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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 14. Februar 2005 Betr.: Tsunami, Kempowski, Goebbels uf der Suche nach Menschen, die den Tsunami vom 26. Dezember auf See über- Alebt haben, fand SPIEGEL-Reporter Ullrich Fichtner, 39, im Hafenviertel von Ban- da Aceh den Fischer Sofyan Anzib – ziemlich schnell, weil Anzib einer der wenigen ist, die noch ein Boot haben. Der Fischer fuhr mit dem Reporter wieder aufs Meer hin- aus bis zu jener Stelle, wo ihn die Welle 35 Meter hochgehoben hatte, und er erzählte von den Stunden, die danach die Welt erschütterten. Auf 170000 ist inzwischen die Zahl der Toten gestiegen, mehr als 140000 Menschen werden noch vermisst, unter ihnen 558 Deutsche. Inzwischen wissen Erdbebenforscher über das Geschehen am Meeresboden sehr viel mehr als kurz nach der Katastrophe. SPIEGEL- Reporter haben die Wissen- schaftler befragt und deren Erkenntnisse zusammenge- fügt mit den Berichten Über- lebender aus den Ländern rund um das Epizentrum. Die Rekonstruktion der Jahrhun- dertflut, recherchiert von 18 Reportern und montiert von Cordt Schnibben, 52, beginnt

in diesem Heft als SPIEGEL- / DER SPIEGEL SCHUMANN FRANK Serie (Seite 138). Autoren-Team der Tsunami-Serie

ein erstes Interview mit Walter Kempowski, 75, machte SPIEGEL-Redakteur SVolker Hage, 55, im Jahr 1972 als damaliger Germanistikstudent für die Literatur- zeitschrift „Akzente“. Als er 20 Jahre später erneut zu einem Gespräch in die Dichter- klause nach Nartum bei Bremen reiste, bereitete der SPIEGEL den Abdruck von Aus- zügen aus Kempowskis erstem „Echolot“-Band vor, jenem monumentalen Epos mit Weltkriegserlebnissen überwiegend einfacher Leute. Nun hat Kempowski sein Werk beendet und dazu ein Arbeitstagebuch („Culpa“) über dessen fast unglaubliche Ent- stehungsgeschichte vorgelegt. Mehrmals findet darin der SPIEGEL Erwähnung: „Volker Hage rief an, er meine, der SPIEGEL werde einen Vorabdruck des ‚Echolot‘ machen“, notierte Kempowski etwa am 12. Oktober 1992, „das ist mal eine schöne Nachricht!“ In Nartum traf Hage jetzt einen erschöpften, aber auch zufriedenen Chronisten: „Man muss sich nur einmal vorstellen, die Tagebuch- und Briefstellen wären nicht von Kempowski gesammelt und zitiert worden“, so Hage, „die meisten wären für immer verloren gewesen“ (Seite 166).

itlers Propagandaminister Joseph Goebbels war der zynischste Hetzer der Na- Hzis. Seine herausgebrüllte Frage an die rund 10000 hysterisch jubelnden „deut- schen Volksgenossen und Volksgenossinnen“ 1943 im Berliner Sportpalast – „Wollt ihr den totalen Krieg?“ – lieferte ein schauriges Zeugnis menschlicher Verführung und Verführbarkeit. In der SPIE- GEL-Serie über das Ende des Zweiten Weltkriegs beschreibt Alexander Smoltczyk, 46, mit welchen (nicht unmodernen) Mitteln Goebbels die Deutschen an sich fesselte und sie bis zum bitteren Ende mit sich zog (Seite 60). Als SPIEGEL- Buch bei DVA erscheint diese Woche zudem ein von Lutz Hachmeister, 45, und Michael Kloft, 43, herausgegebener Text-Bildband („Das Goebbels-Experiment“) parallel zum gleichnamigen Dokumentarfilm, der im Rahmen der Berlinale gezeigt wird.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 7/2005 5 InIn diesem diesem Heft Heft

Titel Kim Jong Il, der bizarre Diktator mit der Bombe ...... 104 Deutsche Technik auf dem Schwarzmarkt der Atomschmuggler ...... 115

Deutschland Panorama: Skandal-Schiedsrichter Hoyzer packt weiter aus / Clement streicht auf Druck Pekings seinen Taiwan-Besuch / Stalkern drohen harte Strafen ...... 19 IGOR GOROVENKO / ASSIGN-PHOTO.COM / ASSIGN-PHOTO.COM IGOR GOROVENKO BERND KÜHLER / BPA / BPA BERND KÜHLER Visa-Skandal: Das Krisenmanagement der Fischer, Konsularabteilung der Deutschen Botschaft in Kiew Grünen in der Schleuser-Affäre ist gescheitert ...... 24 Ein Besuch beim Geschäftspartner des früheren Staatsministers Ludger Volmer ...... 26 Wie Albaner an deutsche Visa gelangten ...... 28 Visa-Affäre: Fischer in der Defensive S. 24, 26 Diplomatie: Transatlantisches Tauziehen um einen vermeintlichen Terroristen aus Neu-Ulm ..... 32 Geschlossen wollte die Grünen-Spitze die Visa-Affäre aussitzen – damit der frühere Arbeitsmarkt: Zehntausende Deutsche verlieren Staatsminister Ludger Volmer Außenamtschef Joschka Fischer im Skandal um die ihren Job durch die EU-Osterweiterung ...... 34 illegale Einreise Hunderttausender Osteuropäer entlasten kann. Doch der Plan ging Regierung: Wie sich Gerhard Schröder mit nicht auf: Auf Druck der Parteibasis muss Volmer seine Ämter aufgeben. Sonderbeauftragten für den Wahlkampf rüstet ..... 40 Auswärtiges Amt: Warum Diplomaten mit NS-Vergangenheit nicht mehr in Nachrufen geehrt werden ...... 46 Union: Der Kampf um die Kanzlerkandidatur wird härter ...... 48 Politik des Gefühls Seite 40 Hochschulen: Die Universitäten entdecken das Fundraising nach amerikanischem Vorbild ...... 50 Bis zur Bundestagswahl in anderthalb Familie: Bundesländer plädieren für Jahren will die Regierung keine neuen die Erleichterung von Vaterschaftstests ...... 54 Reformprojekte anschieben. Trotz Rekord- Prostitution: Huren nutzen das Internet arbeitslosigkeit und gigantischer Staatsver- zur Kontaktaufnahme ...... 58 schuldung setzt Kanzler Gerhard Schröder lieber auf Emotionen und wohlige Bilder, Serie um Wähler zu gewinnen. Gattin Doris und Zweiter Weltkrieg: Die Propagandaschlacht – ein stilles, prominentes Schattenkabinett Wie Joseph Goebbels die Deutschen verführte ...... 60 sollen dabei helfen. Sind moderne Wahlkampagnen und Parteienmarketing Propaganda? ...... 68 Ehepaar Schröder OSSENBRINK FRANK

Sport Ski Nordisch: Die Last der deutschen WM-Favoriten ...... 74 Autorennen: Toyotas Formel-1-Team will mit neuem Personal die Wende schaffen ...... 80 Angriff auf das Bankgeheimnis Seite 90 Finanzminister Hans Eichel nutzte die Wirtschaft Terrorattacke vom 11. September, um Trends: Rekordverluste beim Smart / das Bankgeheimnis weitgehend einzu- Hartz in der Kritik / Balli verklagt WestLB ...... 83 schränken, vom 1. April an dürfen auch Geld: Osteuropa-Boom hält an / Finanzbeamte alle Kontoverbindungen Interview mit Paion-Chef Wolfgang Söhngen über der Bürger abfragen. Die Gegner des den Börsenstart seines Biotech-Unternehmens ...... 85 Steuern: Die Tricks der Konzerne ...... 86 Gesetzes hoffen jetzt auf das Bundes- Banken: Gläserne Konten nutzen den LANGROCK / ZENIT PAUL verfassungsgericht. Terrorfahndern – und verschrecken die Bürger ..... 90 Gewerkschaften: SPIEGEL-Gespräch mit Banken (in Frankfurt am Main) DGB-Chef Michael Sommer über den notwendigen Umbau des Sozialstaats und verantwortungslose Unternehmer ...... 92 Welthandel: Ungeniert kopieren die Chinesen Produkte ausländischer Unternehmen ...... 96 Happy End auf Windsor Castle Seite 174 Ausland Nach 35 Jahren Heimlichtuerei kündigt der britische Panorama: Drogenmafia soll Mexikos Präsidenten Thronfolger Prinz Charles an, seine Langzeitgeliebte bespitzelt haben / Südafrikas Regierungspartei Camilla zu ehelichen – ein neuer Höhepunkt für die streitet mit Korruptionsermittlern / Magnat Klatschpresse. Doch die Briten nehmen das Happy End Beresowski bringt Kiew in die Zwickmühle ...... 99 kurz vor der Pensionierungsgrenze gelassen. FACE TO FACE Vatikan: Die Heimkehr des Papstes ...... 122 Nahost: Der Gaza-Streifen – Testfall für den Frieden ...... 124 Camilla, Charles Saudi-Arabien: Kleine Übung in Demokratie .... 126

8 der spiegel 7/2005 Zeitgeschichte: Der Goldzug aus Budapest ..... 130 Europa: Die Sprachkünstler aus Brüssel ...... 133

Gesellschaft Szene: Fertighaus für Paare / Küsse für Premierminister Tony Blair ...... 135 Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 136 Tsunami: Protokoll einer Weltkatastrophe, Teil I ...... 138

Kultur Szene: Der unterschätzte Bruder des Philosophen

GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA Martin Heidegger / Pop-Maler James Rosenquist Diktator Kim Jong Il, Massenaufmarsch in Pjöngjang (2000) über sein Comeback in einer Wolfsburger Schau ... 153 Legenden: Ein Film und ein Roman feiern den US-Forscher Alfred C. Kinsey als großen sexuellen Befreier ...... 156 Nordkorea droht mit der Bombe Seiten 104, 115 Kunst: Galeristen stürzen sich auf die Studenten- Kim Jong Il ist Herrscher in einem Hungerreich – das Atomwaffen besitzt, wie der rät- Arbeiten der Neuen Leipziger Schule ...... 160 selhafte Tyrann in Pjöngjang jetzt zur Verblüffung der Welt stolz verkündete. Beginnt TV-Film: Dominik Grafs martialischer Krimi „Der scharlachrote Engel“ ...... 162 ein Wettrüsten in Asien? Zum Bombenbau Nordkoreas trugen der berüchtigte paki- Autoren: Walter Kempowski vollendet stanische Wissenschaftler Abdul Qadir Khan und ein internationales Netzwerk bei. sein Jahrhundertwerk „Das Echolot“ ...... 166 Bestseller ...... 169

Medien Trends: „SZ“ setzt auf DVDs / Papst am Kreuzweg Seite 122 Entlassungen bei der Bildagentur Zefa ...... 171 Fernsehen: Vorschau/Rückblick ...... 172 Spektakulär und vor aller Welt inszenierte der Va- Hochzeiten: Charles und Camilla heiraten – tikan die Rückkehr des Papstes aus dem Kranken- die britischen Medien haus. Wie viel Kraft aber hat der Pontifex wirklich suchen nach der richtigen Story ...... 174 noch? Auf wen könnte seine Macht übergehen, und Biografien: Interview mit Gyles Brandreth welche Rolle bliebe Karol Wojtyla dann noch? / AFP PIZZOLI ALBERTO über sein Doppelporträt von Philip und Elizabeth und die Rollenspiele am britischen Hof ...... 177 Johannes Paul II. Wissenschaft · Technik Prisma: Mini-AKW in Alaska / Hormonspray gegen Schüchternheit ...... 181 Hochschulen: Der Verkauf der Unikliniken Marburg und Gießen – ein Modell Schwul oder nicht schwul für ganz Deutschland? ...... 184 Tiere: Rätselraten um die schwulen Pinguine Seite 187 von Bremerhaven ...... 187 Im Zoo von Bremerhaven schließen sich Pin- Luftfahrt: Interview mit dem Abenteurer guinmännchen zu Pärchen zusammen. Sind sie Steve Fossett über seinen schwul? Oder fehlt es an Partnerinnen? Um die geplanten Rekordflug rund um die Welt ...... 190 Männchen in Versuchung zu führen, hat die Computer: Angriff auf Intel – IBM, Sony und Toshiba bauen einen Superchip ...... 192 BEN BEHNKE Zoodirektorin Weibchen aus Schweden besorgt. Automobile: Der neue VW Passat ...... 194 Pinguine Briefe ...... 10 Impressum, Leserservice ...... 196 Chronik ...... 197 Register ...... 198 Personalien ...... 200 Hohlspiegel / Rückspiegel ...... 202 Missionar der Lust TITELBILD: Fotos Action Press, Corbis; Collage DER SPIEGEL Seite 156 Mit empirischen Studien legte Al- Abbruch mit Erfolg fred C. Kinsey vor rund 60 Jahren Wie Uni-Aussteiger die Ar- die Grundlage für die sexuelle Be- beitswelt aufmischen. Außer- freiung der US-Gesellschaft. Jetzt dem im UniSPIEGEL, dem Ma- feiern den Pionier zwanglosen Kinsey, gazin für Studenten: Gezerre Lustgewinns ein Hollywood-Film Sexsymbol um Hochschulgebühren, Wege und ein Roman. Bushs Amerika Marilyn zum Film und die Lebenspla-

boykottiert die Kinsey-Welle. Monroe AKG FOTOS: nung der jungen Elite.

9 Briefe

Deutschland ab? Wenn im Februar 2005 der Andrang an der deutschen Botschaft „Vielen Dank für das Titelbild! auf ein normales Maß gesunken ist, hängt das doch möglicherweise auch damit zu- Langsam werden auch die sammen, dass es in der Ukraine eine neue Perspektive gibt. Letzten verstehen, dass man mit Rodgau (Hessen) Heinrich Bassenge Gutmenschentum meistens Das Ganze ist kaum zu glauben, aber da die Berichte des SPIEGEL in aller Regel nicht viel Gutes bewirkt.“ exzellent recherchiert sind, stimmt es wohl: Der Außenminister leistet den Ta- Clemens Hellenschmidt aus Laufen an der Salzach zum Titel ten „durch schweres Fehlverhalten“ Vor- „Fischers ‚Schleuser-Erlass‘: Grünes Licht für Menschenhändler“ schub! Was mich aber am meisten verstört: SPIEGEL-Titel 6/2005 Wo ist die gesamte Opposition? Solange Angie und Edmund ihre Kräfte damit ver- geuden, sich Knüppel zwischen die Beine Sie, dass ein arbeitsloser Ukrainer ein ge- zu werfen, hat es ein Gesetze umgehender Monströse Peinlichkeit ringeres Anrecht auf den Besuch seiner Außenminister leicht, der beliebteste Poli- Nr. 6/2005, Titel: Fischers „Schleuser-Erlass“: deutschen Verwandten hat als einer, der tiker Deutschlands zu sein. Und Schröder? Grünes Licht für Menschenhändler Bonität lückenlos nachweisen kann? Ich Joschka hat ihn endgültig als Papiertiger habe den Eindruck, dass Sie die negativen enttarnt. Eigentlich ist es doch ein schlechter Witz, Nebenfolgen des Erlasses übertreiben. Der Körperich (Rhld.-Pf.) Manfred Nusbaum dass der für diesen Skandal verantwort- Erlass wäre sicher genügend modifiziert liche Minister immer noch der beliebteste und schleuserresistent genug, würde man Der Artikel zeigt auf erschreckende Weise, deutsche Politiker ist, andererseits bestätigt weiterhin auf persönlicher Vorstellung der wie eine gefährliche grüne Zuwande- dies nur den alten Spruch vom „Einäugi- Antragsteller bestehen. rungspolitik undemokratisch durch die gen, der unter den Blinden König“ ist! Dresden Marc Ihle Hintertür eingeführt wurde und trotz ihres Bonn Gernot Kupferoth

Ich halte es für eine monströse Peinlichkeit, dass deutsche Diplomaten wider besseres Wissen jahrelang Weisungen ausführen, die der Bundesrepublik größten Schaden zu- fügen. Handelt es sich hier tatsächlich um Diplomaten oder um ängstliche Pöstchen- huber, die aus Angst vor Karrierenachteilen alles mit sich machen lassen? Zivilcourage ist für diese Leute wohl ein Fremdwort. Hamburg Gregor Voss

Beim Lesen dieses Beitrags hatte ich Mühe, meinen Frust unter Kontrolle zu halten. Of- fenbar gibt es verschiedene Realitäten. Mei-

ne sieht so aus, dass meine schwangere afri- / ASSIGN-PHOTO.COM IGOR GOROVENKO kanische Lebensgefährtin zwangsweise in Visumantragsteller vor der deutschen Botschaft in Kiew (2000): „Negative Nebenfolgen“ ihr Heimatland deportiert wurde, obwohl klar ist, dass sie nach der Geburt unseres Nach der Lektüre dieses Artikels kann es Scheiterns im Parlament in dieser Form Kindes hierher wird zurückkehren dürfen. nur einen Schluss geben: Joschka Fischer jahrelang ihr Unwesen treiben konnte. Die Frage ist nur, wann und unter welchen ist als Minister nicht mehr tragbar. Er muss Nicht hinnehmbar ist in diesem Zusam- Konditionen. Meine Hoffnung, dass das seinen Hut nehmen. menhang die Passivität des Innenministe- Auswärtige Amt einschließlich aller mitent- Köln Alfred Dahmen riums, aus Kabinettsräson nicht gegen scheidenden Behörden in Anlehnung an die skandalösen Missstände entschieden das Kiewer „in dubio pro libertate“ nun- Soll ich jetzt ernsthaft glauben, eine re- vorzugehen! Erst ein engagierter Staats- mehr „in dubio pro familia“ entscheiden striktive Visavergabe in Kiew hält krimi- anwalt brachte den Stein ins Rollen. Wie- wird, hält sich allerdings in Grenzen. nelle Ukrainer von der Einreise nach der einmal mehr wird die Minister-Verei- Berlin Jörg Mückler

Wer schon einmal im Ausland gelebt hat Vor 50 Jahren der spiegel vom 16. Februar 1955 und sich eine Aufenthaltsgenehmigung be- Kanzler Adenauer und die Westverträge Kampf auf der Straße. Ende sorgen musste, kann der reformierten Pra- der alliierten Kontrolle über IG Farben Schlussstrich unter alle Ent- xis von Ex-Staatsminister Volmer nur zu- flechtungspraktiken. Wirtschaftsberater veruntreut Aufbau-Darlehen stimmen und muss bedauern, dass nun für Flüchtlinge Schlachtermeister als Geschäftsführer. Polizeipräsident wieder zum alten Ritus übergegangen wur- verursacht Unfall Verschwundene Straßenschilder. Britische Presse wegen Verleumdung vor Gericht Schmerzhafte Deutlichkeit. Marilyn de. Die gelockerte Visapraxis betraf vor al- Monroe gründet Produktionsgesellschaft Gegen goldene Ketten. lem, wie in Ihrem Artikel angesprochen, Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de Menschen aus Osteuropa, denen der Be- oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. such bei in Deutschland lebenden Ver- Titel: Sowjetischer Ministerpräsident Nikolai Bulganin wandten erleichtert werden sollte. Finden

