Bibliothek und Medien

Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa­ forschung (ABDOS) e.V.

33 (2013), Nr. 1 ISSN 2194-7392 Verlag Otto Sagner Bibliothek und Medien. Mitteilungen der ABDOS e.V. 33 (2013), Nr. 1

Herausgeber Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropaforschung e.V. 1. Vorsitzender Dr. Jürgen Warmbrunn c/o Herder-Institut, Forschungsbibliothek Gisonenweg 5-7 D-35037 Marburg Telefon +49 (0) 6421/184-150 Fax +49 (0) 6421/184-139 [email protected] Redaktion Dr. Hans-Jakob Tebarth (Leitung; Martin-Opitz-Bibliothek) Dr. Arkadiusz Danszczyk (Martin-Opitz-Bibliothek) Dr. Josef Steiner (Österreichische Nationalbibliothek) c/o Martin-Opitz-Bibliothek Berliner Platz 5 44623 Herne Telefon +49 (0) 2323/16-2106 Fax +49 (0) 2323/16-2609 [email protected] Bezug Bibliothek und Medien können über den Buchhandel, den ABDOS e.V. sowie direkt beim Verlag abonniert werden: Verlag Otto Sagner c/o Kubon & Sagner GmbH Heßstraße 39/41 80798 München Telefon +49 (0) 89/54218-106 Fax + 49 (0) 89/54218-226 [email protected] Der Preis pro Jahrgang beträgt EUR 12,00 inkl. Versand innerhalb Deutschlands (bei internationalem Versand zzgl. der tatsächlich anfallenden Versandkosten). Mitglieder des ABDOS e.V. erhalten die Mitteilungen im Rahmen ihrer Mitgliedschaft automatisch kostenlos. Für die in „Bibliothek und Medien“ veröffentlichten Beiträge sind die Auto- rinnen und Autoren verantwortlich. Nachdruck unter Angabe der Quelle gegen zwei Belegexemplare an die Redaktion erlaubt. Beiträge werden an die Redaktion erbeten. © bei ABDOS e.V. Druck und Bindung: Kubon & Sagner GmbH, München Printed in Germany Printversion: ISSN 2194-7392 (ISSN 2194-7406 für die Internet-Version) Editorial Inhalt Liebe Leserinnen und Leser, Beiträge liebe Kolleginnen und Kollegen, Dirk-Gerd Erpenbeck Von Narva nach Nürnberg: was wäre erfreulicher für eine Redaktion, als der Lorenz Heinrich Hessel (1756-1819) Nachweis, dass die veröffentlichten Texte gelesen Kupferstecher, Instrumentenbauer, werden? Nichts! Sprachlehrer ...... 1 Im vorliegenden Heft erbringt Dirk-Gerd Erpen- beck diesen Nachweis. Hatte Fred Otten den Leitarti- Robert Kędzierski kel „Russisch-deutsche Verständigungshilfen (1799- Zusammenarbeit und Kooperation der Polen 1813) für Heft 2/2012 geliefert, so schließt Erpenbeck aus der Deutschen Volksliste mit den deut­- in der vorliegenden Nummer mit einer Untersuchung schen Besatzern in den einge­gliederten­ polnischen zu Lorenz Heinrich Hessel an. Mittels akribischer, Gebieten im Zweiten Weltkrieg im Licht der nati- wenn nicht gar detektivischer Recherche klärt er die onalsozialistischen Besatzungspolitik ...... 8 Identität eines der einschlägigen Autoren der oben genannten frühen „Dictionaries“ auf und korrigiert Erdmute Lapp damit manchen tradierten Fehler bei der Authentifi- Library cooperation – German perspective ...... 14 zierung des Deutschbalten Hessel. Der Artikel des Regensburger Kollegen Robert Berichte Kędzier­ski thematisiert ein „eigentlich“ altes Thema Arkadiusz Danszczyk und Hans-Jakob Tebarth – das der Volksliste im besetzten Polen und das der Stand und Perspektive des Verbundkatalogs nicht unproblematischen Zuordnung. Der Autor geht östliches Europa ...... 17 aber bei seiner Analyse davon aus, dass die Konse- quenzen bis auf den heutigen Tag in Polen und auch Gottfried Kratz in Deutschland nachwirken. Das goldene Zeitalter des russischen Buchdrucks Besonders hinweisen möchte die Redaktion auf in Deutschland. Ein Konferenz- und zwei zentrale Veranstaltungen aus unserem Arbeits- Ausstellungsbericht aus Moskau bereich. Ende August findet die 42. ABDOS-Tagung vom März 2013 ...... 21 in Minsk im Anschluss an den Weltslavistenkongress statt. Neben der Nationalbibliothek von Belarus´ tritt Elke Knappe MIPP International als Partner und einladende Stelle Protokoll der Mitgliederversammlung der auf. ABDOS e. V. am 14.3.2013 in Leipzig ...... 24 Der immer wichtiger werdenden Zielgruppenori- entierung gerade auch im Bibliothekswesen kommt Neue Publikationen ...... 25 die ABDOS entgegen und widmet dem Themenspek- Call for Papers...... 53 trum eine eigene Sektion. Weiterhin geht es in Minsk um Bibliotheken im ländlichen Raum, die veränderten Vorliegende Rezensionsexemplare...... 53 Lesekulturen in Ost- und Südosteuropa in den letzten Miszellen und Ankündigungen ...... 54 Jahrzehnten sowie digitale Bibliotheken in Belarus´. - ABDOS-Tagung in Minsk (2013)...... 54 Der Veranstaltung ist reger Zuspruch aus der Zunft zu wünschen! - MOB-Tagung in Kaschau (2013) ...... 54 Die Kulturhauptstadt Košice/Kaschau/Kassa schließlich würdigt die Martin-Opitz-Bibliothek mit Dirk-Gerd Erpenbeck (Bochum) ihrer BKM-geförderten Fach- und Fortbildungsta- gung für die Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Sammlungen zur deutschen Kultur und Geschich- Von Narva nach Nürnberg: te im östlichen Europa vom 25.-27. September dieses Lorenz Heinrich Hessel (1756-1819) Jahres. Neben den lokalen Partnern aus der Öffent- Kupferstecher, Instrumentenbauer, lichen Bibliothek Ján Bocatius wirken diesmal auch Sprachlehrer das Digitale Forum Mittel- und Osteuropa - DiFMOE - und das Deutsche Kulturforum östliches Europa mit Zahlreiche Kunstsammlungen, Bibliotheken und und gestalten eigene Programmteile. Beachten Sie Hand­bücher enthalten Arbeiten eines biographisch bitte die Hinweise am Ende dieses Heftes. bisher nur mäßig bekannten, meist als Kupferstecher Hans-Jakob Tebarth bezeichneten Künstlers Hessel (auch: Heßel, Hessell) (für die Redaktion) aus St. Petersburg.1 Schon bei seinem Vornamen2 gibt

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 1 es eine Vielzahl von Vorschlägen, seine Lebensdaten (1803-1879) auch über die eingeheiratete Hesselsche sind ungenau, auch widersprüchlich, eine Lage, die Familie: jedoch auch schon zu Lebzeiten des „Zeichners und „Dorothea Sutthoff war zuerst verheiratet an Her- Malers“ bestanden haben muss. So hieß es bereits in mann Hinrich Sutthoff. Ihr zweiter Mann war der einem seinerzeit (1806) weitverbreiteten Schweizer Kollegien-Assessor und Oberzöllner Gideon Hessel. Künstlerlexikon3: Sie war Hessel seine zweite Frau. Hessel seine erste „Von ihm wurden um 1788 wunderbare Dinge er- Frau war eine Wulffert, mit der er zwei Söhne hatte, zählt. Seither indessen haben wir nichts mehr von ihm von welchen einer Kupferstecher im Ausland war.“9 vernommen.“ Ausgehend von diesem ersten klärenden Hinweis Diese sehr distanzierte Erwähnung verkürzte je- lässt sich die Herkunft des später in Nürnberg auf- doch auffällig negativ die Angaben seiner Quelle4, tretenden „Kupferstechers aus St. Petersburg“ auch nämlich: durch weitere Quellen absichern. Dabei bietet eine „In Nürnberg hält sich jetzt ein großes Künstler- gute Übersicht für die deutschbaltische Familie Hes- genie, Namens Hessel, aus St. Petersburg, auf. Der sel aus Reval und Narva zunächst eine Tafel aus der Mann porträtirt vortrefflich, und sehr wohlfeil. Er hat „Sammlung Erik Amburger“, wie sie im Institut für eine eigene Maschine, der Hesselische Treffer ge- Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg vor- nannt, deren er sich dazu bedient, um bey Tageslicht liegt.10 Die dortigen Angaben lassen sich auch seit ei- eine Silhouette abzunehmen. Eben derselbe will auf niger Zeit mit den Kirchenbüchern der deutschen St. Subscription eine Harmonika bauen. Er versichert, Johannis-Gemeinde in Narva überprüfen und vielfach die Klaviatur erfunden zu haben.“ ergänzen.11 Auf dieser Grundlage ergibt sich für den Wenig später heißt es: Kupferstecher aus Narva folgende Herkunft: „Der angeführte Hessell schreibt sich mit zwey Gideon Hessel, * 1719, begr. 10.1.1776 Narva. – ll, Hessell. Auch erfand er seitdem, wie Rec. weiß, 1742, 1745: Buchhalter beim kais. Lizent-Kontor in eine neue Art, Silhouetten in Kupfer zu stechen; es ist Moskau; verkaufte 28.2.1745 einen Platz in der Mos- nur schade, daß solche Platten nicht viele Abdrücke kauer Sloboda; 1758/61 Kämmerer, Rat und Sekretär gestatten. Er befindet sich noch gegenwärtig, da ich beim Kammerkontor; Controlleur und Direktor beim dieses schreibe, in Nürnberg.“5 Lizent in Narva; Kollegien-Assessor. Und 1792 erscheint Hessel in einer Übersicht der I. oo Narva 8.7.1742 Anna Margaretha Wulffert, * „jetztlebenden Mahler in Nürnberg“: (1728) Narva, begr. 1.2.1761 St. Petersburg. „Heinrich Hessel, aus St. Petersburg, zeichnet Por- II. oo Narva 21.10.1764 Dorothea Sutthoff, * 24.6., träte in Rothstein und Pastell, und ist im Treffen sehr ≈ 27.6.1736 Narva, begr. 11.5.1811 ebdt. (I. oo Narva glücklich. Er sticht auch Porträte in punzirter Manier 16.12.1753 („ihres Vaters Vetter“) Flachsbracker in in Kupfer.“6 Narva Hermann Heinrich Sutthoff, ≈ 25.12.1712 Wi- Der Direktor der Nürnberger Malerakademie, Jo- borg, begr. 9.6.1761 Narva.12 hann Eberhard Ihle (1727-1814) schwankte in seiner Von zehn nachweisbaren Kindern lebten bei der Beurteilung Hessels zwischen technischen und künst- Erbauseinandersetzung 1776 nach dem Tode des Va- lerischen Kriterien: ters nur noch zwei Brüder: Lorenz Hinrich Hessel „Ein geschickter Mann, der die Gesichtszüge gut (≈ 13.12.1756 Narva13) und sein älterer Bruder, der und kennbar zu treffen versteht, wiewohl seine Arbeit Kaufmann Werner Johann Hessel (≈ 18.10.1744 Nar- mehrenteils maschinenmäßig sein soll.“7 va, begr. 8.12.1784 St. Petersburg (Maria)). Mit diesen Es sind drei völlig disparate Forschungsbereiche, beiden Stiefkindern schloss „des wohlseligen Herrn in denen Hessels Leistungen bisher thematisiert wur- Collegien-Assessoris Gideon Hessels nachgebliebene den: am breitesten in der Kunstgeschichte, weniger Frau Witwe Dorothea, geb. Sutthoff“ im April 1776 in bei Arbeiten zum Instrumentenbau und sehr selten Narva einen Erbausgleich14, wobei Werner Johann an- zum Dolmetscherwesen, wobei diese Bereiche im wesend und sein Bruder Lorenz Heinrich sich durch Wesentlichen bisher nahezu unverknüpft geblieben einen nahen Verwandten, den Petersburger Kaufmann sind, daher meist von drei verschiedenen Personen Werner Andreas Wulffert, vertreten ließ. Der Grund ausgegangen wird. Neue Quellen vermögen die- für seine Abwesenheit war, dass Lorenz seit Septem- ser misslichen Lage mehrfach abzuhelfen und alles ber 1774 als „Laur. Hnr. Hessel, Narva-Livonus“ an einem einzigen zuzuordnen, dem Deutschbalten Lo- der Universität in Königsberg für Jura immatrikuliert renz Heinrich Hessel aus Narva. war.15 In einer bisher unveröffentlichten Familienchro- Special Vollmacht für den (...) Herrn Andreas nik8 der Kaufmannsfamilie Sutthoff aus Narva in Wulffert in St. Petersburg, nach welcher( ...) der Estland „Nachrichten von der Sutthoffschen Fami- Vernachlassenschaft meines verstorbenen Vaters (...) lie“ (1839ff.) berichtet der Verfasser Eduard Sutthoff Collegien Assessor Gideon Hessel, sich in meinem

2 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Nahmen, mit meinen Geschwistern auseinander sez- der verlohren gehen sollte, die Erzählung davon für zen, und gedachte Erbschafts Sache reguliren könne, die Zukunft das seyn würde, was die Geschichte der nebst alles ( ...), als wenns von mir selbst bewürket Leyer Orpheus für uns ist.“ wäre, wie ich denn auch zu Vesthaltung dieses mich Klärend in diesem Erfinder-Wettbewerb, worin eigenhändig unterschrieben und untersiegelt habe, Röllig auch für sich einen, wenn nicht sogar den er- auch meines Nahmens Unterschrift gehörig recognos- sten Platz beanspruchte, ist vor allem ein Hinweis, ciren will. Königsberg, d: 3 Febr: 1776 dass der unbekannte Hessel 1785 in Berlin gewesen (Siegel) Lorenz Heinrich Hessel. sein muss: „Im Jahr 1785 nämlich erfand der Mechanikus Für den jungen Studenten erbrachte die Erbschaft Hessel aus Petersburg, in Berlin eine Tastatur an der eine ansehnliche Barauszahlung von 1500 Rubel. Mit Harmonika. Er gab dem Instrument die Gestalt eines diesen Narvaer Urkunden endet die Nachweisbarkeit Schreibpultes, und die Glocken waren in 3 Abtheilun- für Hessels baltisch-russische Zeit; weitere Folgen aus gen darinne befestigt. Die Erfindung wurde mit gro- der Veränderung der Familienverhältnisse in Narva ßem Enthusiasmus aufgenommen.“20 sind ebenfalls nicht bekannt. Jedoch verblieb Hessel In der Präsentation und Nutzung der Harmonika zumindest vorläufig noch in Deutschland: zunächst scheint Hessel in engstem Kontakt zum noch recht wanderte er von Königsberg weiter an die Universi- jungen, aber sehr erfolgreichen böhmischen Pianis- tät Göttingen, wo er sich im April 1776 immatriku- ten und Komponisten Johann Ludwig Dussek (1760- lierte.16 Noch Ende August 1776 lebte er dort und trug 1812) gestanden zu haben. Es wird angenommen, sich im studentischen Stammbuch des Kurländers dass Dussek sich kurz vor 1783 in St. Petersburg Carl Gotthard Elverfeld ein, in dem auch zahlreiche und schon seit Frühjahr gleichen Jahres am Hof des weitere Kurländer, Livländer, aber auch Deutsche aus Prinzen Karl Radziwill in Wilna oder Nieswiez (Li- Moskau und St. Petersburg versammelt sind.17 tauen) aufhielt, aber bereits 1784 eine Deutschland- tour (Berlin, Mainz, Kassel, Frankfurt, später wohl Die Erfindung der Klavier-Harmonika auch Dresden und Schwerin) mit einer „Glas-Harmo- In den folgenden Jahren finden sich keinerlei per- nica“ durchführte. Diese Harmonika war von Hessel sönliche Belege, jedoch hat sich Lorenz Heinrich in angefertigt worden. Aus zwei weiteren, voneinander dieser Zeit als Erfinder im Musikinstrumentenbau unabhängigen, Quellen ergeben sich sowohl Hessels betätigt. Die gesamte ältere musikhistorische Litera- Priorität bei der kontroversen Erfindung (A) wie auch tur verweist immer wieder auf einen „Erfinder Hessel seine Herkunft aus Livland (B) und nicht St. Peters- aus St. Petersburg“; nie werden jedoch Vorname oder burg, wo er sich nur zeitweilig aufhielt. genauere Lebensdaten genannt. Bisweilen wird auch (A) „Wahrscheinlich vor Röllig, schon im Jahr ein „Mechanikus Wilhelm Hessel in Petersburg“ hier 1785, brachte ein Herr Hessel, Mechanikus aus Pe- eingereiht, über den sonst gar nichts bekannt ist. Ein tersburg, zu Berlin nach so vielen vergeblichen Versu- möglicher Namensträger „Wilhelm Friedrich Hessel“ chen mehrerer Künstler, eine Tastatur an der Harmo- (get. 18.10.1748 Narva) lässt sich zwar als Bruder nika zu Stande, und nannte dies Instrument eine Cla- von Lorenz Heinrich nachweisen, jedoch erscheint er vierharmonika. Herr Johann Ludwig Dussik spielte in keinen weiteren Quellen, vor allem auch nicht in 1785 auf dieser Clavier-Harmonika in Cassel und der Erbauseinandersetzung von 1776. bezauberte mit seinem Spiel alle Zuhörer. Er gab aber Der älteste Hinweis auf den „Erfinder“ geht wie- fälschlich dies Instrument für seine eigne Erfindung derum zurück auf die bereits erwähnten Angaben bei aus.“21 Meusel (1788): „Eben derselbe will auf Subscription eine Harmo- (B) „Herr Hessel, ein Liefländer, ist nun so glück- nika bauen.“ lich gewesen, eine von allen Clavierspielern bisher so Dabei ging es um eine Lösung für ein technisches sehr gewünschte Erfindung (...) in Berlin zu endigen. Problem bei der damals noch recht neuen und weit Herr Hessel hätte sich schon viel Verdienst um die gelobten Glasharmonika: Viele versuchten durch eine Musik blos durch seine Harmonika erworben; denn klavierartige Tastatur ein leichteres Bespielen des sein (Ton-) Umfang ist der ausgebreitetste, der je Instruments zu ermöglichen.18 Über die ästhetischen existirte. Herr Hessel nimmt sich vor, in Gesellschaft Reize des Harmonika-Klanges schrieb Karl Leopold des Hrn. Dusseks, eines berühmten Clavierspielers, Röllig, selbst praktizierender Virtuose auf diesem eine Reise durch ganz Teutschland und da seine Er- Instrument, in seiner Einführung19 „Über die Harmo­ findung bekannt zu machen.“22 nika“: Entscheidend für eine Identifizierung dieses sonst „Die Wirkung dieses Instruments gränzt ans Fa- unbekannten „Hessel“ ist die Bemerkung seines Kon- belhafte, und es ist wahrscheinlich, daß, wenn es wie- kurrenten um den Erfinder-Lorbeer, des Komponisten

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 3 und Glasharmonika-Virtuosen Carl Leopold Röllig. Hessel die Grundlage für seine zahlreichen Porträts25, Er schrieb im Februar 1803, also noch zu Lebzeiten meist mit Bezug zur Nürnberger Stadtgeschichte, so Hessels, aber erst viele Jahre nach seinem „Frag- dass es 1792 schon hieß: ment“ von 1787, wo er sich (S. 28) sehr viel abfälli- „Kürzlich hat die Nürnbergische Portraitsamm- ger geäußert hatte, in einem Brief23 an die Leipziger lung einen neuen Zuwachs durch das von Herrn Hes- „Allgemeine musikalische Zeitung“: „Hessel war sel niedlich und ähnlich gemachte Portrait des un- ein hervorragender Porträt-Maler aus Kurland.“ Die- längst verstorbenen Herrn Carl Ferdinand Eckebrecht se Hinweise sind bisher, neben Meusel, die einzigen Siegellack-Fabrikanten und unter der Bürgercavalle- Brücken zwischen dem Maler Lorenz Heinrich Hes- rie Lieutenants erhalten.“26 sel und dem Instrumentenbauer Hessel. Der Verweis nach Kurland, damals noch bis 1795 selbständiges Herzogtum mit einer Residenz in Mitau, lässt sich vielleicht mit Hessels studentischem Umfeld im Göt- tinger Stammbuch des Carl G. Elverfeldt erklären: Aufschrift auf der Rückseite eines Bildes Zahlreiche Einträger bei diesem Kurländer stammen von Lorenz Heinrich Hessell 1813 nicht nur aus Livland, sondern tatsächlich aus Kur- Der früheste Bezug Hessels nach Nürnberg ist bisher land. eine als Erinnerungsblatt einzuordnende Gemein- schaftsarbeit mit dem Nürnberger Stecher und Ver- Als Maler und Sprachlehrer in Nürnberg leger Christoph Wilhelm Bock (1755-1835) wohl Etwa zur gleichen Zeit, d.h. etwa 1781/82, jedoch anlässlich des Ballonaufstiegs von Jean-Pierre Blan- völlig unverbunden mit obigen erfinderischen Bemü- chard am 12.11.1787 in Nürnberg; es war eine kom- hungen, tritt Hessel dann in Berlin als „Pastellmaler merziell erfolgreich ausgerichtete Massenveranstal- aus Petersburg“ auf, worüber bisher einzig der Berli- tung mit mehr als 50.000 Zuschauern, wo sich sicher- ner Kupferstecher Daniel Chodowiecki (1726-1801) lich mit dem Gedenkblatt ein einträglicher Gewinn im Jahre 1784 an eine Brieffreundin etwas ungenau erzielen liess.27 Zur Datierung und zur Herkunft der berichtet24: Arbeit geben die beiden Beischriften Auskunft: „Ein Pastelmahler Nahmens Hessel kamm vor ei- „Se vend à Nuremberg chez Chrph. Wilh. Bock // nigen Jahren zu verschiedenen Mahler hier, er kamm H. Hessell W. Bock 1787“. aus Petersburg, hatte aber wenig mahlerisches Ge- Urkundlich dagegen tritt Hessel erstmals am fühl.” 18.2.1788 als „Maler aus Petersburg“28 in Nürnberg Eine Lehre oder künstlerische Ausbildung ist für auf, zunächst im Gasthaus „Zum Wilden Mann“ Hessel bisher nicht nachweisbar; aber das gilt ja auch am Obstmarkt, nach dem 29.2. dann bei der Gold- für Chodowiecki. Vielleicht gab es an der Universität schmiedswitwe Anna Bayerlein am Egidienplatz 30 Königsberg ein Umfeld, das Hessels experimentellen (Nr. 773), wo er auch noch 1797 und 1800 als Mieter Neigungen entgegenkam. So lässt die dortige Matri- lebte. Seit 1793 ist er außerdem als Sprachlehrer für kel zeitnah sowohl einige Kunstmaler („elegantiores „abendländische Sprachen“ am örtlichen Büchnerschen picturae cultores“) wie auch Musik-Instrumenten- Erziehungs-Institut tätig. Klärend hierfür sind beson- bauer erkennen, z.B. Carl Friedrich Bertram („instru- ders Annoncen (1805) in einer Nürnberger Zeitung29: mentorum musicorum artifex“, Wintersemester 1773) „1805. im Mon. October ertheilte Herr L. H. Hes- oder Simon Godfr. Grabowsky („instrum. musicorum sel, im obern Saal des gelben Löwens beym goldnen fabricandorum peritus“, 11.1.1776). Hessel muss Schild, Abends von 6-7 Uhr nach einer hinlänglichen zu dieser Zeit sein Hilfsgerät zum Schneiden von Zahl Subscribenten, Unterricht in einigen der unent- den damals sehr geschätzten Silhouetten entwickelt behrlichsten Wörter und Redensarten des Haus- und haben. Es konnte zur zügigen und daher preislich Kriegswesens in der russischen Sprache, welcher mit günstigen Anfertigung von Porträts benutzt werden 12 Stunden beendigt ward, wofür man 1 Laubthaler30 und soll recht bekannt geworden sein unter dem Na- pränumerirte.“ men „Hesselscher Treffer“. Auch hier gibt es nur sehr In diesem Unterrichts-Umfeld dürfte auch Hes- wenige Quellen; durchweg beschränkt man sich da- sels Sprachführer31 für Russisch entstanden sein, der her bis heute auf eine Wiederholung des Ersthinwei- mindestens in zwei Auflagen (1) und (2) erschien. ses bei Meusel, wonach es Hessel gelungen sei, „bey Als Vorläufer dazu ist wahrscheinlich anzusehen ein Tageslicht eine Silhouette abzunehmen“. Ergänzend zwar quellenmäßig nachweisbares Exemplar, für das kann noch verwiesen werden auf seine neue Technik jedoch noch ein bibliothekarisch gesichertes Beleg- „Silhouetten in Kupfer zu stechen; es ist nur schade, stück fehlt.(3) daß solche Platten nicht viele Abdrücke gestatten“. (1) Russisch deutsche Fragen und Antworten auf Mit diesen beiden Erfindungen bzw. Techniken schuf Reisen, in Bueros fuer Reisende, im Handel, in Gast-

4 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 höfen und Militaer von L. H. Hessell. Nürnberg beim einer spezifischen Aussprachevariante zielte er prag- Verfaßer am Laufer-Schlagthurm No. 1040.32 matisch auf deren allgemeine Verständlichkeit ab: (2) Der Russische Dolmetscher in Fragen und „Da die Rußische Sprache, in ihrer Aussprache Antworten für den Bürger und Landmann, in Büre- viele Veränderungen leidet und von Personen vom aus für Reisende, im Handel, in Gasthöfen und für Stande anders gesprochen wird, als wie von den ge- Militär von L. H. Hessell. Zweyte verbesserte Ausga- meinen Manne, so wählte ich die Letzte, welcher be. Nürnberg 1813. In der Zeh’schen Buchhandlung.33 leichter ausgesprochen werden kann, und von jedem (3) Kurze und leichte gewöhnliche Rußische Russen verstanden wird.“ Wörter und Redensarten, mit lateinischen Buchstaben, Es lassen sich keine Sprachelemente finden, die deutsch übersetzt von L. H. Hessel. Nürnberg 1805, auf eine geographische Herkunft o.ä. des Verfassers 32 S. In 12. Pränumerationspreis 45 Kr.34 schließen lassen könnten. Ortsnamen sind einzig bei den Angaben zum fiktiven Reisenden, den „Kaufmann Müller aus Memel35“ (S. 20), der sich nach „Nowgo- rod“ aufgemacht hat, einen Händler „Johann Dick/ Iwan Tolstoi“ (S. 6) trifft und in „Bagatschens Laden“ (S. 15) einkauft; auch der Verweis auf das „Malade- zkische Regiment“ (S. 12) ist völlig leer. Graphische Sonderheiten, damals allgemein noch anzutreffen, sind die Substitution von „tz“ durch „zz“ (z.B. „sez- zen“, „Duzzend“) oder einfaches „k“ statt „ck“ (z.B. „Zwek“, „Geschmak“), auch „Stazion“; nichts davon eignet sich aber für eine klärende Lokalisierung o.ä. Die erste Auflage lief offensichtlich gut, denn im Vorwort zur 2. Auflage (1813) konnte der neue Verle- ger Johann Eberhard Zeh36 damit werben: „Der schnelle Absaz der ersten Ausgabe kann als ein Beweis dienen, daß derselbe sehr brauchbar ge- 1. Auflage (1805?) funden worden ist, indem er alles Nothwendige ent- hält, um sich den Russen verständlich zu machen. Wer eine Partie mit einander nimmt, und sich direkt an mich wendet erhält einen ansehnlichen Rabat. Zeh´sche Buchhandlung am Weinmarkt.“ Gründe für den Wechsel vom Eigenverlag zu einem kommerziellen Buchhändler sind bisher nicht bekannt. In der großen Gruppe der bisher bekannt gewor- denen Porträts (manches dürfte sich noch weiterhin unveröffentlicht in altem Familienbesitz befinden)37, greifen nur wenige über den Raum Nürnberg hinaus. Erwähnenswert sind, vielleicht als frühe Gelegen- heitsarbeiten anzusehen: der französische Ballon- schiffer Blanchard (s.o.) und der Wiener Violinist Franz Joseph Clement (1780-1842), dessen Blatt, wie auch bei Blanchard, in Französisch beschriftet ist.38 2. Auflage 1813 Clement reiste als „Wunderkind“ seit 1789 durch Eu- ropa, am 10.1.1790 ist er für Koblenz belegt. Einleitend schrieb Hessel, der ja im russischen Narva Ebenfalls als Beitrag zum Schaugeschäft anzuse- aufgewachsen war: hen ist ein Blatt für das Zwergenpaar Nanette Stocker „Der Zwek dieses Buechleins ist: den Deutschen aus Österreich und Jean Hauptmann aus dem Elsass, im Verkehr mit Russen als Dolmetscher zu dienen, und ihnen zugleich einen kleinen Vorgeschmak von das seit 1803 zusammen durch ganz Europa tourte, der Leichtigkeit, der Kuerze und dem Wohllaute der dabei auch in Nürnberg gastierte, worüber in einem russischen Sprache zu geben.“ Reisebericht berichtet und dabei besonders auf Hes- Zur Transkription aus dem Kyrillischen benutzte er sels Kupferstich hingewiesen wurde: lateinische Buchstaben (S. 7: „Rasumèjete pa rùski? „À Nuremberg les visites étaient très nombreuses; / Verstehen Sie Russisch?“) und mit seiner Auswahl les habitans de cette ville en donnèrent une preuve

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 5 particulière par la gravure en taille douce qu´ils fi rent Russisch. Vielleicht steht ein (seltener) Kupferstich44, exécuter par souscription.“39 den Hessel von Arndt anfertigte, mit dessen Abrei- Deutlich abwertend erwähnt den gleichen Stich se 1802 aus Nürnberg nach Heidelberg zusammen. dagegen Füssli40: Dieser Stich von 1802 ist vor allem deshalb wichtig, „(Hessel,) von welchem wir in öffentlichen Blät- weil er bisher der einzige ist, auf dem sich ein rus- tern um 1803 die Bildnisse Jean Hauptmanns und Na- sisch-sprachiger Vermerk befi ndet, der Hessel oben- nette Stockers, zweyer berühmter – Zwerge, nebst ein drein als „Bürger Narvas“ („Narvskoi“) ausweist. Die Aufschrift lautet: Paar anderen angezeigt fi nden.“ Bisher kaum einzuordnen ist eine Zeichnung (Rö- tel auf Pergament) der preußischen Königin Friede- rike-Louise von Preußen (1751-1805).41 Es ist bisher die einzige Arbeit mit unmittelbarem Bezug nach Berlin, wo sich Hessel zeitweilig (vor 1784) aufge- Gez(eichnet): u(nd): gest(ochen): v(on): L(orenz): halten hat, wenn auch, wie Chodowiecki meinte, nur H(einrich): Hessell in Nürnberg mit geringem Erfolg.42 ΛΓΓ Hapb---сқoй 1802 ГОДУ Reizvoll wäre es auch zu erfahren, wie es zu Hes- (L H H Narvskoi 1802 ГОДУ // Lorenz Heinrich Hes- sels Kontakt zu dem aus Ostpreußen stammenden sell, aus Narva, im Jahre 1802). Schriftsteller und Gelehrten Christian Gottlieb (von) Lorenz Heinrich Hessel verstarb im Alter von „66 Arndt (1743-1829) gekommen ist. Jahren“ zu Nürnberg am 10.9.1819 und wurde be- graben am 13.9. auf dem Johannis-Friedhof im sog.

„Albrecht-Dürer-Grab“.45 ______

Abschließend sei noch verwiesen auf eine bisweilen auftretende Verwechslung des Narvensers Hessel mit dem aus Böhmen stammenden Kupferstecher Johann Baptist Hössel († 1832 Berlin), der 1799-1806 in Des- sau bei der Chalkographischen Gesellschaft arbeitete, sich 1808/10 in Altenburg aufhielt und spätestens seit 1818 in Berlin (Klosterstrasse 63, später Wallstrasse 54) wohnte.46 Er wurde vor allem durch seine Berliner Stadtansichten bekannt. Ein baltischer Bezug ergibt sich aus seiner Mitarbeit am Mellinschen Atlas, für den er als Stecher für die Karte „Der Wesenberger Kreis“ gesichert ist.47 Aus seiner Ehe (vor 1808) mit Marie Therese Grünbaum sind zwei Kinder bekannt: Christian Gottlieb von Arndt Hercules Albrecht Heinrich Hössel (* 1808 Alten- Russisch Kaiserl. Hofrath burg/Thüringen, † 29.3.1847 Boizenburg/Elbe), der Ritter des Heil. Wladimir Ordens 1834 in Boizenburg als Buchhändler Bürger wurde48 Arndt, der 1764 zunächst als Sekretär des kurlän- und Adelheid Veronika Hössel (* 30.12.1809 Alten- dischen Hofrats Christoph Anton Tottien, dann als burg, † 16.12.1870 Luisenstadt / Berlin).49 Letztere Hauslehrer (?) bei der Familie von Kleist (auf Eckhof/ heiratete in Berlin (7.12.1833 ) den baltischen Kup- Kurland), über Mitau zuletzt nach St. Petersburg ab- ferstecher Franz Burchard Dörbeck (* 10./22.2.1799 wanderte, stand seit 1768 in vielfachen Diensten der Fellin, † 20.9./2.10.1835 Fellin, begr. 23.9.).50 Zarin Katharina II. (1729-1796).43 Nach seiner Rück- kehr aus Russland im Spätsommer 1792 lebte er von (Anmerkungen:) Ende 1795 bis Anfang 1797 in Nürnberg bei dem Arzt 1 Ältere, jedoch weiterhin benutzte Kurzbiographien bei: Ul- und Aufklärer-Philosophen Johann Benjamin Erhard rich Thieme und Felix Becker (Hgr.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. (1923) Bd. 16, S. 595 und Georg Kas- (1766-1826), danach mehrere Jahre auf dem Lande; par Nagler: Neues allgemeines Künstler-Lexikon. (1905) Bd. erst 1802 ließ er sich schließlich in Heidelberg nieder. 6, S. 161. – Die Schreibweise „Hessell“ lehnt sich wohl an Gemeinsamkeiten zwischen Arndt und Hessel gab es die ältere Behauptung bei Thieme/Becker (S. 593) an: „Hes- mehrere: Beide hatten in Königsberg studiert, kannten sel, Leonhard Heinrich: falsch für Hessell, L.H.“ Eine zeit- genössische, örtliche Quelle (Christoph Gottlieb von Murr: St. Petersburg und hatten sich in Kurland aufgehalten, Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in der lebten (zeitweilig) in Nürnberg und sprachen beide Reichsstadt Nürnberg. Nürnberg 1801, S. 631) bezeichnet ihn

6 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 als: „Heinrich Hessel, Portraitzeichner; sticht auch solche in (1894), S. 186, Nr. 64: (Lorenz Heinrich) L.H. Hessel, aus punctirter Manier in Kupfer.“ – Neueste Übersicht (2013) bei: Livland (iur.) v. 30.8.1776 für den stud. theol., später Pastor Neil Jeffares: Dictionary of pastellists before 1800 (Online zu Appricken und Propst der Diöcese Grobin/Kurland. edition), s.v. „Hessel“: http://www.pastellists.com/Articles/ 18 Vgl. die detaillierte Darstellung bei Peter Sterki: Klingende Hessell.pdf . Für ergänzende Hinweise danke ich Herrn Hans Gläser. Bern 2000, S. 53ff.: Gestaltungsformen der Tastenhar- Baier, Memmelsdorf. monika; zu Hessel S. 55. 2 Bis heute wird er meist unrichtig als „Leonhard Heinrich“ 19 Berlin 1787, S. 5. Benutzt wurde: http://reader.digitale-samm- bezeichnet, wahrscheinlich wegen einer irrtümlichen Zu- lungen.de/en/fs1/object/display/bsb 10990057_ 00005.html . ordnung zu dem gleichzeitig in Nürnberg lebenden „Johann 20 Wilhelm Schneider: Historisch-technische Beschreibung der Leonhard Hessel“ (1771-1806), Montags-Prediger bei St. musicalischen Instrumente. Neiße u. Leipzig 1834, S. 98f. Salvator und Kantor bei St. Egidien und Lehrer an der Se- 21 Jahrbuch zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse balder Schule in Nürnberg. – In Nürnberg gab es damals wei- für das Jahr 1831. Frankfurt 1831, S. 183. tere Familien Hessel, jedoch Handwerker (Bäcker) sowie die 22 Christian August von Bertram: Ephemeriden der Litteratur Buchdruckerei Hessel im nahen Altdorf. und des Theaters. 1. Bd. Berlin 1785 (Kraus Reprint: Mün- 3 Johann Heinrich Füssli: Allgemeines Künstlerlexikon. Zürich chen 1981), S. 410f.: „Vogler´s Urtheil über die von Herrn 1806, S. 543. Hessel neuerfundene Clavierharmonika, niedergeschrieben in 4 Johann Georg Meusel: Museum für Künstler und für Kunst- Berlin den 4ten Juni 1785, als zum erstenmal der Erfinder sich liebhaber: oder die Fortsetzung der Miscellaneen artistischen ihm hören ließ.“ Inhalts. Zweites Stück. Mannheim 1788: Vermischte Nach- 23 Angaben nach: John Sullivan Dwight: Journal of Music, richten, S. 87. Vol. XX, Nr. 2 (1861), S. 218, auch mit Hinweisen zur Zu- 5 Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen sammenarbeit mit Dussek (http://books.google.de/book- Künste. Bd. 43-44, 1. St. Leipzig 1791, S. 229. s?id=_yQ5AAAAIAAJ&pg=PA218&dq=dussek+hessel& 6 Johann Christian Siebenkees und Johann Carl Sigmund Kief- hl=de&sa=X&ei=y82DUYPZH8ebtAbB8IDADQ&ved= haber: Materialien zur Nürnbergischen Geschichte. Nürnberg 0CDEQ6AEwAA#v=onepage&q=dussek%20hessel&f=false ). 1792, Bd. 2, S. 488. – Wahrscheinlich geht auf diesen Text 24 Charlotte Steinbrucker (Hg.): Briefe Daniel Chodowieckis zurück, dass vielfach Hessels Vorname als „Heinrich“ ange- an die Gräfin Christiane von Solms-Laubach. Straßburg 1928, geben wird; auch auf mehreren Stichen erscheint er nur mit S. 48, Brief vom 20.4.1784, ohne weitere Verweise auf Hessel. diesem Vornamen. Jedoch wird noch auf einen Engländer aus St. Petersburg, den 7 Karl Bosl (Hg.): Bosls Bayerische Biographie. Regensburg Bildnismaler Joseph Franz Cunningham (1741-1793) und den 1983, S. 343. dortigen Medailleur Karl von Leberecht (1749-1827) verwiesen. 8 Manuskript in: Deutsch-Baltische Genealogische Gesell- 25 Älteste Übersicht bei dem Nürnberger Bibliographen Georg schaft Darmstadt (Archiv). Wolfgang Panzer (1729-1805): „Verzeichnis von Nürnberger 9 Vgl. die weiteren älteren Hinweise bei: Dirk-Gerd Erpen- Portraiten aus allen Ständen“, das seit 1790 mit Fortsetzungen beck: Zur Herkunft des deutsch-baltischen Kupferstechers erschien. – Hessel fertigte von ihm eine Zeichnung an, die Leonhard Heinrich Hessel, in: Ostdeutsche Familienkunde von dem Stecher P.W. Schwartz für einen Kupferstich genutzt 15/1 (1998), S. 26f. wurde. 10 Für eine Einführung zu dieser wichtigen personengeschicht- 26 Siebenkees, Materialien (wie Anm. 6), S. 685. lichen Sammlung vgl.: http://www.ios-regensburg.de/ biblio- 27 Zur Veranstaltung vgl.: http://www.nuernberginfos.de/nuern- thek/bestand/ archive-und-nachlaesse/amburger-archiv.html . berg-mix/erste-ballonfahrt.html . 11 Die Kirchenbücher Narva sind greifbar über: http://www. 28 Das folgende nach: Manfred H. Grieb: Nürnberger Künstler- ra.ee/dgs/explorer.php?tid=20&iid=200100002777&tbn lexikon, Bd. 2. München 2007, S. 647. =1&lev=yes&lst=2&hash=61aa96fd40846b18f52fdd1f- 29 Johann Carl Sigmund Kiefhaber: Nachrichten zur ältern und 34905dfd . neuern Geschichte der Freyen Reichsstadt Nürnberg. Nürn- 12 Zu dieser aus Deutschland stammenden Familie vgl. Georg berg 1807, Bd. 3, S. 187; Kiefhaber verweist dabei auf An- Luther: Sutthof, in: Släktbok (Ny följd) IV: 1-2 Helsingfors noncen im „Friedens- und Kriegs-Courier“ (Nürnberg) 1805, 2009, Sp. 255-316, bes. 265. Nr. 226, 238 und 255. 13 Die Paten sind meist aus dem örtlichen und St. Petersbur- 30 Laubtaler, auch Lorbeertaler, war die deutsche Bezeichnung ger Stadtpatriziat: Hofjunker von Brümmer; Kfm. Bendix für das talergroße französische 6-Livre-Stück, das in Süd- Cramer; Englischer Kaufmann Gottfried Thornton; Frau deutschland gültige Handelsmünze war. Cammerherrin Anna Dücker, geb. Cramer; Wwe. Control- 31 Zur Einordnung derartiger Sprachführer vgl. Fred Otten: Rus- leurin Ladau, geb. Greaves; Jgfr. Anna Catharina Bliscow. sisch-deutsche Verständigungshilfen (1799 und 1813), in: Bi- 14 Estnisches Historisches Archiv / Eesti Ajalooarhiiv Dorpat/ bliothek und Medien 32 (2012), Nr. 2, S. 1-17, zu Hessel S. 9. Tartu (EAA) Fond: 1646-3-4789: Akte betreffend einen Er- 32 Das Exemplar aus der „Kais. Univers. & Landes-Bibliothek bvergleich der Dorothea Hessel, geb. Sutthoff v. 20.4.1776; Strassburg“ (Sign. Cdxx-I) (laut Stempel) ist heute im Be- hier auch die stellenweise unlesbare Vollmacht Hessels aus stand der Bibliothèque Nationale Universitaire, Straßburg Königsberg v. 3.2.1776 (mit Siegel) und die Bestätigung (Sign.: Don, n6792); benutzt werden konnte eine Kopie in durch den Universitäts-Sekretär Friedrich Wattmann. der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne, wofür ich deren Leiter, 15 Georg Erler: Die Matrikel der Albertus-Universität zu Kö- Herrn Dr. Hans-Jakob Tebarth, herzlich danken möchte. nigsberg i. Pr., Bd. II (1657-1829). Leipzig 1911/2, S. 534: 33 Vorhanden: Bayerische Staatsbibliothek München. Signa- Nr. 69: Sommersemester 1774: September: Hessel, Laur. tur: L.rel. 1092; auch als Digitalisat: https://download. digi- Hnr., Narva-Livon.; iur. stud. tale-sammlungen.de/pdf/1368440647bsb10588989.pdf . 16 Götz von Selle: Die Matrikel der Georg-August-Universität 34 Kiefhaber, Nachrichten (wie Anm. 29), S. 187. zu Göttingen 1734–1837. Hildesheim, Leipzig 1937, Bd. 1, 35 Memel war der letzte größere Ort für Einreisende nach Russ- Nr. 10396: Lorenz Heinrich Hessel. Narva, Livonus: jur., ex land über Litauen. ac. Regiomont.: 22.4.1776. 36 Johann Eberhard Zeh: Verleger, Buchhändler und Auktionator 17 Hans Elverfeld: Ein Göttinger Stammbuch aus den Jah- in Nürnberg: * 27.2.1739, † 12.4.1807 Nürnberg, verh. mit ren 1774-1776, in: Baltische Monatsschrift Bd. IXL, Heft 2 Magdalena Arnold, get. 9.2.1737 Nürnberg, begr. 20.8.1776

