispielsweise die Untersuchung unvollkomme- Hautes Études en Sciences geteilt wurde, begannen die Frankfurter Volks- ner Konkurrenz mit Mitteln der Spieltheorie in Sociales (EHESS). wirte, Schwerpunkte zu bilden, um innerhalb volks- und betriebswirtschaftlicher Perspektive jedes thematischen Schwerpunkts theoretische innerhalb derselben Abteilung. und politische Arbeit miteinander zu verbinden. Damit wurde bereits die sogenannte ­Allgemeine Und wohin steuert die Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre, die Theorie der gesamt- in der Zukunft? wirtschaftlichen Entwicklung, geschwächt, mit Allerdings hat sich seit der Wirtschafts- und der man sich in Frankfurt in den 1950er und Finanzkrise nun doch wieder das Bedürfnis 1960er Jahren erfolgreich profiliert hatte. Dafür geregt, politische Ökonomie zur Lösung aktuel- wurden nun in Schwerpunkten wie »Konjunk- ler Probleme zu betreiben. So ist die Frage der tur, Wachstum und Verteilung« oder »Entwick- zunehmenden Ungleichheit der Vermögens- lung, Umwelt und quantitative Wirtschaftsfor- und Einkommensverteilung heute wieder viru- schung« und in Wahlfächern wie damals lenter. Das ist übrigens in Frankfurt ein Thema, »Sozialistische Wirtschaftssysteme« Theorie das bereits im Mittelpunkt des durch Umwid- und Politik verbunden. mung der Professuren (zuletzt 2007) abge- Bei den Betriebswirten blieb das System der schafften Fachs Sozialpolitik und des weltweit Aufteilung des Fachgebiets in Teile, die je von angesehenen DFG-Sonderforschungsbereichs

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Das Kapital-Ein­-kommens-Verhältnis in Europa, 1870 – 2010

800

700

600

500

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300

200

Wert des Privatkapitals, in % des Nationaleinkommens 100 1870 1890 1910 1930 1950 1970 1990 2010

Deutschland Frankreich Großbritannien

Der Gesamtwert der Privatvermögen entsprach in Europa 1910 dem Nationaleinkommen von sechs bis sieben Jahren, 1950 von zwei bis drei Jahren und von 2010 von vier bis sechs Jahren. Quellen und Reihen: siehe piketty.pse.ens.fr/capital21c.

»Mikroanalytische Grundlagen der Gesell- schaftspolitik« (SFB 3) stand. Der methodische Wandel, der mit der Ver- drängung der ideengeschichtlich arbeitenden Volkswirtschaftslehre und der weiteren Zuspit- zung der Formalisierung und Mathematisierung seit den 1990er Jahren Einzug in die Volkswirt- schaftslehre gehalten hat, mag Details angemes- sen erklären, scheint aber wenig geeignet, das Wirtschaftsgeschehen ausreichend zu verstehen. Der erstaunliche Erfolg, den der französische Ökonom und Sozialwissenschaftler Thomas Piketty zurzeit mit seinem Buch »Das Kapital des 21. Jahrhunderts« feiert und in dem es unter anderem um die ungleiche Verteilung des Reichtums geht, beweist, dass die Ökonomen sich wieder den großen Fragen stellen müssen. Wenn sie in einer von Konflikten bedrohten Welt zeigen wollen, wie auch weiterhin die marktwirtschaftliche Ordnung den Rahmen zur Der Autor Lösung der Probleme bieten kann, dann sind Prof. Dr. Bertram Schefold, 70, hatte von 1974 Antworten gefragt, die den historischen und bis zu seiner Emeritierung 2012 die Professur für sozialen Kontext nicht außer Acht lassen. Sonst Wirtschaftstheorie an der Goethe-Universität droht eine Politikberatung hoch spezialisierter inne. Sein besonderes Interesse gilt in der Wissenschaftler, die komplexe Problematiken Nationalökonomie den Spezialgebieten Kapital- nur aus der Sicht zugespitzter Einzelforschung theorie, Umweltökonomie und Geschichte des beurteilen können, ohne historischen Überblick ökonomischen Denkens. Als Seniorprofessor, und fachübergreifende Erfahrung.  der Ausflüge in die Literatur, Geschichte, Kunst und Philosophie schätzt, arbeitet er zurzeit an einer Sammlung dogmenhistorischer Aufsätze und an der Aktualisierung seiner Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in Frankfurt. [email protected]

Forschung Frankfurt | 2.2014 83 F.A.Z.-Foto: Frank Röth

Mehr Vielfalt und ­Interdisziplinarität der VWL Reformaufruf vom »Netzwerk Plurale Ökonomik« stößt auf Resonanz – nicht nur in den Medien

von Marita Dannenmann Fächerkulturen

Folgt der Krise des Finanzmarkts nun eine Krise der Wirtschafts­ wissenschaften? Die »Frankfurter Allgemeine« titelt im September auf ihrer Seite »Forschung und Lehre«: »Offene Revolte in der Volkswirtschaftslehre« – damit scheint der Protest, zu dem die inter- nationalen Studierendeninitiativen für Plurale Ökonomik im Mai aufgerufen hatten, in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein.

as Netzwerk, zu dem auch die Gruppe Themenvielfalt in der Forschung: Fehlanzeige »Kritische Ökonomik« an der Goethe- Marcel Zeitinger, der bereits sein Masterstu­- DUniversität gehört, fordert einen Kurs- dium in »International Political Economy« in wechsel in der Volkswirtschaftslehre: mehr Warwick abgeschlossen hat, in Politikwissen- intellektuelle Vielfalt und Interdisziplinarität in schaft in Frankfurt eingeschrieben ist und nun Lehre und Forschung. Der Vorwurf, dass die ein Praktikum bei Deutsche Bank Research Ökonomen bei der Vorhersage der Krise und beginnt, sieht ein Haupthindernis für Themen- den Therapievorschlägen versagt haben, veran- vielfalt in der Forschung in den Bewertungs­ lasste diese Studierenden, sich kritisch mit den kriterien: Sie beruhten überwiegend auf Publi- in der Lehre und Forschung dominanten neo- kationen in den bekanntesten Fachzeitschriften klassischen Theoriemodellen und der Grundan- wie American Economic Review und in Deutsch- nahme von vollständig informierten, rational land dem German Economic Review des Vereins handelnden Teilnehmern am Wirtschaftsleben für Social­politik. Zeitinger: »Dort herrscht neo- auseinanderzusetzen. Seit der Einführung des klassische Methodik vor.« Und wer in den ein- Bachelor/Master-Systems wächst das Unbeha- schlägigen, thematisch eher homogen ausge- gen an den Inhalten der Volkswirtschaftslehre richteten Journals publiziert, hat die besten unter den Studierenden kontinuierlich: Der Chancen, zitiert zu werden – was wiederum Zeitdruck und das starre Lehrprogramm lasse Pluspunkte im Ranking der Wissenschaftler und wenig Spielraum für intellektuelle Ausflüge in damit für die Karriere bringt. verwandte Fachbereiche und rege kaum zum Der Reformaufruf, den »besorgte Studie- kritischen Nachdenken an, bedauern die Mit- rende und Lehrende der Volkswirtschaftslehre« glieder der Initiative »Kritische Ökonomik« an von über 50 Hochschulen im deutschsprachigen den Fachbereichen Wirtschaftswissenschaften Raum bereits 2011 als Offenen Brief, adressiert und Gesellschaftswissenschaften der Goethe- an den einflussreichen Verein für Socialpolitik Universität. Die Initiative (www.kritische-oeko­ (www.plurale-oekonomik.de), geschickt hatten, nomik.de) wurde 2011 gegründet. Sie besteht fand zunächst nur in den deutschen Fachmedien Nach seinem Vortrag bisher aus einer noch kleinen Gruppe – vernetzt Resonanz. und der anschließenden in eine inzwischen internationale Community. Diskussion im Hörsaal auf dem Ihnen reicht es nicht, schöne mathematische Reformaufruf findet weltweit Beachtung Campus Westend blieb noch Modelle aufzustellen, die Methodik der Neo- Seit sich die Studenteninitiativen national im Zeit für ein gemeinsames Foto: Der französische Ökonom klassik oder den Keynesianismus zu verstehen, »Netzwerk Plurale Ökonomik« zusammen­ Thomas Piketty mit den die Segnungen der freien Marktwirtschaft nach- geschlossen haben und im Mai 2014 die inter- Kritischen Ökonomen der zubeten oder komplexe ökonometrische Simu- nationale Dachorganisation »International Stu- Goethe-Universität (von links lationen durchzuspielen, die nicht immer in dent Initiative for Pluralism in Economics« nach rechts: Bijan Kaffenber- ger, Thomas Piketty, Christoph der Lage sind, die realen Verhältnisse voll abzu- (www.ISIPE.net) gegründet wurde, sind auch Sommer, Marcel Zeitinger, bilden. Die Finanzmarktkrise, die wachsenden die internationalen Medien aufmerksam gewor- Sergej Enns, Patrick Zeitinger. ökologischen Probleme bei gleichzeitig sinken- den. Der international in zahlreichen Sprachen Es fehlen: Yulia Aleshchen- den Wachstumsraten forcieren ihre Zweifel an verbreitete Aufruf wurde von vielen Medien kova, Jan-Eric Filipczak, Lena Kaiser, Tobias Lachmann, den Inhalten des VWL-Schwerpunkts in den aufgegriffen und verbreitet, zum Beispiel in The Florian Petri und Anisa Wirtschaftswissenschaften. Guardian (4. Mai 2014): »Economics students Tiza Minum).

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Fächerkulturen

call for shakeup of the way their subject is Feigenblatt ist. Dass alle angehenden Bachelors taught«, aber neben der Frankfurter Allge­meinen der Wirtschaftswissenschaften an der Goethe- Zeitung (3. September 2014) auch in der Süd­ Universität eine Pflichtveranstaltung zur Ethik deutschen Zeitung (4. Oktober 2014): »Düstere besuchen müssen, werten sie aber als Zeichen Wissenschaft – Warum das Unbehagen an der des Wandels: weg von den eingetretenen Theo- Ökonomie seit der großen, weltweiten Finanz- riepfaden zu mehr Orientierung an den kon­ krise vor sechs Jahren so gewachsen ist – und kreten Auswirkungen ökonomischen Handelns was die Ökonomen dagegen tun sollten.« auf die Gesellschaft und die Umwelt. Was wollen das Netzwerk und die ange- schlossenen Gruppen wie die Frankfurter errei- Nobelpreisträger als Vordenker chen? Sie wünschen sich, dass eingefahrene Experten erstaunt es nicht, dass gerade jetzt die Lehrpfade verlassen werden. Sie möchten mit Debatte über die Volkswirtschaftslehre aufbricht: der Vielfalt der ökonomischen Theorien, der Immer dann, wenn etablierte Theorien die wirt- Geschichte der Wirtschaftswissenschaften, mit schaftlichen Verhältnisse nicht mehr abbilden Raum… verschiedenen Denkschulen vertraut gemacht können, hat es auch in der Vergangenheit solche werden. Und sie fordern, dass mehr Querver- Diskurse gegeben. Offensichtlich spielen auch bindungen zu anderen Fächern wie Jura, Sozio- die Leitmedien in diesen Diskussionen immer logie, Psychologie und Philosophie hergestellt noch eine Rolle: Seit der Finanzkrise berichten werden sollten. Die Studierenden-Initiativen sie intensiver über volkswirtschaftliche Themen, wollen nicht abwarten, bis sich etwas am neue Tendenzen und Denkansätze. So widmete ­Lehrplan ändert, sie werden selbst aktiv: Sie beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung erarbeiten Skripte, sammeln weiterführende am Sonntag (9. Oktober 2014) dem Vortrag Literatur, veranstalten Kongresse und tauschen des französischen Ökonomieprofessors Thomas sich nicht nur über Facebook aus, sondern Piketty an der Goethe-Universität und seinem ­besuchen sich gegenseitig. So war die Frank­ zur Buchmesse in deutscher Übersetzung furter Studenteninitiative »Kritische Ökonomik« erschienenen Buch Das Kapital im 21. Jahrhun­ zum Beispiel in Hamburg, Berlin, Erfurt, dert eine Doppelseite. Auch Joseph Stiglitz, einer ­Heidelberg und Manchester. Es gibt zurzeit der Nobelpreisträger von 2001, teilt mit Piketty 19 solcher Initia­tiven an deutschsprachigen die Befürchtung, dass die wachsende Kluft zwi- Universitäten, weltweit circa 65 – von Indien bis schen Arm und Reich die größte Bedrohung Brasilien in 30 Ländern (www.ISIPE.net). Das moderner Volkswirtschaften ist (vgl. manager Internet erleichtert den Austausch und ermög- magazin spezial Oktober 2014). licht es, zum Beispiel über YouTube, Vorlesun- Die Verteilungsproblematik rückt bei Wis- Campus Westend Campus Bockenheim Campus Riedberg gen und Diskussionen ins Netz zu stellen, die senschaftlern, aber auch in den Medien stärker von allen abgerufen werden können. in den Blick. Im weiteren Sinn gilt das auch beeindruckend traditionell modern für die Forschung des Mehr hinterfragen: Pseudo-Objektivität neuen Nobelpreisträ- und implizite Werthaltungen gers 2014, Jean Tirole, Die jungen kritischen Ökonominnen und Öko- mit dem Spezialgebiet … für Ihre Veranstaltung nomen an der Goethe-­Universität wissen, dass Industrieökonomik, der sie das Hilfswerkzeug der VWL – Mathematik, unter anderem die Statistik und Informationstechnologien – Marktmacht von Groß- Sie suchen Veranstaltungräume, Dann sind Sie bei uns richtig! 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Bijan Ersten zu den Pro­ Ihre journalistischen Themenschwerpunkte fessoren, die den in- ­Kaffenberger im Masterstudium »International sind: Demografie, Bildung und Beruf. Economics« und Sergej Enns, Bachelorstudent ter­na­tionalen Reform­ [email protected] der Politikwissenschaft mit Nebenfach VWL, aufruf unterzeichnet hoffen, dass die Ethikvorlesung mehr als nur ein haben. 

CAMPUSERVICE GmbH Die Servicegesellschaft der Rossertstraße 2 Tel: 069 / 71 58 57-0 www.campuslocation-frankfurt.de Forschung Frankfurt | 2.2014 87 Johann Wolfgang Goethe-Universität 60323 Frankfurt/Main Fax: 069 / 71 58 57-10 [email protected] Der tut nix, der will nur rechnen Wie der Computer Einzug in die Geisteswissenschaften hält von Bernd Frye

Immer mehr Texte, Töne und Bilder liegen in Bits und Bytes vor. Die Methoden der Digital Humanities werden stetig verfeinert und ermöglichen neue, bisher nicht ­bearbeitbare Fragestellungen. Auch in Frankfurt scheint die »empirische Wende« unaufhaltsam zu sein. Doch was hat es eigentlich mit dem neuen Forschungs­ gebiet auf sich, und inwiefern macht es uns schlauer oder gar klug? Fächerkulturen

a steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor«, klagt Goethes D»Faust« nach einer Aufzählung dessen, was er so alles – »habe nun, ach!« – studiert hat. Philosophie­ gehörte dazu, ebenso Juriste- rei. »Und ­leider auch Theologie!«. Genutzt hat’s wenig – abgesehen von der subjektiven Erkenntnis, »dass wir nichts wissen können«. Allerdings konnte der Fächerkanon der Goe- the-Zeit ein Forschungsgebiet noch nicht ken- nen, das untrennbar mit dem Computer ver- bunden ist, die »Digital Humanities«, jene Verbindung von Geisteswissenschaften und Informatik, mit deren Hilfe Inhalte, vor allem auch Texte, digital verfügbar gemacht und aus- gewertet werden. Die Linguistik nutzt die neuen Möglich­ keiten schon seit einiger Zeit. Historiker zeigen sich zunehmend aufgeschlossen. Und wenn Frankfurter Literaturwissenschaftler dergestalt auf ihre Gegenstände schauen, geht es oft um Goethe und seinen Faust. Die Forschungen fra- gen allerdings nicht danach, ob die literarische Figur nach einem Studium der Digital Humani- ties von einem Pakt mit dem Teufel abgesehen hätte. Obwohl: Es wäre schon interessant gewe- sen, was Faust von der »empirischen Wende« gehalten hätte. Nach Ansicht von Experten 1 + 2 es werde digital! markiert sie den Übergang zwischen den »ana- Damit Computer mit gedruck- logen« Geisteswissenschaften in der herkömm- ten oder gezeichneten Bildern umgehen können, müssen lichen Form und den Digital Humanities. diese erst eingescannt »Wir können heute Fragestellungen empi- werden – wie hier am Freien risch überprüfen, für die bisher nur theoretisch Deutschen Hochstift in basierte Hypothesen vorlagen«, sagt Jost Gip- Frankfurt. Auf der Illustration holt sich Goethes Faust von pert, Professor für Vergleichende Sprachwissen- Gretchen einen der bekann- schaft an der Goethe-Universität. Früher habe testen Körbe der Literatur­ man den Eindruck gehabt, dass sich ein bestimm- geschichte: »Bin weder ter Sachverhalt auf eine gewisse Weise darstelle. Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn.« Mittlerweile kann man den Dingen, ihre Digita- lität vorausgesetzt, auf den Grund gehen. Diese »empirische« oder auch »digitale Wende« deu- tete sich vor etwas mehr als 30 Jahren an.

Der ganze Goethe auf Disketten Es war Ende der 1980er Jahre, als Jost Gippert in einem Goethe-Gedicht die Verbform »frug« auf- fiel. Der Sprachwissenschaftler fand das unge- wöhnlich, weil Goethe seinem Gefühl nach eher »fragte« verwendete. Gipperts Institut hatte damals 30 Bände Goethe auf Dis- ketten. »Die waren tellergroß und kosteten tausend Mark.« Eine Suchabfrage ergab, dass Goethe in der Tat nur in diesem einen Gedicht »frug« geschrieben hat, der Aus- reißer war wohl dem Versmaß geschuldet. »Ohne Computer hätte ich ein Jahr Goethe lesen müssen und danach genau dasselbe gewusst«, 2

Forschung Frankfurt | 2.2014 89 Fächerkulturen

3

3 »Wir breiten nur den sagt Jost Gippert. Vor der Digitalisierung­­ war es setzungen. Im LOEWE-Schwerpunkt werden Mantel aus, | Der soll uns für Linguisten, Literaturwissenschaftler oder die Corpora – wenn es sich anbietet – gemein- durch die Lüfte tragen.« Historiker kaum denkbar, ­Hypothesen und The- sam aus dem jeweiligen fachlichen Blickwinkel Vielleicht verhelfen die Digital Humanities den bislang weit- orien am gesamten einschlägigen Material zu genutzt. Ein weiterer Fokus liegt im Aufbau gehend »analogen« Geistes- verifizieren oder zu­falsifizieren. Durch den Ein- einer übergreifenden informationstechnologi- wissenschaften ja zu satz der elektronischen Verfahren – die Schaf- schen Infrastruktur – Linguisten oder Historiker ungeahnten Höhenflügen. fung von Datenpools und hierauf bezogenen loggen sich in derselben Arbeitsumgebung ein, Das Freie Deutsche Hochstift, auch Träger des Frankfurter digitalen Auswertungsmethoden – sei dies, so die online zur Verfügung steht. Goethe-Museums, verfügt Gippert, nunmehr möglich geworden. über eine umfangreiche Der Frankfurter Linguistik-Professor gehört Frankfurt wird zum »eHumanities-Zentrum« Sammlung von Illustrationen zu den Pionieren der Digital Humanities in »Mit unserem LOEWE-Schwerpunkt haben wir zum »Faust« – auf Papier und digital, darunter »Faust Deutschland. Besonders auch seiner Initiative ist eine Spitzenposition in der sich schnell entwi- und Mephisto fliegen auf dem die Einrichtung eines Forschungsschwerpunkts ckelnden Landschaft der Digital Humanities in Zaubermantel durch die Luft« zu verdanken, bei dem die Goethe-Universität Deutschland errungen«, sagt Jost Gippert, der von August von Kreling mit der TU Darmstadt und dem Freien Deut- seit dem Start des Schwerpunkts im Jahr 2011 (1819 –1876). schen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum dessen Koordinator ist. Das Projekt war bereits kooperiert. Gefördert wird das interdisziplinäre von Beginn an mit dem Anspruch angetreten, Verbundprojekt seit rund vier Jahren von der die Basis für einen längerfristigen Forschungs- hessischen »Landes-Offensive zur Entwicklung verbund zu legen, der sich dem »digitalen Wan- Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz«, kurz del« in den geisteswissenschaftlichen Fächern LOEWE. Die beteiligten Disziplinen reichen von widmet. Das konnte eingelöst werden: Nach der Sprach-, Literatur- und Geschichtswissen- dem Auslaufen der LOEWE-Finanzierung Ende schaft bis zur Informatik. Der LOEWE-Schwer- 2014 gibt es eine Förderung durch das Bun­ punkt, der 4,7 Millionen Euro aus Landesmitteln desministerium für Bildung und Forschung bekommt, trägt den Titel »Digital Humanities – (BMBF). Unter den rund 40 beim Ministerium Integrierte Aufbereitung und Auswertung text- gestellten Anträgen gehörte der aus Rhein-Main basierter Corpora«. zu den drei erfolgreichen. Textbasierte Corpora sind nach bestimmten Jost Gippert sieht das Forschungsgebiet »in Kriterien aufbereitete Sammlungen schriftlicher einer stürmischen Entwicklung begriffen«. Dokumente verschiedener Sprachen und Gen- Auch das BMBF hat seine Förderung in den ver- res, seien es Romane, Gedichte oder Theater­ gangenen Jahren kontinuierlich ausgebaut. Bei stücke, Gesetzestexte, Briefe oder Bibelüber­ den Digital Humanities spricht das Wissen-

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wie ...« Die zugrunde liegende Methode ist nicht neu und nennt sich Stilometrie. Sie beruht auf der statistischen Analyse von Wortwahl und Satzbau. Ein zu untersuchender Text wird nach bestimmten Kriterien – auch der Frequenz bestimmter Worte und Wortfolgen – mit Texten verglichen, die sich bereits in der Datenbank befinden und deren Urheber bekannt sind. Bei einer kleinen literarischen Sensation im Sommer 2013 gelangte die Stilometrie zu einer gewissen Berühmtheit. Auch hier war am Anfang eine Ahnung im Spiel. »I suspect that some years down the road we will hear the author’s name is a pseudonym of some famous writer«, hieß es im Online-Kommentar einer Leserin. Und auch Profi-Rezensenten konnten es kaum glauben, dass dieses vorzüglich geschriebene Buch der Debüt-Roman eines bis dahin vollkommen unbekannten Autors sein soll. War er auch nicht. J.K. Rowling, die Erfinderin von »Harry Potter« hatte den Krimi »The Cuckoo’s Calling« (»Der Ruf des Kuckucks«) unter einem Pseudonym 4 »Soll ich Dir Flammen­ geschrieben. Ihre ­eigenen Bücher, deren statis- bildung weichen? Ich bin‘s, tisch fassbaren Merkmale mit denen des Überra- bin Faust, bin Deines Gleichen.« schungswerks abgeglichen wurden, halfen bei So der Titel dieser Grafik von Carl Friedrich Zimmermann der Bestimmung der Autorschaft. (1796 –1820) – eine der 2.500 In der Literaturwissenschaft werden Formen Abbildungen, die im Teilprojekt der Stilometrie auch zurate gezogen, wenn es »Illustrationen im Umfeld von schaftsministerium auch von »eHumanities«, darum geht, welcher Epoche ein Autor im Zwei- Goethes ›Faust‹« am Hochstift berücksichtigt werden. wobei das »e« nicht nur für »elektronisch« steht, felsfall am ehesten zuzurechnen ist, etwa der Das Freie Deutsche Hochstift sondern auch für »enhanced«, also »erweitert« Romantik oder aber der Klassik. Einen immer gehört neben der Goethe- oder »verbessert«. Tatsächlich versteht das größeren Stellenwert erlangen Methoden der Universität zu den Koopera­ Ministerium die eHumanities »als Summe aller Digital Humanities bei der Edition literaturge- tionspartnern im LOEWE- Schwerpunkt »Digital Ansätze, die durch die Erforschung, Entwick- schichtlich bedeutender Werke. Humanities«. Im Rahmen des lung und Anwendung moderner Informations- »Die neuen Möglichkeiten sind die Erfüllung LOEWE-Verbundes arbeiten technologien die Arbeit in den Geisteswissen- eines Traums. Es eröffnen sich ganz neue Felder«, Linguisten und Literatur­ schaften erleichtern oder verbessern«. sagt Anne Bohnenkamp-Renken. Die Germanis- wissenschaftler, Historiker, Kunsthistoriker und Informati- Gemäß der BMBF-Terminologie wird der tin ist Professorin für Literaturwissenschaft an der ker. Weitere Forschungs­ weitergeführte Forschungsverbund in der Rhein- Goethe-Universität und Direktorin des Freien projekte beschäftigen sich mit Main-Region ein »eHumanities-Zentrum« sein. Deutschen Hochstifts, eines der ältesten Kulturin- der Überlieferung von Zu den häufig verwendeten Bezeichnungen stitute Deutschlands und Träger des Frankfurter Bibel­handschriften sowie dem Bedeutungswandel gehört auch »Digitale Geisteswissenschaften«. Goethe-Museums. Neben seiner Mitwirkung im charakteristischer Begriffe Der vor rund zwei Jahren gegründete Verband LOEWE-Schwerpunkt zu den Digital Humani- über die Jahrhunderte. nennt sich allerdings »Digital Humanities im ties arbeitet das Hochstift deutschsprachigen Raum«. Mittlerweile gibt es bereits seit 2009 an einer an rund einem Dutzend deutscher Universitäten digitalen Ausgabe des entsprechend ausgerichtete Studiengänge. Auch »Faust«. Es handelt sich in Frankfurt wird ein Curriculum vorbereitet. um ein DFG-Projekt in Trotzdem sind die Digital Humanities als Kooperation mit dem Fachrichtung in größerer Breite noch nicht eta- Goethe- und Schiller- bliert und in der allgemeinen Öffentlichkeit Archiv der Klassik Stif- nahezu unbekannt. Dabei gelangen die Ergeb- tung Weimar und dem nisse mancher ihrer Methoden gerade in jünge- Lehrstuhl für Computer- rer Zeit zu ungeahnter Popularität. philologie an der Univer- sität Würzburg. Wer schrieb den »Ruf des Kuckucks«? »Unser Anspruch ist Vielleicht hat man ja den Eindruck, dass man es, eine Modelledition zu eigentlich wie Goethe schreibt und die Chefin erstellen, die Standards wie Ildikó von Kürthy. Um das zu überprüfen, setzt«, sagt Anne Bohnen­ gibt es im Internet den Stiltest »Ich schreibe kamp-Renken. Die neue, 4

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sogenannte historisch-kritische Edition enthält Der digitale Faust wird das Werk in der erstmals die gesamte relevante Überlieferung gesamten Breite seiner Entstehungsgeschichte des Werks. Dazu gehören rund 2.000 Hand- umfassend erschließen. In der neuen Digital- schriftenseiten Goethes sowie die zu Lebzeiten Ausgabe ist es beispielsweise möglich, sich alle des Autors erschienenen Drucke. Ergänzt wird bekannten Vorstufen und Varianten einer Text- die digitale Sammlung durch zahl­reiche Zeug- zeile anzeigen zu lassen. Auch kann man virtuell­ nisse zur ­Entstehung – Briefe, autobiografische in den Handschriften blättern und selbst sehen, Äußerungen und Gesprächsberichte von Zeit- wo Goethe ein Wort gestrichen oder hinzugefügt zeugen. Zwischen zwei Buchdeckel würde das hat. Und für diejenigen, die Goethes Handschrift kaum passen. nicht entziffern können, gibt es eine sogenannte Umschrift, also eine Übertragung in »Druck- Per Mausklick durch das »Faust«-Universum buchstaben«, die die räumliche Anordnung der Die schiere digitale Materialfülle ist noch kein Wörter in den Handschriften aufgreift. Wert für sich. Anders als bei den ersten digitalen Die faustische Edition könnte bereits im 5 Auge in Auge mit der EDV. Editionen verschiedener Autoren und ihrer Sommer 2015 online gehen. Sie soll mit allen Computer machen große Sammlungen und ganze Werke in den 1980er Jahre, deren – so Bohnen- ihren digitalen Möglichkeiten für die Öffentlich- Bibliotheken per Mausklick kamp-Renken – »größter und oft einziger Vor- keit frei verfügbar sein. Die Ausgabe des Freien verfügbar. Sie liefern zug die Durchsuchbarkeit des Textes war«, kann Deutschen Hochstifts und seiner Partner ist eine Verknüpfungen und Einblicke, man jetzt per Mausklick im ganzen Faust-Uni- Hybridedition. »Bestimmte Eigenschaften von die bisher kaum denkbar waren. Doch ohne den versum navigieren. Die Forschung darf sich Büchern wie die gewohnte Orientierung und Menschen wüsste die freuen, und auch die breitere Öffentlichkeit das leichte Durchblättern können durch elek­ Maschine gar nicht, worum es erhält einen Einblick in die Werkstatt des Dich- tronische Editionen nicht oder nur unvollkom- geht. Melanie Blaschko (links) ters, in der über einen Zeitraum von mehr als men nachgebildet werden«, sagt die Direktorin und Anika Kindervater, Mitarbeiterinnen des 60 Jahren eines der wichtigsten Werke der des Hochstifts, Anne Bohnenkamp-Renken. Faust-Illustrationen-Projektes, deutschen Literatur entstanden ist. Deshalb soll es eine dreibändige Buchausgabe versehen die digitalisierten Eine Hauptaufgabe historisch-kritischer Edi- zu kaufen geben, mit einem Lesetext und ausge- Grafiken mit Annotationen, tionen ist es, Vorstufen und Varianten von Tex- wählten Handschriftenfaksimiles. Stichwörtern und Beschrei- bungen, die für die weiteren ten zu dokumentieren und zu bewerten. Dass es Forschungen unerlässlich sind. ausgerechnet zu Goethes »Faust« keine solchen Des »Pudels Kern« auf dem Bildschirm Das Goethe-Museum des Frankfurter Freien Deutschen Hochstifts verfügt über eine umfang- reiche Sammlung von Illustrationen zum »Faust«. Die rund 2.500 grafischen Blätter und Buchseiten vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart zeigen Gretchen in der Kirche, Faust im Studierzimmer oder wie sich ein schwarzer Pudel in Mephisto verwandelt (womit dann der Teufel als »des Pudels Kern« in das Geschehen eingreift). Bei der Mitwirkung des Hochstifts am LOEWE-Schwerpunkt stehen diese Abbildun- gen im Zentrum des Teilprojekts »Illustrationen im Umfeld von Goethes ›Faust‹«. Die digitalisierten Illustrationen bilden in ihrer Gesamtheit nun ein »Bildcorpus«. Die ungleich anspruchsvollere Aufgabe bestand darin, eine Software zu entwickeln, mit deren Hilfe man eine Verknüpfung zwischen den Bild­ inhalten und den korrespondierenden Textstel- 5 len herstellen kann: Auf welchen Vers bezieht modernen Standards genügende Ausgabe gibt, sich der Illustrator, und gibt er den Text genau ist ein erstaunliches Desiderat, das Albrecht wieder, oder handelt es sich um eine freie Inter- Schöne – einer der renommiertesten Forscher pretation? Das Bildcorpus soll auch Aus­sagen auf diesem Gebiet – vor 20 Jahren als »nationale über das Verhältnis der Illustrationen unterein- Schande« bezeichnete. Die Einbeziehung der ander ermöglichen und Einblicke in die Rezepti- neuen Medien bietet nun die Möglichkeit, neue onsgeschichte des Dramas geben. Wege zu beschreiten und dem Nutzer unabhän- Die Illustrationen werden auf einer Online- gig von den Einschränkungen des Buchformats Plattform frei zugänglich gemacht. Die tech­ das vollständige Archiv aufbereitet zur Verfü- nischen Grundlagen für Auswertung und Ver- gung zu stellen und die Daten je nach Interesse knüpfung stammen vom Text Technology Lab abrufbar zu machen. der Goethe-Universität, das auch bei den

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­laufenden Arbeiten mit den Kunst- und Lite­ Übersetzung aus einer anderen Sprache Eingang raturwissenschaftlern des Freien Deutschen ins Altgeorgische gefunden hat? Hochstifts kooperiert. Geleitet wird das Text Diese Frage gehört zu einem LOEWE-Teil­ Technology Lab von Alexander Mehler, Pro­ projekt unter Leitung des Sprachwissenschaftlers fessor für Texttechnologie / Computional Huma- Jost Gippert. Ihre Beantwortung zielt auf die Klä- nities. Sein Aufgabengebiet ist der computer- rung von Verwandtschaftsverhältnissen, die sich und informationswissenschaftliche Kern des auch in einem Stammbaum darstellen lassen. LOEWE-Schwerpunkts und anderer Projekte im Bereich der Digital Humanities.