10 der spiegel 7/2005 Briefe digungsformel, „das Wohl des Volkes zu dadurch aus, dass – anders als in der Wei- mehren und Schaden von ihm abzuwen- marer Republik – Gegner, die auf die Zer- Immer noch und immer wieder den“, zur puren Farce, auf lange Sicht ver- störung der demokratischen Strukturen der Nr. 6/2005, Leserbriefe: „Ein Meister aus Deutschland“ liert die Demokratie. Bundesrepublik aus sind, verboten werden Frankfurt am Main Brigitte Ackermann können. Ein Verbot der NPD wäre dem- Herr Lukacsev, zu Ihrem Leistungskurs nach die logische Folge und nicht, wie vie- Geschichte könnte man Sie beglückwün- Haben Sie vielen Dank für Ihren enthül- le Gegner des Verbots einwenden, die Auf- schen, wenn Sie denn wirklich etwas ge- lenden Artikel zum Volmer-Erlass von 2000 weichung demokratischer Prinzipien. lernt hätten. Sie sprechen von Geschichte, und zu seinen Folgen für die Einwande- Hannover Holger Jordan von etwas Geschehenem, das Sie selbst rung und Kriminalstatistik! Leider fehlen nicht erlebt haben. Seien Sie froh! Die Zeit Hinweise, Beispiele, die zeigen, was mit Fangen wir doch einfach damit an, alle von 1930 bis 1945 ist so voller unvorstell- Frauen aus der Ukraine und ihren Zu- Seuchen zu verbieten, dann den Krebs, die bar grauenhafter Geschehnisse, die von hältern, mit Schwarzarbeitern und illegal Schuppenflechte, die Gürtelrose … Wenn Deutschland ausgehend eine blutige Spur lebenden Osteuropäern in Deutschland pas- das klappt, dann verbieten wir die NPD über die Erde zogen. Natürlich könnten siert ist. Sind sie immer noch in Deutsch- und andere rechtsradikale Gesinnungsge- wir ein halbes Jahrhundert danach alles land, oder sind sie nach Ablauf ihres Vi- nossen und deren Gedankengut. Wenn es vergessen, zu den Akten legen. Die Nach- sums in ihr Heimatland zurückgekehrt? Ein nicht klappt, müssen sich die Parlamenta- kommen der 60 Millionen Toten des Fa- zweiter Schönheitsfehler dieses Berichts: rier in Berlin überlegen, wie sie den Krank- schismus könnten sich allein ihrer Trauer Er kommt zu spät! Die Missstände sind ab- heiten, vor allem den geistigen, den Nähr- hingeben. Aber Fehler in der Aufarbeitung gestellt worden, Fischer und Co. können boden entziehen können. Sie werden das des deutschen Faschismus, in der scho- die Sache aussitzen. Vielen Dank, Ihre Rezept nicht finden, sie sind ihm seit 50 nungslosen Klarstellung der Schuldfrage Multikultiträume, die Sie im Außenamt Jahren erfolglos hinterher. Es hieße näm- Deutschlands, bei der rigorosen Bestrafung ausleben durften, begünstigen das Erstar- lich, eine solide Politik zu machen. Die aller Kriegsverbrecher, auch der soge- ken derjenigen, die Sie „verabscheuen“. NPD darf weiterhin beruhigt sein. nannten Schreibtischtäter, führen dazu, Bad Segeberg Dr. Hans-C. Schmidt Hahnbach (Bayern) Wolfgang Schmidt dass wir uns Jahrzehnte danach immer noch und immer wieder mit der faschistischen Ideologie auseinan- der setzen müssen. Der „Leis- tungskurs“ hört nicht auf! Unsere Demokratie wird von den Neona- zis schamlos ausgenutzt. Wer geht denen auf den Leim? Wer zu wenig über die Vergangenheit weiß, wer sich mit oberflächlichem Wissen begnügt. Mögen Ihnen die Erfah- rungen meiner Generation erspart bleiben – lernen Sie das Richtige aus der Geschichte. Lommatzsch (Sachsen) Renate Reinke

Verschärfter Rechtsruck Nr. 5/2005, Rechtsextreme: NPD-Thesen ver- fangen auch in der Mitte der Gesellschaft

Dieser Artikel bestätigt in er-

REX FEATURES / ACTION PRESS / ACTION REX FEATURES schreckender Weise meine Erfah- Gedenkfeier in Auschwitz (am 27. Januar): Unerträgliche Relativierung rungen mit Menschen aus meinem erweiterten Umfeld, nicht Freun- Ich kann die Aufregung über die primitiven deskreis. Die wenigsten würden sich zwar Appell an heimliche Sehnsucht Aktivitäten dieser neo-pöbelnden Dem- direkt zur NPD bekennen, äußern aber of- Nr. 5/2005, Demokratie: agogenpartei nur im Rahmen einer nicht fen ihre rechten Ansichten, wenn zum Bei- Eine braune Offensive verstört die Berliner Republik gefestigten Demokratieauffassung verste- spiel die Rede auf ausländische Mitbürger hen. Unerwartet clever und erfolgreich ap- kommt. Äußerungen wie „kriminelle und Welches Ereignisses bedarf es noch, dass pellieren deren Repräsentanten an die arbeitslose Ausländer sofort raus aus die verfassungsfeindliche und gewaltberei- heimliche Sehnsucht vieler Deutscher nach Deutschland“ oder ein „kleiner Hitler te NPD endlich verboten wird? Das dumm- einer unreflektierten nationalen Identi- wäre ja nicht so schlecht“ sowie latente dreiste, die NS-Verbrechen immer wieder tät. Sollten Demokraten nicht etwas be- Vorurteile und Intoleranz bezüglich Le- relativierende Nazi-Gehabe der NPD ist sonnener umgehen mit der – zugegeben bensgestaltung et cetera sind da keine Sel- nicht mehr zu ertragen. Und es ist vor al- unappetitlichen – Tatsache, dass diese tenheit. Dass damit der Rechtsruck nur lem nicht hinnehmbar, wenn die Abgeord- Jauchegehirne eben auch zu einer offenen verschärft wird, wird entweder geleugnet neten einer solchen radikalen Partei in Gesellschaft gehören können? Verbote mys- oder billigend in Kauf genommen. Diese Form der Diäten vom Staat sogar noch un- tifizieren. Kühle, kompromisslose Distanz Ansichten, die ich in den letzten Jahren terstützt werden und dabei das Parlament in der Sache, auch auf Seiten der Medien, verstärkt wahrnehme, kommen nicht von als Plattform für die Verbreitung ihrer ge- Wachsamkeit und ein wenig „Helmut- sozial schwachen Menschen, sondern aus fährlichen Ansichten nutzen können. Unse- Schmidt-Spirit“ wären eventuell wir- der Mitte unserer Gesellschaft von Men- re Verfassungsväter haben sich bewusst für kungsvoller und zudem Zeichen einer er- schen, die eben nicht von Hartz IV betrof- das Prinzip der wehrhaften Demokratie wachsenen Demokratiepflege. fen oder bedroht sind. entschieden. Dieses zeichnet sich gerade Annemasse (Frankreich) George Leitenberger Fulda Regina Bischof

14 der spiegel 7/2005 Briefe

In anderen Ländern normale Empfindun- dankengut der Sozialdemokratie ist. Gut- gen wie gesunder Patriotismus scheinen in verdienende kinderlose Meinungsmacher Deutschland schnell als braune Deutschtü- und Spitzenpolitiker mögen sich der Illu- Schutz vor Aufklärung Nr. 5/2005, Fußball: Der Fall Hoyzer – neue Hinweise melei verpönt zu sein, obwohl es trotz zwölf sion hingeben, dass die meisten Eltern das entkräften die Einzeltäter-These Jahren Nazi-Herrschaft Gründe gibt, auf Studium ihrer Kinder finanzieren oder dass unser liberales und ökologisch vorbildliches sich die jungen Erwachsenen bis zum Hals Keiner sollte es einem kleinen Schiedsrich- Land stolz zu sein. Wäre es für einen eta- verschulden werden. Denn dass die ange- ter oder Spieler verdenken, wenn dieser blierten Politiker möglich, ohne große Fol- dachten 500 nur eine Einstiegsgebühr sich die Gepflogenheiten der ganz Großen gedebatten zu sagen, dass er sein Vaterland sind, steht ja bei allen selbsternannten im Fußballgeschäft zu Eigen macht. Bei der liebt (und gerade aus diesem Grunde gegen Bildungsexperten außer Frage. Nach dem Vergabe von Welt- oder Europameister- Nazis ist), wäre dies eine hervorragende Willen vieler dieser angeblich so schlauen schaften werden, wie bei der Vergabe von Strategie, den rechten Populisten das Was- Experten werden in wenigen Jahren die Stadionbauten für die Meisterschaften, ser abzugraben. Denn beraubt man die jungen Akademiker ihre Bildungsschulden meist ungestraft ganz andere Beträge ver- Faschisten ihres Deckmäntelchens der Va- tilgen, dabei Kinderwünsche zurückstellen schoben. Erstaunlich ist nur die Erschütte- terlandsliebe, kommt das wahre Gesicht oder aufgeben. Wer wünscht, dass dieses rung von den kraft Amtes Wissenden aus dieser Parteien ans Licht, und selbst der Land eine Zukunft hat, muss sich gegen Politik und Fußballgeschäft. Mit der Beauf- letzte potentielle NPD-Wähler erkennt, was diese Entwicklung stemmen. tragung des Fußballbundes zur Aufklärung diese Nazis in Wirklichkeit sind: eine Trup- Bergisch Gladbach Inge Pütz wird der Bock zum Gärtner gemacht und pe von populistischen Rowdys, die vor 60 der Fußball vor Nestbeschmutzung und zu Jahren schlecht für das Wohl unseres Lan- Genauso wie die Lkw-Maut nicht dazu viel Aufklärung geschützt. des waren und es bis heute sind. führen wird, dass moderne neue Straßen Riedering (Bayern) Till Volbracht Bunyola (Mallorca) Frank Wolter gebaut werden, weil ja erst ein- mal Haushaltslöcher gestopft wer- den müssen, wird auch die Hoch- Ganz neue Richtung schul-Maut nicht erreichen, dass Nr. 5/2005, Bildung: Einstellungsstopps bei Professo- SPD-Front gegen die Studiengebühren bröckelt ren, Ausfall von Übungen und Tu- torien, Kürzung von Lehrmitteln Wovor haben die Politiker denn Angst? und Veralterung der Buchbestän- Dass wir die Länder mit den Umsonst-Unis de plötzlich der Vergangenheit stürmen? Das wird nicht passieren. Denn angehören. Wenn es aber das Ziel selbst als mittelloser Student kann man sich der Gebührenenthusiasten ist, den gewieften Argumenten der Gebühren- durch die Campus-Maut bessere

befürworter kaum entziehen. Im Gegen- Studienbedingungen zu erzielen, POINT LEIPZIG ROGER PETZSCHE / PICTURE teil: Die Ausbildung wird viel besser, das kann dies im Umkehrschluss nur Schiedsrichter Hoyzer Studium viel schneller, und sozialverträg- bedeuten, die Zahl der Studie- Gepflogenheiten der ganz Großen? lich ist das Ganze auch noch. Nachdem die renden mit kleinem Geldbeutel Hochschuletats um mehrere Millionen der Eltern zu reduzieren. Der Diskussion Ein junger Schiedsrichter mit hervorragen- gekürzt wurden, werden die vormals be- um Elite-Universitäten gäbe dies eine ganz den Karriereaussichten ist der Versuchung schissenen Unis jetzt mit ungefähr dersel- neue Richtung. des Geldes erlegen und bringt damit einen ben Summe aus der Tasche der Studieren- Trier Matthias Dietrich Skandal ans Tageslicht, den man in der deut- schen Fußballwelt nie für möglich gehalten hätte. Das passt so gar nicht in das Land des Drei tüchtige Jungs Saubermannsports. Peinlich ist das vor al- Nr. 6/2005, Werbung: Die Agentur Scholz & Friends lem, weil die Fußball-WM vor der Tür steht vermarktet die eigene Vergangenheit und ein solcher Skandal von der Weltpresse nicht so schnell verziehen wird. Trotz alle- In Ihrem Artikel entsteht der Eindruck, dem sollte nicht vergessen werden, dass es eine arglose sächsische Oma werde hinters Spielmanipulationen schon immer und über- Licht geführt. Es ist eher so: Eine dankbare all gab. So kam es in England genauso wie in Großmutter freut sich, was aus der Grün- Rumänien oder Tschechien in den letzten dung ihres Sohnes und seiner beiden Jahren immer wieder zu Wettskandalen. Wer Freunde Thomas Heilmann und Sebastian jedoch dachte, nur im Fußball werde mani- Turner geworden ist. Ich glaube, mein Bei- puliert, der irrt, denn gerade im Boxsport

STEFAN HAERTEL / VARIO-PRESS HAERTEL STEFAN trag zur Gründung von Scholz & Friends kommen Absprachen nicht gerade selten vor. Studentendemonstration (in Hamburg) war klein, die drei sagen, er sei groß ge- Berlin Robert Neuendorf Gedankengut der Sozialdemokratie wesen. Das ist die einzige Meinungsver- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- schiedenheit, die wir haben. Ich bin – übri- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. den ganz elitär. Dafür lohnt es, sich hoch gens schon vor fünf Jahren – auf das Lie- Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] zu verschulden. So überzeugt, werden wir benswürdigste gefragt worden, ob ein Bild in Zukunft scharenweise in die Bezahl-Unis von mir aufgehängt und meine Ratschläge einfallen. als Buch veröffentlicht werden dürfen. Für Berlin Maike Gröschke mich ist es ein Zeichen der Verbundenheit Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Postkartenbeihefter der Firma Dt. Direktbank, Frankfurt mit drei tüchtigen Jungs, die ich gern 1990 am Main, und des SPIEGEL-Verlags/Abo, Hamburg. Eine Wer sich für die SPD entschieden hat, ver- ein Jahr lang in unserer kleinen Wohnung weitere Teilauflage enthält einen Postkartenbeikleber der fügt über ein soziales Gewissen. Politiker aufgenommen habe. Mein Sohn ist nicht im Firma Volvo, Köln, sowie einen Prospektbeikleber der müssen damit rechnen, die Basis dieser Streit von Scholz & Friends weggegangen, Firma Frölich & Kaufmann, Berlin. In einer Teilauflage be- finden sich Beilagen der Firmen Walbusch, Solingen, Welt- Partei weiß noch, dass freie Bildung für sondern aus familiären Gründen. bild Verlag, Augsburg, Zeit-Verlag, Hamburg, sowie des alle sozialen Schichten wesentliches Ge- Dresden Lore Schumann SPIEGEL-Verlags/UniSPIEGEL.

16 der spiegel 7/2005 Panorama Deutschland STEFAN HÖRTTRICH / TEUTOPRESS HÖRTTRICH STEFAN LARS BARON / BONGARTS BARON LARS Marks Hoyzer (beim Pokalspiel SC Paderborn gegen den HSV, 2004)

WETTSKANDAL dings erfolglos. Die Anwältin von Marks, Astrid Koch, mochte zu den Vorwürfen keine Stellungnahme abgeben. Zugleich be- zichtigte Hoyzer einen Mittelfeldspieler des Regionalligisten Schiedsrichter Hoyzer Kickers Offenbach der Kooperation mit den Berliner Profi- Zockern. Der beschuldigte Fußballer habe im November 2004 mit Hoyzer und den Gebrüdern S. einen Saunaclub im Hessischen belastet Kollegen besucht und mehrfach Geld von den Kroaten erhalten. Erstmals berichtete Hoyzer den Ermittlern von einer Verbindung er korrupte Schiedsrichter Robert Hoyzer, der mit manipu- zwischen dem inhaftierten kroatischen Wettkönig Ante S. und Dlierten Spielen den größten Fußballskandal seit 1971 aus- dem Chemnitzer Spieler und Co-Trainer Steffen Karl. So soll gelöst hat, packt weiter aus. Der 25-Jährige, gegen den die Ber- Ante S. Hoyzer geschildert haben, dass er „zwei Leute bei liner Staatsanwaltschaft wegen Betrugs ermittelt, präzisierte am Chemnitz“ habe. Einer davon sei Steffen Karl. Einmal, so Hoy- vorvergangenen Samstag im Kriminalgericht Moabit die Beste- zer, habe sich der Chemnitzer Kapitän für seinen Urlaub Geld chungsvorwürfe gegen den DFB-Unparteiischen Dominik Marks, von Ante S. leihen wollen. Steffen Karl dementiert den Vorwurf. 29, die er in seiner ersten Vernehmung am 28. Januar erhoben Sein Anwalt Andreas Bartholomé kündigte an, sein Mandant hatte. Gegenüber den Ermittlern bekräftigte er, dass Marks für werde sich in Kürze umfassend gegenüber der Staatsanwaltschaft zwei von ihm manipulierte Spiele insgesamt 36000 Euro von den äußern. Besonders ausgeprägte Beziehungen soll Ante S. indes kroatischen Brüdern S. erhalten habe. Hoyzer persönlich habe zum heutigen Zweitligisten Dynamo Dresden gepflegt haben. Marks in dessen heimischer Küche in Berlin vor dem verscho- Der Kroate habe Hoyzer gegenüber diesen Club beim Gespräch benen Regionalligaspiel Hertha BSC Amateure gegen Arminia über Spielmanipulationen als seinen „Stammverein“ dargestellt. Bielefeld Amateure 6000 Euro übergeben. Außerdem, so Hoy- „Er produziert viel heiße Luft“, kommentierte der Verteidiger zer, hätten er und Marks bei einem DFB-Lehrgang für Erst- und des verdächtigen Kroaten Filip S., Robert Unger, die neuerlichen Zweitliga-Schiedsrichter Mitte Januar in einem Zimmer des Ho- Beschuldigungen Hoyzers, „und wird darin nur von seinem tels Relexa in Frankfurt am Main in Anwesenheit des Bundesli- Anwalt übertroffen.“ Bei einer Ermittlungsrichterin des Amts- ga-Schiedsrichters Torsten Koop über ihre manipulierten Spiele gerichts Tiergarten sind für Montag Haftprüfungstermine für die gesprochen. Koop, der die nächtliche Debatte inzwischen ge- drei inhaftierten kroatischen Brüder S. angesetzt. Unterdessen genüber DFB-Ermittlern eingeräumt haben soll, sollte laut Hoy- will die Staatsanwaltschaft Berlin sämtliche Honorare Hoyzers zer ebenfalls für Manipulationen angeworben werden -– aller- aus Medienauftritten pfänden.

AUSSENPOLITIK werde, heißt es im Wirtschaftsministeri- um. Allenfalls ein Staatssekretär könne Clement beugt im Rahmen einer Asien-Tour des Wirt- schaftsministers nach Taiwan reisen. Cle- sich China ment, der die taiwanische Wirtschaftsmi- nisterin Ho Mitte Dezember in Berlin uf Druck der chinesischen Regie- empfangen hatte, wollte Taiwan ur- Arung wird Bundeswirtschaftsminis- sprünglich vor der China-Reise des ter Wolfgang Clement nicht wie geplant Kanzlers Ende des Jahres besuchen.

seine taiwanische Amtskollegin Ho Mei- PRESS / ACTION MICHAEL WALLRATH Wenige Tage zuvor hatte sich Ma be- Yueh treffen. Der chinesische Botschaf- Clement, Ma Canrong (2004) reits in die Reisepläne des hessischen ter in Berlin, Ma Canrong, hat Staats- Ministerpräsidenten Roland Koch einge- sekretär Bernd Pfaffenbach in einem rung in Taiwan besuchen dürfe. Ma habe mischt und gefordert, dass der den Be- Gespräch Anfang vergangener Woche Pfaffenbach klar gemacht, dass China such beim Dalai Lama absage. Anders unmissverständlich mitgeteilt, dass Wirt- unter keinen Umständen die Reise eines als Clement blieb Koch hart und traf schaftsminister Clement nicht die Regie- deutschen Ministers nach Taiwan dulden den heiligen Mann.

der spiegel 7/2005 19 Panorama

JUSTIZ behalte gegen diese Lösung, spricht sich aber klar dafür aus, die Strafen für un- belehrbare Täter zu erhöhen. Straftat Strittig ist auch noch, ob die Täter so wie beim sexuellen Missbrauch allein des- halb in Untersuchungshaft genommen Stalking werden können, weil Wiederholungs- gefahr besteht. Diese Position CDU- pfer von aggressiven Nachstellun- geführter Länder geht der schleswig- Ogen, dem sogenannten Stalking, holsteinischen Justizministerin Anne Lüt- sollen in Deutschland künftig besser kes (Grüne), die das Gesetz ansonsten geschützt werden. Ein entsprechender befürwortet, zu weit. Sie will außerdem Gesetzentwurf wird am 2. März in drei Journalisten von dem Gesetz ausneh- Ausschüssen des Bundesrats beraten. men. Sonst könnten Methoden, „die zur Der hessische Justizminister Christean klassischen Recherche investigativ arbei- Wagner (CDU) hatte den Entwurf ur- tender Journalisten gehören, darunter- sprünglich vorgelegt, eine Arbeitsgruppe fallen“. Dies würde die Pressefreiheit mit zehn weiteren Bundesländern und aushebeln. dem Bundesjustizministerium überar- Nach einer Untersuchung des Zentral- beitete die Vorlage noch einmal. instituts für Seelische Gesundheit in

Demnach wäre „schwere Belästigung“, PRESS ACTION Mannheim werden 17,3 Prozent der etwa Telefonterror oder andauerndes Stalkingopfer Claudia Schiffer Frauen und 3,7 Prozent der Männer in Verfolgen und Bedrohen, in Zukunft eine Deutschland mindestens einmal im Le- Straftat, die mit bis zu drei Jahren Ge- bensgefahr, drohen ihm bis zu zehn Jah- ben Opfer von Stalking. Täter sind häu- fängnis geahndet würde. Bringt der Täter re Freiheitsstrafe. Bundesjustizministe- fig Ex-Partner, aber auch Kollegen oder das Opfer durch die Verfolgung in Le- rin Brigitte Zypries (SPD) hat noch Vor- obsessive Fans von Prominenten.