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 7 Nürnberg (St. Sebald); Zeh hatte bereits 1793 ein anderes Robert Kędzierski (Regensburg) Sprachbuch von Anton Wilhelm Schmidt verlegt. – Sein Stich, deutlich in der Hesselschen Porträtmanier, gestochen von C.W. Bock (1804) in: Deutsche Nationalbibliothek: In- Zusammenarbeit und Kooperation der v.-Nr. Bö-Bl/P/2592; Katalognummer P 60/1909. 37 Im Handel werden z.Z. mehr als 20 Porträts von Hessel ange- Polen aus der Deutschen Volksliste mit boten. den deutschen Besatzern in den ein- 38 Vgl. das Stammbuchblatt mit Clements aufgeklebtem Portrait für den Hornisten Philipp Dornaus im Archiv des Beetho- gegliederten polnischen Gebieten im venhauses in Bonn: http://www.beethoven-haus-bonn.de/ Zweiten Weltkrieg im Licht der natio- sixcms/detail.php?id=&template= opac_bibliothek_de &_ opac=hans_de.pl&_dokid=l186 . nalsozialistischen Besatzungspolitik 39 Histoire et voyages de la petite Nanette Stocker et de Jean Hauptmann. Toulouse 1806, S. 13: Lange Zeit blieb das Thema der Zusammenarbeit http://books.google.de/books?id=4iFRAAAAcAAJ&print- der Polen aus den Deutschen Volkslisten und die sec=frontcover&dq=stocker+hauptmann&hl=de&sa=X- damit verbundenen Mechanismen der nationalsozi- &ei=_42bUY2WEIfOswaR_YGwCw&ved=0CDYQ6A- alistischen Besatzungspolitik unerforscht. Nähere ewAA . Untersuchungen insbesondere in den Einzelveröf- 40 Füssli (wie Anm. 3). 41 Vgl. Elfried Bock (Bearb.): Die deutschen Meister. Beschrei- fentlichungen des Deutschen Historischen Instituts bendes Verzeichnis sämtlicher Zeichnungen, 2 Bde., Berlin in Warschau (Bd. 20 „Polen unter deutscher und 1921 (hrsg. von Max J. Friedländer (Hg.): Die Zeichnungen sowjetischer Besatzung 1939-1945“) und im Buch alter Meister im Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu von Ryszard Kaczmarek „Polacy w Wehrmachcie“ Berlin. Berlin 1921, S. 189, frdl. Hinweis von Herrn Dr. Mi- chael Roth, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. („Polen in der “) werfen ein neues Licht – Die Rötelarbeit in: Katalog der Zeichnungen Nr. 10480. Au- auf die Geschichte der in das Reich eingegliederten ßerdem liegt dort noch ein Schraubband mit mehreren Stichen polnischen Gebiete. Heutzutage wissen wir viel mehr, Hessels vor, der nicht eingesehen wurde. einige Facetten werden durch die neu erworbenen 42 Chodowiecki (wie Anm. 24). Kenntnisse jedoch nicht unbedingt verständlicher. Zu 43 Peter Drews: Christian Gottlieb Arndt – ein vergessener Ver- mittler europäischer Kultur unter Katharina II., in: Anzeiger nennen sind drei Aspekte bzw. Thesen. Erstens: Ehe- für slavische Philologie (1987), S. 51-77, mit zahlreichen bi- malige polnische Bürger leisteten als Volksdeutsche ographischen Einzelheiten, jedoch kein Hinweis auf Hessel einen enormen Beitrag zur deutschen Kriegsmaschi- oder dessen Kupferstich. nerie. Zweitens: Ohne Kollaborationsregime gelang 44 Vorhanden in der Universitätsbibliothek Heidelberg: Graph. Sammlung: P 0450 (auch: http://heidicon.ub.uni-heidelberg. es dem Dritten Reich mit Hilfe der DVL, eine Nation de/id/4941 . Für frdl. Auskünfte danke ich Frau Dr. Zimmer- an allen Fronten für sich kämpfen zu lassen. Und drit- mann, UB Heidelberg. tens: Die Konsequenzen der nationalsozialistischen 45 Sterberegister Nürnberg: St. Jakob: 1819, Nr. 140: „Lorenz Polenpolitik sind bis heute in Deutschland und Polen Heinrich Hessel, Kupferstecher, ledig, 66 Jahre, an Abzeh- spürbar. Diese Thematik stößt vor allem auf ungenü- rung“, frdl. Mitteilung von Herrn Daniel Schönwald, Landes- kirchliches Archiv der ev.-luth. Kirche in Bayern, Nürnberg v. gendes Verständnis der Hintergründe und Mechanis- 15.3.2013. – Es war die letzte Beisetzung auf dieser Grabstät- men der NS-Besatzungspolitik, die hunderttausende te (Nr. 649). von Polen in eine schwierige und komplexe Situation 46 Ulrich Thieme, Felix Becker u.a.: Allgemeines Lexikon der gebracht hatte. Inwieweit und warum die polnische Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 17. Leipzig 1924, S. 223. – Er ist von 1825 bis letztmalig Bevölkerung mit den Besatzern zusammenarbeitete 1835 mehrfach in den Adressbüchern Berlins nachweisbar bzw. mit ihm in Kooperationsverhältnisse trat oder (Jerusalemmerstr. 22 und Leipzigerstr. 94). darin verwickelt wurde, soll in diesem Aufsatz geklärt 47 Ludwig August Graf von Mellin: Atlas von Liefland. Riga: werden. Hartknoch, 1798ff.: Der Wesenbergsche Kreis. Le cercle de Am 28. September 1939 kam es zur Teilung Po- Wesenberg (1803), als Stecher: „J.B. Hoessel in Weimar“. 48 Stephan Sehlke: Das geistige Boizenburg. Norderstedt 2011, lens durch das Dritte Reich und die Sowjetunion. Dies S. 231. – Seine Witwe heiratete 1849 erneut den Kammerin- wurde mit einem Grenz- und Freundschaftsvertrag le- genieur Wilhelm Georg Hertel in Boizenburg. gitimiert [Vgl. MUSIAŁ 2004: 33]. Die neue Gren- 49 Taufe: 7.1.1810 Altenburg: St. Bartholomäi: Taufbuch 1810, ze bildeten die Flüsse San und Bug. NS-Deutschland S. 5, Nr. 10. – Die ältere, unrichtige Angabe, sie sei „eine 2 Tochter des Kupferstechers Hessel (!) in Berlin“, erstmals im erhielt 188.000 km (48,5% des polnischen Staatsge- 2 Nachruf auf ihren Vater Franz B. Dörbeck in der Dorpater bietes, 201.000 km besetzte die UdSSR), inklusive Zeitschrift „Das Inland“ (Nr. 8 v. 19.2.1836, Sp. 123), wurde 22,1 Millionen Einwohner (etwa 80% Polen, 10% Ju- lange Zeit in zahlreiche Handbücher übernommen, richtig da- den, der Rest bestand aus Volksdeutschen, Ukrainern gegen in „Deutsch-baltisches Biographisches Lexikon“ (Köln und Weißrussen) [Vgl. MUSIAŁ 2004: 33-34]. 91.974 1970, S. 172: „Hössel“). 2 50 Zur Familie Dörbeck vgl. Ralph Lansky: Geschichte der Fa- km dieser Fläche mit 10 Millionen polnischen Bür- milie Lansky/Lantzky, in: Baltische Ahnen- und Stammta- gern wurden in das Dritte Reich eingegliedert [Vgl. feln. Sonderheft 31. Darmstadt 2006, S. 152f. MUSIAŁ 2004: 34]. Zu den sog. in das Reich ein- gegliederten Gebieten zählte man die neuen Reichs-

8 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 gaue Danzig-Westpreußen und Wartheland. Ober- derheit angehörten [Vgl. KACZMAREK 2009: 324]. schlesien wurde bedeutend vergrößert (galizische und Das Lexikon der Vertreibungen aus dem Jahre 2010 kongresspolnische Gebiete) und Ostpreußen erhielt erklärt diesen Begriff folgendermaßen: eine Erweiterung nach Süden (Bezirk Südostpreußen Die d. V. (DVL) war ein v. den Nationalsozialisten – Zichenau-Sudauen) [Vgl. BROSZAT 1963: 284]. in den annektierten westpoln. Gebieten entwickeltes Die eingegliederten Gebiete wurden von Reichsstatt- Verfahren zur Klassifikation u. Selektion der Bev., haltern bzw. Oberpräsidenten regiert. Diese wurden d. h. zur Auslese der Deutschen u. Ausgrenzung der auch mit der Parteiorganisation beauftragt und besa- Polen. 1944 war v. über 9 Mio. Einw. in den sog. ein- ßen weitgehende Vollmachten [Vgl. BROSZAT 1963: gegliederten Ostgebieten […] fast ein Drittel in der 284]. Im Reichsgau Danzig-Westpreußen regierte DVL eingetragen. [BRANDES 2010: 186] Gauleiter Albert Forster (1902-1952), im Warthegau Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in den Arthur Greiser (1897-1946), in Südostpreußen Erich eingegliederten Ostgebieten war für die Eindeut- Koch (1896-1986) und in Oberschlesien der Gau- schung vorgesehen. Hitler äußerte am 19. Septem- leiter und gleichzeitige Oberpräsident Fritz Bracht ber 1940 im Gespräch mit Heinrich Himmler, dass (1899-1945). Aus den übrigen Gebieten entstand das eine Million sog. fremdvölkischer Menschen dort Generalgouvernement (GG) mit ungefähr 12,1 Mil- eingedeutscht werden sollte [Vgl. BROSZAT 1961: lionen Einwohnern. Im Verlauf der Operation „Bar- 119]. Die Befehle wurden detailliert in der reichs- barossa“ (Beginn am 22. Juni 1941) wurden die öst- deutschen Zentrale entworfen. Nur die Volksdeut- lichen Gebiete Polens vom Dritten Reich besetzt. Sie schen, deutsch-polnischen Zwischenschichten (z.B. wurden wie folgt aufgeteilt: Der mittlere Teil wurde Mischehen und Familien) und „eindeutschungsfä- dem Reichskommissariat Ukraine zugeordnet, der higen Polen“ sollten die deutsche Staatsangehörig- nördliche Teil dem Reichskommissariat Ostland, die keit erhalten und damit in den Genuss von bestimm- Region Białystok bildete den Bezirk Białystok [Vgl. ten Rechten kommen [Vgl. BROSZAT 1961: 123]. MUSIAŁ 2004: 34]. Die südlichen Teile Ostpolens in Je nach Klasse bzw. dem für die Nationalsozialisten Form des Distrikts Galizien wurden in das GG ein- wichtigen „Feingehalt“ des Deutschtums wurden gegliedert, womit das GG ein Flächenausmaß von die Menschen bewertet und in verschiedene Kate- 2 145.180 km erhielt. An der Spitze des GG stand der gorien eingeteilt. Es gab insgesamt vier DVL-Grup- Generalgouverneur Hans Frank (1900-1946), der di- pen. Zur Gruppe 1 gehörten die Personen, die be- rekt dem Führer des Dritten Reiches unterstellt war. reits vor dem Krieg aktiv für das Deutschtum ein- Die deutsche Besatzungspolitik in den eingeglie- traten [Vgl. MADAJCZYK 2009: 43]. Gruppe 2 derten Ostgebieten war im Gegensatz zum GG durch umfasste diejenigen, die politisch passiv waren; sie beispiellose Germanisierung gekennzeichnet, die die erhielten aufgrund ihres deutschen Bewusstseins brutalsten Formen annahm. Es war ein System der diese Kategorie. Gruppe 3 beinhaltete „polonisierte“ „völkisch-rechtlichen Eindeutschung und Ausson- Deutschstämmige, die man noch zu germanisieren derung“, wie Martin Broszat [1961: 118] in seinem hoffte, und zur Gruppe 4 gehörten Menschen, die Unterkapiteltitel über die NS-Polenpolitik schreibt. Als Mittel für die Aussonderung wurde speziell die vollständig „polonisiert“ waren (sog. „Renegaten“) Deutsche Volksliste geschaffen (künftig DVL). Eine [Vgl. MADAJCZYK 2009: 43]. Es war vorgesehen, besondere Gruppe bildeten hier die sogenannten die Angehörigen der Gruppe 4 umzusiedeln und zu „Volksdeutschen“, also die Angehörigen der deut- indoktrinieren bzw. im Reich zu liquidieren [Vgl. schen Minderheit in Polen. Sie waren polnische MADAJCZYK 2009: 43]. Gruppe 1 setzte sich aus Staatsbürger, die sich als Deutsche verstanden und je den sog. „Bekenntnisdeutschen“ zusammen, die vor nach ihren familiären Verhältnissen in größerem oder dem Krieg deutschen wirtschaftlichen, politischen, geringerem Ausmaß deutsche Wurzeln besaßen. Die kulturellen und sportlichen Organisationen angehört Deutschen Volkslisten hoben die Anzahl der Deutsch- hatten [Vgl. BROSZAT 1961: 122-123]. Die Auf- stämmigen auf fast 3 Millionen an. Im GG wurde die nahme in die DVL war für die Gruppe 1-2 mit dem DVL erst im März 1942 eingeführt, in den eingeglie- Erhalt der uneingeschränkten deutschen Staatsange- derten Ostgebieten offiziell mit dem Führererlass vom hörigkeit verbunden, die Angehörigen der Gruppe 3 12. September 1939 [Vgl. HARTEN 1996: 100]. Die (sog. „wertvolle Fremdvölkische“) mussten damit Anzahl der Volksdeutschen in den eingegliederten rechnen, dass ihre Staatsangehörigkeit (sog. „Frem- Gebieten betrug ungefähr 2,75 Millionen und in GG denpass“) jederzeit widerrufen werden konnte. Alle ca. 100.000 (im Laufe der Besatzung 115.000 Per- Kategorien von 1 bis 3 waren wehrpflichtig [Vgl. sonen) [Vgl. MUSIAŁ 2004: 47]. Man schätzt dabei, MADAJCZYK 2009: 43]. Diese Klassifizierung dass beispielsweise in den eingegliederten Gebieten wurde nicht in Westpreußen und Oberschlesien vor vor dem Krieg nur etwa 600.000 der deutschen Min- dem Frühjahr 1941 angewandt.

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 9 Man muss an dieser Stelle anmerken, dass in Dan- Polenpolitik kann man mit einem Wort beschreiben: zig-Westpreußen und Oberschlesien hunderttausende Verfolgung. Dies betraf auch die katholische Kirche Polen pauschal zu Deutschen ernannt wurden. Sofern in den eingegliederten Ostgebieten. Im nationalsozi- es sich um ehemalige österreichische bzw. preußische alistischen Sinne war der Reichsgau Wartheland in Gebiete handelte, wurde versucht, die Mehrzahl der der Verfolgung der polnischen katholischen Kirche Bewohner einzudeutschen [Vgl. BROSZAT 1961: führend. In einem Brief der deutschen Bischöfe vom 123]. Gauleiter Forster ließ beispielweise die Bevöl- Oktober 1941 beschreiben diese die Situation in der kerung in manchen Orten zu 80% germanisieren (mit Diözese Posen-Gnesen folgendermaßen: Hilfe von DVL Verfahren), um gute Eindeutschungs- Von 681 Geistlichen (1939) haben 22 keine Seel- ergebnisse liefern zu können, und das, obwohl min- sorgeerlaubnis, 120 sind im Generalgouvernement destens 80% der dort wohnenden Menschen Polen (deportiert), 74 erschossen oder im KZ gestorben, waren [Vgl. BROSZAT 1963: 289]. Nicht selten er- 24 außerhalb der Reichsgrenzen, 12 vermisst, 451 in klärten sich die zwangsweise eingedeutschten einen Gefängnissen oder Konzentrationslagern. Von ehem. Tag später in den Briefen an die Ortsgruppenleiter 431 öffentlichen Kirchen und 74 Kapellen noch 30 für Polen [Vgl. BROSZAT 1963: 284]. Im Warthegau Kirchen und 1 Kapelle geöffnet. [Zitiert nach BROS- und Südostpreußen war es dagegen viel schwieriger, ZAT 1963: 292] als Deutscher anerkannt zu werden. Die Polen wurden Eine einzigartige Gruppe stellten im okkupierten national und rechtlich strikt von den Deutschen ge- Polen die „Volksdeutschen“ dar. Die Spezifität und trennt [Vgl. BROSZAT 1963: 284]. Gauleiter Greiser besondere Stellung dieser Bevölkerungsgruppe wur- und Erich Koch hatten sich hier eng an die Rassenide- de im Kontext mit der DVL bereits erläutert. Insge- ologie und Vorschriften des Reichführers-SS Heinrich samt gab es ungefähr 115.000 Personen im GG, die Himmler gehalten, der gleichzeitig der Reichskom- als Volksdeutsche registriert waren [Vgl. MŁYNAR- missar für die Festigung deutschen Volkstums war. Im CZYK 2009: 355]. Dazu galten 50.000 Menschen als Warthegau und Südostpreußen durften sich nur die- „Deutschstämmige“ [Vgl. MADAJCZYK 2009: 44]. jenigen Personen auf der DVL befinden, die minde- Die größte Anzahl der Volksdeutschen gab es aber in stens zu 50% deutscher Abstammung waren und dies den Gebieten, die in das Deutsche Reich eingeglie- auch nachweisen konnten [Vgl. RUTOWSKA 2009: dert waren. Insgesamt umfasste die DVL ca. 2,8 Mio. 210]. Die Unterschiede zwischen den DVL-Ange- Einwohner aus den eingegliederten Gebieten [Vgl. hörigen waren insofern extrem. Gauleiter Forster MADAJCZYK 2009: 44]. Laut Kaczmarek [2010: gelang es bspw., 59% ehemals polnischer Bürger in 55 u. 412] wurden bis Ende 1942 sogar 3,124 Mio. Danzig-Westpreußen einzudeutschen. Im Wartheland in den eingegliederten Ostgebieten in die DVL einge- waren es nur 11,7% [Vgl. ARANI 2008: 425], wovon tragen. Die Personen, die bereits vor dem Kriege der nur zwei Prozent im Warthegau (Stand Januar 1944) deutschen Minderheit (Kategorie 1 und 2 der DVL) in die Kategorie 3 und 4 fielen [Vgl. RUTOWSKA angehört hatten, sind für den vorliegenden Aufsatz 2009: 210]. nicht von Belang, da es sich bei ihnen nicht um zur In allen eingegliederten Ostgebieten wurde die Eindeutschung vorgesehene polnische Deutschstäm- polnische Bevölkerung zur halbfreien Arbeitsbevöl- mige handelte. Wenngleich zahlreiche Fälle nach- kerung degradiert. Ein wirtschaftlicher Aspekt spie- weisbar sind, wo Polen in die DVL 2 aufgenommen gelte sich in der Ausbeutung der Menschen unter un- wurden (z.B. durch Mischehen, freiwilligen Dienst würdigen Bedingungen wider. Die polnischen Arbei- in der Waffen-SS). Wie viele Polen bzw. Personen ter bekamen z.B. 55,5% (im Warthegau), 66,6% (in polnischer Herkunft wie stark in der DVL 2 vertreten Oberschlesien) und 72,7% (in Danzig-Westpreußen) waren, ist schwer einschätzbar; vor allem, weil hier des Durchschnittsgehalts eines deutschen Arbeiters persönliches Empfinden zur Entscheidung, ob sich je- [Vgl. RUTOWSKA 2009: 215]. Dazu kam noch eine mand als Deutscher, Pole oder „beides“ deklarierte, zusätzliche Steuer (die sog. Polenabgabe), die 10- oft von der jeweiligen Familiengeschichte (z.B. ein 30% des Bruttoeinkommens abzog [Vgl. RUTOW- Elternteil Deutscher, Umgebung, Erfahrungen) und SKA 2009: 215]. Die Polen mussten die deutschen Kriterien in den Gauen abhing. Uniformträger grüßen, sie durften keine deutschen Relevant sind für unser Thema jedoch insbeson- Gaststätten besuchen und konnten nur in den für dere die Angehörigen der dritten Kategorie der DVL, die polnische Bevölkerung eingeführten Sperrzeiten weil sie in der Regel polnisch geprägt waren, jedoch einkaufen. Es war verboten, die polnische Sprache ihre deutsche Herkunft offiziell bestätigen muss- öffentlich zu sprechen, und auf Grund der Polenver- ten, wie es z.B. in Großpolen (Warthegau) der Fall mögensordnung vom 17. September 1940 wurden war (mindestens zwei deutsche Großeltern mussten polnische landwirtschaftliche und gewerbliche Ver- nachweisbar sein). Oft reichte aus, eine Herkunft aus mögen konfisziert [Vgl. BROSZAT 1963: 290]. Die Pommern, Schlesien oder dem Wartheland nachwei-

10 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 sen zu können [Vgl. KACZMAREK 2010: 59]. Die denjenigen, die sich skeptisch zeigten, mit Deportati- dritte Kategorie bestand aus Deutschstämmigen, die onen und der Abnahme des Vermögens drohten [Vgl. als polonisiert galten und von denen man hoffte, sie KACZMAREK 2010: 57]. Deutsch-polnischen Ehe- germanisieren zu können. Die Angehörigen der DVL paaren wurde damit gedroht, den polnischen Ehegat- 3 verfügten oft über geringe Kenntnisse der deutschen ten ins Konzentrationslager zu schicken [Vgl. KACZ- Sprache und gehörten vor dem Krieg nicht der deut- MAREK 2010: 57]. In Danzig-Westpreußen wurden schen Minderheit an. Die Kategorie 3 der DVL war diejenigen, die sich weigerten, die DVL auszufüllen, auch die größte. Sie umfasste insbesondere die Bevöl- über ihre deutsche Herkunft belehrt und bekamen kerung aus Oberschlesien und Danzig-Westpreußen. vor der drohenden Strafanwendung (Haft oder KZ) Insgesamt gehörten der DVL 3 etwa 1,96 Mio. Men- acht Tage Bedenkzeit [Vgl. KACZMAREK 2010: schen an, davon lebten 1,02 Mio. in Oberschlesien 61]. Im Laufe dieser Zeit wurden die für die DVL und 0,87 Mio. in Danzig-Westpreußen [Vgl. KACZ- vorgesehenen Personen über die drohenden Konse- MAREK 2010: 55]. Einen Großteil machten insbe- quenzen (Entlassung aus der Arbeit, Zwangsarbeit im sondere die drei Volksgruppen aus, die die slawische Reich, Aussiedlung aus der Wohnung) aufgeklärt, die folgten, wenn sie die DVL nicht unterschrieben [Vgl. Sprache benutzten, aber gleichzeitig mit der deut- KACZMAREK 2010: 61]. Dennoch häuften sich die schen Kultur verbunden waren, gemeint sind die Ka- Absagen in Pommern [Vgl. KACZMAREK 2010: schuben (Kaszubi), Masuren (Mazurzy) und Schlesier 61]. Über die Einschreibemöglichkeit in die DVL (Ślązacy) [Vgl. KACZMAREK 2010: 53-55]. Diese entschieden zwar letztendlich nicht die Betroffenen Volksgruppen werden oft als Polen mit eigener Kultur oder Interessierten, sondern die zuständigen Verwal- und eigenem Dialekt bezeichnet. tungsstellen: Zweigstellen, Bezirksstellen und Zen- Die Angehörigen der DVL 3 erhielten zunächst tralstellen der DVL [Vgl. KACZMAREK 2010: 54]. eine begrenzte deutsche Staatsangehörigkeit, die im Die Polen entschieden jedoch selbst, ob sie sich in die Januar 1942 zwar zur vollen deutschen Staatsan- ausgebauten Fragebögen als Deutsche eintragen lie- gehörigkeit erweitert, aber auf zehn Jahre begrenzt ßen oder nicht und damit auch über die Anwendung wurde und jederzeit widerrufen werden konnte [Vgl. der daraus resultierenden Vorteile oder Konsequenzen KACZMAREK 2010: 53-54]. Danach war geplant, [Vgl. KACZMAREK 2010: 54-55]. Durch die Initi- die DVL 3-Zugehörigen (wenn davor kein Widerruf ative des Kattowitzer Bischofs Stanisław Adamski erfolgte) in die deutsche Staatsbürgerschat endgültig hatten z.B. über 90% der Schlesier angegeben, dass aufzunehmen [Vgl. HARTEN 1996: 101]. Ihre Posi- sie Deutsche seien [Vgl. MADAJCZYK 2009: 44]. tion in der Zukunft schien deswegen ziemlich unklar und heikel. Die Angehörigen der DVL 3 waren auch Solches Vorgehen wurde sogar durch den polnischen in ihren Rechten begrenzt, weil ihnen die Stellen des Untergrund unterstützt, weil man dadurch das pol- Offiziers, des Beamten auf Lebenszeit, des Lehrers, nische Volkstum zu erhalten hoffte [Vgl. MUSIAŁ Meisters und Ehrenfunktionen in der Verwaltung 2004: 47]. Nachdem die deutschen Truppen hohe untersagt waren [Vgl. KACZMAREK 2010: 72]. Verluste an der Ostfront erlitten, spielte die DVL eine Die Wehrpflicht betraf die Kategorien der DVL 1-3 große Rolle. Selbstverständlich waren die Umstände [Vgl. MADAJCZYK 2009: 44]. Die Angehörigen der Teilnahme an der DVL unterschiedlich, nicht alle der DVL 4 wurden aber auch in geringerem Um- Personen sind daher als Kollaborateure zu bezeich- fang in Oberschlesien und Pommern rekrutiert [Vgl. nen. Viele erhofften sich dadurch, Deportationen zu KACZMAREK 2010: 93 u. 149]. Die Anmeldung in vermeiden oder die eigene Familie zu retten [Vgl. die DVL wurde im Herbst 1943 abgeschlossen [Vgl. MUSIAŁ 2004: 47]. Um solche Situationen oder Ent- KACZMAREK 2010: 55]. scheidungen, denen nicht selten hybride bzw. zwei- Das DVL-Verfahren war für alle sich in den einge- deutige Bedeutung und Haltungen zugrunde lagen, zu gliederten Ostgebieten befindenden Menschen obliga- veranschaulichen und sie abzuwägen, sollte man sich torisch. Diejenigen, die sich weigerten, die DVL-Fra- trauen, an dieser Stelle eine unwissenschaftliche Fra- gebögen auszufüllen und abzugeben, mussten mit ge zu stellen „Was hätte ich getan?“ Unter dem Kri- Repressalien rechnen. In Danzig-Westpreußen und terium der Empathie kann man meines Erachtens am Oberschlesien drohte man mit sog. Schutzhaft und bei besten die Situation der Polen, die in das DVL-Ver- sich wiederholender Absage sogar mit Einweisung ins Konzentrationslager [Vgl. KACZMAREK 2010: fahren einbezogen wurden, wenigstens in Ansätzen 54]. In Pommern war vorgesehen, die Polen, die sich verstehen. Dies wiederum zeigt die Komplexität und weigerten, die DVL zu unterschreiben, als „Unter- die Kontroversen, die hinter einer solchen Thematik menschen“ zu behandeln [Vgl. MADAJCZYK 2009: stehen, und macht die ganze Sache spannender und 44]. In Wartheland versuchten die Behörden, die Ein- greifbarer. Eine einfache und allgemeinverbindliche schreibung in die DVL zu beeinflussen, indem sie Erklärung gibt es dafür nicht.

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 11 Wie bereits erläutert wurde, war DVL nicht gleich sien kamen 120.000-150.000 Soldaten [Vgl. KACZ- DVL. Die Angehörigen der Kategorien 1-2 bekamen MAREK 2009: 335]. Kochanowski spricht sogar von bereits am 26. Oktober 1939 die deutsche Staatsan- über 250.000 Soldaten, die aus den besetzten pol- gehörigkeit mit allen Rechten [Vgl. MUSIAŁ 2004: nischen Gebieten in die Wehrmacht eingezogen wur- 44]. Manche von ihnen gehörten der Sturmabteilung den [Vgl. KOCHANOWSKI 2001: 1]. Er betont, dass (SA), Hitlerjugend (HJ), Schutzstaffel (SS), NSDAP es sich insbesondere um Oberschlesier handelte. In oder dem Bund Deutscher Mädel (BDM) an [Vgl. Frage kommen auch Zahlen, die zwischen 400.000- KACZMAREK 2009: 334]. Auch in den SS-Toten- 500.000 oszillieren. Ryszard Kaczmarek schätzt, dass kopfverbänden waren Volksdeutsche vertreten. Im die DVL 3 maximal 500.000 Rekruten erfasst hatte Konzentrationslager Auschwitz arbeiteten 52% der [Vgl. KACZMAREK 2010: 177]. Diese Zahlen ge- Volksdeutschen in der SS als Wächter, 35% in der hen auf die erhaltenen Daten aus den Wehrkreisen Verwaltung. Sie machten je nach Kriegsjahr zwischen in den eingegliederten Ostgebieten zurück. Angaben 6-9% der Besatzung im KZ Auschwitz aus [Vgl. über die Angehörigen der Waffen-SS liegen dagegen KACZMAREK 2010: 354-355]. Die Aufnahme in auch nicht in geschätzter Form vor. Als Beispiel kann alle diese Organisationen war aber für die DVL 1-2 Josef P. aus Królewska Huta dienen. Der Sohn von reserviert, also der deutschen Minderheit in Polen im Julia P. (DVL 3) diente in der Wehrmacht und ge- strikten Sinne vorbehalten. In die Partei wurden nur hörte der DVL 3 an. Er meldete sich im Jahre 1941 diejenigen der DVL 1-2 aufgenommen, die dort seit zur Waffen-SS (wo er bei dem Truppenteil „Standarte mindestens einem Jahr ehrenamtlich tätig gewesen Adolf Hitler“ diente) und argumentierte, dass er und waren (DVL 1), bzw. wenn sie seit 1939 der DVL 2 seine Frau trotz polnischer Herkunft beider Eltern- angehörten [Vgl. KACZMAREK 2009: 332]. DVL 3- paare, auf diesem Weg die DVL 2 erhalten könnten Angehörige konnten nur in die Unterorganisationen [Vgl. KACZMAREK 2010: 76-77]. Seine Frau wur- der NSDAP (wie z.B. BDM oder HJ) aufgenommen de von der DVL 3 in die DVL 2 aufgenommen und werden [Vgl. HARTEN 1996: 102]. Alle Bildungs- ihm wurde die zehnjährige Begrenzung der deutschen einrichtungen standen dieser Gruppe ebenfalls zur Staatsangehörigkeit erlassen [Vgl. KACZMAREK Verfügung, mit Ausnahme eines Hochschulstudiums, 2010: 77]. Die Rekrutierung in die Waffen-SS fand welches ein Stabshauptbeamter der SS genehmigen in geringerem Ausmaß statt. Bis 1943 handelte es musste [Vgl. HARTEN 1996: 102-103]. sich um die DVL-Angehörigen, die sich freiwillig Alle Volksdeutschen wurden bei der Unterbrin- gemeldet hatten, später kam es zu Zwangsrekrutie- gung und der Verpflegung wie „Reichsdeutsche“ be- rungen, die für das Jahr 1944 dokumentiert und be- handelt. Das betraf auch Rechte und Vergünstigungen. kannt sind [Vgl. KACZMAREK 2010: 9]. Als ehe- Sie konnten eine Beschäftigung bei der Polizei oder malige polnische Bürger leisteten die Volksdeutschen innerhalb der Verwaltung finden, wenn sie ausrei- im besetzten Polen insgesamt einen enormen Beitrag chende Qualifikationen besaßen und die deutsche zur deutschen Kriegsmaschinerie. Wenn es auch kei- Sprache beherrschten [Vgl. MŁYNARCZYK 2009: ne genaueren Zahlen dazu gibt (bzw. die Statistiken 355]. Da sie meistens mit der polnischen Sprache und noch nicht gefunden wurden), so ist doch die Tatsache Mentalität vertraut waren, wurden sie vornehmlich in als beachtlich wahrzunehmen, dass eine Nation, die Posten eingesetzt, in denen Kontakt mit der unterwor- kein Kollaborationsregime hatte, mit Hilfe der DVL fenen Bevölkerung gepflegt werden musste. So arbei- an allen Fronten in die Kämpfe für das Dritte Reich teten viele als Dolmetscher, Sachbearbeiter, nahmen einbezogen wurde und sogar sehr erfolgreich. Es gab an Verhören teil, analysierten die illegale Presse, spi- Soldaten, die für ihre Verdienste mit den höchsten Ab- onierten ihre Nachbarschaft aus und wirken als Zu- zeichen ausgezeichnet wurden. Allein im polnischen träger und Provokateure mit [Vgl. MŁYNARCZYK Teil Oberschlesiens wurden 152 Personen mit dem 2009: 355]. Außerdem arbeiteten sie als Agenten für Ritterkreuz ausgezeichnet, das sind 20% aller Ritter- die . Besonders hilfreich waren die V-Leute kreuzträger [Vgl. KACZMAREK 2009: 336]. beim Anwerben von Personen, die ihnen aus der Zwi- Die DVL 3 hatte Hunderttausende von Polen aus schenkriegszeit bekannt waren [Vgl. BORODZIEJ den in das Reich eingegliederten Ostgebieten ein- 1999: 139]. Die Volksdeutschen waren auch bei der bezogen und in die Kriegshandlungen involviert, Judenvernichtung und bei Aktionen tätig, die sich ge- wodurch jene sich in die Länge zogen. Millionen gen Partisanen richteten. von Menschen starben vor allem in den letzten zwei Wie bereits erwähnt wurde, waren die Volksdeut- Jahren des Krieges. Um wie viel länger der Zweite schen aus der Kategorie 1-3 wehrpflichtig. An allen Weltkrieg dank allen nichtdeutschen Soldaten, Frei- Fronten des Zweiten Weltkrieges hatten Volksdeut- willigen und Hilfswilligen aus dem Osten und Westen sche der DVL 3 aus den eingegliederten Gebieten Europas dauerte, ist unmöglich einzuschätzen. Auf in der Wehrmacht gekämpft. Allein aus Oberschle- jeden Fall wesentlich länger. Die Beteiligung der pol-

12 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 nischen DVL-Mitglieder als Soldaten im Krieg war MUSIAŁ, Bogdan: Auf dem Schlachtfeld zweier to- massiv, was eine logische Folge der deutschen Besat- talitärer Systeme. Widerstand und Kollaboration in zungspolitik war. Diejenigen, die eine der DVL Kate- Polen 1939-1945, in: GILZMER, Mechtild (Hg.), gorien 1-3 erhalten hatten und wehrdienstfähig waren, Widerstand und Kollaboration in Europa (= Schrif- wurden früher oder später einberufen. Die DVL-Ver- tenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli, Bd. 2), fahren hatten nach dem Krieg Konsequenzen. Die Münster 2004, S. 31-61. Angehörigen der DVL 1-2 wurden nach dem Krieg HARTEN, Hans-Christian: De-Kulturation und Ger- diskriminiert und vertrieben. Man betrachtete sie als manisierung. Die nationalsozialistische Rassen- und Kollaborateure, Verräter und Volksdeutsche. Die drit- Erziehungspolitik in Polen 1939-1945, Frankfurt am te Gruppe mit der größten Mitgliederanzahl besaß Main, New York 1996. eine andere Stellung [Vgl. BRANDES 2010: 189]. KACZMAREK, Ryszard: Polacy w Wehrmachcie Die Angehörigen dieser Kategorie wurden im Nach- [Polen in der Wehrmacht], Kraków 2010. kriegs-Polen als Polen behandelt. Hundertausende KACZMAREK, Ryszard: Die Kollaboration in den von ehemaligen Angehörigen der DVL 3 bzw. ihre eingegliederten Ostgebieten 1939-1945, in: MŁY- Nachfahren (die Mehrheit) emigrierten größtenteils NARCZYK, Jacek Andrzej (Hg.), Polen unter deut- in den späten 80er Jahren aus Polen in die Bundesre- scher und sowjetischer Besatzung 1939-1945 (= Ein- publik Deutschland [Vgl. BRANDES 2010: 189]. Es zelveröffentlichungen des Deut-schen Historischen handelt sich um Personen, die heutzutage als Teil der Instituts in Warschau, Bd. 20), Osnabrück 2009, S. Gruppe der sog. „Spätaussiedler“ bekannt sind [Vgl. 319-343. BRANDES 2010: 189]. Die Konsequenzen der nati- KOCHANOWSKI, Jerzy: Polen in die Wehrmacht? onalsozialistischen Polenpolitik im besetzten Polen Zu einem wenig erforschten Aspekt der national- sind deswegen bis heute in Deutschland und Polen sozialistischen Besatzungspolitik 1939-1945. Eine spürbar. Problemskizze. – (URL: http://www1.ku-eich- staett.de/ZIMOS/forum/docs/kochan.htm (Stand: LITERATURVERZEICHNIS: 20.09.2012)) ARANI, Miriam Y.: Fotografische Selbst- und Fremd- MADAJCZYK, Czesław: Allgemeine Richtlinien bilder von Deutschen und Polen im Reichsgau Wart- der deutschen Besatzungspolitik in Polen, in: MŁY- heland 1939-45. Unter besonderer Berücksichtigung NARCZYK, Jacek Andrzej (Hg.), Polen unter deut- der Region Wielkopolska, Teilband 1. – (= Schriften scher und sowjetischer Besatzung 1939-1945 (= Ein- zur Medienwissenschaft, Bd. 19.1). – Berlin/Ham- zelveröffentlichungen des Deutschen Historischen burg 2008. Instituts in Warschau, Bd. 20), Osnabrück 2009, S. BORODZIEJ, Włodzimierz: Terror und Politik. Die 37-51. deutsche Polizei und die polnische Widerstandsbe- MŁYNARCZYK Jacek Andrzej: Zwischen Koope- wegung im Generalgouvernement 1939-1944. – (= ration und Verrat. Zum Problem der Kollaboration Veröffentlichungen des Instituts für europäische Ge- im Generalgouvernement 1939-1945, in: MŁYNAR- schichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte, Bei- CZYK, Jacek Andrzej, (Hg.), Polen unter deutscher heft 28) – Mainz 1999. und sowjetischer Besatzung 1939-1945 (= Einzelver- BRANDES, Detlef, SUNDHAUSEN, Holm und öffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts TROEBST, Stefan (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. in Warschau, Bd. 20), Osnabrück 2009, S. 345-383. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säu- RUTOWSKA, Maria: Nationalsozialistische Verfol- berung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln gungsmaßnahmen gegenüber der polnischen Zivilbe- 2010. völkerung in den eingegliederten polnischen Gebie- BROSZAT, Martin: Nationalsozialistische Polenpoli­ ten, in: MŁYNARCZYK, Jacek Andrzej (Hg.), Polen tik 1939-1945. – (= Schriftenreihe der Vierteljahrs- unter deutscher und sowjetischer Besatzung 1939- hefte für Zeitgeschichte, Nr. 2). – Stuttgart 1961. 1945 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Hi- BROSZAT, Martin: Zweihundert Jahre deutsche Po- storischen Instituts in Warschau, Bd. 20), Osnabrück lenpolitik, München 1963. 2009, S. 197-216.