Vorsicht, »feindliche Übernahme«? Ohne die Expertise von Alexander Mehler und seinem Team blieben die Humanities in Frank- furt weitgehend analog. Die Geisteswissenschaf- ten allgemein sind auf eine Zusammenarbeit mit der Informatik angewiesen, um Erkenntnisse zu gewinnen, die mit den bisherigen Instrumenten nicht möglich waren. Trotzdem gibt es in der geisteswissenschaftlichen Community eine leb- hafte Diskussion über einen möglichen »Aus- verkauf an die Informatik«, verbunden mit der Furcht vor einer »feind­lichen Übernahme« durch ihre Dogmen. Alexander Mehler plädiert für einen »interdis- ziplinären Dialog zwischen den Wissenschaftskul- turen«, der von »beiden Seiten selbstbewusst« geführt wird. Manche Animositäten beruhten ganz einfach darauf, dass man spezifische­ Metho- den und Erkenntnisprozesse des jeweils anderen Faches nicht kenne oder missverstehe. Ein Infor- 6 matiker müsse auch erst ­lernen, was sich hinter der Hermeneutik, der geisteswissenschaftlichen Doch wie macht man das? Um diese Aufgabe 6 Dieser Pudel gleicht eher Vorgehensweise des Verstehens und Interpretie- kümmert sich Armin Hoenen. Er gehört zum Text einem Höllenhund. In Goethes rens, verbirgt. Alexander Mehler sieht die Digital Technology-Team von Alexander Mehler. Eines Faust verwandelt er sich in Mephisto. Das Verbundprojekt Humanities – er selbst bevorzugt den Ausdruck seiner Spezialgebiete ist die Stemmatologie, die – zu den Digitalen Geistes­ »Computational Humanities« – auf dem Weg zu vereinfacht gesagt – Lehre von der Erstellung wissenschaften braucht einer eigenständigen Disziplin. Das hätte auch den eines Stammbaums. »Wenn eine Handschrift keinen übernatürlichen Bei- Vorteil, dass ihre Vertreter die beteiligten Fächer kopiert wird, entstehen Abweichungen. Und stand, um weitere Erkennt- nisse zu sammeln. Im soweit ­kennen, dass sie vor falscher Furcht oder diese Varianten vermehren sich von Abschrift zu Anschluss an die bisherige übertriebenen Erwartungen gefeit sind. Abschrift«, so Hoenen, der über die computerge- Finanzierung gibt es eine Manche der neuen Vorgehensweisen und stützte Stemmatologie promoviert. Förderung durch das Bundes- Fragestellungen, so Mehler, erhielten ihre Prä- ministerium für Bildung und Forschung. gung erst an der Nahtstelle zwischen Geistes­ Wie die Genetik dem Altgeorgischen hilft wissenschaften und Informatik. Das zeige sich Im Prinzip werden die Texte Wort für Wort mit- etwa bei intertextuellen Strukturen, die allein einander verglichen. Texte mit größeren Treffer- an Textmengen beobachtbar sind, deren Größe quoten – dieselben Worte sind an derselben nur computerbasiert zu bewältigen ist. Stelle identisch – deuten auf einen höheren Ver- Gegenstände des LOEWE-Schwerpunkts sind wandtschaftsgrad hin. Bei 15 Texten von jeweils auch Corpora älterer Sprachen, die im Hinblick 10.000 Worten Länge muss man beispielsweise auf die wechselseitige Beeinflussung von Texten mehr als eine Million Wortpaare miteinander untersucht werden. Manche Texte – in diesem vergleichen. »Das ist für einen Menschen kaum Fall Handschriften, die digitalisiert worden zu leisten, für einen Computer aber kein Pro­ sind – haben eigentlich denselben Inhalt. Sie blem«, so Hoenen. Die Herausforderung besteht unterscheiden sich aber trotzdem, manchmal allerdings in den Algorithmen, den Program- nur in winzigen Details, andere Fassungen mierschritten, mit denen man am schnellsten ­liegen sehr weit auseinander. So ist es zum Bei- und zuverlässigsten zum Ziel kommt. Und hier spiel bei Bibeltexten in altgeorgischer Sprache, lässt sich immer noch etwas dazulernen. die alle die vier Evangelien zum Inhalt haben. Diese Weiterentwicklung ihres eigenen Wer hat nun von wem abgeschrieben, und Fachgebiets ist Informatikern wichtig. Eine ­welche Fassung war die erste, die wiederum als Lösung, die in einem Zusammenhang gefunden

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wurde, kann auch in einem anderen nützlich nichts von geisteswissenschaftlichen­ Deutungs­ sein. »In diesem Sinne ist die Informatik trans- traditionen, er zählt einfach«, so Jussen. Manche disziplinär«, so Armin Hoenen. »Sie betrachtet Ausdrücke, die bislang große Aufmerksamkeit die Probleme als solche, während ihre konkrete genossen hätten, seien gar nicht verbreitet Manifestation in der Biologie, Chemie, Medizin, ­gewesen. In der Forschung gelte etwa »christia- Geschichts- oder Sprachwissenschaft die Dimen- nitas« als eine Leitvokabel des mittelalterlichen sion ist, die die jeweiligen Fachwissenschaften Denkens. »Mit den neuen Verfahren können wir betrifft.« Bei seiner Arbeit mit den altgeorgi- nun sehen, dass ›christianitas‹ gar keine politi- schen Texten helfen dem Informatiker, der auch sche Konzeptvokabel war und dass sie genau in Biologie und Linguistik studiert hat, Erkennt- den Texten, die in der Ideengeschichte im Fokus nisse, die im Bereich der Biologie gemacht wur- stehen, geradezu gemieden wird.« den. Und vielleicht kann ja auch die Biologie, Die Forschungen auf dem Feld der Computa- und hier besonders die Genetik, zunehmend tional Historical Semantics gehören einerseits von Algorithmen profitieren, die sich wiederum zum Leibniz-Projekt »Politische Sprache im in den Digital Humanities bewährt haben. Mittel­alter« unter Leitung von Bernhard Jussen. Der stete Fortschritt der digitalen Möglich- Andererseits sind sie Bestandteil des LOEWE- keiten könnte auch einer noch im Verborgenen Schwerpunkts. In Kooperation mit dem Text blühenden Forschungsposition helfen, ihr volles Technology Lab des Informatikers Alexander Potenzial zu entwickeln. Die Historische Seman- Mehler entstand in den letzten Jahren das welt- tik entstand in den 1960er Jahren. Auf Sprache weit größte frei zugängliche lateinische Wort­ und Texte bezogen untersucht sie den Wandel formen-Lexikon, das »Frankfurt Latin Lexicon«, charakteristischer Begriffe und ihrer Bedeutung mit derzeit gut acht Millionen Wortformen. Diese in der Geschichte und für die Geschichte: Wel- Datenbank wird auch dafür gebraucht, um in den che Mentalitäten, Orientierungen und Ideolo- Texten nach verschiedenen grammatischen For- gien treten in diesen Begriffen zutage? Was sagt men eines Wortes zu suchen. Das eigentliche ihr Gebrauch über die jeweilige Zeit aus? Analyse-Werkzeug zur Interpretation historischer »Erst heute haben wir die technischen Sprachwandelphänomene ist ebenfalls schon im ­Mittel, um den alten Texten diese Informa­ Einsatz. Die webbasierte Anwendung für die tionen auch wirklich zu entlocken«, sagt Breitennutzung heißt CompHistSem (Computati- ­Bernhard ­Jussen, Professor für Mittelalter- onal Historical Semantics), für Experten HSCM liche Geschichte an der Goethe-Universität. (Historical Semantics Corpus Management). Wenn die Historische Semantik Phänomenen Ab Anfang 2015 steht die erste umfassende des Sprachwandels nachspürt, sucht sie in geschichtswissenschaftliche Untersuchung auf ­Texten nicht nur nach den einzelnen Wor- dem Programm. Dann erforscht eine internatio- ten, sondern auch nach nale Gruppe von Mittelalterhistorikern die politi- den Wortgruppen oder sche Sprache der Karolingerzeit, die in der Gesell- Wendungen, mit denen schaft keine Trennung zwischen dem ­religiösen sie gemeinsam auftre- und dem politischen Bereich kannte. Die digitale ten. Dieser Zusammen- Technik steht bereit. Schon die Version für Infor- hang – das sogenannte matik-Laien ist überaus leistungsfähig – und dabei semantische­ Feld – lässt einfach zu bedienen. Aus­reden gelten nun nicht nähere Aussagen zur mehr. Bernhard Jussen: »Wir hoffen, grundsätz- Verwendung eines Wor- lich in die Arbeitsweise der Zunft einzugreifen. tes zu. Solche Ko-Okku- Ich wollte, dass es für Historiker einfacher ist, das renzen, das gemeinsame Tool zu benutzen, als es nicht zu benutzen.« Auftreten bestimmter Damit ist in diesem Fall wohl auch die Sorge Wörter, »von Hand« ausgeräumt, dass nur »Nerds« die computer­ Der Autor herauszu­suchen, ist nur basierten Möglichkeiten nutzen können. Doch in einem sehr begrenz- wie steht es mit Goethes Faust? Wäre er nach Bernd Frye, 50, studierte Politikwissenschaften, ten Umfang möglich. dem Studium der Digital Humanities klüger Germanistik und Philosophie – und hat einen geworden? Wahrscheinlich nicht. Denn Faust Computer. Was allein ihn aber, wie er jetzt weiß, Ein Computer kennt keine wollte nichts weniger wissen, als »was die Welt noch lange nicht zum Digitalen Humanisten Deutungstraditionen im Innersten zusammenhält«. Dafür ist die macht. Er arbeitet im Hauptberuf als Presse­ Die computergestützte elektronische Datenverarbeitung dann doch referent am Exzellenzcluster »Die Herausbildung Historische Semantik des nicht zuständig. Obwohl: Im Sommer 2013 soll normativer Ordnungen« an der Goethe-Univer­ Frankfurter Projekts kann Informatikern der Beweis für die Existenz sität und als freier Autor regelmäßig auch für wesentlich dazu bei­ ­Gottes gelungen sein; sie haben eine logische »Forschung Frankfurt«. tragen, etablierte An- Konstruktion des Mathematikers Kurt Gödel [email protected] nahmen zu korrigieren. erfolgreich mit dem Computer nachvollzogen. »Ein Computer versteht Aber das ist wohl ein anderes Thema. 

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100 JAHRE SAMMLUNGEN DER GOETHEUNIVERSITÄT

MUSEUM GIERSCH SCHAUMAINKAI 83 60596 FRANKFURT / M.

Jubiläum 100 JAHRE GOETHE UNIVERSITÄT AusstellungEN

»Ich sehe wunderbare Dinge« 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität

ls Howard Carter 1922 zum ersten Mal im Tal der Könige ins Grab von Tutenchamun blickte, sagte er: »Ich sehe wunderbare Dinge«. Unbekannte Schatzkammern verbergen sich auch in den Depots, Büros, Archivräumen oder auf den Dachböden der Goethe-Universität Aund ihrer Kooperationspartner, wo die über 40 Sammlungen lagern. Millionen Objekte aus 4,6 Milliarden Jahren sind in über 100 Jahren Forschung und Lehre entstanden und gesammelt worden. Sie lesen sich wie ein Kaleidoskop der Erd- und Menschheits­geschichte. Erstmals gibt die Jubiläumsausstellung zur Hundertjahrfeier der Goethe-Universität in einem Gemeinschaftsprojekt der Medizin, Geistes- und Naturwissenschaften sowie der Universitätsbibliothek und des Universitäts­archivs Einblick in das breite Spektrum ihrer Bestände. Der Katalog zur Ausstellung Die Goethe-Universität öffnet ihre Archive und Schatzkammern­ und präsentiert »Ich sehe wunderbare Dinge. 450 der schönsten, interessantesten und faszinierendsten Stücke im Rahmen 100 Jahre Sammlungen der der Ausstellung »Ich sehe wunderbare Dinge« im MUSEUM GIERSCH. Die Goethe-Universität«, Hrsg.: Ausstellung, die bis zum 8. Februar 2015 läuft, ist bewusst nicht nach Sammlun- Charlotte Trümpler, Judith Blume, Vera Hierholzer, Lisa Regazzoni, gen gegliedert, sondern nach Themen, die relevante Aspekte des menschlichen Ostfildern 2014, Hatje Cantz Verlag, Lebens ansprechen und in den Sammlungsobjekten aufscheinen wie beispiels- ISBN 978-3-7757-3844-6, 400 Seiten, weise Glaube, Idealbild, Wanderung, Bewegung, Emotionen, Protest oder Tod. 664 Abbildungen, plus DVD mit Kurzfilme über 82 Wissenschaftler und Studierende zeigen auf humorvolle Forschungsfilmen, 20 Euro (Museum), 35 Euro (Buchhandel). Weise, dass Forschung nicht trocken sein muss, sondern lebendig und spannend sein kann. An einem Terminal abrufbar ist die im Juli 2014 eröffnete Online-Plat­ tform zu den Sammlungen mit anschaulich geschriebenen Objekterzählungen von Studierenden. Charlotte Trümpler

96 2.2014 | Forschung Frankfurt Ausstellungen »Sollte Kunst die Natur nachahmen, oder sollte sie die Natur übertreffen und über die Nachahmung hinaus zu neuer Erfindung fortschreiten?« Ernst Hartwig Kantorowicz (1895 – 1963, Historiker, 1930 – 1933 Professor an der Goethe-Universität)

Idealbild Forschung Frankfurt | 2.2014 97 Ausstellungen

»Der Tod ist die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu seyn. Wohl dem, der sie benutzt«

Arthur Schopenhauer (1788 –1860, Philosoph)

Sofa von Artur Schopenhauer Auf diesem Sofa wurde Artur Schopenhauer am 21. September 1860 von seinem Arzt tot aufgefunden.

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TOD

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HUNDERT. 1 Die Goethe-Universität in 100 Dingen

ie wahre Beschaffenheit der Dinge bleibt den Menschen oft verborgen. 1 Weihnachtsgruß (1984) Weidenreich. 1933 musste In Falle der hundert Dinge, die wir für die Jubiläumsausstellung des Professor Dr. Bernhard Weidenreich Frankfurt verlassen und emigrierte Universitätsarchivs Frankfurt ausgewählt und in »HUNDERT« für 100 Grzimek, 1954 bis 1974 nach China. Seit 1941 war Tage in der Eingangshalle des IG Farben-Hauses sichtbar gemacht Direktor des Frankfurter Zoos, war einem breiten er am »American Museum Dhaben, ist dieses Dictum Wielands wörtlich zu verstehen: Neben tausenden of Natural History« in Publikum durch seine Filme Blättern, zusammengeschnürt oder gereiht zwischen Aktendeckeln geschützt, und seine Fernsehsendung New York tätig. um sie für mindestens 500 Jahre vor dem Verfall zu bewahren, liegen Archiv­ »Kein Platz für Tiere« 6 Mikrokosmos (1968) boxen mit dreidimensionalen Gegenständen, die genauso einmalig sind wie bekannt. Gegnüber seinen Kollegen pflegte er Kieselalgen erzeugen einen jedes Stück Papier in unserem Magazin. Nur wir Archivare wissen von der gelegentlich einen etwas großen Teil des Sauerstoffs Existenz dieser Dinge und wehren uns täglich mit größerem Erfolg dagegen, zu eigenen Humor, wie sein auf der Erde. Wer diese viele unserer Geheimnisse preiszugeben. Der Archivar ist weder Sammler, ein Geschenk an den Direktor Lebewesen erforscht, wie lückenloser Bestand kann keinem ernsthaften Historiker recht sein, noch des Instituts für Anthropo- die Frankfurter Biowissen- logie belegt. schaftler, der muss jedoch Aufklärer. Hätte er Zeit, dann schriebe er ein Buch auf Grundlage der Akten, die ganz genau hinsehen, denn in den letzten neunundneunzig Jahren nie eine Wissenschaftlerin (oder ein 2 Mitstreiter (2003) Kieselalgen sind mikros­ Forscher) bestellt und einge­sehen hat. Bezogen auf die Bestände des Universi- Seit zwölf Jahren lädt kopisch klein. Nur wenige tätsarchivs Frankfurt ist das die große Mehrheit der Akten. die Universität im Herbst Arten werden bis zu zwei Millimeter groß. Ziel von HUNDERT war es nicht nur, den Gründungsmythos der Acht- bis Zwölfjährige zu Vorlesungen ein. In einer »Stiftungsuniver­sität Frankfurt« weiterzugeben, um den einen oder anderen Woche entdecken die 7 Burgtheater (1960) Aspekt zu erweitern und zu kritisieren (hier erfüllen wir voller Mut eine Forderung Kinder, dass es auch ein Aus der einen Ecke eines der drei geistigen Väter dieser akademischen Korporation), Ziel der Leben nach der Schule des letzten Raumes im Ausstellung war es vor allem, einzelne Geschichten aus hundert Jahren in Dingen gibt. Viele Schüler werden Historischen Seminar im nach ihrem Abitur 5. Stock des »Philosophi- zu formieren und im Rahmen einer Präsentation zu ordnen. Der Namensgeber Kommilitonen. cums « erinnerte Alexander fand hierfür die Formulierung: »Die Geschichte denkt uns vor«. Zschikkes Kantorowicz- 100 Dinge in 64 eigens dafür gebauten Zeitkapseln sollten zuerst einmal 3 Hirnforschung (1945) Büste an dessen Studie erfreuen und die Neugier an der Geschichte dieser 100 Jahre jungen Institution Der »Cube Test« ist Teil des »Die zwei Körper des Königs«, aus der anderen wecken. Mit den Fotografien und den kleinen Texten zu den 100 Dingen wollten »Goldstein-Scheerer Tests of Abstracts and Concrete Ecke mahnte das wir weniger belehren, sondern – idealerweise­ – viele Kommilitoninnen und Thinking«, mit dem sich »Ausgang«-­Schild Kommilitonen dazu anregen, sich ihre eigene Meistererzählung von der hundert Denkstörungen experimen- Ferdinand Kramers mit Jahre alten Universität Frankfurt auszudenken. So nahmen für uns Blindgeborene­ tell feststellen lassen. Den Kants Dictum: »Aufklärung ist der AUSGANG des die Dinge für 100 Tage sichtbare Gestalt an. Versuch entwickelte der Neurologe Kurt Goldstein Menschen aus einer selbst- Michael Maaser (1878 – 1965), Schüler und verschuldeten Unmündig- Assistent von Ludwig keit.« Über solche Notaus- Die Ausstellung »HUNDERT. Die Goethe-Universität in 100 Dingen« kuratierte der Archivar der Edinger, Leiter des »Instituts gangslichter stritten sich Universität Frankfurt, Dr. Michael Maaser. Die Zeitkapseln entwarf der Designer und Künstler Lars Contzen. zur Erforschung der weder Professoren noch LarsContzen machte auch die Fotos. Für das Licht sorgte Joerg Obenauer. Die Objektbeschreibungen (rechts) Folgeerscheinungen von Studierende. sind dem Ausstellungskatalog entnommen. Hirnverletzungen« und ordentlicher Professor für Neurologie an der Frank- furter Medizinischen Fakultät. Im April 1933 musste Goldstein in die USA emigrieren.

4 Fruchtkörper (1966) Der Universitätsbaumeister Ferdinand Kramer kümmerte sich um jedes Detail. Er verstand sich nicht nur als Architekt, sondern auch als Innendekorateur. Selbst die Obstschale für das Rektorat trug das von ihm entworfene Uni-Logo.

5 Augenschein (1931) Die Augenfarbentafel stammt aus der Sammlung des Anthropologen Franz

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Forschung Frankfurt | 2.2014 101 Forschung fördern Forschung fördern

Die Dame mit dem Hut 100 Jahre selbstbestimmtes Leben – Die Stifterin Dagmar Westberg

von Astrid Ludwig

Dagmar Westberg schaut nicht verbittert auf ihre gestohlene Jugend während der Nazizeit; die 99-jährige Stifterin engagiert sich lieber hier und jetzt aktiv für junge Wissenschaftler und zukunftsweisende Forschungsprojekte an der Goethe-Universität.

achlässigkeit akzeptiert die Wahl-Frank- Dagmar Westberg wurde 1914 in Hamburg furterin Dagmar Westberg nicht – auch geboren. »Ich bin so alt wie die Goethe-Univer- Nnicht im hohen Alter, da zeigt sich ihre sität. Das passt doch gut zusammen«, lacht sie. hanseatische Erziehung. In beiger Bluse und Eine Liaison, die seit 2009 währt und mit dem Hose sitzt die alte Dame auf dem Sofa in Dagmar Westberg-Universitätsfonds, dem nach ihrem Wohnzimmer im Westend – sorgfältig ihr benannten Preis und mit der jährlichen Dag- geschminkt und frisiert. Sie ist klein, zart und mar Westberg-Vorlesung in den Geistes- und unglaublich agil. »Älter werden, damit fangen Humanwissenschaften ihren Ausdruck findet. wir gar nicht erst an«, lautet ihr Lebensmotto. Zum 100. Geburtstag plant sie, der Hochschule Auf dem Couchtisch zwei Gläschen für ihren ein weiteres Geschenk zu machen; aber das ver- Lieblingssherry und kleine Köstlichkeiten aus rät sie noch nicht. selbst zubereitetem Forellenmus – alles schön Der Universität fühlt sie sich auch wegen gerichtet, darauf legt sie Wert! Und wenn sie zu ihres berühmten Namensgebers verbunden. Ihr einer der vielen Einladungen aus dem Haus Vater, ein Anwalt, dessen Familie aus Riga geht, dann niemals ohne Hut. stammte, war ein großer Goethe-Freund. Vor der Familie zitierte er aus Goethes Werken und Ein Doppeljubiläum: Goethe-Universität und schrieb auch selbst gern Verse. »Das habe ich ihre Stifterin feiern gemeinsam Geburtstag von ihm geerbt.« Unlängst hat Dagmar West- Im Dezember feiert Dagmar Westberg ihren berg übrigens ihre Biografie veröffentlicht. 100. Geburtstag. Im Städel wird ein großer Empfang stattfinden. Die umfangreiche Gäste- Die unerwartete Ankunft des sechsten Kindes liste stellt sie selbst zusammen. »Ich habe Simon Im Esszimmer der Hamburger Anwaltsfamilie gefragt, ob er Musik für mich macht. Leider hat wuchs Dagmar Westberg mit Bildern von Emil er keine Zeit.« – »Simon?« – »Ja, Sir Simon Nolde und anderen Meistern auf. Der Vater Rattle.« Den Kontakt zu dem britischen Chef­ legte großen Wert auf eine gute Ausbildung dirigenten der Berliner Philharmoniker hat ­seiner Kinder. Dagmar Westberg, die Jüngste die alte Dame vor einigen Jahren selbst auf­ von sechs Geschwistern, war sein Augapfel. Mit gebaut. Sie ist wissbegierig und kontakt- ihr hatte niemand gerechnet, berichtet die alte freudig – diese Eigenschaften charakterisieren Dame schelmisch schmunzelnd: »Nachdem sie besonders. mein Bruder Olaf geboren war, sagte die

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­Hebamme: ›Da kommt noch eins – und das war von den Nazis als »Halbjüdin« angesehen ich‹.« Sie hat Humor, eine Mischung aus trocke- wurde. Einen »Webfehler« nennt sie das heute nem Hamburger Witz und Berliner Schnauze. mit ironischer Distanz. »In unserer Familie gab Ihr Großneffe Martin Hahn, ein Mediziner, es keine jüdische Tradition, meine Eltern waren beschreibt seine Tante »Daggi« nicht nur als evangelischen Glaubens, hatten christlich gehei- »unglaublich diszipliniert und energisch«, son- ratet.« Als die Nürnberger Rassengesetze 1933 dern auch als »eine Frau, die immer sagt, was in Kraft traten, war Dagmar Westberg 19 Jahre sie denkt und sich nicht darum kümmert, ob alt: »Man kann sich heute gar nicht vorstellen, sich andere ­aufregen«. wie belastend das war.« So verbot das »zum Als Kleinste fühlte sich Dagmar Westberg in Schutze des deutschen Blutes und der deut- ihrer Kindheit von den Geschwistern stets schen Ehre« erlassene Gesetz auch die Ehe- gegängelt und herumkommandiert. Von den schließung zwischen Juden und Nichtjuden.

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1 Dagmar Westberg, 1939. drei Mädchen war sie schließlich das einzige, »Wir ›halbjüdischen‹ Mädchen blieben zwangs- das Abitur machte – an einem Knabengymna- weise solo – und das in meinen besten Jahren.« 2 Silberhochzeit sium. Sie wollte raus aus dem Dunstkreis der Dagmar Westberg hat auch nach dem Ende der der Eltern, 1926. Familie, und der Vater ermunterte sie zu einem NS-Herrschaft nicht geheiratet. Auch wenn sie 3 Blankenese 1928, Aufenthalt in England. Mit 20 Jahren fuhr sie viele Freunde hatte, ihre Unabhängigkeit schätzt auf dem Süllberg – 1934 mit dem Schiff von Hamburg nach Groß- sie bis heute. Geburtstagsfeier des britannien und legte auf einem privaten College Zurück aus England arbeitete die junge Frau Vaters zum 56. im Süden der Insel ein Sprachexamen ab. Dort zunächst in einem Hamburger Exportbüro, 4 Dagmar Westberg erwarb sie die Englisch-Kenntnisse, die ihr spä- 1939 vermittelte ihr ihr Vater eine Stelle beim und ihr VW Käfer. ter das Überleben sichern sollten. amerikanischen Generalkonsulat der Hanse- Mit der Machtübernahme der Nationalsozia- stadt. Dort blieb sie, bis 1941 die diplomatischen listen veränderte sich ihr Leben schlagartig, Beziehungen zwischen Deutschland und den erinnert sich Dagmar Westberg. Nach dem Col- USA abbrachen. Sie wechselte nach Berlin und lege wollte sie eigentlich in England bleiben, arbeitete dort zunächst bei einem Patentanwalt. hatte bereits eine Stelle als Lehrerin an der Ihre Familie in Hamburg kam bis Kriegsende Lyton School nahe London in Aussicht. Doch glimpflich davon. Doch in Berlin erlebte sie die das Verhältnis zwischen Deutschland und Eng- grausame Realität, als sich der Anwalt, dessen land verschlechterte sich zusehends. Im Som- Frau jüdischer Herkunft war, mit seiner Familie mer 1936 wurde ihr Visum nicht verlängert, das Leben nahm. und sie musste ausreisen. Die Rückkehr gestaltete sich schwierig. 1933 Die Amerikaner retten ihr das Leben hatte sie erstmals erfahren, dass ihre Mutter aus Die zarte, kleine Frau muss in den folgenden einer jüdischen Familie kam und sie deshalb Jahren gleich mehrere Schutzengel gehabt

104 2.2014 | Forschung Frankfurt Forschung fördern haben. Sie schaffte es, 1943 eine Anstellung in »Frankfurt ist meine zweite Heimat.« Hier der Schutzmachtabteilung der Schweizer Bot- konnte sie als unabhängige Frau leben, die in den schaft in Berlin zu finden. Hier wurden auch die 1950er Jahren bereits den Führerschein machte Interessen der Amerikaner und anderer kriegs- und bald ihr eigenes Auto fuhr. Auch finanziell führender Länder wahrgenommen, berichtet war Dagmar Westberg durch das Vermögen ihrer sie. Die Beschäftigung in der Schweizer Bot- Familie unabhängig. Der von ihr noch heute sehr schaft verschaffte ihr einen sicheren Status. Der verehrte Großonkel Oscar Troplowitz entwickelte schützte sie auch bei einem kurzen Ferien­ die kleine Pharmafirma, die er von dem Apothe- aufenthalt in Kitzbühel vor der Verhaftung, ker Carl Paul Beiersdorf aus Altona gekauft hatte, als dort eines Nachts die Gestapo an ihre zum weitverzweigten Unternehmen Beiersdorf, ­Hotel­zimmertür hämmerte, um ihre Papiere zu das so nützliche Dinge wie Nivea Creme, Hansa- kontrollieren. plast und Tesafilm auf den Markt gebracht hat.

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Unter dem Eindruck des verheerenden »Sympathische Kosmopolitin« und Bombenkriegs wurde ihre Abteilung von Berlin »großherzige Mäzenin« in die Nähe von Wangen – nicht weit von der Gern hätte sie studiert: »Journalismus oder The- Schweizer Grenze – verlegt. Dort erlebte sie das aterwissenschaften. Als junge Frau wollte ich Ende des Nazi-Terrors. Im Mai 1945 wurden die Schauspielerin werden.« Ihren Interessen für diplomatischen Zuständigkeiten der Schweizer Kunst und Wissenschaft ging Dagmar Westberg Schutzmacht wieder an die Alliierten zurück- ohne Studienabschluss intensiv nach. Schon als übertragen, und Dagmar Westberg wurde mit junge Frau war der früh verstorbene, kinderlose der Schweizer Botschafts-Abteilung nach Bad Großonkel mütterlicherseits Oscar Troplowitz Homburg versetzt, da das nahe Frankfurt auch ihr Vorbild als Kunstmäzen. »Ich war erst vier, der Sitz der amerikanischen Militärregierung als er starb und habe ihn leider nie richtig ken- war. 1946 kehrte sie dann in den Dienst der US- nengelernt, aber viel über ihn erfahren.« Trop- Diplomaten zurück – allerdings in Frankfurt. lowitz war ein Unternehmer, der sich für sein Dagmar Westberg war dabei, als das amerikani- Personal engagierte: Er führte als einer der ers- sche Generalkonsulat in der Bockenheimer ten die 48-Stunden-Woche ein und schuf für Anlage eröffnet wurde, und auch beim späteren seine Beschäftigten eine Alters- und Hinter­ Umzug in die Siesmayerstraße. Während dieser bliebenenkasse. Außerdem war er ein großer Zeit lernte sie auch bekannte Persönlichkeiten Kunstliebhaber, Sammler und Mäzen. Die Ham- wie Colin Powell kennen, der als Drei-Sterne- burger Kunsthalle verdankt ihm einige ihrer General in die Bundesrepublik berufen war und Schätze, darunter einen Picasso. »Ich halte sein später US-Außenminister werden sollte. »Den Erbe als Mäzenin hoch. Ich möchte der All­ Amerikanern«, betont Dagmar Westberg, »habe gemeinheit etwas Gutes tun.« So unterstützt ich viel zu verdanken.« sie, assistiert von ihren finanziellen Beratern,

Forschung Frankfurt | 2.2014 105 Forschung fördern

Die Stifterin gemeinsam mit dem Vizepräsident der Goethe-Universität, Prof. Matthias Lutz-Bachmann – bei einem ihrer häufigen Besuche im Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg.

das Frankfurter Städel mit großzügigen Kunst- schenkungen, hat die Dagmar Westberg-Stiftung­ ins Leben gerufen, fördert soziale Projekte – und eben die Goethe-Universität. Es sind vor allem die geisteswissenschaftlichen Projekte, die sie an der Universität unterstützt – besonders die mit Bezug zur Anglistik, weil sie sich England und den Amerikanern weiter eng verbunden fühlt. Die frühere Oberbürgermeisterin Frankfurts Petra Roth bezeichnet Dagmar Westberg als »großherzige Mäzenin«. Das Stiftertum, wie Dagmar Westberg es lebe, sei prägendes Element urbaner Kultur, so Roth. Prof. Dr. Matthias Lutz Bachmann, Vize-Präsident der Goethe-Univer- sität, lobt ihre »scharfsinnigen Bemerkungen Auf einen Blick: und lebendigen Rückfragen«, bezeichnet sie als Dagmar Westbergs Engagement »sympathische Kosmopolitin mit weitem Hori- zont«. Die Universität sei dankbar, dass sie als großherzige Stifterin besonders »die Geistes­ rstmals wurde 2010 der Dagmar Westberg-Preis ver­liehen, der wissenschaften unterstützt, die es stets schwerer nun jährlich herausragende geistes­wissenschaftliche Abschluss- haben als andere Disziplinen«. Dagmar West- Earbeiten honoriert, die einen Bezug zu Großbritannien haben. berg denkt schon über neue Projekte mit der Zusätzlich richtete sie den Dagmar Westberg-Universitätsfonds ein. Universität nach. Auch Prof. Dr. Manfred Schu- Mit seiner Hilfe sollen wissenschaftliche Studien zur britischen bert-Zsilavecz hat als Vizepräsident der Goethe- Literatur, Kultur und Geschichte an der Goethe-Universität vorange­ Universität des Öfteren Gelegenheit, mit der trieben werden. Beides wird von der Deutsch-Britischen-Gesellschaft, Stifterin ins Gespräch zu kommen, und schätzt deren Ehrenmitgl­ ied sie ist, zusammen mit der Goethe-Universität ihre Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit. »Mir verantwortet. imponiert ihre Klugheit und ihr tiefer Fundus an Seit 2011 gibt es auch einen zusätzlichen Universitätsfonds der Lebenserfahrung. Und – was nicht vergessen ­Stifterin, der eine Stiftungsgastprofessur ermöglicht. Jährlich wird ein werden darf – sie versteht es, das Leben zu genie- hochkarätiger Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin auf den ßen«, ergänzt der Pharmakologe.  Campus Westend oder an das Bad Homburger Forschungskolleg Humanwissenschaften als Fellow eingeladen, um Vorträge zu halten und an Kolloquien und Diskussionen teilzunehmen. 2013 kam Martha ­Nussbaum, Professorin für Recht und Ethik an der University of Chicago, nach Frankfurt; sie gilt als eine der profiliertesten Philosophinnen der Gegenwart. An der US-amerikanischen Princeton University fördert Dagmar Westberg das »German Summer Work Program«, dies soll das Interesse an deutscher Sprache und Kultur in den USA wecken und wachhalten. Mit einem Stipendium können die amerikanischen Studierenden sechs Wochen ein Praktikum in einem deutschen Unternehmen machen. 2000 gründete sie die Dagmar Westberg-Stiftung, die sich kulturell und sozial engagiert, die sowohl unverschuldet in Not geratene Menschen unterstützt als auch öffentliche Kunstsammlungen fördert. Die Autorin Auch das Frankfurter Städel Museum unterstützt sie regelmäßig und Astrid Ludwig, 49, arbeitet seit 30 Jahren als großzügig, so stiftete sie dem Städel 2008 ein wertvolles Altarbild. Im Redakteurin. Ein Schwerpunkt der freiberuflich Übrigen ist ein Saal des Museums nach ihr benannt. In Anerkennung tätigen Journalistin sind Themen aus dem ihrer »Verdienste um das Gemeinwohl« wurde Dagmar­ Westberg 2009 Hochschul- und Wissenschaftsbereich. in Wiesbaden vom damaligen hessischen Ministerpräsidenten­ Roland [email protected] Koch mit der Georg-August-Zinn-Medaille ausgezeichnet.

106 2.2014 | Forschung Frankfurt – Anzeige –

»1914 verwirklichten Frankfurts Bürger eine große Vision: Sie gründeten Deutschlands erste Bürger universität. Auch heute kön- nen wir wieder etwas dazu beitragen, dass aus Wissenschaft und Bürger- geist Neues entsteht. Ich finde: ein lohnenswertes Ziel!«

Dr. FrieDerike Lohse MitgLieD iM VorstanD Der FreunDe

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Interview mit der Fundraiserin Lucia Lentes

Vor 100 Jahren gründeten Stifter die gement der Frankfurter Bürger einen »ihre« Universität Unterstützung Goethe-Universität. Die Hochschule ist großen Beitrag dazu geleistet, dass das braucht und auch verdient hat. Eine 2008 als ­autonome Stiftungsuniversität Stiftungs­kapital der Universität auf Universität ist ein riesiges Gebilde, das zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Hat die rund 165 Mio. Euro angestiegen ist. unzählige Möglichkeiten der Förde- Universität davon profitiert? rung bietet. Vielen Frankfurter Bür- Ist es schwer, die Menschen heute für gern und Absolventen der Goethe- Lucia Lentes: Die Umwandlung der Goe- eine Unterstützung der Universität zu Universität ist es inzwischen wichtig, the-Universität in eine Stiftungsuniver- gewinnen? sich auch »vor der eigenen Haustür« sität stellt eine echte Erfolgsgeschichte zu engagieren und so die Lebensquali- dar. Selbstverständlich hat das stark L entes: Viele Bürger aus Frankfurt und tät in ihrer Stadt und ihrem Umfeld zu entwickelte Mäzenatentum und Enga- der Region haben verstanden, dass verbessern.