KRANKENVERSICHERUNG Nachteil für Selbständige ie Beitragsbemessung bei Selbständigen, die frei- Dwillig in einer gesetzlichen Krankenversicherung Mitglied sind, verstößt möglicherweise gegen das Grund- gesetz. Das geht aus einem internen Gutachten der Ver- fassungsabteilung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags hervor. Was ein Selbständiger zu zahlen hat,

richtet sich nach dem Steuerbescheid des vorigen Jahres. BONSS / MOMENTPHOTO RONALD Stellt sich am Ende des Beitragsjahres heraus, dass der Skinheads Sächsische Schweiz Verdienst über dem des vergangenen lag, darf die Kran- kenkasse Beiträge nachfordern. Hat der Versicherte hin- RECHTSEXTREME gegen ein geringeres Einkommen und demnach zu hohe Beiträge bezahlt, können laut einer Anweisung des Bun- Kontakte im Netz desversicherungsamts aus dem Jahr 2000 „Beitragserstat- tungen für die Vergangenheit nicht vorgenommen wer- ontakte zur militanten Neonazi-Szene könnten der rechtsextre- den“. In dem Bun- Kmen NPD im sächsischen Landtag juristischen Ärger bereiten. destagsgutachten Hacker haben offensichtlich im Internet die sogenannte Plauder- heißt es dazu, es be- kammer des rechten Heimatschutznetzwerks (HSN) in der Sächsi- stünden „Zweifel an schen Schweiz geknackt und Hinweise auf eine mögliche Zusam- der Verfassungs- menarbeit gefunden. In dem passwortgeschützten Forum berichten mäßigkeit dieser Extremisten über eine Razzia des Landeskriminalamts im Dezember Regelung“. Der 2004 gegen 25 Anhänger der seit 2001 verbotenen Skinheads Sächsi- CDU-Mittelstands- sche Schweiz (SSS). Die Ermittler vermuten, dass die Gruppe weiter politiker Marco aktiv ist. Im Forum brüstet sich ein Anonymus, der offenbar selbst Wanderwitz, der die durchsucht wurde: „Alle Daten, Providerverträge, die ich habe, ru- Expertise bestellt hen nun sicher bei jemandem, der Immunität hat.“ Der Verdacht hat, forderte jetzt liegt nahe, dass damit ein Vertreter der rechten NPD im Dresdner Bundesgesundheits- Landtag gemeint ist. An einer anderen Stelle tritt die Verbindung ministerin Ulla zur NPD offen zutage. In einem Disput um technische Details im Schmidt (SPD) auf, rechten Netz schreibt ein Aktivist: „Es geht darum, dass nicht er- „diesen Missstand kenntlich ist, dass die Netzseite der NPD in irgendeiner Weise an unverzüglich abzu- das HSN gekoppelt ist.“ Der Dresdner Staatsanwaltschaft liegt das

DIETMAR GUST DIETMAR schaffen“. Protokoll der „Plauderkammer“ seit vergangenem Freitag vor.

20 der spiegel 7/2005 Deutschland KAMRAN JEBREILI / AP JEBREILI KAMRAN REMY DE LA MAUVINIERE / AP REMY DE LA MAUVINIERE Antonow An-124 Boeing C-17A

AUSSENPOLITIK der früher als Berater des CDU-Kanz- lers Helmut Kohl gedient hatte. Tatsäch- Fischers Flieger lich gilt Boeing selbst in der wenig knauserigen Nato als teuer: So verlang- uf wenig Gegenliebe im Verteidi- te der US-Konzern rund 500 Millionen Agungsressort stößt der Wunsch Dollar pro Jahr als Leasingrate, um Joschka Fischers, vier militärische zwölf C-17A für europäische Allianzmit- Großraumtransporter vom Typ Boeing glieder abrufbereit zu halten. Eine von C-17A anzumieten. Minister Peter Deutschland geführte Arbeitsgruppe für Struck fand für die Idee, die Fischer strategischen Lufttransport bevorzugt nach einer Reise in die asiatischen Ka- deshalb Flieger aus dem Osten, bis 2009 tastrophengebiete lanciert hatte, nur der Airbus-Transporter A400M bereit Spott. „Wenn der Außenminister solche ist. Die ukrainische Antonow-Airlines Flieger möchte und aus seinem eigenen und ihr russischer Partner Wolga-Dnjepr- Etat bezahlt“, juxte der notorisch klam- Airlines bieten An-124-Transporter an, me Wehrminister, „würde ich ihm sogar die etwa doppelt so viel Last befördern Crews zur Verfügung stellen.“ Doch Fi- können wie die C-17A. Die Firmen scher hat kein Geld für Flieger, wie das haben offeriert, sechs An-124 zum Außenamt inzwischen dem Boeing-Re- Schnäppchenpreis von rund 70 Millio- präsentanten Horst Teltschik eröffnete, nen Euro pro Jahr bereitzustellen.

HAUPTSTADT Roter Teppich erlins SPD/PDS-Senat hat mit einer peinlichen Aktion um Freikarten für die Ber- Blinale gebettelt. In einer Senatssitzung hatten mehrere Kabinettsmitglieder – dar- unter Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) – beklagt, nicht zur glamourösen Eröff- nungsveranstaltung des Filmtreffens am Potsdamer Platz eingeladen worden zu sein. Daraufhin machte Kultursenator Thomas Flierl (PDS) die Präsenz auf dem roten Tep- pich zur Chefsache und schrieb an Kultur- staatsministerin Christina Weiss, Vorsitzende des Aufsichtsrats des Berlinale-Veranstalters. „Wer zahlt, bestimmt die Musik“, notierte Flierl und forderte Weiss auf, „Ihren Einfluss geltend zu machen, dass alle Mitglieder des Berliner Senats zur Eröffnungsveranstaltung der Filmfestspiele eingeladen werden“. Das Schreiben, das in der Berlinale-Zentrale für Heiterkeit sorgte, beantwortete deren Chef Dieter Kosslick höchstper- sönlich. Süffisant klärte er Berlins obersten Kulturpo- litiker auf, wie viele Kar- ten der Senat bereits er- hält – exakt 48. Und das, obwohl die Hauptstadt kaum mehr zur Finanzie- OLIVER MARK / AGENTUR FOCUS / AGENTUR MARK OLIVER HANS CHRISTIAN PLAMBECK HANS CHRISTIAN rung des Filmtreffens Berlinale-Eröffnung Flierl beiträgt.

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MEDIKAMENTE Neue Pillenbehörde ür die Zulassung und Überwachung Fvon Medikamenten will die Bundes- regierung eine neue Behörde gründen. Dies geht aus dem Entwurf eines Geset- zes zur Errichtung einer Deutschen Arz- neimittelagentur hervor, den Gesund- heitsministerin Ulla Schmidt (SPD) in den nächsten Wochen dem Kabinett vor- legen will. Demnach soll das bislang zu- ständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgelöst und in eine „weitgehend eigenverant- wortlich und nach ökonomischen Grundsätzen geführte“ Agentur über- führt werden, die das bisher übliche

JENS BÜTTNER / DPA Verfahren beschleunigen soll. An der Produktion von Fertig-Pizzas Spitze dieser neuen Agentur sollen keine Beamten, sondern zwei auf je fünf Jahre LEBENSMITTEL desamt für Verbraucherschutz liegen Hinweise vor, dass zur optischen Ver- Verwässerte Pizza besserung der Schinkenimitate auch die in Deutschland nicht zugelassenen so- ach einer Untersuchung des Bayeri- genannten Proteinhydrolysate zugesetzt Nschen Landesamts für Gesundheit wurden. Seit Beginn der Untersuchun- und Lebensmittelsicherheit enthält die gen 1993 sank die Qualität der Pizza- deutsche Pizza immer mehr minder- grundstoffe vor allem aus Belgien, Dä- wertige „Schinkenimitate“. Die gelatine- nemark und Italien „stetig“ auf ein

artige Grundmasse wird mit Einlagen „sehr niedriges Niveau“. Aber auch / VISION PHOTOS AXEL KULL aus kleinen Muskelstücken sowie mit die Pizzas deutscher Hersteller wiesen Medikamente Sojaprotein und Molkeneiweiß ange- „Fremdwasser“ und „zu wenig Fleisch- reichert und schließlich mit „großen anteile“ in den verwendeten Koch- bestellte Manager stehen. Mit dem Mengen“ Wasser verlängert. Von 108 pökelwaren auf. Produkte aus dem Gesetzentwurf reagiert Schmidt auf untersuchten Pizzaproben mussten die Supermarkt schnitten bei den Proben Klagen der Industrie über das angeblich bayerischen Kontrolleure mehr als nicht schlechter ab als die Fladen von schwerfällige BfArM. Führende Pharma- zwei Drittel beanstanden. Dem Bun- Pizzabäckern. manager hatten sich mehrfach bei Kanzler Gerhard Schröder darüber be- schwert, dass das Bonner Institut zu langsam arbeite. Finanzieren soll sich die geplante Arzneimittelagentur aus Ge- FC DEUTSCHLAND 06 („Grüner Punkt“) ist, soll als Aufseher bühren, die von den Pharmaunter- im Beirat der neuen Firma sitzen. Dem nehmen erhoben werden. Sollte das Olympia-Manager leiten Gremium werden nach den Plänen auch Geld nicht reichen, müsste Ministerin Innenminister Otto Schily und BDI-Vize Schmidt das Defizit aus dem eigenen WM-Kampagne Michael Rogowski angehören. Etat begleichen. ie Image-Kampagne der Bundesre- Dgierung und des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) zur Fuß- ball-Weltmeisterschaft 2006 (Arbeitsti- Nachgefragt tel: „FC Deutschland 06“) nimmt kon- krete Formen an: Regierung und BDI haben vereinbart, dass das 20-Millio- Abwegig? nen-Euro-Projekt künftig von den bei- den ehemaligen Leipziger Olympia-Ma- CSU-Chef Stoiber wirft der rot-grünen Bundes- nagern Peter Zühlsdorff und Mike de regierung vor, ihre Politik trage eine Mitschuld

Vries geführt werden soll. Spätestens JOERG KOCH /DDP am Erfolg der rechtsextremen NPD. Halten Sie Anfang März will man die Personalien diesen Vorwurf für gerechtfertigt? offiziell von den Hauptsponsoren aus der Industrie absegnen lassen. Geplant eher abwegig ist, dass eine GmbH gegründet wird, 60 % in der de Vries die Geschäftsführung übernimmt. Zühlsdorff, der seit Januar eher gerechtfertigt 30 % TNS Infratest für den SPIEGEL vom 8.bis 10. Februar; rund 1000 Befragte; Chef des Dualen Systems Deutschland an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe

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VISA-SKANDAL „Das halten wir nicht durch“ Die grüne Krisenstrategie, die Parteibasis mit Durchhalteparolen ruhig zu stellen, ist gescheitert: Ludger Volmer muss seine Posten räumen. Damit steht fortan Joschka Fischer allein im Ram- penlicht der Schleuser-Affäre – und kämpft um sein Renommee.

udger Volmer hatte Zeit, viel Zeit. Dann spielte er die verfolgte Unschuld. Eine Dreiviertelstunde lang schilder- „Ich habe vielen genutzt und niemandem Lte der Grüne am vergangenen Frei- geschadet.“ Nur leider würden die Wähler tagabend seine „Sicht der Dinge“ im in Nordrhein-Westfalen und Schleswig- „Aquarium“, dem voll verglasten Konfe- Holstein seinen Einsatz für die Partei wohl renzraum in der Düsseldorfer Parteizen- kaum angemessen würdigen. Dann kam trale. Geduldig ließ die Führungsmann- der Satz, auf den die Anwesenden gewar- schaft der nordrhein-westfälischen Grünen tet hatten. „Ich bin bereit, alles niederzu- die Rechtfertigungsversuche des Skandal- legen“ – sein Amt als außenpolitischer Abgeordneten über sich ergehen. Sprecher der Fraktion, seine Mitgliedschaft Ja, seine Beratungsfirma Synthesis habe im Auswärtigen Ausschuss und schließlich insgesamt etwa 400000 Euro von der Bun- auch noch seine Tätigkeit bei Synthesis, desdruckerei erhalten, um Aufträge in zumindest bis zum Ende der Legislatur- Außenminister Fischer (2004 in Oman): Der Südafrika und Vietnam zu akquirieren. Ja, periode. Damit vollzog Volmer, was er kurz 18000 Euro habe er selbst kassiert. Nein, zuvor den beiden NRW-Landesvorsitzen- seinen früheren Staatsminister zu halten. er habe sein Bundestagsmandat, sein Amt den zugesichert hatte. Doch schließlich musste sich Fischer ein- als außenpolitischer Sprecher und Staats- Am Ende war es sein alter Chef, der den gestehen, dass Volmer nicht mehr für die minister a. D. nicht dazu genutzt, ge- Daumen über ihn gesenkt hatte. Wider- Rolle taugte, die er ihm zugedacht hatte. schäftliche Kontakte zu knüpfen. Ja, die strebend. Wegen einer unappetitlichen Af- Schützend sollte der sich im anstehenden Opposition versuche, ihn mit einer Kam- färe, die in ihrer Dimension eher läppisch Untersuchungsausschuss vor ihn werfen. pagne gesellschaftlich und politisch zu ver- ist im Vergleich zu dem Skandal, der den Ausgerechnet Volmer, sein alter Rivale, der nichten. Außenminister selbst bedroht. Doch die Linke, den der eingefleischte Realpolitiker Kaum einer der Teilnehmer hatte eine unerfreuliche Verquickung der beiden Af- Fischer im freundlichsten Fall ignoriert Frage. Auch die grünen Minister Bärbel fären in der Person Volmers ließen Josch- hatte. Doch nun war der Minister auf ihn Höhn und Michael Vesper nicht. Am Ende ka Fischer keine andere Wahl. angewiesen. Wer sonst sollte seinen Kopf interessierten die belegten Bio-Brötchen Drei Wochen lang hatte der grüne Über- dafür hinhalten, dass das Auswärtige Amt auf dem Konferenztisch mehr als die vie- vater, der aus Umfragen als Deutschlands viel zu lange schwere Versäumnisse in der len Details, die Volmer loswerden wollte. beliebtester Politiker hervorgeht, versucht, Visa-Politik geduldet hatte? Volmer hatte die liberale Einreisepolitik zwar gewollt und gefördert, aber die poli- tische Verantwortung dafür trug nicht er, sondern Fischer. Der unausgesprochene Deal zwischen den beiden Rivalen war klar: Würde der frühere Staatsminister Fi- scher vor dem Ausschuss entlasten, könn- te er sein Amt als außenpolitischer Spre- cher der Fraktion behalten. Doch am Ende hatten beide falsch kal- kuliert. Volmer glaubte an Fischers All- macht, die er in den vergangenen Jahren oft genug zu spüren bekommen hatte. Der Mi- nister verließ sich auf seine Berater, die ihm rieten, abzutauchen und zu schweigen. Damit hatten Fischers Instinkte zum drit- ten Mal hintereinander versagt. Er über- hörte jahrelang die massiven Warnungen vor dem Visa-Missbrauch auch aus seinem RALPH SONDERMANN RALPH FEDERICO GAMBARINI / DPA / DPA FEDERICO GAMBARINI Ministerium, was ihn heute maßlos ärgert. Grünen-Politiker Höhn, Vesper, Volmer: „Ludger, du musst zurücktreten“ Er unterschätzte den von der Union ein-

24 der spiegel 7/2005 JULIA FASSBENDER / BUNDESBILDSTELLE FASSBENDER JULIA sonst so unerschrockene Angreifer findet keine Verteidigungslinie, die haltbar erscheint

berufenen Untersuchungsausschuss, weil dass er sich dabei jedenfalls auf seine Mit- werbsmäßige Verleumdung“ grenze: „Was er ihn als überzogen empfand. Nun wurde streiter in der Berliner Parteiführung ver- die Union da abzieht, ist unanständig.“ der Medienprofi auch noch von der Welle lassen konnte. Nur einer hatte das Potential, Selbst Steffi Lemke, als Bundesge- der öffentlichen Erregung überrascht, von die verordnete Ruhe zu stören: Volmer. schäftsführerin der Öffentlichkeit bislang der seine Berater ihm einzuflüstern ver- Und so ließen die Grünen kein Mikrofon recht unbekannt, nutzte die Gunst der suchten, sie sei in wenigen Tagen vorbei. aus, um ihrem Skandal-Kollegen die Ab- Stunde, endlich auf sich aufmerksam zu Doch seit dem SPIEGEL-Titel der ver- solution zu erteilen. „Es gibt keine Affäre machen. Beherzt bescheinigte sie dem Vor- gangenen Woche („Fischers ‚Schleuser-Er- um Ludger Volmer“, gab Parteichefin Clau- sitzenden des Untersuchungsausschusses, lass‘: Grünes Licht für Menschenhändler“) dia Roth scheinbar unbeeindruckt von den dem CSU-Abgeordneten Hans-Peter Uhl, wächst der öffentliche Druck auf den Vorwürfen zu Protokoll, um dann zur eine „Bluthundmentalität“ – und schaffte Außenamtschef, der tagelang seine Spra- Attacke überzugehen: „Wir reden über die es mit dieser Bemerkung immerhin auf die che verloren hatte. „Joschka Fischers infame, rein parteipolitisch motivierte Nachrichtenseiten etlicher Tageszeitungen. Schweigen ist kaum noch erträglich“, kri- Stimmungsmache gegenüber den Grünen.“ In zahllosen Telefonaten hatten sich die tisierte die „Zeit“. Ihr Co-Chef Reinhard Bütikofer rüstete Spitzen-Grünen darauf verständigt, keines- Angespannt verfolgen die Grünen die rhetorisch weiter auf und warf der Oppo- falls innerparteiliche Diskussionen zuzulas- ungelenken Versuche ihres Patriarchen, sition eine „Kampagne“ vor, „die an ge- sen. Irgendwann werde die Welle schon vor- sich der Krise zu erwehren. Sie bei sein. „Als Moshammer ermordet spüren, was auch das engste Umfeld wurde, hat auch niemand mehr vom des Ministers sorgsam registriert: Fi- Tsunami gesprochen“, sagt ein grü- scher hat Angst. nes Kabinettsmitglied. Der sonst so unerschrockene An- Als der SPIEGEL-Titel zum greifer, der den Kanzler leicht spöt- Schleuser-Skandal erschien, ver- tisch „meinen Chef“ und die Oppo- suchte Bundesgeschäftsführerin sitionsführerin abfällig „Merkel- Lemke umgehend, die Parteibasis chen“ nennt, findet für sich keine per Rund-Mail auf Linie zu halten. Verteidigungslinie, die haltbar genug Die „erhobenen Anschuldigungen“ erscheint, die nächsten Wochen zu seien längst bekannt, schrieb sie. überdauern. In den Umfragen steht Im Übrigen bedanke sich der er zwar noch immer auf Platz eins, Bundesvorstand bei den „lieben doch die Zustimmungsraten sinken Freundinnen und Freunden“ für deutlich – um sechs Prozentpunkte die „enge und vertrauensvolle Zu- allein in den vergangenen Tagen. sammenarbeit in dieser für uns Noch klammert er sich an die Hoff- nicht einfachen Situation“.