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 13 Dr. Erdmute Lapp Before I was appointed director of Bochum UL I was deputy director and head of information services Library cooperation – in the library of Jülich Research Centre. What follows now is my personal view of library German perspective development: Vortrag vom 21.02.2013, Flämisches 20 years ago special libraries were small and user/ Parlament in Brüssel, anläßlich einer service oriented, they were flexible and performed in the innovation paradigm. University libraries were Fortbildungsveranstaltung zu large and collection oriented, and sometimes they Bibliothekskooperationen were inflexible. Five university libraries on the list Dear Colleagues, have a two-tiered library system with a central library and departmental or institute libraries with their own My name is Erda Lapp, I am the director of Bochum personnel and budget. The two-tiered library system University Library, and I thank you for your invitation was invented in the 19th century, because central li- to speak to you. I feel honored. braries were considered to be inflexible. The Univer- I represent AGUB, the conference of university sity of Bochum was founded in 1965, but its founding librarians in the regional library association of Nor- fathers wanted a two-tiered library system. At that thrhine Westfalia (VBNW). time the image of central university libraries can- We library directors meet on a regular basis, pre- not have been good. Only the universities that were ferably in a library that is in the middle of the Ger- founded after Bochum were designed with integrated man state NRW. (It takes three hours on the train from library systems, even if the library was located in se- Bielefeld in the east to Aachen in the south-west.). veral buildings. AGUB is a forum for the exchange of informa- Small libraries are easier to change and innovate tion and opinions and a network to coordinate steps than larger libraries. (My former boss from Jülich that we think need coordination. Beside the regular developed the theory that under certain circumstances meetings there are working groups: standing working problems grow exponentially with the size of a li- groups with a long term task (information competen- brary.) Some special libraries were among the avant- ce, journal acquisition, ILL) and short term working garde to introduce electronic catalogues, CD-ROM groups that solve one problem and then dissolve (re- networks, customized electronic services. quirements of a regional approval plan system). We Today the service paradigm and the innovation pa- pay for our travel expenses out of our local travel bud- radigm have become generally accepted. We all try to gets. behave as special libraries always have: we serve our Looking at the list of AGUB member libraries, users with a smile, we innovate permanently and we you will notice that two university libraries are actu- look for partners who inspire us. ally special libraries: Although our AGUB meetings are mainly an ex- change of information and opinions, there are some • Aachen TUL initiatives that are truly cooperative. I want to menti- • Bielefeld UL on two of these briefly: Regional libraries: The University libraries Bonn, • Bochum UL Düsseldorf and Münster share the tasks of a regional • Bonn RUL library NRW. They all have large historical collec- • Cologne UL tions, which complement each other; they collect and • Cologne, Library of the German Sports Uni- document regional publications and create the virtual versity regional bibliography together. They also cooperate • Cologne, Central Medical Library on preservation, digitalization and catalogue enrich- • Dortmund TUL ment. • Düsseldorf RUL Alliance of Universities in the Ruhr Region (Bo- • Duisburg-Essen UL chum, Dortmund, Duisburg-Essen): The Ruhr region • Hagen UL is one of the most densely populated areas in Ger- • Münster RUL many, our university leaders agree that we should be- • Paderborn UL come more visible as a research area than as an eco- • Siegen UL nomic problem zone. (Nokia, Opel, Thyssen-Krupp • Wuppertal UL all have created negative headlines in the press.) Although electronic ILL works well in NRW and beyond, we introduced a regional Ruhr ILL, which

14 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 guarantees delivery in 48 hours. Together with our The German National Library is a service provider computer centres we are working on e-authentifi- for cataloguing, authority data, standards, digital pre- cation, which will allow our users to perceive us as servation, long term storage and a provider of leaders- one service provider. We all create bibliographies of hip for the library community. Without the National university publications, and we are currently making Library we may not have had the courage to interna- them searchable in one database. Dortmund selected tionalize our German formats and cataloguing rules. the Summon discovery system, we are testing EDS Since we all depend on the National Library for au- and Summon, and our computer linguist who is set- thority and cataloguing data, they could take the step ting up our testing environment is working closely and libraries followed. The NL represents Germany with the young mathematician who is in charge of in a number of international initiatives, projects and Summon in Dortmund. committees. The Bochum and Dortmund libraries have worked German Research Foundation (DFG): DFG is a as library partners together with archaeologists, soft- strong integrating/ centripetal power in the German li- ware engineers and surveying engineers on the pro- brary and research world. DFG has funded distributed ject ArcheoInf, a project with archaeological field subject collections, virtual subject libraries, innova- data. The project was funded by the German Research tive library projects – and since 2004 national licen- Foundation (DFG). It was a three-year-project, we ces. In contrast to our regional library centre which shared one project position. During the first part of negotiates and coordinates electronic licences, DFG the project a young mathematician and librarian from actually subsidizes acquisitions. Some products are Dortmund was paid out of the project budget. Then completely free of charge for libraries and end users, he was promoted to a permanent position and Bo- some licences are subsidized and interested libraries chum employed an archaeologist and librarian, who have to pay a share, which is considerably lower than worked closely with the mathematician in Dortmund. the list price of the licence. Currently DFG is calling Those two young colleagues presented their research for proposals for a competence centre for licensing at conferences together and published the results in electronic subject information in the sciences and two joint publications. Dortmund is a technical uni- the humanities. In the past large libraries with strong versity and does not teach archaeology, but what we special collections (State Library Berlin, Bavarian learned from this project can be applied to research State Library, State and UL Göttingen, Frankfurt UL, data in any field. Central Technical Library Hanover and also special Regional Library Centre HBZ, Cologne: Talking STM-libraries) have negotiated our national licences. about cooperation, I also want to mention the Region- The text of DFG’s call for proposals suggests that al Library Centre in Cologne. It hosts the regional we will end up with a distributed competence centre. catalogue, coordinates cooperative cataloguing, in- Although several colleagues in these libraries have cluding catalogue enrichment, provides metadata for become excellent negotiators at a high level of pro- e-books, provides the interface between the regional fessionalism, I think it is a good idea to professiona- database and authority data (from the National Li- lize even further. As with most of their projects, DFG brary), coordinates regional ILL, hosts digitized texts plans to provide initial funding only. When the com- and objects (scan-to-web and eRoom), hosts a num- petence centres are running, libraries which are using ber of open access journals and coordinates regional their services will be expected to pay. licences for electronic products. DFG creates a stimulus to use standards by gran- Other German regions also have library service ting projects that use and reinforce current standards. centres and consortia. All German consortia are repre- All project proposals to DFG are peer-reviewed, if a sented in GASCO (German, Austrian and Swiss Con- proposal is not based on current standards, it will not sortia Organisation). The chair of GASCO is Werner get past the reviewers. Reinhardt from Siegen. In GASCO special libraries Open Access: Since 2010 DFG has coordinated are also represented. open access publishing “The Golden Way” – this is The German National Library: It is the task of the the original publication in a (commercial) OA journal; German National Library to collect, to catalogue, to the model is “the author pays” – by subsidizing the archive and to provide access to all German publica- publication of articles in certain peer-reviewed open tions (i.e. publications from German publishers and in access journals. The publication of open access mo- the German language), Germanica published outside nographs can also be subsidized by DFG. A universi- Germany and translations of German publications. ty or institution can apply for a grant if it signed the Since the German National Library was founded as Berlin declaration, provides data on its open access late as 1913, it covers publications that came out after publishing activities, has a written open access policy 1913. and creates an open access fund from which the in-

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 15 stitution pays its own share. Each applicant can get everybody else did, and they inspired us to build up funding for five years. The size of the grant depends the bibliography of university publications. on the institution’s open access activities. As a science and engineering library the Jülich li- Some of the universities in NRW take part in this brary is losing its role as a physical place. Their clients initiative, but some universities are still reluctant. expect to use all materials electronically and often are There is no way a library can apply for a grant like not aware that access to certain materials is a library this without the support of its institution. service. If one of us – university libraries in NRW – wants On the other hand our library has more users than to build up an institutional repository (which allows ever, the library is a laboratory, and we inspired Jülich publishing “The Green Way”) we depend even more to create a forum for doctoral students whose pro- on our universities. In Bochum there has been total in- fessors are scientists in Jülich. The doctoral students difference if not resistance to a coordinated approach come together in the library and present their research to open access until recently. We did not take no for an to each other. Thus the library is providing space that answer and raised the topic again and again. We are in complements the research labs. The colleagues from the process of launching two open access initiatives Jülich and we invite each other to our events and con- this year (“the Green Way” and “the Golden Way”). ferences and share news and ideas. We are partners in Some libraries in NRW have a lot of experience with the innovation paradigm who inspire each other. The open access, and we are lucky to be able to consult secret of the success of this partnership is a deep un- them. The Central Medical Library is an active part- derstanding of and respect for the differences in our ner in building up the German Medical Science por- libraries. tal, and Bielefeld UL is a partner in the EU project Martin-Opitz Library in Herne (Martin Opitz is a OpenAIREplus (Second Generation Open Access In- Silesian baroque poet 1597-1639) has the legal form frastructure for Research in Europe). of a foundation: it is partly funded by the Federal Finally I shall present two cases of cooperation Government, partly by the city of Herne (north of between Bochum UL and special libraries: Bochum). I have served on their advisory board for over 10 years. Bochum University has a strong Sla- • Jülich Research Centre, Central Library, vic department, a chair of Eastern European History, a large science and engineering library university partnerships in Central Eastern Europe. I • Martin-Opitz Library Herne, a special library am also the library’s Slavic subject specialist. Slavic with a collection that focuses on Central Ea- researchers and students from our university use the stern Europe. MO-Library whenever they need special information Jülich Research Centre is Germany’s largest on Central Eastern Europe. It is in the interest of my science and engineering research centre, and in its clients that Bochum UL cooperates with the MOL. We library I learned how to manage information ser- share duplicates and donations that we think have a vices. (Information Services was the most important better home in their library. department in the library.) I also learned how to net- Central Eastern Europe lived behind the Iron Cur- work on the research campus. Some of the nodes of tain for a long time. But this region is very import- this network are still alive. ant for our common European heritage and identity. Jülich Research Centre has research institutes, MOL has always tried to fill the knowledge gap. MOL and the directors of these institutes are also profes- is networked with other libraries, research institutes, sors at NRW universities (the Jülich model). Most museums which are interested in Central Eastern Eu- rope and they have a strong network in Central Ea- institute directors are professors in Aachen, but there are some in other universities, also in Bochum. stern Europe. I try to let my network do good things for the Every other year Martin-Opitz Library gets funds Jülich library and for the Bochum library. And some- to organise a conference in Eastern Europe, which has times my network helps me. (Once the dean of the become a forum for librarians and researchers. I have Bochum chemistry department gave me a hard time, been to fascinating places in Hungary, , the Czech Republic with Martin Opitz. This year the con- and when I mentioned this to one of my friends in ference will take place in Košice, Slovakia. I love to Jülich he said: “Just tell him that I send my regards contribute to these conferences. (Two years ago I gave through you, and he will be friendly.”) a joint presentation with my colleague from Wrocław I meet former colleagues from the library. UL and after the conference a colleague from Poznań The library has been the secret role model for sent me an email note saying that our joint presenta- Bochum. The Jülich library had an institutional re- tion was the highlight of the conference. Can there be pository and worked on bibliometrics long before a better incentive to contribute to this cooperation?)

16 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 I always find the time to write a conference report tuellen Entwicklungen im Bibliothekswesen – nicht with my colleagues from MOL which gets published zuletzt rund um den Aufbau der Deutschen Digitalen in “Bibliothek und Medien”, a journal for Slavic and Bibliothek. East European subject librarians. We also write book Die Einführung in den Tagungszyklus und die Er- reviews for this journal. I feel that over the years we läuterung der Intentionen der Veranstalter übernahm have helped the stakeholders of MOL to realise that Dr. Hans-Jakob Tebarth, der auch einen Rückblick they are funding a jewel of a library, that they should auf die Tagungen des letzten Jahrzehnts unter Ein- be proud of doing so, and that every euro invested in beziehung der vorrangig bearbeiteten Problemfelder this library’s activities is money well invested. bot. Neben inhaltlichen Beiträgen waren auch Studien zum Alltag von Programmierern der Bibliothekssoft- Conclusion ware sowie Vorträge über Spezialsammlungen in die Planung genommen worden – nicht zuletzt sind hier Let me conclude by offering you the following Spezialsammlungen in Polen mit deutschsprachigen thesis: Beständen aus der Zeit vor Ende des Zweiten Welt- The process of researching, publishing, and kriegs zu nennen. Teilweise vergessene Sammlungen using information is changing profoundly and at a können durch die Einbeziehung in den Verbundkata- rapid pace, and new information infrastructures are log östliches Europa, der wiederum über die ViFa- emerging. Scientists and researchers want to seam- Ost (Virtuelle Fachbibliothek östliches Europa, BSB lessly integrate non-textual information (three-d-mo- München) in übergeordnete Wissenschafts- und Bibli- dels, audiovisual objects, research data) into their otheksstrukturen eingebunden ist, recherchiert wer- workflow. Special libraries as well as university libra- den. Tebarth wies darauf hin, dass bei dieser Tagung ries will have to respond to these needs and embrace nicht nur vom Zeitkontingent her dem Workshop zur the changes. We must develop strategies and innova- Einbringung von Digitalisaten ins Internet besondere tion beyond text. Library cooperation will be crucial Bedeutung beigemessen wurde. Die bereits weithin to our success. bekannte Internetpräsenz des Digitalen Forums Mit- tel- und Osteuropa (www.DiFMOE.eu) bietet nicht Hartelijk bedankt voor de aandacht! nur Digitalisate aus dem Bestand der MOB, sondern von vielen namhaften, kooperierenden Bibliotheken Berichte im benachbarten Ostmitteleuropa. Bei seinem Rückblick auf die Startphase des VOE Arkadiusz Danszczyk und Hans-Jakob Tebarth erinnerte Tebarth an die bescheidenen Anfänge und die eigentliche – leider immer noch nicht überholte Stand und Perspektive des – Zielsetzung, kleineren Instituten und Sammlungen, Verbundkatalogs östliches Europa die keinen Zugang zu den etablierten Verbünden ha- ben, die Möglichkeit zu bieten, Ihre Medieneinheiten Am 25. und 26. Oktober 2012 trafen ca. 20 Biblio- im Internet nachzuweisen. Dies liegt nicht zuletzt thekarinnen, Bibliothekare und Institutsvertreter im an der Verwendung der bei fast allen Teilnehmern Vortragssaal der Martin-Opitz-Bibliothek (MOB) eingesetzten freien Bibliothekssoftware „allegro“ – zu ihrer alljährlichen Arbeitstagung zusammen. Alle doch dazu im Folgenden mehr. Im Jahr 2000 brach- zwei Jahre finden die Veranstaltungen mit internatio- ten neben der MOB die Nordost-Bibliothek (Lüne- naler Besetzung bei Partnerinstitutionen in Deutsch- burg, IKGN), das Westpreußische Landesmuseum land oder Ostmitteleuropa statt. In den Jahren zwi- (seinerzeit Münster), die Stiftung Gerhard-Haupt- schen diesen Konferenzen werden die Workshops mann-Haus (Düsseldorf) und das Deutsche Histo- meist in Herne ausgerichtet, der Teilnehmerkreis rische Institut (Warschau) Ihre bis dato erfassten Titel rekrutiert sich dann vorwiegend aus Teilnehmer- in den Katalog ein. Aufgabe war es, eine Erweiterung einrichtungen am Verbundkatalog östliches Europa des Informationsangebots zur deutschen Kultur und (VOE), der inzwischen die Bestände von ca. 30 In- Geschichte im östlichen Europa zu erreichen, den stituten mit annähernd einer Million Nachweisen re- Zugriff zu beschleunigen, die internen Arbeitsabläufe präsentiert, und engen Kooperationspartnern. durch Fremddatenübernahme zu vereinfachen und zu Die Tagungsfolge der Veranstaltung, für deren optimieren. All dies gilt auch heute unverändert fort. Organisation 2012 erstmals Dr. Arkadiusz Dans- Allerdings haben bereits mehrere Institute aus unter- zczyk (seit März des Jahres 2012 Stellvertretender schiedlichen Gründen einen Wechsel in die großen Direktor der MOB) maßgeblich verantwortlich war, Verbünde vollzogen, die Nordost-Bibliothek wird bot wieder ein breites Spektrum von Themen zu ak- voraussichtlich 2013/2014 an das Bibliothekssystem

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 17 der Universität Hamburg angebunden. In Zukunft biet und Pécs/Fünfkirchen präsentierten. Hier konnte wird zu prüfen sein, ob die Bestände der Einrich- auf die überaus guten Kontakte zu Institutionen der tungen, die in anderen Verbünden katalogisieren, wei- Ungarndeutschen und zur Janus-Pannonius-Universi- terhin parallel im VOE nachgewiesen werden sollen, tät Pécs/Fünfkirchen zurückgegriffen werden. da dieser auch Funktionen einer virtuellen Fachbibli- Ein „Runder Tisch“ zur Errichtung der Deutschen othek innerhalb der ViFaOst wahrnimmt und nicht Digitalen Bibliothek bildete den Kern der Veranstal- zuletzt durch die Literatur(vor)auswahl einen Mehr- tung des Jahres 2010 in Herne, an der über den en- wert für interessierte NutzerInnen bietet. geren Kreis der Bibliothekarinnen und Bibliothekare Nur kursorisch konnte Tebarth auf die seit 2003 hinaus auch zahlreiche Institutsleiter sowie Vertreter durchgeführten Tagungen eingehen, wobei er aber des Bundes (BKM) teilnahmen. Die seinerzeit behan- auf diverse publizierte Beiträge – u.a. in den AB- delten Fragestellungen beschäftigen zahlreiche Ver- DOS-Mitteilungen – verweisen konnte. 2003 war der bundteilnehmer bis in die Gegenwart. Der Aufbau ei- VOE zu Gast in Görlitz und tagte im Fortbildungszen- ner digitalen Bibliothek zur deutschen Kultur und Ge- trum für Handwerk und Denkmalpflege. Bezeichnen- schichte im östlichen Europa bleibt Ziel der MOB, die derweise waren „Digitale Bibliothek und Copyright“ Entwicklung von geeigneten Digitalisierungsstrate- und „Die ‚Bibliothek der Zukunft‘ als digitale Bibli- gien und die Konzeption eines Kanons erforderlicher othek und Document-Center“ unter den behandelten Digitalisate bleiben auf der Agenda. Verglichen damit Fragestellungen – das könnte unverändert auch nach dominierten inhaltliche Fragestellungen die Tagung einem Jahrzehnt in die Planung genommen werden. des Jahres 2011, die in Lodz/Łódź in Kooperation mit Die Probleme der „Bibliothek von heute“ werden of- und an der dortigen Universität durchgeführt werden fenbar tradiert. konnte. Unter anderem konnten neue Forschungen an 2004 richtete die MOB die Tagung in Herne aus den in Herne bewahrten Beständen des Archivs der und u.a. wurden Probleme mit der Bearbeitung und Deutschen aus Mittelpolen und Wolhynien mit Wis- Darstellung von Diakritika im Katalog erörtert. Da- senschaftlerInnen aus Lodz/Łódź vereinbart werden. neben wurden Aufsichtscanner und besonders scho- Tebarth leitete zum aktuellen Tagungsthema über, nende Verfahren zur Digitalisierung behandelt. Vielen indem er einen Ausblick auf die für September 2013 TeilnehmerInnen dauerhaft und positiv in Erinnerung geplante international besetzte Tagung des VOE in geblieben sein dürfte die Tagung des Jahres 2005 in Kaschau/Košice bot und darauf verwies, dass damit Breslau/Wrocław in Kooperation mit der dortigen Uni- erneut – wie schon 2009 in Pécs/Fünfkirchen – als versitäts-Bibliothek im Willy-Brandt-Zentrum, mit Standort eine aktuelle europäische Kulturhauptstadt der die MOB über einen formellen Partnerschaftsver- gewählt wird. trag verbunden war und ist. Die historischen Samm- Eine angeregte Diskussion schloss sich an, darauf lungen und besonders das – inzwischen nicht mehr als folgte eine Vorstellungsrunde aller Tagungsteilneh- separater Bestand geführte – „Schlesisch-lausitzische mer, zumal erstmals polnische Gäste aus Beuthen/ Kabinett“ konnten besichtigt werden. Bytom anwesend waren. Die dortigen Bestände sowie Beim Workshop 2006 standen wiederum in Herne Bestände aus Breslau/Wrocław sind prädestiniert für Kostenfragen im Zusammenhang mit der online-Ka- einen Nachweis im VOE, speziell dazu folgten eigene talogisierung in übergeordnete Verbünde im Zentrum. Beiträge. Daneben wurden die verfügbaren OCR-Verfahren Den inhaltlichen Einstieg aus dem unmittelbaren durch Mitarbeiter der Firma Abbyy vorgestellt und Förderbereich „Deutsche Kultur und Geschichte im vorhandene Software ausgiebig getestet. Auch die- östlichen Europa“, mit dem alle Teilnehmerinnen und ser Themenkreis hat – speziell bezogen auf Fraktur- Teilnehmer mehr oder minder eng befasst sind, trug schriften – wenig an Aktualität verloren, auch wenn Professor Dr. Detlef Haberland als „idealtypischer die Softwareprodukte erheblich besser und die mit Benutzer“ der MOB bei. Er war gebeten, sein Ar- dem Einsatz verbundenen Kosten deutlich überschau- beitsfeld im Bundesinstitut und als Hochschullehrer barer geworden sind. Im Jahr 2007 folgte die MOB und Wissenschaftler kurz zu skizzieren, beim Vor- einer Einladung der Wissenschaftlichen Bibliothek trag selbst dann aber auf den Bereich einzugehen, für Reichenberg/Liberec und widmete die Veranstaltung den die anwesenden Bibliothekskräfte arbeiten. Das den deutsch-polnisch-tschechischen Bibliotheksbe- Spektrum zwischen Hochkultur (allgemein bekannten ziehungen. Die Kooperation wird bis in die Gegen- und gelesenen AutorInnen) und Autorinnen und Au- wart fortgesetzt – die Sudetica aus Liberec werden toren, die vom Vergessen-werden bedroht sind, sollte zum Teil im VOE nachgewiesen. Zwei Jahre später abgedeckt oder doch zumindest angerissen werden. beteiligte sich die MOB 2009 mit der Tagung am Ver- Dieser „komplexe“ Tagungsbeitrag war der Tatsa- anstaltungszyklus im Vorfeld des europäischen Kul- che geschuldet, dass bis heute noch kein Kanon der turhauptstadtjahres 2010, in dem sich Essen/Ruhrge- vorrangig zu digitalisierenden Schriften existiert und

18 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 vielfach seitens der Wissenschaft beklagt wird, dass (inzwischen als online-Datenbank erscheinend)“. Um die Digitalisierung seitens der Bibliotheken nicht aktuelle Bestseller wie Herta Müller oder Klassiker schnell genug vorangetrieben wird. Nimmt man die wie Grass oder Kafka muss laut Haberland niemand Martin-Opitz-Bibliothek als Maßstab, so mag dies besorgt sein, eher schon um Johannes Bobrowski oder nicht verwundern, denn nach wie vor erfolgt die Digi- Max Brod. talisierung jeweils nach Bedarfsanmeldung durch die Das Programm wurde fortgesetzt mit einer Präsen- Nutzererinnen und Nutzer. Nur in wenigen Ausnah- tation von Anando Eger, der seit den 1990er Jahren mefällen reichen die personellen Kapazitäten aus, um zahlreiche Bibliotheken, die die Allegro-C-Software systematisch Lücken im Bestand (nicht nur bei den einsetzen, insbesondere im östlichen Deutschland Periodika) zu schließen. betreut. Anhand eines Kurzvortrags stellte Eger die Haberland zeigte schlüssig auf, dass selbst unter Firmenhistorie und seinen beruflichen Werdegang den Fachwissenschaftlern – hier sind zunächst die vor, wobei er als thematischen Hintergrund auf seine Germanisten und Literaturwissenschaftler zu nennen bisherigen Erfahrungen bei der Einbindung von Alle- – noch keineswegs Klarheit darüber herrscht, wel- gro-Katalogen in den KOBV Bezug nahm. In Hinblick che Autorinnen und Autoren vorzugsweise mittels auf aktuelle Projekte legte Eger den Schwerpunkt auf der Digitalisierung online erschlossen werden sollen; die Möglichkeiten der zeitgemäßen Präsentation des und dies ungeachtet der Schranken, die das Copy- VOE im OPAC und Internet. right jenseits der inzwischen gemeinfreien Literatur Den letzten Programmpunkt des ersten Tages der aufzeigt. Unstrittig sah Haberland die Vorrangig- Veranstaltung bildete ein Vortrag von Barbara Drobny keit und das allgemeine Interesse der wissenschaft- und Dr. Piotr Cempulik vom Oberschlesischen Mu- lichen Rezeption bei Joseph von Eichendorff, Gustav seum in Beuthen/Bytom. Gegenstand des Beitrags Freytag, Christian Garve oder den älteren Vertretern waren die Geschichte und die Bestände der dortigen deutscher Literatur im östlichen Europa – wie Mar- Bibliothek, die sich aus zahlreichen Sammlungen von tin Opitz, Andreas Gryphius und Daniel Casper von Spezialbibliotheken aus deutscher Zeit zusammenset- Lohenstein. Aber schon die – historisch keineswegs zen und nach 1945 in Beuthen/Bytom zusammenge- unbedeutenden – Autorinnen und Autoren Christian führt wurden. Die Silesiaca sind von besonderem In- Gryphius, Johannes Honterus, Nikolaus Henel, Ma- teresse für den VOE und sollen sukzessive in den Ka- ria Cunitia sind allenfalls einer kleinen Gruppe von talog eingearbeitet werden. Mit diesem Schritt würde Fachwissenschaftlern noch geläufig und würden dem- erstmals ein Teilbestand einer polnischen Bibliothek zufolge auch kaum vorrangig bei der Gestaltung des (wenn man das DHIW einmal ausklammert) im VOE o.g. Kanons berücksichtigt werden. nachgewiesen. Gründe für das „in Vergessenheit geraten“ vieler Wie Drobny ausführte, schließt sich die Bibliothek Autoren des östlichen Europa ermittelte Haberland räumlich an das Museum an und ist in einem Gebäu- bei der (mangelnden) Berücksichtigung im Oberstu- de lokalisiert, das von dem deutschen Architekten fenunterricht und besonders an den Universitäten. Herbert Hettler projektiert wurde. Es entstand in den Deutschsprachige Autoren des östlichen Europa, die Jahren 1928-1931 nach dem Vorbild des Alten Mu- heute noch gelesen und in der Wissenschaft gewür- seums in Berlin. Der gegenwärtige Bestand der Bi- digt werden, werden dies nicht als regional bedeu- bliothek basiert auf übernommenen Büchern des ein- tende Vertreter, sondern als Vertreter der allgemeinen stigen Oberschlesischen Landesmuseums Beuthen, Hochkultur, was im Übrigen gar nicht zu bemängeln der vorkriegszeitlichen Bibliothek des Schlesischen ist. Dennoch sieht Haberland die Notwendigkeit, am Museums in Kattowitz sowie auf der sog. Sammlung Sammelauftrag gemäß dem § 96 BVFG zumindest der Sichergestellten Bücher aus der Nachkriegszeit. mittelfristig festzuhalten, damit sichergestellt werden Insgesamt umfasst die Präsenzbibliothek derzeit über kann, dass auch die Literaten „der zweiten Reihe“ 58.000 Bände. für die historischen Ost- und Siedlungsgebiete nicht Die Schwerpunkte des Sammelgebiets orientieren vollends in Vergessenheit geraten, weil für diese kei- sich an der Struktur des Museums und gliedern sich in ne rezenten regionalen Sondersammlungsgebiete exi- Archäologie, Ethnographie, Naturkunde, Geschichte stieren. und Kunstgeschichte. Daneben spielen aus Sicht von Haberland schloss seinen Vortrag mit einer inte- Drobny die erwähnten Silesiaca eine bedeutende Rol- ressanten Übersicht des Altbestandes ausgewählter le. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang Institute des Förderbereichs zur deutschen Kultur und naturkundliche Titel, schlesische Kalender aus der Geschichte im östlichen Europa sowie zur Rezeption Zwischenkriegszeit und Titel aus dem Bereich der einschlägiger Autorinnen und Autoren in „Germa- schlesischen Archäologie und Geschichte. Der vor- nistik. Internationales Referatenorgan mit bibliogra- rangig aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammende phischen Hinweisen. Berlin; Boston, Mass. 1960 – Altbestand besteht aus 112 Bänden, wovon der größte

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 19 Teil deutschsprachig ist. Hervorgehoben sei das 1600 Insgesamt sind 5.400 Titel vorhanden, wobei der in Leipzig herausgegebene und kürzlich einer Restau- überwiegende Teil auf die Zeit vor dem Zweiten Welt- ration unterzogene Werk über die schlesische Fauna krieg entfällt. Stirpium et fossilium Silesiae Catalogus von Caspar Anschließend leitete Cencora über zur Digitalen Schenckfeld. Bibliothek und schilderte zunächst die Anwendungs- Die Bibliothek des Oberschlesischen Museums umgebung des elektronischen Lesesaals der UB in Beuthen katalogisiert mit der Bibliothekssoftware Breslau. Anhand eines konkreten Beispiels zeigte er LIBRA nach dem Schlagwortkatalog der Polnischen die Grundfunktionen der Digitalen Bibliothek auf, Nationalbibliothek. Im Jahr 2012 ist sie in die Di- die ebenfalls in die Föderation der Digitalen Bibli- gitalisierung eingestiegen und beteiligt sich an der otheken eingebettet ist. Von besonderem Interesse Schlesischen Digitalen Bibliothek im Rahmen der waren die schlesienbezogenen Digitalisierungspro- Föderation der Digitalen Bibliotheken. Es werden jekte wie z.B. „Cimelia – das regionale und europä- primär Titel mit einem Bezug zu der Stadt Beuthen ische Erbe“. Das Projekt umfasst schlesische Poloni- und der unmittelbaren Umgebung in eine digitale ca bis 1945, Lusatica sowie Stadt- und Reiseführer Form überführt, wobei die Digitalisierung vor Ort, aus Schlesien. Ferner das „Schlesische Archiv für die Nachbearbeitung bisher in der Digitalisierungs- Ikonographie“, welches alte und heutige Fotodoku- werkstatt in Kattowitz durchgeführt wird. Geplant mentationen der schlesischen Architektur, des Kunst- sei, so Drobny, die Einrichtung einer eigenen Di- gewerbes, der Graphik u.ä. vereinigt. Als letztes Bei- gitalisierungswerkstatt, in welcher der gesamte Ge- spiel sei die „Interaktive multimediale Bibliographie schäftsgang in Beuthen erfolgen wird. Schlesiens Teil 1“ genannt, welche alte Drucke und Den Auftakt des zweiten Tagungsteils gestaltete Bücher des 19 Jh. beinhaltet. Nachfolgend stellte Arkadiusz Danszczyk in Arkadiusz Cencora von der Universitätsbibliothek Form eines Praxisberichtes die Einbindung des Do- Breslau, wo er in der Sektion der Wissenschaftlichen kumentenlieferdienstes eBooks on Demand an der Information tätig ist. Zuvor hat Cencora am ehema- Martin-Opitz-Bibliothek vor. Eingangs schilderte ligen Schlesisch-Lausitzer Kabinett der UB Breslau Danszczyk das Konzept und die bisherige Entwick- gearbeitet, das er im ersten Teil seines über ein Vi- lung des EOD-Projekts sowie seine aktuelle Ent- deo-Konferenzportal übertragenen Vortrags thema- wicklung. Das von der ULB Tirol koordinierte Pro- tisierte. Den zweiten Teil widmete er der Digitalen jekt startete mit zwölf namhaften europäischen Bi- Bibliothek und den Digitalisierungsprojekten seiner bliotheken mit dem Ziel, interessierten Nutzern eine Einrichtung. kostenpflichtige Digitalisierung von gemeinfreier Eingangs stellte Cencora die bisherigen Gebäude Literatur nach Wunsch zu ermöglichen. Inzwischen der Bibliothek und ihre Sonderabteilungen vor, um vereinigt das Netzwerk mehr als 30 Bibliotheken, vor diesem Hintergrund das neu errichtete Gebäude darunter die MOB, für welche die Mitgliedschaft zu präsentieren und den Stand des Umzugs zu skiz- eine Erweiterung des Serviceangebotes bei gleich- zieren. Die Restrukturierung und Zusammenführung zeitig überschaubarem Arbeitsaufwand aufgrund der der Sammlungen im neuen Objekt war auch der An- gebotenen zentralen Infrastruktur bedeutet. Im Rah- lass für die Auflösung des zwischenzeitlich -mehr men von EOD bietet die MOB derzeit ca. 10.000 Mo- fach umbenannten Schlesisch-Lausitzer Kabinetts, nographien, die meisten aus der zweiten Hälfte des das 1946 gegründet wurde. Die Grundlage des Be- 19. Jahrhunderts, zur Digitalisierung an. Danszczyk stands bildeten Einzelwerke und Periodika aus der ging ferner auf die seit 2010 online befindliche zen- Vorkriegszeit, wobei das Gros der Universitätsbibli- trale Suchmaschine von EOD ein, die sämtliche di- othek zu Breslau sowie der Stadtbibliothek Breslau gitalisierbaren und bereits digitalisierte Bücher aller zugerechnet werden kann. Quantitativ entfallen auf Teilnehmerbibliotheken nachweist. Weiterhin stellte die Hauptsammlung ca. 110.000 Bände; hinzukom- er die Einbindung des Bestellformulars für die Di- men weitere 100.000 Flugschriften und 9.399 Bände gitalisierungsaufträge, das bei allen digitalisierbaren Wratislaviana, die bis auf das 16. Jh. zurückgehen. Monographien im Online-OPAC der MOB sichtbar Zu den herausragenden Beständen zählen überdies ist. Abschließend wurde der sog. Order Data Manager Schulprogramme aus den schlesischen Gebieten, angesprochen, der die Steuerung und Bearbeitung der Adressbücher und Reiseführer. Bezüglich der Peri- Aufträge, die auf einen Server der ULB Tirol geladen odika ist nach Cencora erwähnenswert, dass die ab werden, von der jeweiligen Teilnehmerbibliothek auf dem 18. Jahrhundert in Breslau herausgegebenen eine komfortable Weise ermöglicht. Da die Dienst- Zeitschriften nahezu vollständig vorgehalten wer- leistung ebenfalls die Volltexterkennung umfasst, den, während nur die Hälfte der Zeitschriften aus zeigte Danszczyk anhand einer Reihe von Beispielen Ober- und Niederschlesien erhalten geblieben sind. die von diversen Faktoren abhängige Erkennungsra-

20 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 te der zumeist in Fraktur abgefassten Texte auf. Alles Die Erstellung der csv-Dateien und die Anpassung in allem erweitert die MOB mit ihrem Altbestand das des image-Namens, der Ausgabe und des Datums war Angebot der im Rahmen von EOD digitalisierbaren Gegenstand der praktischen Übungen, die in kleine- Bücher, profitiert ihrerseits von den Erfahrungen des ren Gruppen an den Rechnern der MOB umgesetzt Netzwerks und kann die erstellten Digitalisate für die wurden. eigene Digitale Bibliothek nachnutzen. Zum Ausklang der Tagung wurden Wünsche und Bernhard Kwoka knüpfte an den vorangehenden Anregungen für die nächste, vom 25. bis 27. Septem- Vortrag an, indem er im Rahmen seines Beitrags mit ber in Kaschau geplante VOE-Tagung besprochen, dem Titel „ViFaOst, VOE und XML“ die Umwand- die im gewohnten Format in drei Sektionen unter- lung von allegro-Datensätzen der VOE-Teilnehmer teilt werden wird. Zum einen wird die Geschichte in das XML-Format thematisierte. Da die Datenlie- der Deutschen im Gastgeberland, der Slowakei, be- ferung an die ULB Tirol ebenfalls in diesem Format handelt. Im Mittelpunkt der zweiten Sektion werden erfolgte, wurde beide Vorträge kombiniert. Kwoka die interethnischen kulturellen Beziehungen und das berichtete zunächst über die bisherige Art der Daten- Bibliothekswesen stehen. Der letzte Themenschwer- lieferung an die ViFaOst, die via Z39.50 erfolgte, und punkt wird sich der Bibliothekstechnik und vorrangig ging anschließend auf die im 1. Quartal 2012 vorge- der Digitalisierung widmen. nommenen Änderungen ein, die durch einen Soft- Besonderer Dank gilt dem BKM, mit dessen warewechsel bedingt waren. Zunächst wurden die freundlicher Unterstützung die Herner Tagung reali- seitens des VOE in allegro verwendeten Datenfelder siert werden konnte. Dankesworte ergehen ebenfalls anhand eines Mappingschemas an die Erfordernisse an die polnischen Gäste und deren wertvolle Anre- der BSB angepasst. Die Datenlieferung erfolgt seit gungen und Initiativen, die in eine intensivere und der Umstellung über ftp. Problematisch erwies sich bereits begonnene Zusammenarbeit münden sollen. die Art der Daten, die infolge von fehlerhaften Ex- portparametern zunächst nicht „wohlgeformt“ waren. Gottfried Kratz Um die Fehlerursache(n) zu identifizieren, wurde die gesamte Datenbank in einzelne kleinere Einheiten un- terteilt und mit entsprechenden Editoren bearbeitet. Das goldene Zeitalter des russischen Auf diese Weise konnten die Fehlermeldungen ein- Buchdrucks in Deutschland. Ein Konfe- zelnen Datensätzen zugeordnet und somit systema- renz- und Ausstellungsbericht aus Mos- tisch lokalisiert werden. Die Korrekturen erforderten kau vom März 2013 wiederum teilweise manuelle Bearbeitung und erneu- te Kontrolle. Aus den einzelnen Datenbanken wurde wieder eine Gesamtdatenbank zusammengeführt und diese an die BSB verschickt. Der gesamte Prozess er- wies sich als ausgesprochen zeitintensiv. Die weitere Datenlieferung erfolgt seitdem additiv. Den Abschluss der Tagung markierte ein von Fa- bian Kopp durchgeführter Workshop. Gegenstand des zweigeteilten Workshops war der DiFMOE-workflow: vom Original zum orts- und zeitunabhängig zugäng- lichen Digitalisat. Das Ziel war es, die Teilnehmer der Veranstaltung in die Lage zu versetzen, selbstständig digitalisierte Periodika in die sog. Kalenderfunktion des DiFMOE-Portals einzubinden. Dem praktischen Teil ging ein Vortrag voraus, in dem Kopp zunächst DiFMOE vorstellte und neueste Erweiterungen und Optimierungen der DiFMOE-Plattform erläuterte. Anschließend schilderte Kopp den allgemeinen Ge- schäftsgang beginnend mit den Projektvorarbeiten bis zur Online-Stellung des Digitalisats. In einem zwei- ten Schritt wurde der Workflow auf die Zeitschriften spezifiziert unter besonderer Berücksichtigung der Kalenderfunktion. Die Digitalisate werden dem je- weiligen Datum über eine csv-Datei zugeordnet und zusammen mit den Images auf den Server geladen.

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 21 Anfang 1924 mahnte der Begründer der neueren Gewidmet war dieses wahrhaft gesamteuropä- Buchwissenschaft in Russland A.A. Sidorov, dass es ische Projekt dem Deutsch-Russischen Kulturjahr nun endlich an der Zeit sei, eine Ausstellung zu ver- 2012/2013, fand allerdings, soweit bekannt, ohne anstalten, die ausschließlich dem russischen Buch in Unterstützung deutscher oder gar europäischer Stel- Deutschland gewidmet sein solle (Gravjura i kniga, len statt. Dessen ungeachtet nahmen an der Veran- M., 1924, 1, S. 16). Nun, nahezu neunzig Jahre später, staltung auf Einladung des DRZ zwei Teilnehmer aus wurde dieser Wunsch endlich Wirklichkeit. Deutschland teil (Prof. Verena Dohrn, Hannover, Ko- Vom 25. bis 26. März 2013 fand im Moskauer ordinatorin des großen Berliner Projektes „Zwischen „Haus des russischen Auslands” (Dom russkogo za- Scheunenviertel und Charlottengrad” und der Unter- rubež‘ja imeni Aleksandra Solženicyna”, kurz: DRZ) zeichnete). Russischerseits nahmen Vortragende aus unter dem Titel „Zolotoj vek rossijskogo knigoiz- Moskau, Petersburg und Rostov am Don teil, deren danija v Germanii” eine Vorlesungsreihe statt, die Beiträge hier kurz vorgestellt werden sollen. Eine vornehmlich den russischen Drucken der Zwischen- Veröffentlichung der Beiträge auf der Seite des DRZ kriegszeit gewidmet war (http://www.bfrz.ru/?mod=- ist angedacht. news&id=1292). Eröffnet wurde die Vortragsreihe, die als „Rund- Eingerahmt wurde die Reihe durch zwei Aus- er Tisch” geplant und als „Konferenz” durchgeführt stellungen auf unterschiedlichen Etagen im gleichen wurde, durch eine Übersichtsdarstellung des Unter- Haus. Die erste Ausstellung, eröffnet am 25.3., galt zeichneten zum russischen Druck in Deutschland: ausschließlich den deutschen Drucken und war mit angefangen vom „Goldenen Zeitalter” der Zwischen- Beispielen aus der Vielzahl der im DRZ vorhandenen kriegszeit und dessen Vorgeschichte, bis zum Ende Drucke aus mehr als einhundert Verlagen bestückt des „Tausendjährigen Reichs” Hitlers. Als nächstes (jetzt zugänglich im Netz auf der Seite des DRZ). folgte ein Vortrag von P.N. Bazanov (SPbGUKI, Pe- Die zweite Ausstellung, die zum Abschluss der Vor- tersburg) zur Forschungsgeschichte zu den russischen lesungsreihe am 26.3. eröffnet wurde, galt dem in sei- Verlagen, der vor allem auf eine Vielzahl von Wie- ner Berliner Zeit äußerst fruchtbaren und vielseitigen derholungen oder Plagiaten in den russischsprachigen Maler und Buchkünstler Aleksandr M. Arnštam. Veröffentlichungen (zum russischen Verlagswesen in A.M. Arnštam, der den Berliner Verlagen „Aka- demija” als „künstlerischer Leiter” und „Artes” als Deutschland) wies. Dabei wurden sogenannte Selbst- „Geschäftsführer” verbunden war (s. Arnštam A., plagiate nicht erwähnt und die Geschichte der nicht in Vospominanija. Per. s francuzskogo. SPb., Izd-vo russischer Sprache vorliegenden Forschungen zu den Novikova 2010, S. 79; XX vek. Dve Rossii – Odna russischen Verlagen in Deutschland blieb insgesamt kul’tura. SPb 2006, S. 143-144) und der die Signets unberücksichtigt. Anschließend folgten Beiträge zu vieler Verlage in Russland (Soskin L.M., Izdatel’skie Einzelfragen. marki Petrograda-Leningrada. M., Novyj svet, Kniga D.D. Nikolaev (IMLI, Moskau) untersuchte, aus- 1995) wie im Ausland zeichnete, wird hier auch mit gehend von den durch Rezensionen als real erschie- seinem Werk aus seiner späteren Zeit in Paris vorge- nen belegten Titeln der Jahre 1918 bis 1920 die zu- stellt. All dies erweitert um Arbeiten seiner Söhne Ki- nächst nur zaghaft in Berlin entstehende Verlagsland- rill und Igor vor allem auf dem Gebiet der Buch- und schaft, ehe sie sich dann bis 1924 gewaltig erweiterte, Plakatkunst aus dieser Schaffenszeit und bis heute. um dann rückblickend insgesamt als Boom bezeich- Beide Ausstellungen wurden durch Eröffnungsreden net werden zu können. Verena Dohrn, die derzeit an und eine Reihe von Kurzvorträgen eingeleitet. einem Großprojekt zur Familie des Ölmagnaten Die gesamte Veranstaltung fand auf Initiative Chaim Kahan arbeitet, stellte kurz die verlegerischen von Frau Tat‘jana Korol‘kova statt, Stellvertreterin Beziehungen der Söhne des Firmengründers vor, die des Direktors des DRZ und zuständig für bibliothe- beispielhaft für das „rossijskoe” knigoizdanie im Rus- karische Projekte. Die Ausstellung der vornehmlich sischen Berlin stehen. Sohn Bendit, der am jiddischen Berliner Drucke aus dem DRZ wurde von deren Mit- und hebräischen Verlagswesen Berlins beteiligt war arbeiterin Frau Nadežda Egorova zusammengestellt, (s. Kühn-Ludewig Maria, Jiddische Bücher aus Ber- die zuvor schon einen mehrseitigen einführenden lin. 1918-1936. 2., erg. Aufl. Nümbrecht (Bruch), Prospekt zur Ausstellung verfasst hatte (Bibliografija, Kirsch-Verlag 2008, S. 198, 216) , während Sohn Ba- 1, 2013, S. 112-113). Die Arnštam-Ausstellung wurde ruch als Inhaber eines gewichtigen Teils von Grün- von dem inzwischen 94-jährigen und eigens aus Paris deraktien und Sohn David als Mitglied des Aufsichts- angereisten Kirill Arnštam gemeinsam mit dem Di- rats des Verlags „Petropolis” bekannt sind. Die zwei rektor des Puschkin-Museums А.V. Tolstoj und dem folgenden Beiträge waren der Zeitung „Rul’” gewid- als Bibliophiler und Kollektionär bekannten Leiter met. A.I. Petruševa (GARF, Moskau) stellte die Ge- der Föderalen Agentur für Druckwesen und Massen- schichte der „Tage der russischen Kultur” vor, wie sie kommunikation M.V. Seslavinskij eröffnet. sich auf Seiten der Berliner russischen Tageszeitung

22 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 „Rul’“ spiegelt. Bemerkenswert waren die Hinweise ferenz schloss mit einem Vortrag von L.N. Mnuchin darauf, welches Emigrationszentrum welche Dichter (Dom Mariny Cvetaevoj, Moskau), Herausgeber der feierte (wobei auf den ersten Blick überraschender- großen Chronik und des mehrbändigen Lexikons zur weise Prag Turgenev feierte), und welche Organisa- russischen Emigration in Frankreich, der den Weg ei- tionen an der Vorbereitung dieser „Tage” auch in den ner Vielzahl russischer Künstler von Russland über kleineren russischen Kolonien beteiligt waren. So Berlin bis nach Paris nachzeichnete. Die von ihm ge- etwa in Dresden (Rul’, 13 ijunja 1925 g., S. 4) Or- nannten Namen erstreckten sich über das gesamte Al- ganisationen von dem Verband russischer Studenten phabet. Außerhalb des im Rahmen der Veranstaltung in Sachsen („Sojuz russkich studentov v Saksonii”) besonders gefeierten A.M. Arnštam ging die Reihe bis zur Dresdner „Bibliothek und Lesehalle”, die nach von Vl. Al. Belkin, dessen Zeichnungen zum „One- dem Statistiker und Ökonomen A.I. Čuprov benannt gin našich dnej” von Leri [V.V. Klopotovskij] im Ber- war („Biblioteka-čital’nja im. prof. A.I. Čuprova)“, liner Verlag von Ol’ga D’jakova 1922 bekannt und einem der Mitgründer der bis heute in Moskau beste- nachgedruckt (Reprint New York 1988) sind , bis zu henden Turgenev-Bibliothek. Nik. Vas. Zareckij. Letzterer dem deutschen Leser vor Frau Zoja Bočarova (MGU, Moskau) stellte die allem in schöner Erinnerung als Verfasser des Büch- rechtliche Lage der russischen Emigranten dar, wie leins „Russische Dichter als Maler und Zeichner”, das sie sich aus den Seiten der Zeitung „Rul’” ergibt, Dm. Tschižewskij vor Jahrzehnten aus dem Nachlass unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Fritjof des Verfassers mit eigenen Ergänzungen herausgege- Nansens für die Rechtsstellung der russischen Emi- ben hatte (Zaretzky N. V., Russische Dichter als Ma- granten. ler und Zeichner. Recklinghausen, Bongers 1960). Abschließend gab Frau Marina Tarasova (ZNB Der Tag schloss mit der Eröffnung der Ausstel- JuFU, Rostov a.D.) eine höchst beeindruckende lung, die der „Dynastie” Arnštam vor allem der Zeit PP-Präsentation der verlegerischen Tätigkeit des in Paris gewidmet war und damit überleitete zu ei- aus Rostov kommenden Großkaufmanns Nikolaj ner zweiten Konferenz in Moskau, die nur wenige Paramonov. Angefangen von dessen verlegerischen Tage später stattfand, veranstaltet vom Dom Mariny Anfängen in Rostov a.D. („Donskaja reč`”) im re- Cvetaevoj. Eine Konferenz, die vor allem dem litera- volutionären Jahre 1905, über seine Tätigkeit in den rischen Schaffen der gesamten Emigration gewidmet Berliner Verlags- und Buchhandelsunternehmungen war, dann aber von Paris als Schwerpunkt nach Berlin „Slovo” und „Logos” in den 1920er Jahren, bis hin überleitete zu Amerika, wohin sich die Emigration in zur verlegerischen Tätigkeit für die nach dem Zwei- den Folgejahren verlagerte. ten Weltkrieg in den DP-Lagern Festgehaltenen. Den Verlagen Letzterer im Ganzen war die folgende Über- sichtsdarstellung von P.N. Bazanov gewidmet. Ab- schließend wurde von A.A. Korol’kov (nicht mit der Organisatorin der Konferenz verwandt) der heute in Dortmund ansässige russische Verlag „Stella.ru” vor- gestellt, der im Netz allerdings nur unter der Adresse http://stella-verlag.com/ zu finden ist (Anfrage vom 7.4.2013). Der zweite Tag der Veranstaltung begann mit einem auf Materialien aus dem Bundesarchiv und Berliner Landesarchiv gegründeten Vortrag von A.V. Lysenko (MGU, Moskau), in dem dargestellt wurde, wie deut- sche Regierungsstellen in der Weimarer Zeit durch Gewährung und Nichtgewährung von günstigen Kre- diten zum Papierkauf Pressepolitik auch in Bezug auf die russische Presse („Vremja”) betrieben. Es folgte ein Vortrag (P.N. Bazanov) zu dem Berliner russischen Verlag „Mednyj vsadnik” und zu dessen Verbindung zu den „Grauzonen” der russischen Emigration, die dem deutschen Leser vor allem aus dem Schlögel- schen Sammelband von 1995 bekannt sind (s. den Beitrag von Christoph Mick in ‚Russische Emigration in Deutschland. 1918-1941.‘ Hg. von Karl Schlögel Umschlag: A.M. Arnštam (Tolstoj L.N., Krug čtenija. Berlin, Akademie Verl. 1995, S. 169 ff.). Die Kon- Berlin, Slovo 1923)