108 2.2014 | Forschung Frankfurt Forschung fördern

Spenden bedeutet nicht zwangsläufig, Universität gibt und welche Beträge Welche Motivation treibt Ihrer dass immer hohe Summen gegeben diese insgesamt ausmachen? Erfahrung nach die meisten Stifter werden müssen. Kann ich auch und Stifterinnen an? mit 50 Euro schon etwas ­ausrichten? Lentes: Zurzeit haben wir 27 Stiftungs- Und wie oft geschieht dies? professuren in acht Fachbereichen. Lentes: Das ist wirklich sehr unter- Diese werden zumeist von Unterneh- schiedlich: Ein Sohn möchte an seinen L entes: Ja, auf jeden Fall. Das Deutsch- men oder Stiftungen finanziert. Stif- Vater erinnern, der hier als Professor landstipendium können Sie bereits mit tungen und Stiftungsfonds, die aus- tätig war, und vergibt einen Preis in 50 Euro unterstützen. Dieses Pro- schließlich oder vor allem die seiner Disziplin, jemand anderes hat gramm motiviert so viele Menschen, Goethe-Universität unterstützen, gibt lieb gewonnene Erinnerungen an Eng- dass wir inzwischen über 200 neue es aktuell zehn, angefangen von einem land und fördert die Anglistik. Wieder Spender für die Universität gewinnen Fonds mit 25.000 Euro bis zu einer jemand anderes möchte dem wissen- konnten und damit auch Menschen, rechtlich selbstständigen Stiftung mit schaftlichen Nachwuchs eine Chance die »ihre« Universität mit ihrem viel- 33 Millionen Euro. Auch die Stipendi- geben. Es gibt aber auch Stifter aus der fältigen Angebot für Bürger entdeckt enfonds sind ganz unterschiedlich aus- Region, die von der Universitätswelt haben. Gerade ehemalige Studierende gestattet: So vergibt ein Fonds, der und dem neuen Campus mitten in sehen in diesem Programm eine Mög- auch nach seinem Stifter benannt ist, Frankfurt begeistert sind und für die lichkeit, etwas an ihre Universität speziell zur Unterstützung von Dokto- die Förderung junger Menschen und zurückzugeben. randen jährlich zwei Stipendien. Viele damit die Investition in Bildung ein Spender des Deutschlandstipendiums sehr aktuelles Thema ist. Welche Möglichkeiten oder unter- haben im Jubiläumsjahr mit zahlrei- Den Möglichkeiten für ein Engage- schiedlichen Arten zu stiften, gibt es chen kleinen und auch großen Spen- ment zugunsten der Goethe-Universi- an der Goethe-Universität? den genau 606 Stipendien für unsere tät sind (fast) keine Grenzen gesetzt! Studierenden ermöglicht. Lentes: Als Stiftungsuniversität können An wen kann ich mich wenden, wenn wir wie eine »Dachstiftung« agieren Gibt es Fachbereiche oder Fächer, die ich auch Stifter der Goethe-Universität und sämtliche Spielarten der Stiftungs- die Lieblingskinder von Stiftern sind? werden möchte? landschaft anbieten. Für Einsteiger ist sicherlich ein Stiftungsfonds interes- Lentes: Stifter haben ganz unterschied- Lentes: Am besten wendet man sich an sant, hier kann man schon mit relativ liche, sehr individuelle Interessen, das die Stabsstelle Fundraising. Unsere Kon­ kleinen Summen viel bewirken, hat spiegelt sich auch in den Förderzwe- taktdaten finden Sie auf der Homepage aber nicht den administrativen Auf- cken wider. Für Unternehmen stehen der Goethe-Universität. Wir nehmen wand für den Stifter wie bei der Ein- eher wirtschaftsnahe Themen im Vor- uns die nötige Zeit und hören gut zu, richtung einer unselbstständigen Stif- dergrund, das ist legitim. Vermögenden um gemeinsam mit dem Interessenten tung. Um eine unselbstständige Privatpersonen ist es ein Anliegen, die richtige Förderung und Umset- Stiftung wirklich sinnvoll nutzen zu gesellschaftlichen Wandel zu gestalten. zungsmöglichkeit zu entwickeln. können, sollte das Stiftungskapital bei Sie sind zum Beispiel mehr noch als der Gründung mindestens 50.000 Euro Unternehmen für die Förderung der betragen. Die Verwaltung der Stiftung Grundlagenforschung zu begeistern. übernimmt die Goethe-Universität. Das Schöne am philanthropischen Den Stiftungsfonds und die Fundraising: Da wollen Menschen unselbstständige Stiftung kann man etwas für andere Menschen tun. Dabei übrigens auf Dauer mit dem Namen geht es vor allem darum, Ungerechtig­ des Spenders verbinden – oder zur keiten auszugleichen oder Änderun- ­Erinnerung mit dem Namen einer gen zum Wohle der Gesellschaft anzu- anderen Person. Schließlich gibt es stoßen. Dafür ist eine Universität der noch die Möglichkeit, direkt in das Stif- ideale Ort. tungskapital der Goethe-Universität Zur Person zuzustiften oder eine rechtlich selbst- Muss ich mir den klassischen Stifter ständige Stiftung zugunsten der Goe- älter und betucht vorstellen? Lucia Lentes, 59, kam 1990 nach 13 Jahren the-Universität einzurichten, so wie im deutschen diplomatischen Dienst an dies 2008 mit der Gründung der Alfons L entes: Wenn es um große Beträge die Goethe-Universität. Nach den ersten und Gertrud Kassel-Stiftung geschehen geht, treibt es natürlich eher Ältere Jahren im Bereich Auslandsbeziehungen wechselte sie in den Bereich Öffentlich- ist. Aber dies betrifft dann zumeist sehr um, sich für etwas zu engagieren, das keitsarbeit und begann 2005 mit dem große Zustiftungen, die eher selten über ihre Lebensdauer hinaus wirkt. Aufbau der zentralen Alumni-Arbeit. Im vorkommen. Größere Spenden erhalten wir jedoch Übergang zur Stabsstelle Fundraising auch von jüngeren Menschen, die ganz bildete sie sich zur Fundraising-Managerin Haben Sie mal nachgezählt, wie viele gezielt etwas bewirken wollen und des- an der Fundraising-Akademie weiter. Stiftungen, Stifter-Fonds, Gastprofessu- halb den Kontakt zur Goethe-Universi- Seit April 2014 leitet sie die Stabsstelle ren oder Stipendien es an der Goethe- tät suchen. kommissarisch.

Forschung Frankfurt | 2.2014 109 Vater der Wolkenkratzer und Förderer der Wissenschaft Über den Stifter Josef Buchmann von Astrid Ludwig

Die Nationalsozialisten zerstörten seine Kindheit, raubten ihm die Jugend: Josef Buchmann überlebte die Konzentrationslager. Er gab nie auf, wurde ein erfolgreicher Unternehmer. Nachwuchsforscher und die Wissenschaft zu unterstützen, das sieht er – der selbst nicht studieren konnte – als »sein Lebenswerk« an. Forschung fördern

osef Buchmann war neun, als seine Träume dass ich etwas wert bin«, sagt er mit verhalte- starben – begraben unter Wehrmachtsstie- ner Stimme. Jfeln, Mauern und Stacheldraht. Mit seinen Pläne und Unterlagen liegen auf dem großen Eltern und vier Geschwistern wurde er ins Konferenztisch in seinem Büro im Verwaltungs- Ghetto Litzmannstadt deportiert, das Juden­ bau des Nordwest-Zentrums. Seit den 1990er viertel, das Hitlers Truppen in seiner Heimat- Jahren gehört Josef Buchmann auch Frankfurts stadt Lodz errichtet hatten und in dem sie mehr größte Shoppingmall. Gerade arbeitet er an einer als 160 000 Menschen zusammenpferchten. Der Erweiterung des Zentrums um Wohnungen und Familie war bewusst, dass das nur der Anfang Ladenlokale. Auch mit 84 ist er noch jeden Tag in eines schrecklichen Dramas sein würde. Plötz- seinem Büro, das mit englischen Stilmöbeln wie lich ging es nicht mehr um Schulbücher oder ein Wohnzimmer eingerichtet ist. »Arbeiten ist Kinderspiele, nur noch ums nackte Überleben. mein Hobby.« Das scheint ihn jung zu halten. Das war auch dem Neunjährigen bald klar. Seine Freizeit ist für seine Frau und seine fünf An einem Montagmorgen, 75 Jahre später, Jahre alten Zwillinge reserviert. »Sie sind meine sitzt der Immobilienbesitzer Josef Buchmann in ganze Freude.« Erst spät im Leben hat Josef seinem geräumigen Büro im Frankfurter Nord- Buchmann das Familienglück gefunden, das ihm west-Zentrum. Er blickt auf die Wand gegenüber als Kind geraubt wurde. von seinem Schreibtisch. Dort hängen zwei Der Immobilienbesitzer, oft als einer der Urkunden, auf die ist er besonders stolz. Die eine reichsten Frankfurter bezeichnet, ist eher still und – edel gerahmt – in hebräischer Schrift weist ihn zurückhaltend, er meidet die Öffentlichkeit. Wich- als Ehrendoktor der Universität Tel Aviv aus. Und tige Entscheidungen berät er mit seiner Frau und daneben die Auszeichnung mit des Dichters zart- engen Mitarbeitern, die schon Jahrzehnte für ihn blauem Konterfei – überreicht von der Goethe- arbeiten. Vertrauen ist ihm wichtig. Der 84-Jäh- Universität, als er 2013 zum Ehrensenator der rige spendet großzügig, aber er will genau wissen, Universität ernannt wurde. Kurz vorher war das was seine Zuwendungen bewirken. Als er 1980 neue Institut für Molekulare Lebenswissenschaf- sein Stifter-Engagement an der Goethe-Universi- ten auf dem Campus Riedberg nach ihm benannt tät begann, tat er das, weil er die Beziehungen worden, den Bau hatte er mit einer Millionen- zwischen Deutschland und Israel stärken, den stu- spende ermöglicht. Ein Bild des hochmodernen dentischen und wissenschaftlichen Austausch »Buchmann Institutes«­ hängt daher auch an sei- zwischen Frankfurt und Tel Aviv fördern wollte. ner Bürowand. Mit dem 1983 eingerichteten Josef-Buchmann- Fellowship-Fund für Studierende der Universitä- »Ich wollte mir selbst zeigen, dass ich ten Frankfurt und Tel Aviv hat er eine stabile Basis etwas wert bin.« für diesen Austausch geschaffen. Buchmann Der 84-Jährige ist kein Mann vieler Worte. wollte mit diesen Aktivitäten ein Band knüpfen Manchmal wirkt er fast schüchtern. Doch man zwischen seiner neuen deutschen Heimat und der merkt ihm an, dass er stolz ist auf die wissen- israelischen Stadt, in die er selbst mit seiner Fami- schaftlichen Projekte, die an der Universität lie mehrmals im Jahr reist und in der eine seiner Frankfurt und im israelischen Tel Aviv mit sei- zwei älteren Schwestern lebt. ner Hilfe entstehen. Er freut sich, wenn junge Selbstverständlich war es für ihn, auch wäh- Stipendiaten ihre Träume realisieren können, rend des Sechs-Tage-Kriegs und des Yom-Kip- Wünsche und Vorstellungen, die die National- pur-Kriegs in Israel zu sein. »Ein starkes und gut sozialisten ihm brutal verwehrten. Er gibt heute, entwickeltes Israel ist eine Voraussetzung für was ihm damals genommen wurde: »Es macht den Fortbestand des jüdischen Volks«, begrün- mir Freude, jungen Menschen zu helfen.« det Buchmann sein enormes Engagement in Nachwuchsforscher und die Wissenschaft Israel, das sich nicht auf die Förderung der Wis- zu unterstützen, das sieht er – der selbst nie senschaften beschränkt. So spendete er unter studieren konnte – als »sein Lebenswerk« an. anderem medizinische Ausrüstung für die in Als Kind überlebte er das Vernichtungslager den Kriegen verwundeten israelischen Solda- Auschwitz und das KZ Bergen-Belsen. Die ten, finanzierte eine Kampagne, um während Nazis ermordeten seine Eltern, zwei seiner vier des Golfkrieges neue Immigranten nach Israel Geschwister und nahezu alle Verwandten. zu bringen. Seit mehr als 30 Jahren fördert er Allein mit den Schrecken der Vergangenheit diverse Projekte an der israelischen Universität stand er vor einer völlig ungewissen Zukunft. Tel Aviv; aus Dank und Anerkennung trägt die Er gab nicht auf; heute ist er Millionär und juristische Fakultät seinen Namen. Mäzen. Sein Unternehmen arbeitet internatio- nal. Buchmann besitzt Immobilien in Deutsch- »Ich unterstütze alle Bereiche. Ich bin da land, Israel und den USA. Er hat es geschafft – nicht festgelegt.« mit starkem Willen und Gespür für Menschen Förderprojekte wie das Institut für Lebenswis- und Projekte. »Ich wollte mir selbst zeigen, senschaften auf dem Riedberg oder Kandidaten

Forschung Frankfurt | 2.2014 111 Forschung fördern

Für ihre herausragende Unterstützung des »Buchmann Instituts für Molekulare Lebenswissenschaften« ehrte der Universitätspräsident Prof. Werner Müller-Esterl (links) im Februar 2012 das Ehepaar Bareket und Josef Buchmann.

für die Stipendien sucht Buchmann gemeinsam mit dem Universitätspräsidium aus. Präferenzen für einen bestimmten Wissenschafts- oder ­Fachbereich hat er nicht. »Ich unterstütze alle Bereiche. Ich bin da nicht festgelegt«, betont er. Von den Lebenswissenschaften bis zur Musik: So gründete er 2005 in Tel Aviv gemeinsam mit dem berühmten Dirigenten Zubin Mehta die »Buch- mann-Mehta School of Music«, die er ebenso wie die Stipendien für die Schüler finanziert. In Frankfurt engagiert sich der 84-Jährige, weil er sich hier wohlfühlt. »Hier ist mein Zuhause.« Dabei wollte er, als er nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen durch die ­Alliierten im Lager für Displaced Persons in Frankfurt-Zeilsheim landete, nur weg aus Deutschland. Josef Buchmann war 15 Jahre alt, Auf einen Blick: als Krieg und mörderischer Rassenwahn ende- Josef Buchmanns Engagement ten. Er wollte nach Amerika, ins Land der Frei- heit, nach New York, wohin der Bruder seiner eit 1980 fördert Josef Buchmann den wissenschaftlichen Mutter rechtzeitig ausgewandert war. »Mein Nachwuchs und wissenschaftliche Projekte an der Goethe- Onkel hat mich nach Kriegsende überall suchen SUniversität. Vor rund 30 Jahren richtete er den Josef-Buch- lassen«, erinnert er sich. Doch als Josef Buch- mann-Fellowship-Fund für Studierende der Partner-Universitäten mann endlich alle Papiere für die Ausreise Frankfurt und Tel Aviv ein. Seit 1983 ­werden jährlich Doktoranden- zusammenhatte, starb der Onkel, und er blieb in Stipendien zur Verfügung gestellt. Mehr als 300 Stipendien sind Frankfurt. »Ich hatte hier unterdessen ein paar seither vergeben worden. Freunde und Bekannte gefunden.« Deshalb Buchmann ermöglichte die Vergabe der Josef Buchmann entschied er sich gegen Amerika, wo niemand Laureatus-Professur von 2004 bis 2008 durch den Frankfurter mehr auf ihn wartete. Anfangs fühlte er sich im Förderverein für physikalische Grundlagenforschung. Zudem Land der Täter zunächst unwohl. Über den unterstützte der Mäzen den Neubau des Zentrums für Kinderheil- Holocaust sprach niemand, und auch er selbst kunde und Jugendmedizin am Frankfurter Uniklinikum; zu seinen wollte die Vergangenheit hinter sich lassen. Ehren trägt ein Teil des Zentrums den Namen »Josef-Buchmann- Flügel«. Außerdem half er dem Klinikum bei der Anschaffung Vom Varieté-Besitzer zum Investor modernster medizinischer Geräte. Buchmann fing klein an: »Ich hatte Ideen, ich Das Senckenberg Museum – dort ist Buchmann auch Mitglied war sehr fleißig und wollte auf die Beine kom- des Kuratoriums – unterstützte er bei der Neugestaltung der men.« In den 1950er Jahren machte er im Vogelhalle, die nun ebenfalls nach ihm benannt ist. Dem Städel Bahnhofsviertel die New York City-Bar auf, in Museum schenkte er das Arnulf-Rainer-Werk und half gemeinsam Erinnerung an seinen Onkel. Das Geld dafür mit der Johanna-Quandt-Stiftung bei dem Ankauf eines Giacometti- gab ihm Bruno Schubert, der Besitzer der Gemäldes. Buchmann beteiligte sich auch an der Einrichtung eines ­Henninger Brauerei, mit dem er zeitlebens integrativen Spielplatzes im Waldspielplatz Louisa. befreundet blieb. 2011 erhielt er die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt. 2012 erhielt Seine Immobilien-Karriere begann mit dem die Goethe-Universität von ihm eine großzügige Spende für den Kauf und Bau eines Wohn- und Geschäftshauses Aufbau des Instituts für Molekulare Lebenswissenschaften auf an der Moselstraße, gegenüber seiner Bar. Dafür dem Campus Riedberg. Das Institut trägt seinen Namen. 2013 ist nahm er Ende der 1950er Jahre einen Kredit auf, Josef Buchmann zum Ehrensenator der Goethe-­­Universität ernannt errichtete im Erdgeschoss den Nachtclub »Impe- worden. rial«, ein Varieté, das in ganz Deutschland Zum 100. Geburtstag hat der Stifter der Goethe-Universität im bekannt wurde. »Ich war jung, ich ging gern aus Februar 2014 ein Konzert in der Alten Oper mit dem Dirigenten Zubin tanzen.« Stars wie Josephine Baker traten dort Mehta und jungen Musikerinnen und Musikern der Buchmann- auf, Zarah Leander, Marika Rökk oder Bill Haley. Mehta School of Music Tel Aviv geschenkt. »Das war eine spannende Zeit.« In seinem Nachtclub lernte Buchmann auch Manager des Shell-Ölkonzerns kennen. Für den Konzern baute er 1964 bis 1966 den ersten

112 2.2014 | Forschung Frankfurt Forschung fördern

Wolken­kratzer der Stadt, das Shell-Haus. »Mit einem Atombunker für 3000 Leute samt Kranken­haus«, fügt er an. Buchmann gilt als Vater der Frankfurter Skyline, auch die Zwil- lingstürme der Deutschen Bank sind »seine Kinder«. Er hatte die Idee, kaufte das Grund- stück und ließ die Entwürfe zeichnen – alles zusammen verkaufte er später an das Bankhaus. »Es gab damals Stimmen, dass ich aus Frankfurt New York machen wolle. Heute finden die meis- ten die Skyline schön«, freut er sich. Wie viele Immobilien Buchmann besitzt, wie viele gemeinnützige und wohltätige Pro- jekte er unterstützt, weiß er nicht auswendig. Das sind in den vergangenen Jahrzehnten zu viele geworden. Viele Urkunden und Auszeich- nungen, die er inzwischen erhalten hat, bezeu- gen, dass er etwas Bleibendes geschaffen hat. Neben dem Ehrendoktortitel der Universität Tel 1 Aviv hat Buchmann sowohl von dem verstorbe- nen israelischen Präsidenten Ezer Weizmann als werden, die während des Zweiten Weltkriegs auch von seinem Nachfolger Shimon Perez und Juden retteten. 2009 ehrte ihn der polnische von dem verstorbenen Premierminister Yitzhak Präsident Lech Kacynski mit dem höchsten Rabin hohe Auszeichnungen für seine Unter- polnischen Verdienstorden. stützung und außerordentliche Treue zu Israel bekommen: »Das freut mich besonders, Israel Die späte Begegnung mit Oskar Schindler liegt mir sehr am Herzen.« Zurzeit ist Buch- in der Moselstraße mann Vizepräsident des internationalen Board Dass er Jude ist und in Auschwitz war, erzählte 1 Vor dem Konzert mit dem of Governors der Universität Tel Aviv. Josef Buchmann viele Jahrzehnte niemandem Dirigenten Zubin Mehta und Auch in seine Geburtsstadt Lodz zieht es – bis er Oskar Schindler während der Umbau­ dem Sinfonieorchester der Buchmann-Mehta School of den Frankfurter Millionär immer wieder. Er arbeiten des Hauses in der Moselstraße traf. Music (Tel Aviv): beteiligte sich unter anderem am Bau der »Hall Schindler, nach dem Krieg wirtschaftlich erfolg- Der Präsident der Goethe- of Cities«, einer Gedenkstätte für alle Städte, los, betrieb damals eine Fabrik für Bodenplatten Universität Prof. Werner aus denen Juden ins Ghetto Lodz beziehungs- in Hanau und bewarb sich bei Buchmann um Müller-Esterl (links im Bild) begrüßte den weltbekannten weise in die Vernichtungslager transportiert einen Auftrag. »Er berichtete mir, dass er viele Maestro (Mitte) und Josef wurden. Im Park der Überlebenden in Lodz hundert Juden in Polen gerettet hat. Ich konnte Buchmann, dessen großzügige konnte mit Buchmanns Unterstützung ein es kaum glauben.« Ein paar Tage später meldete Spende das Konzert zum David-Stern-Denkmal für die Polen errichtet sich bei Buchmann ein Richter aus Israel, einer 100. Geburtstag der Universität am 17. Februar in der Alten der »Schindler-Juden«. Buchmann gab Schind- Oper ermöglicht hatte. ler den Auftrag, sie wurden Freunde. (Ein ehe- maliger Mitarbeiter der Firma Schindler er­innert 2 Josef Buchmann in sich noch heute gerne an die gute Zusammenar- jüngeren Jahren. beit.) Buchmann unterstützte den Retter, der durch Steven Spielbergs Film weltberühmt wurde, ein Leben lang. Schindlers Freundin überließ er mietfrei einen Friseursalon in sei- nem Haus in der Moselstraße. Zusammen reisten Oskar Schindler und Josef Buchmann einmal im Jahr nach Israel, wo sich die von Schindler geretteten Juden trafen. Über Auschwitz sprachen sie nie. »Warum auch. Wir hatten doch alle den gleichen Schlamassel erlebt.« Als »Schindlers Liste« in die Kinos kam, war der Retter der Juden schon fast 20 Jahre tot. Josef Buchmann hat sich Spielbergs Film angesehen. »Er war schlimm, aber nicht so schlimm wie die Wirklichkeit«, sagt er und seine Stimme ist kaum zu hören. Er wird den Freund nie vergessen, nicht nur, weil »seine Bodenplatten noch immer in dem 2 Haus in der Moselstraße liegen«.­ 

Forschung Frankfurt | 2.2014 113 Zurückhaltung ist fehl am Platz EU-Gelder sind hart umkämpft, doch der Einsatz lohnt sich von Michael Braun Forschung fördern

Die Erfolgsquote von rund 10 Prozent ist gering, der Arbeitseinsatz hoch. Doch weil die Europäische Union Fördersummen in Millionenhöhe ausschüttet, ermutigt die Universität ihre Wissenschaftler, Anträge zu stellen und unterstützt sie dabei. Der Wirtschaftsjournalist Dr. Michael Braun hat die Beteiligten nach den Schlüsseln zum Erfolg gefragt.

ai Rannenberg hat es mit Alice. Alice trägt nen Euro. »Wir müssen was richtig gemacht Pumps, halblange Haare, ein Businesskos- haben«, sagt Rannenberg eher tiefstapelnd. Ktüm und unter dem Arm ein paar Doku- mente. So hat der Frankfurter Wirtschaftsinfor- Die EU fordert Wissenschaft für die Gesellschaft matiker sie in seine Folien gemalt, mit denen er Was er richtig gemacht hat, ist im neuen Rah- loszieht, um sein Projekt »ABC4Trust« zu erklä- menprogramm der EU sozusagen zur conditio ren. Alice hat ihre ganzheitliche Identität. Aber sine qua non geworden. Das trägt den Namen die teilt sie nicht mit jedem: mit ihrem Freund »Horizont 2020« und verlangt von allen Vorha- 1 Kristina Wege und Bob ganz viel Privates, mit dem Krankenhaus ben den Nachweis, »Wissenschaft für die Gesell- Dr. Dieter Manthey beraten Blutgruppe und Krankenversicherungsanga- schaft« zu treiben. Wissenschaft soll raus aus und unterstützen Wissen- schaftler dabei, erfolgreich ben, mit dem Finanzamt Informationen über dem Elfenbeinturm. Sie soll schon mit ihren EU-Gelder einzuwerben. Alter, Einkommen und Ausgaben. Auch Arbeit- Fragestellungen dafür sorgen, in der Gesell- geber, Kollegen, Freunde und die Kreditkarten- schaft akzeptiert zu werden. Kriterien von gesellschaft wissen was von Alice. Aber nicht »Horizont 2020« sind etwa, die Gleichstellung alle wissen alles über Alice. Das soll auch so blei- der Geschlechter zu fördern oder die internatio- ben. Damit Sicherheit und Privatheit im Netz nale Zusammenarbeit, Fragen zur nachhaltigen sichergestellt und bewahrt bleiben, gibt es Entwicklung und zum Klimawandel zu bearbei- »ABC4Trust«. Es geht dabei um einen daten- ten sowie zusammen mit kleinen und mittleren schutzfreundlichen Zugang zu Diensten im Unternehmen neue innovative Produkte und Internet. Anwendungen zu entwickeln. Eine solche Hal- Rannenberg, an der Goethe-Universität Inhaber des »Deutsche Telekom Chair of Mobile Business & Multilateral Security«, hat das For- EU Gelder an der schungsprojekt 2009 beantragt. 2010 wurde es Kapazitäten Goethe-Universität genehmigt, als eines von mehreren Vorhaben 14 des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU. Zusammenarbeit Dort Gelder loszueisen, sei nicht so leicht, erzählt Kristina Wege, EU-Referentin in der »Stabsstelle Forschung und wissenschaftlicher Nachwuchs« der Universität. Im Schnitt ­würden 49 nur 10 bis 20 Prozent der Förderanträge geneh- 60 MioMio. . € Ideen migt. Rannenberg als erfolgreicher Antragsstel- 18 ler der Goethe-Universität ist bei seinem Projekt Menschen »ABC4Trust« für Frankfurt eine Förderung von gut 1,5 Millionen Euro zugesagt worden. Das 29 gesamte Konsortium erhält fast neun Millionen Sonstige Euro. Rannenberg hat insgesamt im Rahmen 2007 2014 6 des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms sechs 7. EU-Forschungsprogramm 116 geförderte Projekte Projekte eingeworben mit einer Fördersumme für die Goethe-Universität von etwa 3,9 Millio-

Forschung Frankfurt | 2.2014 115 Forschung fördern ein beispiel für ein ABC4Trust-System

Tombola-System (Prüfer) Universität (Aussteller)

Ausstellung des Studierendenzertifikats Mat.-Nr. = 6043344 1.

6.6 2. Teilnahme an Tombola Anmeldung für Vorlesung Vorlesung = CS445

5. 3. Eignung für Tombola Student Anwesenheitsinfo (Nutzer)

4. Mat.-Nr. = ? Noch eingeschrieben = ja Vorlesungsevaluationssystem Vorlesung = CS445 (Prüfer und Aussteller) Anwesend > 50% Hörsaal

tung ist für Rannenberg nichts Neues. Der auch Buch, muss der Onlinehändler nichts über ihr soziologisch interessierte Wirtschaftsinforma­ Geburtsdatum, ihre Blutgruppe oder die tiker hat seine vom 6. EU-Forschungsrahmen- gemeinsamen Hobbys mit ihrem Freund wissen. programm geförderten Arbeitsergebnisse in Buch- Diese Informationen können zwar in anderen form herausgegeben: »The Future of Identity in Internetzusammenhängen wichtig sein, etwa the Information Society« (2009). Der Verlust an im Kontakt zwischen »Alice« und ihrer Kran- Privatheit als Preis für die Bequemlichkeit ist kenversicherung oder im Chat mit gemein­ dort ein Thema. samen Freunden. Für den Onlinehändler ist 2 Das Frankfurter ABC4Trust- Nun also »ABC4Trust«. Die ersten drei Buch- aber vor allem wichtig, dass Alices Kontodaten Kernteam Fatbardh Veseli, staben stehen für »Attribute-based Credentials«. stimmen. Das kann sie zum Beispiel mit ihrer Welderufael Tesfay, Ahmad Es geht darum, die Vertrauenswürdigkeit des Bank- oder Kreditkarte belegen. Sabouri und Kai Rannenberg zeigt die Chipkarten, mittels Umgangs mit persönlichen Daten im Netz derer die die attributbasierten dadurch zu erhöhen, dass einem Anbieter im Datensicherheit im Netz: ein Vorzeigeprojekt Credentials der Nutzer Internet nur die jeweils relevanten Eigen­ »Alice« hat, weil es für sie bequemer ist, ihre gespeichert und schaften (Attribute) des Nutzers zur Verfügung »Beglaubigungsurkunden«, ihre Credentials geschützt werden. gestellt werden, diese aber versehen mit einer (Rannenberg hofft, dass dieser Begriff als Lehn- Art Beglaubigungsurkunde (Credential) von wort Eingang in die deutsche Sprache findet), in jemandem, dem der Anbieter vertraut: Kauft einer Art Brieftasche gespeichert, aus der sie ihre Rannenbergs Kunstfigur »Alice« im Netz ein jeweils wichtigen Attribute vorzeigen kann. Das ist für Alice besser als die gegenwärtige Situation im Internet, bei der Identitätsinformationen immer wieder an der Quelle, dem sogenannten »Identitätsprovider«, abgefragt werden. Der Identitätsprovider bekommt dann auf dem Sil- bertablett serviert, was »Alice« im Netz macht, weil er ja die Anfragen von den jeweiligen Web- seiten zur Bestätigung bekommt. Er kann quasi eine digitale Persönlichkeit entstehen lassen, könnte dieses Wissen verkaufen und Informatio- nen unangemessen weitergeben. In einem Pilotversuch von »ABC4Trust« an der Universität Patras (Griechenland) wird der Vorteil für die Nutzer deutlich: Studierende, die Lehrveranstaltungen über einen Internetfrage- bogen evaluieren, müssen davor geschützt sein, dass Lehrveranstalter bei kritischen Kommenta- ren erfahren, von welchem Studierenden sie kommen. Darum müssen die Studierenden für den Zugriff zum Fragebogenformular nicht 2 ihren Namen nachweisen, sondern stattdessen,

116 2.2014 | Forschung Frankfurt Forschung fördern

einrichtungen aus insgesamt 15 europäischen Ländern beteiligt sind. Sie suchen nach Wegen, wie pandemieartige virale Infektionen wie Mala- ria, Vogelgrippe und Aids oder neurodegenera- tive Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson entstehen und bekämpft werden können, wie also Viren in Zellen eindringen, sich dort aus­ breiten und medikamentös unschädlich gemacht werden können. Die Kernspinresonanz-Spek-­ troskopie (NMR) spielt dabei eine zentrale Rolle. Schwalbe hatte im 7. Forschungsrahmenpro- 3 gramm der EU sechs Projekte angemeldet und dafür insgesamt rund 2,6 Millionen Euro Förder- gelder für die Goethe-Universität­ eingeworben. dass sie Studierende sind, die jeweilige Lehrver- Am Lehrstuhl von Prof. Bernd Waas für 3 Dr. Thomas Kremer, anstaltung belegt haben und oft genug dort Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht blüht die Vorstandsmitglied der waren, um die Lehrveranstaltung sinnvoll »rechtsvergleichende Forschungstätigkeit« im Deutschen Telekom für Datenschutz, Recht und bewerten zu können. europäischen Arbeitsrecht. Die Forscher haben Compliance, lässt sich nach sich Politikberatung auch für die EU-Kommis- seiner Keynote auf der Kunststück: Microsoft und IBM an einem Tisch sion vorgenommen. Bei ihnen steht »die kriti- »EU Cybersecurity Strategy Zwei fortgeschrittene Technologien zum Identitäts- sche Begleitung von Gesetzesvorhaben, aber High Level Conference« am 28.2. 2014 in Brüssel die management über »Attribute-based Credentials« auch die Würdigung der Rechtsprechung des ABC4Trust-Pilotsysteme sind schon vorhanden, beide von amerikanischen Europäischen Gerichtshofs im Vordergrund«. von Kai Rannenberg und Anbietern: U-Prove von Microsoft und Idemix Das ist beileibe keine auf den Frankfurter Cam- Souheil Bcheri (Eurodocs AB, von IBM. Rannenbergs Projekt ist nun darüber pus beschränkte Tätigkeit. Im »European Schweden) vorführen. gebaut worden, damit die Nutzer nicht von dem Labour Law Network« arbeiten Arbeitsrechtler 4 Die Kernspinresonanz- einen oder anderen Managementsystem abhän- aus 30 europäischen Staaten und wollen Regie- Spektroskopie wird im Rahmen gig sind, sondern auswählen können. Das klingt rungen, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Gerichte des 7. EU-Rahmenprogramms mit 2,6 Millionen Euro trivial, ist aber schon aus dem Grund schwierig, und Anwälte erreichen. Regelmäßige Informati- gefördert. weil Microsoft von seinen »Genen« her ein Soft- onen über neue Gesetze sind die Basis des Aus- wareunternehmen ist, das seine Waren ver­kaufen tauschs. Die letzten reichten vom deutschen will, während IBM von der Hardware bezie- Mindestlohn bis zu den Vorschriften, die Kroa- hungsweise dem Consulting herkommt und mit tien bei der Videoüberwachung von Mitarbei- »open source«-Technologien arbeitet, sie also tern im Unternehmen gefunden hat. jedermann kostenlos zur Verfügung stellen will. Auch »ABC4Trust« soll, das ist eine forschungs- Die Königsklasse: Der »Synergy Grant« politische Bedingung der EU, eine offen zugäng­ des Europäischen Forschungsrats liche Technologie sein. Rannenberg musste Und dann gibt es noch den Astrophysiker Luci- Microsoft und IBM also zusammenbringen. Es ist ano Rezzolla, der in Frankfurt forscht und lehrt gelungen, aber: »Das war nicht immer so einfach, wie ich es jetzt erzähle«, sagt er. Immerhin half die Struktur der Projektteil- nehmer dabei: Neben der Goethe-Universität, der Technischen Universität Darmstadt sowie außeruniversitären Forschungseinrichtungen aus Dänemark und Schweden sind daran Unter- nehmen wie IBM, Microsoft und Nokia Net- works beteiligt, außerdem ein Verschlüsselungs- spezialist aus Frankreich. Insgesamt sind es zwölf Partner. »Mindestens drei Partner aus drei EU-Ländern müssen beteiligt sein«, weiß Kris- tina Wege aus der »Stabsstelle Forschung und wissenschaftlicher Nachwuchs«.