nung, er könne die Affäre einfach SERGEI SUPINSKY / AFP Doch in den Landesverbänden aussitzen – wie gehabt. Er wusste, Deutsche Botschaft in Kiew (2002): Schwere Versäumnisse wuchs der Unmut, vor allem über

der spiegel 7/2005 25 Deutschland

An der Fensterfront des Cafés liest jemand einen Artikel über „Die Me- thode Volmer“. Das halbseitige Bild des „Hallo Ludger“ Politikers ist zu sehen, daneben ein kleines Foto von Hoffmeister. „Es gab Wie der Unternehmer Burkhard Hoffmeister darunter leidet, dass keine Methode Volmer“, ruft Hoff- seine Firma durch Ludger Volmer ins Gerede kommt meister und zieht seinen Laptop aus der Aktentasche. s ist Donnerstagmorgen zehn scheinen? „Sag, dass ich 90 Prozent der Auf dem Bildschirm erscheinen E- Uhr, und Burkhard Hoffmeister Botschaften kontaktiert habe“, schlägt Mails und Konzepte, die alle Vorwürfe Ebefindet sich auf dem Weg zu sei- Hoffmeister seinem Freund in Berlin Punkt für Punkt entkräften sollen. nem ersten Termin. Er sitzt im Auto, vor. Er klingt jetzt sehr ruhig, beinahe Dann klingelt wieder sein Handy. ein schwerer Mann in Jeans und ein bisschen heiter. Ein alter Bekannter ist dran. Er be- schwarzem Mantel, am Fenster ziehen „Ludger und ich sind fast verwandt“, richtet, dass das ZDF angerufen habe, Fachwerkhäuschen vorbei. Hoffmeister sagt Hoffmeister. „Mein Onkel hat die um ihn zu seinen Verbindungen zu wohnt in Bad Honnef, in einem tau- Tochter von Ludgers Oma geheiratet.“ Synthesis zu befragen. „Mein Gott, ist benblauen Holzhaus am Fuß des Sie- Es gibt einiges, was die zwei verbin- das schrecklich“, flüstert Hoffmeister bengebirges. Vom Hügel det. Beide sind in Gel- und sieht plötzlich ganz blass aus. Er nebenan sieht man auf senkirchen aufgewach- sagt, der Anrufer sei ein bekannter Ar- den Rhein. sen. Als Studentenver- chitekt, mit dem er bei einem Sozial- Das Handy klingelt. treter haben sie sich projekt in Kambodscha zusammenar- „Hallo Ludger“, sagt wiedergetroffen. beite. „Woher wissen die vom ZDF Hoffmeister, „jemand hat Er hat inzwischen ein das? Das kann keiner wissen. Da hat unsere E-Mails rausge- Café in der Innenstadt an- sich jemand Zugang zu meinen Mails rückt. Ich erstatte jetzt gesteuert, vor ihm steht verschafft.“ Strafanzeige gegen un- jetzt ein französisches Hoffmeister versucht, zwei ihm be- bekannt.“ Es verspricht Frühstück mit Croissants, kannte Computerspezialisten vom ein aufregender Tag zu Butter, Konfitüre und Fraunhofer-Institut zu erreichen. Sie werden. Milchkaffee. Ab und zu geben ihm Ratschläge, die er jedoch

Bis vor kurzem verlief JÜRGEN BINDRIM fasst er sich an den rech- nicht versteht. Er ruft seine Frau an, das Leben von Burkhard Volmer-Freund Hoffmeister ten Arm, seit ein paar die sich von den Fraunhofer-Leuten Hoffmeister in sehr ge- „Ist das schrecklich“ Tagen quält ihn eine Seh- erklären lassen soll, was zu tun ist. ordneten Bahnen. Er nenscheidenentzündung. Er meldet sich bei Volmer und warnt wohnt seit 25 Jahren in der Kurstadt. Er Hoffmeister sagt, er könne die ganze ihn, dass ihre Computer nicht mehr ist Sprecher der Grünen im Ort, er hat Aufregung nicht verstehen. Er berich- sicher seien. Sport und Geschichte studiert und eine tet, wie er im April 2003 mit seinem Die Schmerzen in seinem rechten Firma mit dem Namen Synthesis hoch- Freund Ludger nach Südafrika gereist Arm werden stärker. Er muss jetzt gezogen, die für andere Unternehmen sei, um sich für die Bundesdruckerei ganz schnell nach Hause. neue Geschäftsfelder erkundet. umzusehen. Christoph Schmitz Nun steht sein Name fast täglich in An einem Tag seien sie ins Apart- der Zeitung. Man könnte auch sagen, er heid-Museum von Pretoria gegangen, ist derzeit der bekannteste Unterneh- wo Fotos von schwarzen Minenarbei- mensberater in Deutschland. Das wie- tern ausgestellt waren. „Um den Ober- derum hat mit seinem Geschäftspart- arm trugen die Männer einen Kupfer- ner zu tun, dem grünen Bundestags- ring mit dem Namen der Mine, zu der abgeordneten Ludger Volmer, der an der Arbeiter gehörte. In den Unterarm Synthesis zu 25 Prozent beteiligt ist. Sei- war eine Identitätsnummer tätowiert“, ne Anteile will Volmer jetzt von einem sagt Hoffmeister. „Uns war sofort klar, Treuhänder verwalten lassen, seine Mit- dass ein Personalausweis für diese Men- arbeit soll ruhen. schen ein sehr großes Zeichen von Frei- Knapp 400000 Euro hat die Unter- heit und Würde ist.“ Die Geschichte nehmensberatung in den vergangenen endet damit, dass für die Bundes- Jahren mit der Bundesdruckerei ver- druckerei ein Show-Room in Südafrika dient, einem der wichtigsten Kunden – eröffnet wurde, wo Synthesis Ludger Volmer soll bei diesem Geschäft seine Produktpalette ausstellte. mit seinen Beziehungen als ehemali- Er kann viele solcher Geschichten ger Staatsminister im Auswärtigen Amt erzählen. In ihnen durchstreifen Vol- geholfen haben. Am Morgen waren mer und Hoffmeister die Welt, wobei E-Mails und Briefe von Synthesis, in sich Geschäfte und soziales Engage- denen mit Volmer geworben wird, in ment auf wundersame Weise verbin- der „Welt“ abgedruckt. den. „Wissen Sie, wen der Sultan von Jetzt ist Volmer am Telefon, um sich Brunei für die substantiellsten Außen-

zu beraten, wie es weitergehen soll. Er politiker der letzten 20 Jahre hält?“, DPA weiß, dass es eng wird. Wie soll er die fragt er und schiebt die Antwort gleich Bundesdruckerei in Berlin E-Mails erklären, die ihn zu belasten nach: „Genscher und Volmer.“ „Zeichen von Freiheit und Würde“

26 der spiegel 7/2005 Volmer. „Wir empfehlen Ludger mindes- tens den Rücktritt vom Sprecherposten und Euch, darauf hinzuwirken, dass dieser Rücktritt möglichst rasch erfolgt“, ver- langte der Vorsitzende des Kreisverban- des Ettlingen aus Baden-Württemberg am vergangenen Mittwoch in einer E-Mail an die Partei und die Bundestagsfraktion in Berlin. Auch im Norden entlud sich der Ärger über den ehemaligen Staatsminister. Er habe „schon Zweifel“ an dessen Verhal- ten, sagte Stefan Wenzel, der Fraktions- chef in Niedersachsen. „Niemand darf ein politisches Amt nutzen, um daraus priva- te Vorteile zu ziehen.“ Man dürfe nicht die „Vertrauensbasis verspielen“, die die Grü- nen in ihrer Parteigeschichte aufgebaut hät- ten, warnte Christian Maaß, der stellver- tretende Fraktionsvorsitzende in Hamburg. Auch wenn Volmer formal nichts vorzu- werfen sei, hätten die Grünen bislang im- mer versucht, einen bösen Anschein zu vermeiden. „Das ist doch das Kapital un-

serer Partei.“ PRESS JÖRG EBERL / ACTION Die Geschichte der Grünen ist auch eine Politischer Aschermittwoch der Grünen*: Druck aus der Provinz Geschichte der permanenten Absenkung moralischer Standards. Was vorgestern Die Partei fordert zwar weiterhin Of- Alles könne man im Landtagswahlkampf noch als korrupt galt, war gestern nur noch fenheit und Transparenz, aber vor allem gebrauchen, nur nicht wochenlange Nega- anrüchig, was gestern anrüchig schien, wird von den anderen. Die Streitkultur, die sie tivschlagzeilen. Schmidts Wort hat Gewicht heute bereits als Normalität ausgegeben. der Gesellschaft empfiehlt, lehnt sie für bei Trittin. Die beiden Linken schätzen ein- Die Grünen haben sich auf dem langen sich selbst mittlerweile ab. ander seit den erbitterten Richtungskämp- Weg zu sich selbst verlaufen. Die grünen Kader von heute sind durch- fen früherer Jahre. Die als Anti-Parteien-Partei gegründete aus stolz auf diesen Selbstbetrug. Kokett Als Nächstes waren die beiden Partei- Formation hatte mit der heutigen Partei preisen sie die Methode der straffen vorsitzenden Bütikofer und Roth an der Bündnis 90/Die Grünen nur wenig gemein. Führung, die sich doch bewährt habe. „Wir Reihe. Auch sie wurden von den Düssel- Das erste Bundesprogramm versprach, mit haben den richtigen Weg gefunden zwi- dorfer Grünen-Chefs Schmidt und Britta all den unschönen Erscheinungsformen des schen Profilierung und Geschlossenheit“, Haßelmann davon unterrichtet, dass man deutschen Polit-Betriebs zu brechen. sagt Fraktionschefin Krista Sager. „Ge- im Fall Volmer nun endlich die Konse- „Die Verfilzung zwischen Parlamenten, schlossenheit erreichen“, so beschreibt quenzen ziehen werde. Widerwillig stimm- Regierungen, Bürokratien und der Wirt- auch Bütikofer sein vorrangiges Ziel. ten sie zu. Volmer ist schließlich über die schaft durch Beraterverträge, Zuwendun- Das war in der vergangenen Woche nordrhein-westfälische Landesliste in den gen, Aufsichtsratssitze ist zu unterbinden“, schon deshalb schwierig, weil der heimliche Bundestag eingezogen. Düsseldorf, das war heißt es da. Für grüne Mandatsträger soll- Parteichef außer Landes weilte. Im austra- beiden Parteichefs sofort klar, hatte gege- te fortan das strengste Reinheitsgebot gel- lischen Sydney tuckerte Fischer mit einem ben und konnte auch wieder nehmen. ten: „Abgeordnete dürfen keine Berater- Schiff durch den Hafen, am Stadtrand von Hans Langguth, stellvertretender Regie- verträge in der Privatwirtschaft haben.“ Canberra beobachtete er Kängurus, auf rungssprecher und enger Fischer-Vertrau- Die Vorsätze sind längst verblasst. Die Sumatra besuchte er die Katastrophen- ter, fuhr zu dieser Zeit Ski am Obersalz- Grünen von heute, desillusioniert auch von region. Zu allem nahm er Stellung – nur berg. Auch er wurde eingeweiht und er- sich selbst, sind eine zynische Partei ge- nicht zu den Vorgängen in Deutschland. reichte schließlich „Gottvater“, wie Fischer worden. Längst ist es für viele grüne Ab- Dabei ließ er sich von seinen Vertrauten intern genannt wird. Von Sumatra aus gab geordnete eine Selbstverständlichkeit, in der Heimat ständig auf dem Laufenden der Außenminister sein Okay. Nach den Mandate in Aufsichtsgremien, Berater- halten. Immer wieder wurden mögliche ständig neuen Enthüllungen über Volmers kreisen und Beiräten von Unternehmen Varianten der Verteidigung durchgespielt. Beratertätigkeit müsse nun endlich Schluss anzunehmen. Die Partei hat sich daran ge- Am Ende war man sich einig: keine Inter- sein. Aufatmen in Düsseldorf: „Endlich ha- wöhnt. Nur selten kommt es zu Protesten views außerhalb Deutschlands. ben alle begriffen, welche Gefahr für uns wie vor gut einem Jahr, als die grüne Fi- Auf die Affäre wollte er allenfalls auf und auch Joschka in der Sache steckt.“ nanzexpertin Christine Scheel ihre wohl- Nachfrage reagieren, etwa am Montag- Die beiden Vorsitzenden der Bundes- dotierten Beirats-Posten bei zwei privaten morgen am Rande der Parteiratssitzung. tagsfraktion, Krista Sager und Katrin Krankenversicherern aufgeben musste. Doch unterdessen wuchs der Druck aus Göring-Eckardt, waren nach wie vor ah- In der Regel akzeptiert die Basis das pri- der Provinz. Der nordrhein-westfälische nungslos. Sager verteidigte Volmer am vatwirtschaftliche Engagement ihrer Ver- Parteichef Frithjof Schmidt rief am Frei- Freitagmorgen in einem Radio-Interview. treter, das sie bei Mandatsträgern anderer tagnachmittag bei Bundesumweltminister Er und seine Firma hätten mit kriminel- Parteien gern geißelt. Bei den Grünen fin- Trittin an: „Jürgen, wir halten das nicht lem Missbrauch „nichts zu tun“. Bei all det die Verquickung eben in der Regel durch.“ den vielen Telefonaten zwischen Berlin, nicht mit der „bösen“ Großindustrie statt, Düsseldorf und Sumatra hatte man die sondern mit scheinbar „guten“ Unter- Doppelspitze im Bundestag schlicht ver- * Vergangene Woche im schwäbischen Biberach mit Um- Ralf Beste, Petra Bornhöft, nehmen: Ökolandbau, Wind- und Solar- weltminister Jürgen Trittin (stehend) und Fraktionschefin gessen. Konstantin von Hammerstein, Cordula Meyer energie. Katrin Göring-Eckardt (am Tisch zweite von vorn).

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ten Visa sprunghaft von 8000 auf 19000 pro Schon Ende 2003 hatte W. freilich mit Jahr. Im Juli 2002 wurden die Vorschriften seiner auffälligen Sorgloskeit für Erstau- wieder strenger, weil viele Reisewillige sich nen bei Beamten des Bundesgrenzschutzes Fingerdicke ihre Visa an der deutschen Botschaft in der (BGS) gesorgt. Damals ging es um eine ukrainischen Hauptstadt Kiew mit dubio- deutsch-albanische Schleuserbande in der sen Papieren erschlichen hatten. Doch die Bundesrepublik, deren Kopf sehr gute Euro-Bündel Anerkennungsquote in Tirana blieb selt- Kontakte zur Botschaft habe, wie es in ei- sam hoch. nem Vermerk der Grenzschutzdirektion In einem vertraulichen Bericht Woran das gelegen haben könnte, lassen Koblenz heißt. Dort findet sich auch der erheben Ermittler schwere Vorwürfe Stichproben der Inspektoren vor Ort ver- Hinweis, dass der Mann keine Angaben zu gegen deutsche Diplomaten. muten. Dabei stießen sie auf Hunderte den Zuständen in der Deutschen Botschaft Langzeitvisa, die ohne inhaltliche Prüfung, in Tirana machen wolle, weil dort sonst Sie sollen Albanern die illegale ohne die sonst üblichen Unterlagen und bald niemand mehr arbeiten würde. Einreise ermöglicht haben. teilweise sogar ohne unterschriebene Visa- Vom BGS befragt, räumte Visastellen- anträge ausgestellt worden waren. leiter W. ein, er wisse zwar, dass der Be- er Auftrag, mit dem vier deutsche Die Lebenserfahrung, so die Kontrol- schuldigte oft falsche Einladungsschreiben Beamte an einem Freitag im Juli leure, spreche dafür, dass in diesen Fällen verwende – dies sei aber kein Problem, D2004 im albanischen Tirana ein- Gegenleistungen erbracht worden sein weil die Albaner sowieso wieder nach Al- trafen, klang so banal, als sollten sie die könnten. Gestützt wird dieser Verdacht banien zurückkehren würden. Stempelkissen der deutschen Botschaft durch eine Aussage, die der Leiter des Mittlerweile ermittelt die Berliner Staats- überprüfen. Von Hinweisen auf „Unre- Haus- und Ordnungsdienstes der Botschaft anwaltschaft gegen den Beamten und ge- gelmäßigkeiten in der Visaerteilung“ war zu Protokoll gab. In den Taschen von Visa- gen den damaligen Leiter der Rechts- und die Rede. antragstellern habe er öfter fingerdicke Konsularstelle der Botschaft. Der Verdacht: Heute weiß man: So heißen Affären, so- 50-Euro-Bündel und Päckchen der alba- Bestechlichkeit und Verstöße gegen das lange niemand darüber redet. nischen Landeswährung Lek gefunden. Die Ausländergesetz. Dem Rechtsstellenleiter Was die vom Bundeskriminal- sollen Schleuser nach Aussage amt, dem Außen- und dem In- eines Mitarbeiters der Albanian nenministerium entsandten Auf- Airlines Frauen zugeführt haben, klärer in der albanischen Haupt- deshalb hätten sie ihn in der stadt feststellten, markiert nun Hand gehabt. Ein Vorwurf, den ein weiteres Kapitel im Visa- die befragten Mitarbeiter der skandal, der den grünen Außen- Botschaft für unglaubwürdig minister Joschka Fischer in die hielten. schwerste politische Krise seiner Erstaunlich ist auch, wie lange Amtszeit stürzt. die albanische Ortskraft Ermal T. Nach vier Tagen hielten die bleiben durfte – obwohl es gegen Kontrolleure die Ergebnisse ih- ihn laut Prüfbericht wiederholt rer Arbeit in einem Bericht fest, Verdachtsmomente der Bestech- den sie zur Verschlusssache lichkeit gab. Die Botschaftskon- stempelten. In dem Dossier ist trolleure vermerkten, er genieße gleich von zwei Vorwürfen die das besondere Vertrauen des Lei- Rede, die den Verantwortlichen ters der Visastelle.

mit Blick auf den Schleuser-Un- AFP Für Ermittler der Berliner tersuchungsausschuss des Bun- Deutsche Botschaft in Tirana: Langzeitvisa ohne Prüfung Staatsanwaltschaft ist deshalb der destages zu schaffen machen Verdacht, dass sich auch W. Ba- dürften: Zum einen soll der so- res zahlen ließ, noch lange nicht genannte Fischer-Erlass dafür vom Tisch. „Die Arbeitsgruppe gesorgt haben, dass die Botschaft hat vor Ort doch nur oberfläch- Visa für Deutschland lange ohne lich prüfen können“, sagt ein große Prüfung unters Volk brach- Fahnder. te. Und danach sollen Bot- Auch die Vorwürfe gegen den schaftsangehörige Schmiergeld ehemaligen Leiter der Rechts- für die begehrten Papiere kas- Untersuchungsbericht (Ausriss): Auffällige Sorglosigkeit und Konsularstelle sind bislang siert haben. nur spärlich ausgeleuchtet. Doch Im Bericht der Ermittler finden sich Kla- Scheine hätten neben oder zwischen den die Aufklärungsarbeit gestaltet sich zäh, gen von Botschaftsmitarbeitern. Sie hät- Visaunterlagen gesteckt. weil der Fall, wie ein Beamter klagt, „durch ten schlampen müssen, so sagten sie aus, Auch Vernehmungen von Albanern, die den Schleuser-Untersuchungsausschuss des wegen des gewaltigen Drucks, „die Zahl an deutschen Flughäfen und Grenzkon- Bundestags zur Staatsaffäre geworden ist“. der bearbeiteten Visavorgänge im Interes- trollstellen mit zweifelhaften Visa aufge- Schwierig könnte auch die Zusammen- se größerer Kundenfreundlichkeit weiter fallen waren, deuten auf einen schwung- arbeit mit albanischen Behörden werden. zu erhöhen“. Dieser Druck sei entstanden, haften Handel. Sie gaben an, ihre Papiere Denn der unter Korruptionsverdacht ste- so notierten die Inspektoren gleich zwei- zu Preisen zwischen 300 und 2000 Euro in hende Botschaftsmitarbeiter Ermal T. hat mal, durch jenen berüchtigten „Runderlass der Botschaft gekauft zu haben. im Sommer vergangenen Jahres gekündigt des Auswärtigen Amtes vom 3.3.2000“ – Doch nach einem Gespräch mit dem Lei- und arbeitet jetzt im Justizministerium. mit dem der Außenminister seine Diplo- ter der Visastelle, Thomas W., notierten die Dort ist er zuständig für internationale maten anwies, „im Zweifel für die Reise- Inspekteure, der Beamte habe ihrem Ein- Rechts- und Amtshilfe – und bearbeitet die freiheit“ zu entscheiden. druck zufolge wohl eher aus Frustration Anfragen deutscher Fahnder. Nach dem Erlass stieg die Zahl der von und im Bestreben der Beschleunigung der Georg Bönisch, Jürgen Dahlkamp, der deutschen Botschaft in Tirana gewähr- Visaerteilung gehandelt. Gunther Latsch

28 der spiegel 7/2005 SEBASTIAN WILLNOW / DDP WILLNOW SEBASTIAN Bundeskanzler Schröder (2. v. r.)*: Milliarden-Markt mit mafiösen Strukturen und moderner Sklaverei?