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 23 Dr. Elke Knappe Das Thema des Workshops wird sein: Die Bedeutung des e-books für Buchmarkt und Bibliothek – neue Protokoll der Mitgliederversammlung der Perspektiven für Ost- und Südosteuropa. ABDOS e. V. am 14.3.2013 in Leipzig Dazu werden die Referenten Dr. Rüdiger Salat, Wolfgang Klotz, Dr. Sophia Manns-Süßbrich und Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumen- Nenad Bartolč ić ihre Erfahrungen und Überlegungen tationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa- vortragen. Traduki beteiligt sich am Workshop mit forschung ABDOS e. V. der Finanzierung der Reisekosten für Nenad Bartolčić und der Kosten für die Dolmetscherin. Protokoll der Mitgliederversammlung der ABDOS e. Von 15:00-16:00 Uhr findet im Café Europa tradi- V. am 14.3.2013 in Leipzig tionsgemäß eine Podiumsdiskussion zu Südosteuropa Beginn: 09:00 Uhr statt. Dragoslav Dedović, Heinz-Jürgen Axt, Srečko Ende: 10:15 Uhr Horvat und Verica Spasovska diskutieren zum The- ma: Endstation Kroatien? Südosteuropa und die Per- Tagesordnung spektiven der EU-Erweiterung. Dies ist ebenfalls eine 1. Begrüßung und Genehmigung der Tagesordnung Gemeinschaftsveranstaltung der Südosteuropa-Ge- 2. Wahl des Protokollführers/der Protokollführerin sellschaft und der ABDOS. 3. Genehmigung des Protokolls der Mitgliederver- Für das Jahr 2014 soll eine größere Konferenz sammlung am 15.05.2012 in München (veröffent- zu einem Thema aus Südosteuropa in Kooperation licht in den ABDOS-Mitteilungen, Bd. 32 von Leipziger Messe, Südosteuropa-Gesellschaft, (2012), H.1, S. 45-46) ABDOS und Traduki organisiert werden. 4. Rechenschaftsbericht des Vorstands Herr Warmbrunn informiert die Mitgliederver- 5. Bericht der Kassenprüfer über die Prüfung der sammlung darüber, dass der Entschluss, die Mitglie- Jahresrechnung 2012 derversammlung nicht im Zusammenhang mit der 6. Entlastung des Vorstandes jährlichen Fortbildungsveranstaltung durchzuführen, 7. Tagungsplanung für die Jahre 2012-2016 damit zusammenhängt, dass es noch unklar ist, ob 8. Verschiedenes in diesem Jahr eine solche Veranstaltung stattfinden wird. Es liegt eine Einladung der Nationalbibliothek 1. Begrüßung und Genehmigung der Minsk vor, aber es sind noch einige Unklarheiten zu Tagesordnung beseitigen. Deshalb werden Herr Warmbrunn, Frau Herr Dr. Warmbrunn begrüßt die anwesenden Teil- Djekovic-Sachs und Frau Knappe vom 17.-19.3. die nehmer. Die vorliegende Tagesordnung wird ange- Nationalbibliothek in Minsk aufsuchen und prüfen, nommen. ob alle Bedingungen gegeben sind, eine erfolgreiche Veranstaltung durchführen zu können. 2. Wahl des Protokollführers/ Des weiteren wird mitgeteilt, dass es von der Ta- der Protokollführerin gung in München keinen Tagungsband geben wird, Frau Dr. Knappe wird einstimmig zur Protokollfüh- da sich die beiden Podiumsdiskussionen dafür nicht rerin gewählt. eignen und ein Großteil der gehaltenen Vorträge be- reits in anderen Medien publiziert wurden. Herr Ha- 3. Genehmigung des Protokolls der mann, dem für seine bisherigen Bemühungen um die Mitgliederversammlung am 15.05.2012 in Veröffentlichung der ABDOS-Tagungsbände herzlich München gedankt wird, teilt mit, dass er bereit ist, weiterhin Das Protokoll wird in der vorliegenden Form geneh- in diesem Sinne tätig zu sein und auch Beiträge der migt. Workshops zur Veröffentlichung vorbereiten wird. Seit 2012 erscheinen die ABDOS-Mitteilungen 4. Rechenschaftsbericht des Vorstands unter dem Titel „Bibliothek und Medien Mitteilungen Herr Dr. Warmbrunn berichtet über die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Do- des Vorstandes, der sich im Berichtszeitraum drei- kumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Süd- mal traf. Diese Sitzungen fanden stets am Rande von osteuropaforschung (ABDOS) e.V.“ Herrn Tebarth Veranstaltungen statt, dadurch konnten Reisekosten und Herrn Steiner wird für ihre erfolgreiche Arbeit eingespart werden. Mit einem Workshop und einer gedankt. Podiumsdiskussion (gemeinsam mit der SOG) ist die Frau Djekovic-Sachs informiert die Versamm- ABDOS auch 2013 wieder prominent auf der Leip- lung über den Stand der Finanzen des Vereins. Allen ziger Buchmesse vertreten. Der Workshop wird im Mitgliedern liegt der Jahresabschluss für 2012 vor. Anschluss an die Mitgliederversammlung stattfinden. Daraus kann entnommen werden, dass der Verein zu

24 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Beginn des Jahres über ein Guthaben von 6.926,89 € Neue Publikationen verfügte und damit abgesichert ist, dass er seine sat- zungsgemäßen Aufgaben auch 2013 erfüllen kann. 1. Bibliographie Aus dem Jahre 2012 sind nahezu alle Mitglieder- Tschechen im Rheinland und in Westfalen 1890 – 1918. beiträge eingegangen, es fehlen lediglich vier. Ein Quellen aus deutschen, tschechischen und österreichi- Mitglied hat seit 2009 keine Beiträge mehr bezahlt. schen Archiven und Zeitschriften / hrsg. von Jiří Kořalka Die Mitgliederversammlung beschließt einstimmig, und Johannes Hoffmann. – Wiesbaden: Harrassowitz Ver- dass damit dessen Mitgliedschaft erloschen ist. lag, 2012. – 426 S. – (Studien der Forschungsstelle Ost- Die Finanzabrechnung der Tagung 2011 in Ljubl- mitteleuropa an der Universität Dortmund) – ISBN 978- jana ist als abgeschlossen zu betrachten, da Herr Ka- 3447066976 – Kart. – € 89,00 nič auf mehrfache Aufforderung, Einzelbelege einzu- Der vorliegende Quellenband ist das Ergebnis eines über reichen, nicht reagiert hat. zwanzig Jahre dauernden Forschungsprojekts, das zu- Die Tagung in München 2012 konnte mit einem letzt dem Programm der Ostmitteleuropaforschung an der guten Ergebnis abgeschlossen werden, der Verein er- Technischen Universität Dortmund zugeordnet war. Die Publikation entstand dank der erfolgreichen Kooperation hielt von Traduki und der Südosteuropa-Gesellschaft des tschechischen Historikers Dr. Jiří Kořalka und seines eine finanzielle Unterstützung. deutschen Kollegen Johannes Hoffmann. An den umfang- Nunmehr ist zu prüfen, ob für die Tagung in Minsk reichen Recherchearbeiten war über die beiden Genannten Sponsoren gefunden werden können. hinaus auch die inzwischen verstorbene Frau Dr. Květa Kořalková beteiligt. Die Drucklegung wurde durch das 5. Bericht der Kassenprüfer über die Prüfung Land Nordrhein-Westfalen gefördert. der Jahresrechnung 2012 Den Hauptteil des Bandes bildet eine umfassende, akri- Frau Dr. Karmen Moissi und Herr Tillmann Tegeler bisch zusammen getragene Sammlung verschiedener deut- führten die Kassenprüfung durch, Herr Breckmeier scher und aus dem Tschechischen ins Deutsche übertragener verliest den Bericht. Beide Prüfer bestätigten die ord- Quellen zur Geschichte und Beschreibung tschechischer Vereine in der Region. In chronologischer Reihenfolge nungsgemäße Verwaltung und Verwendung der finan- werden auf ca. 350 Seiten sämtliche tschechische Vereine ziellen Mittel. Dafür wird vor allem der dafür maß- in allen Städten und Gemeinden der Region vorgestellt und geblich verantwortlichen stellvertretenden Vorsitzen- ihre Vereinsgeschichte samt Aktivitäten skizziert. Aufgeli- den und Schatzmeisterin, Frau Dr. Djekovic-Sachs, stet sind zahlreiche Informationen zu Vereinsgründungen, gedankt. Gründungsfesten und Generalversammlungen, Quellen Wahl der Kassenprüfer: Die Kandidaten Moissi wie deutschsprachige Dokumente oder tschechische Zeit- und Tegeler werden einstimmig gewählt und nehmen schriften bzw. Vereinskorrespondenzen werden sorgfältig die Wahl an. berücksichtigt. Im einleitenden Teil erläutern die Verfasser die Hinter- 6. Entlastung des Vorstandes gründe der Immigration von Tschechen in das Ruhrgebiet, einem Schmelztiegel, mit dem man heute eher die Zuwan- Der Vorstand wird von der Mitgliederversammlung derung von 400.000 katholischen Polen, aber auch von bei fünf Enthaltungen (anwesende Vorstandsmit- (einen polnischen Dialekt sprechenden) protestantischen glieder) einstimmig entlastet. Masuren sowie Slowenen verbindet. Die Verfasser vergleichen die Zuwanderung und Orga- 7. Tagungsplanung für die Jahre 2014-2017 nisation der Tschechen mit der zahlenmäßig weitaus grö- Für 2014 liegt eine Einladung nach Hannover vor. ßeren Community der Polen. Während die Ruhrgebiets- Termin: 05.-07.5.2014 polen in der damaligen deutschsprachigen Trivialliteratur 2015: Graz meist negativ als Lohndrücker und fremdartig konnotiert 2016: Herne wurden, finden die Tschechen kaum Erwähnung. Es mag 2017: Vilnius (?) daran liegen, dass die Tschechen im Unterschied zu den Polen nirgendwo geschlossen ansässig wurden, dass ihre Community deutlich kleiner war und sich ihr beruflicher 8. Sonstiges Wirkungskreis weit über den Bergbau hinaus erstreckte. Herr Steiner mahnt an, so schnell als möglich einen Tschechen, die bis 1918 österreichische Staatsbürger wa- Termin für die Tagung in Graz festzulegen ren und somit (im Unterschied zu den Polen) als Ausländer galten, waren der unmittelbaren Gefahr der Ausweisung Leipzig, den 15.03.2013 ausgesetzt. Tschechische Zuwanderer organisierten sich Dr. Jürgen Warmbrunn Dr. Elke Knappe vorbildlich in zahlreichen Vereinen und trugen durch ihre 1. Vorsitzender und Protokollführerin erfolgreiche Integration maßgeblich zum Entstehen der er- sten deutschen „multikulturellen“ Gesellschaft bei. Sitzungsleiter Die meisten Tschechen kamen mit ihren Familien ins Ruhrgebiet wegen der deutlich besseren Verdienstmög- lichkeiten: „So haben unsere Schuster, Schneider, Tischler,

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 25 Schlosser usw. [in Böhmen] für ihre ganzwöchige Plage oder einfach tschechisch] zusammen im Gegensatz zu čes- mancherorts einen niedrigeren Lohn, als ein Arbeiter in koněmecký [deutschböhmisch] (S. 28). Deutschland in einem Tag verdient“, erklärte der führen- Beigegeben ist ein Verzeichnis tschechischer Vereine im de Sozialdemokrat Antonín Němec.“ (S. 15) Die meisten Rheinland und in Westfalen von 1890 bis 1918 nach Orten von ihnen blieben, die Weltwirtschaftskrise verhinderte in alphabetischer Folge samt chronologisch aufgelisteten dann später die Rückkehr. Dabei handelte es sich vor allem Mitgliederzahlen (unter Hinweis auf Vereinsbibliothek und um Einwanderer mit tschechischer Muttersprache; aber Gründungsversammlungen). auch böhmische Juden und Deutschböhmer wanderten ins Bei dem rezensierten Band handelt es sich um eine gran- Rheinland und nach Westfalen aus. diose, in ihrem Detailreichtum schwerlich zu überbietende Unter Berücksichtigung und Auswertung statistischer Quellenedition, die kaum Wünsche zu Fragen des Tsche- Angaben verschiedener offizieller Quellen wie u.a. preu- chentums in Nordrhein-Westfalen offenläßt. Sie richtet ßischer Volkszählungen, amtlicher Nachweise und Aussa- sich ebenso an Spezialisten wie an der Materie allgemein gen tschechischer Vereinsfunktionäre gelangen die Autoren Interessierte. zu dem Ergebnis, dass im Sommer 1914 im Ruhrgebiet Hana Pfalzová etwa 30.000 Tschechen lebten. Angaben zu Siedlungs- ort, Geschlecht und Datierung in Tabellenform tragen zur 2. Buch- und Bibliothekswesen, Information Übersicht bei, eine ergänzende Aufzählung fasst auch die Manuscripta germanica: deutschsprachige Handschrif- Berufszweige der Tschechen zusammen. ten des Mittelalters in Bibliotheken und Archiven Ost- Ein weiteres Kapitel befasst sich mit den von Tschechen europas / Astrid Breith, Christine Glaßner, Klaus Klein, gegründeten Vereinen. Die Verfasser differenzieren da- Martin Schubert, Jürgen Wolf (Hg.). – Stuttgart: S. Hirzel bei kleinbürgerlich-patriotische, sozialdemokratische und Verlag, 2012. – 249 S. – (Zeitschrift für deutsches Altertum katholische Vereine. Es fällt auf, dass keine Sportvereine und deutsche Literatur: Beiheft; 15) – ISBN 978-3-7776- darunter sind, was gerade vor dem Hintergrund des in Prag 2159-3 – Kart.. – € 48,00 gegründeten national geprägten Sokolverbandes [Falke] verwundert. Die sehr gut organisierten tschechischen Ver- Die „Bilanz” (S. 8) einer gemeinsamen Tagung der Ber- eine boten reiche Vortragstätigkeiten zur tschechischen Ge- lin-Brandenburgischen und der Tschechischen Akademie schichte sowie zur tschechischen und internationalen Kul- der Wissenschaften hatte das Ziel, Vertreter(innen) von tur, außerdem Vorträge aus dem Gebiet der Wissenschaft. Handschriftensammlungen und Erschließungsprojekten Für die Jahre 1894 bis 1918 sind 279 Vorträge sowie 268 aus Deutschland und den osteuropäischen Staaten, in deren Theatervorstellungen (S.31) nachgewiesen, für manche Bibliotheken und Archiven sich aufgrund der zahlreichen Darbietungen sind deutschsprachige Rezensionen in den politischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte heut- Akten der hiesigen Polizeibehörden erhalten. Zahlreiche zutage mittelalterliche deutsche Handschriften befinden” Vereine boten Weiterbildungskurse an, darunter Kurse in (Einleitung, S. 9), zusammenzuführen. Am ersten Tag deutscher Sprache, Stenographie und Rhetorik, viele ver- wurden „bereits bestehende Katalogprojekte sowie eini- fügten über eine Bibliothek mit tschechischen und deut- ge international agierende Datenbanken” vorgestellt, am schen Titeln. hier dokumentierten zweiten Tag wurden Bestände und In einem weiteren Kapitel gehen Kořalka und Hoffmann Erschließungssituationen in den jeweiligen Ländern vor- auf die programmatischen Vereinsnamen ein. Häufig griff gestellt. Beiträge aus Litauen, Lettland und der Ukraine man auf Namen von Heiligen und Landespatronen, wie z. fehlen leider. Instruktiv und durch reichliche Angaben B. Václav [Wenzel], zurück. Doch nicht nur von heraus- von Literatur auch in den jeweiligen Landessprachen, aber ragenden Persönlichkeiten der tschechischen Geschichte, auch Internetadressen wesentlich ergänzt werden die ein- wie z. B. Jan Hus oder Komenský [Comenius] ließen sich schlägigen Handschriftenbestände in Estland, Polen mit die Vereinsgründer im Ruhrgebiet inspirieren, sie orien- speziellen Beiträgen zur Universitätsbibliothek Wrocław tierten sich außerdem an moralischen Kategorien, d.h. und zu Beständen in Bibliotheken und Archiven in Toruń, Werten, Eigenschaften und Erwartungen, wie z. B. Svor- Rumänien (mit sehr unterschliedlichen Erschließungssitu- nost [Eintracht], Bratrská láska [Bruderliebe], und wähl- ationen), den zentralen russischen Sammlungen in Mos- ten humanistische Bezeichnungen wie z. B. Dobročinnost kau und St. Petersburg (auch auf „Beutesammlungen” wie [Wohltätigkeit] und Lidumil [Der Menschenfreund]. Zu hier speziell die „Sammlung” Klemm aus dem Deutschen den beliebtesten sozialdemokratischen Bezeichnungen ge- Buch- und Schriftmuseum in Leipzig), in der Slowakei, in hörten die Vereinsnamen Budoucnost [Zukunft] und Vpřed Tschechien (mit ergänzenden Beiträgen aus der Bibliothek [Vorwärts]. Unter den Musikvereinen dominierte die Be- des Prager Nationalmuseums und zu den Aktivitäten des zeichnung Lyra [Leier]. mitveranstaltenden Masaryk-Instituts und des Archivs der Für den mit der Materie nicht vertrauten deutschen Leser Tschechischen Akademie der Wissenschaften) sowie in ist es hilfreich, dass die Verfasser die Bedeutung des Ad- Ungarn dargestellt. Eine andere Perspektive entwirft Ralf jektivs český [böhmisch, tschechisch] erklären und damit G. Päsler (Marburg), der den in Berlin erhaltenen Bestand dem korrekten Umgang mit seinen deutschen Äquivalenten an mittelalterlichen Handschriften aus dem Königsberger Vorschub leisten: In der tschechischen Sprache wird nicht Staatsarchiv beschreibt und auf weitere Standorte hinweist. zwischen böhmisch im territorialen und tschechisch im Mária Papsonová („Die deutsche Besiedlung und das ethnisch-sprachlichen Sinne unterschieden. Damit hängt Deutsche auf dem Gebiet der Slowakei”) skizziert den hi- auch der vor 1918 vebreitete Gebrauch des zusammen storischen Hintergrund der Entstehung deutschsprachiger gesetzten Adjektivs českoslovanský [böhmisch-slawisch Texte in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen

26 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Slowakei und resümiert den linguistischen Forschungs- von Bibliotheksinventaren eingehende Einführung von stand. Jill Beppler Beispiele von „Fürstinnenbibliotheken” vor: Der Band ist eine wichtige Bestandsaufnahme insbe- Alena Richterová die Büchersammlung der Polyxena von sondere für die ältere Germanistik. Neben Bestandsüber- Lobkowitz (1566-1642) in Roudnice (Raudnitz) als „Sam- sichten und Erschließungsprojekten standen „Zukunftspro- meln zwischen Politik und Frömmigkeit im katholischen jekte” insbesondere im Bereich der gemeinsamen Erschlie- Böhmen” (einschließlich der Übernahme von zwei kon- ßung und der Digitalisierung auf der Tagesordnung. Dafür fiszierten Bibliotheken böhmischer Exulanten nach der schafft dieser Tagungsband eine wesentlich verbesserte Schlacht am Weißen Berge 1620). Mit dem Blick auf Für- Ausgangslage. stinnenbibliotheken in Hessen-Darmstadt, Sachsen-Gotha, W.K. Braunschweig-Wolfenbüttel und Holstein-Gottorf wird die Perspektive in den mittel- und nordeuropäischen Raum er- Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der weitert. Auf die Rolle der „Fürstin als kulturelle Vermitt- Frühen Neuzeit: die böhmische Bibliothek der Fürsten lerin” weisen die abschließenden drei Beiträge, ebenfalls Eggenberg im Kontext der Fürsten- und Fürstinnen- sämtlich von Autorinnen, hin: Gabriele Ball stellt anhand bibliotheken der Zeit / hrsg. von Jill Bepler und Helga der von Anna Sophia von Schwarzburg-Rudolstadt (1584- Meise. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2010. – 412 S. 1652) begründeten Tugendlichen Gesellschaft, eine der – (Wolfenbütteler Forschungen; 126) – ISBN 978-3-447- wenigen Frauensozietäten zu Beginn des 17. Jahrhunderts, 06399-59 – Geb. – € 89,00 die „Programmatik eines adeligen Frauennetzwerkes in der Frühen Neuzeit” vor. Nach Český Krumlov zurück Ziel der Tagung im September 2008, aus der dieser Band kehren Jitká Radimská und Miroslava Durajová, die Ma- hervorgegangen ist, war es, „die durch die tschechische ria Ernestina von Eggenberg (1649-1719) als „Sammlerin, Forschergruppe erschlossenen historischen Bibliotheksbe- Leserin und Übersetzerin” vorstellen, die vor allem fran- stände der Familie Eggenberg in der Schlossbibliothek in zösischsprachige Schäferromane und Romane aus dem Český Krumlov (Böhmisch Krumau) zu präsentieren und Adelsmilieu las, deutsch geschriebene Romane allerdings sie mit anderen Fürstenbibliotheken der Epoche in Bezie- im Original, und Seneca aus dem Französichen ins Deut- hung zu setzen” (S. 7-8). Wie spätestens seit dem „Hand- sche übersetzte. Mit gedruckten und ungedruckten Koch- buch deutscher historischer Buchbestände in Europa” (Bd. und Medizinbüchern eröffnet zum Schluss Beatrix Bastl 2. Hildesheim 1997) bekannt ist, sind Schlossbibliotheken eine neue Perspektive auf den „kulturellen Beitrag der Er- in den böhmischen Ländern weitgehend besser erhalten als nährung und Medizin adeliger österreichisch/böhmischer beispielsweise in Polen. ‘Hausherrinnen’”. Im 18. Jahrhundert dominierte, worauf Die ersten beiden Beiträge führen in das historische Um- die Herausgeberinnen nur hinweisen können (S. 13), bei feld ein: Václav Bůžek entwirft ein lebendiges, reich illus- den hochadligen Damen die „französisch ausgerichtete Bi- triertes Bild der „Adelslandschaft der böhmischen Länder bliothek”. im 16. und 17. Jahrhundert”, Marie Ryantová umreißt vor Der Band bietet, auch durch die im Anhang zu den Bei- allem die kulturhistorische Bedeutung der aus der Steier- trägen abgedruckten instruktiven Abbildungen, neue mark stammenden „Fürsten Eggenberg in Český Krumlov / Einblicke in die frühneuzeitliche Adelskultur in den Böhmisch Krumau”. Den europäischen Kontext der „Text- böhmischen Ländern in ihren mitteleuropäischen Bezü- bibliothek der eggenbergischen Hofkomödianten” dort aus gen. Ihre Protagonist(inn)en waren Vertreter(innen) einer den Jahren 1676-1691 umreißt Bärbel Rudin, eher Hinweis- europäischen Adelskultur, wie die Vergleichsbeispiele, bei charakter hat Adolf Scherls kurzer Beitrag zur „deutschen denen man sich vielleicht einen stärkeren Bezug auf die Rezeption von Francesco Sbarras La Moda auf der Prager anderen habsburgischen Länder wünschen könnte, zeigen. Bühne”. Unter der Überschrift „Sammlerprofile” behandelt Literatur- und Theatergeschichte werden von dem buch- der zweite Abschnitt „die Hofbibliothek zwischen adeliger und bibliotheksgeschichtlichen Ansatz ebenso profitieren Selbstdarstellung und Institutionalisierung”. Auf die Be- wie die Kulturgeschichte des Adels. Innovativ ist der zwei- schreibung der Hispanica, der italienischen Bücher und der te, nur zum Schluss noch einmal auf Böhmen rekurrieren- deutschsprachigen Drucke in der Schlossbibliothek durch de Teil zur Bedeutung der Fürstinnen im bibliotheks- und Jaroslava Kašparová, Jiří Pelán bzw. Václav Bok folgen kulturgeschichtlichen Kontext der Zeit. Das von der Doro- Beispiele aus dem ostmitteleuropäischen Kontext: Richard thee-Wilms-Stiftung geförderte Projekt der Herzog August Šipek untersucht anhand der in der Nostitz-Bibliothek im Bibliothek und der Forscher(innen)gruppe aus Tschechien Nostitz-Palais auf der Prager Kleinseite erhaltenen, von hat mit der Tagung einen hervorragenden Abschluss gefun- Otto d.J. von Nostitz (1608-1665) im schlesischen Jauer den. Hinweise auf weitere, in tschechischer Sprache ge- (Jawor) zusammengetragenen Bibliothek „Rekatholisie- druckte Beiträge aus dem Umfeld des Projekts findet man rung und Lesernotizen” mit in ihrer Art singulären handge- in den Fußnoten. schriebenen Erklärungen und Entschuldigungen, vor allem W.K. „sine approbatione contentorum”, Bücher protestantischer Verfasser; Kathrin Paasch stellt mit dem Schwerpunkt im 18. Jahrhundert „Die Hofbibliothek des Herzogtums Sach- sen-Gotha(-Altenburg)” hinsichtlich ihrer „Funktion und Nutzung im 17. und 18. Jahrhundert” vor. Der zweite Teil ist den Fürstinnen gewidmet: Fünf Au- torinnen stellen nach der insbesondere auf die Bedeutung

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 27 4. Osteuropaforschung Die „Selbstbezogenheit der livländischen Chronistik auf Livland” (S. 219) ist als Ergebnis keine Überraschung, die Baltikum abschließende Generalisierung „Identität, Alterität und Hy- bridität” (S. 220-221) ist zu generalisierend. Ein Personen- Dennis Hormuth: Livonia est omnis divisa in partes register, das helfen könnte, Querbezüge herzustellen, fehlt. tres: Studien zum mental mapping der livländischen Hormuth leistet einen vom Ansatz her innovativen, bei Chronistik in der Frühen Neuzeit. – Stuttgart: Franz allen Schwächen im Detail durchaus interessanten Beitrag Steiner Verlag, 2012. – 248 S. – (Quellen und Studien zur zur Geschichte der Anfänge der Geschichtsschreibung in Geschichte des östlichen Europa; 79) – ISBN 978-3-515- Livland. 10097-7 – Kart. – € 44,00 W.K. „Die vorliegende Arbeit handelt von dem „Spannungsfeld unterschiedlicher Selbstverortungen, das auch ein Überla- Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Livland / gerungs- oder Ergänzungsfeld sein kann, und nimmt dabei hrsg. von Matthias Thumser. – Berlin: LIT Verlag, 2011. das Livland der Zeit zwischen dem Beginn des Livländi- – 306 S. – (Schriften der Baltischen Historischen Kommis- schen Krieges 1558 und dem Ende des Großen Nordischen sion; 18) – ISBN 978-3-643-11496-9 – Kart. – € 29,90 Krieges 1721 in den Blick”, skizziert der Autor den Inhalt Ausgenommen den abschließenden Beitrag Volker Hone- seiner Kieler Dissertation. Es kann schließlich durchaus manns „Zu Selbstverständnis und Identitätsvorstellungen reizvoll sein, mit einer modernen „analytischen Metho- in der livländischen Geschichtsschreibung des Mittel- de” (S. 21) ein bekanntes historiographisches Textkorpus alters” enthält der Band sieben Beiträge der Göttinger zu analysieren. Hätte Hormuth den Aufsatz von Christoph Kommissionstagung im Mai 2008, die „einen Anfang bei Schmidt „Über die Grenze zwischen Estland und Livland der Beschäftigung mit der Geschichtsschreibung im mit- und ihre Bedeutung für die Agrar- und Religionsgeschichte telalterlichen Livland bedeuten” sollte (Vorwort, S. 10). (in: Zeitschrift für Ostforschung 40.1991, S. 500-521) gele- Honemanns Beitrag passt hervorragend als Abschluss des sen, hätte er vielleicht nicht das „terminologische Problem” Bandes, fragt er doch nach der Intention der Autoren und (S. 11-12) gehabt und hätte nicht, eingedenk der Lebens- der aus den Werken ablesbaren livländischen Identität. wirklichkeit seiner Autoren, eine „Terminologie, die nach Arno Mantzel-Reuters weist eingangs des Bandes in ei- Lettland, Estland und Kurland unterscheidet” für „ana- ner überzeugenden quellenkritischen Untersuchung nach, chronistisch” (S. 11) gehalten. Die Verwunderung, dass ein dass Konstantin Höhlbaums Rekonstruktion einer Bartho- Kirchenbuch „vornehmlich auf sein Kirchspiel bezogen” lomaeus Hoeneke zugeschriebenen „Jüngeren livlän- ist und der Hinweis, dass Chroniken „in der Regel auch dischen Reimchronik” (1872) „auf nicht gesicherten, teil- Tendenzschriften” sind (S. 25), weist zumindest auf eine weise sogar falschen Voraussetzungen” aufbaut (S. 53). gewisse Unvoreingenommenheit des Vf. Mit der Frühen Anti Selart zeigt, dass die livländische Chronik Hermanns Neuzeit des Raumes nicht vertraute Leser(innen) führt er von Wartberge (nach 1378) „ein Geschichtswerk [ist], zunächst in den „Historischen Hintergrund” einschließlich das dem praktischen Verwaltungsschrifttum nahesteht” Religion und Geistesleben ein. (S. 82). Am Beispiel Christoph Forstenaus, Silvester Sto- Im zentralen Teil untersucht Hormuth die Geschichts- deweschers und Hermann Heleweghs illustriert Thomas darstellungen von neun Autoren von Rüssow (1578) bis Brück, dass und wie „auch in Alt-Livland während des Wrangell († 1726, veröffentlicht 1845) jeweils unter den 15. Jahrhunderts Chronistik zunehmend zum Mittel der vier Aspekten 1. Lokale Selbstverortung, 2. Kleinregionale Politik wurde” (S. 125). Matthias Thumser arbeitet he- Selbstverortung, 3. Großregionale, religiöse und konfessi- raus, dass ein gegen Russland gerichteter Traktat aus dem onelle Selbstverortung und 4. Politische Selbstverortung, Jahre 1508 als antirussische Propagandaschrift zur Unter- um abschließend knapp die jeweilige „mental map” zu cha- stützung der Livland zugutekommenden Ablasskampagne rakterisieren. Es ist schon reizvoll, anderthalb Jahrhunderte im „Reich” verfasst worden ist. Klaus Neitmann beweist, livländischer Chronistik nach demselben Schema analy- dass Johann Lohmüllers „evangelische Geschichte Li- vlands” 1556 ein Auftragswerk Herzog Albrechts von siert zu sehen, auch wenn Hormuth es beim unkontextu- Preußen gewesen ist und dessen Position im Vorfeld der alisierten Inhaltsreferat belässt und die Faktenprobe fehlt. Rigaer Koadjutorfehde fundieren sollte: „In Anlass und Ausgehend von Axel Gotthards Darstellung „vormoderner Zweck des Werkes liegt die Grenze von Lohmüllers Hi- Lebensräume” skizziert er anhand der analysierten Texte storiographie” (S. 198). Antje Thumser untersucht quel- in einem Exkurs „Landesbeschreibung und Raumwahrneh- lenkritisch „Livländische Amtsträgerreihen des Mittelal- mung der livländischen Chronistik” und wirft seinen Auto- ters” und zeigt ihre identitätsstiftende Funktion. ren vor, sie hätten den Leser der jeweiligen Chronik „über Der Band erreicht sein Ziel, „den Blick [zu] öffnen auf den räumlichen Aspekt im Unklaren gelassen” (S. 179). So die chronikalische Überlieferung einer Region, die sei- bleibt auch seine „Synthese: Die mental maps der livlän- nerzeit zwar weitab von den Zentren des lateinischen Eu- dischen Chronistik im 16. und 17. Jahrhundert” (S. 181- ropa lag, aber kulturell dennoch integriert war” (S. 11). 216) eher mechanisch, wie überhaupt Hormuth das aus- Vorbildlich redigiert und durch ein Personen- und Orts- gewählte Textkorpus nicht mit der gebotenen historischen register erschlossen, entdeckt er quellenkritisch zumeist Erudition (was heißt zum Beispiel, Livland habe sich an den bislang weniger bekannte historiographische Texte und „politischen Angeboten des [Heiligen Römischen] Reichs” weist über die Texte hinaus auf ihre gesellschaftliche und beteiligt [S. 212]?) interpretiert, sondern die Texte eher politische Funktion. formalistisch nach den einschlägigen Aussagen vergleicht. W.K.

28 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Ostmitteleuropa Der Band ist die erste wissenschaftlich fundierte Gesamt- darstellung in englischer Sprache nach „The Cassubian Ci- The Kashubs: Past and Present / Cezary Obracht-Prond- vilization” von Lorentz und anderen 1935, hat aber auch zyński and Tomasz Wicherkiewicz (eds). – Oxford; Bern kein wirklich brauchbares aktuelles Pendant in deutscher [u.a.]: Peter Lang, [2011]. – VII, 299 S. – (Nationalisms Sprache. Er stellt – was durchaus von Wert ist – weitgehend across the Globe; 2) – ISBN 978-3-03911-975-2 – Brosch. aus der Binnenperspektive die wesentlichen historischen, – € 46,30 kulturellen, regionalen und sprachlichen Aspekte der mo- Seit Ernst Seefried-Gulgowski 1911 von den Kaschuben dernen kaschubischen Identität in Polen dar und weist auf als „Von einem unbekannten Volke in Deutschland” ge- Möglichkeiten und Probleme eines sprachlich definierten schrieben hat, finden die Kaschuben, ihre Sprache und Regionalismus. Als Einführung und Orientierung über die Kultur bis heute immer wieder Interesse in Deutschland. Kaschuben kann man das Buch nicht nur Slavist(inn)en Die Arbeiten Friedrich Lorentz’ aus den Jahren der Wei- wärmstens empfehlen. W.K. marer Republik sind heute abseits wissenschaftlicher Bi- bliotheken nicht ohne weiteres zugänglich, aber auch nicht mehr aktuell, seit sich in der Kaschubei (vgl. die Karte auf Kommunikation durch symbolische Akte: Religiöse He- S. 4) ein auf der kaschubischen Volkskultur aufbauender terogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen Regionalismus entwickelt und den Gebrauch der kaschu- / hrsg. von Yvonne Kleinmann. – Stuttgart: Franz Steiner bischen Sprache wiederbelebt hat. Józef Borzyskowski, Verlag, 2010. – 305 S. – (Forschungen zur Geschichte und die führende Persönlichkeit in dieser „Kaschubischen Wie- Kultur des östlichen Mitteleuropa; 35) – ISBN 978-3-515- dergeburt”, hat dazu seit den 1980er Jahren, nach ihm vor 09419-1 – Geb. – € 48,00 allem der Hrsg. Obracht-Prondzyński zahlreiche Arbeiten Das „vorliegende Buch” ist seit 2004 „in unterschiedlichen in polnischer Sprache veröffentlicht (vgl. die „Bibliogra- institutionellen und gedanklichen Zusammenhängen ent- phy”, S. 257-274), doch findet man die Summe dieser standen” (S. 7). Ausgehend von Cassirers Symbolbegriff, Arbeiten nur ausnahmsweise in verstreuten Aufsätzen in beginnt er nach der Einführung durch die Herausgeberin westlichen Sprachen. Der 2000 in Danzig und Travemün- „Zur Vieldeutigkeit von Symbolen in der Kommunikati- de herausgegebene zweisprachige Band „Pomorze – mała on zwischen den Religionsgemeinschaften Polen-Litau- ojczyzna Kaszubów = Kaschubisch-pommersche Heimat” ens” mit zwei unterschiedlichen, in keinem Bezug zum ist – wegen der redaktionellen und sprachlichen Mängel „empirischen Teil” (S. 13) stehenden lesenswerten „The- der Übersetzung zu Recht – in Deutschland wenig verbrei- oretischen und methodischen Zugängen” von Volker Got- tet, so dass trotz relativ starken Interesses eine brauchbare towik zum „Binnenverhältnis von Ethnographie und Hi- Übersichtsdarstellung fehlt. storiographie”. Die zwölf weiteren Beiträge beleuchten in In diese Lücke stößt der hier in der Veröffentlichungs- drei Unterabschnitten, [1.] „Religiöse Heterogenität und reihe zu – hier wertneutral verstandenen – „Nationalisms” Herrschaftpraxis”, [2.] „Grenzkonstruktionen” sowie [3.] veröffentlichte Band, der, wesentlich aus der kaschu- „Kommunikation durch symbolische Akte”, die im Titel bischen Perspektive nach drei Jahrzehnten intensiver For- benannten Fragen. schungs- und Publikationstätigkeit, nach dem aktuellen Michael Müller beleuchtet für Polen instruktiv die „Tole- Wissens- und Forschungsstand „die Kaschuben” vorstellt. ranz vor der Toleranz”, d.h. „konfessionelle Kohabitation Ihre Geschichte und Kulturgeschichte „until the End of und Religionsfrieden”, schwächelt allerdings bei der we- Communism” umreißt deren wohl bester Kenner, Józef sentlich auf den grundlegenden Arbeiten Márta Fatas zu Borzyskowski. Die linguistische Seite des modernen Ka- Ungarn beruhenden Ausweitung auf das „frühneuzeitliche schubischen und seiner Dialekte einschließlich der Sprach- Osteuropa”. Weiter behandelt werden hier die Politik der geschichte und der Forschungsgeschichte unter besonderer Magnaten gegenüber ihren jüdischen Untertanen in der Berücksichtigung der Sprachverwendung skizziert Jerzy polnischen Adelsrepubik (Adam Kaźmierzak), die „religi- Treder, der zusammen mit Obracht-Prondzyński das „Phä- öse Polyphonie” in der der polnischen Krone gehörenden nomen” der kaschubischen Literatur, seine Geschichte und Stadt Sandomierz (Christoph Augustynowicz mit dem seine historische und aktuelle „Social Dimension” zusam- wichtigen Hinweis auf die Differenz(en) zwischen Stadt- menfasst. Tomasz Wicherkiewicz führt in den rechtlichen und Adelsgesellschaft, S. 97) sowie das diplomatische und politischen Rahmen des Gebrauchs der modernen Zeremoniell beim Empfang von Gesandtschaften aus Po- kaschubischen Literatursprache sowie in dessen soziolin- len-Litauen durch die Pforte (Tetiana Grygorieva). Zum guistische Dimensionen ein. Die aktuelle Lage unter be- zweiten Themenkomplex zeigt Myroslava Keryk („Artists sonderer Berücksichtigung der Rolle von Organisationen, betwixt and between”), wie im frühmodernen Lemberg Institutionen und der römisch-katholischen Kirche sowie (L’viv, Lwów) „artisans, regardless of their religious and der Rahmenbedingungen in Polen analysiert abschließend ethnic origin, served in their professional activity as a cul- durchaus kritisch Obracht-Prondzyński unter dem Aspekt tural link between the city’s various religious groups” (S. der „Dilemmas of Modern Kashubian Identity and Cul- 155) und wie der katholische Barockstil von der jüdischen ture”. Das Beispiel eines kaschubischen Textes, eine Zeit- und der unierten Gemeinde für ihre jeweils spezifische tafel, ein Adressenverzeichnis kaschubischer Institutionen symbolische Kommunikation benutzt wurde. Judith Kalik sowie von „Selected Kashubian Websites” ergänzen die untersucht „Erotic Attraction, Sex, and Love between informativen Texte. Ein Kreuzregister erschließt Personen- and Christians” im polnisch-litauischen Commonwealth, und geographische Namen sowie Sachbegriffe. Magda Teter „Crime and Sacred Spaces in Early Modern