Millionenschwere Projekte Die Goethe-Universität hat noch mehr solcher Vorzeigeprojekte wie »ABC4Trust«. Prof. Harald Schwalbe etwa koordiniert am Zentrum für ­Biomolekulare Magnetische Resonanz (BMRZ) ein Projekt, an dem 18 weitere Forschungs­ 4

Forschung Frankfurt | 2.2014 117 Forschung fördern

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5 Heino Falcke von der und zugleich eine Forschungsgruppe am Max- laden sie zu Info-Veranstaltungen ein, schicken Radboud University Nijmegen, Planck-Institut für Gravitationsphysik in Pots- Ausschreibungen in die Fachbereiche, bieten Luciano Rezzolla, Goethe- dam leitet. Er wird zusammen mit Kollegen aus Einzelberatung an. Sie kennen auch die Wege, Universität und Max-Planck- Institut für Gravitationsphysik Nimwegen und Bonn Vorhersagen der All­ die zu einer Anschubfinanzierung von bis zu in Potsdam, und Michael gemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins 5.000 Euro führen. Die stellt die Universität Kramer vom Max-Planck- überprüfen. Dazu muss er ein Beobachtungssys- bereit, um komplizierte Förderanträge zu for- Institut für Radioastronomie in tem aufbauen, mit dem erstmals exakte Bilder mulieren. Forschungspartner vermitteln sie Bonn sind Partner in einem »Synergy Grant«, der eines »schwarzen Lochs« aufgenommen wer- nicht: »Das ist bei der thematischen Breite in höchstdotierten und den können. Mit dem ambitionierten Vorhaben 16 Fachbereichen nicht zu machen«, sagt Dieter begehrtesten Förderung des bewegt er sich in der »Königsklasse« der For- Manthey. Aber er und seine Kollegen stellen EU-Forschungsrats. schungsförderung. Der »Synergy Grant« ist die die Verbindung zu übergeordneten nationalen höchstdotierte und begehrteste vom EU-For- Kontaktstellen und zum EU-Programm Horizon schungsrat vergebene Forschungsförderung. Der 2020 her, lesen auch die formalen Teile von Europäische Forschungsrat (ERC) hat dafür ­Förderanträgen gegen. Seit April dieses Jahres 14 Millionen Euro bewilligt. Die Forscher um betreibt die Universität auch ein Büro in ­Brüssel. Rezzolla wollen in das Zentrum unserer Milch- Es sei hilfreich, die Netzwerke der europäischen­ straße schauen, in ein »schwarzes Loch« mit der »scientific officials« zu kennen, sagt Manthey. Masse von vier Millionen Sonnenmassen. Das helfe, Kontakte zwischen den Wissenschaft- Damit diese Koryphäen Konkurrenz bekom- lern und den Direktoriaten der ­EU-Kommission men, sitzt im vierten Stock des PA-Gebäudes auf herzustellen, um so neue Forschungsanträge zu dem Campus Westend die »Stabsstelle For- unterstützen. schung und wissenschaftlicher Nachwuchs«. Justus Lentsch leitet sie. Ansprechpartner sind Anleitung zum Erfolg unter anderen Dieter Manthey und Kristina Zu den handfesten Tipps, wie solch ein Antrag Wege. Sie personalisieren sozusagen den Willen auszusehen hat, gehört, die Bescheidenheit zu der Goethe-Universität, Nachwuchswissenschaft- vergessen. Der Hinweis auf die wissenschaft­ ler an die erreichbaren Fördergelder heranzu- liche Relevanz des zu fördernden Themas sei führen. Sie wollen, dass die formalen Anforde- enorm wichtig, weiß Manthey. Zurückhaltung rungen der Förderanträge nicht zu Hürden für sei fehl am Platz. »Innovativ« müsse schon sein die interessierten Wissenschaftler werden. Dazu im Antrag, »gerne auch ›Durchbruch‹«. Vor der

118 2.2014 | Forschung Frankfurt Drittmittel – woher kommen sie? 61,2 Mio. € Deutsche Forschungsgemeinschaft

12,2 Mio. € Spenden

+ 6,5 Mio. € 24,5 Mio. € Bundesmittel

22,7 Mio. € 13,7 Mio. € Erlöse aus Industrie und Europäische Union Auftragsforschung 142,3 Mio. € 148,8 Mio. € 2012 2013

Formulierung »vollkommen neue Methode« Die Truppe von der solle niemand zurückschrecken. Würden EU- Stabsstelle dient ihre Gelder beantragt, sei natürlich der europäische Hilfe an, als habe sie Mehrwert zu beschreiben und warum die zu wenig zu tun. Das ­ausgewählten europäischen Partner dabei Gegenteil ist richtig. sein müssten. Selbstverständlich müssten die Zumal die Stabsstelle ­eigenen Forschungspläne »genau das treffen, der Goethe-Universität was die EU vorgegeben hat«, mahnt Manthey mit ihren sechs Mitar- und fügt – es klingt nach schlechter Erfah- beitern deutlich kleiner rung – hinzu: »Sich zu wünschen, dass es ist als etwa die der Kon- passt, reicht nicht.« Das gelte vor allem für die kurrenz an der Münchner erwartete – auch patentrechtliche – Verwer- Ludwig-Maximilians-­ tung der Forschungsergebnisse, für die gesell- Universität. Selbst for- schaftliche Relevanz, für den Nachweis, wie schungsarme Fachhoch- Der Autor das Forschungsvorhaben in Europa zu Inno­ schulen mischen mit Dr. Michael Braun, Jahrgang 1952, Gründer des vation führe. beim Wettbewerb um Redaktionsbüros Business Report, das einen Forscher sollten sich Zeit für einen solchen die Forschungsförder­ Korrespondentenvertrag unter anderem mit dem Antrag nehmen, rät Kristina Wege, »mindestens ung. Der hat ein Ziel, Deutschlandradio hält, hat in Bonn Geschichte, sechs Monate«. Die Partner sollten schon vor- und das ist wichtig für Philosophie und Soziologie studiert und mit handen sein. Der Antrag müsse gut ausgearbei- die Goethe-Universität: einer Arbeit über die »Geschichte der luxem­ tet, sauber formuliert, von einem englischen Es geht um prestige- burgischen Sozialversicherung« promoviert. Muttersprachler gegengelesen sein. Hilfreich trächtige Positionen im Vorangegangene Stationen waren die Wirt- sei, schon frühzeitig Berater anzusprechen, sei Hochschulranking. Um schaftsredaktion des hr, die Moderation des es in der universitätseigenen Stabsstelle oder das Forschungsumfeld. Mittagsmagazins beim ZDF, die stellvertretende Chefredaktion des European Business Channel auch bei KoWi, der »Kooperationsstelle EU Schlicht um einen in Zürich und sechs Jahre Online-, Radio- der Wissenschaftsorganisationen«, einer Service- Indikator, ob Frankfurt und Fernseharbeit im Neue Medien-Ressort plattform großer deutscher Wissenschaftsorga- der beste Platz für die der »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. nisationen. Erfolgreiche Anträge im Fachbe- besten Leute ist.  [email protected] reich quasi als Vorbild einzusehen, sei immer eine Hilfe.

Forschung Frankfurt | 2.2014 119 Forschung fördern

Glosse

Im Sinne von »exzellentest«: »Ich möchte der kollektiven Exzellenz meiner Einrichtung keineswegs im Wege stehen.«

Fiktiver Brief eines Antragstellers an den Präsidenten

Ohne Drittmittel für seine Forschung kommt kaum noch ein Wissenschaftler aus. Immer mehr kostbarer Zeit ­verbringen Forscher damit, endlose Anträge auszu­ füllen. Antragsprosa ist längst eine Wissenschaft für sich. Der Jurist Rainer Maria Kiesow hat seine Form des »exzellenten Anschreibens« gefunden – eine Glosse mit spitzer Feder geschrieben.

Eure Exzellenz!

Keinesfalls dürfte ich Sie eigentlich so 19. Jahrhunderts, 1814, 1847, 1883, also anreden, doch erlauben Sie mir bitte diese Savigny, Thibaut, von Kirchmann, Stahl, Heranschmeißerei, sie ist begründet, sie Jhering, Kohler und so weiter als Aus­ gründet in Ihrer Macht, über mich zu gangspunkt für die Rechtsfrage an sich befinden, mich nicht nur gut, nicht nur nehmen, die ja nichts anderes als die sehr gut, nicht nur besonders gut, nein, Frage nach der Vorzüglichkeit des Rich­ sondern mich nachgerade vorzüglich, ters, des Professors, des Gesetzgebers ist. wenn nicht vorzüglichst zu finden. Ich Doch genug davon, Sie können das alles habe einen Forschungsantrag gestellt. Sie im Antrag nachlesen. finden ihn anbei. An Sie wende ich mich, weil ich Sie Es geht, kurz gesagt, um die Frage, brauche. Ich brauche Sie als Gutachter. was Recht war, ist und sein soll. Es geht Sie sollen bezeugen, und zwar begründet, um die Untersuchung der normativen dass ich exzellent bin und deshalb auch Konstitution des Menschseins und Men­ mein Forschungsprojekt exzellent ist. Viel­ schenbeisammenseins. Dabei möchte ich leicht ist es auch umgekehrt, das ist in den die großen juristischen Kontroversen des Antrags-Guide-Lines nicht ganz klar,

120 2.2014 | Forschung Frankfurt Forschung fördern vielleicht soll aus der Gegenwartsexzellenz Solidarität zu tun hat, bewegte mich dazu, des Projekts auf meine allgemeine in der doch einen, den beiliegenden, Antrag zum Vergangenheit, wenn nicht vorhandene, Wohle meiner hoch geschätzten Institution so doch jedenfalls bereits angelegte Exzel­ zu stellen. Und nun zur Sache selbst, mei­ lenz geschlossen werden. Ich weiß es nicht. nem Anliegen, ganz kurz, denn dann, Wie dem auch sei, ich muss exzellent sein, wenn es peinlich wird, sollte es ja kurz und sonst kann ich nicht exzellenzinitiativ schmerzlos zugehen, Letzteres kann ich gefördert werden. Und dann gibt es kein nicht garantieren. Geld. Ihr Gutachten muss – es schmerzt mich Ehrlich gesagt brauche ich das Geld wirklich, Ihnen dies als literarische Anlei­ nicht. Die Bücher habe ich, zudem, wer tung nahelegen zu müssen – Ihr Gutachten braucht heute noch Bücher oder Bibliothe­ darf mich und mein Projekt nicht nur für ken, das Internet reicht vollkommen aus, gut achten, sondern ausdrücklich als exzel­ und irgendwelche verstaubten Archive, zu lent. Ihr Gutachten sollte, bitte, nachgerade denen ich reisen müsste, kommen für mich amerikanisch ausfallen. Vielleicht nicht schon aus ästhetisch-hygienischen Grün­ ganz, nicht die Totallobpreisung schlecht­ den nicht infrage, ganz abgesehen von dem hin, aber eben fast. Sie kennen das, bitte Archivpositivismus, der mir methodisch- verwenden Sie die entsprechenden Formeln, erkenntnistheoretisch seit jeher ein Dorn Sie beherrschen sie, wie ich weiß, zur im Sehnerv war. Genüge. In den Gutachtergremien, in denen Mitarbeiter benötige ich ebenfalls ich sitze, wir saßen auch schon zusammen, nicht. Was sollten die machen? Irgendwel­ Sie erinnern sich, vor Jahren in Harvard, che Erhebungen sind nicht anzustellen. sind die Empfehlungsschreiben für die Kan­ Kofferträger sind aus der Mode. Teilpro­ didaten von einer Exzellenzeintönigkeit son­ jekte gibt es nicht, ich leite schließlich dergleichen. Alle sind exzellent. Vielleicht keine Fabrik. Tagungen, Symposien, Kon­ finden Sie ja, mein ­Projekt und meine Per­ gresse? Damit diese ungenießbare Sammel­ son betreffend, eine besonders bandswelt, denn der Sammelband ist exzellenz­betonende Formulierung, schließlich die unabdingbare Folge dieser im Sinne von exzellentest oder so Zusammenkünfte, damit also das literari­ ähnlich. sche Sammelsurium noch weiter gefüttert Und bitte, ich bitte Sie wirk­ wird? Nein, ich bin allein. Ich brauche das lich inständig, verraten Sie nicht, Geld nicht. Trotzdem beantrage ich es, dass ich recht eigentlich nichts nicht gerade wenig, wie Sie im Anhang weiter als ein pflichterfüllter For­ sehen. scher bin, der sicher, oder vermut­ Meine Universität braucht exzellente lich, da und dort den einen oder Projekte, damit sie selbst als exzellent anderen Ideenzipfel erreicht hat, dastehen kann. Und unkollegial möchte aber in einigen Jahrzehnten ganz ich keinesfalls sein. Ich möchte der kollekti­ sicher, und keineswegs nur ver­ ven Exzellenz meiner Einrichtung keines­ mutlich, vergessen sein wird. Wie wegs im Wege stehen. Also habe auch ich fast alle exzellenten Forscher um Der Autor ein Exzellenzprojekt entworfen, dabei mag uns herum, was mitnichten ein ich, wie Sie nun sicher schon bemerkt Trost ist. Sagen Sie also bitte Prof. Dr. Rainer Maria Kiesow, 50, ist Rechts- haben werden, Projekte ganz und gar nicht, dass meine Exzellenz eine wissenschaftler. Nach seinem Studium an der Goethe-Universität und an der Pariser Univer­ nicht. Ein Forscher forscht. Ein Lehrer große Lüge ist. Behaupten Sie, es sität II forschte Kiesow auch am Frankfurter lehrt. So einfach ist das, dachte ich immer. ist mir wirklich peinlich, einfach Max-Planck-Institut für Europäische Rechts­ Früher gab es keine Projekte, sondern For­ meine Vorzüglichstkeit. Dies sollte geschichte. Seit 2010 hat er den Lehstuhl für scher und Lehrer. Das Projekt ist mit dem Ihnen umso leichter fallen, als Sie »Die Ordnung des Rechts« an der Pariser École Geld gekommen. Man beantragt nun Geld in Wirklichkeit, verzeihen Sie mir des hautes études en sciences sociales (EHESS) für etwas noch zu Leistendes. Früher hat diese wahrhaftige Unbotmäßig­ inne. Kiesow ist Mitbegründer und -herausgeber das Gehalt ausgereicht. Jetzt gibt es viel keit, gar nichts oder nur wenig der kritischen Zeitschrift »Myops. Berichte aus mehr zu holen und auszugeben. Für von meinen Sachen verstehen. der Welt des Rechts«, die im C.H.Beck Verlag, andere. Die Masse macht’s. Exzellenz als Kurz: Tun Sie bitte einfach Ihre München, erscheint. Außerdem ist er Mitbegrün- Massephänomen. Exzellenz-Prosaarbeit. der und -herausgeber der Zeitschrift »Grief. Ich komme ins Erzählen, Eure Exzel­ Danke, Eure Exzellenz! Revue sur les mondes du droit«, die von den Verlagen Dalloz und Editions de l’École des lenz, sehen Sie es mir nach, ich wollte Rainer Maria Kiesow hautes études en sciences sociales, Paris, Ihnen eigentlich gar nicht schreiben, da ich veröffentlicht wird. das Geld, wie gesagt, nicht brauche, aber mein Gewissen des Öffentlichen Dienstes, [email protected] der auch etwas mit Pflicht, Kollegialität, (erstmalig erschienen im duzMagazin 06/2013)

Forschung Frankfurt | 2.2014 121 Erinnerungskulturen Erinnerungskulturen

Der vergessene Retter Philipp Schwartz – Organisator der Wissenschaftsemigration während des Nationalsozialismus

von Gerald Kreft

Eine Liste mit den Namen von 1.794 Wissenschaftlern, die in Nazideutschland entlassen wurden, steht seit 30 Jahren im Regal des Frankfurter Neurologischen Instituts. Von dort geht die Initiative aus, ihren Urheber wiederzuentdecken: den zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Neuropathologen Philipp Schwartz.

begann der größte intellek­ meine Schuldlosigkeit und Zuverlässigkeit genau tuelle Exodus der neueren kenne […]; Vertrauen in eine gerechte Behand- 1933Geschichte. Durch die natio- lung wäre jetzt vollkommen unangebracht.« nalsozialistische Gesetzgebung verloren etwa Ohne zu zögern flüchtete Schwartz mit seinem 3.000 Gelehrte – ein Fünftel aller Hochschulleh- kleinen Sohn im Zug nach Zürich, wo die rer im deutschsprachigen Raum – ihre Stelle. An Schwieger­eltern lebten; seine anderthalbjährige der Frankfurter Universität traf es sogar mehr Tochter folgte kurz darauf mit einem Onkel, als 30 Prozent. Etwa zwei Drittel der Entlasse- seine Ehefrau erst Wochen später. nen verließen das Land, darunter 20 Nobel­ preisträger;­ überdies zahllose akademische Frei- berufler, allein an die 10.000 Ärzte. In diesem – die internationale Wissenschaftsentwicklung des 20. Jahrhunderts prägenden – Migrations­ prozess spielte der aus Frankfurt am Main ver- triebene Philipp Schwartz (1894 –1977), Extra- ordinarius für Pathologie, eine herausragende Rolle. Er begründete die bedeutendste deutsche Hilfsorganisation­ für entlassene Hochschul­ lehrer in der Zeit des »Dritten Reichs«. Im Herbst 2014 ehrte ihn die Goethe-Universität als erste Alma Mater Deutschlands mit einer Erinnerungs­stele. Am 23. März 1933, dem Tag der Verabschie- dung des »Reichsermächtigungsgesetzes«, wurde 1 Reprint (1975) der »List of Displaced German Philipp Schwartz (Abb. 2) von Kollegen vor Scholars« (1936/1937) mit ­seiner unmittelbar bevorstehenden Verhaftung handschriftl­ichem Gruß von gewarnt. Zuvor hatte die Polizei seine Wohnung Philipp Schwartz an seinen in Frankfurt-Niederrad auf »Maschinenge- Kollegen Wolfgang Schlote. wehre« hin durchsucht. »Der zuständige 2 Philipp Schwartz in Polizeidezernent versicherte […], dass man den 1950er Jahren.

Forschung Frankfurt | 2.2014 123 Erinnerungskulturen

3 Postkarte, mit der die Notgemeinschaft auf die Universitätsreform in der Türkei aufmerksam gemacht wurde.

Schwartz gehörte zu den frühen Wissen- schaftlichem Gebiet und waren jedem bekannt schaftsflüchtlingen. Mitfühlend erlebte er die geworden, der Hilfe und Hoffnung suchte.« menschlichen Konsequenzen der im April fol- Die »Notgemeinschaft« war die erste genden massenhaften Entrechtung politisch Anlaufstelle für entlassene deutsche Hoch- beziehungsweise »rassisch« Verfemter: »Und schullehrer. Die entsprechende britische Hilfs- dann kamen täglich die Schreckensnachrichten organisation (»Academic Association Council«, über Suspension, Vertreibung, Verhaftung, AAC) gab ihr Bestehen erst am 22. Mai in eng- Misshandlung und Selbstmord (oft genug als lischen Zeitungen bekannt. In jenen dramati- ›Herzschlag‹ verschönert) von Universitätslehr­ schen Tagen und Wochen hatte das Zürcher ern in ganz Deutschland.« In der Stadtvilla sei- Büro einen ent­scheidenden Vorsprung. Deut- nes Schwiegervaters Professor Sinai Tschulok sche Sprache und persönliche Kontakte taten (1875 –1945), in der Zürcher Plattenstraße 52, das Übrige. Ihre einzigartigen Kenntnisse begründete Schwartz – zusammen mit sukzessiv machten die »Notgemeinschaft« zum Informa- eintreffenden Schicksalsgenossen, unterstützt tionszentrum aller entsprechenden internatio- von weltoffenen Schweizern – die »Notgemein- nalen Hilfsorganisationen. 2 schaft deutscher Wissenschaft im Ausland«: Im Juni 1933 besuchten Vertreter des »Wir mussten versuchen einer Panik entgegen- AAC die »Notgemeinschaft« in Zürich und zuarbeiten und uns zu organisieren.« 1 boten ihr an, nach London überzusiedeln, um enger zusammenarbeiten zu können. Datenbank der Emigrationshilfe Schwartz lehnte ab. Ihm lag daran, die Bereits am 16. Mai 1933 zeigte die »Neue Un­abhängigkeit der Selbsthilfeorganisation ­Zürcher Zeitung« in ihrer Abendausgabe die zu wahren, nicht zuletzt, um der allgegenwär­ Einrichtung einer »Zentralberatungsstelle für tigen nationalsozialistischen Denunziation deutsche Gelehrte« an. »Im Laufe der nächsten keine neue Nahrung zu geben. Dies erwies Tage und Wochen kam eine Lawine an Anfra- sich bald als vorteilhaft. gen und Anmeldungen von allen Universitäten und Hochschulen in Deutschland. Wir sandten Ein unwahrscheinlicher Glücksfall Fragebogen aus, […] besaßen eine fast kom- Bereits 1931 war der Genfer Pädagogikprofessor plette Kartothek der aktuellen und der pros- Albert Malche (1876 –1956) in die Türkei ­gerufen pektiven Opfer des Rassenwahns auf wissen- worden, um die von Kemal Atatürk (1881 –1938)

124 2.2014 | Forschung Frankfurt Erinnerungskulturen in Gang gesetzte Verwestlichung des Landes Science and Learning« (SPSL, vormals AAC) am durch den Aufbau einer Universität nach euro- Londoner Gordon Square. Demuth wurde deren päischem Vorbild voranzutreiben.­ Obgleich die beratendes Mitglied und führte beide Organi ­ Pläne ausgearbeitet vor­lagen, fehlte es an quali­ sationen aufs Engste zusammen. 1936 erhielt fizierten Professoren. Dies änderte sich mit der die »Notgemeinschaft« überdies den Mitglieds- Entlassungswelle in Nazideutschland. status in der »League of Nations High Commis- Prägnant schilderte Schwartz, wie der Kon- sion for Refugees from Germany«. Im gleichen takt mit der Türkei zustande kam: »Ende Mai Jahr gab sie die von der »Rockefeller Founda- erhielten wir eine Postkarte, unleserlich unter- tion« finanzierte »List of Displaced German zeichnet, die uns informierte, dass in der Türkei Scholars« heraus. 1937 ergänzt, standen den […] eine Universitätsreform vorbereitet wird. internationalen Hilfskomitees damit Angaben Ich meldete mich sofort. Malche antwortete.« – zu 1.794 arbeitsuchenden Wissenschaftlern zur Mehr als 70 Jahre später konnte ich den Absen- Verfügung (»strictly confidental«). (Abb. 1) der der Postkarte identifizieren: Josef Messinger Nach Schwartz’ Zeugnis »meldete sich die (1880 –1950), seinerzeit Prediger der Jüdischen Mehrzahl der Personen, die 1937 […] von uns Gemeinde in Bern. Dechiffriert und in den veröffentlicht wurde, schon in den ersten ­Gregorianischen Kalender konvertiert, ent- Wochen nachdem die Verfolgungen in Deutsch- spricht das angegeben hebräische Datum »Erew land begonnen hatten.« Und Demuth gab 1951 Schwuot 5693« dem 30. Mai 1933. (Abb. 3) in seinem abschließenden Bericht an, bis zum Anfang Juli reiste Schwartz nach Istanbul. In Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wären 2.600 ersten Verhandlungen mit der Türkischen Regie- emigrierte Wissenschaftler aus Deutschland, rung gelang es ihm, dreißig deutsche Professoren Österreich und Böhmen registriert worden. an die neu eröffnete »Istanbul Üniversitesi« zu Alle seien untergekommen. Während sich die vermitteln. Weitere folgten. Schließlich nahm er SPSL auf das British Empire und das »Emer- selbst die Berufung auf den Lehrstuhl für Patho- gency Committee in Aid of Displaced Foreign logie in Istanbul an und leitete die dortige Zweig- Scholars« auf die USA konzentrierten, speziali- stelle der »Notgemeinschaft«. Zwischen 1933 sierte sich die »Notgemeinschaft« auf Entwick- und 1945 fanden etwa 300 Wissenschaftler (dar- lungsländer und vermittelte allein 190 Gelehrte unter mindestens acht Frankfurter Professoren) nach Lateinamerika, Afrika und Asien. mit ihren Angehörigen sowie weiteren Mitarbei- tern für kurz oder ­länger eine Zuflucht in der Türkei (insgesamt an die 1.000 Personen). Nicht nur beim Aufbau der Universitäten in Istanbul Entlassene Professoren der Frankfurter und Ankara, sondern auch in der Verwaltung, Universität, die dank Philipp Schwartz in der Architektur und den Künsten trugen die aus die Türkei berufen wurden Deutschland Vertriebenen maßgeblich zur Ent- stehung der modernen Türkei bei. Hugo Braun (Mikrobiologie) Schwartz hielt öffentliche Vorlesungen, etwa Friedrich Dessauer (Radiologie) über Sigmund Freud (1856 –1939) – in einem Ernst Hirsch (Handelsrecht) Land, in dem es keinen ausgebildeten Psycho- Josef Igersheimer (Augenheilkunde) analytiker gab und erst wenige Übersetzungen Werner Lipschitz (Pharmakologie) psychoanalytischer Werke. 3 Während des Krie- Fritz Neumark (Wirtschaftswissenschaft) ges reiste Schwartz mehrfach als Emissär der Walter Ruben (Indologie) türkischen Regierung nach Großbritannien. Philipp Schwartz (Pathologie) Jüdische Flüchtlinge auf dem Weg nach Paläs- tina beherbergte er in seinem Haus in Istanbul. Der Begründerin der Paläoneurologie, Tilly Edinger (1897 –1965), die er während seiner Bislang fehlen eingehende Untersuchungen Zeit als Assistent am Frankfurter Neurologi- zur Geschichte der »Notgemeinschaft«. Nur ein schen Institut kennengelernt hatte, ermöglichte einziger Aufsatz hat sie bislang eigens thema­ er 1939 die Ausreise aus Deutschland und ret- tisiert. 5 Stattdessen wird die Autorschaft jener tete ihr damit das Leben. 4 Liste immer wieder einmal vergessen oder dem AAC/SPSL zugeschrieben. Nur am Frankfurter Geschichte der »Notgemeinschaft« Edinger-Institut sind inzwischen Arbeiten zu Im Spätsommer 1933 gab Schwartz die Leitung Leben und Werk von Philipp Schwartz ent­ der »Notgemeinschaft« an Geheimrat Dr. jur. standen. Fritz Demuth (1876 –1963) ab, den vertriebe- nen Kurator der Handelshochschule in Berlin. Zwischen allen Stühlen Dieser verlegte Ende 1935 den Sitz der Zentrale Der größte Erfolg der »Notgemeinschaft«, die ins Gebäude der »Society for the Protection of in der Wissenschaftsemigration der Nazizeit

Forschung Frankfurt | 2.2014 125 Erinnerungskulturen

4 Blick in die von Philipp Schwartz zu Lehrzwecken konzipierte Ausstellung »The Transparent Brain«. Die »American Medical Association« verlieh ihm dafür 1960 die »Billings Gold Medal«.

beispiellose Gruppenvermittlung in die Tür- unverhofften Durchbruch in seinen Verhand- kei, ist kaum denkbar ohne Schwartz’ bio­ lungen mit den türkischen Regierungsvertre- grafischen Hintergrund: 1894 im seinerzeit tern bei. ungarischen Banat geboren – einem jener Verblüffend Schwartz’ Selbstverständnis südosteuropäischen Vielvölkerstaaten en minia­ der »Notgemeinschaft«: »Es handelte sich ature, in dem Spuren der fast 160-jährigen dabei nicht um den Versuch Stellen zu finden, Osmanischen Herrschaft noch präsent sind die uns zu einem gesicherten Einkommen ver- (heute serbisch, ungarisch und rumänisch) –, helfen. Wir schlossen unsere Reihen, um eine fühlte er sich bei der Ankunft in Istanbul Degradierung jenes Geistes zu verhüten, der sofort wie zu Hause. Ausbleibender Kultur- uns zur Entwicklung unserer Fähigkeiten ver- schock, verbunden mit Schwartz’ Beherr- half und in dessen Dienst zu stehen wir gebo- schung des Französischen, der Diplomaten- ren wurden […]. Wir sahen uns beauftragt sprache in der Türkei, trugen maßgeblich zum den wahren Geist der deutschen Nation in der Welt zu vertreten.« 6 Die von Schwartz im rhe- torischen »wir« angenommene Identifikation mit Idealen, die er selbst in Traditionen deutsch-jüdischer Geschichte und der Aufklä- rung stellte, entsprach mitnichten dem Inter- esse vieler Hilfesuchender. Ins Ausland ver- mittelt, zahlten sie oft nicht einmal den vereinbarten kleinen Beitrag zur Selbstfinan- zierung der »Notgemeinschaft«. Mehrfach versuchte Schwartz in den 1950er Jahren, an seine ehemalige Wirkungs- stätte am Frankfurter Pathologischen Institut zurückzukehren. 1957 lehnte ihn die Medizi- Der Autor nische Fakultät »schon aus Gründen des Alters ab«. 7 Schwartz übersiedelte in die USA, wo er Dr. Gerald Kreft , Jahrgang 1955, ist Soziologe bis 1976 als international renommierter Neuro­ und Medizin­ historiker­ und arbeitet als wissen- pathologe eine eigene Forschungsanstalt am schaftlicher Mitarbeiter am Neurologischen Warren State Hospital, Pennsylvania, leitete. Institut (Edinger-Institut) der Goethe-Universität. (Abb. 4) 1972 erklärte er auf dem »Zweiten Er ist Autor und Mitherausgeber mehrerer Internationalen Symposium zur Erforschung Bücher über Tilly Edinger, Ludwig Edinger sowie des deutschsprachigen Exils nach 1933« in die Geschichte des Neurologischen Instituts; Kopenhagen, »dass meine Tätigkeit als Begrün- außerdem schrieb er Aufsätze über Juden in der und Entwickler einer Emigrantenorganisa- Hirnforschung, Psychoanalyse und Philosophie, tion in Deutschland, nicht nur während der Jüdinnen in der Frauenbewegung sowie das Bild von Arzt, Bad und Kur im jüdischen Witz. Hitlerherrschaft, sondern auch nach ihrem Zusammenbruch als deutschfeindlich betrach- [email protected] tet wurde. Ich habe genügend Veranlassung anzunehmen, dass diese Einstellung von man-

126 2.2014 | Forschung Frankfurt Erinnerungskulturen chen meiner Universitätsgenossen noch heute Literatur bewahrt wird.« 1 Gerald Kreft, lâyetegayyer ahlâkî 6 Gerald Kreft: Philipp Schwartz gayesi …« / »… das »… beauftragt, den Langsame Rückkehr (1894 –1977) – Zürich und ewige und unveränderliche wahren Geist der 1957 erhielt Schwartz im Zuge der bundesrepub- die Notgemeinschaft moralische Ziel der deutschen Nation in likanischen »Wiedergutmachung« erneut den deutscher Wissenschaftler Menschheit …« Philipp der Welt zu vertreten …« im Ausland, in: B. Holdorff Schwartz (1894 –1977): Philipp Schwartz Professorentitel an der Frankfurter Universität. und E. Kumbier (Hrsg.), Drei Vorträge in Istanbul (1894 –1977) und die Durch ein »unerklärliches Versehen« wurde er Schriftenreihe der (1936 –1944), in: Caris-Petra Ärzteemigration in die erst ab dem Sommersemester 1967 im Vor­ Deutschen Gesellschaft für Heidel (Hrsg.), Jüdische Türkei seit 1933, in: lesungsverzeichnis als »ordentlicher Professor« Geschichte der Nerven- Medizin – Jüdisches in der Albrecht Scholz und heilkunde, Band 18, Medizin – Medizin der Caris-Petra Heidel (Hrsg.), geführt mit dem Zusatz: »liest nicht«. Als die Würzburg 2012, S. 101–129. Juden? Frankfurt am Main Emigrantenschicksale. Frankfurter Medizinische Gesellschaft am 8. Mai 2011, Corrigendum: Einfluss der jüdischen 2002 für ihn eine Gedenksitzung veranstaltete 2 Gerald Kreft, ›Dedicated [http://www.mabuse- Emigration auf Sozialpolitik to Represent the True Spirit und im klinikinternen Nachrichtenblatt darauf verlag.de/chameleon/ und Wissenschaften in den of the German Nation in downloads/1886]. Aufnahmeländern, hinweisen wollte, wurde dies vom damaligen the World‹, Philipp Frankfurt am Main 2004, Dekan ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Schwartz (1894 –1977), 4 Gerald Kreft, S. 99 –113. Angestoßen durch die am Edinger-Institut Founder of Mitarbeiter – Verehrer the Notgemeinschaft, – Lebensretter: Philipp 7 otto Winkelmann: entstandenen Forschungsarbeiten, würdigte die in: Shula Marks, Paul Schwartz (1894 –1977) im Schon aus Gründen Stadt Zürich Philipp Schwartz mit einem Ehren- Weindling and Laura Umfeld des Frankfurter des Alters ablehnen«. grab. Auf der Einweihungsfeier am 11. April Winthour (Eds), In Defence Neurologischen Instituts, Der Pathologe Philipp 2014, auf der auch ein Repräsentant der Repub- of Learning. The Plight, in: documenta naturae Nr. Schwartz (1894 –1977) Persecution and 192, Vol. 2. München 2013, und die Frankfurter lik Türkei sprach, entschuldigte sich Professor Placement of Academic S. 141 –157. Medizinische Fakultät, Manfred Schubert-Zsilavecz als Vizepräsident der Refugees 1933 –1980s (= in: Hessisches Ärzteblatt. Proceedings of the British 5 Regine Erichsen, Bd. 12 (2005), S. 862 f. Goethe-Universität für deren Verhalten gegen- Emigranten­hilfe für über Schwartz während und nach der Zeit des Academy 169). Oxford 2011, S. 127–142. Emigranten – die Nationalsozialismus. Auf Initiative der Ludwig Notgemeinschaft Edinger-Stiftung enthüllte die Goethe-Universi- 3 Gerald Kreft und deutscher Wissenschaftler Ulrich Lilienthal (2011), im Ausland, in: Exil 14 tät am 24. November 2014 eine Erinnerungsstele »… beşeriyetin ezeli ve (1994), S. 51– 69. für Philipp Schwartz vor dem Hörsaalgebäude des Universitätsklinikums. 

Eine Stele für Philipp Schwartz

it einer Stele vor dem Hauptgebäude des Universitätsklini- kums erinnert die Universität seit dem 24. November 2014 an MPhilipp Schwartz. Der Dekan des Fachbereichs Humanmedizin, Prof. Josef Pfeilschifter, nannte Philipp Schwartz eine »Lichtgestalt in der dunkelsten Epoche deutscher Geschichte«. Vizepräsident Prof. Manfred Schubert-­Zsilavecz entschuldigte sich für das Verhalten der Goethe-Universität gegenüber Schwartz während und nach der Zeit des Nationalsozialismus. Auf der Stele bilden die Namen der 1.794 entlassenen Wissenschaftler das Porträt von Philipp Schwartz. Dr. Susan Ferenz-Schwartz, die Tochter des Geehrten, zeigte sich bewegt, »dass mein Vater nach so vielen Jahren, nach beinahe zwei Generationen seinen Platz in der Universität und der Geschichte der Universität Frankfurt bekommt«. Kurt Heilbronn, der Sohn von Prof. Alfred Heilbronn, der 1935 über die »Notgemeinschaft« einen Ruf an die Universität Istanbul erhielt, bedankte sich im Namen aller Geretteten bei Philipp Schwartz und dem Gastland Türkei. Der Generalkonsul der Republik Türkei, Ufuk Ekici, bedankte sich seinerseits für den wichtigen Beitrag der eingewanderten deutschen Wissenschaftler zur Gestaltung der modernen Türkei. In einem Gruß- wort von Yad Vashem, der bedeutendsten Gedenkstätte des Holocaust in Jerusalem, hieß es: »Philipp Schwartz [....] has rightfully earned a place in civilization´s chronicle of human decency and ethical responsibility.« Prof. Martin-Leo Hansmann, Direktor des Frankfurter Gruppenbild vor der Stele (von links): Dr. Gerald Kreft, Prof. Josef Pfeilschifter, Prof. Manfred Schubert-Zsilavecz, Dr. Susan Ferenz- Pathologischen Instituts, erinnerte an Schwartz’ bahnbrechende Schwartz, Ufuk Ekici, Kurt Heilbronn und Prof. Martin-Leo Hansmann. Studien zum zerebralen Geburtstrauma aus den 1920er Jahren.