ARBEITSMARKT Der Osten kommt Eine Klausel im EU-Recht macht die Bundesrepublik zum Billiglohnland. Firmen feuern deutsche Arbeiter und heuern osteuropäische an – zu Dumpingpreisen. Nun will der Kanzler einschreiten.

er Mann hat beeindruckende Ober- fürchtet man in Berlin, könnte der Beginn in den Mitgliedstaaten verzichten. So, hoff- arme und ziemlich schlechte Laune. einer kaum zu stoppenden Entwicklung te er, würde Deutschland nicht von Billig- D„Sie da oben“, schnaubt er in das sein. Sollte der Trend auch andere Bran- arbeitern überrannt werden. Mikrofon „müssen sich nicht wundern, chen erreichen, würden womöglich Hun- Allerdings war da noch das Kleinge- wenn wir bald mit Knüppeln auf die Straße derttausende deutscher Arbeitnehmer von druckte: Die sogenannte Dienstleistungs- gehen.“ Billigarbeitern verdrängt. freiheit gilt längst, wenngleich mit Ein- Der „da oben“ ist Gerd Andres (SPD), Kein Wunder, dass die Bundesregierung schränkungen, für die neuen Beitrittslän- Staatssekretär im Bundeswirtschaftsminis- nervös ist. Horrormeldungen von Deutsch- der. Betriebe aus den neuen Mitgliedstaa- terium, und er blickt beunruhigt auf die land als Billiglohnparadies könnten den ten dürfen deshalb deutschen Unterneh- 300 aufgebrachten Menschen in der Ver- rot-grünen Aufschwung abrupt beenden. men ihre Dienstleistungen anbieten – und anstaltungshalle im niedersächsischen Lö- Ende vergangener Woche hat der Kanzler zwar zu den Arbeitsbedingungen ihrer ningen. Denn wer da so unverhohlen mit das Thema zur Chefsache erklärt: Am Länder. Das Prüfrecht, ob es sich tatsäch- körperlicher Gewalt droht, sind Fleischer. Dienstag wird er in Brüssel bei EU-Kom- lich um Dienstleistungen oder aber um il- Genauer: arbeitslose Fleischer. Männer, missionschef José Manuel Barroso in der legale Arbeitnehmerüberlassung handelt, deren Jobs zwar immer noch in Deutsch- Sache vorsprechen. „Angesichts von fünf haben nicht mehr deutsche Stellen, son- land erledigt werden, aber neuerdings von Millionen Arbeitslosen darf Deutschland dern die Heimatländer. Arbeitern aus Osteuropa – und zu Dum- nicht mit Billiglöhnern überschwemmt wer- In Berlin hat man seinerzeit diese Klau- pinglöhnen. den“, sagt ein hoher Regierungsbeamter. sel offenbar unterschätzt: 26000 Fleisch- Es geht, das weiß der Staatssekretär, um Schuld an der Misere ist ein unter- arbeiter haben ihren Job inzwischen schon weit mehr als um die Wurst. Höchste poli- schätztes EU-Gesetz. Um den deutschen verloren und wurden durch Billigkräfte er- tische Ebenen sind in Alarmbereitschaft. Arbeitsmarkt zu schützen, hatte Bundes- setzt. Innerhalb weniger Monate sei „ein Das Schicksal der Fleischverarbeiter, so kanzler Gerhard Schröder bei der Ost- Milliarden-Markt mit mafiösen Strukturen, erweiterung der Europäischen Union im Lohndumping und moderner Sklaverei“ * Bei der Feier zur EU-Osterweiterung in Zittau mit EU- vergangenen Mai eine Klausel durch- entstanden, klagt Matthias Brümmer von Kommissar Günter Verheugen, dem tschechischen Minis- terpräsidenten Vladimír µpidla und dem polnischen Mi- gesetzt: EU-Neubürger müssen bis zu sie- der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gast- nisterpräsidenten Leszek Miller. ben Jahre lang auf freie Arbeitsplatzwahl stätten (NGG) in Oldenburg. In seinem Be-

32 der spiegel 7/2005 Deutschland zirk, der wegen seiner Nutztierdichte der Angabe von Gründen wieder ausgeladen: „Fleischtopf Deutschlands“ genannt wird, Günstiger im Osten „Wer im Dunkeln bleiben will, hat offen- gibt es mittlerweile Betriebe, in denen nur Durchschnittliche Arbeitskosten im Dienst- sichtlich etwas zu verbergen“, erregt sich noch Osteuropäer arbeiten. In den Unter- leistungsgewerbe in Euro pro Monat die Bundestagsabgeordnete. nehmen würden weder Lohn- noch Ar- Die Entwicklung in Deutschland blieb beitszeitregelungen eingehalten und schon Dänemark 3961 nicht unbemerkt. Der europäische Markt- gar keine Arbeitsschutzklauseln, sagt er. führer in der Fleischveredelung „Danish „Durch die Dienstleistungsfreiheit bre- Deutschland 3455 Crown“ jubelt über das deutsche „Bil- chen alle Dämme – und Kontrollen gibt es liglohnparadies“. Die Dänen wollen zwei hier nicht mehr“, klagt der Gewerkschaf- Tschechien 832 Großschlachthöfe schließen und massiv ter. Tatsächlich gilt für die Dienstleis- Arbeitsplätze nach Deutschland verlegen. tungsanbieter das Recht ihres Heimatlan- Polen 831 Bei ihnen zu Hause haben die Gewerk- des, das sogenannte Herkunftslandprinzip. Quelle: Eurostat schaften die osteuropäischen Billigkolon- Ein polnischer Unternehmer etwa, der in nen abgewehrt. Beim deutschen Nachbarn Deutschland Schweine schlachtet, unter- troffenen berichten von katastrophalen dagegen sind die meisten der 60 000 liegt nicht dem deutschen Sozialstandard, Zuständen in den Schlachthöfen, was Ar- Schlachter und Zerleger nicht mehr gut sondern nur dem polnischen. Die Sozial- beitssicherheit und Hygiene betrifft. Vor genug organisiert für harten Widerstand. beiträge werden in Polen entrichtet. neugierigen Blicken und unangemeldeten „In Deutschland herrschen Wildwest-Zu- Mittlerweile jedoch werden in Deutsch- Kontrollen schützen sich solche Betriebe stände, dort zahlen sie Hungerlöhne“, klagt land selbst niedrigere Standards anderer mit Nato-Draht und starken Männern. die dänische Gewerkschaft. Länder noch unterschritten. Gewerkschaf- „Das sind Hochsicherheitstrakte“, sagt Weil auch der zweitgrößte europäische ter Brümmer weiß von regelrechten La- Brümmer. Fleischveredler, Bestmeat aus den Nieder- gerzuständen. Arbeiterkolonnen werden „Das Problem ist viel größer als wir ge- landen, massiv in den deutschen Markt abgeschirmt, wohnen in Massenunter- ahnt haben“, so die SPD-Bundestagsabge- drängt, tun sich nun niederländische, pol- künften, werden dann noch um Teile ihres ordnete Gabriele Groneberg. Alarmiert nische, dänische und deutsche Gewerk- spärlichen Lohns gebracht, indem ihnen durch die Horrorzahlen aus ihrem Wahl- schafter zusammen. Anfang März wollen vertragswidrig Miete oder Geld für die Ar- kreis in Niedersachsen, wo in den vergan- sie sich in Hamburg treffen, um den Kampf beitskleidung abgezogen wird. Wer auf- genen Monaten 6000 deutsche Fleischar- gegen das Lohndumping zu koordinieren. muckt, wird fristlos gekündigt, verliert da- beiter auf die Straße gesetzt wurden, woll- Auch in Berlin treibt es mehr und mehr mit seine Aufenthaltserlaubnis und muss te sie vergangene Woche den Schlachthof Politiker zur Tat. „Das Thema gehört bun- sofort in sein Heimatland zurückkehren. der Norddeutschen Fleischzentrale in Ems- desweit auf die Tagesordnung“, fordert der Löhne zwischen zwei und drei Euro tek besichtigen. Nach anfänglicher Zusage Abgeordnete Holger Ortel (SPD). Er will pro Stunde sind keine Ausnahme. Die Be- wurde die Politikerin dann aber ohne eine Bundeskonferenz von SPD und Ge- Deutschland

seien Ausnahmen: „99 Prozent arbeiten sauber“, sagte er, unter dem Gelächter der Zuhörer. Die NGG schätzt das Verhältnis genau anders herum ein. Der ruinöse Wettbewerb lasse keinem mehr Luft, der sauber arbei- ten will. Osteuropäische Firmen, so Ge- werkschafter, schickten gezielt Faxe an deutsche Unternehmen. Die brauchten nur die gewünschte Dienstleistung anzukreu- zen, das Angebot folgte prompt. Qualifizierung und Seriosität der An- bieter können kaum kontrolliert werden, und so gründen auch deutsche Subunter- nehmer Firmen in Osteuropa, die als reine Anwerbebüros arbeiten: Menschenhandel mit Billigarbeitern, gedeckt durch EU- Recht. So werden mit einem Federstrich bei- spielsweise Lehrer zu Fleischern gemacht, wie im Fall von Elzbieta B. Die Polin un- terschrieb bei der Firma Multi-Job in War-

BERND THISSEN / DPA schau einen Dreimonatsvertrag als Be- Schlachthof (in Rheda-Wiedenbrück): Spirale nach unten triebshelferin. Für die Vollzeitstelle sollte die Pädagogin 800 Euro brutto im Monat werkschaften organisieren. Gerald Thal- kassieren. Weil sie Deutsch sprach, wurde heim (SPD), Staatssekretär im Verbrau- sie als Vorarbeiterin für eine polnische cherschutzministerium, ist ebenfalls alar- Kolonne in einem Fleischwerk in Nieder- miert: In seinem Wahlkreis Chemnitz ist sachsen eingesetzt. eine deutsche Schlachthofkolonne kom- Die Vollzeitstelle entpuppte sich aber plett gegen Tschechen ausgetauscht wor- schnell als Doppelschicht mit 16 Stunden den – die nun im ehemaligen betriebseige- Arbeit am Tag. Als Elsbieta B. nach dem nen Kindergarten hausen. ersten Monat noch keinen Cent Lohn er- Für Kanzler Gerhard Schröder und halten hatte, beschwerte sie sich. Nach zwei Außenminister Joschka Fischer – beide Monaten erhielt sie eine Abschlagszahlung glühende Anhänger eines geeinten Europa von 200 Euro, nach drei Monaten noch mal – wachsen sich die Folgen der Dienstleis- 400 Euro. Danach gab sie auf. „Die Ar- tungsfreiheit zu einer Gefahr aus. Durch beiter werden mit rüdesten Methoden ab- viele Brandbriefe seiner Genossen alar- gezockt und eingeschüchtert“, sagt Ge- miert, mahnt der Kanzler seinen Wirt- werkschafter Brümmer. schaftsminister zu mehr Zurückhaltung. Dass das Problem als Erstes im Fleisch- Wolfgang Clement, der die Dienstleis- gewerbe massiv auftaucht, hat mit dem tungsfreiheit und das Herkunftslandprinzip Markt zu tun. Die deutsche Fleischwirt- allzu gern als „Hebel zum Umbau unserer schaft leidet seit Jahren unter hohen Über- Administration und zum Abbau überflüs- kapazitäten und ruinösem Preiskampf der

siger Standesregeln“ lobpreist, solle sich SCHULZ / KEYSTONE VOLKMAR Supermärkte. Die Lieferanten müssen Kos- verbal ein wenig mäßigen. Fleischtheke in Supermarkt ten drücken, egal, ob die Qualität leidet. Es Gegen die geltende Dienstleistungs- Überkapazitäten und Preisdruck wird nur eine Frage der Zeit sein, bis das richtlinie freilich kann Schröder auch bei Modell Schule macht – auch in anderen seinem Gespräch mit Barroso wenig ma- Der Weg in das Billiglohnparadies ist Branchen. chen. Aber: In der EU wird längst eine einfach. Fast jeder deutsche Unternehmer Angesichts dieser Perspektive mehrt sich neue Dienstleistungsrichtlinie diskutiert, kann sich „Dienstleistungen“ einkaufen: der Widerstand gegen die Dienstleistungs- die freilich erst ab 2011 gelten soll. Und in Er muss den Auftrag nur an ein Subunter- freiheit. Doch Änderungswünsche haben der, so will es zumindest der Kanzler, sol- nehmen vergeben, das sich seine Arbeiter nicht nur die Deutschen, und ein Flicken- len etliche Branchen, darunter der Ge- auf Zeit aus Osteuropa holt. Stammbeleg- teppich an Regeln könnte die ganze Idee sundheitssektor, der Kulturbereich, das schaften werden so nach und nach ersetzt vom freien Binnenmarkt aushebeln. EU- Handwerk und der Bau ganz oder teilwei- – oder sind gezwungen, das Lohndumping Kommissionspräsident Barroso lässt kei- se ausgenommen werden. mitzumachen. Die Spirale nach unten dre- nen Zweifel daran, dass er offene Dienst- Die Angst geht um, dass sonst die schö- he sich immer schneller, warnen Gewerk- leistungsmärkte will. ne Vision grenzübergreifender europäi- schaften. „Das wird schwierig“, weiß auch Staats- scher Dienstleistungen einer unschönen Für Michael Andritzky, Hauptgeschäfts- sekretär Andres. EU-Recht sei eine kom- Realität weicht und ein System entsteht, führer der Arbeitgebervereinigung Nah- plizierte und sensible Materie, da gebe es in dem man, gut getarnt, billige Arbeits- rung und Genuss, hat das alles seine keine leichten Lösungen, entgegnete er kräfte verschachert – und zwar in vielen Ordnung. Denn „Verträge zwischen deut- flau seinem aufgebrachten Publikum in Lö- Branchen: vom Handwerk bis zur Pflege. schen Subunternehmern und osteuropäi- ningen. Denn der Markt ist riesig, über 50 Pro- schen Dienstleistern sind legal“, verteidig- Die arbeitslosen Fleischer konnte das zent des Bruttoinlandsprodukts in der te er sich vor den wütenden Arbeitern in nicht besänftigen: „Euer Europa könnt ihr EU werden mit Dienstleistungen erwirt- Löningen. Natürlich wisse auch er von euch dann an den Hut stecken.“ schaftet. „kriminellen Machenschaften“, aber das Markus Deggerich

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REGIERUNG Schröders Welt Privates Glück als politisches Argument: Das Kanzler-Ehepaar will den beginnenden Dauerwahlkampf gemeinsam führen. Das schmucklose Bundeskabinett wird mit einer Reihe von Helfern aus allen gesellschaftlichen Bereichen aufgepeppt.

der auf seinen Platz. Es ist ihr Ehemann, der Bundeskanzler, der Mann aus dem Film. Es sieht aus wie ein Zufall. Doris Schröder-Köpf sagt dann ein paar Sätze über die Bedeutung von Kindern für die Gesellschaft, über Werte, glückliche Familien, aber dar- auf kommt es nicht an. Bemer- kenswert ist, dass sie frei spricht. Sie braucht das Ma- nuskript nicht. Ihr Vortrag en- det mit einem Satz, der diesem Abend die Richtung gibt. Die wichtigste Frau des Jahres guckt auf ihren Ehemann und sagt: „Reden ablesen habe ich noch nie gekonnt und kann ich noch immer nicht – vielleicht in der nächsten Legislaturperiode, Schatz.“ Vor ihrem Schatz steht ein Glas Merdinger Bühl Spätbur- gunder, Gerhard Schröder ist gut drauf. Vielleicht in der

G. SCHOBER / S. BRAUER PHOTOS G. SCHOBER / S. BRAUER nächsten Legislaturperiode, Kanzler-Ehepaar Schröder mit Putins Ehefrau Ljudmila*: Auf das Herz der Wähler gezielt Schatz: Das ist der neue Klang des Wahlkampfs, der an diesem raußen wartet die Vorspeise, sie Frau des Jahres“, weil sie sich für die In- Abend begonnen hat, unter schweren dampft schon, aber drinnen läuft teressen der Kinder eingesetzt hat. Kronleuchtern, inmitten blühenden Fami- Dnoch ein Film. Er zeigt das Leben Sie soll eine Dankesrede halten, aber sie lienglücks. einer Frau, zusammengeschnitten auf zwei hat das Manuskript vergessen. Es liegt noch Anderthalb Jahre vor der nächsten Bun- Minuten. Viele Kinder tauchen auf in die- auf ihrem Tisch, genau in der Mitte des destagswahl ist im Hotel Adlon ein Rich- sem Film, glückliche, lachende Kinder mit Saals, auf einem silbernen Platzteller. tungswechsel im Regierungsstil von Ger- einer starken, lächelnden Frau. Ein Mann steht auf, er trägt die Blätter hard Schröder zu besichtigen, wieder ein- Manchmal läuft ein Mann durchs Bild, mit der Rede nach vorn und setzt sich wie- mal. Der Bundeskanzler betreibt Politik ganz kurz immer nur, so wie Alfred Hitch- mit anderen Mitteln, eine Zeit ist angebro- cock in seinen eigenen Filmen auftauchte chen, in der das Private wieder politisch und wieder verschwand. Meistens hält sie werden darf. den Mann im Arm, die Bilder flackern auf Hartz IV, das größte Reformprojekt der und verschwinden wieder, sie hinterlassen zweiten rot-grünen Legislaturperiode, ist den Eindruck von Glück und Harmonie. geräuschloser Wirklichkeit geworden, als es Am Ende des Films wird der Palaissaal noch vor einem halben Jahr den Anschein im Berliner Hotel Adlon von Schmusemu- hatte. Da waren die Menschen gegen ihren sik beschallt, aus den Lautsprechern hört Kanzler auf die Straße gezogen, weil seine man „She’s the one“ von Robbie Williams, Politik ihre Existenz bedrohte, weil sie dann geht das Licht an, und Doris Schröder- nicht auf, sondern gegen die Bedürfnisse Köpf geht mit kleinen, vorsichtigen Schrit- der Menschen gerichtet schien. Es war Po- ten ans Rednerpult. Es ist Dienstagabend litik, die wehtat. kurz nach acht, der Burda-Verlag kürt die Der Protest ist vorbei, er hat der Einsicht Frau des Bundeskanzlers zur „wichtigsten in Notwendigkeiten Platz gemacht. Ger- hard Schröder gilt nun mehrheitlich als mu- * Oben: bei der Kür von Doris Schröder-Köpf zur „wich- LAURENCE CHAPERON tiger Reformer. Die Union ist zermürbt, tigsten Frau des Jahres“ durch den Burda-Verlag am 8. Fe- bruar im Berliner Hotel Adlon, rechts: Hubert Burda; un- CDU-Chefin Merkel* aufgerieben in den Positionskämpfen zwi- ten: mit Ehemann Joachim Sauer. Die Stimmung hat sich gedreht schen Angela Merkel und Edmund Stoi-