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 29 Poland”, wobei die Justiz Synagogen und protestantische (Dušan Pavlović) hat das Milošević-Regime neue Entwick- Kirchen nicht als sakrale Räume behandelten, Diebstahl lungen verhindert, ähnlich waren die Entwicklungen in Ar- dort damit nicht als Sakrileg, sondern als Eigentumsdelikt menien (Alexander Markarov), in der Ukraine (Anatoliy geahndet wurde. Jan Doktór charakterisiert die wechselsei- M. Kruglashov) und in der Slowakei (Marek Rybář), wo tige Wahrnehmung der judäochristlichen Frankisten und ebenfalls die marxistischen Fachvertreter im Amt geblie- ihrer polnischen Umgebung als „zwischen Hoffnung und ben sind, ganz anders als in der Tschechischen Republik bitterer Enttäuschung”. Zu Beginn des dritten Abschnitts (Jan Jolzer, Pavel Pšeja). Entlassen wurden allerdings die zeigt Hanna Węgrzynek, wie die Franziskaner und die Vertreter des Marxismus-Leninismus ausschließlich aus jüdische Gemeinde in Lublin 1635 Konflikte durch einen der DDR. Vergleich gelöst haben, kein Einzelfall für die Zeit: Sie In Ungarn (Kristina Arató, Csaba Tóth), Polen (Teresa wurden „relativ häufig abgeschlossen, manches Mal unter Sasinska-Klas) und Slowenien (Drago Zajc) war schon Zwang, und selten respektiert”. Ein auch für die moderne vor 1989 eine gewisse Liberalisierung zu verzeichnen. In Symbolpolitik wichtiges Thema schneidet Damien Tricoire Belorussland (Svatlana Naumova auch zur Ideologisie- an, „Die Erfindung der Gottesmutter Königin von Polen” rung) ist das Fach kaum institutionalisiert, ähnliches gilt – mit dem „Lemberger Gelübde” 1656 und dem symbolische wenn auch mit optimistischeren Perspektiven vor allem für Ort Jasna Góra. Am Beispiel des frühneuzeitlichen Lati- außeruniversitäre Berufstätigkeit der Absolvent(inn)en – fundiums Rzeszów arbeitet Yvonne Kleinmann („Normset- auch für Kroatien (Mariana Kasapović, Krešimir Petković, zung, Narration und religiöse Symbolik”) die Privilegien Ivan Grdešić), wo das Fach nur an der Universität Zagreb „als Grundlage der Religionspolitik” heraus, ein nicht nur vertreten ist, Georgien (Marina Muskhelishvili, Zviad Ab- für Polen wichtiger Aspekt. Stefan Rohdewald zeigt, wie ashidze) und Lettland (Jānis Ikstens). In Rumänien (Alina der Kult um den heiligen unierten Erzbischof von Polock Mungiu Pippidi) ist die Politikwissenschaft bestenfalls in (1618-1623) Josafat Kuncevyč sowohl zum „Kern einer den Anfängen. In Russland ist die „professional communi- eigenständigen unierten, griechisch-katholisch konfessi- ty” in einer schwierigen, aber nicht hoffnungslosen Positi- onellen bzw. kirchlichen Identität” wurde, zugleich aber on (Mikhail Ilyin, Olga Malinova, Sergi Patrushev, S. 241). „römisch-katholische staatspolitische und konfessionelle In der Summe zeigt sich eine nach Staaten differenzierte Identitätsentwürfe der Polen” trug (S. 290) und als Staats- Entwicklung. Auch wenn die Kürze der Beiträge sicher- patron in einen größeren Zusammenhang eingebunden lich nur in Grenzen eine differenzierende Darstellung er- wurde (S. 290). laubt, findet sich erstmals eine Gesamtübersicht über die Methoden und Fragestellungen der wesentlich um pol- Fachentwicklung in den ersten beiden Jahrzehnten nach nisch-jüdisch-ruthenische (ukrainische) konfessionelle 1989, zugleich auch sonst nirgends so zusammengefasste Fragen im östlichen Galizien gruppierten Beiträge sind Information, ein Handbuch im besten Sinne, das informiert innovativ und führen die auf das östliche Ostmitteleuropa und die Forschung anregt. bezogene Frühneuzeitforschung wesentlich weiter. W.K. W.K. Der Warschauer Aufstand 1944: Ereignis und Wahr- Political Science in Central-East Europe: Diversity and nehmung in Polen und Deutschland / im Auftrag des Mi- Convergence / Rainer Eisfeld, Leslie A. Pal (eds.). – Opla- litärgeschichtlichen Forschungsamtes, Potsdam, und des den – Farmington Hills, MI, 2010. – 317 S. – ISBN 978-3- Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Aka- 86649-293-6 – Geb. – € 59,90 demie der Wissenschaften, Berlin, hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg, Eugeniusz Cezary Król und Michael Thomae. Ziel des Bandes ist, eine Übersicht über die Entwicklung – Paderborn-München-Wien-Zürich: Ferdinand Schö- der Political Science in 19 postkommunistischen Staaten ningh, 2011. – 295 S. – ISBN 978-3-506-72905-7 – Geb. im östlichen Europa und im Kaukasusgebiet zu geben: In – € 29,90 der Einleitung arbeiten die Herausgeber „Factors of Di- versity – Forces of Convergence heraus und unterscheiden Anders als der durch den Kniefall Willy Brandts am 7. die Staaten nach Ausgangslage und Entwicklung der Po- Dezember 1970 vor dem Denkmal des Ghetto-Aufstands litikwissenschaft: Die Fachvertreter aus den behandelten in Warschau in Deutschland bekanntere und mit ihm nicht Staaten gliedern die Kurzinformationen über das Fach in selten verwechselte (S. 267) Ghetto-Aufstand (19. April ihren Ländern nach fünf Gesichtspunkten: Entwicklung – 16. Mai 1943) wurde der von der Armia Krajowa, der des Fachs, Forschung, Lehre, nationale Organisationen „Heimatarmee”, gegen die deutsche Besatzung initiierte und internationale Kooperation, Perspektiven und „Refe- Warschauer Aufstand vom 1. August bis zum 2. Oktober rences”. Die Anhänge enthalten weitgehend statistische 1944 lange von der deutschen Öffentlichkeit (bzw. bis Übersichten, leider nur ausnahmsweise weiterführende In- 1989 den beiden deutschen Öffentlichkeiten) kaum als ternetadressen. historisches Ereignis wahrgenommen, obwohl Hanns von In Albanien (Shpetim Cami) entwickelte sich das Fach, Krannhals bereits 1962 eine nach den damaligen Möglich- gemessen an westeuropäischen Standards, erst seit der keiten gründlich recherchierte Monographie vorgelegt hat. Jahrtausendwende, aus Moldawien dagegen berichtet Va- Heute kann man sich mit Włodzimierz Borodziejs für deut- leriu Modneaga, dass, vor allem der schlechten materiel- sche Leser(innen) verfasster Übersicht „Der Warschauer len Situation der Wissenschaftler(innen) geschuldet, das Aufstand 1944” (2001) und Norman Davies’ „Aufstand der „Überleben” des „wissenschaftlichen Kommunismus” in Verlorenen” (2003) informieren (S. 18). Das Andenken an Koexistenz mit „western approaches” stand. In Serbien den Aufstand und die als Racheakt durch die deutsche Be-

30 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 satzung vollzogene Zerstörung der polnischen Hauptstadt heutigen Stadtbild” (S. 217) kann weiterhelfen, aber nicht wurde in der Volksrepublik Polen intensiv gepflegt, dabei wirklich einen themenbezogenen Stadtplan ersetzen. Die aber die Rolle der auf dem anderen Weichselufer stehen- sorgsam redigierte Aufsatzsammlung schließt eine Lücke den Roten Armee bis in die 1980er Jahre ausgeblendet. in der Forschungsliteratur und ist der erste, im Ergebnis Hans-Werner Rautenbergs Dokumentation „Vierzig Jah- gelungene Versuch der gemeinsamen Annäherung an eines re Warschauer Aufstand 1944 im Spiegel der polnischen der schwierigsten Themen des deutsch-polnischen Verhält- Publizistik” (Dokumentation Ostmitteleuropa; N.F. 12 = nisses unter den Bedingungen der deutschen Besatzung 36.1986, H. 5/6) ist offensichtlich so unbekannt geblieben, während des Zweiten Weltkriegs. dass sie in diesem erstmals die Rezeption und die Perzep- W.K. tion dieses Ereignisses in Polen und Deutschland verglei- chenden Band nicht genannt wird. Marcin Zaremba: Im nationalen Gewande: Strategien Sechs polnische und fünf deutsche Autor(inn)en un- kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen tersuchen in zehn Beiträgen Aspekte der Geschichte des 1944-1980 / aus dem Poln. von Andreas R. Hofmann. Mit Aufstands sowie seiner historischen Wahrnehmung in e. Einf. von Robert Brier. – Osnabrück: fibre, 2011. – 437 Deutschland und Polen. Grzegorz Mazur untersucht mit S. – (Klio in Polen; 14) – Originaltitel: Komunizm, legi- den „politischen Gründen für die Auslösung des Warschau- tymizacja, nacjonalizm – ISBN 978-3-938400-67-8 er Aufstands” durch die Armia Krajowa (AK) ein in Polen – Kart. – € 39,80 immer noch sehr emotional behaftetes Thema. In seiner Analyse der Panzerschlacht vor Warschau im August 1944, Auch wenn die eigentümliche Verbindung von Elementen die mit der Niederlage der sowjetischen 2. Panzerarmee kommunistischer und nationalistischer Ideologie in den Le- endete, nimmt Karl-Heinz Frieser die Führung der AK in gitimationsdiskursen der Volksrepublik Polen insbesondere Schutz, sie hätte „unmöglich wissen [können], dass zum in Bezug auf die Ziemie Zachodnie (vgl. dazu Markus Kr- selben Zeitpunkt ein deutscher Gegenschalg erfolgen wür- zoska: Für ein Polen an Oder und Ostsee. Osnabrück 2003) de” (S. 64). Eugeniusz Duraczyński diskutiert engagiert die unübersehbar gewesen ist, fehlte es bis zum Erscheinen Haltung der Alliierten, insbesondere der Sowjetunion zum von Zarembas Untersuchung im Jahre 2011 an fundierten Aufstand; die Westmächte hätten, schließt er, die Vorstel- Darstellungen des Problems aus der zentralen Perspekti- lungen der Atlantikcharta 1944 bereits aufgegeben gehabt: ve. Es ging dabei, wie Robert Brier in seiner lesenswerten „Es siegte die Realpolitik, und moralische Werte verloren” Einführung „Der Nationalismus als Strategie kommunis- (S. 87). „Leben und Sterben der Warschauer Zivilbevöl- tischer Herrschaftslegitimation in Polen” betont, „den kerung” beschreibt Janusz Marszalec, auf die Täterseite polnischen Eliten der PRL besonders darum [...], von der geht Matthias Barelkowski am Beispiel Erich von dem Bevölkerung als ‘polnisch’ anerkannt zu werden” (S. 9). Bach-Zelewskis ein. Einen der Besatzungspolitik gegen- Auf der Grundlage einer breiten Auswertung der Akten des über kritischen Zeitzeugen von deutscher Seite, den Offi- Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei zier Wilm Hosenfeld lässt Thomas Vogel mit Beispielen (PZPR) arbeitet Zaremba in einer eher theoriezentrierten aus seinen 2004 publizierten Briefen und Tagebüchern zu Einführung über „Legitimität und Legitimation” die theo- Wort kommen. Die „Perzeptionen des Aufstands in Polen” retischen und politischen Diskurse der sozialistischen und fasst Eugeniusz Cezary Król zusammen. Friedhöfe, Denk- kommunistischen Bewegung in Polen seit den Anfängen mäler und Gedenktafeln in Polen stehen im Mittelpunkt heraus und diskutiert die – nicht wirklich vorhandenen – des Beitrags von Tomasz Markiewicz „Materielle Aus- „Alternativen zur nationalistischen Legitimation” bei der drucksformen des Gedenkens in Polen und Deutschland”; Stabilisierung des kommunistischen Herrschaftssystems in das deutsche Projekt eines Denkmals und einer Wander- Polen: „Die [kommunistische] revolutionäre Tradition war ausstellung kam nach 2002 nicht zustande, auch weil kein in Polen niemals ein politisch besonders attraktives Argu- polnischer Partner gefunden wurde. Immerhin wurde auf ment [...]. Die polnischen Kommunisten waren bis 1944 dem Militärfriedhof im brandenburgischen Neuburxdorf völlig marginalisiert [...]. Im Bemühen, den polnischen 2004 ein Denkmal für die Soldaten der Armia Krajowa, die kulturellen Code zu treffen, sah sich die Parteiführung im Kriegsgefangenenlager Zeithain (Sachsen) inhaftiert [...] mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Tradition der waren, enthüllt. Über polnische Zeitzeugen berichten Ewa kommunistischen Bewegung zu einer nationalen Tradition Czerwiakowski und Angela Martin. Die Wahrnehmung umzudeuten und die Nation so mit dieser Tradition zu ver- des Aufstands durch Geschichtsschreibung, Publizistik, binden” (S. 123, 124). Literatur und Film in der deutschen Öffentlichkeit, in Im chronologischen Durchgang arbeitet Zaremba die un- DDR und BRD wie im vereinigten Deutschland, untersu- terschiedlichen Phasen der Instrumentalisierung nationa- chen abschließend Matthias Barelkowski und Christoph listischer Elemente seit 1942 heraus: Die Kriegssituation Klessmann und hoffen auf „eine nachhaltige, reflektierte war für die polnischen Kommunisten durch die Radikali- Beschäftigung mit dem finstersten Kapitel der deutsch-pol- sierung des Widerstands im deutschen Besatzungsgebiet, nischen Beziehungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln” aber auch die Erfahrungen mit der Sowjetisierung Ostpo- (S. 267), zu dem die mit diesem Band vorliegende, anre- lens 1939-1941 bestimmt. Bis 1944 bediente sich die PPR gend zu lesende deutsch-polnische Gemeinschaftsarbeit ei- bei der Nationalisierung ihres politischen Programms der nen ersten Beitrag liefert. Militärische Lagekarten im Vor- drei Strategien, „die für die ideologische Legitimation cha- und Nachsatz, ein gemeinsames Quellen- und Literatur- rakteristisch sind: der Rationalisierung, Universalisierung verzeichnis sowie ein Personenregister ergänzen die Texte. und Narrativierung” (S. 133). Nach der Übernahme der Der Plan der „Denkmäler des Warschauer Aufstandes im Regierungsgewalt gab es erhebliche Spannungen zwischen

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 31 den Vertretern einer polnischen Sowjetrepublik. Bolesław Institut Warschau ist wieder einmal für die Vermittlung ei- Bierut übernahm das nationalkommunistische Programm ner wichtigen Arbeit an deutsche Leser(innen) zu danken. in die stalinistische Phase (1948-1955) und versuchte, die W.K. neue, sozialistische polnische Nation unter Rückgriff auf nationale Deutungsmuster und Vorstellungen zu konstru- Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne: ieren. Nach 1956 übernahm der 1949 „rechtsnationaler Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 bis 1960 / hrsg. Abweichung” beschuldigte, im Zuge der Entstalinisierung von Helga Schutz und Angela Harre. – Wiesbaden: Har- rehablitierte Gomułka offen nationalistische Positionen der rassowitz Verlag, 2010. – 296 S. – (Studien zur Sozial- und polnischen Nationaldemokratie, wozu die westdeutsche Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas; 19) – ISBN 978- revisionistische Politik ein brauchbares Feindbild lieferte, 3-447-06272-5 – Kart. – € 46,00 ebenso 1967/68 der „Antizionismus” mit dem Auswande- rungsdruck auf die in Polen lebenden Juden (S. 356-357): Dass Bauernparteien gerade in den nach dem Ersten Welt- „Gomułkas Jahrzehnt brachte [...] den Zusammenbruch des krieg gebildeten neuen Staaten Ostmittel- und Südosteu- Marxismus in seiner gewohnten Form. Dadurch entstand ropas eine bedeutende Rolle gespielt haben, sie an Regie- ein Vakuum, welches das Regime in seiner radikalsten rungen beteiligt waren usw. ist außerhalb der jeweiligen Spielart füllte” (S. 357). Die Unruhen 1970 interpretierte Staaten wenig bekannt. Der hier vorgelegte Band stellt das Regime als soziale, nicht als antisowjetische Proteste die Ergebnisse der Konferenz „Wege in die Moderne” und reagierte unter Edward Gierek mit wirtschaftlicher Li- vor, die 2009 im Rahmen des von der VolkswagenStif- beralisierung. Geschichte trat als Argument zurück, doch tung geförderten Projekts „Agrarismus in Ostmitteleuro- griff die Partei- und Staatsführung in der Wirtschaftskrise pa 1880-1960” an der Viadrina in Frankfurt an der Oder der 1970er Jahre wieder auf nationalistische Argumenta- stattgefunden hat. Agrarismus war ein Gegenkonzept zur tionsmuster zurück, die an die immer noch virulenten an- Industriellen Revolution, war zugleich auch ein Ansatz, die tideutschen, antijüdischen und polnisch-nationalistischen agrarische Mehrheitsbevölkerung ökonomisch zu emanzi- Strömungen appellieren konnten. In den 1970er Jahren, auf pieren, sie in die politische Partizipation und insbesondere dort, „wo ethnisch-nationale Trennlinien mit den sozialen die Zaremba (S. 358-389) nur kurz eingeht, wurde – nicht zwischen Bauern und Grundherren oder Bauern und Städ- ohne Rückgriff auf stalinistische Elemente – ein „sozia- tern zusammenfielen” (Helga Schultz, Einleitung: Proteus listischer Patriotismus” beschworen, der die „Nation mit Agrarismus, S. 13) in die nationalen bis nationalistischen dem sozialistischen Staat” verbinden sollte (S. 385). Die Bewegungen einzubeziehen. politische Führung stellte gleichzeitig geradezu servil die Der erste Abschnitt „Vom Panslawismus zum Dritten „Abhängigkeit von der UdSSR geradezu ostentativ zur Weg” behandelt die politischen Konzepte und die Wurzeln Schau” (S. 389). Hier war der Ansatzpunkt der Gewerk- bei den russischen Narodniki. Im zweiten Teil „Bauerne- schaft Solidarność, deren Politik die Partei bis 1989 mit der manzipation und nationale Frage” behandelt Ernst Bruck- aus dem Inventar des national-radikalen Lagers der 1930er müller die „politischen Organisationen der Bauern” in der Jahre stammenden Behauptung eines „Dritten Kreuzzugs Habsburgermonarchie, Miroslav Hroch vergleicht „Bauern gegen Polen” zu begegnen suchte, die Zaremba in einem und Agrarfrage” in der tschechischen und der polnischen Epilog kurz umreißt. Nationalbewegung. Die Entwicklung der Agrarparteien in Zaremba zieht immer wieder Vergleiche mit parallelen Ungarn und Polen sowie ihr Schicksal nach dem Zweiten Entwicklungen in der UdSSR und den Staaten des „Ost- Weltkrieg steht im Mittelpunkt des Folgeabschnitts, hin- blocks” und arbeitet damit in seiner grundlegenden Unter- zu kommt ein Vergleich der Karrieren der „Bauernführer” suchung die Entwicklungen noch profilierter hinaus, als es Stjepan Radić, Antonín Švehla, Aleksander Stamboli- bei der Beschränkung auf Polen möglich gewesen wäre. jski und Ion Michalache, der instruktiver gewesen wäre, Über den Beitrag zur polnischen Zeitgeschichte hinaus wenn man sie in den Kontext der hier nicht behandelten leistet diese auch für die Analyse des polnisch-deutschen agrarischen Bewegungen in Jugoslawien, der Tschecho- Nachkriegsverhältnisses (und des Beitrags der westdeut- slowakei, Bulgarien und Rumänien eingeordnet hätte, zu schen Politik zur hier untersuchten Entwicklung) wichtige, denen man immer noch den 1977 von Heinz Gollwitzer he- vorzüglich übersetzte Monographie einen wichtigen Bei- rausgegebenen Band „Europäische Bauernparteien im 20. trag zur historischen Kommunismusforschung und diffe- Jahrhundert” als erste Information heranziehen muss. Zum renzierte Einsichten in den Themenkomplex, den man in in diesem Zusammenhang wichtigen Thema der Genossen- den 1950er Jahren als „Sowjetisierung Ostmitteleuropas” schaften findet man je einen Beitrag zu Ungarn 1886-1922 bezeichnet hat. sowie zu Bulgarien (wesentlich für die Entwicklung seit In Briers Einführung vermisst man einen Hinweis auf Re- 1940). Ähnlich zufällig erscheinen die beiden unter die zeption und Wirkung des Buches in Polen. Auch wenn Za- Zwischenüberschrift „Kultur” eingeordneten Beiträge über remba sein Interesse als primär am Problem der Legitimie- Bauerndarstellungen bei Tolstoj, Zola und Reymont (Chri- rung politischer Herrschaft orientiert darstellt (S. 21-22), sta Ebert) und über Bauerndarstellung in der rumänischen eröffnet er eine neue Sicht auf die Zeitgeschichte Polens Malerei 1870-1948 (Anca Gogîlta). Beschlossen wird der und Ostmitteleuropas. Wünschenswert wäre die vertiefte durch ein integriertes Orts-, Personen- und Stichwortver- zeichnis abgerundete Band mit drei Beiträgen zur „glo- Untersuchung der 1970er und 1980er Jahre. Weitergehende balen Perspektive”: Zur Wiener „Grünen Internationale” Fragen wie nach den Auswirkungen auf die Historiographie (1922-1928), „Late Agrarianism in Brazil” in den 1970er drängen sich geradezu auf. Dem Deutschen Historischen und 1980er Jahren sowie über die Bedeutung agrarischer

32 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Ideologien für die „autoritär-faschistischen Diktaturen” in halb Seiten (!) behandelt werden. Es folgt die „Fallstudie 1. Italien, Spanien und Portugal in der Zwischenkriegszeit. Die Posener Messe“, in zwei Epochen aufgeteilt, nämlich Der Band enthält 18 mehr oder weniger unverbundene Nachkriegszeit I und II ( 1919-1929 bzw. 1945-1957). Mit Beiträge zum Thema mit den Schwerpunkten Polen, Tsche- der „Fallstudie 2. Das ‚Große Theater‘“ wird unter dem chien und Südosteuropa. Er zeigt, ohne offensichtlich ir- Schlagwort „Kulturkampf“ wiederum zunächst die Nach- gendeinen systematischen approach anzustreben, Möglich- kriegszeit 1919-1929 behandelt, gefolgt von einer ganz keiten des Zugangs zum Thema. kurzen Behandlung der Zeit der deutschen Besatzung 1939 W.K. bis 1945 (das „Reichsgautheater“), gefolgt vom Abschnitt „Nachkriegszeit II: 1945-1957“. Die Darstellung wird ab- geschlossen von der „Fallstudie 3: Konfessionelle Fried- Anna Moskal: Im Spannungsfeld von Region und Na- höfe“, womit die Frage des Zusammenhanges von konfes- tion. Die Polonisierung der Stadt Posen nach 1918 und sioneller und nationaler Zugehörigkeit, zugleich aber auch 1945. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2013. – 298 S. stadtplanerische Fragestellungen angeschnitten werden. m. Abb. – (Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschich- Es überrascht bei dieser Veröffentlichung den Leser vor te Ostmitteleuropas. 23.) – ISSN 1867-6396/ISBN 978-3- allem die Tatsache, dass die Verfasserin sich, im Gegensatz 447-06755-3 – € 56,00 zum allgemein gehaltenen Buchtitel auf nur drei „Fallstu- Kaum eine andere europäische Stadt hat ein so wechselvolles dien“ beschränkt, nämlich die Posener Messe, das ‚Große Schicksal gehabt wie Posen/Poznań: Nach den polnischen Theater‘ und die konfessionellen Friedhöfe, während Schul Teilungen zunächst preußisch, in der napoleonischen Zeit –und Hochschulpolitik sowie die Geschichte der vor dem nach 1807 zum Großherzogtum Warschau gehörend, nach Ersten Weltkrieg in Posen begründeten Museen und Bibli- dem Wiener Kongress 1815 wieder preußisch, damit seit otheken wie das Kaiser-Friedrich-Museum oder die Kai- 1871 zum Deutschen Reich gehörend, 1919 Teil des neuen ser-Wilhelm-Bibliothek, die den Anfang der späteren Uni- polnischen Staates, 1939 bis 1945 unter deutscher Besat- versitätsbibliothek darstellte, unbearbeitet bleiben. Die Ar- zung stehend und dann endgültig polnisch. Während dieser beit, als Dissertation abgefasst und angenommen, hat sich jüngsten Epoche war Posen mehr und mehr vom staatlich bewusst auf diese drei Bereiche beschränkt, ohne dass dies verordneten Sozialismus geprägt und erst seit 1990 war aus dem Titel der Abhandlung klar hervorgehen würde, er- für Posen eine kontinuierliche Entwicklung als polnische wartet wird hier vom Leser eine Gesamtdarstellung der Po- und neuerdings auch als europäische Stadt möglich gewor- lonisierungsprozesse der Stadt Posen nach 1918 und 1945 den. Posen hat bereits unter preußischer Herrschaft eine und dazu gehört nun auch das Schul- und Hochschulwesen. mehrheitlich polnische Bevölkerung gehabt, die das Leben Man vermisst im Literaturverzeichnis eine ganze Reihe der Stadt entscheidend mitprägte. Im Gegensatz zu Posen von einschlägigen Publikationen, die sich mit der Sprach- waren in Breslau und Stettin, die 1945 ebenfalls zum pol- politik, der Frage der Unterrichtssprache in den Posener nischen Staatsgebiet kamen, keine polnischen Traditionen Schulen und vor allem mit der Geschichte der Posener vorhanden, an die angeknüpft werden konnte. Akademie, der polnischen Universität und der „Deutschen Demnach wurde die Lokalgeschichte sowohl im 19. als Reichsuniversität“ befassen. Ein nicht zu übersehender auch im 20. Jahrhundert von den konkurrierenden „Natio- Mangel ist das Fehlen eines Namenverzeichnisses, das bei nalismen“ geprägt, d.h. sowohl die Polen – als Einwohner allen historischen Abhandlungen für den Leser, aber auch der Stadt und des Umlandes in der Überzahl – als auch die für den gelegentlichen Nutzer eine unverzichtbare Quelle Deutschen erhoben politischen und kulturellen Anspruch darstellt. Trotzdem sei ausdrücklich betont, dass die Ver- auf die Stadt und die dazugehörige Provinz. Für die Verfas- fasserin sich in den drei von ihr ausgewählten Teilgebie- serin der vorliegenden Abhandlung stehen die Polonisie- ten auf gründlichste Archivstudien stützen konnte und hier rungsbestrebungen in Posen während der Zwischenkriegs- auch die dazugehörige Fachliteratur genutzt wurde. Sieht und Nachkriegszeit bis etwa 1956, der Zeit des ersten „Tau- man von den oben angeführten Lücken ab, stellt die Ver- wetters“ nach der Epoche des Stalinismus, im Mittelpunkt, öffentlichung einen wesentlichen Beitrag zur Kultur- und wobei es ihr vor allem um die kulturelle Aneignung des Wirtschaftsgeschichte der Stadt Posen dar. deutschen Kulturerbes geht. Beleuchtet werden hier drei Helmut W. Schaller/Marburg a. d. Lahn Fallstudien, nämlich die Entwicklung der Posener Oper, die Internationale Messe in Posen sowie die ehemaligen Friedhöfe der katholischen, evangelischen und jüdischen Osteuropa/Russland Gemeinden in Posen. Nach Einleitung, Einführung in das Thema, Behandlung Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische der umfangreichen Quellen und des Forschungsstandes Politik: der Aufstand in Zentralasien 1916. – Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2010. – 378 S. – (Quellen und Studi- wird zunächst der großpolnische Regionalismus im unab- en zur Geschichte des östlichen Europa; 76) – ISBN 978-3- hängigen Polen behandelt, gefolgt von der Darstellung der 515-09771-0 – Geb. – € 34,90 Migrationen, Bevölkerungs- und Eigentumspolitik in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg 1919 bis 1920, Im Sommer 1916 revoltierten die Nomaden Zentralasiens die mit der Polonisierung der Stadtbevölkerung und Ma- gegen die zarische Herrschaft. D.h. gegen die Einberufung gistratsverwaltung einhergeht, während die mit der deut- zum Militär, gegen ihre Entrechtung und gegen die Fortnah- schen Besatzung verbundene Vernichtungspolitik und me ihres Landes durch russländische Kolonistenfamilien. Zwangsemigration der Jahre 1939 bis 1945 auf nur einein- Ca. 100 000 bis 200 000 Kasachen und Kirgisen sowie ca.

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 33 10 000 Russen und Ukrainer fanden den Tod: „Der Aufstand der hier dargestellten mehr als zwei Jahrtausende Eingang von 1916 stand am Ende einer Reihe russischer politischer in die Historiographie gefunden (S. 2-3). (Fehl-)Entscheidungen, mit denen sich die Zentralasiaten 17 systematische Einzelfragen aus der „shared history” letztlich nicht zufrieden geben wollten. Die Geschichte des seines Untersuchungsraums diskutiert Kaser mit einer ver- Aufstands ist die Geschichte vom Untergang des zarischen gleichsweise reichen Bebilderung unterschiedlicher Qua- Kolonialprojekts in der Region” (S. 15). Im Zentrum der lität im chronologischen Gesamtdurchgang: „Power And an der Universität Basel angenommenen Dissertation steht [!] Dominance” von den ersten „Sedentary Communities” die Region Semireč’e. Happel geht dabei von einem le- bis zum Byzantinischen Reich, „Tributary And Interventi- bensweltlich orientierten Ansatz aus, der die Perspektiven onist Modes of Ruling” in den islamischen Reichen des 7. der Akteure – Nomaden, Siedler und russische Verwaltung Jahrhunderts bis zur Niederlage vor Wien 1683, Umwelt, – aufnimmt, so dass er „ein multiperspektivisches Bild für „Migrations” von den Sumern bis zur modernen Arbeits- den Aufstand 1916” unter Einschluss der Handlungsmög- migration, vorindustrielle Wirtschaftsformen, Technik lichkeiten aller Beteiligten skizzieren kann. Ausgangspunkt und Wissen, „City States, Cities, And Metropolies”, De- ist die Kolonialgeschichte als Geschichte von Kolonisierern mographie, Religion, „Body And Body Consciousness”, und Kolonisierten (S. 17). Schreibsysteme, „Family And Kinship” (das vom Autor Nach wichtigen „Theoretisch-methodischen Überle- seit gut zwei Jahrzehnten bevorzugte Thema), „Gender gungen” rekonstruiert Happel zunächst „Semireč’e vor dem Relations”, Nation und Nationalismus sowie das Verhält- Aufstand”, bevor er den Aufstand aus den unterschiedlichen nis zum „Westen”. Jedes Kapitel wird durch eine Litera- russischen Perspektiven darstellt. Die „Turkestanischen Le- turliste zum Weiterlesen (S. 5) mit englisch- und deutsch- benswelten im Aufstand” untersucht er danach wesentlich sprachigen Titeln ergänzt. aus zwei Perspektiven, der des russischen Geheimagenten Die Herausforderung für den Autor bestand weniger V. F. Železnjakov und des Nomadenführers Kanat Abukin, in der „meaningful composition of a joint picture out of die im November 1916 im Verhör aufeinandertreffen. Eine puzzles”, sondern in der Langzeituntersuchung der behan- Karte, eine Zeittafel und Abbildungen von „Postkarten aus delten Themen: „The art of writing consists of catching Turkestan” ergänzen den durch ein Personen-, ein Orts- und long-term developments and, at the same time, not leaving ein Sachregister vorbildlich erschlossenen Text. Der Au- save ground” (S. 4). Das Unterfangen ist mutig, und den tor leistet, nie das Verhältnis von Zentrum und Peripherie Spezialist(inn)en wird es häufig grausen, doch eröffnet aus dem Auge verlierend, einen wichtigen Beitrag zur rus- Kasers Parforcedurchgang durch die Geschichte den Blick sischen Kolonialgeschichte, zur Geschichte Zentralasiens auf größere historisch-räumliche Zusammenhänge einer so und zur Nationalitätenpolitik des Russischen Reiches vor zum Nachteil der Südosteuropa- wie der Orientforschung und während des Ersten Weltkriegs, etwa zur „Gefahr”, die nicht beachteten Großregion und schärft den Blick auf oft nach Meinung des Innenministeriums im Jahre 1916 angeb- isoliert – oder gar nicht – gesehene strukturgeschichtliche lich von „Personen deutscher Abstammung” ausging (S. Einzelfragen, so dass man den Mut des Autors anerkennen 169). Mit seiner „lebensgeschichtlichen” Methode gelingt und das Buch mit Verärgerung und Interesse zur Kenntnis es Happel, eine historische Konfliktsituation und die aus ihr nehmen sollte. resultierende Katastrophe ohne jede falsche Apologie der W.K. einen oder der anderen Seite methodisch wie in der Sache weiterführend herauszuarbeiten. Klaus Buchenau: Auf russischen Spuren: orthodoxe W.K. Antiwestler in Serbien, 1850-1945. – Wiesbaden: Har- rassowitz Verlag, 2011. – 519 S. – (Balkanologische Ver- Südosteuropa öffentlichungen; 51) – ISBN 978-3-447-06276-3 – Geb. – € 98,00 Karl Kaser: The Balkans and the Near East: Intro- duction to a Shared History. – Wien-Berlin: LIT Verlag, Die normative Ablehnung des „Westens”, insbesondere 2011. – III, 405 S. – (Studies on South East Europe; 12) –​ des Anthropozentrismus und der ihm mit Begriffen wie ISBN 978-3-643-50190-5 – Kart. – € 29,90 Demokratie, Fortschritt und Liberalismus zugeschrie- benen Phänomene von Säkularisierung und Pluralität ist Historiker und Geographen definieren Räume und prägen ein Kennzeichen dominanter Strömungen der russischen damit die wissenschaftliche wie die populäre Wahrnehmung. Orthodoxie, die bis heute die Serbische Orthodoxe Kirche Der Balkanraum wird trotz der vom ausgehenden Mittelalter bis zu den Balkankriegen präsenten „Europäischen Türkei” signifikant beeinflussen und in der serbischen nationalen in der Eigen- wie der Fremdwahrnehmung vor allem von Mobilisierung der 1990er Jahre eine nicht zu übersehende Europa aus gesehen, obwohl es in der Langzeitperspektive Rolle gespielt haben. Kleriker und Intellektuelle griffen vom Alten Orient bis zur jüngsten Geschichte des „Nahen dabei wie vielerorts im postkommunistischen östlichen Ostens” in der beide geographischen und geopolitischen Europa auf Denkmodelle der Zeit vor 1945 zurück, die Räume zusammenfassenden von Kaser so genannten Eura- Buchenau hier erstmals im Zusammenhang in ihrer hi- sia Minor (S. 390) zwischen Tigris und Donau, zwischen storischen Entwicklung und Bedingtheit untersucht. Er dem Irak und Bosnien reichlich Bezüge und Beziehungen erliegt dabei nicht der Gefahr, sich mit Ideengeschichte gegeben hat und gibt. „The aim of the monograph”, heißt und Diskursanalyse zu begnügen, sondern untersucht es auf dem Umschlagrücken, „is to reunite these isolated unter Einbezug von Methoden der Sozial- und der All- histories”. Das Gemeinsame dieses Raumes hat, wie Kaser tagsgeschichte auch die äußere Kirchengeschichte unter eingangs feststellt, bestenfalls für einzelne Zeitabschnitte Einbezug biographischer Muster, von Bildungswegen und

34 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Netzwerken. Er zeigt, wie die Angst vor der Marginalisie- zentrales Thema für eine solche Beziehungsgeschichte, be- rung der Kirche durch die oft überhastete Modernisierung vor Despot mit „Regierungshandeln und staatspolitischem nach westeuropäischem Vorbild mit häufig katastrophalen Engagement” der USA bezüglich Südosteuropas während Folgen eine wesentliche Gruppe der dem Mönchsstand des Ersten Weltkriegs schließt. zugehörigen Kleriker und ihre Gefolgsleute auf antiwest- Die angeschnittenen Themen sind nach Quellenlage und liche historisch-theologische Argumentationen zurückgrei- Forschungsstand notgedrungen ungleichgewichtig. Umso fen ließ, wie sie in der russischen Orthodoxie entwickelt wichtiger ist, Weltsystem hin oder her, die von Despot worden waren. Buchenau zeigt die entscheidende Rolle aufgezeigte Gesamtperspektive. Im Ergebnis hat sie keine der Ausbildung in Russland und durch russische Theolo- Interaktionsgeschichte, keine Geschichte der bilateralen gen, die Bedeutung der russischen Emigration nach 1917, Beziehungen vorgelegt, sondern trotz einiger auch dem die „orthodoxen Antworten” auf die „jugoslawische He- Forschungsstand zuzuschreibender Schwächen im Detail rausforderung” bis zur geistlichen und – mit Dimitrije und der fehlenden südosteuropäischen Perspektive eine Ljotić und dem „Zbor” – antiwestlichen Radikalisierung sehr interessante, wesentlich auch auf politische Tagebü- der 1930er Jahre. Der sich 1937 zum „geistlichen Bürger- cher und Reden, diplomatische und Kongressdokumente, krieg” verschärfende Kampf gegen das 1935 mit den Vati- Unterlagen der Einwanderungsbehörden, Missionsquellen kan paraphierte Konkordat radikalisierte noch einmal die und vor allem Presseauswertung gestützte systematisch antiwestlichen Positionen, die im Zweiten Weltkrieg einen angelegte Analyse der Wahrnehmung Südosteuropas durch weiteren Radikalisierungsschub erfuhren. Politik und Gesellschaft der USA. Als solche liest man die Buchenau entwirft in seiner auf eine Breite Quellenba- Arbeit mit Interesse. sis gestützten anspruchsvollen, innovativen Untersuchung W.K. ein differenziertes Bild eines wesentlichen Aspekts der Vorgeschichte des aktuellen serbischen Nationalismus. Er Heike Karge: Steinerne Erinnerung – versteinerte Er- ermöglicht nicht nur innovate Einsichten und Einblicke in innerung? Kriegsgedenken in Jugoslawien (1947-1970). die serbische Kirchengeschichte, sondern auch in die Rolle – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2010. – 267 S. – (Bal- der Serbisch-Orthodoxen Kirche in der Gesellschaft (ein- kanologische Veröffentlichungen / Osteuropa-Institut der schließlich der diese spaltende Rolle des Radikalismus) so- Freien Universität Berlin; 49) – ISBN 978-3-447-06270-1 wie die Kirchenpolitik Serbiens bzw. Jugoslawiens. – Kart. – € 48,00 W.K. In ihrer an der Historischen Abteilung des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz 2006 angenommenen Dis- Andrea Despot: Amerikas Weg auf den Balkan: zur sertation geht die Autorin „der Entstehung, Aushandlung Genese der Beziehungen zwischen den USA und Süd- und Wandlung des jugoslawischen Vergangenheitsdis- osteuropa 1820-1920) – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, kurses bis zur Mitte der 70er Jahre” nach (S. 34), wobei 2010. – X, 346 S. – (Balkanologische Veröffentlichungen sie sich zentral auf Aktenbestände des Savez Boraca u / Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; 48) –​ Narodnooslobodilačkom ratu, des Verteranenverbandes der ISBN 978-3-447-06188-9 – Kart. – € 68,00 Kämpfer im „Nationalen Befreiungskrieg”, dessen Ziel es Zwei Ziele verfolgt die Autorin in ihrer an der Freien Uni- war, das Gedenken an den Krieg gesamtgesellschaftlich zu versität Berlin angenommenen Dissertation: die bilateralen verankern, sowie auf Unterlagen der Gedenkstätten- und Beziehungen zwischen den USA und Südosteuropa „auf der Denkmalpflege stützen kann. Karge stützt ihre Arbeit den Gebieten Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Poli- wesentlich auf bislang nicht für die historische Forschung tik zu durchleuchten” und „die globalen Austausch- und genutzte Archivquellen und entdeckt bislang in den nachju- Transferprozesse am Beispiel der USA und Südosteuro- goslawischen Historiographien kaum – und wenn, eher mit pas anschaulich zu machen und sie zugleich als Teil eines dem Fokus auf alternativen Gedenkformen – analysierte Weltsystems [im Sinne Wallersteins] zu deuten” (S. 3). Sie Formen einer vom Ansatz her gesamtjugoslawischen Ge- geht dabei struktur- wie ereignisgeschichtlich, makro- und dächtniskultur. mikrohistorisch vor (S. 3) und gliedert die Fülle an Ein- Unter der nicht unbedingt glücklich gewählten Kapitel- zelthemen systematisch. In Teil I „Gesellschaft, 1820- überschrift „Biographie des Kriegsgedenkens” erläutert 1914” arbeitet sie die Haltung der amerikanischen Öf- Karge zunächst den organisatorischen Aufbau und die fentlichkeit „zwischen Kommunikation und Kooperation” organisatorische Entwicklung des Veteranenverbandes vom Philhellenismus bis zum Ersten Weltkrieg zu Fragen sowie dessen erste Tätigkeitsphase, „in der es primär um wie der bulgarischen Unabhängigkeit, dem revolutionären Aushandlungspraktiken – sozialrechtlicher, symbolischer „Freiheitskampf” und der Religionsfreiheit für die Juden in und narrativer Art – der In- und Exklusion in das und vom Rumänien heraus. Im zweiten Teil untersucht sie die Wirt- öffentlichen Kriegsgedächtnis geht” (S. 43). Hier ging es schaftsbeziehungen vor allem mit dem Osmanischen Reich nach der Opferversorgung um lokale Denkmäler, Gedenk- und Griechenland sowie die amerikanischen Interessen am feiern und die Erstellung lokaler Chroniken durch histo- rumänischen Öl 1900-1907 und am Eisenbahnbau im Os- rische Amateure, mit denen der zentrale Verband vielfach manischen Reich 1908-1913. Unter „Kultur” konzentriert unzufrieden war, gelang es ihm doch nicht, „das an seinen sie sich auf die protestantischen Missionen im Balkanraum Trägern haftende biographische, kommunikative Gedächt- einschließlich ihrer Missverständnisse. Die „transkonti- nis des Krieges – in den offizialisierbaren Formen – in ein nentale Migration” und die Entstehung von südosteuropä- kulturelles Kriegsgedächtnis der jugoslawischen Gesell- ischen Diasporen in den USA sind selbstverständlich ein schaft zu transformieren” (S. 68). Eine Bestandsaufnahme

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 35 fiel 1961 nicht im Sinne des Verbandes aus, die Präsenz 1903 war ein entscheidendes Jahr für die politischen Par- „in den Medien der jugoslawischen Öffentlichkeit” (S. 70) teien Kroatien-Slawoniens, aber auch für Serbien und die war selbst in Schulbüchern aus Verbandssicht nicht zu- serbischen Parteien in Kroatien-Slawonien wie der ge- friedenstellend, angestrebt wurde die Modernisierung des samten Habsburgermonarchie. Für die kroatische Politik Kriegsgedenkens und die Einbeziehung der nachgebore- beginnt die Abkehr von der politischen Fixierung auf das nen Generationen. Im Folgekapitel behandelt die Autorin „kroatische Staatsrecht” und die Öffnung in Richtung einer Fragen der lokalen Denkmalkultur und die Versuche, einer ethnisch-sprachlich definierten „nationalen Selbstbestim- zentralen Erfassung und Kategorisierung nach Bedeutung mung” – und damit auch eine Umorientierung der staats- auf lokaler, regionaler, Republik- und Bundesebene, was bürgerlichen Loyalität der politischen Eliten von Öster- bis in die 1980er Jahre schon wegen des Spannungsver- reich-Ungarn zu jugoslawischen Optionen. Veliz beginnt hältnisses zwischen dem Bund und den Republiken und der mit einer ausführlichen Diskussion von ‘Nation’ und ‘Nati- Heterogenität der lokalen und nationalen Traditionen nicht onalismus’ und arbeitet am kroatischen Beispiel die Gren- gelang, so dass eine gemeinsame öffentliche und offizielle zen der Theorie, aber auch die Bedeutung innerstaatlicher Erinnerungskultur illusorisch blieb. Einem 1952 bis 1963 wie internationaler Rahmenbedingungen heraus: „[...] the bestehenden „Zentralen Ausschuss zur Kennzeichnung main point of this book is to derive some conclusions about und Herrichtung historischer Stätten des Volksbefreiungs- the way certain political positions changed over a restricted kriegs” (Kapitel 4) war, ob es sich um Denkmäler in Re- period of time” (S. 46). Beschränkt sich die kroatische publikhauptstädten oder an Orten mit hohen Opferzahlen Wahrnehmung weitgehend auf die politische und nationale wie den militärischen Kampfplätzen Sutjeska (in Bosnien) Bewertung der kroatischen Parteien und Politiker und ih- und „Sremer [Syrmische] Front” oder an der Stelle des rer – vor allem ungarischen – Gegner in der gemeinsamen Lagers Jasenovac handelte, nur teilweise Erfolg beschie- Monarchie, geht es Veliz um die Diskussion „about the way den. Im Gedenkpark Tjentište/Suteska (Bosnien-Herze- nationalist claims are formulated” (S. 47). Er stützt sich da- gowina) wurde 1971 der Partisan als Held beschworen. bei weniger auf die Historiographie (ältere Standardlitera- Kragujevac, wo 1941 Soldaten der deutschen Wehrmacht tur wie Vaso Bogdanovs „Hrvatski narodni pokret 1903/4” als Vergeltungsmaßnahme mehrere tausend Zivilisten er- [1960-1961], Mirjana Gross’ „Vladavina hrvatsko-srpske schossen, erhielt erst nach langjährigen Diskussionen ei- koalicije 1906-1907” oder Dietrich Behschnitts „Nationa- nen Gedenkpark, der an die zivilen Opfer erinnert, während lismus bei Serben und Kroaten 1830-1914” (1980) wird die Aufarbeitung der Lageropfer erst in den 1960er Jahren man in den Anmerkungen vergeblich suchen), sondern we- begonnen, das Denkmal für das Konzentrationslager Ja- sentlich auf veröffentlichte Quellen und die systematische senovac immerhin bereits 1966 – ohne konkrete Benen- Auswertung der zeitgenössischen Presse. Die theoretische nung der (kroatischen) Täter – eingeweiht wurde. Dessen und methodische Einführung (S. 17-53) kann auch am en- Problematik – einschließlich der Manipulation der Opfer- geren Thema nicht interessierten Historiker(inne)n als An- zahlen – untersucht Karge detailliert in einem eigenen Ka- regung empfohlen werden. pitel, bevor sie ihre insgesamt überzeugende Darstellung Im zweiten Kapitel analysiert der Vf. die wesentlichen mit einem Bericht über die Diskussionen um die Behand- Debatten und Kontroversen über den kroatischen Nationa- lung der Kriegserinnerung in den Schulen seit Mitte der lismus und die Entstehung des ersten Jugoslawien sowie 1970er Jahre ergänzt. Die entwickelten Ansätze wurden über das Auseinanderbrechen Österreich-Ungarns. Danach jedoch, so das nur zu unterstreichende Resümee Karges, skizziert Veliz Vorgeschichte und Rahmenbedingungen, „durch die auch über die 1970er Jahre hinaus fortdauernde d.h. die Entwicklung der Habsburgermonarchie im 19. Maxime, das öffentlich kommunizierte, offizielle Bild der Jahrhundert sowie – konventionell – Illyrismus, Jugosla- Kriegsvergangenheit nicht von seinen Tabus zu befreien”, wismus und den kroatischen Nationalismus. Im vierten zunichte gemacht (S. 250): „Die ‘eigenen’, im innerjugo- Kapitel erörtert er die Bedeutung der internationalen Ent- slawischen Bürgerkrieg agierenden Täter wurden so zwar wicklungen, insbesondere des Dynastiewechsels in Serbien stets [im kollektiven Sinne] beim Namen [...] genannt, aber 1903, der Annektion von Bosnien und der Herzegowina diese Benennung wurde angesichts der fehlenden juristi- 1908 für die kroatische Politik vom „Neuen Kurs” bis zur schen und historiographischen Aufarbeitung zur Farce” Annexionskrise und den mit der Annexion verbundenen und wurde – ließe sich ergänzen – zum Beispiel durch die Hoffnungen der kroatischen Politik. Es folgt die Untersu- in der kroatischen Gesellschaft mit den offiziell verschwie- chung der politischen Situation der Zeit der Balkankriege. genen Ereignissen in Bleiburg 1945 verknüpfte Martyro- Die Konfrontationen des Ersten Weltkriegs stellten die bis logie konterkarriert. Die fehlende Aufarbeitung, schließt dahin entwickelte südslawische Solidarität auf die Probe, Karge ihre lesenswerte, wesentlich zur Kenntnis des titois- erschütterte aber zugleich das Vertrauen in die habsbur- tischen Jugoslawien beitragende Arbeit, „wurde zu einem gische Monarchie, setzte aber auch die „transformative Stereotyp, einem abstrakten Feindbild, das in den Kriegen power” (S. 52) frei, die letztendlich zur südslawischen Lö- sung des Jahres 1918 geführt hat, welche das Kapitel 7 in der 1990er Jahre (endlich) verwertet werden konnte”. den Fokus der Betrachtung stellt, bevor Veliz im Schluss- W.K. kapitel seine Eingangsfragen überprüft und die Ergebnisse zusammenfasst. Fernando Veliz: The Politics of Croatia-Slavonia 1903- Wer auf die Thematik spezialisiert ist, wird im Detail 1918: Nationalism, State Allegiance and the Changing Einwände und Ergänzungen haben, fasst doch Veliz seine International Order. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, Überlegungen zum Thema auf nur gut 100 Seiten zusam- 2012. – 217 S. – (Balkanologische Veröffentlichungen; 55) men. Er profitiert aber von dem methodisch und theoretisch – ISBN 978-3-447-06700-3 – Kart. – € 48,00