Forschung Frankfurt | 2.2014 127 Graben am Rand der Geschichte Studierende des Historischen Seminars erinnern an »Verlorene Denker« von Philipp Hanke und Volker Kehl Erinnerungskulturen

128 Menschen – Akademiker und Intellektuelle – wurden zwischen 1933 und 1945 von der Universität Frankfurt entlassen.­ Das waren etwa 36 Prozent des Lehrkörpers. Als angehende Historiker in der Übung »Verlorene Denker – Die Vertreibung ­jüdischer Professoren an der Goethe-Universität« mit dieser Zahl konfrontiert wurden, waren sie bestürzt und verunsichert. Wie sollten sie mit den vielen Schicksalen umgehen?

dorno, Kantorowicz, Oppenheimer – das hr2-Kultur der Öffentlichkeit vorgestellt haben: waren Namen, die wir kannten. Diese den Astrophysiker Karl Meissner, den Mathemati- Aerfolgreichen Forscher sind im Erinne- ker Paul Eppstein, den Psychiater Raphael Weich- rungsdiskurs verankert und genießen Anerken- brodt, den Maler und Kunsttheoretiker Hermann nung. Aber sind sie wirklich verloren? Für die Lismann und den Chemiker Edmund Speyer. Wissenschaft jedenfalls nicht, wie der Blick auf ihre Produktivität während des Exils zeigt. Der Hermann Lismann – ein Künstler aus dem Depot Historiker Reinhart Kosselek geht so weit, weg- Zum Leben des Malers Hermann Lismann fan- weisende Paradigmenwechsel und Forschungs- den wir sehr unterschiedliche Quellen. Im Uni- gewinne auf gewandelte Erfahrungen im Exil versitätsarchiv: Die Personalakte sowie sein Ent- zurückzuführen. Diese wissenschaftliche Pers- lassungsgesuch aus dem Jahr 1935. Das Archiv pektive überraschte uns und ließ unseren Blick der Stadt Frankfurt verwahrt den Nachlass: zwei zu denjenigen wandern, deren Namen uns Kästen voll kunstphilosophischer Reflexionen unbekannt waren. Es erschien uns interessan- und persönlicher Aufzeichnungen. In der Uni- ter, ja vielleicht sogar wichtiger, die Geschichte versitätsbibliothek: Kataloge zu den Ausstellun- dieser verlorenen Denker zu erzählen. gen seiner Bilder nach dem Krieg. Im Archiv des Gezielt suchten wir unter der Leitung von Städels: Listen aus der Zwischenkriegszeit über Hans Sarkowicz und Torben Giese nach denjeni- zerstörte oder verschollene Bilder. Korrespon- gen, die nach ihrer Entlassung nicht mehr wis- denzen seiner Nachfahren mit der Stadt Frank- senschaftlich wirken konnten, die an dieser furt und dem Städel. Im Depot des Museums neuen Situation scheiterten und vielleicht sogar unter unzähligen anderen Bildern: Stillleben, Selbstmord begingen, die eventuell durch die datiert auf das Jahr 1929. Schon die Anzahl der Nationalsozialisten verfolgt oder gar ermordet Quellen und die Orte, an denen sie liegen, 1 Der Chemiker Edmund Speyer wurden. Wir wollten es wagen, am Rand der machen deutlich: Bei Lismann handelt es sich (oben) und der Künstler bekannten Geschichte nach Personen zu gra- um eine Persönlichkeit, die sich der Einordnung Hermann Lismann gehören zu den vertriebenen Wissen- ben, die nach 1945 aus dem Bewusstsein der in eine Kategorie entzieht. Sein Leben ist so schaftlern, die ungerecht­fertigt Öffentlichkeit weitgehend verschwunden sind, vielfältig wie die Zeugnisse, die von ihm geblie- in Vergessenheit geraten sind. um so wenigstens ein paar der »verlorenen ben sind. Denker« an die Oberfläche der kollektiven Erin- Geboren am 4. Mai 1878 als Sohn eines jüdi- nerung zu befördern. schen Walzwerkbesitzers in München, sollte Wen aber auswählen? Wer war ein verlorener Hermann Lismann eigentlich den väterlichen Denker unter den mehr als 100 entlassenen Pro- Betrieb übernehmen. Doch der Beruf des Kauf- fessoren an der Universität Frankfurt? Wir began- manns lag ihm nicht; lieber nutzte er die Rech- nen zu recherchieren, suchten im Internet, forsch- nungsbücher zur künstlerischen Betätigung. Er ten in Archiven nach Nachlässen, prüften, ob es studierte Philosophie und Kunstgeschichte in vielleicht doch Veröffentlichungen gab. Nicht Lausanne und Malerei in München bei Franz immer wurden wir fündig, aber wir stießen auf von Stuck, der auch Wassily Kandinsky und Spuren. Das machte Hoffnung. So legten wir letzt- Paul Klee unterrichtete. lich fünf »Verlorene Denker« fest, die wir in einem 1904 ging der junge Künstler nach Paris, Hörfunk-Feature gemeinsam mit dem Sender war ein Anhänger Paul Cezannes und verkehrte

Forschung Frankfurt | 2.2014 129 Erinnerungskulturen

am Montparnasse im Café du Dôme, einem humanistisch inspirierten, im Grunde jedoch Treffpunkt der Boheme. Mit der »Bande Picassos« unpolitischen Kunst- und Bildungsgläubigen auf der gegenüberliegenden Straßenseite wollte der Weimarer Zeit. Lismann ist ein Kultur­ er nichts zu tun haben. Er gehörte nicht zu konservativer, der versuchte, gerade wegen des denen, die mit den Traditionen brechen wollten. Bruchs in seiner Weltanschauung an der schö- Eher sah er sich in der Nachfolge der Impressio- nen Kunst festzuhalten. Dem zeitgenössischen nisten. Statt auf Revolution setzte er auf Evolu- Kunstbetrieb der Avantgarde stand er skeptisch tion. In seinem Nachlass schreibt er, Kunst solle gegenüber. »die Fäden der vorhandenen Kulturen anspin- In Frankfurt gründete Lismann eine eigene nen zu einem neuen Gewebe«. Lismann malte Malschule, die aber 1929 wieder schließen vor allem Landschaften und Porträts. Seine Bil- musste. Im Jahr der Wirtschaftskrise unter- der verkauften sich gut. stützte ihn die Frankfurter Künstlerhilfe und er In Paris heiratete er Maria. Mit ihr hatte er begann an der Frankfurter Universität Vorle- eine Tochter und einen Sohn. Im Frühjahr des sungen über Ästhetik zu halten. 1933 musste er Jahres 1914 zog die junge Familie nach Frank- sein Atelier aufgeben, blieb aber als Soldat des furt. Über seine Vettern – zwei Bankiers – fand Ersten Weltkriegs zunächst von der Entlassung der Künstler Zugang zu den bildungsbürger­ verschont. 1935 kam er dieser zuvor, indem er sich von seinem Lehrauftrag entbinden ließ. Von da an gab er in Kooperation mit der jüdi- schen Gemeinde Zeichenkurse, die junge Men- schen auf die Emigration vorbereiten wollten. 1938 folgte er seiner Tochter nach Frankreich. Über Paris, wo er keine Aufenthaltserlaubnis erhielt, floh er weiter nach Süden. In Tours hatte er Freunde, die ihn unterstützten. Dort konnte er in den nächsten zwei Jahren ausstel- len. Außerdem spielte er in einem Symphonie- orchester Geige.

Missglückte Flucht 1940, als Hitler Frankreich überfiel, musste Lis- mann wieder fliehen. Vor den vorrückenden Deutschen floh er in einem Gewaltmarsch von sechs Tagen und Nächten nach Montauban. Der sozialistische Bürgermeister bemühte sich um ein Visum für die Flüchtlinge. Vergeblich. Wäh- rend es der Tochter Franzi gelang zu ent­ kommen, wurde Hermann Lismann im Jahr 1942 in Tours interniert. Zwei Monate vor 2 Stillleben mit lichen Kreisen der Stadt. Doch dann brach der ­seinem 65. Geburtstag wurde er deportiert. Gipsen und Pflanzen Krieg aus und Lismann musste an die Ostfront. Über das Durchgangslager Drancy wurde er am von Hermann Lismann 1917 wurde er verwundet. Er kehrte zurück 4. März 1943 in das Vernichtungslager Majdanek aus dem Jahr 1929. Öl / Holz, 58,5 x 90 cm. nach Frankfurt, wo er mit seinen Vettern die gebracht und ermordet. Kriegsfürsorge des Roten Kreuzes übernahm. Nach dem Krieg gab es immer wieder Ver- suche, an den sensiblen Maler zu erinnern. Auf Schöne Kunst gegen das Trauma des Krieges Bestreben seiner Frau Maria fand 1959 im Der Krieg bedeutete für Lismann einen tiefen Karme­literkloster eine Ausstellung seiner Bil- Einschnitt. In seinem 1920 erschienen Buch der statt. Es erschienen Zeitungsartikel und ein »Wege zur Kunst« nimmt er darauf Bezug. Dort Begleitband. 1968 und 1979 fanden Gedächt- schreibt er, die »Ideale des wilhelminischen nisausstellungen statt. Kurz flammte das Inter- Zeitalters« seien ihm entfremdet und es käme esse wieder auf, aber bis heute bleibt Lismann nun darauf an, dass die »Idee des reinen Men- eine Randnotiz. Der Versuch seines Schwieger- schentums auch in der Malerei ihren Ausdruck sohns, Lismanns Nachlass an das Städelmu- finde.« Dies ist wohl kaum als ein politisch- seum zu verkaufen, scheiterte an der Ableh- ästhetisches Programm zu sehen, das ein gesell- nung der Direktion. schaftliches Engagement der Kunst fordert. Es Heute befindet sich das Bild »Stillleben« im klingt eher wie eine Rechtfertigung für das Besitz des Städels. Dort ist es im Depot verwahrt. eigene künstlerische Dasein und zeigt ein aus­ Nach den Informationen mehrerer Kunst­ geprägtes Harmonie-Bedürfnis als Reaktion auf auktionsplattformen im Internet werden seine das Trauma des Krieges. Das Zeugnis eines zwar Kunstwerke immer noch gehandelt.

130 2.2014 | Forschung Frankfurt Erinnerungskulturen

Edmund Speyer – Erfinder des Schmerzmittels auf. Doch daneben findet sich der Vermerk 3 Eukodal-Packungen von Eukodal »beurlaubt«. In Edmund Speyers Personalakte Merck um 1929 und Werbung Die Erinnerung an Edmund Speyer lebt in Archi- ist die Begründung in einem Brief mit dem von 1932. ven, in verstaubten Akten. Im Universitätsarchiv ­offiziellen Stempel des Preußischen Ministers finden sich Personalakten. Eintragungen im für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung­ fest- Melderegister der Stadt Frankfurt. Besonders gehalten: ergiebig sind die Akten des Darmstädter Chemie- »Auf Grund von § 3 des Gesetzes zur konzerns Merck. Verträge, Forschungsansätze ­Wieder­herstellung des Berufsbeamtentums vom und -ergebnisse sowie die Korrespondenz mit 7. April 1933 entziehe ich Ihnen hiermit die Fritz Merck erlauben es, Edmund Speyers Lehrbefugnis an der Universität Frankfurt am Berufsleben zu rekonstruieren. Im Bundesarchiv Main. Berlin den 2. September 1933 […].« findet sich schließlich die Deportationsliste, in Mit diesem von den Nationalsozialisten erlas- der sein Name auftaucht. senen Gesetz wurden ab 1933 jüdische und poli- Edmund Jakob Speyer wurde am 11. Nov­ tisch andersdenkende Wissenschaftler ohne Vor- ember 1878 in Frankfurt am Main geboren. Er warnung aus dem Universitätsbetrieb entlassen. besuchte die Musterschule und studierte in Nach diesem letzten Eintrag in der Personalakte ­Heidelberg Chemie. 1901 promovierte Speyer verliert sich die Spur von Speyer erst einmal. an der Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg. Anschließend zog es ihn zurück nach Frankfurt, Beruflicher Erfolg mit Eukodal wo er am 11. Mai 1914 eine Stelle als wissen- Eine weitere Spur ist Oxycodon, ein schmerzstil- schaftlicher Mitarbeiter am Chemischen Institut lendes Opiat, das Edmund Speyer 1916 gemeinsam antrat, das zum Physikalischen Verein gehörte mit seinem Kollegen Martin Freund synthetisiert und wenige Monate später in die neu gegrün- hatte. Ihre Entdeckung ließen die beiden Chemiker dete Universität aufgenommen wurde . Ein Jahr außer in Deutschland auch in Österreich-Ungarn, später wurde er im Alter von 37 Jahren zum der Schweiz und den USA patentieren. Im Oktober Privatdozenten­ ernannt. 1918 verkauften sie die Lizenz an die Firma Merck, die es unter dem Namen Eukodal auf den deut- Professor nur für ein Jahr schen Markt brachte. Speyer war mit 10 Prozent an Seine Beförderung zum außerordentlichen Pro- den Gewinnen beteiligt. Die Dokumente legen den fessor wurde zunächst abgelehnt. Erst 1932 Schluss nahe, dass Freud 30 Prozent erhielt. Im wurde Edmund Speyer nach einem langwierigen Zweiten Weltkrieg war das Schmerzmittel fester Verfahren berufen. Doch schon ein Jahr später Bestandteil der Sanitätsausrüstung der Wehrmacht entzogen ihm die Nationalsozialisten schon wie- und der SS. Nur wenige Nationalsozialisten wer- der die Lehrbefugnis wegen seines jüdischen den gewusst haben, dass ausgerechnet ein von Glaubens. Im Wintersemester 1933 / 1934 tauchte ihnen »entlassener« Wissenschaftler dazu beitrug, zwar sein Name noch im Vorlesungsverzeichnis ihre Schmerzen zu lindern.

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Auch heute ist die Nachfrage nach Oxycodon hoch. So betrug der Umsatz des Medikaments Werd ich vergessen? Und wenn irgendwas im Jahr 2010 3,5 Milliarden US-Dollar und war Viel später zu mir kommt und mich daran unter den meistverkauften Präparaten in den Erinnert: Werd ich fremdhin fragen -: Wann-? USA an fünfter Stelle. Nur Speyers Name wird Kann Leben heißen: Zu vergessen, daß den wenigstens Konsumenten bekannt sein. Dabei lässt der vergessene Chemiker bis heute Mir Seligkeit, endlos unverkürzte mit seinem Mittel Schmerzen vergessen. An einem Tage ward der rasch verann Und daß dein Wesen sich in meines stürzte Spurensuche Aus deinen Augen, da ich kaum begann Indirekte Erwähnungen und abstrakte Zahlen sagen wenig bis nichts über den Verbleib ­Speyers Dich anzusehen. Ich weiß von dir nicht mehr; nach 1934 aus. Einige Hinweise sprechen dafür, Nur kommen mußtest du um jeden Preis, dass er in Frankfurt geblieben ist. So berichtet der Und eine Stelle in mir ist jetzt leer heute 93-jährige Großcousin Speyers, Herbert Für alles das von dir was ich nicht weiß. Koch, er sei 1934 als 12-Jähriger im Hause Spey- (Rainer Maria Rilke) ers zu Besuch gewesen. Edmund Jakob Speyer wohnte gemeinsam mit seinem Bruder Saly im Unterweg 20, im Frankfurter Nordend. Ein weite- Frankfurt / Main, Außenbezirk-Verwertungsstelle, rer Beleg aus dem Merck-Archiv unterstützt die vom 13.1.43 folgend – die gesamten Gewinnan- Vermutung. Am 19. August 1937 schrieb Walter teile, also einschließlich des Anteils von Herrn Freund, der Sohn des Geschäftspartners und Mit- Professor Dr. Speyer, jeweils in einer Summe an erfinders Martin Freund, an die Firma Merck: die Deutsche Bank, Filiale Frankfurt / Main, zur »Herr Prof. Dr. Edmund Speyer ist bereit zu Gutschrift auf das Konto des Finanzamtes – Son- einer Aussprache zu ihnen herüber zu kommen, derkonto Freund-Erben – überwiesen.« Wäre auch nur gemeinsam mit Herrn Dr. Franke, da Edmund Speyer emigriert, hätten die Nationalso- es sich eben hier nicht um chemische, sondern zialisten sein Vermögen eingezogen und es wären um kaufmännische-juristische Fragen handelt, keine Gewinnanteile ausgezahlt worden. die ihm nicht geläufig sind. (…)« Dieser Brief Während Speyer bereits gesellschaftlicher deutet auf einen Rechtsstreit zwischen den Ächtung ausgesetzt war, zahlte die Firma Merck Erben Martin Freunds und der Firma Merck weiterhin seine Gewinnanteile auf ein Sonder- hin. Nach dem frühen Tod des Chemikers im konto der Freund-Erben bei der Deutschen Jahr 1920 strebte dessen Sohn die Einführung Bank ein. Der Wohlstand, den Eukodal ihm ver- von Eukodal in den USA an. schafft hatte, ließ ihn inmitten grausamer Ein weiterer Beleg aus dem Merck-Archiv Feindseligkeit ausharren. unterstützt die Vermutung, dass Speyer in Frank- Die letzte Spur von Edmund Speyer findet furt geblieben ist. »Für die Zeit vom 1.1.41 ab sich in einer Liste aus dem Bundesarchiv. Diese haben wir – einer Weisung des Finanzamtes­ Liste verzeichnet Menschen, die von Frankfurt aus in das Ghetto Lódz deportiert wurden. Die Namen von Edmund und seinem Bruder Saly Speyer tauchen dort unter dem Datum des 19. Oktober 1941 unter 1.125 anderen Namen auf. Am 16. Februar 1942 starb Saly Speyer und knapp drei Monate später am 5. Mai Edmund Speyer im Alter von 63 Jahren an Herzversa- gen im Ghetto Lódz.

Gegen das Vergessen Mit dem Projekt »Verlorene Denker« wollten wir an diejenigen erinnern, deren Geschichten durch Verfolgung und Deportation in Ver­ Die Autoren gessenheit geraten sind. Hermann Lismanns Philipp Hanke (links) und Volker Kehl (zweiter Gemälde sind heute über die Welt verstreut. Er von rechts) hier im Bild mit Henrike Blaum (Mitte), selbst ist als Künstler und Denker eine Rand­ Tim Czarny und Juliette Heinikel in einem notiz geblieben. Edmund Speyers Medikament Aufnahmestudio des Hessischen Rundfunks. Eukodal hat bis in unsere Tage überdauert, doch Die Spurensuche nach den „verlorenen kaum jemand kennt den Erfinder. Wir hoffen, Denkern“ wurde in einer Radiosendung doku- einen Anfang gemacht zu haben, um jenen Ver- mentiert und am 19. Oktorber gesendet. gessenen der Geschichte ihren verdienten Platz in der Erinnerungskultur einzuräumen. 

132 2.2014 | Forschung Frankfurt – Anzeige –

BARFUSS AUF DEM BETON STEHEN OHNE SCHLAF STEHEN OHNE KLO STEHEN OHNE ENDE STEHEN STEHEN STEHEN BIS DU WAS DAGEGEN TUST. AUF AMNESTY.DE/STOPFOLTER Akademischer Tod: Die Aberkennung des Doktorgrades Von der Schwierigkeit, nationalsozialistisches Unrecht wiedergutzumachen von Katharina Becker Erinnerungskulturen

»Wie so oft, war es auch in Ihrem Falle leichter, Unrecht zu tun, als dieses Unrecht wieder gutzumachen.« Mit dieser bitteren Bemerkung fasste im Oktober 1957 der Dekan der ­Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, der Ökonom Prof. Dr. Hans Möller, in einem Entschuldigungsschreiben an Walter Braeuer ein Rehabilitierungsverfahren zusammen, das bereits mehr als zehn Jahre zuvor im Januar 1946 gestartet war.

ie Fakten sind überschaubar: Walter Braeuer land und ihre akademischen Grade. Dieses der stammte aus Hanau, er hatte seit 1925 an Ausbürgerung folgende Depromotionsverfah- Dden Handelshochschulen Mannheim und ren veränderte sich trotz zahlreicher Verord- Berlin Wirtschaftswissenschaften studiert und nungen kaum im Verlauf: Das Reichsinnenmi- war 1930 an die Universität Frankfurt gewech- nisterium meldete die erfolgte oder auch nur selt. Hier promovierte er mit der Dissertations- eingeleitete Ausbürgerung dem Wissenschafts- schrift »Kartell und Konjunktur, der Meinungs- minister, der dies den Universitätsrektoren mit streit in fünf Jahrzehnten«. der Aufforderung weitergab »hinsichtlich der Bereits als Student war er politisch aktiv, Entziehung des Dr.-Titels das Weitere zu veran- zuerst in der SPD und später in seiner Frankfur- lassen«. Ein einzig zu diesem Zweck eingerich- ter Zeit in der Kostrufa, der Kommunistischen tetes Dekanskonzil, bestehend aus dem Rektor Studentenfraktion. Am 31. Juli 1933 wurde er und den Dekanen der fünf Fakultäten, hatte die deshalb in »Schutzhaft« genommen und drei Funktion, diesen Tatbestand zu bestätigen. Wochen später entlassen, als er sich schriftlich Weder die Universität Frankfurt noch die betrof- verpflichtet hatte, nicht mehr gegen den natio- fenen Doktoren durften Stellung nehmen. Mit nalsozialistischen Staat zu handeln. Im folgen- der Veröffentlichung im Deutschen Reichsan- den Januar stellte er ein Gesuch auf Zulassung zeiger wurde die Entziehung wirksam. Der Rek- zur Promotion. Sein gewünschter Betreuer Prof. tor erstattete dem Reichswissenschaftsminister Henryk Grossmann war emigriert, der ursprüng- den eingeforderten Bericht. liche Koreferent Prof. Paul Arndt avancierte Gab es bei diesen Aberkennungen nach Aus- zum Erstgutachter. Walter Braeuers politische bürgerung einen automatisierten Verfahrens- Tarnaktionen zeigten offensichtlich Erfolg, denn weg, so folgten die davon zu unterscheidenden er konnte das für das Promotionsverfahren not- Ab­erkennungen wegen einer Strafe zwei Ver- wendige Führungszeugnis vorlegen. Nach einer fahrensweisen: Insgesamt verloren 26 Frankfur- am 1. März 1934 gut bestandenen mündlichen ter Doktoranden aufgrund eines Gerichtsurteils Prüfung verlieh ihm die Wirtschafts- und Sozial- ihren akademischen Titel. »Sittlichkeitsvergehen« wissenschaftliche Fakultät »Titel und Würde (Homosexualität), »Rassenschande«, »gewerbs- eines Doktors der Wirtschaftswissenschaften«. mäßige Abtreibung«, »Betrug«, »Vergehen gegen Wenige Tage nach der Übergabe des Diploms das Rundfunkgesetz«, »Hochverrat« und »Fah- 1 Beschluss zur Aberkennung floh Walter Braeuer in die Schweiz. nenflucht« waren einzelne Urteilsgründe. Ent- des Doktorgrades von Ernst scheidend für diese Art der Depromotion aber Adam. Emigranten wurde die Staatsbürgerschaft entzogen. Depromotion nach Ausbürgerung oder Strafe war, ob die Strafverurteilung mit oder ohne Damit verloren sie nicht Walter Braeuer gehört zu den zahlreichen gleichzeitige Aberkennung der bürgerlichen nur ihr Vermögen, sondern Frankfurter Doktoranden, die aus politischen, Ehrenrechte erfolgte. Im Hochverratsprozess galten auch als »unwürdig«, rassistischen oder ideologischen Gründen im gegen das sozialistische Ehepaar Ruth und Paul ihre akademischen Grade zu führen. »Dritten Reich« verfolgt wurden und Deutsch- Heinrichsdorff wurden der Jüdin Ruth Hein- land verlassen mussten. 87 dieser Emigranten richsdorff neben der Freiheit auch die bürger­ wurde als besondere Entwürdigung zwangs- lichen Ehrenrechte entzogen, hier folgte nach weise die Staatsangehörigkeit entzogen; als Fol- § 33 StGB a. F. zwangsläufig »ohne weiteres der gestrafe verloren sie ihr Eigentum in Deutsch- Verlust des Doktorgrades«.

Forschung Frankfurt | 2.2014 135 Erinnerungskulturen

Dagegen besaß die Universität geringen ger sichtbar, aber entscheidender als die Äch- Handlungsspielraum, wenn trotz Freiheitsstrafe tung durch die Aberkennung des Titels waren die bürgerlichen Ehrenrechte unangetastet Studiums-, Prüfungs- und Berufsverbote. ­blieben wie bei Paul Heinrichsdorff. Hier for- Die studentische Fachschaft der Mediziner derte der Universitätsrat die Gerichtsunterlagen legte 1933 eine Liste mit Namen unerwünschter beziehungsweise die Urteilsbegründungen des jüdischer Kommilitonen vor, die exmatrikuliert Gerichts an und schlug dem Rektor und den werden sollten. Andere Studierende hingegen Dekanen das weitere Vorgehen vor: Paul Hein- setzten sich – erfolglos – für den Geschichtspro- richsdorff wurde der Doktortitel aberkannt, da fessor Ernst Kantorowicz oder die Bibliothek- er sich nach Meinung des Universitätsrats als sangestellte Leonie Mayer ein. unwürdig erwiesen habe, den Titel zu führen. Unter demütigenden Umständen erhielten die Schnelle Entnazifizierung, wenigen Doktoren, die überhaupt gefragt wur- langsame Rehabilitierung den, die Chance zur Äußerung. Sprach sich die Zwölf Jahre später lagen zahlreiche Universi- Universität für eine Aberkennung aus, lag die tätsgebäude in Trümmern, in den Kellern lagen abschließende Entscheidung beim Reichswis- die meisten Studenten- und Promotionsakten senschaftsminister, lehnte die Universität aber unversehrt. In Frankfurt verfolgte Studierende ein Verfahren ab, musste sie mit Nachfragen der konnten dadurch sogleich ihre Verfolgung bele- meldenden Behörde rechnen. Bei der Durch- gen und endlich weiterstudieren; Promovenden sicht der Promotionsakten zeigt sich: nur in Ein- konnten das unterbrochene Promotionsverfah- zelfällen nutzte die Universität den Spielraum ren erfolgreich abschließen. zugunsten ihrer Absolventen. Umgekehrt konn- Alle Lehrenden, alle Verwaltungsmitarbei- ten Aberkennungen, die im Interesse der Uni- ter, alle Studierenden mussten Fragebogen zu versität lagen, durch das Ministerium aufgeho- ihrer NS-Vergangenheit ausfüllen und hatten ben werden. So behielt in einem Plagiatsfall im nur nach einem politischen Prüfungsverfahren Jahr 1936 der Kandidat seinen Titel, weil er auf die Chance, an der Universität zu bleiben. Für »gute Beziehungen« verweisen konnte. Studierende galt eine strenge Quotierung. Die Entnazifizierungskommission arbeitete unter Schikanen für unerwünschte Akademiker Hochdruck, um möglichst schnell die Wieder- Täuschungen oder »Ehrenstrafen« hatten im aufnahme des Lehrbetriebs mit politisch ein- Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer wandfreien Dozenten zu ermöglichen. Noch vor Republik selten zur Depromotion geführt. Nach Wiedereröffnung der Universität meldete sich 1933 war die Aberkennung des Doktortitels ein Walter Braeuer im Januar 1946 bei der Univer- Mittel des akademischen Tods. Zahlreiche unlieb­ sitätsverwaltung. Rektor Hohmann versicherte same Dozenten wurden entlassen und befris- »Herrn Doktor«, dass die Entziehung »selbst- tete Verträge vieler Assistenten waren nicht verständlich rückgängig gemacht werden wird. ­verlängert­ worden; immer mehr Studierende Wie ich von unterrichteter Seite höre, wird für ­wurden aus politischen, Groß-Hessen in nächster Zeit ein diese Fragen rassistischen und ideo- grundsätzlich regelndes Gesetz herauskommen logischen Gründen schi- und ich bitte Sie daher, sich wegen Ihrer förm­ kaniert. Das Universi- lichen Rehabilitierung noch kurze Zeit zu gedul- tätsstudium und in der den.« Auf ein Gesetz wartete man lange und so Folge auch die Promo- diskutierten die Rektoren derweil auf den Hoch- tion wurden ihnen ver- schulkonferenzen mögliche Verfahrenswege wehrt. Einzelne Aus- und sammelten Gutachten. In dieser unklaren nahmeregeln täuschten Rechtslage verschärften die Spannungen zwi- Zukunftsperspektiven schen Universitätsrat und Rektorat und Fakul- vor. Betroffen waren täten in Frankfurt die Lage. unter anderem Juden Der Universitätsrat arbeitete im Krieg zurück- oder Nichtjuden mit gestellte Verfahren auf. Einzelne Fälle wie die des Die Autorin jüdischen Großeltern, Widerstandskämpfers Hans John legte er ad acta. politisch aktive konser- Doch prinzipiell zweifelte er nicht an den Katharina Becker, M. A., Jahrgang 1965, vative oder liberale Gerichtsurteilen im »Dritten Reich«. Nach Jahren langjährige Mitarbeiterin im Universitätsarchiv Demokraten, Sozialde- wurden die Verfahren als quasi verjährt einge- Frankfurt, studierte Geschichte an der Goethe- mokraten oder Kom- stellt oder, da man von einer neuen Verurteilung Universität. Das Thema ihrer Abschlussarbeit munisten, aber auch erfuhr, auch bis zum bitteren Ende der Aberken- lautete »Die Aberkennung des Doktorgrades im Pazifisten und »nach nung geführt. Emigranten baten, von der Depro- Dritten Reich. Das Beispiel Frankfurt am Main.« den Richtlinien für die motion nicht wissend, für Meldebehörden, Ren- [email protected] gesundheitliche Aus- tenversicherungen oder Entschädigungsämter lese« Diabetiker. Weni- um Studiums- und Promotionsbestätigungen.

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Regelmäßig wechselnde Rektoren und Dekane sind entscheidende entschieden bei diesen Anfragen ohne geregeltes Akten verschwunden, Verfahren. Sie erklärten die Nichtigkeit der Aber- so dass weitgehend kennung oder beglaubigten eine Diplomabschrift. ungeklärt bleibt, wie Ihre meist sehr freundlichen, persönlichen Briefe die frühe Aufarbeitung aussah. In der Praxis 2 Bitte um »Zulassung zur wurden dankbar empfangen. war und ist es nicht eindeutig, politisch moti- mündlichen Prüfung zwecks Erlangung der Doktorwürde« vierte Urteile von kriminellen Fällen abzu­ von Walter Braeuer. Der in der Politische und kriminelle Fälle grenzen. Dass die Goethe-Universität die Auf-­ kommunistischen Studenten- nicht eindeutig unterscheidbar ar­beitung letztlich nicht scheute, zeigt das auf- fraktion engagierte Student Die Spannungen zwischen Universitätsrat und wendige Aberkennungsverfahren gegen Josef musste sich zuvor schriftlich verpflichten, nicht mehr gegen Dekanen zeigten groteske Züge, wenn der Uni- Mengele. den nationalsozialistischen versitätsrat intern gegen eine Wiederzuerken- Unbefriedigend blieben auch die Wieder­ Staat zu handeln. nung entschied, der Dekan aber zeitgleich die zuerkennungsverfahren durch Dekanskonzil­ 3 Im Deutschen Staatsan­ Rehabilitierung gegenüber dem Betroffenen beschlüsse, da die Betroffenen oft monatelang zeiger wurde die Aberkennung aussprach. In einem anderen Fall von »Unter- auf das Ergebnis warten mussten. In einer der Staatsangehörigkeit und schlagung« führten eine emotionale, unsach­ Senatssitzung vom 17. Juli 1957 wurde auf Antrag der damit verbundene Verlust liche Stellungnahme, verschwundene Unter­ von Hans Möller, Dekan der Wirtschafts- und der Doktorwürde mitgeteilt. Friedrich Dessauer, der zu lagen und widersprüchliche Gutachten der Sozialwissenschaftlichen Fakultät, die prinzipi- dieser Zeit eine Professur an Justitiare zu einer ablehnenden Entscheidung, elle Nichtigkeit aller politisch motivierten Entzie- der Universität Istanbul hatte, die Rektor und Dekan gegenüber dem Betroffe- hungen festgestellt. Ein Aufhebungsbeschluss für hat davon glücklicherweise nen bedauerten. Doch dies war heikel, da es sich jeden Einzelfall sei nicht erforderlich, aber ein zeitlebens nichts erfahren. hier um einen der Fälle handelte, bei dem ein offizieller Beschluss auf Wunsch möglich. Damit 4 »Gesuch um Zulassung Nationalsozialist seine Machtstellung genutzt war endlich eine eindeutige rechtliche Grundlage zur Doktorprüfung« von Ruth hatte, um zu erpressen, zu betrügen oder geschaffen, so dass das Rehabilitierungsverfahren Koplowitz. Die Doktorwürde brutale Gewalt auszuüben. Ein anderer dieser von Walter Braeuer nach mehr als zehn Jahren wurde ihr und ihrem sozia- listischen Ehemann Paul ehemaligen Frankfurter Doktoranden war formal zum Abschluss gebracht werden konnte. Heinrichsdorff nach einem der Kriegsverbrecher Oskar Dirlewanger. Heute Walter Braeuer dankte allen Beteiligten.  Hochverratsprozess entzogen.