40 der spiegel 7/2005 56 56 ber. Ende Januar lag die Regierung bei ei- 55 der „Bunte“-Verleger Hubert Burda eine ner Umfrage erstmals seit der Bundestags- 54 Anstecknadel ans grüne Samtkleid mon- wahl 2002 wieder knapp vorn. 52 52 tiert. Burda spricht von einer „most di- Schröder will das Hoch jetzt beständig Angela stinguished audience“, von einem absolut halten. Seine Regierung wird keine neuen Merkel 50 50 herausragenden Publikum, das sich hier Projekte mehr anschieben bis zur Wahl, versammelt habe, und es ist unwahr- nichts jedenfalls, was nach weiteren Zu- scheinlich, dass er damit den Friseur Udo 46 mutungen aussehen könnte, die Bürger 45 45 Walz meint oder Verona Feldbusch, Vicky sind erschöpft, der Begriff „Reform“ ist 44 Angaben in Prozent Leandros oder Sabine Christiansen, die ausgeleiert. Inhaltlich wird sich die Politik natürlich alle auch da sind. entleert dahinschleppen, aber er, der Kanz- Gerhard Mit Doris Schröder-Köpf wendet sich das ler, darf nicht gleich mit verschwinden. Er Schröder 40 Klassentreffen der gehobenen Berliner Ge- muss da sein, vital. Kanzler sein, um Kanz- 39 sellschaft in ein politisches Ereignis. Die Mi- ler bleiben zu können. nisterinnen Renate Schmidt und Brigitte Zy- Noch hat sich das Land ja nicht verändert, Schröder wieder beliebter 35 pries sind gekommen, Béla Anda, der Re- noch sind die Kassen leer. Die Agenda 2010 gierungssprecher, Frank-Walter Steinmeier, ist in Kraft, aber sie wirkt nicht richtig. Noch Anteil der Befragten, die es der Kanzleramtschef, und Sigrid Krampitz, nicht, sagt Schröder. Das Thema Arbeitslo- gern sähen, wenn der genannte Schröders engste Mitarbeiterin. Wäre nicht sigkeit schiebt sich wieder nach vorn, die Politiker künftig „eine wichtige der Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst Zahl fünf Millionen hängt über Deutsch- Rolle spielen“ würde zu verhandeln gewesen, auch Innenminister land wie ein fettes Monster. Die Staatsver- TNS Infratest für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte Otto Schily wäre dazugestoßen. Dafür ist schuldung wird in den nächsten beiden Jah- Ljudmila Putina, die Frau des russischen ren neue Rekorde erreichen, die Zahl der Januar April Juli Oktober Januar Präsidenten, aus Moskau eingeflogen. Sie normalen Vollzeitjobs schrumpft mit jedem 2004 2004 2004 2004 2005 berichtet von „Zärtlichkeit“, die sie in der Werktag um 800 Arbeitsplätze. Irgendet- Familie Schröder beobachtet hat. Sie sagt: was muss her, was ablenkt – etwas, das so kraft vermitteln sollen, aber auch Güte und „Liebe Doris, lieber Gerhard.“ aussieht, als ginge es weiter. Gefühligkeit. Politisches und Privates werden eins, Nach und nach hat der Kanzler nun eine Die Strategie für den Rest der Legisla- und was bleibt, ist die Erkenntnis, dass hin- Welt wohliger Bilder geschaffen, warmer, turperiode zielt auf das Herz der Wähler – ter jeder guten Frau ein guter Mann und kuscheliger Bilder, als wäre Politik ein Ka- und der Motor der Bewegung kocht für ihn hinter jedem guten Politiker ein guter minofen, an dem sich Wähler wärmen kön- das Essen und wischt zu Hause selbst durch. Mensch steckt. nen. Die neuen Botschaften aus Berlin sind Doris Schröder-Köpf ist klein und blass, Es wirkt. Von der „neuen Doris“ ist zu Personen, Gesichter tauchen auf, die Tat- ein wenig schüchtern steht sie da, als ihr lesen, von einer, die sich aufs Altwerden Deutschland freut, die nicht mehr so sehr in die Politik politisch nutzen kann, ohne dabei in alte „Erstens: Mit wem kann ich? Zweitens: Ist eingreifen will, wie sie das früher getan Reflexe zu verfallen. Er zeigt sich mit der der oder die in der Lage, eine Meinungs- hat. Die neue Doris, da schwingt mit: Der Ehefrau nicht mehr auf Wahlkampfplaka- bildung herbeizuführen? Und drittens: Wer neue Kanzler. ten, wie er es tat, als die Partnerin noch bescheißt mich nicht?“ Wahrscheinlich ist so ein Bekenntnis der Hillu hieß. Seine Ehefrau sagt nicht mehr Mit Christina Rau zum Beispiel kann größte Eingriff in Politik, den Gerhard „wir“, wenn sie das Kanzleramt meint. der Kanzler, man hat eine gute Meinung Schröders Ehefrau jemals vorgenommen Es gibt keine inszenierten Familienfotos von ihr, und ihr Gesicht steht für Solidität, hat. Sie hat Kommentare zu Kampfhun- mit Eltern, Kindern, Kindeskindern, wie Ernsthaftigkeit und Fürsorge. Die Frau des den geschrieben und zu BSE, aber noch nie es sie von George W. Bush aus dem Weißen früheren Bundespräsidenten Johannes ist mit einem einzigen Auftritt der Mensch, Haus gibt. Es gibt ein Foto, das Gerhard Rau hat seit einigen Tagen ein Büro in der der hinter dem Politiker steht, so wir- Schröder mit der Adoptivtochter Viktoria siebten Etage des Kanzleramts, nur ein kungsvoll modelliert worden wie jetzt. auf den Schultern zeigt. Das Gesicht des paar Meter entfernt von Schröders Ar- Frauen, Familie, Kinder, Bildung – Kindes ist unkenntlich gemacht, aber das beitszimmer, es ist ein besonderes Büro, früher hat Gerhard Schröder solche The- Gesicht des Kindes ist für die Botschaft normalerweise sitzt Doris Schröder-Köpf men „Gedöns“ genannt, was schon des- dieses Fotos unerheblich. Die Botschaft ist hier. Frau Rau trägt jetzt den Titel „Be- halb ein Fehler war, weil mehr als die Hälf- er, der Kanzler, der auch Vater ist. Durch auftragte“ und soll sich um die Koordina- tion der deutschen Fluthilfe kümmern. Sie sitzt vor einem großen weißen Stahlregal und sagt: „Ich sehe es als Stärke an, wenn eine Führungsperson Dinge an die Fähigsten dele- gieren kann.“ Sie ist schon nach wenigen Tagen eine zu- verlässige Mitarbeiterin. Ein wenig fremd noch und wie ihr eigener Gast wirkt sie in der neuen Rolle, sie redet von Zivilgesellschaften, die man zusammenbringen müs- se, von Sitzungsterminen, In- fostellen, Eingaben und in- terministeriellen Arbeitsaus- schüssen. In der ersten Januarwoche, sagt sie, habe Schröder ange- rufen und gefragt, ob sie sich wohl vorstellen könne, die- sen Job zu übernehmen: „Er wollte dem Ganzen ein per- sönliches Gesicht geben.“ Seine Berater hatten ihm andere Namen vorgeschla- gen: Hans-Dietrich Genscher, Hans Koschnick, Richard von

SVEN DARMER / ACTION PRESS / ACTION DARMER SVEN Weizsäcker, Hans-Jochen Vo- Kanzler Schröder, Unternehmer*: „Mit wem kann ich? Wer bescheißt mich nicht?“ gel, Roman Herzog, Johan- nes Rau. Doch Schröder woll- te aller deutschen Wähler Frauen sind. Sei- sein Berliner Amt weht der gute Geist aus te keinen alten Mann, er wollte ein frisches, ne Herausforderin um das Kanzleramt wird dem Reihenendhaus in Hannover. unverbrauchtes Gesicht. Er wollte Christina womöglich Angela Merkel sein, eine Frau, Doris Schröder-Köpf ist so etwas wie die Rau. Nach einer Woche sagte sie zu. aber eine Frau eben auch ohne Kinder. heimliche Superministerin dieses Kanzlers, Erst im November hatte der Kanzler den Auf die Frage, für welchen Politiker sich dem etwas gegen den Stillstand einfallen früheren sächsischen CDU-Ministerpräsi- die Deutschen eine wichtige Rolle wün- musste. Sein Kabinett kann er nicht mehr denten Kurt Biedenkopf in den Ombudsrat schen, lag Angela Merkel laut Infratest di- umbilden, obwohl er es gern würde. Er hat berufen, der die Hartz-IV-Reform über- map lange vor Gerhard Schröder. Seit letz- Minister, die über die Jahre welk geworden wachen soll. Mit Ex-BDI-Chef Michael tem Herbst hat sich die Stimmung gedreht sind, sie haben graue Gesichter bekommen Rogowski soll demnächst ein bekannter (siehe Grafik Seite 41). Es war die Zeit, als und schon zu oft verloren. Eichel, Stolpe, Wirtschaftsmann der Image-Kampagne zur Merkel mit ihrer Gesundheitsprämie schei- Bulmahn, Wieczorek-Zeul, die beiden Frau Fußball-WM 2006 ein Gesicht geben. terte und bei Schröders ein Adoptivkind Schmidts. Aber die Partei bietet keine Al- Schon in seiner ersten Amtszeit hatte aus Russland angekommen war. ternativen an. Schröder immer wieder Sonderaufgaben Der Bundeskanzler, das lernende Sys- „Wer soll es denn machen?“, hat Schrö- an prominente Politiker aus dem anderen tem, glaubt inzwischen auch den Weg ge- der einmal gefragt. Es gibt keine Antwort Lager verteilt, um die Basis seiner Koali- funden zu haben, auf dem er das Private darauf. Und deshalb tauchen nun vermehrt tion zu erweitern. Rita Süssmuth von der Köpfe an der Peripherie der Regierung auf, CDU wurde zur Vorsitzenden der Zuwan- * Ex-BDI-Präsident Michael Rogowski, Nachfolger Jürgen die der Kanzler auch aus fremden Lagern derungskommission, der FDP-Ehrenvor- Thumann, Verleger Georg Olms überreicht ein Araber- Pferd als Geschenk an Thumann bei dessen Amtsantritt abgeworben hat. Er hat seine eigenen Vor- sitzende Otto Graf Lambsdorff zum Be- am 26. Januar im Berliner Konzerthaus. stellungen bei der Auswahl, sie heißen: auftragten für die Zwangsarbeiter-Ent-

42 der spiegel 7/2005 Deutschland schädigung. Richard von Weizsäcker küm- denkopf benutzt Schröder auch als späte merte sich um die Reform der Bundeswehr, Waffe gegen Helmut Kohl, seinen ewigen DIPLOMATIE Roman Herzog um die neue europäische Feind. Verfassung. Wirklich neu ist die Idee, fremde Pro- Kräftiges Beben Das Kalkül ist darauf gerichtet, den minenz für die eigenen Belange einzu- Kanzler in jeder gesellschaftlichen Gruppe spannen, nicht. Doch kein anderer Kanz- Um Washington nicht zu verärgern, Wurzeln schlagen zu lassen. Wer überall zu ler ist dabei so konsequent gewesen wie bemüht sich die Bundes- Hause ist, für den braucht man keine Al- Gerhard Schröder. ternative. Die Regierungschefs Konrad Adenauer, regierung, die Entführung Ein stilles Schattenkabinett ist so ent- Willy Brandt oder Helmut Kohl hatten eines Deutschen durch standen, verlässlich, solide, kompetent. Kurt immer darauf geachtet, nur einen engen US-Behörden herunterzuspielen. Biedenkopf, der Ombuds- Kreis von Unterstützern mann für Hartz IV, hat sich um sich zu sammeln, sie as Haar, an dem ein wichtiger Teil darin schon nach wenigen mussten dem eigenen po- der deutsch-amerikanischen Bezie- Wochen besonders her- litischen Lager zuzuord- Dhungen hängt, ist etwa 20 Zenti- vorgetan. Mit der Auto- nen sein. meter lang, tiefschwarz, und Khaled el- rität seiner mehr als 40- Selbst das garantiert in- Masri, 41, trug es meist mit Pomade nach jährigen politischen Er- des keine unbedingte Ge- hinten gekämmt. Die Strähne aus Masris fahrung verteidigt er die folgschaft. Als Kanzler Schopf liegt derzeit in der bayerischen Reform in der Öffentlich- Schröder den ehemaligen Staatssammlung für Geologie und wird mit keit. Er leiht dem Projekt Ersten Hamburger Bür- Hilfe hochmoderner Geräte seziert. Isoto- etwas von seiner persön- germeister und Treuhand- penanalyse nennt sich die Methodik, für lichen Legitimation. Manager Klaus von die die Münchner Ludwig-Maximilians- Der Christdemokrat ist Dohnanyi damit beauf- Universität international berühmt ist und einer, der vorausschauen tragte, als Vorsitzender ei- mit der schon manch kniffliges Kriminalis- kann. Noch bevor die ner Kommission ein neu- tenrätsel gelöst worden ist. Nürnberger Bundesagen- es Konzept für den Auf- Das kräftige Haupthaar ist das wich- tur für Arbeit die Zahl bau Ost zu entwickeln, tigste Beweisstück in einem der unge- von mehr als fünf Millio- wurde der Parteifreund wöhnlichsten Kriminalfälle der vergange-

nen Arbeitslosen verkün- HIEKEL / DPA MATTHIAS bald unbequem. nen Jahre: der Entführung des deutschen dete, nahm er den Kanz- Ombudsmann Biedenkopf Ohne Rücksicht auf sei- Staatsbürgers Khaled el-Masri, der be- ler, gleichsam präventiv, „Dem Land helfen“ ne Genossen prangerte er hauptet, vor einem Jahr von amerikani- vor Kritik in Schutz. „Die in seinem Bericht die bis- schen Agenten als vermeintlicher Qaida- fünf Millionen als psycho- herige Regierungspolitik Terrorist gekidnappt und von Mazedo- logische Schwelle zu stili- an und forderte die Ent- nien nach Afghanistan verschleppt worden sieren ist nicht sinnvoll“, machtung des zuständi- zu sein. sagte er dem „Tagesspie- gen Aufbau-Ost-Ministers Die bayerischen Wissenschaftler sollen gel“. „Es hat keinen Manfred Stolpe. Er wurde im Auftrag der Staatsanwaltschaft Mün- Zweck, mit dieser Zahl zum Schrecken für Ger- chen prüfen, ob der Vater von vier Söhnen Panik zu machen.“ hard Schröder – und der im vergangenen Jahr wirklich in Afghani- Von Dresden aus, wo er Osten für den Kanzler zu stan war. Die Forscher können im Haar seit seinem Abgang aus einem Land voller Geg- anhand abgelagerter Spuren von Elemen- dem Ministerpräsidenten- ner, die ihn mit Eiern be- ten wie Schwefel zumindest grob bestim- Amt vor knapp drei Jah- warfen. men, wann sich ein Mensch wo auf der ren mittlerweile als Das war im vergange- Welt aufgehalten hat. Rechtsanwalt praktiziert, nen Jahr, und wie anders Vieles deutet nach ersten Ergebnissen arbeitet sich Biedenkopf alles geworden ist seit- darauf hin, dass Masris Geschichte tatsäch- zurück ins politische Ge- dem, erlebte der Berliner lich wahr ist. Aus Angst vor weitreichenden schäft. Regierungschef am Diens- diplomatischen Konsequenzen möchte die Er sitzt aufrecht in ei- tag voriger Woche. Er hat- Bundesregierung den Fall diskret behan- nem schwarzen Lederses- te sich ins tiefste Sachsen delt sehen – schließlich richten sich die sel und sagt: „Ich will dem getraut und die Stadt Vorwürfe nicht gegen irgendeinen Schur- Land helfen, nicht irgend- Weißwasser besucht, 26 kenstaat, sondern gegen die Regierung der

einer Partei.“ Dann er- PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Prozent Arbeitslosigkeit mächtigsten Nation der Welt. Keinesfalls, scheint seine Vorzimmer- Fluthilfe-Beauftragte Rau* bei 23 000 Einwohnern, darauf haben sich die Regierungsbeamten dame und flüstert ihm zu, „Ein persönliches Gesicht“ ein Ort voller Hartz-IV- intern verständigt, dürfe das brisante Pro- dass der Bundeskanzler Geschädigter. blem die transatlantischen Beziehungen für ihn am Telefon sei. Biedenkopf verlässt Der Bundeskanzler lief durch die In- belasten, die erstmals seit dem Irak-Krieg den Raum, und als er zurückkommt, sagt nenstadt, Matsch und Lehm klebten an sei- wieder auf spürbare Wiederannäherung er, als fürchte er einen Angriff: „Ich lasse nen Schuhen, weil überall leer stehende ausgerichtet sind. mich nicht instrumentalisieren. Etwas an- Plattenbauten abgerissen werden, und am Nichts soll den Besuch von US-Präsi- deres zu behaupten ist Unsinn.“ Rand standen die Menschen, die ihm dent George W. Bush in Mainz in der kom- Er ist angetan von diesem SPD-Kanzler, freundlich zuwinkten. menden Woche überschatten, nachdem zur der für ihn ein interessanter Mann ist, „ein Er blieb vier Stunden. Dann stieg er in Erleichterung der Regierung Schröder ge- Mann mit Stehvermögen“. Keiner vor ihm den Helikopter und flog nach Berlin. Im rade erst eine Strafanzeige gegen US-Ver- habe „gegen solche Widerstände sozial- Hotel Adlon wurde die wichtigste Frau des teidigungsminister Donald Rumsfeld we- politische Reformen durchgesetzt“. Bie- Jahres geehrt. Er wollte dabei sein, ganz gen des Folterskandals im Gefängnis Abu privat. Markus Feldenkirchen, Ghureib vom Generalbundesanwalt zu- Matthias Geyer, Roland Nelles * Bei ihrer Vorstellung im Kanzleramt am 27. Januar. rückgewiesen worden ist.