36 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 reflektierten Gesamtkonzept, das die innerkroatischen, Household and Family in the Balkans: Two Decades of südslawischen und österreichisch-ungarischen Aspekte in Historical Familiy Research at the University of Graz / Hinblick auf die Entwicklung zu einer neuen Ordnung Eu- ed. by Karl Kaser. – Wien-Berlin: LIT Verlag, 2012. – 625 ropas nach dem Ersten Weltkrieg überzeugend und ohne S. – (Studies on South East Europe; 13) – ISBN 978-3-643- jede Schuldzuweisung analysiert. Nichtspezialist(inn)en 50406-7 – Kart. – € 79,90 finden in dieser in Florenz und an der Humboldt-Universi- Der Band vereint 28 bereits in den Jahren 1994 bis 2010 ge- tät Berlin entstandenen Dissertation einen von nationalge- druckte Beiträge (vgl. S. 617-618) des 1993 unter Leitung schichtlichen Verstellungen freien, überzeugenden Zugang zu einem Teil der Vorgeschichte Jugoslawiens, zugleich Kasers an der Universität Graz begonnenen Forschungspro- einen methodisch innovativen Beitrag zur historischen Er- jekts. Nehmen wir nur die von dem fleißigen Herausgeber 1 forschung von Nationalismus. verfassten Monographien zum Themenbereich hinzu, gibt W.K. es wenig über lange Zeit betriebene, wechselnd finanzier- te Projekte, die sich quantitativ mit den hier präsentierten Ioannis Zelepos: Orthodoxe Eiferer im osmanischen Ergebnissen messen können. Neu ist in diesem Band nur Südosteuropa: die Kollyvadenbewegung (1750-1820) das Preface (S. 15-32), in dem Kaser die Geschichte des und ihr Beitrag zu den Auseinandersetzungen um Tra- Projekts, das auf den Feldforschungen Joel M. Halperns dition, Aufklärung und Identität. – Wiesbaden: Harras- in den 1950er bis 1980er Jahren in Jugoslawien aufbaut. sowitz Verlag, 2012. – VIII, 428 S. – (Balkanologische Ver- Halpern hat sein Archiv nach Graz gegeben (S. 23), dazu öffentlichungen; 56) – ISBN 978-3-447-06750-8 – Geb. – wurden weitere Quellen wie die demographischen Aufna- € 68,00 hmen der k. u. k. Militärverwaltung im besetzten Albanien während des Ersten Weltkriegs und weitere Archivmateria- Die Kollyvadenbewegung war eine orthodoxe Eifererbe- lien u.a. aus Zagreb herangezogen (vgl. die Übersicht zur wegung, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts im „Wieder- „Balcan Collection” des Zentrums für Südosteuropäische täuferstreit” von einer Dissidentengruppe unter Athosmön- Geschichte und Anthropologie an der Universität Graz, S. chen ausging und sich im osmanischen Südosteuropa und 22). Kaser erwähnt Kritik am Projekt als „not completely im westlichen Kleinasien ausbreitete und im 19. Jahrhun- unjustified” (S. 25) und weist auf die Anregungen, die er dert die russische Orthodoxie beeinflusst hat und bis heute von Halpern, aber auch durch die sozialgeschichtliche Fa- Wirkungen zeigt. Zelopos legt die erste wissenschaftliche Untersuchung dieser Bewegung vor, die er in einem breiten milienforschung Michael Mitterauers erhalten hat. Er cha- kultur- und geistesgeschichtlichen sowie religionssoziolo- rakterisiert die hier als Ergebnispräsentation zusammenge- gischen Kontext analysiert und sie – gegen das eingeübte fassten, ansonsten problemlos zugänglichen Forschungen Bild einer statischen Orthodoxie – als aufklärerische Be- als „a combination of evidence-based experiments, theory wegung darstellt und den durch sie vollzogenen Ideen- und guided research and grounded theory”. Kulturtransfer im Rahmen von Netzwerkbildungen und Nach der Introduction mit zwei die Forschungen leiten- Verbreitungsstrategien interpretiert. den Beiträgen aus den Jahren 1994 und 1996 enthält das Nach der Einleitung beschreibt der Vf. die Vorausset- erste Kapitel „Pre-Modern Family Contexts” 15 Beiträge, zungen: die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen davon acht unter der Zwischenüberschrift „Mountains and Dimensionen der Orthodoxie im Osmanischen Reich, das Plains” sowie drei, ausschließlich auf Albanien im frühen „rum millet” im 18. Jahrhundert sowie die Bedeutung der 20. Jahrhundert bezogen, unter „Urban Space”. Das letzte Aufklärung im Osmanischen Reich – eine hervorragende Drittel des Bandes behandelt Beiträge zu den Komplexen Einführung in den Gesamtkomplex. Im Hauptteil unter- „Modernisation and the Interventionists State” und „Socia- sucht er differenziert und reflektiert den äußeren Rahmen lism and Post-Socialism”. Anregend, aber vor allem dort, der Kollyvadenbewegung vom Wiedertäuferstreit bis zum wo sie nach Polen und Russland ausgreifen, unzureichend „Durchbruch” 1798-1819 nach der Chronologie der Ereig- sind Kasers Beiträge zu „Eastern Europe” (S. 147-201, S. nisse und den Protagonisten sowie das ideologische Profil, 407-420 behandelt – trotz der anderslautenden Überschrift bevor er abschließend auf Kontexte, Nachwirkungen und – nur Serbien, Kroatien und Albanien). Überzeugender Projektionen eingeht. Er sieht als Leistung der Bewegung sind die Beiträge zu engeren Regionen wie die von Han- auch die Artikulierung eines orthodoxen Identitätskonzepts nes Grandits zu Kroatien oder Ulf Brunnbauer zu Bulga- am Vorabend der sich von der griechisch geprägten Ortho- rien, ebenso die – wesentlich auf dem Wiener Quellenma- doxie im Osmanischen Reich distanzierenden Nationalbe- terial beruhenden – zu Albanien in der Zeit des Ersten wegungen. Trotz der schwierigen Quellenbasis sehr gut Weltkriegs. dokumentiert (vgl. nur die umfangreichen, häufig eine gute Ausgangspunkt der hier vorgestellten historisch-anthro- halbe Seite einnehmenden Anmerkungen in den Fußnoten) pologischen und sozialwissenschaftlichen Forschungen entdeckt Zelepos eine nicht unwesentliche, aber in der hi- war die sich seit dem 19. Jahrhundert auflösende patriar- storischen Forschung praktisch unbekannte Bewegung und chalische Großfamilie auf dem Balkan bzw., hält man sich bereichert so unsere Kenntnis der Orthodoxie unter osma- an eingeführte geographische Zuordnungen, im Falle Kroa- nischer Herrschaft in einer Umbruchphase. tiens in Südosteuropa. Man vermisst in dieser nützlichen W.K. Sammlung eine über das „Preface” hinausgehende, die im Kontext des Projekts erschienenen Monographien einbe- ziehende, selbstkritische zusammenfassende Darstellung und eine Diskussion der Ergebnisse sowie die Darstellung

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 37 der Rezeption in der europäischen und in der die Unter- se breitenwirksamen Zweig der Buchgeschichte, der wie suchungen anregenden US-amerikanischen Forschung, vor keine andere Gattung das Geschichtsbild der Bevölke- allem aber – über das erwähnte Interesse (S. 25) hinaus – in rungsmehrheit geprägt hat. Die aufmerksame Lektüre der den betroffenen Staaten. auf den ersten Blick spröden Texte weist auf zahlreiche im W.K. weitesten Sinne kulturwissenschaftliche Fragestellungen, (Anmerkungen:) sie regt zur Weiterverfolgung in viele Richtungen an, ge- 1 Karl Kaser: Hirten, Kämpfer, Stammeshelden. Ursprünge und rade weil sich „die Edition an die ‘bedrohte Spezies’ des Gegenwart des balkanischen Patriarchats. Wien 1992; Ders.: geduldigen Lesers” wendet (S. 23). Zwei Jahrzehnte des Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer Sammelns und Forschens fassen die drei Bände zusammen, untergehenden Kultur. Wien 1995; Ders.: Kaser, Karl: Macht und das Ergebnis rechtfertigt die Anstrengung, auch wenn und Erbe. Männerherrschaft, Besitz und Familie im östlichen die Deutsche Forschungsgemeinschaft „dem Vorhaben die Europa (1500-1900). Wien 2000 (Zur Kunde Südosteuropas; 2,30); Ders.: Freundschaft und Feindschaft auf dem Balkan. Förderung versagt” hat (S. 25 mit mehr als berechtigter Euro-balkanische Herausforderungen. Klagenfurt 2001; Ders.: Kritik). Nicht die Kurzatmigkeit von turns und trends führt Patriarchy after Patriarchy. Gender Relations in Turkey and in die Wissenschaft weiter, sondern – in diesem Fall biblio- the Balkans, 1500-2000. Berlin 2008 (Studies on Southeastern graphisch – fundierte Grundlagenforschung, wie sie Jacob- Europe; 7). – Hinweis auf weitere Arbeiten im Umfeld des meyer mit fachübergreifender Bedeutung vorgelegt hat. Projekts in den „References“, S. 29-31. W.K.

5. Wissenschaft/ Wissenschaftsgeschichte 6. Landeskunde Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichts- buch 1700-1945: die erste Epoche seiner Gattungsge- schichte im Spiegel der Vorworte. – Berlin: LIT Verlag, 2011. – 3 Bde. – 1537 S. – (Geschichtskultur und histo- 7. Geschichte und Politik risches Lernen; 8) – ISBN 978-3-643-11418-1 – Kart. – Dominik Haffer: Europa in den Augen Bismarcks: Bis- € 99,90 marcks Vorstellungen von der Politik der europäischen Das Schulbuch ist ein vernachlässigter Gegenstand nicht Mächte und vom europäischen Staatensystem. – Pader- nur der Bibliographie, das Schulbuch gilt „nicht viel – in born-München-Wien-Zürich: Ferdinand Schöningh, 2010. der Wissenschaft sogar noch weniger als in der Öffentlich- – 723 S. – (Otto von Bismarck-Stiftung: Wissenschaftliche keit” (S. 10). Dabei ist gerade das Geschichtsbuch „unstrit- Reihe; 16). – ISBN 978-3-506-76983-4 – Ln. – € 68,00 tig das am weitesten verbreitete Medium moderner Gesell- In seiner umfangreichen, reich in Fußnoten belegten und schaften zur Überlieferung von Geschichte” (ebd.). Die annotierten Marburger Dissertation aus der Schule Peter bibliographische Nachweisung und die Überlieferung in Krügers (1935-2011) untersucht der Vf. die „Vorstellungen Bibliotheken, wie der nicht seltene Hinweis „In deutschen Bismarcks von der Politik der Mächte und dem europä- Bibliotheken nicht vorhanden” zeigt, sind lückenhaft, so ischen Staatensystem” und setzt folgende Schwerpunkte: dass schon der bibliographische Nachweis der hier für den „Sein europäisches Denken, seine persönliche Einfluss- Raum Deutschlands in seinen wechselnden Grenzen für die nahme [...], der Umgang mit den führenden Politikern der Jahre 1700 bis 1944 in chronologischer Ordnung verzeich- anderen Staaten, aber auch seine Perzeption der gesell- neten 1844 Titel eine gewaltige Forschungsleistung dar- schaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, das Zu- stellt. Die Bibliographie allein ist allerdings wenig aussa- rechtfinden Bismarcks in einem neuen außenpolitischen gekräftig, sie gewinnt erst Kontur durch die sorgfältig mit Umfeld und seine moderne, rationale Auffassung von den biographischen Angaben und weitergehende Hinweise er- internationalen Beziehungen” (S. 22). Bismarcks Auffas- gänzte Edition der programmatischen Vorworte. Der Sach- sungen sind das Thema, nicht deren Rezeption. Auf 22 kommentar „soll nur dem Leseverständnis knapp zuarbei- Seiten Literaturverzeichnis findet man deshalb bis auf fünf ten” (S. 25). Auf dieser Grundlage arbeitet Jacobmeyer in französischsprachige und zwölf englischsprachige Titel, seinem „Abriss der Gattungsgeschichte” acht Perioden der die russische Forschung wird von Arkadij S. Eruzalimskijs Entwicklung des Geschichtsbuchs in Deutschland heraus, in vier Auflagen (1970-1989) in deutscher Übersetzung skizziert den Wechsel der Geschichtsvorstellungen, die vorliegender Bismarck-Monographie (1968) repräsentiert inhaltlichen und konzeptionellen Wandlungen, aber auch (Vadim V. Čubinskij hat zum Beispiel 1997 eine umfang- die Rolle der Autoren, die Gesinnungsbildung und die Be- reiche Bismarck-Biographie veröffentlicht) nur deutsch- deutung für das Geschichtsbewusstsein (eindrucksvoll für sprachige Titel. Von nichtdeutschen gedruckten Quellen die Weimarer Republik „unter dem Schatten von Versailles hat Haller nur die „British Documents on Foreign Affairs” 1919”, S. 210-212). Ein Verfasser- und ein Verlagsregister (1983ff.) benutzt. Grundlage seiner Arbeit sind vor allem erschließen die Dokumentation im zweiten und dritten die einschlägigen preußischen und deutschen Archivalien; Teilband. soweit sie publiziert sind, hat er die publizierte Fassung, Jacobmeyer liefert nicht nur ein nach allen Möglich- soweit möglich, mit dem Original verglichen und dabei keiten vollständiges Inventar der Gattung, er schreibt vielfach Abweichungen festgestellt. nicht nur den ersten Abriss der Gattungsgeschichte und Im Zentrum der Arbeit steht Bismarcks Europabild zwi- eine fundierte Ideengeschichte des Geschichtsunterrichts schen Krimkrieg, österreich-preußischem Konflikt im in Deutschland, er bietet auch Hinweise zu den Autoren „Deutschen Krieg” 1866/67 und Reichsgründung. Haller und zu einem vernachlässigten, wiewohl in seltener Wei- referiert und analysiert mit mehr Fußnotentext als Darstel-

38 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 lung wesentlich chronologisch die einschlägigen Aussagen nach „Forschungsstand und Quellengrundlage” zunächst als Interessenverterter preußischer Großmachtpolitik, „die Motive und Voraussetzungen des „Unternehmens Bar- Bismarck unzweifelhaft, jedoch unter klar bestimmten und barossa” als schon in den politischen Zielsetzungen beson- rationalen Gesichtspunkten betrieb” (S. 664), vom Gesand- dere Form des Eroberungs- und Weltanschauungskrieges ten Preußens am Bundestag des Deutschen Bundes bis zum sowie, ebenso weit ausholend (was man bei der Lektüre der preußischen Ministerpräsidenten (1862) und Reichskanz- zentralen Teile der Arbeit bemerkt, unter dem Aspekt der ler (1871). Haller korrigiert in seiner fleißigen Arbeit in gesamten Arbeit Sinn macht) und dabei die Rolle der na- vielen Einzelpunkten das deutsche Bismarckbild und ver- tionalkonservativen Militärelite nicht auslassend, »verbre- sucht ihn als Machtpolitiker zu exkulpieren: „Mit Blick auf cherische Befehle«. Bereits bei der Darstellung von „Be- Bismarck”, schließt er seine Arbeit mit dem Versuch der setzung und Ausgangslage” verlässt er sich nicht auf die Ehrenrettung, „lässt sich schließlich konstatieren, dass er Forschungsliteratur, sondern zieht umfänglich die Quellen keine antieuropäische Haltung einnahm, sondern sich um des Bundesarchivs (insbesondere des Militärarchivs) he- die Stabilisierung, äußerstenfalls um eine den veränderten ran. Er recherchiert dabei stets in die Tiefe, liefert etwa in Verhältnissen entsprechende Anpassung des europäischen den Anmerkungen immer wieder biographische Daten zu Staatensystems bemühte und für Preußen-Deutschland ei- den im Text erwähnten verantwortlichen Militärs. Syste- nen seiner gleichberechtigten und ebenbürtigen Stellung zu matisch und gründlich rekonstruiert er dann den „Okkupa- den übrigen Großmächten entsprechenden Platz in Europa tionsapparat” unter besonderer Berücksichtigung von Insti- zu sichern suchte” (S. 665). tutionen und Schnittstellen und lässt dabei auch die Formen Indem er diese Haltung nicht kritisiert, sondern quellen- „institutionalisierter Kooperation” mit der einheimischen fundiert rekonstruiert, leistet Haller sicherlich einen we- Bevölkerung nicht außer Acht. Das „Leben unter deutscher sentlichen Beitrag zur Kenntnis der preußischen Politik im Besatzung” von der „Konfrontation der Kulturen” bis zu Übergang vom „Konzert” der europäischen Großmächte „Formen der öffentlichen Meinungslenkung”, die wirt- zum Imperialismus. Die „polnische Krise” des Jahres 1863 schaftliche Ausbeutung und »Gegnerbekämpfung« und sah Bismarck primär als „Bedrohung der territorialen Inte- »Partisanenkrieg« arbeitet er wesentlich aus den deutschen grität Preußens” (S. 295), die Konvention von Alvensleben Quellen heraus und zeigt in nüchterner Sprache eindrück- sollte vor allem eine französisch-russische Annährung zu lich Motive, Interessenkonflikte zwischen den deutschen verhindern (S. 313), die polnische Nation als Akteur kam Akteuren (Militärverwaltung, Wirtschaftsorganisation, in seinem Weltbild offensichtlich nicht vor, schließlich war Polizei und SS, Reichsministerium für die besetzten Ost- das Selbstbestimmungsrecht damals kein Bestandteil des gebiete), aber auch Schuld und Verbrechen in ihrer Ent- Völkerrechts „und somit für Bismarck nicht maßgebend” wicklung mit dem Kriegsverlauf auf. Eindrücklich weist (S. 551). Die Forderung nach Abtretung Elsass-Lothrin- er die aktive Beteiligung der Deutschen Wehrmacht und gens 1871 habe „an und für sich [...] lediglich ein Interesse ihrer Besatzungsverwaltung nach: „Lediglich die erste im Deutschlands in einem von einzelstaatlichen Interessen ge- russischen Nordwesten durchgeführte Ermordung Geistes- prägten europäischen Staatensystem” dargestellt (S. 546). kranker scheint ohne wesentliche Einflussnahme durch die Haller vertritt eine extrem historistische Perspektive und militärischen Besatzungsbehörden zustande gekommen zu exkulpiert seinen Helden aus dessen zeitgenössisch-be- sein” (S. 501). „Gegnerbekämpfung” und wirtschaftliche schränkter Perspektive. Ausbeutung waren die wesentlichen Konstanten der Besat- Die Etablierung des Deutschen Reiches „als neue Größe zungspolitik, und die hohe Zahl der Opfer „offenbart [...] im europäischen Staatensystem”, die politische Krise der trotz aller notwendigen Differenzierung [den] verbreche- 1870er Jahre und den Übergang zum Bündnissystem be- rischen Charakter der deutschen Besatzung im russischen handelt der Vf. eher summarisch (S. 588-642). Die gerade Nordwesten” (S. 587). den Osteuropahistoriker interessierenden Fragen – Orien- Kilian zeigt in seiner primär quellengestützten Arbeit talische Krise, Berliner Kongress und Rückversicherungs- (oft machen die Belege ein Drittel der Druckseite und vertrag (1887) – bleiben damit weitgehend außen vor. mehr aus), dass „monokausale Erklärungsmuster kaum W.K. zu befriedigenden Ergebnissen führen” können (S. 589). Er entwickelt aus den deutschen Quellen und der fast aus- Jürgen Kilian: Wehrmacht und Besatzungsherrschaft schließlich deutschsprachigen Literatur (einschließlich der im Russischen Nordwesten 1941-1945: Praxis und Übersetzungen aus dem Russischen) ein differenziertes Alltag im Militärverwaltungsgebiet der Heeresgrup- Bild von Besatzern und Besetzten in einem durch Litera- pe Nord. – Paderborn-München-Wien-Zürich: Ferdinand tur unterschiedlichster Couleur und Qualität okkupierten Schöningh, 2012. – 656 S. – (Krieg in der Geschichte Themenfeld (vgl. das Quellen- und Literaturverzeichnis, S. ; 75). – ISBN 978-3-506-77613-6 – Geb. – € 88,00 613-647) und zeigt, dass man auch aus einer eigentlich ein- seitigen Quellenperspektive die Lage der anderen, unter- Während die Belagerung und die Blockade Leningrads legenen Seite herausarbeiten kann. An russischsprachigen von Ende 1941 bis zum Frühjahr 1944 zu den zentralen Publikationen nennt er nur die 23 Bände der „Knjiga pa- Themen auch der deutschen Wahrnehmung der Geschichte mjati. Pskovskaja oblast’” (1993-2007), doch wäre die des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der Sowjetunion ergänzende Analyse der russischen Quellen und Publika- gehört, hat das Schicksal der Zivilbevölkerung im Umland tionen ein anderes, freilich reizvolles Thema. Eingedenk in der deutschen Forschung kaum Beachtung gefunden. In dessen, dass der russische Nordwesten im deutschen geo- seiner 2011 an der Philosophischen Fakultät der Universi- graphischen Vorstellungsvermögen nicht wirklich präsent tät Passau angenommenen Dissertation untersucht der Vf. ist, wünschte man sich mehr kartographische Unterstüt-

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 39 zung, als es die taktische Skizze der Standorte der deut- resümiert Matthew Kott den Forschungstand und eröffnet schen Militärverwaltung im Frühjahr 1942 (S. 131) leisten neue Forschungsperspektiven. Mit der Rolle und Struktur kann. Ein Personen- und ein Ortsregister erschließen diese der „Landesleitung Ostland der NSDAP” schneidet Armin herausragende, methodisch vorbildliche militärgeschicht- Nolzen ein in der Okkupationsforschung vernachlässigtes liche Dissertation, die nicht nur die Forschung zu diesem Thema an. Hier kam vielfach „deutsche Normalverwal- im deutsch-russischen Verhältnis immer noch schwierigen tung zum Zuge, die sich von jeder rechtlichen Bindung Thema wesentlich voranbringt. emanzipierte und in eine rigorose Vernichtungspolitik ein- W.K. schwenkte” (S. 169). Zur „Instrumentalisierung der Prähi- storie im Reichskommisariat Ostland 1941 bis 1944” geht Reichskommissariat Ostland: Tatort und Erinnerungs- Malte Gasche insbesondere auf die Rolle des Greifswalder objekt / eine Publikation des Instituts für schleswig-holstei- Vorgeschichtlers Carl Engel und der einheimischen Archä- nische Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flens- ologen ein, die einen „jahrtausendelangen nordisch-germa- burg und des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. nischen Kultureinfluss” nachweisen sollten (S. 179). Ana- Hrsg. durch Sebastian Lehmann gemeinsam mit Robert stasia Antipova analysiert die konkurrierenden Konzepte Bohn und Uwe Danker. – Paderborn-München-Wien-Zü- „nationalsozialistischer Sprachpolitik in Weißruthenien”, rich: Ferdinand Schöningh, 2012. – 371 S. – (Zeitalter Sven Jüngerkes („Eine Ohrfeige für den General”) Kon- der Weltkriege; 8). – ISBN 978-3-506-77188-9 – Geb. – flikte innerhalb der deutschen Besatzungsverwaltung auch € 34,90 unter allgemeinerem Aspekt, Uwe Danker („Geschichten und Geschichtskonstruktionen für Gerichte und Öffent- Im „Reichskommissariat Ostland” mit den „Generalkom- lichkeit”) am Beispiel Hinrich Lohses „Täternarrationen”. missariaten” Estland, Lettland, Litauen und Weißruthenien Wurde der „Generalkommissar” immerhin 1948 verurteilt sowie dem Gebiet Bialystok stammte die nationalsozialis- (S. 236), blieben die nach Schweden geflohenen baltischen tische Führung, voran „Reichskommissar” Hinrich Lohse, Kriegsverbrecher, wie Mats Deland darlegt, ohne Prozess seit 1925 NSDAP-Gauleiter, seit 1933 auch Oberpräsident und ohne Strafe. Die Verurteilung des lettischen Kollabora- der Provinz, aus Schleswig-Holstein: „Von hier stammte teurs Viktors Arajs zu einer lebenslangen Strafe 1979 blieb, ein erheblicher Teil des deutschen Besatzungspersonals, wie Robert Bohn zeigt, in der bundesdeutschen Justiz eine vor allem in den höheren und mittleren Führungsschich- Ausnahme. Die Historiographieanalysen zum Reichskom- ten der Zivilverwaltung. Dieses Personal kam am Ende des missariat Ostland (Jörg Hackmann) und zum dort begange- Krieges nach Schleswig-Holstein zurück und schuf und nen Völkermord (Klaus Bästlein auch zur juristischen Auf- vermittelte die Legende von der »sauberen« Zivilverwal- arbeitung in der Bundesrepublik Deutschland) sowie die tung im Reichskommissariat” (Sebastian Lehmann, Ein- Forschungen zur Vergangenheitsbewältigung in Litauen leitung S. 10). Der Bezug zur neueren Landesgeschichte, vor und nach 1990 (Joachim Tauber) und in Estland (Olaf vor allem zur gerichtlichen „Aufarbeitung” der praktisch Mertelsmann) weisen wesentlich auf Defizite hin. – Dem ungesühnt bleibenden Judenmorde und zur gescheiterten verantwortlichen Flensburger Institut und dem Militärge- Entnazifizierung (S. 23-28) ist damit evident. schichtlichen Forschungsamt ist für einen anregenden Ta- Wolfgang Benz gibt zu Beginn der 17 in diesem Band gungsband zu einem lange zu sehr aus der exkulpierenden veröffentlichten Ergebnisse einer Tagung 2009 in Flens- Täterperspektive dargestellten Teilkomplex der deutschen burg einen Überblick zum „Holocaust im Baltikum”. Ernst Besatzungs- und Vernichtungspolitik in der Zeit des Zwei- Piper untersucht die Zielsetzungen des von Alfred Rosen- ten Weltkriegs zu danken, der wesentliche Forschungslü- berg geführten „Reichsministeriums für die besetzten Ost- cken, aber auch neue Probleme und Perspektiven aufzeigt. gebiete” als „Exekutivorgan des nationalsozialistischen Man vermisst Beiträge von Historiker(inne)n aus den be- Lebensraumimperialismus” (S. 67) hinsichtlich ihrer troffenen Staaten, doch fehlt dort, wie die Beiträge von Umsetzung insbesondere im Bereich von Wirtschaftspoli- Tauber und Mertelsmann zeigen, derzeit die entsprechend tik und „Judenfrage”. Andrej Angrick verfolgt den „Stel- spezialisierte Forschung. Vielleicht regt dieser wichtige Ta- lenwert von Terror und Mord im Konzept der deutschen gungsband das Forschungsinteresse auch dort an. Besatzungspolitik im Baltikum” und arbeitet drei Phasen W.K. heraus: „Gewaltexzesse und unreglementierte Gewalt unter der Militärverwaltung”, das „zielgenau gesteuerte Elisabeth Thalhofer: Entgrenzung der Gewalt: Ge- Mordprogramm” unter der Zivilverwaltung und – seit 1942 stapo-Lager in der Endphase des Dritten Reiches. – „Zwangsarbeit – Verbrechen im Chaos der Rückzugsbe- Paderborn-München-Wien-Zürich: Ferdinand Schöningh, wegungen und das Vertuschen der Spuren von Massen- 2010. – 388 S. – (Sammlung Schönigh zur Geschichte und verbrechen“. Martin Dean zeigt anhand der „Ghettos im Gegenwart). – ISBN 978-3-506-76849-0 – Geb. – € 44,90 Generalkommissariat Weißruthenien” die „flexible und zum Teil dezentrale Ghettoisierungspolitik” der deutschen Mit den „Erweiterten Polizeigefängnissen” der Gestapo Besatzungsverwaltung mit fast allen Ghettoarten zwi- entdeckt die Autorin weitgehend aus Archivquellen, vor schen Arbeitsghetto und Vernichtungsghetto. In Lettgallen allem aus Gerichtsakten der Nachkriegszeit, ein bislang (Latgale) war, wie Tilman Plath zeigt, neben der Vernich- praktisch unbekanntes eigenständiges geheimes Lagersy- tungs- und Repressionspolitik die deutsche Besatzung eine stem, das die Gestapo seit Kriegsbeginn aufbaute und seit Blütezeit des konfessionell begründeten letgallischen Re- 1943 praktisch autonom führte. In ihrer Gewaltdynamik gionalismus. Zur Rekrutierung estnischer und lettischer glichen sie den Konzentrationslagern, wurden aber weitge- wie „germanischer” baltischer Einheiten zur Waffen-SS hend unter Mitwirkung der jeweiligen Lokalbehörden und

40 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 örtlicher Unternehmen betrieben und rekrutierten ihr Be- Beispiel alter und neuer Denkmäler am Zusammenhang wachungspersonal durch Anwerbung aus der örtlichen Be- zwischen Systemwechsel und Denkmallandschaft die poli- völkerung oder die Arbeitsämter. Thalhofer fragt nach den tische Wirkmächtigkeit der ungarischen Geschichtspolitik organisationsgeschichtlichen Strukturen dieser „Spätform vor allem in historischen Wendepunkten bis in die jüngste nationalsozialistischer Haftstätten” (S. 39), ordnet sie in Zeit. „Die literarisch-kulturelle Inszenierung der Pariser das nationalsozialistische Herrschaftssystem ein und zeigt Vorort-Verträge in deutschen und slowenischen Zeitungs- die enge Verzahnung zwischen Alltag und Terror und die perodika” systematisieren Matjaž Birk und Anja Urekar Entgrenzung der Gewalt in der Schlussphase des NS-Re- anhand des in Ljubljana erschienenen „Slovenec” und der gimes seit 1943, vor allem aber im zweiten Teil der Arbeit „Marburger Zeitung aus Maribor (von „Zeitungsperiodika die „entgrenzte Gewalt” in der „Kriegsendphase” seit dem des SHS-Königreichs”, wie es die Überschrift ankündigt, 1. Oktober 1944 (S. 40). zu sprechen, verzerrt die Perspektive, verfolgte doch die Vor allem anhand exemplarischer Fallbeispiele – den deutsche Presse in der Vojvodina zum Beispiel andere Erweiterten Polizeigefängnissen in Hagen (Westfalen), Themen). Die zeitnahe Darstellung des Friedensvertrags Schwetig bei Frankfurt (Oder), wo Ralf Dahrendorf in- von Neuilly-sur-Seine zwischen Bulgarien und Griechen- haftiert war, Brätz (Ostbrandenburg, heute Brójce) und land 1919 in der bulgarischen Presse skizziert Mariana Saarbrücken – und Täteranalysen konkretisiert Thalhofer Yovevska mit einem Bildanhang zu „Soldatendenkmälern” die Gewaltentgrenzung im Gebiet des „Altreichs”. Das für die Kriege der Jahre 1912 bis 1918 in heute verlassenen Vorgehen der Gestapo bei der Einrichtung der terminolo- Gebirgsdörfern. Den thematischen Teil beschließt Valentin gisch verharmlosten „Erweiterten Polizeigefängnisse” war Spiridonov mit der Darstellung dieses Friedensvertrages flexibel und von funktionaler Rationalität geleitet, wobei „aus bulgarischer Sicht”. die regionalen Staatspolizeistellen für Einrichtung und Die vier abschließenden Beiträge sind der Schulbuchana- Betrieb verantwortlich waren. Durch den Verzicht auf zen- lyse gewidmet: dem Vergleich bulgarischer, deutscher und tralisierte Strukturen wurden diese Haftanstalten zu rechts- österreichischer Schulbücher bezüglich ihrer Darstellung freien Räumen, zu Orten „rechenschaftslose[r] Aktion vor der Pariser Vorortverträge (Elena Dimitrova), der Behand- Ort” (S. 349). Die Umgebungsgesellschaft „kooperierte, lung des Vertrags von St.-Germain-en-Laye in österreichi- denunzierte und profitierte [...]. Der Terror erreichte eine schen Schulgeschichtsbüchern (Harald D. Gröller) sowie neue Kollektivität” (S. 350). Die Autorin zeigt, dass das des Vertrags von Trianon in ungarischen Geschichtsbü- Gewalthandeln gesellschaftlich akzeptiert war, so dass der chern 1920-1988 (Robert Balogh). Marek Białokur erwei- NS-Terror bislang unbekannte kollektive Dimensionen er- tert in seinem den Band beschließenden Beitrag „A Text- reichte. Verschweigen und Nichtbewältigung der NS-Zeit book Picture of the Paris Peace Conference in the Years in der Nachkriegszeit lassen sich auch aus solcher Kom- 1919-1920” den Horizont auf den Vertrag von Versailles. plizenschaft erklären. Thalhofer zeigt unbekannte Fak- Die Beiträge entdecken neue Perspektiven und For- ten im größeren Kontext der nationalsozialistischen Ter- schungsfragen zu den Wirkungen der Friedensverträge in rorherrschaft auf und wirft ein völlig neues Licht auf die den südosteuropäischen Regionen und Staaten und wei- Schlussphase des Zweiten Weltkriegs im „Reich”. sen auf ihre dort im Vergleich mit Deutschland wesentlich W.K. stärkere geschichts- und erinnerungspolitische Bedeutung. Das in fünf Jahren zu erwartende Hundertjahrgedenken des Die Pariser Vororte-Verträge im Spiegel der Öffentlich- im Ergebnis konfliktträchtigen Friedensentwurfs von 1919 keit / Harald Gröller, Harald Heppner (Hrsg.). – Wien: Lit wird diesen hoffentlich in neuer, auch die hier nur ange- Verlag, 2013. – VII, 179 S. – (Transkulturelle Forschun- schnittenen Aspekte aufgreifender Beleuchtung zeigen. gen an den Österreich-Bibliotheken im Ausland; 7) – ISBN W.K. 978-3-643-50471-5 – Kart. – € 19,90 Die die politische Neuordnung des europäischen Südostens Daref A. Zabarah: Nation and Statehood in Moldova: nach dem Ersten Weltkrieg regelnden Friedensverträge ha- Ideological and political dynamics since the 1980s. – ben für die Verliererstaaten Österreich, Ungarn und Bul- Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2011. – 212 S. – (Bal- garien sowie die Siegerstaaten seit 1989 neue geschichts- kanologische Veröffentlichungen; 53) – ISBN 978-3-447- politische Aktualität erhalten. Die Beiträge des hier vor- 06472-9 – Kart. – € 48,00 gelegten Bandes entdecken zunächt neue Aspekte der mit Die Entwicklung der Nationalismen und die nationalpo- den Grenzziehungen verbundenen Fragen. Zunächst geht litischen Strategien der postsowjetischen Staaten sind, Florian Führer „siebenbürgischen Perspektiven” auf die umgekehrt proportional zu ihrer Bedeutung, wenig – und rumänischen Minderheiten in Ungarn und der Tschecho- schon gar nicht systematisch – erforscht. Im Falle Moldo- slowakei in der Zwischenkriegszeit nach. Ionela Felicia vas mit seiner multiethnischen Struktur spielte die natio- Moscovici umreißt die Ereignisse im Zuge der „transfor- nale Ausrichtung der Politik eine zentrale Rolle, zeigen mations administratives” im rumänisch gewordenen Teil doch auch die Abspaltungen der Gagausischen Republik des Banats 1919-1921. Auf „Tourismusliteratur”, eine und von Pridnestrov‘e (Transnistrien) die Brisanz des bislang kaum ausgewertete Quellengattung, weist Harald Problems. Zabarah fragt in seiner Münchner politikwis- Heppner. Das Schicksal der ungarischen Denkmäler in Ko- senschaftlichen Dissertation in Bezug auf Moldova, aber lozsvár bzw. jetzt Cluj-Napoca nach dem Ersten Weltkrieg durchaus auch in generalisierender Absicht nach den „in- beleuchtet Emőke Csapó. László Levente Balogh („Tri- stitutional paths responsible for the conception of a nation anon – Stationen und Statuen des Schmerzes”) zeigt am and a society” (S. 3). Sein Fokus liegt auf den program-

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 41 matischen Konzeptionen der Eliten sowie ihrer Rolle bei 9. Literaturgeschichte und Literatur der Neuformulierung und Neulegitimierung von Staat und Literatur im Preussenland von der ausgehenden Or- Nation sowie deren Umsetzung und Bedeutung nach der denszeit bis ins 20. Jahrhundert / hrsg. von Bernhart Jäh- Aufspaltung in drei staatliche Einheiten. Er zeigt, dass die nig. – Osnabrück: fibre, 2012. – 300 S. – (Tagungsberichte politisch wirksamen politischen Ideen sämtlich ihren Ur- der Historischen Kommission für ost- und westpreußische sprung in der „Soviet worldview on nation- and statehood” Landesforschung; 27) – ISBN 978-3-938400-82-1 – Geb. mit ihrer starken Stellung des ethnischen Elements und – € 36,00 der Abstammungsgemeinschaft gehabt haben und auf den Nationalsierungsstrategien der Parteieliten in den 1980er Der Band enthält in drei thematischen Blöcken elf literatur- Jahren aufgebaut und an den nationalistischen Konzepti- historische Beiträge von der Jahrestagung 2010 der mit Ost- onen der Politik der postsowjetischen baltischen Staaten und Westpreußen befassten Kommission. Zum ersten The- angeknüpft haben, während internationale Regelungen hin- menblock „Übersetzungen zum Gebrauch im Gottesdienst sichtlich der Rechte von Minderheiten und Sprachgruppen, (15./16. Jahrhundert)” stellt Freimut Löser „Selbstaussagen wie sie die EU und der Europarat propagiert haben, keine deutschsprachiger Bibelübersetzer” vor Luther vor allem Bedeutung hatten. an Beispielen aus der Deutschordensliteratur und ihres li- Nach der Darlegung des theoretischen und analytischen teraturhistorischen Kontextes vor, Jolanta Gelumbeckaitė „framework” seiner Arbeit fasst Zabarah „the Soviet die von ihr 2008 edierte handschriftliche Wolfenbütteler worldview on nation- and statehood” mit der in sich wi- litauische Postille von 1573. Im Themenblock „Dichten dersprüchlichen Konzeption des „territorial ethno-federa- und Philosophieren im 17. und 18./19. Jahrhundert” re- lizm” (S. 50) vorzüglich zusammen, bevor er, gestützt auf konstruiert Astrid Dröse den Danzig-Aufenthalt des in der die Auswertung vor allem der lokalen Presse, von Inter- Oberpfalz geborenen Georg Greflinger (um 1620-1676) netressourcen und Parlamentsprotokollen die nationalen in den Jahren zwischen 1639 und 1646. Axel Walter zeigt politischen Diskurse, die Erfolge der sie vertretenden Par- an Simon Dachs Kasualgedichten auf die Opponenten der teien bei Wahlen und ihre Umsetzung in Gesetzgebung und synkretistischen Streitigkeiten in Königsberg um 1650, politischer Praxis getrennt nach Moldova, Gagausien und wie sich „Konfessionspolitik im Medium der personalen Transnistrien analysiert. In überzeugenden politikwissen- Gelegenheitsdichtung” dargestellt hat. Joseph Kohnen ent- schaftlichen Modellen arbeitet er die Grundkonzeptionen deckt Johann Michael Hamann (1769-1813), den als Autor heraus. In Moldova konkurrieren der moldovische Natio- vergessenen Sohn des „Magus im Norden” Johann Georg nalismus und der moldovische Multinationalismus (beide Hamann, bei allen Defiziten in der Lebensleistung als „sen- mit Russland als Verbündetem und Rumänien als Geg- sible Dichterstimme”. Renate Knoll referiert den Dialog ner) mit dem exklusiv rumänischen Nationalimus, der die zwischen Johann Georg Hamanns „Erben” Jean Paul und Vereinigung mit Rumänien anstrebt. In Gagausien, das in Friedrich Heinrich Jacobi – bis auf den biographischen Be- der Übergangsphase 1991/92 sich an den turkstämmigen zug des Erblassers ohne jeden Bezug zum „Preußenland”. Gagausen orientierende Elemente von Staatlichkeit zeigte, Im abschließenden Themenblock „Dichten und Schreiben konkurrierte die namengebende nationale Gruppe mit im 19. und 20. Jahrhundert” verfolgt Jens Stüben „die un- einem Drittel moldavisch-nationaler und einer starken bul- heimliche, erhabene, standhafte Kiefer”, den „Charakter- garischen Gruppe, die in einer Reihe von Ortschaften über baum des östlichen Preußen”, als Motiv in der deutschen die Bevölkerungsmehrheit verfügt. Hier konkurrierten im Literatur. Józef Borzyskowski umreißt die Entwicklung der Untersuchungszeitraum (bis ca. 2006) drei Autonomiemo- kaschubischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert (das delle, von denen das gagausisch-bulgarische eine Autono- eingangs [S. 203] versprochene kaschubische Gedicht fehlt mie in Bulgarien anstrebte, allerdings auch die Türkei die gagausische Politik unterstützte. Im de facto selbständigen leider in der Druckfassung). Arno Mentzel-Reuters ediert Transnistrien, in dem Ukrainer und Russen die Bevölke- nach einer ausführlichen Einleitung zum Aufenthalt des rungsmehrheit bilden, konkurrieren dagegen die Protago- Autors in Ostpreußen Briefe Felix Dahns aus Könisgberg nisten der Selbständigkeit mit denen, die den Anschluss an (Preußen) aus den Jahren 1879 bis 1884. Werkimmanent Russland befürworten. Zabarah analysiert überzeugend die bleibt Dagmar Scherfs Untersuchung zur „Ambivalenz der hinter den Programmen liegenden Gründe und Interessen, Heimat in der Lyrik Johannes Bobrowskis”. Abschließend verschließt sich aber auch – ebenso überzeugend – allen arbeitet Reinhard Goltz „Ostpreußische Sprachspuren in Spekulationen bezüglich der weiteren Entwicklungen. niederdeutscher Literatur” nach 1945 heraus. Die Beiträge W.K. werfen unterschiedliche Schlaglichter auf eine historische deutsche Literaturlandschaft, die in einzelnen Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg bald weitergewirkt haben wird, 8. Erinnerung und Biographie und ihre Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte. W.K.