Forschung Frankfurt | 2.2014 137 Der Freiherr und der Jude: Otmar von Verschuer blieb ungeschoren, Richard Koch unbekannt Lebensschicksale aus der Frankfurter Universität im Nationalsozialismus von Dr. Martina Lenzen-Schulte Erinnerungskulturen

Kurz nach Hitlers Machtübernahme standen auch in Frankfurt stramme Parteigänger bereit, um wichtige Posten zu übernehmen, alte Rechnungen zu begleichen und ihre jüdischen Kollegen aus den Ämtern zu drängen. Allerdings weist die Frankfurter ­Universität Besonderheiten auf, die ihr aus Historikerperspektive eine Ausnahmestellung sichern, denn auf ihrer Personalliste standen Namen wie von Verschuer, Mengele und Hirt. Trotz ihrer Bekanntheit ist bis heute vieles um diese Täter rätselhaft geblieben.

chon eher ist verständlich, dass manche derts«. 1 Insbesondere sein 1917 publiziertes Namen kaum noch jemanden aufhorchen Werk »Die ärztliche Diagnose« ist ein Meilen- Slassen, weil jene Zeitläufte sie daran hin- stein der Medizintheorie. derten, ihr Potenzial zu entfalten. Ihnen wird stets weniger Aufmerksamkeit gezollt als den Vertreibung jüdischer Gelehrter unheiligen Allianzen, die zur gleichen Zeit Der Frankfurter Medizinhistoriker Udo Benzen- geschmiedet wurden. Beispielhaft soll deshalb höfer ist nicht nur diesem Gelehrtenschicksal als allererstes auf das Lebensschicksal des nachgegangen. Er hat zudem die Entwicklung ­jüdischen Medizinhistorikers und Publizisten der medizinischen Fakultät in zahlreichen Pub- Richard Koch aufmerksam gemacht werden. likationen verfolgt und erst vor Kurzem eine Wer nach Erklärungen sucht, warum die medi- detailreiche Übersicht publiziert. 2 Die Universi- zinische Propädeutik in Deutschland nach dem tät erhielt bereits am 26. April 1933 einen neuen Krieg keine Fahrt aufnehmen konnte und bis- Rektor: Der Pädagogikprofessor Ernst Krieck her nie an das Niveau der angloamerikanischen war ein überzeugter Nationalsozialist. Die Neu- und französischen Kollegen heranreichte, wird wahl der Dekane am gleichen Tag bestätigte den hier einen der Gründe dafür finden. Ordinarius für Innere Medizin, Franz Volhard, Richard Koch war eines der ersten jüdischen zwar zunächst in seinem Amt. Er gewann – Fakultätsmitglieder, die nach der Machtüber- noch – gegen den überzeugten Nationalsozialis- nahme entrechtet wurden. Sein Name fiel schon ten Hans Holfelder, Direktor des Institutes für am 13. April 1933 in einer Mitteilung des Röntgentherapie. Holfelder stellte auch als ers- ­Berliner Kultusministeriums an den Frankfurter ter Ordinarius im August 1933 den Antrag auf Rektor, am 26. April war Koch bereits beur- Aufnahme in die Partei. Er wurde rückwirkend laubt. Er war in Frankfurt seit 1926 Vorsteher zum 1. Mai aufgenommen und bereits im des Seminars für Geschichte der Medizin, unter- November des gleichen Jahres zum Dekan gebracht in der Dr. Senckenbergischen Anato- gewählt – und zum wichtigen Weichensteller. mie. Koch verdiente sich seinen Lebensunter- Dass Krieck bald nach Heidelberg wechselte, lag 1 otmar Freiherr von Verschuer halt im Wesentlichen als niedergelassener Arzt daran, dass der Status der Frankfurter Univer­ bei der vergleichenden in Frankfurt. Er publizierte regelmäßig in der sität unsicher war. Ihre »jüdisch-liberale« Ver- Messung des Lungenvolumens an Zwillingen. Die Versuche »Frankfurter Zeitung« über medizinische und gangenheit war den neuen Machthabern ein fanden 1930 am Frankfurter naturwissenschaftliche Themen – ein früher Dorn im Auge. Da es sich außerdem um eine Institut für Rassenhygiene Wissenschaftsjournalismus vom Feinsten sozu- »Stiftungsuniversität« handelte, trug dieser und Erbbiologie statt, das von sagen –, hatte jedoch nach der Beurlaubung Sonderstatus überdies dazu bei, dass man über Verschuer von 1934 bis 1942 leitete. kaum noch Einnahmen. Ab 1936 musste er sich eine Schließung nachdachte. Nachfolger von regelmäßig bei der Polizei melden, wurde Krieck wurde der Historiker Walter Platzhoff, er schließlich gewarnt und floh über verschiedene blieb bis 1944 im Amt. Stationen in den Kaukasus, wo er in Essentuki Schon früh wurden auch in Frankfurt 1949 mittellos starb. Solch eine magere Zusam- ­jüdische Mitglieder der Fakultät aus dem Amt menfassung eines Gelehrtenlebens täuscht: gedrängt – entweder aufgrund des Gesetzes zur Koch gilt als einer der »bedeutendsten Medizin- Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom theoretiker und -historiker des 20. Jahrhun- 7. April 1933, oder aber informell, wie im Fall

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2 Der von den National­ von Max Neißer, der den Lehrstuhl für Hygiene lich-nachtragenden Aufrechnungen: Einem sozialisten vertriebene innehatte und selbst um seine Emeritierung bat. Mitarbeiter, der sich gern in vollem Ornat seiner jüdische Medizin­historiker und Der renommierte und international anerkannte Militärorden zeigte, hatte er wohl einmal emp- Publizist Richard Koch, gezeichnet 1930 Physiologe Gustav Emden wurde zunächst auch fohlen, die »Blechmarken« abzulegen. Von den von Lino Salini. nicht entlassen. Wahrscheinlich wäre er als Jude 19 Ordinarien der Medizin, die in Frankfurt für später verfolgt worden, aber er starb bereits im das Wintersemester 1932 /1933 dokumentiert Juli 1933. Anders erging es dem Ordinarius der sind, hatten bis 1938 sechs aktive Mediziner Dermatologie, Oscar Gans, der nach Versetzung und vier emeritierte ihr Amt verlassen müssen. in den »Ruhestand« (so hieß es offiziell) 1934 Hinzu kamen zahlreiche weitere Dozenten und emigrierte und 1949 wieder zurück nach Frank- Professoren der Fakultät, insgesamt listet Ben- furt kam. Klassisch darf auch der Fall des Phar- zenhöfer 53 Namen auf. 3 makologen Werner Lipschitz genannt werden, der als »Volljude« von zweien seiner Mitarbei- Von Verschuers Karriere: Anpassen, ter, die sich bei ihm habilitiert hatten, denun- Lavieren und Verdrängen ziert worden war. Dass einer von ihnen sich So, wie die politische Machtübernahme für ­später dazu bekannte, unter dem Druck der manche die Entrechtung und Existenzbedro- neuen Ideologie und seines Kollegen gehandelt hung bedeutete, wussten andere sich und ihr zu haben und sich bei der Familie entschuldigte, Fach den neuen Verhältnissen anzupassen. Zu ist ebenfalls eine Konstellation, die man von ihnen zählte Otmar Freiherr von Verschuer, der anderen Universitäten kennt. sich bereits als Mitglied des Marburger Studen- Seltener waren wohl Possen wie die um den ten-Freikorps Meriten im Sinne der neuen Ideo- Anatomen Hans Bluntschli. Ihm kam am Ende logie verdient und gegen aufständische Arbeiter zugute, dass er als Schweizer alsbald einen Ruf gekämpft hatte. Seine wissenschaftliche Karri- nach Bern erhielt und dort schon im Winter­ ere ist ein Beispiel für die Fähigkeit anerkannter semester 1933 /1934 sein Amt antreten konnte. Wissenschaftler zu lavieren, den nützlichen Die Anschuldigungen, die die NSDAP Frankfurt Kotau nicht zu scheuen, so wenig verräterische gegen ihn gesammelt hatte, reichten von Vor- Spuren wie möglich zu hinterlassen, genügend würfen, der falschen Partei nahezustehen und Netzwerke zu bilden, um aufgefangen zu wer- Pazifist zu sein bis hin zu offensichtlich klein- den, wenn der Wind sich wieder dreht und

140 2.2014 | Forschung Frankfurt Erinnerungskulturen schließlich alles zu verdrängen (ob bewusst als Lüge oder als psychologischer Schutzreflex), was dem eigenen Wohl nicht dienlich wäre. Am Beispiel von Verschuer lässt sich zudem gera- dezu paradigmatisch zeigen, wie viele Rädchen ineinandergreifen mussten, damit bestimmte Wissenschaftler, die sich zu Tätern eigneten, dahin gelangten, wo sie später ihre Gräuel ver- üben konnten. Holfelder war nicht umsonst Dekan gewor- den: Ihm war über das Ministerium bekannt geworden, dass vier Universitäten Lehrstühle für Naturheilkunde und Erbbiologie erhalten sollten. Frankfurt gehörte zunächst nicht dazu, aber Holfelder legte sich ins Zeug, er wollte vor allem die Erbbiologie in Frankfurt etablieren. 4 3 Der Lehrstuhl kam und mit ihm von Verschuer – er war seinerzeit Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre am neu gegründeten ­Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin-Dahlem gewesen. Sein neues Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene bestand aus 58 Räumen im »Haus der Volksgesundheit« in Sachsenhausen, Gartenstraße 140. Josef Mengele wurde 1937 sein Praktikant, später Assistent und Doktorand, hier hatten sich zwei gefunden, deren Verbindung die Frankfur- ter Jahre überdauerte. Als von Verschuer 1942 die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Institutes für 4 Anthropologie in Berlin übernahm und Men- gele 1943 Lagerarzt in Ausschwitz wurde, ver- sorgte er das Berliner Institut regelmäßig mit alistischen Geist geäußert, er trat 1940 in die 3 Josef Mengele, später »Material«, Blutproben und Augen von Zwil- NSDAP ein, begrüßte das Gesetz zur Verhütung bekannt als gnadenloser lingspaaren. Von Verschuer bedankte sich erbkranken Nachwuchses, war Gutachter bei KZ-Arzt von Ausschwitz, kam 1937 an das Frankfurter ebenso regelmäßig dafür, habe aber – so seine erbbiologischen Gutachten, Sachverständiger in Institut für Erbbiologie und Aussagen nach dem Krieg – nicht gewusst, wie Sachen »Judenfrage« – und er war schlau. Rassenhygiene. genau dies alles gewonnen wurde. Es sind Obwohl er alle Aufzeichnungen über seine For- ­solche Aussagen, die in den Artikeln von Histo- schung aus dem Krieg retten konnte, fehlten 4 Der Anatom August Hirt rikern eine derartige Empörung hervorrufen, just diejenigen, die sich auf die Zusammenarbeit kam 1938 nach Frankfurt. dass man das Tremolo förmlich beim Lesen mit Mengele beziehen. Nach dem Krieg bettelte 1941 wurde er nach Straß- burg berufen. Mit seinen spürt. So macht Benno Müller-Hill in seiner er unbelastete deutsche Kollegen – darunter Menschenversuchen­ Arbeit von 1999 seiner Wut darüber Luft, dass Otto Hahn vergeblich – um Persilscheine an, im KZ Natzweiler-Struthof das Max-Planck-Institut Briefe bis 2025 unter und stellte sich geschickt seinen internationalen erlangte er berüchtigte Verschluss halte, die besseren Aufschluss über Kollegen gegenüber als Opfer unseliger Ent- Berühmtheit. von Verschuers Verstrickungen hätten geben wicklungen und einer Verbrecherkaste dar, von können. 5 der er sich stets distanziert hätte. 6 Müller-Hill vermutet, dass ihm dabei auch Rätselhafte Lücken in der biografischen belastendes Wissen über andere zugutekam. Forschung So soll der Genetiker Hans Nachtsheim mit Für Unverständnis und Aufregung sorgt dabei einem Mitarbeiter des Chemie-Nobelpreisträgers nicht nur die Tatsache, dass über die Kriegsjahre Adolf F. J. Butenandt Versuche an epilepsie- so wenig geforscht wurde, sondern auch, dass es kranken Kindern gemacht haben, über die von von Verschuer gelang, 1951 einen Lehrstuhl für Verschuer Bescheid wusste, und deshalb hielt Humangenetik in Münster zu erlangen. Einer Nachtsheim seinerseits belastende Aussagen wie er konnte seine akademische Laufbahn trotz über von Verschuer zurück. 7 Eine Biografie der Fakten, die über ihn bekannt waren, fort­ von Verschuers fehlt noch immer, auch die setzen, einer wie Koch verarmte in Russland. Forschung über das vermutete Netzwerk ehe- Von Verschuer hatte sich nicht nur in seinem maliger NS-Eugeniker und Nationalsozialisten Lehrbuch und bei mehreren anderen Gelegen- an der Universität Münster hat nie wirklich heiten positiv über Hitler und den nationalsozi- Fahrt aufnehmen können. 8 Von Verschuers

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Anmerkungen Nachfolger in Frankfurt war der überzeugte Ob in diese Interessenlage auch der Ana- Nationalsozialist Heinrich Kranz. Nachdem tom August Hirt »hineinpasste«, ist ebenfalls 1 Töpfer F, Wiesing: Zeit vor Eurer Zeit. Die Autobiographie dieser sich nach dem Krieg das Leben genom- völlig unklar. Hirts Verbrechen haben zumin- von Richard Koch, 2004, men hatte, versuchte von Verschuer zunächst, dest teilweise Frankfurt berührt. Er kam 1938 Frammann-Hozboog Verlag. am dortigen Institut wieder eine Stelle zu als Austausch für den Anatomen Wilhelm 2 Benzenhöfer U: bekommen. Das haben die Interventionen von Pfuhl nach Frankfurt. Seine Tierversuche mit Die Universitätsmedizin Robert Havemann, aber wohl auch der inzwi- dem Kampfstoff Lost führte er in Frankfurt in Frankfurt am Main schen nach Frankfurt zurückgekehrte Derma- fort. Nachdem er 1941 als Ordinarius nach von 1914 bis 2014. 2014. tologe Gans verhindert. 9 Straßburg berufen wurde, nahm er die Men- Kontur-Verlag, Münster. schenversuche an Häftlingen im KZ Natzwei- 3 a.a.O. [2] S. 112. Anstiftung zu verbrecherischer ler-Struthof vor, derentwegen er seine berüch- 4 a.a.O.: [2] S. 120. Zwillingsforschung? tigte Berühmtheit erlangte. 1943 »erhielt« er 5 Müller-Hill B: The Blood Welchen wichtigen Input Josef Mengele im aus Auschwitz 86 Häftlinge für anthropologi- from Ausschwitz and the Rahmen seiner Frankfurter Assistenz- und Dok- sche Unter­suchungen. 12, 13 Ob hier bereits der Silence of the Scholars. torandenzeit bei von Verschuer erhielt, kann anthropologisch so interessierte Mengele, der History and Philosophy nicht beantwortet werden. Dass jedoch seine auch zu Hirts Zeit in Frankfurt war, eine Rolle of the Life Sciences 1999;21(3):331–365 (s. S. 348) Untaten in Ausschwitz zumindest in der für von bei der Auswahl spielte, ist ebenfalls ungewiss. Verschuer so bedeutenden Zwillingsforschung Solche Hinweise zeigen indes, welche immense 6 Kühl, S: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg ihren Ursprung hatten, ist mehr als plausibel. Bedeutung womöglich der Frankfurter und Niedergang der Von Verschuer »bildete sich viel auf seine Zwil- ­»Inkubation« für zentrale Verbrechen der NS- internationalen eugenischen lingsforschung ein«, hält Benzenhöfer fest. So Medizin zukam. Sie zeigen weiterhin, dass Bewegung im 20. Jahrhundert. wollte er beispielsweise zeigen, dass bestimmte nicht nur die von der Wissenschaft verachteten 2014; Campus Verlag; 2. akt. Aufl. (dort S. 244). erbliche Dispositionen für den Verlauf einer »Mengeles« und »Hirts« Beachtung verdien- Tuberkulose entscheidend seien. Mengele hatte ten. Sie eigneten sich bestens dazu, um sie zur 7 s. [4] S. 352. Medizin und Anthropologie studiert und Projektionsfläche für die Unwissenschaftlich- 8 s. das Interview zunächst eine Doktorarbeit in Anthroplogie keit der Verbrechen zu machen, und dafür, von Michael Billig mit über (vermeintliche) rassische Unterschiede am die Unschuld der echten Wissenschaft zu Sheila F. Weiss über die geplante Biografie von Unterkiefer angefertigt. In Frankfurt promo- bewahren. Der die Wissenschaft so hoch­ Verschuers im Onlinemagazin vierte er in Medizin bei von Verschuer zum haltende und später von seinem Ruf nach iley.de: 15.07.2007; http://iley. Thema: »Sippenuntersuchungen bei Lippen- wie vor profitierende von Verschuer hätte de/docs/00000309.pdf Kiefer-Gaumenspalten«. ­mindestens ebenso sehr in den Fokus solcher 9 darauf deutet jedenfalls Über die Zweckentfremdung und Verball- Forschung gehört.  die Aussage von Frau Weiss hornung wissenschaftlicher Prinzipien ist in hin; s. Interview unter [7], S. 4 im PDF-Ausdruck. diesem Zusammenhang genug gesagt worden. Interessant ist eigentlich, dass es in Bezug auf 10 Zofka Z: Der KZ-Arzt Mengeles Biografie nach der Frankfurter Zeit Josef Mengele. Zur Typologie 10 eines NS-Verbrechers. Viertel- immer noch Unklarheiten gibt : Obwohl von jahreshefte für Zeitgeschichte Verschuer versuchte, Mengele in Frankfurt zu 1986;34(2):245 –267. halten, wurde er 1940 einberufen und kam 11 a.a.O. s. [10] S. 255. über verschiedene Stationen, die oft nur 12 a.a.O. s. [2] S. 150 ff. lückenhaft belegt sind, schließlich Ende Mai 1943 als Lagerarzt nach Auschwitz. Bis zum 13 Kasten F: Unethical Nazi Kriegsende wurde er weiterhin als Angestell- Medicine in the Annexed Alsace-Lorraine: The Strange ter der Universität Frankfurt geführt. Zdenek Case of Nazi Anatomist Zofka erwähnt in seiner Publikation über Professor Dr. August Hirt. In: Mengele, dass dessen Versetzung nach Ausch- Historians and Archivists witz Methode gehabt haben könnte und (Hrsg. George O. Kent). Fairfaix. Virginia. S. 173 –208. durchaus ganz im Interesse von Verschuers war. Dass Mengele die Zwillingsforschung so forciert weiterverfolgte, nährt seiner Ansicht nach eine solche Vermutung, da sie ein Lieb- lingsgebiet seines Chefs war und Mengele Die Autorin selbst zuvor nicht in dieser Richtung geforscht hatte. Zofka geht sogar noch weiter. Es sei, so Dr. Martina Lenzen-Schulte, Jahrgang 1961, ist Ärztin, Journalistin und Buchautorin. Sie arbeitet schreibt er, »nicht einmal ­auszuschließen, als Medizinredakteurin bei Medscape Deutsch- dass es überhaupt von Verschuers Idee war, land und publiziert unter anderem regelmäßig in die in Auschwitz gegebenen besonderen Ver- der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. hältnisse für die wissenschaftliche Forschung [email protected] auszunützen«. 11

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»Erziehung zu unablässiger ­Kritik und verantwortlichem Nach-Denken der über­kommenen Gedanken«

Neubeginn nach Diktatur und Krieg – Rektor Walter Hallstein und sein Plädoyer für eine freie Universität

von Barbara Wolbring

Für Hochschulräte mitten aus der Gesellschaft gab es in Hallsteins Universitätskonzept keinen Platz. Die Autonomie der Stiftungsuniversität wäre dagegen schon in seinem Sinne gewesen. Besonders am Herzen lag dem ersten gewählten Rektor nach Kriegsende, dass Forschung und Lehre eng verbunden werden.

as Wesen der Hochschule besteht in der Wissenschaft wieder in den Mittelpunkt stelle: Einheit von Forschung und Lehre, die in der Forschung und gemeinsam mit den Stu- Dnicht bloss die Addition von zwei Funktio- dierenden in der Lehre. nen ist, sondern eben eine Einheit.« Für den Juristen Walter Hallstein (1901 –1982), der von Hallsteins Weg nach Europa 1946 bis 1948 erster frei gewählter Rektor der Bekannter als seine universitätspolitische Bedeu- 1 Walter Hallstein bei Antritt Goethe-Universität nach dem Zweiten Welt- tung ist heute allerdings die Rolle, die Hallstein seines Rektorats. Zeichnung krieg war, machte dies den Kern der Universität in der Außenpolitik der frühen Bundesrepublik von Klaus Meyer-Gasters für die erste Ausgabe der aus. Dieser Grundüberzeugung versuchte er und in der Europapolitik spielte. 1950 wurde er »Frankfurter Neuen Presse« nach dem Nationalsozialismus wieder Geltung unter Konrad Adenauer, der neben dem Amt am 16. April 1946. zu verschaffen und sie gegen Reformabsichten des Bundeskanzlers auch das des Außenminis- zu verteidigen, die auf eine stärkere politische ters innehatte, Staatssekretär im Auswärtigen Kontrolle der Universitäten zielten. Nur in Frei- Amt. Hier widmete er sich besonders dem neuen heit könne Freiheit entstehen, lautete sein Europa. Hallstein leitete die deutsche Delega- Argument. Zur intellektuellen Neuorientierung tion bei den Verhandlungen zum Schumann- Deutschlands könne die Universität entschei- Plan, der zur Gründung der Europäischen dend beitragen, wenn sie das Prinzip der freien Gemeinschaft für Kohle und Stahl führte und

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Europa ist sein Name bis heute vor allem mit der »Hallstein-Doktrin« verbunden, mit der die Bundesrepublik die DDR international zu isolie- ren versuchte.

»Lageruniversität« in den USA: Nachdenken lernen unter extremen Bedingungen Bevor er seine politische Karriere begann, spielte Hallstein eine zentrale Rolle in den poli- tischen Auseinandersetzungen um die Neuge- staltung des Hochschulwesens. 2 Erst ein halbes Jahr nach Kriegsende, im November 1945, kehrte er aus amerikanischer Kriegsgefangen- schaft in das zerstörte Frankfurt zurück. Seit 1941 hatte er hier den Lehrstuhl für Bürgerli- ches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht inne. Gegen seine Berufung meldete der NS-Dozen- tenbund 1940 »sehr starke Bedenken« an, obwohl er »wissenschaftlich durchaus geeignet« sei. 3 Die Rechtswissenschaftliche Fakultät um den Dekan Wilhelm Claß beharrte dennoch auf ihrem Vorschlag. Unter den infrage kommen- den Gelehrten rangiere er so eindeutig an erster Stelle, dass dagegen alle Bedenken zurückzu- stellen seien. Hallstein galt nach 1945 als voll- ständig unbelastet. Er war nicht aktiv im Wider- stand tätig gewesen, hatte aber versucht, in seinem Wirkungsbereich die Ideologie möglichst 2 zurückzudrängen gegenüber sachlichen und fachlichen Kriterien und so Grundsätze der Uni- versität zu bewahren. In Rostock, wo Hallstein von 1930 bis 1941 lehrte, sei allgemein bekannt 2 Dieses Gelöbnis unter- den Prozess der europäischen Integration ein- gewesen, dass er »mit dem Regime überhaupt schrieb Walter Hallstein im läutete. 1958 wurde er zum ersten Kommissi- nichts im Sinne« hatte, berichtet der langjährige Februar 1946 – bereits einen onspräsidenten der Europäischen (damals Wirt- Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) Monat später, im März 1946, 4 wählte ihn der Große Senat schafts-)Gemeinschaft gewählt und hatte dieses in seinen Lebenserinnerungen. Ihn hat Hall- der Universität zum Rektor. Amt bis 1967 inne. 1 Trotz des Engagements für stein als Studenten in einer brenzligen Situation Er war damit der Erste, der vor der Exmatrikulation bewahrt. nach dem Ende des National- 1942 wurde der 41-jährige Hallstein zum sozialismus durch freie Wahl in dieses Amt gelangte. Kriegsdienst eingezogen und kam im Juni 1944 an der Westfront in amerikanische Gefangen- 3 Seit 1941 hatte Hallstein schaft. Im Kriegsgefangenenlager in den USA einen Lehrstuhl für Bürgerli- nahm er seine Tätigkeit als Hochschullehrer ches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der wieder auf und organisierte eine Lageruniver­ Universität Frankfurt inne. sität, deren Kurse 400 der 1000 Gefangenen Dieses Foto dürfte in seiner besuchten. 5 Es war sein Ziel, aus ehemaligen Frankfurter Zeit nach dem Soldaten »Studenten und, wenn möglich, den- Krieg entstanden sein. kende Menschen zu machen«. Dies erschien ihm umso dringlicher, als dieses Lager ein »ausgesprochenes Nazi-Lager« war. Zunächst ­schritten die amerikanischen Behörden Hall- steins Angaben zufolge auch nicht ein, als die Nazi-Aktivisten im Lager Gewalt gegen politi- sche Gegner ankündigten. Er habe sich daher mit Gleichgesinnten eine Zeit lang nachts ver- barrikadieren müssen. 6 Der nationalsozialistischen Ideologie, der Autoritätshörigkeit und dem soldatischen Prin- zip von Befehl und Gehorsam setzte Hallstein in 3 seiner Rede zur Eröffnung der Lageruniversität

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1947 öffentlich bekannte. 9 Dass ein Zurück zum wissenschaftlichen »Normalbetrieb« allein nicht ausreichen würde, um aus ideologisch indoktri- nierten ehemaligen Soldaten kritisch denkende Staatsbürger einer Demokratie zu ­formen, war Hallstein klar. Zusätzlich bräuchte es eine geistige Öffnung, neue Impulse und Anregungen. Wie entscheidend solche Impulse waren, hat er selbst während eines zweimonatigen Schu- lungskurses für künftige Führungskräfte erfah- ren, zu dem nur ein Prozent der Kriegsgefange- 4 Ankunft der Delegation nen von den Amerikanern ausgewählt worden von der University of Chicago war. Die Beschäftigung mit dem amerikanischen in Frankfurt 1948. Wieder Blick auf die Geschichte und die Verfassung der internationale Kontakte 4 USA beeinflussten ihn stark. Um eine ähnliche aufzubauen, war Hallstein als Rektor und Wissenschaftler am 15. Oktober 1944 das Prinzip der Wissen- Erfahrung den Frankfurter Studierenden zu nach der Zeit des National­ schaft entgegen. 7 Wissenschaft sei »Erkenntnis ermöglichen, führte er als Rektor den »dies sozialismus sehr wichtig. aus Gründen«, sie erfordere Diskussion, das ­academicus« ein, bei dem Professoren aus ihrem 5 Walter Hallstein gehörte Abwägen von Argumenten für eine Erkenntnis, jeweiligen Gebiet Vorträge für Hörer aller Fach- zu den Architekten des neuen die jederzeit durch bessere Gründe überwunden bereiche hielten. Diese Chance zu einer Art Europas. Hier ist der Staats­- werden könne. Unkritisches Hinnehmen und »studium generale« sollte die Interdisziplinari- sekretär (2. von links) mit Auswendiglernen sei mit dem Prinzip der Wis- tät fördern und Anregungen über die Fachgren- Bundes­kanzler Konrad Adenauer (links) und dem senschaft nicht vereinbar. 8 zen hinweg geben. Gleichzeitig öffnete sich die französischen Staatssekretär Universität auch wieder der Gesellschaft: Frank- Maurice Schumann und dem Blick über die Grenzen – Voraussetzungen furter Bürger, viele von ihnen nach der Herr- französischen Außenminister für kritisches Denken schaft der Nazis nach neuer Orientierung Robert Schuman bei einer Sitzung des Europa-Rates in Geistige Selbstständigkeit, Analyse und Kritik­ suchend, nahmen das Angebot, die Vorträge zu Paris am 20. März 1952. fähigkeit galten bereits seit dem frühen 19. Jahr- besuchen, offen auf. hundert als das intellektuelle Erziehungsziel der In dieser Aufbruchphase nach dem Zweiten Universitäten. Und doch: Die Universitäten hatten Weltkrieg war Hallstein der Kontakt mit dem den Nationalsozialismus nicht aufgehalten, son- Ausland besonders wichtig. Die Wissenschaft in dern ebenso wie »nahezu alle öffentlichen Instan- Deutschland brauche »nichts dringender […] als zen, auf die es ankam, versagt«, wie Hallstein die Befreiung aus der nationalen Isolierung der

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6 Walter Hallstein letzten anderthalb Jahrzehnte«, war er über- als Staatssekretär im zeugt. 10 Deshalb begrüßte er die Initiative der Auswärtigen Amt, Chicagoer Universität, die bereit war, als Part­ im September 1957. Damals arbeitete er gerade neruniversität regelmäßig Gastdozenten nach an dem EWG-Vertrag. Frankfurt zu entsenden und deutsche ­Professoren Im Januar 1958 wurde er aufzunehmen. Im Frühjahr 1948 begann der dann zum Präsidenten der Austausch mit Chicago, und Hallstein bezeich- ersten Kommission der neu gegründeten nete ihn in seinem Rechenschaftsbericht als Rek- EWG gewählt. tor als ein entscheidendes Element zur Erneue- rung der Universität. Auch er selbst suchte weiter Anregungen in den USA und folgte im Septem- ber 1948 einer Einladung der Georgetown Uni- versität in Washington. In Briefen und Berichten zeigte er sich beeindruckt von dem freieren Umgangston und dem lebendigeren Vortragsstil der Vorlesungen. Er sei »mehr überzeugt als vor- her«, schrieb er aus Washington einem Kollegen, »dass wir auf dem speziellen Gebiet des Rechts- 6 unterrichts einiges lernen können«. 11

Anforderungen an ein neues Hochschulsystem: oben auf Hallsteins Agenda. Er strebte eine Wei- Selbstverwaltung soll Freiheitsräume sichern terentwicklung des Hochschulsystems an, das Nach dem Ende der nationalsozialistischen Dik- sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet tatur, die alle Lebens- und Verwaltungsbereiche hatte. Schon vor 1933 hätten die staatlichen­ durchdrungen hatte, stand die Erneuerung Behörden über allzu starke Zugriffsrechte­ ver- eigenständiger universitärer Strukturen ganz fügt, so dass es dem ­Nationalsozialismus möglich war, »mit ein paar Korrekturen das in der Selbst- verwaltung sich ausdrückende demokratische­ Grundprinzip zu beseitigen«. 12 Eine Reform sollte daher Freiheitsräume wiederherstellen und institutionell absichern. Hallsteins Ziel bestand darin, für die Hochschulen ein Selbstverwal- tungsrecht zu erlangen, das weiter ging als vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Das betraf vor allem das Selbstergänzungsrecht der Universitäten, das Recht also, über die Besetzung der Professorenstellen zu entscheiden. Die hessi- sche Landes­regierung hingegen misstraute den Universitäten. Sie warf ihnen vor, nationalsozia- listisch belastete Professoren zu schützen und Die Autorin eine personelle Erneuerung zu verhindern. Der hessi­sche Kultusminister Erwin Stein (CDU) Privatdozentin Dr. Barbara Wolbring, 49, lehrt plante daher, die Universitäten stärkerer staat­ Neuere Geschichte am Historischen Seminar licher Kontrolle zu unterstellen und die Eingriffs- der Goethe-Universität. Sie ist Koordinatorin des rechte des Ministeriums in das Selbstver­ Zentrums Geisteswissenschaften im Qualitäts- pakt Lehre – Programm »Starker Start ins waltungsrecht insbesondere bei Berufungen Studium«. Derzeit vertritt sie einen Lehrstuhl am auszuweiten. Kein Wunder, dass es zu harten Karlsruher Institut für Technologie. Ihre Auseinandersetzungen zwischen Hallstein und Forschungsschwerpunkte sind Bildungs- und Kultusminister Stein kam. 13 Neben stärkerem Universitätsgeschichte und die Kulturgeschichte Einfluss in Berufungsfragen plante er auch die des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, Einsetzung staatlicher Kuratoren in den Univer- Erinnerungskultur, kollektive Identität und sitätsverwaltungen. In der Diskussion waren Öffentlichkeit. In diesem Jahr ist ihre Habilitati- auch Universitätsräte aus Vertretern gesellschaft- onsschrift erschienen: Trümmerfeld der licher Gruppen, ähnlich wie bei den Rundfun- bürgerlichen Welt. Die Universität in den kräten einiger öffentlich-rechtlicher Sender. 14 gesellschaftlichen Reformdiskursen der Unter Hallsteins Vorsitz hat der Sachverstän- westlichen Besatzungszonen (1945 –1949), Göttingen 2014. (siehe Rezension, Seite 157) digenausschuss für die Länder der amerikani- schen Besatzungszone im Dezember 1947 die [email protected] »Schwalbacher Richtlinien« formuliert. Darin lehnten die Ausschussmitglieder zusätzliche

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Gremien für staatliche Hochschulen einmütig versität müsse die Studierenden befähigen, die ab, die mit Vertretern gesellschaftlich relevanter wissenschaftliche Methode anzuwenden und Gruppen besetzt waren. Denn sie würden ent- selbstständig zu denken. Das sei, so mahnte weder die universitäre Selbstverwaltung oder Hallstein auch an die eignen Kollegen gerichtet, das staatliche Aufsichtsrecht beschneiden. Ver- »das Gegenteil der Vermittlung von Lehrmei- antwortung für wichtige Fragen der Hochschul- nungen, vielmehr die Erziehung zu unablässiger organisation dürfe nicht auf Instanzen übertra- Kritik und verantwortlichem Nach-Denken der gen werden, die außerhalb der Hochschule überkommenen Gedanken«.  stünden. Der Staat hingegen habe sich auf eine Aufsichtsrolle zu beschränken und sich nicht, wie dies etwa in Preußen durch den staatlichen Kurator der Fall war, an der Verwaltung der Universität zu beteiligen.