44 der spiegel 7/2005 Andererseits kann es kein Staat xiert und schließlich mit einer Spritze ru- der Welt einfach so hinnehmen, hig gestellt hätten. wenn eine fremde Nation seine Vermutlich in Kabul, das glaubt jeden- Staatsbürger verschleppt, als wären falls Masri, sei er von mehreren Ver- sie vogelfrei. Doch als Außenminis- mummten mit amerikanischem Akzent ge- ter Joschka Fischer öffentlich ge- schlagen worden. In Handschellen und mit fragt wurde, ob er den Fall Khaled Fußketten gefesselt, habe ihm ein Mann li- el-Masri bei seinem Gespräch mit banesischer Herkunft eröffnet: „Du bist in Außenministerin Condoleezza Rice einem Land, in dem keine Gesetze für dich angesprochen habe, knurrte er nur gelten.“ ungehalten: „Nein.“ Nach endlosen Verhören, einem Hun- Berlin möchte eine Erledigung gerstreik und ständigen Unschuldsbeteue- in aller Stille und schickte vorver- rungen sei er eines Tages abgeholt, nach gangene Woche Bundesinnenmi- Albanien geflogen und von dort mit dem nister Otto Schily (SPD) vor. De- Auto nach Mazedonien zurückgefahren zent sondierte Schily, der als ein- worden. An Bord des Flugzeugs hätten ihm ziger deutscher Minister auch die Begleiter noch eine wichtige Persona- während des Irak-Kriegs der Bush- lie erzählt: Deutschland habe vor ein paar Regierung als treuer Freund galt, Tagen einen neuen Bundespräsidenten ge- bei CIA-Chef Porter Goss in Was- wählt. Es war der 28. Mai 2004. hington wohl auch, wie verhindert Vielleicht wäre der Fall nie zu einem Po- werden kann, dass ein ähnlicher litikum geworden, hätten die deutschen Fall erneut vorkommt. Berlin will Fahnder nicht so akribisch gearbeitet. Der eine Zusicherung, dass es sich um Münchner Staatsanwalt Martin Hofmann,

einen einmaligen Fehltritt handelt. / GETTY IMAGES NELSON SCOTT der offiziell gegen unbekannt ermittelt, ist Zuvor hatten auf Wunsch von inzwischen weitgehend über- Bundesjustizministerium, Auswär- US-Soldaten (in Afghanistan), Opfer Masri zeugt davon, dass Masri nicht tigem Amt und Kanzleramt die „Für dich gelten keine Gesetze“ lügt: „Es gibt keine Anzeichen Geheimdienste den Vorfall abge- dafür.“ klärt. Dabei hatten die Amerikaner das Qaida-Verdächtigen Reda Seyam Der Strafverfolger hat die Kidnapping unter der Hand eingeräumt unterhalten haben. Terrorismus- Eckdaten der Aussage Masris und vage angedeutet, wie ihnen die Sache Nachweise fanden sich indes überprüft. Der Busfahrer bei- aus dem Ruder gelaufen war. nicht. spielsweise bestätigte, dass Mas- Der Drahtzieher der tödlichen Anschlä- Das reicht in Deutschland ri tatsächlich in jenem Wagen ge vom 11. September 2001, der Hambur- nicht einmal für ein Ermitt- saß, der am Silvestertag 2003 ger Jemenit Ramzi Binalshibh, hatte der lungsverfahren. US-Präsident von München losfuhr. Bis zur

CIA bei seinen Vernehmungen von einer Bush aber hatte nach dem STORZ MARTIN mazedonischen Grenze sei Mas- zufälligen Begegnung während einer Zug- 11. September 2001 die amerika- ri dabei gewesen – fortan aber fahrt berichtet. Dabei habe ein Mann, der nischen Agenten ermächtigt, im weltwei- nicht mehr. Und Masris Pass enthält den sich „Khalid al-Masri“ nannte, die späteren ten Kampf gegen den Terror auch jenseits mazedonischen Einreisestempel vom 31. Todespiloten um Mohammed Atta ani- aller Maßstäbe eines Rechtsstaats zu Dezember 2003 und einen Ausreisestempel miert, sich in Osama Bin Ladens afghani- agieren. vom 23. Januar 2004, jenem Tag, als er of- schen Trainingscamps ausbilden zu lassen. Also sollte bei erster Gelegenheit auch fenbar nach Afghanistan geflogen wurde. Auch habe er ihnen einen Kontakt zu ei- der Verdächtige aus Neu-Ulm in einem der Über das Bundeskriminalamt verschick- nem führenden Qaida-Anhänger in Duis- Geheimgefängnisse in Afghanistan verhört te der Staatsanwalt anschließend Anfragen burg vermittelt. werden. Als Masri am 31. Dezember 2003 an die Polizeibehörden der mutmaßlich be- Wer der große Unbekannte ist, dessen in München in einen Bus nach Mazedoni- teiligten Länder: an das FBI natürlich, aber Name sogar in dem offiziellen Report der en stieg und den serbisch-mazedonischen auch an die mazedonischen Behörden, die US-Kommission zur Untersuchung der An- Grenzübergang passierte, holten ihn Gren- albanischen und die afghanischen. Die US- schläge des 11. Septembers auftaucht, wurde zer aus dem Bus. Nach einem heftigen Bundespolizei erklärte, sie werde so weit nie geklärt. CIA und FBI suchen den mut- Streit mit seiner Frau habe er eine Auszeit wie möglich kooperieren – und vermied maßlichen Hintermann bisher vergebens. nehmen wollen, erklärte Masri seine Rei- jede konkrete Antwort. Einmal glaubten sie fün- se – eine Woche Urlaub in Die Ermittler sind allerdings auch so dig geworden zu sein: in Skopje. schon weitergekommen. Weil der Gefan- Neu-Ulm, wo der gebürtige Drei bewaffnete maze- gene ausgesagt hatte, er habe in der Haft Libanese Masri wohnt, der donische Männer in Zivil ein Beben gespürt, gingen sie die Erd- seit 1995 die deutsche brachten ihn in ein Hotel. eruptionen des vergangenen Jahres am Staatsbürgerschaft besitzt Nach drei Wochen Verhör Hindukusch durch. Für Kabul und Kanda- und dessen Kinder in ei- eröffnete ihm sein mazedo- har vermerkten die Seismografen mehrere nem christlichen Kinder- nischer Vernehmer: „Die Erschütterungen. Dazu passt auch das Zwi- garten untergebracht sind. Sache ist nun nicht mehr in schenergebnis der Isotopenanalyse. Es lie- Er gilt den süddeutschen unserer Hand.“ Masri be- fert Anhaltspunkte, dass Masri tatsächlich Behörden als gut integriert, hauptet, dass ihm sieben bis in dieser Region gewesen ist – für die Er- aber auch als Sympathisant acht schwarz vermummte mittler „ein ganz wichtiges Puzzlestück“. des Multikulturhauses, das Männer eine Windel und Staatsanwalt Hofmann ist deshalb opti- vom Verfassungsschutz als einen dunkelblauen Trai- mistisch, doch noch aufzuklären, was ei-

Islamisten-Treffpunkt be- DEPARTMNET MICHAEL GROSS / STATE ningsanzug angezogen und gentlich nicht aufgeklärt werden soll: „Es obachtet wird. Dort soll Minister Schily, Rice ihn dann in ein Flugzeug schaut ganz gut aus.“ Georg Mascolo, Masri Kontakte zu dem Fehlgriff eingestanden verfrachtet, mit Gurten fi- Holger Stark

der spiegel 7/2005 45 Botschafter Krapf (r.)* Unanständige Behandlung?

schauen, bevor ein ehrender Nachruf in Satz geht. Fündig würde er mit Sicherheit. Schon Kanzler Konrad Adenauer störte sich beim Wiederaufbau des Auswärtigen Amtes daran, dass unter den leitenden Be- amten „etwa 66 Prozent frühere Partei- genossen“ gewesen seien. Er sei nicht glücklich über diese NSDAP-Seilschaft, be- kundete der Christdemokrat, aber leider, man schütte nun einmal „kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat“. Fischer indes scheint entschlossen, Zei- chen zu setzen. Sein Erweckungserlebnis war ein Mitte 2003 publizierter Nachruf auf den Generalkonsul a. D. Franz Nüß-

J.H. DARCHINGER J.H. lein. Eine Leserin hatte den Außenminister damals informiert, dass der Ex-Diplomat Seither ist die Empörung unter den Ru- nach dem Krieg keinesfalls nur einige Jah- AUSWÄRTIGES AMT heständlern groß. Binnen wenigen Tagen re „interniert“ worden war, wie die Mitar- organisierten Schneppen und der Bonner beiterpostille taktvoll formulierte. Aufstand der Diplomat a. D. Ernst Friedrich Jung einen Vielmehr war Nüßlein, ehemaliger Aufstand, wie ihn noch kein bundesdeut- Günstling des stellvertretenden Reichspro- scher Außenminister vor Joschka Fischer tektors für Böhmen und Mähren, SS-Ober- Mumien erlebt hat – und zu dem er sich auf Drän- gruppenführer Reinhard Heydrich, von gen von Union und FDP an diesem Mitt- den Amerikanern an die Tschechoslowakei Mehr als 100 Botschafter woch im zuständigen Ausschuss des Bun- ausgeliefert worden, wo er als Kriegsver- destags wird erklären müssen. brecher zu 20 Jahren schwerem Kerker ver- außer Diensten fühlen sich düpiert: Es geht, so heißt es in der Tagesordnung, urteilt wurde. Heydrich hatte den Juristen Ihr Minister Joschka Fischer um die „Gedenkpraxis des Auswärtigen für seine „entschlossene Bekämpfung der verweigert Diplomaten mit Nazi- Amtes“. Aus Protest gegen die „unanstän- Rechtsbrecher und Staatsfeinde“ gelobt Vergangenheit den letzten Gruß. dige“ (Schneppen) Behandlung ihres Weg- und gefördert, bereits mit 32 Jahren wur- gefährten hatten mehr als 100 ehemalige de Nüßlein Oberstaatsanwalt. Nach seiner ei Diplomaten im Ruhestand erfreut Spitzendiplomaten vergangenen Mittwoch vorzeitigen Entlassung und Abschiebung sich die Mitarbeiterdepesche „intern auf eigene Kosten eine viertelseitige „In in die Bundesrepublik machte Nüßlein BAA“ ihres Dienstherrn besonderer memoriam“-Anzeige zu Ehren Krapfs in rasch Karriere im Außenamt – ein Vor- Beliebtheit. Allmonatlich unterrichtet sie die „Frankfurter Allgemeine“ gesetzt. gang, der nun auch Fischer empörte. das Blatt über Neuigkeiten vom Werder- Hans-Georg Wieck, einst Chef des Bundes- „Die Todesanzeige hätte so nicht er- schen Markt („Aus dem Hause“) und die nachrichtendienstes, zählte ebenso zu den scheinen dürfen“, zürnte der Minister und Karrierewege der aktiven Kollegen („Auf Unterzeichnern wie der frühere Staats- versprach, „die Verantwortung für die Ge- Posten“). Höchste Aufmerksamkeit gilt den sekretär Jürgen Sudhoff oder Botschafter schichte dieses Ministeriums und seiner liebevoll redigierten Nachrufen („Ein eh- a. D. Erwin Wickert, Vater des „Tagesthe- Mitarbeiter noch wachsamer und sensibler rendes Andenken“) auf verblichene Weg- men“-Moderators Ulrich Wickert und wahrzunehmen“. gefährten. selbst einstiges NSDAP-Mitglied. Dies galt es nun im Fall Krapf zu beher- Auch seine Exzellenz a. D. Dr. Heinz Die Veteranen eint die Sorge, der Um- zigen – hatte sich dieser doch nicht nur „aus Schneppen, 73, zuletzt Botschafter der gang mit Krapf könnte Schule machen. Liebe zum Pferdesport“ kurzzeitig Hitlers Bundesrepublik Deutschland in Tansania, Hatte das Außenamt jahrzehntelang groß- Reiter-SS angeschlossen, wie „Bild“ vorigen gehört zu den treuen Lesern. Als Mitorga- zügig über Verstrickungen seiner Mitar- Freitag behauptete. So konnte der Osna- nisator der alljährlichen Zusammenkunft beiter im Hitler-Regime hinweggesehen, brücker Historiker Hans-Jürgen Döscher in ehemaliger Spitzendiplomaten im Berliner fürchten sie nun, Minister Fischer werde et- seinem Standardwerk „Verschworene Ge- Hilton-Hotel, von Schneppen selbst „Mu- was genauer in alten Personalakten nach- sellschaft“ bereits vor zehn Jahren belegen, mientreffen“ genannt, muss er schließlich dass sich Krapf in Ribbentrops wissen, wer noch am Leben ist. Auswärtigem Amt mit dem Umso größer war seine Überraschung, Titel eines SS-Untersturmfüh- als er bei der Lektüre der letzten Editionen rers schmückte und zudem keinerlei Hinweis auf den im Herbst ver- als ehrenamtlicher Mitarbeiter gangenen Jahres verstorbenen Botschafter des berüchtigten Reichssicher- a. D. Franz Krapf finden konnte. Recher- heitshauptamts „laufend her- chen im Außenamt ergaben, dass man die- angezogen“ wurde. sen offenbar postum zur Persona non grata Doch so genau möchten es erklärt hat. Begründung: Krapf sei vor sei- die einstigen Diplomaten ner Botschaftertätigkeit für die Bundes- nicht wissen. Spätestens Ende republik Deutschland in Japan und Brüssel April, wenn sich das Corps bereits den Nazis allzu beflissen zu Diensten der Ehemaligen in Berlin ein- gewesen. findet, wollen sie Minister Fi-

MARCO-URBAN.DE scher zur Rede stellen. * Mit Außenminister Willy Brandt 1968 in Bonn. Außenminister Fischer: Nachruf als Erweckungserlebnis Alexander Neubacher

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schiebt, den sie bereits am Spielfeldrand UNION wähnten. Intensiv denkt das Merkel-Lager nun Schnelle darüber nach, wie man den ehrgeizigen Ministerpräsidenten wieder ins Glied zurückbeordern kann. Denn ein allzu Entscheidung selbstbewusster Stoiber könnte eine zwei- te Kanzlerkandidatur anstreben. Das lau- Nervosität in der CDU: Im Falle fende Jahr würde wie 2004 im Zeichen ei- ner parteiinternen Keilerei stehen, die auch einer Doppelniederlage bei den auf Anhänger abschreckend wirkt. Landtagswahlen soll Angela Merkel Merkel will dem nicht tatenlos zuschau- zügig Kanzlerkandidatin werden. en. Die Kür des Kanzlerkandidaten der Union, so die aktuelle Planung im Lager m kurz vor eins am vergangenen der Vorsitzenden, soll vorgezogen werden. Mittwochmittag beschloss der Mi- Ursprünglich wollte sich Merkel erst Unisterpräsident des Freistaats Bay- Ende des Jahres oder gar Anfang 2006 ern, alle Bescheidenheit fahren zu lassen. zur Spitzenkandidatin ausrufen lassen. Der Als die 8000 CSU-Schlachtenbummler im- SPD sollte so wenig Zeit wie möglich mer wieder „Zugabe, Zugabe“ riefen, er- gelassen werden, sich auf die CDU- klomm Edmund Stoiber noch einmal die Vorsitzende einzuschießen. Mit frischem Bühne der Passauer Dreiländerhalle, das Schwung aus der Kandidatur, so das Kal-

Kinn nach vorn gereckt. kül, würde die CDU-Chefin dann ins Wahl- PRESS HANSEN / ACTION MARKUS „Der, der den Finger in die Wunde legt, jahr starten. CDU-Vorsitzende Merkel steht im Zentrum der Auseinanderset- Doch der Absturz in der Wählergunst Absturz in der Wählergunst zung“, rief er den Seinen zu. Deshalb be- hat diese Pläne obsolet gemacht. „Die Si- dürfe es einer starken CSU „und natürlich tuation hat sich verändert“, bestätigt ein len. Zusammen mit dem hessischen auch eines starken Parteivorsitzenden“. Vertrauter der Parteichefin. Ministerpräsidenten Roland Koch und Der Bayer genoss es, als Oppositions- Eine schnelle Entscheidung soll endlich dem niedersächsischen Regierungschef führer gefeiert zu werden. Eine Woche lang die nötige Geschlossenheit erzwingen. Christian Wulff organisiert er Merkels hatte er die Schlagzeilen mit der Behaup- Wenn Merkels Führungsanspruch offiziell Sturz. Mit ihr an der Spitze, so das wich- tung beherrscht, die Wirtschaftspolitik der festgeschrieben sei, werde Stoiber nicht tigste Argument, seien Gerhard Schrö- Bundesregierung sei für das Erstarken der weiter quer schießen, so die Hoffnung in der und Joschka Fischer nicht zu schla- rechtsradikalen NPD verantwortlich. „Ich Berlin. gen. Koch und Wulff müssten sich nur lasse ihm das nicht durchgehen“, wieder- Vor allem fürchtet man in der CDU- untereinander einigen, wer neue Num- holte er den Vorwurf an die Adresse des Spitze die Landtagswahlen in Schleswig- mer eins wird – was sie sich zutrauen. Kanzlers. CSU-Generalsekretär Markus Holstein und Nordrhein-Westfalen. Denn • Variante zwei: Die Personaldebatte um Söder war außer sich vor Freude über die wenn die Christdemokraten sowohl am Merkel schwelt, ohne dass ihre Konkur- inhaltlich höchst fragwürdige Attacke. Un- 20. Februar als auch am 22. Mai verlieren, renten aus der Deckung kommen. Bis widersprochen rief er ein Duell „Stoiber ist ein Putsch gegen die Chefin durchaus zum Jahresende ist die CDU durch in- gegen Schröder“ aus. denkbar. Drei mögliche Szenarien werden terne Streitigkeiten gelähmt. Merkel Ihren eigentlichen Effekt erzielte Stoi- in der Partei derzeit durchgespielt: wird widerwillig zur Kandidatin gekürt, bers Stänkerei an anderer Stelle, im Kon- • Variante eins: Der erklärte Merkel-Ri- der Rückstand gegenüber dem Kanzler rad-Adenauer-Haus der CDU. Die Ge- vale und Finanzexperte Friedrich Merz lässt sich aber nur schwer aufholen. treuen um Angela Merkel registrieren sehr übernimmt nach einem Wahldebakel Koch und Wulff triumphieren am Tag sorgsam, dass sich hier einer nach vorn den Parteivorsitz in Nordrhein-Westfa- nach der verlorenen Bundestagswahl. • Variante drei: Die Anhänger Merkels aus allen Teilen des Landes und der Partei fordern nach der NRW-Wahl ein Zusammenrücken der Christenunion: Schnell müsse die Führungsfrage gelöst werden, um den Kanzler attackieren zu können. Vertraute der Parteichefin wie Generalsekretär Volker Kauder oder der Hamburger Regierungschef Ole von Beust drängen schließlich öffentlich dar- auf, Merkel vorzeitig zur Kanzlerkandi- datin zu krönen. Es entsteht eine trotzi- ge Kampfesstimmung: „Jetzt erst recht.“ Ein erstes klares Signal in diese Rich- tung kam in der vergangenen Woche aus Baden-Württemberg, wo im Frühjahr 2006 gewählt wird. Der designierte Minister- präsident Günther Oettinger forderte, die K-Frage schnell zu entscheiden. Er brau- che Rückenwind für die Landtagswahl, „nicht Gegenwind“. Merkel komme dabei,

JAN PITMANN / AP PITMANN JAN so Oettinger, eine „besondere Position“ CSU-Chef Stoiber: Bereits am Spielfeldrand gewähnt zu. Ralf Neukirch, Christoph Schult