Kara-Murza, S.G.: Russkoe Obščestvo Druzej Knigi (Moskovskie Bibliofily). Vospominanija. Sost. Ja.I. Ber- dičevskij, M.M. Bogdanovič. Moskva: Inskript 2011. 197 S. [Die Russische Gesellschaft der Bücherfreunde (Die Moskauer Bibliophilen). Erinnerungen.] 978-5-905309- 01-4 – € 32,70

42 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 philen mitgelesen worden, die den Text aus den Abschrif- ten kannten. Berkov weist darauf hin („Vospominanija” Kara-Murzy … s dopolnenijami čitalis’) (Berkov, 1983, S. 138). Wäre nun ein dem Informationsbedürfnis des jet- zigen Lesers entsprechender Kommentar erstellt worden, hätte der Umfang der Druckausgabe um ein Mehrfaches erweitert werden müssen. Einiges Ergänzendes mag sich für den heutigen Leser aus der Literatur ergeben, die seit Verfassen der Memoiren und gerade in jüngster Zeit zu Geschichte und (Petrograder) Vorgeschichte der Moskauer Gesellschaft der Bücherfreunde und einzelner ihrer Mit- glieder (F.I. Zacharov, A.A. Sidorov) erschienen ist.3 Was gegeben wird, ist ein äußerst sparsamer Kommentar http://www.exlibris.su/pics/477.gif an vier Stellen des Textes. An einer Stelle (S.38) wird da- (ebf. im angezeigten Buch, S. 17) rauf verwiesen, dass Kara-Murza im gesprochenen Text die Namen einer Reihe von Schriftstellern und Bücherfreun- Der Moskauer “Russischen Gesellschaft der Bücher- den weggelassen hat, die emigriert waren und von denen freunde” (Russkoe obščestvo druzej knigi) weist die Ge- einige (wie B. K. Zajcev und M. A. Osorgin) gar Mitglieder schichtsschreibung einen „Ehrenplatz“ in der russischen der in Paris parallel bestehenden “Obščestvo russkich dru- Bibliophilie zu.1 Wer auch immer diese Geschichte der von zej knigi” waren.4 An anderer Stelle (S. 69) läßt der Autor 1920 bis 1929 bestehenden Gesellschaft im Gesamtüber- der Erinnerungen die positive Wertung eines seiner ehe- blick lesen will, geht zuerst zu der mehrfach aufgelegten maligen Bücherfreunde weg (A.V. Čajanov), der im Gulag und inzwischen auch verschiedenen Orts im Netz (z.B. ums Leben kam. So sehr “verständlich und berechtigt” (S. http://lib.rus.ec/b/312694) zugänglichen Darstellung von 69) diese Hinweise sein mögen, wenn man sie als Hinweis Pavel Berkov (Istorija sovetskogo bibliofil’stva, 1971, auf Ergänzungen aus dem Archivexemplar liest, so wenig 1983). Berkovs Darstellung stützt sich in ihren wesent- ist es verständlich, wenn beim Aufscheinen des Wortes lichen Aussagen auf die Erinnerungen des Mitglieds der “Gutenberg-Jahrbuch” ein völlig überflüssiger Hinweis ge- Gesellschaft Sergej Georgievič Kara-Murza (1878-1956). geben wird, daß dies von der Gutenberg-Gesellschaft ediert Dessen Memoiren, auf zwei Abenden kurz vor Ende des II. wird (S. 56), oder eine weitere Anmerkung den Kommen- Weltkrieges (26. Januar und 16. März 1945) in der “Sekti- tar erhält, daß der Bücherfreund Greč in Wirklichkeit Zale- on für Buchwissenschaft” in der Leninbibliothek vorgetra- man heiße (S. 112). Welche editorische Konsequenz hinter gen, waren damals bis heute im Original nur in der Hand- diesen Anmerkungen stehen mag, ist unklar. Vor allem, schriftenabteilung (f. 561) der Russischen Staatsbibliothek wenn man berücksichtigt, daß an anderer Stelle durchaus (ehem. Leninbibliothek) zugänglich. Daneben kursierten emigrierte, verbannte, im Gulag umgekommene oder er- mehr oder weniger mit dem Original identische Abschrif- schossene Bücherfreunde im Text genannt werden (Ju. P. ten in den Kreisen Moskauer Bibliophiler. Nun liegt mit der Annenkov, D.N. Egorov, G.I. Poršnev u.a.), oder daß ande- hier anzuzeigenden Veröffentlichung nach Verlagsauskunft re ausländische Periodika unkommentiert bleiben (S. 34). erstmals der Text im Druck vor (http://inscript.ru/publis- Abgeschlossen wird das Bändchen durch ein “Verzeich- hing-house/publications). nis der Abbildungen” (S. 182-191) mit jeweiligen Angaben Grundlage des gedruckten Textes ist eine der erwähnten zu Besitzer, Künstler, Herstellungsart, Format, Datierung, Abschriften, die ihrerseits jetzt am Archivexemplar gegen- die bedingt als Ersatz für einen Kommentar genutzt wer- geprüft und entsprechend ergänzt wurde. Ausgelassen wur- den können. Gefolgt wird dieses Verzeichnis von einem den jedoch nach wie vor Stellen, die das Privatleben ein- “Namensregister” (in dem jedoch Namen einiger der auf zelner nichtgenannter Mitglieder der Gesellschaft RODK den Illustrationen erwähnten Personen fehlen, wie z.B. N.P. betreffen. Kiselev oder G.I. Cšaul’ (H. Zschaul)). Ergänzt wird der edierte Text um bildliche Wiedergaben Im Blick auf den Leser dieser Besprechung in Deutsch- der Exlibris seiner Mitglieder, der Einladungskarten zu den land sei es gestattet, in dieser Anzeige kurz auf einige Veranstaltungen, Programmzettel usw., also durch insge- Punkte in den Beziehungen zur deutschen Buchwelt hinzu- samt über 120 Illustrationen, denen verlagsseitig selbstän- weisen. Punkte, die im Text erwähnt werden – und das zu diger Wert zugeschrieben wird. Abgeschlossen wird die einem Zeitpunkt, da der Krieg Deutschlands gegen Ruß- Reihe der Illustrationen durch eine (undatierte) Fotografie land mit all seinem Schrecken und all seiner Vernichtung aus Privatbesitz, auf der 37 Mitglieder der Gesellschaft ab- noch nicht beendet war – und Punkte, die im Text unbe- 2 gebildet und mehrheitlich in der Legende identifiziert sind. sprochen bleiben und die wohl zu denen gehören, die von Dem Text ist weder ein Vor- noch ein Nachwort beige- den damaligen Zuhörern mitgedacht wurden. geben, lediglich eine biographische Notiz zu Kara-Murza Von großer Bedeutung für die Mitglieder der Gesellschaft angehängt (S. [199]). waren Besuch und Besprechung von Buchausstellungen. Auch ein wissenschaftlicher Kommentar fehlt völlig. Beispielhaft sei hier auf die vielen Reaktionen in der Fach- Dem Verfasser der Memoiren und seinen Zuhörern in 1945 presse aus dem Kreis der Bücherfreunde (N.F. Garelin, A.A. war noch vieles gegenwärtig, was nicht gesondert im Text Sidorov, M.I. Fabrikant) auf die große deutsche Buchaus- erwähnt wurde. Möglicherweise war und sind diese Ergän- stellung in Moskau im September 1923 gewiesen, die von zungen auch später noch von vielen der Moskauer Biblio- A.V. Lunačarskij unter dem Motto des Bundes (“smyčka”)

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 43 Deutschlands mit Rußland, mit dem Buch als Unterpfand viele Seiten dem Übersetzer Maximilian Schick (1884- einer zukünftigen “Menschheitskultur”, eröffnet worden 1969). Maximilian Schick (M. Ja. Šik), in Deutschland war.5 Mitgestalter der Ausstellung war N.F. Garelin, der aufgewachsen und in Leipzig zur Schule gegangen, Bü- vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Jahre in Deutschland cherfreund seit den Anfängen der Gesellschaft (S. 15), war studiert hatte, vor allem bei Karl Lamprecht, dem geisti- lebenslang als Übersetzer aus dem Deutschen vor allem gen Mentor der Leipziger Bugra 1914, der seinerseits die verkaufsträchtiger Literatur tätig. So wird er in 1938 in „Einheitsbewegung der Menschheit” in der Überwindung der Moskauer „Deutschen Zentralzeitung” (DZZ, Nr. 89, von Zeit und Raum durch Schrift und Druck bedingt sah. 18. April 1938; Nr. 151, 4. Juli 1938) als Übersetzer für Kara-Murza widmet dem 1928 verstorbenen Garelin eini- die bevorstehende deutsche Ausgabe des „Spanischen Ta- ge menschlich warme Worte, erwähnt auch mehrfach den gebuchs” des überaus erfolgreichen Journalisten Michail Garelin gewidmeten Erinnerungsabend, ohne jedoch auf Kol’cov genannt, deren Erscheinen sich von uns nicht die dort gehaltenen Reden einzugehen, die gerade Garelins nachweisen ließ, erklärlich durch die bald folgende Ver- Rolle für die Ausstellung und die deutsch-russischen Be- haftung und Erschießung von Kol’cov. Bei Kara-Murza ziehungen gewidmet waren.6 Die Ausstellung selbst bleibt erscheint Maximilian Schick nicht nur in einem Zitat als völlig unerwähnt im Vortragstext des März 1945. Demge- lebenslustiger Anführer des „Reigens der Erotomanen” (S. genüber wird im Text mehrfach die gewaltige Bedeutung 75), sondern vor allem als Übersetzer aus dem Deutschen hervorgehoben, die der Kölner Pressa 1928 zukommt. und Russischen, so der seit 1943 gesungenen Staatshymne War es doch die erste internationale Buchausstellung, auf der UdSSR (S. 73). Dem heutigen Leser in Deutschland ist der es der Sowjetunion gelang, ihren Alleinvertretungs- er vor allem aus der „Spanischen Reise” von Walter Benja- anspruch für die russische Kultur durchzusetzen (http:// min erinnerlich, dem düsteren Diarium aus dem Moskauer www.utoronto.ca/tsq/34/tsq34_krats.pdf ) und den Bann Winter 1926-1927, wo er als „Gewesener” und Mensch des einer Teilnahme von Emigrantenverlagen als Vertreter der 19. Jhs vorgestellt wird, dessen literarisches Verständnis russischen Kultur zu erreichen. Im Gegensatz zu früheren kaum über Brjusov hinausgehe.8 Ausstellungen erhielt nun eine Vielzahl sowjetischer Ver- Über den sichtbaren irdischen Rahmen hinaus, weist das treter die Reisemöglichkeit zu dieser Ausstellung. So auch Buch auch auf okkulte und jenseitige Dimensionen. Ober- mehrere Mitglieder der Gesellschaft, die in verschiedener flächlich kommt auffallend oft das Interesse des Autors an Funktion dorthin fuhren (S. 96, 105, 136-137), und mit Endfragen durch, sammelte er doch über Jahre Material für einem reichen Schatz an Eindrücken zurückkehrten, an eine (nie fertiggestellte) Arbeit über die Todesproblematik dem sie in Vorträgen ihre Bücherfreunde teilhaben ließen. (Poėt-samoubijca) (S. 104).9 So weiß er über jeden noch Ob allerdings der Vortrag des Bücherfreundes Bazykin so außergewöhnlichen Todesfall unter den Bücherfreunden über den „deutsch-russischen Verlag” Neva (S. 136-137), der Gesellschaft zu berichten, vom „zufälligen Tod” des verbunden mit einer Ausstellung der Gesamtproduktion Einen durch Blutvergiftung, nachdem ihm ein Fußnagel des Verlags, in Folge der Kölner Ausstellung 1928 geschah, gezogen wurde (S. 99) bis hin zum verzweifelten Sprung darf bezweifelt werden. Zeigt doch die auf S. 141 repro- des Anderen, mit dem er sich von der inneren Balustrade duzierte Einladungskarte zu Vortrag und Ausstellung als der Christi Erlöser Kirche nach unten warf (S. 142), durch- Datum den 26. Juni 1925. Ein eher passendes Datum. Das aus nicht die Reihe der Schändungen dieses Gotteshauses Verlagsunternehmen Neva, gegründet 1921, hatte bereits zu beginnend oder beendend, bis schließlich ein Dritter ein- diesem Zeitpunkt seine Produktion (bibliographisch erfaßt fach nur „übel endete” (končil plocho, S. 41). Was aber sind 22 Titel für den Zeitraum vor 1924) eingestellt (wenn völlig fehlt, sind Hinweise auf okkulte Interessen lebender es auch offiziell bis 1928 bestand). Sein deutscher Besit- Bücherfreunde (sofern sie überhaupt namentlich bei Kara- zer (Walter Mangelsdorf) war inzwischen wieder in den Murza erwähnt werden). familären Bibel- und Gesangbuchverlag Trowitzsch und A.A. Sidorov, auch als Autor deutschsprachiger Veröf- Sohn zurückgekehrt, ehe er, Buddhist geworden, aus dem fentlichungen bekannt, wird bei Kara-Murza als Bücher- Verlagsgeschäft schied. Sein für die russische Produktion freund seit Gründung der Gesellschaft RODK und Besitzer Verantwortlicher Viktor Struve (V.K. Struve) , ursprüng- einer reichen Privatbibliothek ausführlich vorgestellt (S. lich Absolvent des Rigaer Politechnikums, war jetzt schon 44). Keine Bestätigung findet sich bei Kara-Murza aber auf dem Weg ins Filmgeschäft, wo er während des Drit- zu der späteren Forschung, die, gestützt auf Akten im Zen- ten Reichs und auch nach dem Kriege, sieht man von der tralarchiv des FSB (CA FSB) zu den frühen geheimen Or- filmischen Umsetzung der Matthäuspassion unter Karajan den in der Sowjetunion und auf die Aussagen „Wissender”, unmittelbar nach dem Kriege ab, nach zeitgenössischem A.A. Sidorov als Besitzer „der vollständigsten Sammlung Presseecho eher „leichte Unterhaltung” produzierte. Umso in Moskau von Büchern und Handschriften” zu den „Ge- bedeutender waren seine für Neva produzierten Kunstaus- heimwissenschaften” (Okkultismus) vorstellt.10 In der Er- gaben, vor allem mit Illustrationen von Masjutin. Ein ur- innerungsliteratur finden sich gar weitergehende Spekulati- sprünglich von Neva geplantes aber nicht mehr realisiertes onen zu anderen verborgenen Seiten A.A. Sidorovs.11 Projekt wurde nach dem Vortrag Bazykins gar durch die So wenig der Text der Erinnerungen von Kara-Murza ei- Gesellschaft der Bücherfreunde in deren Eigenschaft als nen Hinweis darauf erlaubt, so sehr läßt sich der von den Verlagsgesellschaft RODK ediert (S. 137).7 Herausgebern in Faksimile beigegebene volle Text von Ein weiteres Interesse der Gesellschaft galt der Vorstel- Sidorovs „Ode an das Exlibris (1927)”,12 die Kara-Murza lung neuer Übersetzungen und des jeweiligen Übersetzers. im Text der Erinnerungen nur in Auswahl zitiert (S. 44), So dem Übersetzer (V.I. Cvetkov) von Stefan Zweigs Er- durchaus als Hinweis auf okkulte Interessen lesen. Sidorov zählung „Unsichtbare Sammlung” (S. 163) und besonders erklärt gleich in der ersten Strophe seiner „Ode”, daß sich

44 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 die Gesellschaft RODK zum Banner das Bücherzeichen dovič) oder Wolfgang (Vol’fgang Al’fredovič) Kawelma- (Exlibris) als 13. Sternzeichen des Zodiak gewählt habe, cher (Kavel‘macher). Beide werden in (von uns in ande- unter dem in Erinnerung an die „vergessenen Grundlagen rem Zusammenhang eingesehenen) Verhörprotokollen der der Heraldik” das „Halbdunkel” des geschriebenen Wortes 1930er Jahre im Zentralarchiv des FSB unter den Mitglie- zu entziffern sei. dern des in den zwanziger Jahren bestehenden geheimen Mag man auf den ersten Blick diese Ode als humoristi- freimaurerähnlichen „Ordens der goldenen Nadel” erwähnt schen Beitrag zu einem der Bankette oder freundschaft- (z.B. CA FSB, d. R 11331 und d. R 35649). Wolfgang als lichen Abendgesellschaften (S. 176) der Bücherfreunde „Knappenmeister” sogar im „Obersten Rat” dieses Ordens, verstehen. Der mögliche humoristische Nebenton geht der ausschließlich deutschen Mitgliedern vorbehaltenen aber in dem Moment verloren, wenn man vom Netz er- ist und von H. Zschaul gegründet worden war. Beiden, innert wird, (http://www.illuminaten.org/seminararbeit/ Wolfgang Kawelmacher (Bruder Edgar war zwischenzeitig theorien-zur-zahlen-symbolik#das-13te-sternzeichen ), verstorben) und Zschaul, brachte die zugeschriebene Zuge- daß mit einem symbolischen 13. und im Tierkreis nicht hörigkeit zum Orden der Goldenen Nadel Verhaftung und existierenden Sternzeichen traditionell Geheimgesellschaf- Verbannung, Zschaul gar letzlich das Todesurteil.14 ten arbeiten, und zusätzlich im Netz A.A. Sidorov als Mit- Kara-Murza gibt als letztes Jahr der Gesellschaft RODK glied einer Untergruppe der Moskauer Neo-Rosenkreuzer 1929 an. Genauer datiert Berkov den Beginn (1. Sitzung) genannt wird, deren Mitglieder sich unter dem Beinamen auf den 9. Oktober 1920 und die Auflösung auf den 5. Janu- eines „Orion-Bundes („orionijcy”) unter ein weiteres au- ar 1930 (Berkov, 1983, S. 107, 109).15 Ohne näher auf die ßerhalb des Tierkreises liegendes Sternzeichen stellten sinnlose Begründung Berkovs einzugehen, die Auflösung (http://www.secretorder.ru/books/masons/Mistiki-rozen- der Gesellschaft sei erfolgt „im Zusammenhang mit der kreizery-tampliery-v-cccp.htm ). Minderung der Zahl wissenschaftlicher gesellschaftlicher Der gleichen Gruppe der Mystiker und Templer wird am Organisationen” („RODK … bylo likvidirovano v svjazi gerade genannten Ort auch N.P. Kiselev zugeordnet. Bei s sokraščeniem čisla naučno-obščestvennych organiza- Kara-Murza fehlt N.P. Kiselev im Register, ist aber auf dem cij”, Berkov, 1983, S. 109), ist die Auflösung historisch in Gruppenfoto der Bücherfreunde (zw. S. 180 und 181) iden- engstem Zusammenhang mit der Mehrung der Macht Sta- tifiziert. Kiselev, Erforscher der Geschichte der Rosenkreu- lins zu sehen. Nun, im Jahr des „Großen Bruchs” 1929, zer, der mit seiner Mutter, einer geborenen Schweizerin, lässt sie sich als eine der Indikatoren sehen, die das Ende alchimistische Traktate des XVII. Jhs. aus dem Deutschen der Epoche bezeichnen, die die Verbindung (smyčka) zwi- übersetzte und die Abfassung einer „Geschichte der okkul- schen deutscher und russischer Kultur forderte, zwischen ten Wissenschaften” plante,13 ist außerhalb dieser Zusam- parteilich gebundener und parteilich nicht gebundener Kul- menhänge als der Verfasser der russischen Katalogregeln tur. Nun, im Jahr der Trennung „rasmyčka”, gab es keinen bekannt, die die stärkste Anpassung an die Preußischen Platz mehr für eine „smyčka” mit einer Vereinigung von Instruktionen darstellt (Bibliografija, Moskva, 2008, Nr. 4, (nahezu) ausschließlich Nichtparteimitgliedern.16 Sie alle, S. 61-62). die über hundert Mitglieder der Gesellschaft RODK, stan- G.I. Cšaul’ (H. Zschaul) erscheint bei Kara-Murza eben- den in ihrer geistigen (politischen, wissenschaftlichen und falls nicht im Register. Er findet sich jedoch als Unterzeich- künstlerischen) Vielfalt für die Vielfalt und Einheit dessen, ner auf einer Teilnehmerliste einer Versammlung der Bü- was sich mit ihnen in diesen Jahren als Buchwissenschaft cherfreunde am 19. April 1927 (S. 42, r. Sp., 2. Unterschrift als einer „Komplexwissenschaft” etablierte. v.o.) und als Person auf dem gerade genannten Gruppenfo- Nahezu ein Vierteljahrhundert später, unmittelbar nach to (zw. S. 180-181 unter Nr. 13). Ob er hier in der „Ex-libris Stalins Tod, wird gerade das Mitglied, das – bei aller Kom- Sektion” der Gesellschaft RODK (1925-1929) tätig war, plexität – wissenschaftlich am klarsten die Prinzipien die- ist nicht bekannt. Berkov (1983, S. 141) erklärt, die Exli- ser Wissenschaft formulierte (A.A. Sidorov), zum Initiator bris-Gesellschaft liege außerhalb seines Forschungsgebiets einer neuen Vereinigung an altem Platz: der Sektion Buch der sowjetischen Bibliophilie (ohne dies näher zu begrün- im Haus des Wissenschaftlers der Russischen Akademie den) und Kara-Murza erklärt, er habe sich für Exlibris nie der Wissenschaften, das einst gegründet wurde mit dem interessiert (S. 129). Dabei ist Zschaul bekannt als Mitglied Ziel „das neue Rußland mit der „alten russischen Intelli- und Gastgeber für Treffen der „Moskauer Gesellschaft der genz” … zu vereinigen”.17 War es noch das Bestreben der Exlibris-Liebhaber” („Moskovskoe obščestvo ljubitelej alten Gesellschaft, das Buch und die Wissenschaft von ihm knižnych znakov”), die laut Berkov (1983, S. 141) parallel auf festen Stand zu heben, so widmet sich die neue Ge- zur Gesellschaft RODK in den Jahren 1921-1929 bestand. sellschaft unter demselben Dach wie die alte (Prečistenka Aus der Chronik der Versammlungen dieser Gesellschaft (Kropotkinskaja) 16) der neuen Erforschung des Buches, wissen wir, daß Zschaul in 1923-1924 aus seiner eigenen weiterhin als „Symbol der Menschheitskultur”, in aller Kollektion den Exlibrisfreunden ein von M.A. Dobrov Komplexität unserer Zeit.18 gestaltetes Buchzeichen der Bibliothek von „Kavel’ma- cher” demonstrierte (F.F., Novye knižnye znaki// Gravjura i kniga, Moskva; Nr. 2-3, 1924, S. 100-102). Leider gibt die Chronik keinen Vornamen zu dem Familiennamen Ka- vel’macher (Kawelmacher), so daß schwer ist, zu entschei- den, welcher der vielen Träger dieses Namens Besitzer des vorgestellten Exlibris-Zeichens ist. Am wahrscheinlichsten ist es ein Zeichen für einen der Brüder Edgar (Ėdgar Al’fre-

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 45 einschlägige Bibliographie von Hans Rost in 1927, s. Polotovskaja, I.L., Tod und Selbstmord in Rußland. Frankfurt a.M., Lang 2008, S. 74-79 (Arbeiten und Bi- bliographien zum Buch- und Bibliothekswesen. 15). 10 S. Nikitin, A.L., Mistiki, rozenkrejcery i tampliery v So- vetskoj Rossii. M. 2000; Netzversion: http://www.secre- torder.ru/books/masons/Mistiki-rozenkreizery-tamplie- ry-v-cccp.htm). 11 Nikitina V.R., Dom oknami na zakat. Vospominanija. Moskva, Intergraf servis 1996, S. 211 (Semejnyj archiv. XX vek); Netzversion: http://www.sakharov-center.ru/ asfcd/auth/?t=page&num=9820. 12 Volltext ebenfalls in Berkov, 1983, S. 129. 13 Kiselev N.P., Iz istorii russkogo rozenkrejcerstva. Sost. … M.V. Rejzin, A.I. Serkov. Sankt-Peterburg, Novikov http://www.exlibris.su/show.php?returnValue=502 2005, S. 8, 13 (Russkoe masonstvo. Materialy i issledo- Gottfried Kratz (Münster) vanija. 5). 14 Kratc G., Nemeckie ob‘‘edinenija v Moskve 1920 go- (Anmerkungen:) dov. – In: Nemcy v Rossii. Vstreči na perekrestke 1 Berkov, P.N., Istorija sovetskogo bibliofil’stva. M., Kni- kul’tur. Sankt-Peterburg, Rostok 2011, S. 174-196. ga 1983, S. 139. 15 Die Mitteilung über die Auflösung der Gesellschaft 2 Die Fotografie ist laut Verlagsmitteilung bisher noch nie durch die seinerzeit sie legalisierende Behörde erschien veröffentlicht worden. Sie ist jedoch, wie die Einsicht jedoch bereits am 25. Dezember 1929 in der Presse in verschiedene Internetversionen von P.N. Berkovs (Pronina, S. 412). „Istorija” zeigt (http://lib.rus.ec/b/312694 und http:// 16 In der für 1925 und 1926 genannten mehrköpfigen Lei- i23.fastpic.ru/big/2011/0625/97/a0cac3ca5f7c3fe3d- tung der Gesellschaft findet sich kein Parteimitglied, s. 286605fb6b72997.jpg ), bereits in der Ausgabe 1971 CAGM, f. 1215, op. 2, [d. 188,] l. 5-ob. Auch unter den dieses Buches veröffentlicht (s. Berkov, 1971, S. 90-91). für den 22. April 25 genannten 84 Mitgliedern, die für 3 S. die Mitteilungen von M.E. Ermakova, Ju.I. Višnja- die “Verlagsgesellschaft” RODK der Registrierungs- kova und A.V. Nikolenko, in: Rumjancevskie čtenija, behörde, einer Kommission aus Vertretern der Verwal- 2011, č. 1, S. 162-167; 2012, č. 1, S. 89-96; č. 2, S. 84- tungsabteilung des Moskauer Stadtrats AO MS, der GPU 91. und der Moskauer Abteilung für Volksbildung MONO, 4 Zur „Gesellschaft der Freunde des russischen Buches“ gemeldet werden, befindet sich kein einziges Parteimit- ORDK in Paris s. die Darstellung von Berkov in der von glied, s. CAGM, f. 1215, op. 2, d. 188, l. 16. Von den der ihm geplanten aber unvollendet und ungedruckt geblie- gleichen Behörde am 26. April 1926 genannten 107 Mit- benen „Geschichte der russischen Bibliophilie“ bis 1917 gliedern ist nur für 2 Personen Zugehörigkeit zu Partei (Istorija russkogo bibliofil’stva). Das zweite Kapitel, das oder Jugendverband verzeichnet, s. CAGM, f. 1215, op. den Russischen Bibliophilen des 19. und 20. Jhs außer- 1, d. 155, l. 20, unter lfd. Nr. 51. Ergänzend sei darauf halb Rußlands gewidmet ist, wurde unlängst veröffent- verwiesen, daß die statistischen Angaben der Genehmi- licht in „Kniga. Issledovanija i materialy“, sb. 95, M. gungsbehörde keine Verteilung nach Geschlechtszuge- 2012, S. 111-139. hörigkeit geben. Aus Kara-Murzas Erinnerungen (S. 80) 5 S. Kratc, G., Moskovskaja „Vystavka nemeckoj knigi” jedoch sind auch weibliche Mitglieder der Vereinigung 1923 g.- In: Kniga. Issledovanija i materialy. Sb. 95. M. bekannt. 2012, S. 85-97. 17 Kogan, Prof., Das Haus der Gelehrten zu Moskau. – In: 6 Z.B. Publičnaja biblioteka SSSR imeni V.I. Lenina. Neue Kultur-Korrespondenz, Berlin, 1923, Nr. 6/7, S. 3. Sbornik II. Moskva, Biblioteka 1928 (Umschlag: 1929), 18 Vorhanden ist das Buch laut KVK nur inder Bayerischen S. 7. Staatsbibliothek (Anfrage an KVK, wie auch an die üb- 7 Zur verlegerischen Tätigkeit der Gesellschaft RODK s. rigen hier gegebenen Links, vor dem 20.09.2012). die annotierten Angaben in dem reichen Findbuch zu Archiv- und Bibliotheksbeständen der Moskauer und Leningrader Verlage der Zwanziger Jahre „Moskovskie 10. Slavistik i leningradskie izdateli i izdatel’stva dvadcatych godov” Linguistische Beiträge zur Slavistik: XIX. Jungsla- (Sankt-Peterburg: RChGI 1997, S. 411-415) von E.V. vistInnen-Treffen in Berlin, 16.-18. September 2010 / Pronina (sost.) in der von Viktor Charlamov herausge- hrsg. von Luka Szucsich et al. – München [u.a.]: Sagner, gebenen Reihe „Knižnyj mir Rossii” (Bd. 3). 2012. – 255 S.: Ill., Tab.; graph. Darst. – (Specimina philo- 8 Benjamin, Walter, Moskauer Tagebuch. Frankfurt a.M., logiae Slavicae; 171) – ISBN 978-3-86688-328-4 – € 30,00 Suhrkamp 1980, S. 141, 177; im Kommentar detail- lierter: Ben’jamin, V., Moskovskij dnevnik. Moskva, Ad Die JungslavistInnen, eine Gruppe von Nachwuchswissen- Marginem 1997. S. 141, 173. schaftlerInnen, treffen sich seit 1992 jährlich, um ihre For- 9 Ein durchaus auch den bibliographischen Interessen schungen im Bereich der slavistischen Sprachwissenschaft der Zeit entsprechendes Thema, erschien doch die vorzustellen und zu diskutieren.

46 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Im Verlag Otto Sagner liegt jetzt der Tagungsband des Erwin Wedel: „Ich bringe einen Sänger Dir vom Nor- 19. Treffens im September 2010 vor. Die Vorträge dieser den…“. Die erste Lyriksammlung von Fëdor Ivanovič und der vorangegangenen Treffen sind auch im Netz unter Tjutčev in deutscher Übersetzung von Heinrich Noé. – http://www.jungslavisten.de/ abrufbar; dies gilt inzwischen Wiesbaden, Harrassowitz 2012 – (Opera Slavica, N.F. 54) auch für die Vorträge des 21. Treffens. ISBN 978-3-447-06745-4 – 158 S. – € 38,00 Der vorliegende Tagungsband dokumentiert linguistische Erwin Wedel, Slavist mit russlanddeutschen Wurzeln, hat Forschungsarbeiten von 12 jungen Slavistinnen (8) und sich nach eigenen Ausführungen im Vorwort des zu be- Slavisten (4) aus Berlin, Dresden, Göttingen, Frankfurt, Tü- sprechenden Werks rund 10 Jahre mit dem Werk Tjutčevs bingen und Wien. Es präsentiert sich hier eine Slavistik mit intensiv befasst. Im Zentrum der Untersuchung steht der einem breiten Spektrum an linguistischen Fragestellungen. Deutschlandaufenthalt des Lyrikers, der fast 20 Jahre vor- Neben klassischen linguistischen Fragen (Das Genitiv- wiegend in Bayern lebte und wirkte. Auf den Aufsatz „Die subjekt der Negation im Russischen und Belarussischen, Tjutčevs im bayerischen Kurort Bad Reichenhall“ (er- Alena Bazhutkina; Die linke Satzperipherie im Polnischen schienen in: Zeitschrift für Slawistik, 53 (2008), Nr. 4, S. aus der Perspektive der generativen Grammatik, Joanna 486-491 sei hier nur hingewiesen). Die Übersetzungen von Leszkowicz; Zur Syntax und Semantik von Modalprädika- Heinrich Noé wertet Wedel nicht unkritisch, hebt aber die tiva, Hagen Pitsch; Der sog. „schwachregierte Akkusativ“ besondere Bedeutung hervor. „Gleichwohl gebührt Noé das als struktureller Kasus, Luka Szucsich; und eine Arbeit zur große Verdienst, die erste deutsche – zugleich überhaupt Sprachentwicklung: Elicited narratives of monolingual fremdsprachige – Gedichtsammlung F.I. Tjutčevs vorge- Russian-speaking preschoolers: A comparison of typically legt zu haben, deren 150-jähriges Erscheinungsjubiläum developing children and children with language disorders, durch diese Arbeit gewürdigt werden soll.“ (S. 82f.) Er regt Natalia Gagarina) werden Fragen an der Schnittstelle zu auch künftige komparatistische Forschungen an späteren anderen Wissenschaften untersucht: Übersetzungen Tjutčevs an. Auf eine Einführung in das Werk selbst und die von Noé • Linguistik und Literaturwissenschaft (Rechtfertigung getroffene Auswahl (S. 11-18) folgt der eigentliche Kern in der Interaktion: face-work und das Recht auf Recht- der Studie Wedels, die „Detailanalyse der Gedichttexte“ fertigung (dargestellt an russischen literarischen Bei- (S. 19-78). In der Zusammenfassung (S. 78-83) schließlich spielen), Sabine Borovanská); wird auf Auffälligkeiten verwiesen. „Beim Textvergleich • Linguistik und Medienwissenschaft (Film-Untertitel der Gedichte sind besonders viele Fälle von Auslassungen als Quelle eines quasi-mündlichen Parallelkorpus?, (Wörter, Wortverbindungen usw.) in den deutschen Fas- Daniel Buncic; Chozjain v dome. Die Gestalt(ung) sungen aufgefallen, was zum Teil wohl daran liegt, dass die Lukašenkos in den Medien, Marina Scharlaj. In der Ausgangssprache eine kompaktere (synthetische) Struktur zuletzt genannten Arbeit werden übrigens auch die hat. Auf der anderen Seite ließen sich auch sehr zahlreiche originellen und ironischen Reaktionen auf die mediale Ergänzungen nachweisen, die den Wegfall des unüber- Allgegenwart des Staatsoberhaupts analysiert.); setzten Wortmaterials der Vorlage rein quantitativ mehr als • Linguistik und Kulturwissenschaft (Russischer Gla- kompensierten.“ (S. 80) Dies kann allerdings niemanden mour – „Lustpraktik“? „Glückstechnik“? Eine diskur- überraschen, der russische Texte übersetzt hat – viel we- sanalytische Annäherung und ein Deutungsversuch, niger noch gilt das für die Übertragung von Lyrik. Auch Katharina Klingseis; Raum als axiologische Metapher. auf „echte“ Fehler im Werk Noés verweist der Autor mit Beobachtungen zur räumlichen Konzeptualisierung entsprechenden Belegen, ohne insgesamt von der oben zi- von Seele, Denken und Geschichte im Russischen, tierten Würdigung abzurücken. Holger Kuße); Ein knappes eineinhalbseitiges Literaturverzeichnis, das • Linguistik und Philosophie (Zum Verhältnis von Nor- auch die untersuchte Vorlage – „Noé 1861: Fedor Iwano- mativität und Modalität im russischen rechtsphiloso- witsch Tjutschew´s Lyrische Gedichte. In den Versmaaßen phischen Texten, Claudia Woldt). des Originals dem Russischen nachgebildet von Heinrich Noé. München. Verlag E.A. Fleischmann´s Buchhandlung. Die während des Treffens vorgetragenen aber nicht als August Rohsold. XIV + 87 S.“ (S. 85) – subsummiert, ist Volltext vorliegenden Beiträge erweitern das Spektrum beigegeben. Es folgen auf ca. 70 Seiten die Gedichte selbst noch um Sprachunterricht und Kommunikationswissen- – jeweils in deutscher Übersetzung und im russischen Ori- schaft (chatgroups). ginal, so dass der Leser die Analyse Wedels unschwer nach- Das Russische ist die zumeist gewählte Untersuchungs- vollziehen kann. sprache, aber auch das Polnische, Belarussische, Tsche- Ein verdienstvolles Werk, das einerseits Tjutčev der aktu- chische sind vertreten. ellen Forschung in Erinnerung ruft, andererseits die Über- Die Edition ist sorgfältig durchgeführt, für jeden Bei- setzungsleistungen des 19. Jahrhunderts und deren Defizite trag liegt ein Abstract in Englisch oder Russisch vor. Die verdeutlicht. Arbeiten präsentieren Forschungsergebnisse, die auch für HjT Nicht-Linguisten den Erkenntnisgewinn deutlich machen. Emmerich Kelih: Die Silbe in slawischen Sprachen. Der Gruppe von JungslavistInnen ist zu wünschen, dass Von der Optimalitätstheorie zu einer funktionalen In- auch in Zukunft junge ForscherInnen dazu stoßen und wei- terpretation. – München: Kubon & Sagner, 2012. – 186 terhin Arbeiten in der gewohnten hohen Qualität entstehen. S. – (Specimina Philologiae Slavicae; 168) – ISBN 978-3- Erdmute Lapp, Universitätsbibliothek Bochum 86688-255-3 – Kart. – € 28,00

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 47 Denjenigen, die sich mit Wortlängen, Vokal- und Konso- Einwände, die Kelih in Bezug auf die diskutierten Theo- nantenhäufigkeiten wie ihren Ranghäufigkeiten oder der rien zur Silbe vorbringt, nicht durchaus überzeugend und Phonemdistribution vor allem in den slawischen Sprachen gut begründet sind. Auch sein erweiterter synergetischer beschäftigt haben, dürfte der Name Kelih nicht unbekannt Regelkreis ist in der Tat eine sinnvolle Modifikation des sein. Im Hinblick auf seine Forschungsschwerpunkte bisherigen Modells, die in recht übersichtlicher Art und scheint die jetzt erschienene Publikation zur Silbe in den Weise die Eigenschaften und Wechselwirkungen zwischen slawischen Sprachen lediglich als eine logische Folge. In den segmentalen und suprasegmentalen Ebenen darstellt. dem 188 Seiten starken Buch gibt Kelih einen Überblick Die bisher allzu oft isoliert betrachteten Silbenstrukturen über grundlegende Konzeptionen und theoretischen Po- wie Länge, Onset-Koda-Beschränkungen, um hier nur sitionierungen zur Silbe. Er diskutiert und vergleicht die zwei Beispiele zu nennen, vereinigt Kelih in ein System, bislang gemachten Vorschläge zur Definition der Silbe als was durchaus seinen Reiz hat und zur weiteren Forschung linguistische Einheit. So stellt er beispielsweise beim Ver- in Form der Überprüfung der Funktionsweisen des Regel- gleich des strukturalistischen Ansatzes mit dem der natür- kreises anregt. Kelihs Regelkreis – und dies sei einschrän- lichen generativen Phonologie fest, dass zwischen den bei- kend gesagt – basiert zum großen Teil auf empirischen Da- den Ansätzen viel weniger Unterschiede bestehen, als man ten und Analysen verschiedener Autoren zu den slawischen von vornherein vielleicht annehmen möchte. Im gleichen Sprachen. Es ist daher eine Leistung Kelihs, dass er das Kapitel zu den Silbendefinitionen geht Kelih auch auf die synergetische Verfahren auf diese Sprachen anwendet, was Optimalitätstheorie als postgenerativen Ansatz ein. Für die- in der Form in Bezug auf die Silbe nicht erfolgt ist. Die sen Ansatz gilt die Silbe bekanntlich als „Mustereinheit“, slawischen Sprachen dienen hier als empirische Datenbasis anhand derer sich die Grundlagen der Theorie gut darstel- zur Erstellung eines neuen Modells, als Fallbeispiele oder len lassen. Einen Vorteil sieht Kelih in der Optimalitätsthe- – um es mit Worten Kelihs zu sagen – als „Illustration“ (S. orie im Vergleich zu den anderen Ansätzen: Sie versucht, 8). Der Bezug auf die slawischen Sprachen ist jedoch nicht die Silbenstrukturbeschränkungen zu hierarchisieren und so groß, wie der Titel „Die Silbe in den slawischen Spra- damit die Bestimmung der Silbengrenzen nachvollziehbar chen“ vermuten lassen möchte. Abgesehen vom synerge- zu machen. Zum Schluss konstatiert Kelih jedoch: „Klar tischen Regelkreis in den slawischen Sprachen, durch den ist, dass hinsichtlich der Kriterien der Bestimmung von ein Hauch eines Wunsches nach Universalität durchschim- Silbengrenzen die Optimalitätstheorie außer einigen neuen mert, bietet der Beitrag keine neuen Erkenntnisse zur Silbe Termini im Grunde nicht viel Neues zu bieten hat.“ (S. 90) in den slawischen Sprachen. Hoch anzurechnen ist Kelih Er bezeichnet sie gar „als Rückschritt gegenüber älteren jedoch sein Bemühen, das „Wesen der Silbe“ (vgl. S. 13) so Ansätzen“ (S. 96), da bei der letztendlichen Entscheidung umfassend wie möglich zu erfassen. Die Monographie bie- bei der Silbentrennung in vielen Fällen auf sprachliche tet einen fundierten Literaturüberblick. Besonders interes- Intuition des Sprechers als Entscheidungsinstanz zurück- sant ist das Buch für diejenigen, die sich mit der Thematik gegriffen wird. Ein Kritikpunkt, der kaum von der Hand der Silbe bisher nur oberflächlich bzw. gar nicht auseinan- zu weisen ist. In seiner theoretischen Auseinandersetzung dergesetzt haben. Es gibt einen guten Forschungsüberblick ist Kelih stets bemüht, den kleinsten gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten und so den Silbenbegriff zu operationali- sowie eine verständliche Einführung in die einzelnen Dis- sieren. Dies soll dazu beitragen, die Silbe als durchaus rele- kussions- und Problemfelder zur Silbe und wäre auch für vante linguistische Kategorie bzw. eine produktive linguis- Unterrichtszwecke geeignet. Für Personen, die sich bereits tische Einheit zu betrachten, was in Bereichen wie der psy- tiefer mit dem Thema befasst haben, ist vor allem das letzte cholinguistischen Forschung oder beim Erstspracherwerb Unterkapitel 6.3 lesenswert, in dem Kelih seine Erweite- bereits geschieht. So soll die Silbe in einen theoretischen rung zum Regelkreis der Silbe darstellt. Rahmen eingebettet und ihrer Funktion mehr Aufmerksam- Izabela Maria Błaszczyk keit gewidmet werden. Es geht Kelih – wie betont (S. 8) – in seiner Arbeit keineswegs, „ um das Präferieren der einen Piskorz, Jadwiga: Die Grammatikalisierung eines neu- oder anderen linguistischen Schule, sondern vielmehr um en Perfekts im Polnischen. Ein Beitrag zur Entwick- das schrittweise Aufarbeiten von Unterschieden und Ge- lungslogik des Perfekts. – München-Berlin-Washington: meinsamkeiten in der Bestimmung des Silbenbegriffes“, Sagner, 2012. – 338 S. – (Slavistische Beiträge; Bd. 489). womit die grundlegenden Ziele der Arbeit dargelegt wären. – 978-3-86688-318-5 – kart. – € 38,00 Diese objektive Beurteilung gelingt Kelih aber nur zum Ob im Polnischen ein neues Perfekt entsteht, ist eine Teil. Im Endeffekt – so wird deutlich – gibt er den quanti- Frage, die seit hundert Jahren die Gemüter der Polonisten tativen Verfahren bzw. denen der synergetischen Linguistik bewegt. Als Erster beschrieb 1913 Kazimierz Nitsch den Vorzug. Das zeigt sich nicht nur in der Bezugnahme die Konstruktion mieć + Partizip Passiv als analytisches auf Altmann und Köhler, sondern auch darin, dass Kelih Perfekt. Seither blieb das Thema umstritten. Neueste am Ende selbst einen synergetischen Regelkreis für die Autoren wie Bartnicka et. al. (Grammatik des Polnischen, Silbe aufstellt und die Silbe – wie er immer wieder betont 2004: 301) bezeichnen die Konstruktion als „relativ – nicht als isolierte Größe zu betrachten sucht. Vielmehr schwach grammatikalisiert“, Łaźinski (Linguistik online konzentriert er sich auf ihr Zusammenwirken mit anderen 8, 1/01) betont, dass sie lediglich eine resultative Funktion linguistischen Einheiten und versucht die Erkenntnisse aus trägt, während Weydt / Kaźmierczak (Linguistik online 4, der theoretischen Auseinandersetzung in das Regelsystem 3/99) für die Entstehung eines neuen Perfekts im Polnischen einzufügen sowie die Silbe als integralen Bestandteil funk- argumentieren. Die Dissertation von Jadwiga Piskorz tional verbundener Regulations- und Steuerungsmecha- mit dem Titel „Die Grammatikalisierung eines neuen nismen zu beschreiben. Dies soll nicht bedeuten, dass die