Die »Schwalbacher Richtlinien«: Erste Schritte zur Überwindung der Ordinarienuniversität Die »Schwalbacher Richtlinien« hatten eine Anmerkungen stärkere Einbeziehung der verschiedenen uni- 1 Aufgrund der Bedeutung 8 Antwort in einem Frage­ Britischen Zone Deutschlands, versitären Gruppen im Blick: Sie sahen vor, dass Hallsteins in der Außen- und bogen der OMGUS Information in: Die Sammlung 3 (1948), die Selbstverwaltung nicht mehr allein bei den Europapolitik konzentriert sich Control Division v. 27.3.1948, Beilage zu Heft 2 Ordinarien liegen, sondern alle Lehrenden ein- die Literatur hierauf. Zuletzt Abschrift, in: BA N 1266/224. (zuerst in: The Universities mit ausführlicher Bibliografie: Review Bd. 19, Nr. 3, Mai 1947). beziehen sollte. So sollten die beiden beamteten 9 Walter Hallstein, Hoch­ Ingrid Piela, Walter Hallstein schule und Staat, in: 15 Walter Hallstein, Professorengruppen, Ordinarien und Extra­ – Jurist und gestaltender Die Wandlung 2 (1947), Hochschule und Staat, in: ordinarien, gleichberechtigt in den Universitäts- Europapolitiker der ersten S. 706–721, bes. S. 707. Die Wandlung 2 (1947), gremien vertreten sein. Auch für Honorar­ Stunde. Politische und S. 706–721, hier S. 716. professoren, außerplanmäßige Professoren und institutionelle Visionen des 10 Walter Hallstein, Bericht ersten Präsidenten der Privatdozenten war eine Beteiligung vorgese- des scheidenden Rektors EWG-Kommission (1958 –1967), Walter Hallstein bei der hen, bis zur Hälfte der Zahl der planmäßigen Berlin 2012. Rektoratsübergabe am Professoren. Vertreter der Studentenschaft soll- 24. September 1948 (Frankfur- 2 Vgl. Manfred Heinemann ter Universitätsreden, N.F. 3), ten bei der Behandlung studentischer Fragen (Hrsg.), Süddeutsche Hoch- Frankfurt am Main 1950, S. 18. (nicht allerdings bei Berufungen) hinzugezogen schulkonferenzen 1945 –1949, werden und auch Stimmrecht erhalten, lautete Berlin 1997, bes. S. 15 ff. 11 Walter Hallstein an den Prorektor der Universität der Vorschlag. In den politischen Auseinander- 3 Beglaubigte Abschrift des Heidelberg, Prof. Dr. Wolfgang Schreibens des NSD-Dozen- setzungen spielten die »Schwalbacher Richt­ Kunkel, 20.12.1948, in: tenbund Gaudozentenschafts- linien« allerdings schon bald nur noch eine BA N 1266/1864. führers (Heinrich) Guthmann geringe Rolle. Andere Reformvorschläge, beson- v. 14.11.1940, und 19.11.1940 in: 12 Walter Hallstein, Die ders das in der britischen Besatzungszone UAF, Abt. 14 Nr. 190, Bl. 94v. Universitäten, deutsches erstellte »Gutachten zur Hochschulreform«, Typoskript des dann in 4 Eugen Gerstenmaier, Streit englischer Übersetzung stellten andere Themen in den Mittelpunkt, ins- und Friede hat seine Zeit. erschienenen Beitrags besondere die soziale Öffnung der Universitäten Ein Lebensbericht, The Universities, in: Annals of Frankfurt / M. u. a. 1981, S. 66. über das Bürgertum hinaus. Politiker wie der the American Academy of hessische Kultusminister Stein strebten eine 5 Matthias Schönwald, Hinter Political and Social Science stärkere politische Kontrolle der Universitäten Stacheldraht – vor Studenten. 260 (1948), S. 155–167, in: BA N 1266/1666, S. 15. an, die meisten Parlamentarier hingegen inter- Die ›amerikanischen Jahre‹ Walter Hallsteins 1944 –1949, 13 Diese Auseinandersetzun- essierten sich mehr für wirtschaftliche Fragen in: Begegnung zweier gen bildeten den Hintergrund als für die Universitäten. In dieser Pattsituation Kontinente. Die Vereinigten im sogenannten »Fall Brill«, Staaten und Europa seit dem blieben Reformversuche zunächst stecken. vgl.: Barbara Wolbring, Ersten Weltkrieg, hrsg. von Hallstein allerdings blieb dabei, dass eine Trümmerfeld der bürgerlichen Ralph Dietl und Franz Knipping, Welt. Universität in den weitgehende Selbstverwaltung der Universitä- Trier 1999, S. 31–54. ten unter Beteiligung der verschiedenen Status- gesellschaftlichen Reform­ 6 Walter Hallstein, Lebenslauf diskursen der westlichen gruppen die richtige Organisationsform für die v. 15.11.1945, hdschriftl. u. m. Besatzungszonen (1945 –1949), Universitäten sei. Sie garantiere am besten die schriftl. in: BA N 1266/271. Göttingen 2014, S. 349 ff. Freiheit der Wissenschaft. Noch wichtiger war 7 BA N 1266/271. Teile dieser 14 So im sog. »Blauen ihm die Einheit von Forschung und Lehre als Rede hat Hallstein im Gutachten«: Studienausschuß das zentrale Wesensmerkmal der Universität: Zusammenhang mit dem für Hochschulreform, Gut- »Der Professor soll forschend lehren und leh- Entnazifizierungsfragebogen achten zur Hochschulreform, eingereicht, da ein Essay Hamburg 1948; zuvor bereits rend forschen.« 15 So würden die Studierenden gefordert war zu dem Thema: im Gutachten einer Delegation Wissenschaft als »Methode … nach strengen, »Über die soziale und der britischen Association of nur aus der Sache selbst gewonnenen Regeln politische Verantwortung der University Teachers: Erkenntnis zu gewinnen« erfahren. Die Uni­ deutschen Hochschulen«. Die Universitäten in der

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Ein vergessenes Stück Universitätsgeschichte von Diether Döring Erinnerungskulturen

In den Umbruchjahren der Weimarer Republik entwickelte sich in der Goethe-Universität eine Institution, die oft in Vergessenheit gerät: »Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main« – so auch der offizielle Titel. Sie war und ist mehr als eine Fortbildungsstätte für Arbeitnehmer. Hier studieren jährlich 40 Arbeitnehmer, aus allen Branchen der Wirtschaft und Verwaltung ausgewählt, um sich auf verantwortliche Tätigkeiten in Unternehmen, Verbänden und öffentlichen Institutionen vorzubereiten.

ie Gründung der Akademie für Arbeit ist leben, und diese knüpften die SPD-Stadt­ 1 Eine Collage von Materialien eng verbunden mit den Krisen, Umbrü- verordneten an die Öffnung der Universität aus dem Archiv der Akademie chen, aber auch Aufbrüchen in den für Arbeitnehmer. der Arbeit: Die Teilnehmer D des »Siebenten Lehrgangs«, ­frühen Jahren der Weimarer Republik. Die Stadtverordnetenvorsteher Theodor Thomas der vom 1. Oktober 1927 bis erste ­deutsche demokratische Verfassung, das (1876 –1953) und der Arbeitsrechtler Professor 30. Juni 1928 stattfand, und neue Betriebsrätegesetz und Ansätze einer Hugo Sinzheimer (1875 –1945) waren die das Deckblatt des Lehrgangs- Wirtschaftsdemokratie veränderten auch die Ideengeber­ für die Denkschrift »Eine Arbeiter- programm. Rolle der Arbeitnehmer. Um die wachsenden Akademie in Frankfurt a. M.«. Sie projektierte 2 Der Rechtsphilosoph Eugen Einflussmöglichkeiten wahrnehmen zu kön- ein Studium, das eine breite gesellschaftspoliti- Rosenstock (1888 –1973) leitete nen, brauchten die Menschen aus der Arbeits- sche Grundbildung mit starken wirtschafts-, die Akademie ab 1921 für nur welt neue Bildungsangebote, die mehr dar­ rechts- und sozialwissenschaftlichen Elementen ein Jahr; geprägt war diese Zeit von heftigen Auseinander- stellten als reine Fortbildung in ihren erlernten vorsah; daneben sollte es fachliche Schwer- setzungen mit der Frankfurter Berufen. punkte für verschiedene Tätigkeitsfelder geben. Professorenschaft. Er wollte Die Universitäten in Köln, Münster und die Leitmotiv war, Arbeitnehmer als Führungs- ein »Lehrhaus« neuen Typs Stiftungsuniversität in Frankfurt zeigten sich kräfte zu qualifizieren, die sich dann für die etablieren, in dem die Dozenten eher die Begleiter und Berater offen, solche Angebote neuen Typs zu offerieren. neuen demokratischen Rechte in Unterneh- der erwachsenen Studierenden Schon die auch auf Wilhelm Mertons (1848 – men, Staat und sozialen Institutionen einsetzen sein sollten. 1916) zurückgehende Akademie für Sozial- und sollten. Das Institut sollte bis zu 1.000 Studie- Handelswissenschaften, die Vorläuferin der rende aufnehmen und nach Sinzheimers Auf- Frankfurter Universität, suchte Erfordernissen fassung das Profil der Universität verändern. einer modernen Wirtschaftsgesellschaft Rech- Man dachte offenbar von vornherein an nung zu tragen. Der Frankfurter Stiftungs­ gemeinsame Lehrveranstaltungen von Univer- vertrag von 1914 wies der Universität sogar sität und Akademie, die auch in den Räumen ­ausdrücklich die Aufgabe zu, wissenschaftliche der Universität tätig sein sollte. Fortbildungsanstalt für Menschen im Beruf zu sein – zunächst allerdings ohne praktische Ein »Lehrhaus« neuen Typs Konsequenzen. Im September 1920 schrieb der Rechtsphilosoph Eugen Rosenstock (1888 –1973) eine zweite Der Druck der Sozialdemokraten Denkschrift »Grundsätze über eine Bildungs- Als Studenten der Universität anlässlich des stätte für erwachsene Arbeiter«. Der Leipziger Kapp-Putsches im März 1920 den Versuch Privatdozent hatte nach seinem Fronteinsatz im eines Staatsstreichs mit republikfeindlichen Ersten Weltkrieg zunächst auf eine Universitäts- Kundgebungen unterstützten, drängten die laufbahn verzichten wollen. Er wandte sich Frankfurter Sozialdemokraten, das Profil der Überlegungen zur Überwindung von Konflikten Universität zu verändern. Die durch den Ers- in der Arbeitswelt zu und übernahm in Stuttgart ten Weltkrieg und die nachfolgende Inflation die Herausgabe der Daimler Werkszeitung, eine desolate Finanzsituation der Universität eröff- der frühesten Betriebszeitungen Deutschlands. nete ihnen neue Chancen, Einfluss zu neh- Dort arbeitete er an der Idee einer »gemein­ men. Denn ohne Mittel aus dem städtischen samen Werksprache«, die zur Überwindung der Haushalt konnte die Universität nicht über­ Kluft zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten 2

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beitragen sollte. Rosenstock schwebte in Frank- liches Grundverständnis des Studiums voraus- furt ein »Lehrhaus« neuen Typs vor – eher in setzten und einem breiten Bildungsansatz­ vor Distanz zu universitären Lehrformen. In seiner schmaler tätigkeitsorientierter Fachbildung den eigenen Theorie des Lernens von Erwachsenen Vorrang gaben. spielte die »Maturität« (Reife) durch Lebens- und Berufserfahrung die entscheidende Rolle. Kompromiss: Ein »studium generale« in nur Die künftigen Lehrer sollten eher zu Begleitern zehn Monaten und Beratern der Studierenden werden; Lehr­ Die Akademie sollte schließlich mit diesen diver- inhalte sollten stets dem persönlichen und beruf- gierenden Vorstellungen an den Start gehen. lichen Erfahrungsbereich der Studierenden ent- Nachdem sich in einem Gründungsausschuss nommen werden. Vertreter von Universität, Stadt, preußischer 3 Aus dem Programm Da Mitglieder der preußischen Regierung Regierung, Repräsentanten verschiedener Gewerk- des »Siebenten Lehrgangs«: diesen pädagogischen Ansatz favorisierten, schaftsrichtungen sowie sozialer Institutionen Die Auflistung der Namen zeichnete sich schnell ein Konflikt mit den zusammengefunden hatten, wurde die Akade- macht deutlich, wie eng die beteiligten Frankfurter Universitätsprofessoren mie am 2. Mai 1921 eröffnet. Sie geriet viel Universität und die Akademie über die Professoren ab. Zwar hielten auch diese eine gewisse Anpas- ­kleiner als projektiert. Realisiert wurde ein Stu­ verbunden waren. sung universitärer Lehrformen für nötig, woll- diengang, der ein breites gesellschaftspolitisches »studium generale« bot, das allerdings nach einem Kompromiss mit den Gewerkschaften auf nur zehn Monate angelegt war. In der Univer­ sität, vor allem bei Wirtschafts- und Rechts­ wissenschaftlern, gab es eine große Bereitschaft, die vorgesehenen Lehraufträge zu übernehmen. Das preußische Wissenschaftsministerium in Berlin machte Rosenstock 1921 zum ständigen Leiter der Akademie mit weitreichenden Rech- ten, was bei der heterogenen Professorenschaft in Frankfurt wenig Begeisterung auslöste. Rosen- stock gab sein Amt schon nach einem Jahr nach vielen Auseinandersetzungen auf.

Das Aus: Ende März 1933 schlossen die Nazis die Akademie Trotz aller Kontroversen hat die Akademie der Arbeit bis zur Schließung durch die Nazis 1933 erfolgreich gearbeitet. Zahlreiche Professoren engagierten sich stark in dem neuen Institut: An erster Stelle seien der Nestor des deutschen Arbeitsrechts Hugo Sinzheimer, aber auch der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie und theoretische Nationalökonomie in Deutsch- land Franz Oppenheimer (1864 –1943) genannt. Die Vorstellungen von neuer Erwachsenen­ bildung und universitärem Lernangebot exis- tierten anfangs eher nebeneinander, wurden aber schrittweise zu sich ergänzenden Lehr- und Lernformen. Am 31. März 1933 schlossen SA und Krimi- nalpolizei die Akademie für Arbeit und ver­ siegelten ihre Räume, die mitten im Haupt­ gebäude der Universität lagen (dem früheren Bau der Handelsakademie). Das Ministerium 3 wies den damaligen Leiter, den Sozial- und Kulturphilosophen Prof. Dr. Ernst Michel (1889 –1964), der seit 1931 auch Honorar­ ten aber keinesfalls auf ein systematisches Vor- professor für Betriebslehre und Sozialpolitik lesungsprogramm verzichten. Einig waren sich an der Universität war, an, dem Personal zu alle Beteiligten, dass sie weltanschauliche ­Schu­- kündigen. Danach gab es Bestrebungen von lung und eine allzu enge Bindung an gewerk- NSDAP und Deutscher Arbeitsfront, anstelle schaftliche Interessen ablehnten, ein freiheit­ der Akademie eine »Hochschule der Arbeit« in

150 2.2014 | Forschung Frankfurt Erinnerungskulturen der Universität­ zu installieren, die jedoch spä- ter nicht weiterverfolgt­ wurden. Viele Lehrende, die sich an der Akademie engagiert hatten, mussten emigrieren. Dazu gehörten Hugo Sinzheimer, Franz Oppenheimer sowie auch der frühere Leiter Eugen Rosenstock, der vom Ministerium 1933 noch an die Rechts- 4 Hugo Sinzheimer wissenschaftliche Fakultät der Frankfurter Uni- (1875 –1945): Der Arbeitsrecht- versität versetzt worden war. Weiterhin Fritz ler gehörte zu den Ideen­ gebern für die Akademie der Naphtali (1888 –1961), ursprünglich Redakteur Arbeit. Er war nicht nur der Frankfurter Zeitung – er sollte später Minister Rechtsgelehrter auf dem in der israelischen Regierung werden, Ernst innovativen Feld des Arbeits- Fränkel (1898 –1975) und Franz Neumann rechts, er war auch immer politisch und gesellschaftlich (1900 –1954), sie wurden zu Vätern der bundes- engagiert: Als jüdischer deutschen Politikwissenschaft.­ Mehrere Absol- Sozialist und Abgeordneter venten, die in den 1920er Jahren die Akademie im Verfassungsausschuss der 4 besucht hatten, sollten in der jungen Bundes­ Weimarer Nationalversamm- lung machte er sich für die republik leitende Stellungen einnehmen: Bei- Eine wichtige Vereinbarung betraf die Verankerung des Genossen- spielhaft seien genannt Fritz Steinhoff (1897 – gemeinsame Forschung. So gelang es, das große schaftsgedankens stark. 1969), von 1956 bis 1958 Minister­präsident von Forschungsprojekt »Alterssicherung in der EU« An der Frankfurter Universität Nordrhein-Westfalen, und Willi Richter (1894 – zu etablieren, das von den beiden Wirtschafts- wurde für Sinzheimer 1920 die erste arbeitsrechtliche 1972), von 1956 bis 1972 Bundesvorsitzender wissenschaftlern Richard Hauser und Diether Honorar­professur geschaffen, des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Döring geleitet wurde und an dem elf Personen Vergleichbares gab es nur in mitwirkten. Bis 2003 entstanden acht For- Berlin. (Hier eine Zeichnung Neustart nach dem Krieg: Vorbehalte der schungsbände und eine ganze Reihe von Pro- von Lino Salini)

Gewerkschaften gegen Einfluss des Staates motionen. Im Ergebnis konnten zentrale 5 Noch hat die Akademie Mit Unterstützung von Universität, amerikani- ­Voraussetzungen für die Nachhaltigkeit europä- der Arbeit, die seit 2009 scher Militärregierung, Land Hessen, Stadt und ischer Alterssicherungssysteme herausgearbei- Europäische Akademie der Gewerkschaften schaffte es die Akademie schon tet werden. Die Forschungsergebnisse flossen Arbeit heißt, ihr Domizil auf dem Campus Bockenheim, 1947, den Lehrbetrieb wieder aufzunehmen. Der sowohl in die Lehre des Fachbereichs Wirt- 2017 ist der Umzug auf den Neustart musste ohne die Emigranten gelingen, schaftswissenschaften als auch in den Unter- Campus Westend geplant. das veränderte das Lehrangebot der Akademie richt der Akademie ein. Das Vorhaben wurde im erheblich. Sinzheimer war 1945 verstorben, Kern von der VolkswagenStiftung getragen. In Oppenheimer schon 1943. Rosenstock lehrte den 1980er und 1990er Jahren hat sich die und schrieb weiterhin in den USA. Zunächst setzte die Akademie auf Praktiker von Gerichten, Sozialversicherung und Gewerkschaften. Erst nach und nach konnten auch wieder Persönlich- keiten aus der Universität für die Lehre gewon- nen werden. Stellvertretend seien genannt: der Jurist Walter Hallstein (1901 –1982), der später der erste Vorsitzende der EWG-Kommission wer- den sollte, sowie der Mitbegründer des Ordolibe- ralismus Franz Böhm (1895 –1977) und der Sozialphilosoph­ Max Horkheimer (1895 –1973). Institutionell und räumlich veränderten sich die Dinge: Nicht zuletzt wegen der Vorbehalte der Gewerkschaften gegen allzu großen Staats- einfluss erhielt die Akademie 1951 die Form einer Stiftung des privaten Rechts, mit dem Land und dem Deutschen Gewerkschaftsbund als gleichberechtigten Trägern. Das hat sich bis heute bewährt. 1979 wurden mit einer Koope- rationsvereinbarung auch die Beziehungen ­zwischen Akademie und Universität neu fun- diert, was nicht zuletzt auch dem damaligen Univer­sitätspräsidenten Hans Jürgen Krupp zu ver­danken ist: Eine engere Zusammenarbeit in der Lehre sollte auch den gegenseitigen Aus- tausch der Lehrenden befördern. 5

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Zusammenarbeit auch in der Lehre wieder deutlich intensiviert. So hielten nicht nur ­zahlreiche Professoren der Goethe-Universität insbesondere aus den Fachbereichen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften Vorlesungen und »House of Labour« Seminare an der Akademie, hauptamtliche Dozenten der Akademie beteiligten sich auch an auf dem der universitären Lehre. Stellvertretend seien die Juristen Spiros Simitis und Manfred Weiss sowie die Wirtschaftswissenschaftler Bertram Campus Westend Schefold und Richard Hauser erwähnt. Mit dem Generationswechsel und dem veränderten Pro- fil insbesondere des Fachbereichs Wirtschafts- Wie der Direktor der wissenschaften, in dem sozialökonomische The- Europäischen Akademie der Arbeit, men kaum noch eine Rolle spielen, wurden die Prof. Martin Allespach, Kooperationen in Forschung und Lehre zuneh- die Kooperation mit mend schwächer. Bis zum heutigen Tage absolviert jedes Jahr der Goethe-Universität eine Gruppe von rund 40 Beschäftigten aus wieder beleben will allen Branchen der Wirtschaft ein interdiszipli- näres »studium generale« als Weiterbildung. Sie werden durch eine Prüfung ausgewählt und kommen aus ganz Deutschland sowie einigen europäischen Nachbarländern. Auf sie wartet ein anspruchsvolles Vollzeitprogramm, für das sie für elf Monate in ein Internat auf dem Uni- Jaspers: Die Akademie war über Jahr- versitätsgelände in Bockenheim ziehen. Man- zehnte hinweg in unmittelbarer Nähe zur che bewerben sich für den Studiengang, um in Goethe-Universität auf dem Campus das bisherige Unternehmen zurückzukehren, Bockenheim. Eine enge Kooperation oder auch, um sich auf einen Tätigkeitswechsel zwischen beiden Institutionen hatten die vorzubereiten. Gründungs­väter der Universität ausdrücklich Die Akademie, die seit 2009 den Zusatz gewollt – wie steht es heute mit dieser »Europäische Akademie der Arbeit in der Zusammenarbeit? Wird sie überhaupt ­Universität Frankfurt noch gepflegt? am Main« trägt, ist weiter besonders auf Allespach: Die Geschichte der Akademie und die Verbindung zu die Geschichte der Universität sind eng mit- universitären Arbeits- einander verwoben. Das bildet sich noch feldern wie Arbeits- heute in den Strukturen ab. So ist der Präsi- recht, Arbeitsmarkt, dent, zukünftig die Präsidentin der Goethe- Sozialpolitik ange- Universität im Kuratorium der Europäischen wiesen. Der neue Akademie der Arbeit (EAdA) vertreten. Es ­Leiter der Akademie, gibt einen Kooperationsvertrag, der Wechsel­ Prof. Dr. Martin Alle- seitigkeit vorsieht, beispielsweise in der spach, hat es unter- Lehre, aber auch in der Forschung. Das nommen, die Zusam- wurde in der Vergangenheit auch gelebt. Die Der Autor menarbeit wieder zu wissenschaftlich gut ausgewiesenen Dozen- Diether Döring, 75, hat die Akademie der Arbeit verstärken. Vielleicht tinnen und Dozenten an der EAdA erhielten über viele Jahre geleitet. Er ist Professor für trägt auch die räum­ regelmäßig Honorarprofessuren und betei- Sozialpolitik mit besonderem Interesse für inter­- liche Nähe wieder ligten sich am Lehrbetrieb der Uni, und national vergleichende Forschung zu Fragen des zu einer stärkeren umgekehrt unterrichteten Lehrende der Uni Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherung. Zusammenarbeit bei; an der EAdA. In den letzten Jahren ist das Gegenwärtig leitet er das Königsteiner Forum; denn 2017 wird leider ziemlich eingeschlafen. Die Gründe es veranstaltet regelmäßig Vortragsreihen zu die Akademie einen dafür sind vielfältig. Selbst­verständlich gibt ausgewählten Themenkomplexen, die Informa­ Neubau auf dem es nach wie vor einige gemeinsame Veran- tionen zu Fragen der Zeit vermitteln und darüber Campus Westend staltungen zum Beispiel im Bereich des hinaus den Mitgliedern der Gesellschaft beziehen und ihr 1957 Arbeitsrechts. Gemessen an der Möglichkei- Orientierungs- und Entscheidungshilfe geben. bezo­genes Gebäude ten und Erfahrungen kann man sich da aber [email protected] in Bockenheim ver- natürlich eine viel vitalere Kooperationsbe- lassen.  ziehung vorstellen.

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Jaspers: Seit April dieses Jahres sind Jaspers: Gibt es denn schon deutliche Vertrauen braucht und nicht mit einem Sie Direktor der Europäischen Akademie Signale, wieder verstärkt aufeinander Schnipp verordnet werden kann. Ich der Arbeit. Wie wollen Sie die Beziehung zuzugehen? Oder sitzen Ihre zukünftigen glaube, wir sind da auf einem guten Weg. zwischen der Goethe-Universität und Kooperationspartner nicht eher bei den der Akademie neu beleben? Gewerkschaften und in den Personal­ Jaspers: Bis zum Ende des 20. Jahr­ bereichen und der Personalentwicklung hunderts standen sozialpolitische und Allespach: Ich bin mit der festen Absicht der großen Unternehmen? sozialökonomische Themen auf der angetreten, der Kooperation mit der Agenda der Volkswirtschaftslehre an den Goethe-­Universität wieder neues Leben Allespach: Für mich gibt es da kein »Ent- deutschen Universitäten – nicht nur in einzuhauchen. Ich bin der Überzeugung, weder-Oder«. Theorie und Praxis stehen der Forschung, sondern auch in der dass das für beide Institutionen ein in einem wechselseitigen Zusammen- Lehre. Das hat sich drastisch verändert. Gewinn ist. Das betrifft Lehre und For- hang. Wieso sollen die Ergebnisse von Welche Auswirkungen hat dieses schung, aber auch im Bereich der wissen- Forschung nicht auch praxisrelevant veränderte Profil der Wirtschaftswissen- schaftlichen Weiterbildung kann ich werden? Und umgekehrt: Es ist die schaften auf die Ausbildung an der mir zahlreiche Kooperationsprojekte vor­ ­Praxis, die viele Anlässe für Forschung Akademie? stellen. Das geht über die klassischen bereithält. In meinen eigenen For- Kooperationsbereiche der Rechts- und schungsprojekten habe ich gute Erfah- Allespach: Die EAdA ist seit ihrer Grün- Wirtschaftswissenschaften hinaus. Ich rungen gemacht, die Betroffenen nicht dung kritisch-emanzipatorischen Prinzi- erinnere daran, dass in den 1930er Jah- zu Forschungsobjekten zu degradieren, pien verpflichtet, die an Aktualität ren auf Anregung der Akademie der sondern sie zu Mitforschern ihrer eige- nichts verloren haben. Bei uns wird Arbeit, vor dem Hintergrund ihrer spezi- nen Praxis zu machen. Neben Erkennt- arbeitnehmerorientierte Wissenschaft ellen Zielgruppe, an der Universität in nisgewinn ging es zugleich immer auch betrieben. Eine solche Perspektive halte Frankfurt eine Abteilung für Erwachse- um Praxisgestaltung. Selbstverständlich ich auch für die Wirtschaftswissenschaf- nenbildung eingerichtet wurde. Verab­ bringe ich mein Netzwerk in die ten für unverzichtbar. Die einseitige redet wurde eine umfangreiche Zusam- Gewerkschaften, Betriebe und Manag- Beschreibung wirtschaftlichen Handelns menarbeit, zu der es dann aufgrund der ments mit ein. Dort weiß und schätzt als vermeintliche »ökonomische Ratio- geschichtlichen Ereignisse nicht kam. In man den kritisch-reflexiven Blick, der nalität« – wie es nach wie vor herr- dem Sinne suche ich zurzeit das Gespräch mit Forschung verbunden ist. schende Meinung in der Ökonomie ist – mit den Dekanen der Rechts-, Wirt- Zu dem zweiten Aspekt Ihrer Frage: funktioniert nicht nachhaltig. Wirtschaft schafts- und Erziehungswissenschaften. Als deutlich würde ich die Signale hin- ist langfristig nur dann erfolgreich, Da Arbeitsbeziehungen und -politik zu sichtlich einer Revitalisierung der Koope- wenn Regeln eingehalten werden. Diese den Kernfeldern der Forschung und rationsbeziehungen mit der Universität sind kein »Randphänomen«, sondern Lehre an der EAdA gehören, habe ich noch nicht bezeichnen. Obwohl ich ein konstitutiv für den wirtschaftlichen auch die Arbeits- und Industriesoziologie tendenziell ungeduldiger Mensch bin, Erfolg. Der Rheinische Kapitalismus an der Goethe-Universität angesprochen. weiß ich aber, dass Kooperation Zeit und basiert eben nicht nur auf den Mecha-

Forschung Frankfurt | 2.2014 153 Erinnerungskulturen nismen von Markt und Wettbewerb, vor wird es das in Deutschland inzwi- nicht mehr. Die Politik weiß das; und sondern auch auf Kooperation, betrieb- schen einmalige Studium für Berufser- deshalb gehe ich davon aus, dass wir mit liche Mitbestimmung und Unterneh- fahrene geben. Hier konnten wir Quali- unserer Idee auf offene Ohren stoßen mensmitbestimmung. Wir sind im tätsverbesserungen und eine bessere werden. Moment dabei, im Rahmen eines For- personelle Ausstattung von Forschung schungsprojektes zu untersuchen, ob und Lehre realisieren. Es wird ein Jaspers: Sie haben den Anspruch und wie das Thema Mitbestimmung in modulares System wissenschaftlicher formuliert, bereits in die ersten Planun- den Wirtschaftswissenschaften curricula Weiterbildung aufgebaut. Zielgruppe sind gen für das neue Akademie-Gebäude auf verankert ist, und wir wollen diesbezüg- hier neben Gewerkschaften, Betriebs- dem Campus Westend eingebunden zu lich auch konkrete Gestaltungsvor- und Personalräten auch Management- werden, weil Sie Ihre Ideen für eine schläge entwickeln – natürlich mit den vertreter, schließlich ist Mitbestimmung lernfördernde Architektur stärker in den Wirtschaftswissenschaften gemeinsam. und Arbeitsbeziehungen auch ein Planungsprozess einbringen möchten. Thema für sie. Die Gespräche mit der Wie schaut das aus? Jaspers: Neben der Lehre verband Wirtschaft laufen und sind vielverspre- die Dozenten der Akademie und der chend. Wir denken an die Entwicklung Allespach: Als Leiter des Bildungsbereichs Universität auch gemeinsame Forschung, von MBA-Studiengängen und Angebote bei der IG Metall – das war ich auch ein- zum Beispiel zur Alterssicherung in der im Bereich der Postgraduierten-Quali­ mal – war ich in den Bau einer neuen Europäischen Union. Wäre so etwas fikation,etwa die Ausbildung von Fach- Bildungsstätte eingebunden. Wir hatten auch wieder vorstellbar? anwälten für Arbeitsrecht. In diesem uns viel Zeit genommen, um zu klären, Portfolio gäbe es eine Reihe interessan- was eine moderne Bildungsstätte aus- Allespach: Ja, absolut. Das ist für mich ter Kooperationsprojekte, zu der ich die zeichnet, wie sich lernförderliche Räume nicht nur vorstellbar, sondern wün- Universität ausdrücklich einlade. gestalten lassen und wie Funktionalität schenswert. Wir haben für uns eine und Ästhtekik zusammengebracht wer- ­Forschungsstrategie entwickelt, die die Jaspers: Stichwort »House of Labour« den können. Das war ein Prozess, in den Themen Mitbestimmung, Industriepoli- – sehen Sie darin ein Gegengewicht oder wir als Auftraggeber, die Lehrenden und tik, Unternehmenstheorie, Wirtschafts­ ein Pendant zum »House of Finance«? die Architekten eingebunden waren. ethik, internationale Arbeitsbeziehun- Und ich finde, so ist in Sprockhövel ein gen, berufliche Aus- und Weiterbildung, Allespach: Na ja, die Wortwahl ist nicht wunderschönes Gebäude entstanden, in Bewusstseinsforschung und Subjekt­ zufällig, das vermuten Sie schon richtig. dem man sich gerne aufhält, in dem man wissenschaft beinhaltet, um nur einige Die Botschaft ist klar: Wirtschaft ist nicht gute Lernbedingungen vorfindet und in Themen zu nennen. Das sind zum Teil nur Finanzwirtschaft, und vor allem dem Kommunikation möglich ist. So Kooperationsprojekte mit Universitä- funktioniert Wirtschaft nicht ohne die stelle ich mir das auch für den Neubau ten und wissenschaftlichen Einrichtun- Beschäftigten. Das muss sich auch in For- auf dem Campus Westend vor. gen im In- und Ausland, etwa mit der schung und Lehre deutlich abbilden. Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, dem Lehrstuhl für Wirt- Jaspers: »House of Finance«, »House of Zur Person schaftsethik an der Universität St. Gallen Logistics«, »House of Pharma« – diese und der Cornell University in den USA. Konzepte werden von der hessischen Prof. Dr. Martin Allespach, 52, leitet seit Auch hier ist noch Luft nach oben für Landesregierung sehr gefördert. Meinen April dieses Jahres als Direktor die Europäische Akademie für Arbeit in der eine Revitalisierung der Kooperation Sie, mit Ihren Vorstellungen in Wiesba- Goethe-Universität. Nach dem Studium der mit der Goethe-Universität. den auch Gehör finden zu können? Erziehungswissenschaften promovierte er 1999 an der Universität Tübingen im Jaspers: Auch die Akademie wird den Allespach: Weniger mit dem Label als mit Arbeitsgebiet Pädagogische Psychologie Campus Bockenheim bald verlassen und dem Konzept. Als Leiter der Grundsatz- über »Kooperatives Lernen im Betrieb«. an den Rand des Campus Westend abteilung beim Vorstand der IG Metall 2005 schloss er seine Habilitation zum ziehen. Wann wird das der Fall sein? war eine der größten Herausforderun- Thema »Betriebliche Weiterbildung als Welche Impulse versprechen Sie sich gen die Bewältigung der Krise 2008 / Beteiligungsprozess« an der Universität von dem Ortswechsel? 2009. Und ich habe noch heute Anfra- Hamburg ab und ist dort seit 2005 Privatdo- gen aus der ganzen Welt, wie uns dieses zent, seit 2012 Professor im Bereich Allespach: Wir planen den Umzug für sogenannte »German Beschäftigungs- »Berufliche Bildung und Lebenslanges Lernen«. Neben seiner akademischen 2017. Es soll auf dem Campus Westend wunder« gelungen ist. Aber das war Qualifikationsphase hat Allespach verschie- ein modernes Seminargebäude entste- kein Wunder, sondern das Ergebnis von dene Aufgaben im gewerkschaftlichen hen. Die räumliche Nähe zur Universität handlungsfähigen Gewerkschaften und Kontext übernommen. Von 2007 bis März ist uns nach wie vor wichtig. Sie erleich- Betriebsräten, von Mitbestimmung, von 2014 war er Leiter des Bereichs Grundsatz- tert die Kooperation. Mit dem Gebäude Tarifverträgen, von gesetzlichen Rege- fragen, Gesellschaftspolitik und strategische verbindet sich aber auch eine konzeptio- lungen wie der Kurzarbeit und dem Planung beim IG-Metall-Vorstand in Frankfurt. nelle Neuausrichtung der EAdA, die wir Kündigungsschutz, um hier nur einige Das Interview führte Ulrike Jaspers, seit unter dem Stichwort »House of Labour« zu nennen. Ohne das Engagement und 1988 Redakteurin von Forschung Frankfurt im Moment entwickeln und zum Teil den Beitrag der Beschäftigten gäbe es und Referentin für Wissenschaftskommuni- auch schon in die Wege leiten. Nach wie heute viele traditionsreiche Firmen kation an der Goethe-Universität.