48 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Perfekts im Polnischen. Ein Beitrag zur Entwicklungslogik als falsch eingestuft werden, die im Polnischen durchaus des Perfekts“ knüpft an diese Diskussion an und bietet korrekt sind. Exemplarisch kann man hier den auf S. 224 als derzeit die wohl ausführlichste Analyse zum Thema aus Beispiel 272 erwähnten Satz „*Mam ten przemeblowany grammatikalisierungstheoretischer Sicht. Piskorz setzt pokój“ anbringen. Dieser Satz, der auf keine Quelle im sich in ihrer Arbeit das Ziel, die These, dass im Polnischen Text zurückzuführen ist, wäre im adversativen Sinne ein neues Perfekt entsteht, das der übereinzelsprachlichen im Polnischen durchaus passabel. Man könnte ihn zum und zyklischen Entwicklungslogik des Perfekts folgt, Beispiel in folgendem Zusammenhang einsetzen: Mam zu überprüfen. Somit stellt sich auch die Frage nach ten przemeblowany pokój (a nie ten po lewej/zielony etc.). dem Grammatikalisierungsstand der mieć + Partizip- Krampfhaft versucht Piskorz beispielsweise auch den Passiv-Formen und ihrer kategorialen Zuordnung. Kongruenzverlust bei den mieć + Partizip-Passiv-Formen Untersucht werden durch Piskorz Bedeutung, Funktion nachzuweisen. Obwohl sie kein einziges Beispiel findet, in sowie das syntaktische Verhalten der Konstruktion. Dies dem das Weglassen des Objekts in diesen Konstruktionen geschieht anhand einer kompositionellen Analyse, die auf nicht durch ein elliptisches Demonstrativpronomen empirischen Daten basiert. Be- und ausgewertet werden to oder wszystko erklärbar wäre, bleibt sie bei ihrer die Daten aus einer übereinzelsprachlichen Perspektive Meinung, dass „das Objekt von den Sprechern nicht und der Sprachgeschichte des Deutschen. Das Fazit der mehr als obligatorischer Bestandteil des mieć-Perfekts Analyse von Piskorz ist, dass die mieć + Partizip-Passiv- empfunden wird.“ (S. 222). Dies belegt sie mit dem Satz Konstruktion nicht als eine, sondern als drei unterschiedliche „die Umfrageergebnisse, die zeigen“. Leider werden in Konstruktionen mit unterschiedlichem syntaktischen und diesem Zusammenhang keine konkreten Zahlen genannt. semantischen Verhalten und Grammatikalisierungsstadium Somit kann man auch als Leser – und das ist leider generell begriffen werden muss, die „nicht auf einen Nenner in der Analyse von Piskorz der Fall – nur wenig über die gebracht werden können, da sie eindeutig weder der Passiv-, Signifikanz ihrer Ergebnisse aussagen. Kritisch zu sehen ist der Perfekt- noch der Stativ-Kategorie zugeordnet werden vor allem die kompositionelle Analyse, in der größtenteils können.“ (S. 309). Die drei Formen der Konstruktion sind nur Tendenzen abgefragt werden. Die Umschreibungen – so Piskorz (ibid.) – die possessive mieć-Konstruktion, der Formen durch andere ist zudem als Test zweifelhaft das resultative mieć-Passiv sowie das resultative mieć- und eine große Fehlerquelle bei der Analyse, da nicht Perfekt. Bezüglich des Grammatikalisierungsmerkmals eindeutig nachvollzogen werden kann, ob die Sprecher der Formen führt Piskorz (S. 308) an, dass sie „zum einen nicht Zwischenschritte für die Umschreibung brauchen Merkmale einer fortschreitenden Grammatikalisierung und wo genau die Ursachen für die Umschreibung zum Perfekt, zum anderen jedoch noch Merkmale geringer der Sätze einmal mit Relativsatz, einmal mit einer der grammatikalisierter Kategorien wie des Resultativs Präteritum-Form liegen. Zudem bleibt unklar in welcher oder des Stativs aufweisen.“ Jene „Anzeichen“ für die Beziehung die beiden Konstruktionen zueinander stehen. Grammatikalisierung zum Perfekt bzw. für die resultative Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Beitrag von Bedeutung zählt Piskorz im Kapitel 8.1 auf. Eine endgültige Piskorz durchaus viele interessante Ansätze bringt und zur Antwort bzgl. der Einordnung der Konstruktion erhält man weiteren wissenschaftlichen Diskussion anregt. Weitaus allerdings nicht. So mutig Piskorz zu Anfang stets von einem ausführlicher hätten im Beitrag aber die Daten besprochen mieć-Perfekt gesprochen hat, so stark rudert sie am Ende werden müssen und auch bei der Analyse hätte eine der Analyse zurück und spricht häufiger von „Indizien“, kritischere Herangehensweise nicht geschadet. „Anzeichen“, „fließenden Kategorieübergängen“ und Izabela Maria Błaszczyk davon, dass „eine klare Einteilung problematisch“ sei (S. 310). Auch wenn also am Ende keine eindeutige Verortung auf der Grammatikalisierungsskala erfolgen 11. Sprachwissenschaft konnte, so scheint es Piskorz gelungen zu sein, die Ksenija Cvetković-Sander: Sprachpolitik und natio- Konstruktion näher zu beschreiben und die Formen nale Identität im sozialistischen Jugoslawien (1945- zwischen einem Resultativum und einem resultativen 1991): Serbokroatisch, Albanisch, Makedonisch und Perfekt zu lokalisieren. Dies wäre ein schönes Ergebnis. Slowenisch. – Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2011. – Das Resultat – wie interessant es auch sein mag – ist 453 S. – (Balkanologische Veröffentlichungen: Geschichte jedoch mit gewisser Vorsicht zu genießen, was an der – Gesellschaft – Kultur; 50) – ISBN 978-3-447-06275-6 Datenerhebung und der teils fehlerhaften Auswertung liegt. – Geb. – € 76,00 Piskorz führte Umfragen in Form von Fragebögen durch. Ihre Sprachdaten wurden durch Beispiele aus dem IPI-Pan- In ihrer an der Freien Universität Berlin angenommenen Korpus (Instytut Podstaw Informatyki Polskiej Akademii geschichtswissenschaftlichen Dissertation stellt sich die Nauk) und PWN (Korpus Języka Polskiego Wydawnictwa Autorin die anspruchsvolle Aufgabe, „die widerspruchs- Naukowego) sowie „einer eigenen Materialsammlung“ (S. volle Geschichte der Sprachpolitik im sozialistischen Ju- 91), die auf Blogs, elektronischen Zeitschriften, Büchern goslawien vor dem Hintergrund der nationalen Frage” zu und Umgangssprache basiert, ergänzt. Man erfährt rekonstruieren (S. 24). Sie beschränkt sich dabei nicht als Leser aber leider nur wenig bis gar nichts über die nur auf die auf der Ebene der Nationalphilologien ausge- Zusammenstellung der Fragebögen, der Probanden oder tragenen kroatisch-serbischen Konflikte, sondern bezieht die Art der Datenerhebung. Zahlreiche Beispiele scheinen die das Albanische, das Makedonische und das Slowe- oder sind selbst konstruiert bzw. können keiner Quelle nische betreffende Sprachpolitik vor dem Hintergrund der zugeordnet werden. Hinzu kommt, dass einige Beispiele nationalitätenpolitischen Auseinandersetzungen ein. Die

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 49 Vorgeschichte, die Zusammenhänge zwischen Sprachen, von Gero Lietz mit dem Thema „Zum Umgang mit dem Nationen und Politik fasst Cvetković-Sander ausführlich nationalsozialistischen Ortsnamen-Erbe in der SBZ.DDR.“ referierend zusammen, ihre Arbeit gewinnt in ihrer eige- Im Verlag de Gruyter erschien im Jahre 2006 auch eine nen Forschungsarbeit danach wesentlich an Qualität. Sie „Deutsche Namenkunde“, verfasst von Max Gottschald, teilt ihre Arbeit klug in drei sprachpolitische Perioden ein aber erst jetzt ist es Manfred Niemeyer, Slawist an der Uni- („Von der Einigkeit der Gründerzeit bis zur Zuspitzung versität Greifswald, gelungen, sein „Deutsches Ortsnamen- des Sprachenstreits (1945-1965)” mit der oft übersehenen buch“ zu veröffentlichen. Mit den bereits früher von Man- bosnischen und montenegrinischen Position im innerser- fred Niemeyer herausgegebenen „Greifswalder Beiträgen bokroatischen Variantenstreit, „Die jugoslawischen Spra- zur Ortsnamenkunde“ waren bereits weite Bereiche der chen am Scheideweg (1965-1974)” und „Der Turmbau im Regionen an der Ostsee namenkundlich nicht nur erfasst, jugoslawischen Babylon (1974-1991)”) und arbeitet die sondern auch sprachwissenschaftlich behandelt worden, unterschiedlichen sprach- und nationalitätenpolitischen so der Kreis Nordvorpommern, der Kreis Uecker-Randow, Konfliktebenen überzeugend heraus. Sie widerlegt zum Ostvorpommern mit einem ersten Band zur Insel Usedom Teil heute gerne aus nationalistischen Positionen vorge- und einem zweiten Band das Festland behandelnd. Die tragene Behauptungen wie die angebliche Bevorzugung Ortsnamen der Insel Rügen wurden von Ernst Niemeyer in des Gegischen bei den Albanern. Außer auf politische zwei Bänden erfasst, entsprechend alphabetischer Anord- Publizistik und wissenschaftliche Diskussionen und Kon- nung von A-M und von N-Z. troversen konnte die Autorin dabei auf Akten des Bundes Mit dem vorliegenden umfangreichen und gründlich be- der Kommunisten Jugoslawiens, Serbiens und Kroatiens arbeiteten „Deutschen Ortsnamenbuch“ wurde erstmals sowie des Sozialistischen Bundes des werktätigen Volkes eine Informationslücke sowohl für Wissenschaftler ver- Jugoslawiens zurückgreifen und kann so nachweisen, schiedenster Fachrichtungen wie auch für Vertreter aller dass die politische Ebene reagiert, aber kein kohärentes mit Fragen der Ortsnamenkunde in Berührung stehender gesamtstaatliches sprachpolitisches Konzept entwickelt Kreise geschlossen. Dass ein solch umfassendes Werk nur hat, es also insbesondere seit der Föderalisierung der Po- in Zusammenarbeit kompetenter Fachvertreter aus den litik in den 1960er Jahren keine einheitliche Sprachpolitik Bereichen der Germanistik, der historischen und verglei- gegeben hat. In ihrer bemerkenswerten Arbeit gelingt es chenden Sprachwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, Cvetković-Sander in Grund legender Weise, ein zentrales nicht nur der Germanistik, sondern auch der Slawistik, Ro- Problem des zweiten Jugoslawien erstmals überhaupt im manistik, Keltologie und noch mehrerer anderer Fachrich- Zusammenhang darzustellen. tungen entstehen konnte, versteht sich wohl von selbst. W.K. Am Anfang des umfangreichen Nachschlagewerkes steht eine Einführung in die Ortsnamenkunde, gefolgt von ei- Manfred Niemeyer (Hrsg.): Deutsches Ortsnamenbuch. ner allgemeinverständlichen Darstellung der Bildung von – Berlin/Boston: Walter de Gruyter GmbH & Co. KG – 756 Ortsnamen, einer Darstellung der Namensschichten, wobei S. – ISBN 978-3-11-018908-7/e-ISBN 978-3-11-025802- auch ausführlich auf den slawischen Hintergrund einer kei- 8 – € 129,95 neswegs geringen Anzahl deutscher Ortsnamen eingegan- gen wird. Zwei weitere kurze Abschnitte bringen Ausfüh- Die deutsche sprachwissenschaftliche Germanistik kann rungen zur Methode der Erforschung von Ortsnamen sowie auf eine lange und sehr fruchtbare Tradition zurückblicken, eine kurz gefasste Darstellung der Forschungsergebnisse. denn bereits im Jahre 1883 war das bis heute aktuelle und In einem weiteren Abschnitt wird die Einrichtung des vor- immer wieder neu aufgelegte „Etymologische Wörterbuch liegenden Ortsnamenbuches mit den Grundlagen, dem der deutschen Sprache“ von Friedrich Kluge (1856-1926), Aufbau der einzelnen Artikel zu den Ortsnamen, sowie Professor in Freiburg, erschienen, zuletzt 2011 beim Verlag Fragen der Schreibung und der Lautung näher erläutert. de Gruyter erneut aufgelegt. Im Jahre 1937 hatte Friedrich Kluge auch ein für den Unterricht an höheren Schulen be- Der alphabetischen Anordnung folgend werden die amt- stimmtes Hilfsbüchlein unter dem Titel „Deutsche Namen- lichen deutschen Ortsnamen genannt, zu der gegebenen- kunde“ veröffentlicht. Nicht nur mit Friedrich Kluge, son- falls eine fremdsprachliche Parallelform kommt, so für dern bereits mit Ernst Förstemann (1822-1906), Bibliothe- ehemals schlesische und ostpreußische deutsche Namen kar in Dresden, und dann mit Adolf Bach (1890-1972), Pro- eine polnische Parallelform, für sudetendeutsche Namen fessor in Straßburg und Bonn, im Bereiche der deutsch-sla- eine tschechische und für das nördliche Ostpreußen eine wischen Berührungen mit den Germanisten und Slawisten russische Parallelform. Angeführt werden hier auch mund- Ernst Schwarz (1895-1983) in Erlangen und Ernst Eichler artliche Varianten oder Aussprachebesonderheiten. Weitere (1930-2012) in Leipzig kann auch die deutsche Ortnamen- Erläuterungen zu den einzelnen Namen betreffen die Kom- forschung auf eine große Tradition zurückblicken, obwohl munalordnung, d.h. ob es sich um eine Stadt, ein Amt oder namenkundliche Fragestellungen bisher meist nur am Ran- eine Gemeinde handelt. Angeführt werden auch die aktu- de der Einzelphilologien behandelt wurden, obgleich die- ellen Einwohnerzahlen, die geographische Lokalisierung se nicht nur für die Sprachwissenschaft, sondern auch für sowie die staatliche Zuordnung des betreffenden Ortes. die Geschichtswissenschaft und die Historische Geogra- Ferner finden sich historische Angaben zur Erläuterung der phie eine grundlegende Rolle spielen. Dass es sich bei der Entstehung und weiteren sprachlichen Entwicklung des be- Namengebung und damit auch bei der Erklärung von Na- treffenden Ortsnamens. Es folgen chronologisch angeord- men um ideologisch ausgerichtete Entwicklungen handeln nete Schreibweisen mit den dazugehörigen Jahresangaben. konnte, zeigt eine 2005 in Leipzig erschienene Abhandlung Im Zentrum aller Artikel steht jedoch die Frage der Deutung der Ortsnamen aufgrund etymologischer, namenbildender,

50 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 siedlungsgeographischer oder morphologischer Gesichts- künstlerische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts ganz- punkte. Hinzu kommen gegebenenfalls Quellen- und Lite- heitlich-zeichenhaft einsteigen. Der Band bietet somit me- raturhinweise. Als ungemein positiv muss die Tatsache ge- thodisch eine großartige Verbindung historischer und phä- wertet werden, dass sich in der alphabetischen Anordnung nomenologisch-philosophisch-religionswissenschaftlicher nicht nur Ortsnamen finden, sondern auch Einzelartikel zu Darstellung. Ortsnamensuffixen, so z.B. für das in Deutschland häufig Auf ihrer Grundlage wendet sich die Arbeit mit „Auf auftretende Suffix „-itz“. Terpsichores Schwingen“ (S. 149 ff.) dem Werdegang der Es besteht kein Zweifel, dass das „Deutsche Ortsnamen- gewürdigten bulgarischen Ballerina Emilia Andonova von buch“, herausgeben von Manfred Niemeyer, eine seit langer der Schülerin zur Meisterin und Lehrerin zu und arbeitet Zeit fühlbare Lücke füllt. Sowohl für den Wissenschaftler dabei das geistig-spirituelle Element des Tanzes deutlich als auch für den allgemein an Ortsnamenkunde Interessier- heraus. Die Künstlerin kommt in diesem Sinn mit „Die ten besteht nun die Möglichkeit, sich fachlich abgesichert Umstellung einer Tänzerin in die Ballettpädagogik“ (S. zu orientieren. Das „Deutsche Ortsnamenbuch“ trägt auch 217 ff.) selbst zu Wort und beginnt mit dem bezeichnenden wesentlich dazu bei, die Epoche einseitig national ausge- Satz „Tanz ist eine Sache der Intuition“. Das lässt an N.O. richteter Erklärung von Namen endgültig zu überwinden, Losskij denken.5 Abschließend versammelt das Buch wie dies nicht nur vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern „Stimmen der Anderen“ (S. 247 ff.), die auch Stellungnah- auch noch in den Jahren danach immer wieder vorkam. men von Schülern der Künstlerin bieten, aber auch Emilia Helmut W. Schaller/Marburg a. d. Lahn Andonova noch einmal mit einem erhellend-aufschluss- reichen Gespräch mit R. Zlatanova zu Wort kommen lassen (S. 257 ff.). 12. Kunst- und Architekturgeschichte Der Rezensent macht keinen Hehl daraus, dass dieses be- wundernswerte Buch für ihn nicht nur Bedeutung hat für das gründlich-allseitige Verstehen des Tanzphänomens, sondern ihn auch als Slavisten und Ostkirchenkundler an- spricht. Der Gedanke der Ganzheit, fußend auf einer in- 13. Kulturgeschichte tensiven Inkarnationstheologie, hinführend zu Solov’evs Spartak Paskalevski, Rumjana Zlatanova: Auf Terpsi- Alleinheit und dem Kosmismus wird spürbar.6 Darüber hi- chores Schwingen: die Ballerina Emilia Andonova. – naus wird ein typischer Beitrag der Slaven zur Weltkultur Sofia: Temto, 2011. – 320 S.: Ill., Notenbeisp. – (Dialog und ihr Dialog mit ihr deutlich. Die vermittelnde Rolle von und Dimensionen des Geistes; Bd. 5) – ISBN 978-954- Bulgaren von Ost nach West sei dabei nicht unterschlagen. 9566-56-7 – € 38,00 Schließlich, konzentriert auf Saarbrücken und je einen Ver- treter der deutschen Slavistik und Theologie7, zeigt sich der Ohne von der bevorstehenden Erscheinung des anzuzei- Prozess der geistig-künstlerischen Symbiose zwischen Sla- genden Bandes zu wissen, hat der Rezensent einen kleinen ven und Westeuropa im 20. Jhd. in einer Zeit, die eher von Hinweis auf die Bedeutung des russischen Balletts für nö- 1 Abschottung und Abgrenzung geprägt war, auf eine Weise, tig gehalten. Er fühlt sich nun zutiefst durch den jüngsten die durchaus auch ihren geschichtlichen Wert hat. Über die Band einer Reihe bestätigt, die sich konsequent und tief- politische Wertung dieser Vorgänge im künstlerisch-wis- schürfend den geistigen Dimensionen des Menschen wid- senschaftlichen Bereich kann man und soll man speku- 2 met. Sie ist eine ständige Erinnerung an Kandinskij (1866- lieren und damit auch über die Wirkung und das Gewicht 3 1944). In einer umfassenden, dem „ganzheitlichen Thema“ der „geistigen Dimension“ des Menschen und seinen tran- verpflichteten Weise gelingt das den bereits überzeugend szendentalen Bezug. Die Ganzheit dieser Bezüge gebietet ausgewiesenen und profilierten Autoren Spartak Paskale- einen „ganzen, integralen Dank“, einen „aspektreichen“ vski und Rumjana Zlatanova mit der Würdigung der bul- Dank an Rumjana Zlatanova und Spartak Paskalevski. garischen Tänzerin und Ballettpädagogin Emilia Andonova Horst Röhling (geb. 1941) und ihrer Verbindung mit der Phänomenologie des Tanzes. Dabei geht es nicht nur um den Tanz an sich als ganzheitliches Phänomen des Menschen und seiner Bezie- (Anmerkungen:) hung zum Transzendenten, sondern auch um die Verdeutli- 1 ABDOS-Mitteilungen 31.2011, 1/2, S.26. 2 Bulgarien-Jahrbuch 2009/10, S. 173 ff. – Ostkirchliche Studi- chung des gewichtigen russischen Anteils an der modernen en 59. 2010, 1, S. 156f. Tanzkunst und ihrer Einordnung in die Weltentwicklung 3 Das Geistige in der Kunst, 1912, viele spätere Auflagen. des Tanzes im 20. Jhd. Das leistet das hervorragende Ka- 4 Wörterbuch der Religionen. 2. Aufl. Stuttgart, 1962, S. 546f.; pitel „Geist und Tanz. Aufgabe und geistige Hingabe“ (S. Reclams Bibellexikon. 4., rev. u. erw. Aufl. Stuttgart, 1987, S. 1 ff.). „Mythos und Tanz“ (S. 37 ff.) steigt darauf tief in 299; Wörterbuch des Christentums. Zürich, 1988, S. 1224f.; das, das gesamte Wesen des Menschen in seinen körper- Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2008, VIII, lich-geistig-seelischen Dimensionen reichende Phänomen Sp. 34 ff.; Lexikon für Theologie und Kirche. Freiburg, 2009, IX, Sp. 1257 ff.; Udo Tworuschka: Lexikon Die Religionen des Tanzes ein und erinnert an die wachsende Aufmerk- der Welt. Wien, 1999, S. 299 samkeit der Religionswissenschaft und Theologie gegen- 5 1870-1965. Wilhelm Goerdt: Russische Philosophie. Freiburg 4 über dem Tanz. Durch reiche und sprechende Abbildungen I, 663 ff. et passim, II, 741 ff. et passim; Helmut Dahm, Grund- unterstützt, zeigt „Der Tanz in der bildenden Kunst“ (S. 53 züge russischen Denkens. München, 1979, S.253 ff. et passim; ff.) seine „ritualisierte(n) und theatralisierte(n) Formen“, Helmut Dahm (Hrsg.): Geschichte der philosophischen Tradi- während die „Projektionen des Tanzes“ (S. 135 ff.) in die tionen Osteuropas. Darmstadt, 1996 passim.

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 51 6 Konrad Onasch: Die alternative Orthodoxie. Paderborn, 1993, Ende 2012 erschien ein neues, bemerkenswertes Buch über S.106 ff., 123 ff.; Ulrich Schmid: Russische Religionsphilo- die Geschichte Galiziens aus der Feder von Artur Bach- sophen des 20. Jahrhunderts. Freiburg, 2003, S.25 ff.; Michael mann, dem Kulturreferenten des Hilfskomitees der Gali- Hagemeister: Nikolaj Fedorov und der „russische Kosmis- ziendeutschen e. V.: Vom Warschauer Traktat 1768 zum mus“. In: Russische religiöse Philosophie. Stuttgart, 1992, Protestantenpatent 1861. S.159 ff. 7 Wolfgang Gesemann. In: Kürschners Deutscher Gelehrten-Ka- Das Hilfskomitee hat seit der Wende im Ostblock, seit lender 2011, S.1192; Gert Hummel. In: Kürschners Deutscher 1990, den Kontakt zu ukrainischen Archiven und Univer- Gelehrten-Kalender 2005, S. 4027 (1933-2004). sitäten gesucht und dank der Hilfe ukrainischer Partner eine Vielzahl an Archivalien und Aktenbeständen in Ko- pie erwerben können. Sie sind die Basis der mühevollen Marcus Twellmann: »Ueber die Eide«: Zucht und Kri- Kleinarbeit von A. Bachmann. Akribisch, sachlich, analy- tik im Preußen der Aufklärung. – München: Konstanz tisch, aber auch kompakt und kritisch, genau bis ins Detail University Press, 2010. – 334S.– ISBN 978-3-86253-000- hat der Autor in jahrelanger Arbeit dieses Desiderat, diese 7 – Geb. – € 39,00 Lücke in der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung ge- In seiner Bonner germanistischen Habilitationsschrift be- schlossen. Schon der bekannte ostoberschlesische Histori- handelt der Autor „die lange Geschichte des Schwörens ker und Galizienforscher Walter Kuhn (1903-1983) nannte im Ausschnitt: Ihr Untersuchungsfeld ist der Staat Preu- die Zeit nach dem Wiener Kongreß bis weit in die zweite ßen des 18. Jahrhunderts. Berücksichtigt werden Bedeu- Hälfte des 19. Jahrhunderts die „geschichtslose Zeit“ der tungszuweisungen, die das Schwören [zwischen 1701 und Galiziendeutschen, da über diese Epoche keine nennens- 1806] erfahren hat” (S. 8). Die Verwendung des Eids war werte Abhandlung über die galiziendeutsche Volksgruppe in dieser Zeit im Preußischen vielfältig: Huldigungseid erschienen war. beim Herrscherwechsel, Fahneneid des Soldaten, Amtseid, Galizien ist auch heutzutage kein klassisches Thema für der Eid bei der Vergabe akademischer Titel und die Versi- universitär tätige Historiker, so griff auch Isabel Röskau-Ry- cherung des Wahrheitsgehalts einer Aussage vor Gericht. del in ihrer neuesten Übersichtsdarstellung der Geschichte Zwischen orthodoxer Vergeltungstheologie und aufgeklär- der Deutschen in Galizien auf eine alte Lehrmeinung zu- ten Auffassungen von der Möglichkeit, „in der Sinnlich- rück, die im Detail nicht mit der Realität übereinstimmt, keit des Zeremoniellen [...] dem zu vernünftiger Erkennt- wie Bachmann in seiner Arbeit nachwies. Es ist wie so oft nis nicht Fähigen seine Wahrheitspflicht begreiflich zu das Missverstehen der heute arbeitenden und forschenden machen” und der Übung zum Zwecke der Moralität (S. Menschen, wenn es um Begriffe aus der Vergangenheit 10) entwickelte sich die Bandbreite der Diskussionen in geht. Was man im 18. Jahrhundert unter „Toleranz“, gerade der Theologie, Rechtswissenschaft, Philosophie und Lite- auch im Bereich „religiöser Toleranz“ verstand, ist etwas ratur. Twellmann geht vom Eid als Herrschaftsinstrument anderes, als wir heute darüber denken. Toleranz bedeutete über den „gemeinen Mann” aus, analysiert das „Zeremo- lediglich die Zulassung der fremden Konfession, aber min- niellwesen der Aufklärung” und untersucht exemplarische derberechtigt gegenüber der staatstragenden Kirche, eben Diskurse am Ende des 18. Jahrhunderts bei Kant, Friedrich nur toleriert. Nicolai, Moses Mendelssohn (und das spezifische Pro- Mit der Besiedlung Galiziens unter Kaiser Joseph II. be- blem der „Judeneide”) und Johann Jakob Engel (mit dem ginnt die eigentliche Geschichte der deutschen Minderheit Zusammenhang von Fahneneid und Vaterlandsliebe). Die im einst österreichischen Galizien (bis 1918), d. h. vor „Gegen-Aufklärung” kommt mit Johann Georg Hamann allem in Ostgalizien, dem historischen Land, denn durch mit seiner antijüdischen Einstellung und dessen Rezeption die 3. Teilung Polens kam Kleinpolen (Małopolska) eben- durch Carl Schmitt, die der Autor „nicht als ein rezeptions- falls unter österreichische Herrschaft und wurde Westgali- geschichtliches Ärgernis mit Stillschweigen übergehen” zien genannt. Die Geschichte der deutschen Minderheit in will (S. 252). Galizien begann mit der Ansiedlung deutscher Bauern und „Ideen, die von den Denkern der Aufklärung propagiert Handwerker durch Kaiser Joseph II. ab 1782. Die Anfänge worden waren, sind im 20. Jahrhundert Rechtswirklichkeit der geschichtlichen Entwicklung lagen bislang weitgehend geworden. Gleichwohl wird noch immer geschworen” (S. im Dunkeln der Geschichtsforschung und erst durch Bach- 281), zieht Twellmann die Verbindung zu immer wieder manns Arbeit kann man nachvollziehen, wie schwer aller Anfang war; denn die Kolonisten kamen nicht in ein Land, geführten Diskussionen über den religiös fundierten Eid in in dem Milch und Honig fließt, in dem sie in allem geför- der säkularen Gesellschaft. Seine philologische und philo- dert und unterstützt werden. Die Frühzeit zählt vielmehr zu sophische Diskursanalyse überzeugt. den schwersten, leidvollsten und kompliziertesten Kapiteln W.K. im Leben der Galiziendeutschen. Es bewahrheitet sich der uralte Spruch „Der ersten Generation der Tod, der zweiten Artur Bachmann: Vom Warschauer Traktat 1768 zum die Not und erst die dritte hat Brot“. Protestantenpatent 1861; die Entwicklung der evan- Bachmann behandelt etwa die erste Hälfte der gesamten gelischen Kirche und ihren Gemeinden in Galizien Zeit, in der Deutsche in Galizien gelebt haben. Hierüber und der Bukowina während der Toleranzzeit. – Herne; gab es kaum wissenschaftliche Ausarbeitungen und wenn Freunde der Martin-Opitz-Bibliothek, 2012. – 316 S. – Werke in jener Zeit entstanden, so waren ihre Autoren oft- (Beiträge zur Geschichte der Deutschen in Polen und mals „Auswärtige“, die die Verhältnisse vor Ort nicht so der deutsch-polnischen Beziehungen; 6) – ISBN: 978-3- genau kannten, wie man sie heute nur noch aus Akten able- 923371-39-6 – Kart. – € 48,00 sen kann. Man sieht es dem Buch an, welche Arbeit es dem

52 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 Autor gemacht hat, sich in die Thematik einzuarbeiten. Die der jeweilgen osteuropäischen Sprache bzw. in eng- Literatur zu diesem Thema ist – für eine wissenschaftliche lischer Sprache eingereicht werden. Arbeit eher gering (S. 306-307 „Benutzte Literatur“), da Die Redaktion eben kaum etwas vorhanden ist. Dafür aber findet man in den Fußnoten mehr Zitate und Hinweise auf Aktenbestän- de denn auf vorhandene Literatur. In der galiziendeutschen Vorliegende Rezensionsexemplare Literatur wurde dieser Zeitraum mangels exakten Wissens weitgehend ausgespart. Mit dem vorliegenden Buch wird Liebe Leserinnen und Leser von Bibliothek und Me- diese vom Autor als schmerzlich empfundene Lücke in der dien, das unten aufgeführte Rezensionsexemplar­ kön- galiziendeutschen Geschichtsschreibung endlich geschlos- nen Sie über die Redaktion anfordern. Fühlen Sie sich sen. zudem eingeladen, selbst Rezensionswünsche einzu- Über die Entwicklung, die sich in den ersten 80 Jahren, bringen und an die Redaktion zu melden. In der Re- immerhin die Hälfte der Zeit der deutschen Siedlung in gel werden Sie die Exemplare binnen kürzester Zeit Galizien, von der Ansiedlung bis zum Protestantenpatent 1861 – Toleranzzeit genannt – vollzog, war bisher so gut erhalten. wie nichts bekannt. Die Redaktion Der Autor weist nach, dass Galizien und die südlich be- nachbarte Bukowina keine autonomen Gebiete, sondern Imidž, dialog, eksperiment – polja sovremennoj russ- immanenter Bestandteil des österreichischen Vielvölker- koj poezii. – [Image, Dialog, Experiment – Felder der rus- staates und dessen Wirtschaft, Kultur, Politik und Religion sischen Gegenwartsdichtung]. – Herausgegeben von Hen- unterworfen waren. Hervorzuheben ist das Bemühen von rieke Stahl und Marion Rutz. – München-Berlin: Verlag Bachmann, den differenzierten und vielgestaltigen Ent- Otto Sagner, 2013. – Br., 600 S. m. Abb., [in russ. Sprache] wicklungsprozess der deutschen Siedlung und der evange- (Neuere Lyrik. Interkulturelle und interdisziplinäre Studi- lischen Kirche im Kontext mit dem sich in der Habsburger- en) – ISBN: 978-3-86688-371-0 – € 29,80 monarchie Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts [Verlagsannotation] Sbornik, predstavljaemyj vnimaniju vollziehenden Umwandlungs- und Reformprozess auf čitatelej, soderžit materialy meždunarodnoj konferencii ökonomischem, politischem und geistig-kulturellem Ge- „Imidž – dialog – eksperiment: polja sovremennoj russ- biet darzustellen. Er setzt sich damit wissenschaftlich und koj poezii“, provedennoj pri podderžke Nemeckogo nauč- kritisch mit bisher vertretenen Thesen zur Rolle Josephs II., no-issledovatel‘skogo obščestva v marte 2010 goda. Vkl- dem Warschauer Traktat von 1768 und dem Toleranzpatent jučennye v sbornik stat‘i posvjaščeny stanovleniju kanona auseinander. sovremennoj russkoj poezii, metodologii istorii literatury i Es ist ein offenes und ehrliches Buch. Der Autor tritt den analizu konkretnych poetičeskich proizvedenij. V sbornike historischen Personen mit Sympathie entgegen, benennt zatragivajutsja voprosy tvorčestva ne tol‘ko priznannych aber auch ihre Schwächen und Fehler, gleich ob Kolonist, klassikov sovremennoj literatury – D. Prigova, O. Seda- Pfarrer oder Superintendent. Sicher waren fast alle evange- kovoj, E. Švarca, A. Voznesenskogo, no i poka čto menee lischen Geistlichen vom Pastor bis zum Superintendenten izučennych vidnych poetov, takich kak E. Mnacakanovoj, gute „Arbeiter im Weinberg des Herrn“, aber ihnen, die von E. Fanajlovoj, V. Pavlovoj, A. Rodionova, I. Kovalevoj, auswärts nach Galizien kamen, fehlten vor allem die poli- I. Kamenkovič, S. Tichomirova. Materialy sbornika poz- tischen Erfahrungen und die staatsrechtlichen und verwal- voljajut vyjavit‘ profil‘ i stanovlenie novych tečenij: neoa- tungsrechtlichen Kenntnisse, um staatliche Vorgaben und vangarda, metarealizma, „ženskogo pis‘ma“, internet-po- Gesetze richtig zu verstehen, sie in den entsprechenden Zu- ezii. Kategorii, nazvannye v zaglavii sbornika, – Imidž, sammenhang einzuordnen und daraus Schlussfolgerungen Dialog, Eksperiment, Polja – dajut funkcional‘nye orien- für das Wirken ihrer Kirche in strengster Diasporalage ab- tiry v izučenii složnych vzaimootnošenij meždu različny- zuleiten. mi napravlenijanmi russkoj poezii poslednich tridcati let. Zu erwähnen sei noch die Unterstützung bei dieser Ar- (Dieser Titel als eBook: 8040E) beit durch den langjährigen, ehemaligen Kulturrefe- renten der Galiziendeutschen, Prof. Dr. Erich Müller, und durch den ebenso langjährigen ehemaligen Direktor der Martin-Opitz-Bibliothek, Dr. Wolfgang Kessler. Dr. Martin Sprungala

Call for Papers Liebe Leserinnen und Leser von Bibliothek und Me- dien, in den zukünftigen Ausgaben von Bibliothek und Medien wird ein thematischer Schwerpunkt auf Beiträge zu deutschsprachigen Beständen und Samm- lungen in den Staaten Nordost-, Ostmittel- und Süd- osteuropas gelegt. Artikel zu diesem Themenspek- trum sind besonders willkommen und können auch in

Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 53 Miszellen und Ankündigungen Wie in den vergangenen Jahren findet am Abend des 27. August ein informelles Zusammentreffen der bereits ange- Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Doku- reisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer statt. mentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südost- Das Tagungsentgelt beträgt 60 € (Mitglieder der ABDOS europaforschung ABDOS e. V. e.V.: 40 €), für kommerzielle Teilnehmer 300 €. Über den jeweils aktuellen Stand der Tagungsvorberei- tungen wird auf http://www.abdos.de informiert. Dort fin- 42. ABDOS-Tagung 2013, Minsk, 28.-30.08.2013 den Sie auch ein elektronisches Anmeldeformular. Informationen über die Nationalbibliothek von Belarus fin- „Auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis den Sie unter http://www.nlb.by/ – Bibliotheken als kulturelle und soziale Zentren“ Für weitere Informationen steht neben Dr. Jürgen Warm- in der Nationalbibliothek der Republik Belarus´ brunn [[email protected]] auch das ABDOS-Vorstandsmitglied Frau Dr. Elke Knappe [elke. Die 42. Internationale Arbeits- und Fortbildungstagung der [email protected]] zur Verfügung. ABDOS wird im Anschluss an den Weltslavistenkongress 2013 ebenfalls in Minsk stattfinden. Unterstützt wird die Ausrichtung der Tagung von der Nationalbibliothek von Tagungsankündigung: Belarus und MIPP International. Digitale Bibliotheken in Deutschland Als Anreisetage sind der 26. und 27. August vorgesehen, und in der Slowakei nach der Tagung findet voraussichtlich eine Exkursion in den Norden der Republik Belarus statt, sodass eine Abreise Wissenschaftliche Fach- und Fortbildungstagung der auch über Vilnius erfolgen kann. Dabei soll unter anderem Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Sammlungen Vitebsk, die Geburtsstadt von Marc Chagall, besucht wer- zur Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Eu- den. ropa in Kooperation mit DiFMOE und der Öffentlichen Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden bei der Bibliothek Jan Bocatius vom 25. – 27. September 2013 in Visabeschaffung durch die Nationalbibliothek von Belarus Kaschau / Košice unterstützt. Die Tagung thematisiert (1) geschichtlich-kulturelle As- Eine Hotelliste ist auf der Homepage aufgeschaltet. pekte der Deutschen in der Slowakei und deutsch-slo- wakische kulturhistorische Beziehungen; (2) Kooperati- Interessierte Referentinnen und Referenten werden gebe- onen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Biblio- ten, baldmöglichst, spätestens aber bis zum 22. Juni 2013, theken sowie Bestände zur deutschen Kultur und Geschich- Beiträge zu folgenden Themenbereichen anzumelden: te in der (östlichen) Slowakei; (3) aktuelle Entwicklungen und Projekte aus dem Bereich der Digitalisierung und Bi- 1. Aktuelle Rolle und Aufgaben von Bibliotheken in der bliothekstechnik. Stadt und im ländlichen Raum Der einleitende Teil ist der Geschichte der Deutschen 2. Die Entwicklung der Lesekulturen in Ost- und Südosteu- in der Slowakei und der gemeinsamen Kultur gewidmet. ropa in den letzten Jahr(zehnt)en Neben Grundsatzvorträgen zu allgemeinhistorischen The- 3. Slavistik, Polonistik, Germanistik und Anglistik in Bel- men werden kunst- und mediengeschichtliche Aspekte auf- arus – Wissenschaftliches Arbeiten und Formen der Litera- gegriffen. turversorgung Die zweite Sektion umfasst spezifischere Fragenstel- 4. Digitale Bibliotheken in und zu Belarus, Ost- und Süd- lungen zu den deutsch-slowakischen Kulturbeziehungen osteuropa sowie bestehende und auszubauende Kooperationen im 5. Ost- und Südosteuropastudien weltweit – Was braucht Bibliotheksbereich. Thematisiert wird das Buch-, Zei- unsere Zielgruppe wirklich? tungs- und Verlagswesen der Stadt Kaschau/Košice und 6. Aktuelle freie Themen der (östlichen) Slowakei unter Berücksichtigung deut- scher bzw. deutschsprachiger Bezüge sowie wechselseitige Kommerzielle Anbieter sind herzlich eingeladen, an der deutsch-slowakische Beziehungen aus sprach- und litera- Tagung teilzunehmen. turwissenschaftlicher Perspektive. Darüber hinaus werden thematisch einschlägige Bestände und Sammlungen der Erbeten werden Anmeldungen von Referaten an die: beteiligten Bibliotheken vorgestellt. Der dritte Tagungsabschnitt befasst sich mit dem The- ABDOS e.V. ma Digitalisierung im Besonderen und der Bibliotheks- Z.Hd. Dr. Jürgen Warmbrunn technik im Allgemeinen. Vor dem Hintergrund der an den c/o Herder-Institut, Forschungsbibliothek Gisonenweg 5-7 beteiligten Bibliotheken laufenden Projekte und des Auf- D-35037 Marburg baus des elektronischen Lesesaals der MOB soll ein inten- Deutschland siverer Dialog zwischen den digitalisierenden deutschen Fax: +49-6421-184-139 und slowakischen Einrichtungen initiiert werden. Neben [email protected] technischen Entwicklungen kommt insbesondere Fragen Tagungssprachen sind Deutsch, Englisch und Russisch. des Urheberrechts besondere Geltung zu. Aktuelle und für

54 Bibliothek und Medien 33 (2013), Nr. 1 die praktische Arbeit unmittelbar relevante Urheberrechts- fragen werden von ausgewiesenen Spezialisten behandelt. Tagungsstätte: Öffentliche Bibliothek Ján Bocatius / Hervorgehoben sei ebenfalls die Präsentation der di- Verejná Knižnica Jána Bocatia gitalen Bibliothek Cassovia Digitalis, welche sowohl in Hviezdoslavova 5, Kaschau / Košice, Slowakei Hinblick auf die nutzerseitigen Anwendungen als auch aus Hotel: Doubletree by Hilton Košice technischer Sicht vorgestellt wird. Der von DiFMOE ge- Hlavná 1, Kaschau / Košice, Slowakei tragene Teil der Tagung hat zum Zweck, wesentliche und Reise- und Übernachtungskosten können für eine begrenzte herausragende gemeinfreie Bestände mit Bezug zu der Interessentenanzahl übernommen werden. multikulturell geprägten Stadt Kaschau/Košice auf nutzer- freundliche Weise zugänglich zu machen. Die Veranstaltung wird gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Konferenzsprachen: Deutsch, Slowakisch (simultanübers.) Beschlusses des Deutschen Bundestages. und Englisch (ohne Übersetzung)

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