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Bücher

Keineswegs eine pünktlich zum Jubiläum vorgelegte Ruhmesgeschichte

Der Historiker Notker Hammerstein nimmt die letzten vier Jahrzehnte der Goethe-Universität in den Blick von Christoph Cornelißen

Am 2. Februar 2014 verabschiedete sich die umfängliche Darstellung entstanden, die im Goethe-Universität mit einem großen Knall von Wesentlichen unter Rückgriff auf die Rechen- ihrem höchsten Gebäude. In nur wenigen schaftsberichte der Rektoren beziehungsweise Sekunden sank der AfE-Turm, der für rund vier Präsidenten sowie die immer umfänglicher aus- Jahrzehnte den Gesellschafts- und Erziehungs- fallenden Forschungsberichte, darüber hinaus wissenschaften, der Psychologie und weiteren auf der Basis des kontinuierlich erschienenen Abteilungen eine Heimstatt geboten hatte, in Uni-Reports die grundlegenden Entwicklungen Schutt und Asche. Im Jubiläumsjahr wurde damit an der Goethe-Universität vom Ende der 1970er ein hoch symbolischer Akt vollzogen, denn die Jahre bis in die unmittelbare Gegenwart heraus- Goethe-Universität verabschiedete sich nicht nur arbeitet und kritisch analysiert. von einer »Bausünde« der 1970er Jahre, sondern Naturgemäß geben die bislang nur sie entsorgte ebenfalls einen Teil ihrer jüngsten beschränkt zugänglichen Quellen über den Geschichte, die über weite Strecken von einem Berichtszeitraum der vorliegenden Darstellung von vielen Beobachtern als »menschenunfreund- eine administrative Schlagseite, welche die lich« empfundenen Turm überragt worden ist. Sichtweisen der Universitätsspitze sowie gene- rell den »Blick von oben« bevorzugt, wohinge- Kritische Analysen aus dem Blick »von oben« gen beispielsweise die soziale Lage der Studie- Notker Hammerstein Dass mit der Großsprengung nicht zugleich das renden oder auch Sichtweisen von außen auf Die Johann Wolfgang Wissen über die jüngste Phase der Frankfurter die Universität nur am Rande auftauchen. Aber Goethe-Universität, Universitätsgeschichte unterging, verdanken wir all das, was Hammerstein auf den mehreren Band. 3: Ihre Geschichte den beeindruckenden Arbeiten des Frankfurter Hundert Seiten seines dritten Bandes zur Frank- in den Präsidialberichten Historikers Notker Hammerstein, der als der aus- furter Universitätsgeschichte ausbreitet, bietet 1972-2013 gewiesenste Kenner dieses Themas gelten darf. keineswegs eine pünktlich zum Jubiläum 2014 Schon mit seinen ersten beiden Bänden, welche vorgelegte Ruhmesgeschichte, sondern dem Göttingen 2014, die Frankfurter Universitätsgeschichte vom Autor gelingt es, grundlegende Problemzonen Wallstein Verlag, Gründungsjahr 1914 bis an das Ende der 1970er der jüngeren Universitätsgeschichte herauszu- ISNB 978-3-8353-1592-1, Jahre behandeln, stellte er sein stupendes Wis- arbeiten und mit einem dezidiert kritischen 275 Seiten, 29,90 Euro. sen um die hiesige Hochschule unter Beweis. Im Urteil zu versehen. Auftrag der Universitätsspitze hat er sich nun der mühevollen Aufgabe unterworfen, die Entwick- »Euphorische Bildungsrhetorik« lungen auch der letzten vier Jahrzehnte an der bei knappen Kassen Goethe-Universität gründlich zu rekonstruieren. Nur wenige Beispiele müssen hier genügen. So In kaum mehr als einem Jahr ist daraus eine geht Hammerstein zum einen auf die Beziehun-

Forschung Frankfurt | 2.2014 155 Bücher

gen zwischen Universität und Landesregierung überkommenen Idee der Universität als Hort ein, die sich nicht zuletzt wegen der fortlaufen- intellektueller Bildung förmlich die Luft ent­ den strukturellen Unterfinanzierung der Frank- zogen habe. Sehr kritisch äußert sich der furter Hochschule wiederholt als schwer belas- Autor zuweilen auch über das zeitweilig man- tet erwiesen und zuweilen sogar zu harten gelnde wissenschaftliche Niveau verschiedener Auseinandersetzungen führten. Hierbei taten Fachbereiche. sich beide Seiten unter anderem auch deswegen schwer, konstatiert Hammerstein, weil sie nicht Der Campus Westend: »Ein geistig- von einer »euphorischen Bildungsrhetorik« ästhetisches Eldorado« ablassen wollten, für deren praktische Umset- Hammersteins detailreicher Bericht ist jedoch zung die öffentlichen Kassen jedoch tatsächlich alles andere als eine kulturpessimistische kaum einen Spielraum boten. Abrechnung mit der jüngsten Universitätsge- Zum anderen behandelt er eingehend die schichte, denn so düster viele Passagen zu den hochschulpolitischen Entwicklungen, wobei er 1970er und teilweise auch noch den 1980er als Ausgangspunkt das Novellierte Hochschulge- Jahren lauten, so hell zeichnet er manche der setz aus dem Jahr 1970 wählt, das allen Status- nachfolgenden Entwicklungen. Obwohl die gruppen in den Gremien der Universität ein Mit- inner- und außeruniversitären Wissenschafts- spracherecht einräumte. Darüber seien die bürokratien weiter wucherten und eben kein Verhandlungen immer stärker politisch-ideolo- Ende der Vorherrschaft vom Planungsdenken gischen Zielsetzungen unterworfen worden, und einsetzte, kam im Laufe der 1980er Jahre ein auch sonst zeichnet der Autor ein eher kritisches fundamentaler Wandel in Gang, der das intel- Bild der Hochschulpolitik. Vor allem die Stör­ lektuelle Klima an der Universität erheblich ver- aktionen, Schmierereien und gewalttätigen besserte. Ein wesentlicher Ausdruck dieser Aktionen studentischer Gruppen sind ihm ein Wende war die Tatsache, dass sich der Ruf der Dorn im Auge, waren doch nicht zuletzt diese Goethe-Universität national und international dafür verantwortlich, dass der Universität Frank- verbesserte. Weiterhin signalisierten die wach- furt bis in die 1980er Jahre der Ruf vorauseilte, sende Zahl der Stiftungsprofessuren, der stei- eine der politisch unruhigsten Hochschulen in gende Zufluss von Schenkungen und öffentli- der Bundesrepublik Deutschland zu sein. chen Zuwendungen, aber auch die Verbesserung im Verhältnis von Stadt und Universität sowie Die »Reformitis« und die Folgen für der Weg zur »Stiftungsuniversität«, dass sich die die intellektuelle Bildung Lage um einiges von der eher trüben Zwischen- Als insgesamt problematisch stuft Hammerstein phase entfernt hatte. Der wohl sichtbarste Aus- ebenfalls die Rolle vieler selbsterklärter Bil- druck der neuen Entwicklungen war der Umzug dungsexperten ein, die der Geistes- und Sozialwissenschaften von mit ihren dauernden Bockenheim zum Westend und damit auf einen Reformansprüchen die Campus, der geradezu ein »geistig-ästhetisches Universität zu einer Eldorado« darstelle. »behüteten, leitenden, Was Hammerstein zur Forschungsentwick- nahezu schulischen Ins- lung, über Finanzierungsfragen, Gremienarbeit titution« umgebaut hät- sowie das Verhältnis von Stadt beziehungsweise ten. Im Grunde habe Land und Universität darstellt, ist nicht nur in die »Reformitis« nichts der Breite beeindruckend, sondern wirft weiter- anderes zur Folge gehabt, führende Fragen nach dem konkreten Gewicht als einerseits die Messbar- der handelnden Personen und Institutionen keit von Lehre und For- auf. Gleichzeitig zeigt er die Notwendigkeit auf, schung zu erhöhen und die Frankfurter Entwicklungen in den breiteren Der Rezensent andererseits das Drittmit- Rahmen der (west)deutschen Hochschulland- telaufkommen der Fach- schaft einzuordnen. Hierfür bietet sein Buch Prof. Dr. Christoph Cornelißen, 56, hat seit bereiche zu steigern. eine erste verlässliche Grundlage, für die man April 2012 die Professur für Neueste Geschichte Darüber sei der Weg auch deswegen dankbar sein muss, weil allge- an der Goethe-Universität inne. Zu den For- in einen »Teufelskreis mein an den Universitäten bis heute das schungsschwerpunkten seines Lehrstuhls von Drittmitteleinwer- Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit nur gehören die Geschichte des Sozialstaats, bung, Antragstellung, so- gering entwickelt ist.  die Geschichte Europas sowie die Wissen- genannten modernen schafts- und Universitätsgeschichte. Organisationsformen­ und Cornelißen beschäftigt sich zudem intensiv mit Themen« sowie Nütz- der Geschichte der Erinnerungskulturen. lichkeits- und Kosten- [email protected] überlegungen beschrit- ten worden, welche der

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Vom Optimismus einer »Befreiung« war wenig zu spüren

Barbara Wolbring zeichnet die zentralen Konfliktlinien beim Wiederaufbau der Universitäten nach

von Michael Stolleis

ehr als in anderen Ländern, etwa in grammatische Vorbereitung, aber eine Unzahl England oder Frankreich, waren und von Kleinschriften, Zeitungs- und Zeitschriften- Msind in Deutschland und Österreich die artikeln und Aufrufen. Überall bildeten sich Universitäten traditionell die zentralen Instituti- politisch-intellektuelle »Kreise«, die ihre Vor- onen der Elitenausbildung. Nach dem »Univer- schläge zu neuer Orientierung in Bildung und sitätssterben« um 1800 wurden sie energisch Ausbildung machten. Daneben begannen die erneuert und erlangten bald Weltruhm, der Netzwerke zur Wiederbesetzung von Lehr­ auch unter den schwierigen Bedingungen der stühlen zu arbeiten, oft in beschämender Passi- Weimarer Republik noch nachwirkte. Der Nati- vität gegenüber denjenigen, die 1933 vertrieben onalsozialismus ruinierte dann die Universitä- worden waren. Für Frankfurt kann dies im ten durch rassistische Vertreibungen, Lenkung zweiten Band von Notker Hammersteins Uni- von Forschung und Lehre durch »Führerprin- versitätsgeschichte (2012) nachgelesen werden. zip« und »NS-Weltanschauung«, Beschränkung Barbara Wolbring geht diese Fragen nun in des Frauenstudiums sowie durch den Krieg. Es aller Breite an, löst sich von der Geschichte lag also 1945 nahe, wieder bei den Schulen und ­einzelner Universitäten und schreibt damit Universitäten anzusetzen, um freiheitliches, eine übergreifende Vor- und Frühgeschichte der demokratisches und rechtsstaatliches Gedan- Bundesrepublik im Lichtkegel der ersten Uni- kengut in der Gesellschaft zu verankern. Ein versitätsreformen. vergleichbares Umerziehungs- und Neuorgani- Neben den gedruckten Quellen zieht sie die sationsprogramm lief in der Sowjetischen Besat- Akten der Besatzungsmächte und der entste- zungszone ab, wenn auch im Zeichen stalinisti- henden Länder heran, außerdem natürlich die scher Indoktrination, was dort wiederum zu Selbstzeugnisse der Akteure. Die Universitäten einem Exodus von Lehrkräften und Studieren- selbst verfügten nur über eine Art Notverwal- den in den Westen führte. tung, vieles wurde nicht protokolliert. Die Die Frankfurter Habilitationsschrift von Bar- Ergebnisse von Fakultätssitzungen passten oft bara Wolbring widmet sich den westlichen auf ein Blatt: »Der Dekan teilte hierzu das Barbara Wolbring Besatzungszonen. In vier großen Kapiteln Nötige mit.« Barbara Wolbring gelingt es jedoch rekonstruiert sie die leidenschaftlichen Debat- mit kritischem Methodenbewusstsein und Sen- Trümmerfeld der ten um die »Umerziehung« der Front- und sibilität, die Spreu vom Weizen zu sondern, die bürgerlichen Welt. Flakhelfer-Generation, um die soziale Öffnung zentralen Konfliktlinien nachzuzeichnen und Universität in den der Universitäten durch Einbeziehung bildungs- dabei den Originalton hörbar zu machen, ohne gesellschaftlichen ferner Schichten, um eine Verhinderung der ihm aber aufs Wort zu glauben. Entstanden ist Reformdiskursen Rekonstituierung traditioneller Studentenver- ein Panorama verstörten bürgerlichen Denkens, der westlichen bindungen – insgesamt also das Ringen um der Irritation über beschmutzte Ideale, der Besatzungszonen einen neuen Begriff von Bildung und Erziehung Suche nach neuen geistigen Haltepunkten, (1945 –1949) zu Demokratie und politischer Verantwortung. gelegentlich auch der Scham über geistige Vor- Schriftenreihe der Im letzten Kapitel schildert sie einen Frankfur- bereitungshandlungen und Mittäterschaft am Historischen Kommission ter Grundsatzstreit, ob politische Einflussnahme Nationalsozialismus, Letzteres aber doch sehr bei der Bayerischen durch die Landesregierung oder Autonomie der selten. Dass vonseiten der Hochschulen der Akademie der Fakultäten der bessere Weg sei. In dem an sich Umerziehungsdruck als erneute negative Politi- Wissenschaften, Bd. 87, belanglos scheinenden »Fall Brill«, bei dem es sierung einer sich unpolitisch verstehenden Göttingen 2014, um die Ernennung eines sozialdemokratischen Wissenschaft verstanden wurde, erscheint be- Verlag Vandenhoeck & Politikers zum Honorarprofessor an der Juristi- greiflich, war aber auch Teil der Blindheit Ruprecht, schen Fakultät ging, kulminierte dies. gegenüber der eigenen Vergangenheit. ISBN 978-3-5253-6014-9 »Rekonstruktion« einer solch zentralen Typisch für jene Zeit ist auch die Unsicher- 488 Seiten, 69,99 Euro. Debatte ist leicht gesagt, erfordert aber die Ver- heit über die Zukunft; weiteste Kreise glaubten arbeitung enormer Mengen von Quellen sehr nicht an eine materielle Besserung oder eine unterschiedlicher Qualität. Es gab wenig pro- politische Zukunft, von der Furcht vor einer

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Fortsetzung des Kriegs in der neuen Ost-West- Klassengesellschaft wird entweder als überwun- Konstellation ganz abgesehen. Von Optimismus den oder als zu überwinden geschildert – jeden- einer »Befreiung« oder von der späteren zerre- falls in der Regel negativ. … Gleichwohl ist eine deten »Vergangenheitsbewältigung« war wenig Persistenz bürgerlicher Leitbilder, Verhaltens- zu spüren. Für die meisten Menschen, vor allem muster und Habitusformierungen zu beobach- für die Flüchtlinge, stand die pure Bewältigung ten.« (S. 205) Das sollte die Signatur der 1950er des Alltags im Vordergrund. Und doch schreiben Jahre bleiben.  und reden maßgebliche Intellektuelle über »Die Bildungs- und Erziehungsaufgabe der heutigen Universität«, »Geistige Freiheit«, »Gesinnung, Gewissen und Gesittung«, »Erneuerung der Universität«, »Die Idee der Universität« und dokumentieren den geistigen Hunger einer dem Abgrund entkommenen Generation. So stand, wie Barbara Wolbring eindringlich zeigt, eine weitverbreitete »Desillusionierung« einem ebenso verbreiteten Bedürfnis nach ethischer Orientierung gegenüber. Gleichzeitig belegt sie die Überlagerungen von alter und neuer, noch ungewisser Ordnung. Vor allem die Studierenden, zum größten Der Rezensent Teil noch Kriegsteilnehmer, bald aber die tra- gende Schicht des »Wirtschaftswunders«, hat- Prof. Dr. Michael Stolleis, 73, war Professor für öffentliches Recht und Neuere Rechtsge- ten die inneren und äußeren Lasten zu tragen. schichte an der Goethe-Universität und Direktor »Hunger, Kälte, der Mangel an Kleidung und des Max-Planck-Instituts für Europäische Wohnraum ebneten den Unterschied zu ande- Rechtsgeschichte. ren Bevölkerungsteilen ein und schienen kei- [email protected] nen Raum für soziale Distinktion zu lassen. Bür- gertum als Ausdruck der Klassendistinktion und

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Was geht im Kopf eines anderen vor?

Der Neuropathologe Wolfgang Schlote ist gegen die Trennung von Gehirn und Geist von Anne Hardy

er sich der Hirnforschung verschreibt, lose Beispiele. Letztlich bietet sie auch die schließt einen Pakt mit dem Teufel ab Grundlage für die medikamentöse Behandlung W […]. Eine gewisse Hybris ist einem psychiatrischer Erkrankungen. solchen Menschen nicht abzusprechen«, meint Wie aber kommen der Geist und der freie Wolfgang Schlote im Vorwort zu seinem Buch Wille, an den Schlote durchaus glaubt, in das »Singing in the Brain«. Schon während seiner Gehirn hinein? Schlote referiert dazu unter ande- Zeit als Hilfsassistent im Präpariersaal der Ana- rem die neurophilosophisch geprägte Emergenz- tomie in Leipzig hielt er in Formalin konser- Theorie, verwirft sie aber letztlich als unbefrie­ vierte Gehirne in den Händen, um sie jüngeren digend. Indem sie behauptet, dass neuronale Studierenden zu erklären. »Ich kannte mich im Phänomene mentale hervorbringen, führe sie Gehirn so gut aus, dass ich in Gedanken darin nämlich eine zeitliche Abfolge ein. »Banal ausge- spazieren gehen konnte«, erinnert er sich. drückt, hinkt der Geist, das seelische Erleben, den Gleichzeitig beschäftigte ihn, welche Gedanken Hirnprozessen immer hinterher«, beanstandet und Erinnerungen in dem nunmehr toten Schlote. Seiner eigenen Vorstellung am nächsten materiellen Substrat gespeichert waren. Die kommt die Identitätstheorie des Australiers J. J. C. Frage nach dem Sitz des Geistes hat ihn seither Smart, die viele Geisteswissenschaftler ablehnen, nicht mehr losgelassen. weil sie die Trennung zwischen Gehirn und Geist Schlote, der von 1984 bis 2000 Direktor des aufhebt. Smart betrachtet physiologische und Neurologischen Instituts (Edinger-Instituts) an ­psychologische beziehungsweise neurobiologi- Wolfgang Schlote sche und kognitive Phänomene als identisch. Es der Goethe-Universität war, hat in seiner wis- Singing in the Brain. komme letztlich auf die Messmethode an, welcher senschaftlichen Laufbahn erlebt, wie neue bild- Hirnforschung in Aspekt in Erscheinung trete. Für Schlote bildet gebende Verfahren von der Elektronenmikros- Bewegung kopie bis zum fMRT das Wissen um die Struktur diese These die Grundlage seiner Überzeugung, und Funktion des Gehirns in einem bisher nie »dass keine externe oder gar außerirdische Kraft Rangsdorf 2013, dagewesenen Maß erweitert haben. Das hat unsere kognitiven Erkenntnisse steuert«. Basilisken-Presse, nicht nur Neurobiologen und -wissenschaftler, Schlote zieht in seinem Buch das Resümee ISBN 978-3-941365-39-1, sondern auch Psychologen und Philosophen seit eines Forscherlebens, in dem er sich engagiert 96 Seiten, 19,00 Euro. den 1970er Jahren zu teilweise hitzigen Diskus- mit verschiedensten Positionen und philosophi- sionen angeregt. Der 1932 geborene Neuropa- schen Interpretationen der modernen Hirnfor- thologe hat die verschiedenen Positionen auf- schung auseinandergesetzt hat. Es ist ihm anzu- merksam verfolgt. Ziel seines Buches ist es, merken, dass die Rätsel des Gehirns für ihn bis teilweise nur angerissene Überlegungen weiter- heute nichts von ihrer Faszination verloren zuentwickeln und auf Fehler und Lücken auf- haben. Noch immer beschäftigt ihn, inwieweit merksam zu machen, »die in einem zunehmen- man sich den Vorgängen im Kopf eines ­anderen den Maß zur Verunsicherung in der modernen Menschen annähern kann. Und er weiß, dass es Neurowissenschaft beitragen«. dazu viele Wege gibt: Kennenlernen, Wissen, Für Schlote steht fest, dass der Sitz des Geis- Empathie und Liebe – und die Erfahrung jahre- tes nirgendwo anders sein kann als im Geflecht langen Zusammenlebens.  der Nervenzellen des Gehirns. Er hat sich des- wegen mehrfach, insbesondere von Philoso- phen, den Vorwurf anhören müssen, er sei ein »kruder Reduktionist« oder »primitiver Materi- alist«. Doch Schlote argumentiert überzeugend aus seiner ärztlichen Erfahrung. In seiner Arbeit hat er häufig genug erlebt, welche Auswirkun- Die Rezensentin gen pathologische Veränderungen des Gehirns Dr. Anne Hardy, Jahrgang 1965, ist Redakteurin auf die Psyche und die kognitiven Fähigkeiten von Forschung Frankfurt. (Siehe auch Seite 64.) von Patienten haben. Für die enge Verzahnung [email protected] körperlicher und seelischer Vorgänge kennt nicht nur die psychosomatische Medizin zahl-

Forschung Frankfurt | 2.2014 159 das nächste MAl »Vom Messen und Vermessen« Immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens werden in der globalisierten Welt in verführerisch schlichte Zahlen gefasst. Wahre Zahlenlawinen werden zu Messgrößen im Wettbewerb auf verschiedensten Ebenen und drohen, komplexe... Zusammenhänge unter sich zu verschütten. Was wird wie und warum in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gemessen – und wie hüten sich Wissenschaftler vor vermessenen Interpretationen? In den Naturwissenschaften ist Messen das tägliche Brot der Forschung. Daten bilden die Grundlage von Hypothesen oder bestä- tigen sie. Doch auch hier gilt es, Messungen richtig zu interpretieren, Fehlerquellen zu erkennen und immer häufiger auch, Relevantes aus der Datenflut herauszufischen. Erscheinungstermin: Juli 2015

FORSCHUNG FRANKFURT Das Wissenschaftsmagazin der Goethe-Universität

Impressum Herausgeber Der Präsident der Goethe-Universität Frankfurt am Main Fotos 4 und 8: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt (Foto 4 Andreas Pohlmann), Fotos 6 und 11: Universi- V.i.S.d.P. Dr. Olaf Kaltenborn, Leiter der Abteilung Marketing und Kommunikation tätsarchiv der Goethe-Universität, Frankfurt, Foto 2: Stadt Frankfurt am Main, Foto 3: Exzellenzcluster Nor- Redaktion Ulrike Jaspers, Diplom-Journalistin, Referentin für Wissenschaftskommunikation (Geistes- mative Orders, Foto 5: Christina Esche, Foto 7: Konrad Jakobs, Bildarchiv des Mathematischen Forschungs- und Sozialwissenschaften), Grüneburgplatz 1, Campus Westend, Gebäude PA, Raum 4P.31, 60323 instituts Oberwolfach, Foto 12: Dettmar, Foto 13: Rama, Creative-Commons, Seite 33: Autorinnenfoto: Frankfurt am Main, Telefon (069)798-13066, E-Mail: [email protected] privat; Seite 34/35: Dettmar. Dr. phil. Anne Hardy, Diplom-Physikerin, Referentin für Wissenschaftskommunikation (Naturwissen­ Fächerkulturen Seite 36: Goethe-Museum, Düsseldorf; Seite 38 Klassik Stiftung Weimar, Goethe Natio- schaften und Medizin), Grüneburgplatz 1, Campus Westend, Gebäude PA, Raum 4P.31, 60323 Frankfurt nalmuseum (Inventarnummer: GFz 007); Seite 39 oben: Klassik Stiftung Weimar, Goethe Nationalmuseum; am Main, Telefon (069)798-12498, E-Mail: [email protected] Seite 39 unten: Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Nationalmuseum (Inventarnummer: GGz/GSA); Seite 40 Grafisches Konzept und Layout Nina Ludwig, Kommunikationsdesignerin, M.A., Grüneburgplatz 1, oben links: Klassik Stiftung Weimar, Goethe Nationalmuseum (Inventarnummer: GFz 142); Seite 40 oben Campus Westend, Gebäude PA, Raum 4P.32, 60323 Frankfurt am Main, Telefon (069)798-13819, rechts: Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Nationalmuseum (Inventarnummer: GFz 071); Seite 40 unten: E-Mail: [email protected] Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Nationalmuseum (Identnummer: 335947); Seite 41 Autorinnenfoto: Ulrike Landfester, St. Gallen; Seite 42 bis 45: alle Illustrationen: Katinka Reinke, Hamburg; Seite 45 Autorenfoto: Satz Nina Ludwig und Medienwerkstatt, Dagmar Jung-Zulauf, Niddatal Tilman Allert; Seite 46 bis 57: wenn nicht anders angegeben Fotos Uwe Dettmar; Seite 48: Foto Bernd Litho Remo Weiss, Frankfurt am Main Kormer; Seite 50 links: Foto Dirk Seidensticker; Seite 50 rechts: Foto Holger Meissner; Seite 52 unten: Foto Peter Breunig; Seite 56: Breunig-Foto von Nicole Rupp; Seite 57: Krause-Foto von Gabi Krause; Seite 57: Wissenschaftliche Berater dieser Ausgabe Prof. Dr. Michael Stolleis (Max-Planck-­Institut für Kemmers-Foto von Philipp Reiss (VolkswagenStiftung); Seite 58: Barbara Klemm, Frankfurt; Seite 60 bis 62: Europäische Rechtsgeschichte), Privatdozentin Dr. Barbara Wolbring (Historisches Seminar), Dr. Michael Privatfotos René-Olaf Hartmann; Seite 63: Institut für Stadtgeschichte, Foto von Kurt Weiner; Seite 64 Maaser (Unibersitätsarchiv) oben: Privatfotos von Hans Sillescu und Wolfgang Spiess, Autorinnenfoto: Dettmar; Seite 65: Goethe- Vertrieb Helga Ott, Grüneburgplatz 1, Campus Westend, Gebäude PA, Raum 4P.36A, 60323 Frankfurt Universität; Seiten 66 und 67: Marco Betz, Frankfurt; Seite 68: Autorenfoto privat; Seite 70 Zeichnung: am Main, Telefon (069)798-12472, Telefax (069) 798-763-12531, E-Mail: [email protected] Nachrichten aus Chemie, Technik und Laboratorium 1984, 32, S. 349, Foto: Präsentation. H. Offermanns Forschung Frankfurt im Internet www.muk.uni-frankfurt.de / Publikationen / FFFM / index.html anlässlich des 80. Geburtstags von G. Quinkert; Seite 71: Fotos privat; Seite 72/73: Illustration Elmar Lixen- feld, Frankfurt; Seite 74 und 77: Fotos Christiane Birr, Frankfurt; Seite 75: Foto Marcus Ebener, Frankfurt; Anzeigenvermarktung Zeitungsanzeigengesellschaft RheinMainMedia mbH, Frankenallee 71 – 81, Seite 76 Autorenfoto: Thomas Duve privat; Seite 78: Dettmar; Seite 80/81: die meisten Fotos Universitäts- 60327 Frankfurt, www.rheinmainmedia.de, archiv der Goethe-Universität, Foto Nr. 5 (Oppenheimer) Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt; Seite 82 Ansprechpartner: Reinhold Dussmann, Telefon: (069) 7501 4183, E-Mail [email protected] und 83: Dettmar; Seite 84: F.A.Z.-Foto: Frank Röth; Seite 87 Autorin-Foto: Elmar Witt, Weinheim; Seite 88 Druck Societätsdruck, Westdeutsche Verlags- und Druckerei GmbH, bis 94: alle Fotos Uwe Dettmar; Seite 90: Illustration Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethe- Kurhessenstraße 4–6, 64546 Mörfelden-Walldorf Museum, www.goethehaus-frankfurt.de Frankfurt. Bezugsbedingungen »Forschung Frankfurt« kann gegen eine jährliche Gebühr von 12 Euro Ausstellungen Seite 96 bis 99: Tom Stern, Essen; Seite 100: Dettmar, Lars Contzen; Seite 101: Lars Contzen. abonniert werden. Das Einzelheft kostet 6 Euro. Einzelverkauf beim Vertrieb: Helga Ott, Grüneburgplatz 1, Forschung fördern Seite 102: Dettmar; Seite 104 und 105: Privatbesitz Dagmar Westberg; Seite 106 oben: Campus Westend, Gebäude PA, Raum 4P.36A, 60323 Frankfurt am Main, Telefon (069) 798-12472, Dettmar; Seite 106 Autorin-Foto: Astrid Ludwig; Seite 108: Dettmar; Seite 110 bis 113: Fotos von Dettmar; E-Mail: [email protected] Seite 113 unten: Privatbesitz Josef Buchmann; Seite 114: Dettmar,Seiten 115, 116 und 199: Grafiken Julia Für Mitglieder der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität Ettlich, Brandenburg; Seite 116: Dettmar, Seite 117 oben: Foto von ABC4Trust, Fotoserie unten von Marco Frankfurt am Main e. V. sind die Abonnementgebühren für »Forschung Frankfurt« im Mitgliedsbeitrag Betz; Seite 118: Foto von Dick van Aalst, Radboud University Nijmegen; Seite 119: Autorenfoto privat; Seite enthalten. 120 und 121: Illustrationen Katinka Reinke, Hamburg; Seite 121 Autorenfoto: Rainer Kiesow, Paris. Hinweis für Bezieher von »Forschung Frankfurt« (gem. Hess. Datenschutzgesetz): Für Vertrieb und Erinnerungskulturen Seiten 122 und 126: Fotos Carl Wolff; Seiten 122 und 124: Fotos der Dokumente Abonne­mentverwaltung von »Forschung Frankfurt« werden die erforderlichen Daten der Bezieher in einer von Anna Kreft; Seite 126: Autorenfoto: privat; Seite 127: Dettmar; Seite 128 oben: Originalaufnahme von automatisierten Datei gespeichert, die folgende Angaben enthält: Name, Vorname, Anschrift, Culié, Katharina, Frankfurt: Historisches Museum Frankfurt, Foto: Horst Ziegenfusz; Seite 128 unten: Bezugszeitraum und – bei ­Teilnahme am Abbuchungsverfahren – die Bankverbindung. Die Daten werden Universitäts­archiv Frankfurt; Seite 130: Foto: Städel Museum – ARTOTHEK; Seite 131: Merck Archiv nach Beendigung des Bezugs gelöscht. Y1/00011-01 und Y1/pr-3784-005; Seite 132: Astrid Ludwig, Frankfurt; Seiten 134 und 137: Dokumente aus Die Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder. Der Nachdruck von Beiträgen ist nach Absprache dem Universitätsarchiv Frankfurt; Seite 136: Autorinnenfoto privat; Seite 138: Ullstein Bild, Berlin; Seite möglich. 140: Zeichnung von Lino Salini 1930, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt; Seite 141 oben Ullstein Bild, Berlin; Seite 141 Mitte: www.die-namen-der-nummern.de/html/august_hirt.html; Seite 142: Autorinnen- foto privat; Seite 143: Zeichnung Klaus Meyer-Gasters; Seite 144: Foto und Dokument Universitätsarchiv Abbildungsnachweis Frankfurt; Seite 145 oben: Foto University of Chicago Photographic Archive, [apf3-00671r], Special Collec- Titel Uwe Dettmar, Frankfurt tions Research Center, University of Chicago Library; Seite 145 unten: Foto dpa picture alliance, Frankfurt; Seite 146: Foto Universitätsarchiv; Seite146 Autorinnenfoto: Dettmar; Seite 148 und 150: Foto und Doku- Aus der Redaktion Dettmar mente Archiv der Akademie für Arbeit; Seite 149: Foto www.argobooks.org/img/eugen-2.gif; Seite 151: Inhalt Siehe Hinweise bei den jeweiligen Beiträgen Karikatur Universitätsarchiv Frankfurt; Seite 151: Foto Akademie für Arbeit, Frankfurt; Seite 152 Autoren- foto: Diether Döring, Frankfurt; Seite 153: Dettmar. Wissenschaftler in der Gesellschaft Seite 4 und 6: Heike Jüngst, Frankfurt; Seite 7 oben: Dieter Bretz; Seite 7 unten: Heike Jüngst; Seite 8 oben: Privatfotos von Volker Mosbrugger und Georg Zizka, Autorinnen- Bücher Seite 156 und 158: Dettmar. foto: Privat; Seite 10 und 11: Fotos: Physikalischer Verein; Seite 12 und 13: Dettmar; Seite 15: Privatbesitz Vorschau Photocase/Christophe Papke Ludwig von Friedeburg, Frankfurt; Seite 16: Dettmar; Seite 17: dpa picture alliance (Fredrik von Erichsen); Seite 18 oben: Dettmar; Seite 18 Autorenfoto: Rolf Wiggershaus, Kronberg; Seite 19: Fotos Exzellenzclus- Wir haben uns bemüht, die Inhaber der Urheber- und Nutzungsrechte für die Abbildungen zu ermitteln und ter »Normative Orders«; Seite 20: Copyright »Frankfurt liest ein Buch«; Seite 23 oben: Wolfgang Becker; deren Genehmigung zur Veröffentlichung einzuholen. Falls dies in einzelnen Fällen nicht gelungen sein Seite 23 Autorenfoto: Dettmar; Seite 24: Aufnahmer-Illustration Bereiter-Hahn und D. Dikov; Seite 26: sollte, bitten wir die Inhaber der Rechte, sich an die Abteilung Marketing und Kommunikation der Goethe- Fluoreszenzbild S. Mai; Seite 27: Jan Jacob Hofmann, Frankfurt; Seite 28: Dettmar; Doppelseite 30/31: Universität zu wenden. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich abgegolten.

160 2.2014 | Forschung Frankfurt Gründer, Gönner und Gelehrte der Goethe-Universität

Die Frankfurter Goethe-Universität feierte im Oktober Wissenschaftler, Mäzene und Persönlichkeiten des intel- 2014 ihr 100-jähriges Bestehen und begleitet dieses lektuellen Lebens. Wie in kaum einer anderen deutschen Jubiläum mit einer Biographienreihe zu ihren Gründern, Universitätsstadt war und ist der Austausch zwischen Gönnern und Gelehrten. Die Reihe porträtiert berühmte Wissenschaft und Gesellschaft so spürbar wie in Frankfurt.

Ralf Roth: Wilhelm Morton. Ein Weltbürger gründet eine Universität. Janus Gudian: Ernst Kantorowicz. Der „ganze Mensch“ und die Frankfurt 2010. ISBN 978-3-7973-1245-7, 14,80 3 Geschichtsschreibung. Frankfurt 2014. ISBN 978-3-95542-085-7, 14,80 3 Horst Schmidt-Böcking, Karin Reich: Otto Stern. Physiker, Querdenker, Nobelpreisträger. Frankfurt 2011. Rolf Wiggershaus: Max Horkheimer. Begründer der „Frankfurter ISBN 978-3-942921-23-7, 14,80 3 Schule“. Frankfurt 2014. ISBN 978-3-95542-088-8, 14,80 3 Monika Groening: Leo Gans und Arthur von Weinberg. Bernhard Streck: Leo Frobenius. Afrikaforscher, Ethnologe, Mäzenatentum und jüdische Emanzipation. Frankfurt 2012. Abenteure. Frankfurt 2014. ISBN 978-3-95542-084-0, 14,80 3 ISBN 978-3-942921-86-2, 14,80 3 Lothar Gall: Franz Adickes. Oberbürgermeister und Universitäts- 12 Bände im Schuber. Klappenbroschur. ISBN 978-3-95542-94-9, gründer. Frankfurt 2013. ISBN 978-3-95542-018-5, 14,80 3 98,00 3

Heinz Grossekettler: Fritz Neumark. Finanzwissenschaftler und Politikberater. Frankfurt 2013. ISBN 978-3-95542-051-2, 14,80 3 Anne I. Hardy: Friedrich Dessauer. Röntgenpionier, Biophysiker und Demokrat. Frankfurt 2013. ISBN 978-3-95542-049-9, 14,80 3 Gerhard R. Koch: Theodor W. Adorno. Philosoph, Musiker, pessimistischer Aufklärer. Frankfurt 2013. ISBN 978-3-95542-019-2, 14,80 3 Birgit Wörner, Roman Köster: Henry Oswalt. Bildungsbürger und Mäzen. Frankfurt 2013. ISBN 978-3-942921-24-4, 14,80 3 Volker Caspari, Klaus Lichtblau: Franz Oppenheimer. Ökonom und Soziologe der ersten Stunde. Frankfurt 2014. ISBN 978-3-942921-50-5, 14,80 3

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