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Immerhin sind in Göttingen (Jahresetat: 350 Millionen Euro) die Weichen besser ge- HOCHSCHULEN stellt als an vielen anderen deutschen Hoch- schulen. Und das nicht nur, weil die Tradi- tionsuni fünf Vollzeitstellen nur fürs Fund- Betteln mit System raising hat – statt null, wie die meisten. An der 1737 gegründeten Alma Mater Nach US-Vorbild versuchen auch in Deutschland immer hat eine stille Revolution stattgefunden: Seit zwei Jahren ist sie kein Staatsbetrieb mehr Universitäten, ihren Haushalt durch Spenden aufzubessern. mehr, sondern eine Stiftung öffentlichen Doch die Politik unterstützt das neue Fundraising kaum. Rechts. Während anderswo jede private Gabe indirekt in den Landeshaushalt ein- eit 1933 ist der Karzer der Georg-Au- Die schiere Not treibt die Institute an. fließt, gehört in Göttingen jeder eingewor- gust-Universität in Göttingen außer Drei Milliarden bis vier Milliarden Euro bene Euro der Universität selbst. SBetrieb. Aber die Zellen im dritten fehlen laut Deutschem Hochschulver- Das vorbildliche Stiftungsmodell hat der Stock sind erhalten – samt den Graffiti band in diesem Jahr, um das Niveau we- frühere niedersächsische Wissenschaftsmi- früherer Generationen. Jetzt könnte sich nigstens zu halten. Jahr für Jahr sinkt nister Thomas Oppermann eingeführt. Bei das alte Gemäuer als Glücksfall erweisen. die Zuwendungsquote durch die verschul- einer Tour durch US-Universitäten war der Der ehemalige Studentenknast ist näm- dete öffentliche Hand (siehe Grafik). Die Sozialdemokrat zur Einsicht gelangt, dass lich das erste Projekt der neuen Fund- Qualität der Lehre leidet: Kamen 1975 seine Hochschulen nur dann im interna- raising-Abteilung der Göttinger Uni. Sei- noch auf einen Wissenschaftler 13 Studie- tionalen Wettbewerb bestehen könnten, ne Restaurierung soll mit Spenden fi- rende, sind es heute etwa wenn er sie vom Gängelband nanziert werden. Das sei eine „prima doppelt so viele. ließe. Einstiegsdroge“, findet eine der Beteilig- Neidvoll schauen die Chefs Der Markt ist knallhart: je ten: Für eine geschichtsträchtige Rarität, der darbenden Bildungsstät- besser die Uni, desto freigebi- hofft die Hochschulmitarbeiterin, ließen ten auf Amerika, wo die zehn ger ihre Gönner. Hochschul- sich leichter Liebhaber finden als etwa reichsten Universitäten ge- mäzen Peter Dussmann mo- für eine baufällige Mensa. Und wer schon meinsam über ein Stiftungs- niert: „Die deutschen Unis ha- mal großzügig war, könnte auf den Ge- vermögen von rund 82 Milli- ben leider mehr Masse als schmack kommen. arden Dollar verfügen – vier- Klasse.“ Obwohl der Berliner Überall in Deutschland legen sich Uni- mal mehr als das Jahresbudget Unternehmer mehrere heimi- versitäten ins Zeug, Gönnern und Mäze- aller deutschen Hochschulen sche Hochschulen unterstützt, nen Geld zu entlocken. Mit „Ex-Libri“- zusammen. Bei den jährlichen heißt sein Liebling Harvard. Aktionen werben zahlreiche Hochschul- Einnahmen aus Spenden liegt „Die bringen mit viel Ei-

bibliotheken dafür, Spendernamen in ge- Harvard mit 450 Millionen RICK FRIEDMAN geninitiative Spitzenleistung“, stifteten Büchern zu verewigen. Es gibt Dollar an der Spitze. Präsident Summers schwärmt Dussmann. Patenschaften für Hörsaalstühle (Uni- Für die von dem früheren Oberster Eintreiber Beim Fundraising zeigt sich, versitäten Hamburg und Marburg), für US-Finanzminister Larry Sum- dass der Ruf nach „Elite- Fossilien (Berliner Humboldt-Universität), mers geleitete Elite-Schmiede trommeln 400 Hochschulen“ vor allem Sonntagsgerede sogar für Bäume (TU Dresden). In Mann- Fundraiser im ganzen Land. Oberster Spen- ist. Die Politik hat nicht mal den Mumm, heim soll das Barockschloss der Hoch- deneintreiber ist der Chef selbst. „Ein ame- großzügiger als bisher auf Steuern von schule mit privater Hilfe renoviert wer- rikanischer Uni-Präsident verbringt mehr Spendern zu verzichten, um das unterfi- den. Und die RWTH Aachen wirbt um als die Hälfte seiner Zeit mit Fundraising“, nanzierte Bildungswesen anzukurbeln. Sponsoren für ein neues, architekto- sagt Horst Kern, bis Ende vergangenen Jah- Der Stifterverband für die Deutsche nisch aufwendiges Service-Center, ge- res Göttinger Präsident. Er habe leider „nur Wissenschaft fordert dringend mehr nannt „SuperC“. fünf Prozent“ erübrigen können. Freiräume für Hochschulspender. „Wir stel- Schleichender Rückzug Ausgaben der öffentlichen Hand für die Hochschulen in Prozent des jeweiligen Gesamt 1,07 % Bruttoinlandsprodukts davon 0,16% 0,92 % Bund 0,90 % 0,88 % 0,09% 0,10% 0,10%

Länder 0,91% 0,83% 0,80% 0,78%

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft 1975 1985 1995 2002 Ausgaben in Millionen Euro 5640 8531 16 182 18 562 ANDREAS TEICH / CARO ANDREAS Campus der Universität Göttingen: Stille Revolution

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mobilie. Dann verteilte er Blaumänner. „Meine Studenten und ich haben alles selbst renoviert“, erzählt er. „Das Material haben wir erbettelt.“ Das klappte erstaunlich gut – so wie vor vier Jahren, als Melzer einen Holzhändler in Niederbayern anrief: „Guten Tag, ich brauche 140 Quadratmeter Parkett.“ Nur bezahlen könne er nicht. Es entstand eine Pause. „Herr Professor, was Sie verlangen, kostet 17000 Mark. Da muss ich meine Frau fragen.“ Nach dem Mit- tagessen war der Holzhändler wieder am Telefon. „Dann mal her mit der Adresse.“ 1999 riefen Melzer und Hochschulpräsi- dent Wolfgang A. Herrmann die „Allianz fürs Wissen“ ins Leben, eine Kampagne, die Spenden und Sponsorengelder für die gesamte TU München einwirbt. Ein uner- hörtes Unterfangen – damals war es den bayerischen Hochschulen sogar noch per Gesetz untersagt, Spenden einzuwerben. Fünf Jahre später hat die Wissensallianz weit über 80 Millionen Euro akquiriert. „Fundraising ist Teamarbeit“, sagt Melzer. „Wir haben ein Partnerkomitee, in dem

TU MÜNCHEN hochkarätige Leute sitzen“ – etwa Hen- Studenten und Mitarbeiter der TU München: Renovieren mit Sachspenden ning Schulte-Noelle von der Allianz AG oder Bernd Pischetsrieder von VW. len fest, dass Stifter sich an den steuerli- setzlichen Maßnahmen“, tönt es nach wie Das Münchner Beispiel zeigt, dass schon chen Grenzen orientieren“, sagt Evelin vor abwehrend aus dem Haus von Hans Ei- jetzt vieles möglich ist, was vor kurzem Manteuffel vom Stifterverband. Für die Er- chel (SPD). Und Parteifreundin Edelgard noch tabu war. richtung einer Stiftung kann ein Privat- Bulmahn „begrüßt“ zwar als Bildungs- und Die Zukunft beginnt an jedem Tag, an spender bis zu 307000 Euro absetzen, dann Forschungsministerin „die Professionali- dem ein neuer Studiosus seine Alma Ma- endet der fiskalische Goodwill. sierung des Fundraising an Hochschulen“, ter betritt. „Friendraising kommt vor Fund- Eine halbe Million Euro Grundstock soll- verweist jedoch auf die „angespannte raising“, heißt die Devise, die inzwischen te eine Stiftung aber haben, um auf Dauer Haushaltslage“, wenn es um neue steuer- die meisten Universitäten zu beherzigen lebensfähig zu sein, denn sie darf nur ihre liche Anreize geht. versuchen. Zu Immatrikulationsfeiern wer- Vermögenserträge für den guten Zweck Helfen könnten auch die Länderminis- den Prominente eingeladen, in Uni-Shops einsetzen – bei einer Verzinsung von fünf ter. Nur etwa die Hälfte aller Universitäten Tassen, T-Shirts und Stifte mit dem Hoch- Prozent bringt eine halbe Million Euro Ka- hat bisher einen modernen „Globalhaus- schullogo verkauft – alles, damit aus ano- pital 25000 Euro im Jahr. „Nur die Hälfte halt“, bei dem Finanzgeschäfte über ein nymen Studis dereinst dankbare Alumni unserer 360 Stiftungen von Privatpersonen Jahr hinaus gemacht werden können. Die werden. Wie in Amerika. sind mit mehr als 307000 Euro ausgestat- übrigen werden noch durch die alte kame- Die Freie Universität Berlin (FU) hat sich tet“, sagt Manteuffel. ralistische Buchführung behindert. Berüch- gar der transatlantischen Ehemaligen selbst Auf die Großzügigkeit privater Mäzene tigt ist das „Dezemberfieber“, wenn zum besonnen und den Verein „Friends of Freie kommt es derzeit an; Firmen halten sich in Jahresende alles Geld rasch verpulvert Universität Berlin“ gegründet. Das erste der Konjunkturflaute zurück. Und nach werden muss. Wer spart, läuft Gefahr, im Spendendinner fand im Fünf-Sterne-Hotel wie vor sehen Sponsoren in Sportlern ge- nächsten Jahr weniger zu bekommen. The Pierre in New York statt. „Da kamen eignetere Werbeträger als in Spitzenfor- Auch die TU München hat ihre schlech- wildfremde Menschen auf mich zu, schüt- schern. Rund 2 Milliarden Euro für Athle- ten Erfahrungen mit der Kameralistik ge- telten meine Hand und sagten, thank you, ten stehen maximal 100 Millionen Euro für macht. Kein Wunder, dass deshalb sogar thank you“, erzählt FU-Präsident Dieter die Wissenschaft gegenüber. Deutschlands erfolgreichste Universität die Lenzen gerührt. Innerhalb eines Jahres Aber auch außerhalb des Stiftungswe- Göttinger um ihr Stiftungsmodell benei- spendeten US-Alumni der 1948 mit ameri- sens, bei Direktspenden für Universitäten, det. „Die haben jetzt einen gigantischen kanischer Unterstützung gegründeten Ber- könnte der Staat größere Anreize geben: Wettbewerbsvorteil“, sagt Arnulf Melzer, liner Universität 400000 Euro. Insgesamt 20 Prozent aller Einkünfte, for- Chef-Fundraiser der TU München. „Ich In Göttingen leben alte Rituale auf. Als dert der Stifterverband, müssten für solche hoffe, dass sie den auch nutzen, so dass der spätere Uni-Chef Kern 1970 die Pro- Schenkungen steuerlich absetzbar sein. Bis- Bayern dem Beispiel folgen wird.“ motionsurkunde der Georg-August-Uni- her sind es bei Bildungsspenden nur fünf Ein bemerkenswertes Lob – denn die versität abholen ging, schüttelte ihm gera- Prozent, bei Wissenschaftsspenden zehn. TU München liegt nicht nur in Lehre und de mal die Sekretärin die Hand. Heute pil- Das Ansinnen ist nicht aus der Luft ge- Forschung vorn. Die Münchner sind auch gert man wie zur Jahrhundertwende mit griffen: Als Rot-Grün 2000 mit einem neu- Spitze beim Betteln mit System. Melzer, Vierkanthüten zur „Gänseliesel“. en Stiftungsgesetz den steuerlichen Rahmen von Haus aus Süßwasserforscher, gilt als Um zu der bronzenen Magd zu gelan- für Spender erweiterte, wollten sowohl die bester Hochschul-Fundraiser der Republik. gen, müssen die Doctores erst über eine CDU/CSU-Opposition als auch einige Län- Es begann vor zehn Jahren mit der Idee, wasserspeiende Gans klettern. Wer das ge- der einen Steuerfreiraum von 20 Prozent. ein Forschungsinstitut im Südwesten von schafft hat, darf die höheren akademischen Doch der Finanzminister sperrte sich. München an den Osterseen zu gründen. Weihen zärtlich besiegeln: mit einem Kuss. Es bestehe „kein Anlass zu weiteren ge- Erst organisierte Melzer die passende Im- Das bindet an die Uni. Annette Bruhns

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Noch wird debattiert, wie der politische keine Bestrafung droht?“ In puncto Strafe FAMILIE Kompromiss im Detail verwirklicht werden spricht der hessische Justizminister Chris- soll: Der rechtspolitische Sprecher der SPD- tean Wagner für alle Konsenswilligen: Sie In dubio Fraktion, Joachim Stünker, fordert ein ex- schade nur dem innerfamiliären Frieden plizites Verbot der heimlichen Tests. Die und „kriminalisiert die Väter ohne Grund“. meisten Länder, darunter auch Bayern, ge- Ziel ist es, den Anreiz zu erhöhen, gleich pro Papa stehen zwar zu, „dieses Hintereinander-her- einen legalen Test zu machen, der dann Spionieren“ verletze „die Würde des Ein- auch vor Gericht als Beweis anerkannt wür- Bundesrat und Bundestag wollen zelnen“. Diese Tests seien schon jetzt rechts- de. Das gerichtliche Verfahren soll so geän- widrig, ein weiteres Verbot sei also nicht dert werden, dass Männer ihre Vaterschaft eine Neuregelung der notwendig. Und der neue justizpolitische feststellen lassen können, ohne diese zu- Vaterschaftstests. Die Hürden Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Jürgen gleich auch anfechten zu müssen. Bislang für legale Überprüfungen Gehb, fragt eher rhetorisch: „Was soll auch verliert jeder Mann, der durch ein legales sollen drastisch abgebaut werden. ein Verbot heimlicher Tests bringen, wenn Verfahren erfährt, dass er nicht der leibliche Vater ist, mit dem Urteil auch die er Oktober, in dem sie schwanger rechtliche Vaterschaft. „Man muss wurde, muss für die Frau aus Nie- den Männern doch auch die Mög- Ddersachsen ein wirklich stürmischer lichkeit geben“, sagt Rainer Funke, Monat gewesen sein. Knapp sieben Jahre rechtspolitischer Sprecher der FDP- nach der Geburt des Sohnes trug ihr Ex- Fraktion, „selbst dann noch die Fa- Freund dem Celler Oberlandesgericht sei- milie zu erhalten.“ ne Zweifel an der Vaterschaft und das Er- Wichtiger aber ist eine Einigung gebnis seiner Recherchen vor: Nicht nur er, darüber, wie hoch generell die sondern auch ihr damaliger Chef und min- Schwelle für ein solches Verfahren destens einer der fünf Freunde, mit denen sein darf. „Derzeit“, spottet Gehb, sie in der „Empfängniszeit“ im Oktober „können Männer vor Gericht nur 1992 segeln war, kämen als Vater in Frage. dann einen Test durchsetzen, wenn Klarheit könne nur ein Test bringen – den sie zehn Monate auf See waren und die Frau aber nicht wolle. ihre Frau bei ihrer Rückkehr ein far- Doch das Gericht mochte seiner Klage biges Kind auf die Welt bringt.“ Zy- „keine hinreichende Aussicht auf Erfolg“ pries möchte künftig den Nachweis zugestehen. Bloße Vermutungen reichten „ernsthafter Zweifel“ ausreichen las- nicht. Und „welche Ergebnisse im Einzel- sen, dem Hessen Wagner würden nen seine Behauptung rechtfertigen“, mo- sogar Zweifel „ohne konkrete Be-

nierten die Juristen, „trägt der Kläger mit MICHAEL H. EBNER gründung“ genügen. Merk möchte keiner Silbe vor“. Politiker Merk, Stoiber: Kompromiss aus Bayern? die Mütter gesetzlich verpflichten, Detektivische Fähigkeiten sind schon einem Test zuzustimmen, „es sei bald nicht mehr notwendig, wenn zwei- denn, ein solches Vorgehen er- felnde Väter Gewissheit haben wollen. In scheint grob missbräuchlich“. Im Bundestag und Bundesrat zeichnet sich Zweifel müsste dann der Richter im- eine parteiübergreifende Mehrheit ab, die mer für den vermeintlichen Vater legale Tests massiv erleichtern will: Die bis- entscheiden – in dubio pro Papa. her wie ein Veto wirkende Verweigerung ei- Während FDP-Mann Funke noch ner DNA-Analyse durch die Mütter soll ein kleines Problem mit der ge- praktisch aufgehoben werden. Und diese danklichen Vaterschaft des Kon- neue Mehrheit stellt sich auch gegen Jus- sensvorschlags hat („Das haben wir tizministerin Brigitte Zypries, die die der- schon vor Wochen gesagt“), lobt zeit so beliebte DNA-Spionage unter Stra- Rüdiger Meyer-Spelbrink das politi- fe stellen wollte: Diese Tests sollen illegal sche Kuckuckskind aus Bayern als bleiben – aber eben auch weiterhin straffrei. „von der Tendenz her sehr positiv“. Die Vorlage zum Konsens lieferte die Das Vorstandsmitglied von „Väter- bayerische Justizministerin Beate Merk. aufbruch für Kinder“, dem einzigen Sollte die Bundesregierung diese Mehr- bundesweiten Väterverband, könn- heitsposition nicht ins geplante Gendia- te sich allerdings noch eine ganz spe- gnostikgesetz übernehmen, in dem auch zielle Denkhilfe vorstellen. die Vaterschaftstests neu geregelt werden Womöglich sei es sinnvoll, eine sollen, will die Frau aus Edmund Stoibers obligatorische Beratung vor solchen Kabinett einen eigenen Gesetzentwurf im Tests im Gesetz festzuschreiben, Bundesrat einbringen. „um Missbrauch wie Kurzschluss- Die Chancen, damit Erfolg zu haben, handlungen zu vermeiden“. Dass sind in den letzten Tagen deutlich gestie- dann die zweifelnden Väter eine gen. Als erstes Bundesland scherte Nord- ähnliche Tortur hinter sich bringen rhein-Westfalen aus der Front der SPD- müssen wie Frauen vor einem regierten Länder aus, die sich zunächst Schwangerschaftsabbruch, nimmt er hinter Zypries gestellt hatten. NRW-Jus- in Kauf. „Männern“, sagt der Papa- tizminister Wolfgang Gerhards will heim- Lobbyist, „geht doch eine solche Si- liche Vaterschaftstests nicht nur straffrei tuation sehr an die Nieren. Und vie-

lassen, er hält sogar „ein generelles Verbot / DPA GRUBITZSCH WALTRAUD le sind damit überfordert.“ für nicht erforderlich“. Neugeborene: DNA-Tests im Eilverfahren Caroline Schmidt, Andreas Ulrich

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Doch in jüngster Zeit explodiert auch cher auf die Seite gehen, wird der Kun- PROSTITUTION das Geschäft mit der käuflichen Liebe im denstamm immer größer. Internet. Seiten wie Modelle-Hamburg.de, Die inserierenden Damen, Herren, Trans- Freier wo laut Eigenwerbung die „Schärfsten im vestiten und Paare lassen ihre virtuellen Be- Norden“ zu finden sind, verzeichnen ra- sucher durchs Schlüsselloch schauen: Die sante Zuwachsraten. Im vergangenen Mo- bisweilen professionellen Aufnahmen, die mit Maus nat klickten sich Männer über 408000-mal biografischen und physiognomischen Da- in das Erotik-Portal ein – ein gigantischer ten der Frauen sowie Informationen über Jetzt setzt auch die Rotlicht- virtueller Strich. das erotische Angebot vermitteln meist Und mit der Maussuche der Freier einen sinnlicheren Eindruck, als ihn die branche auf das Internet. beginnt sich die Szene zu ändern: Auf Koberfenster von Bordellen bieten. Es bietet Huren neue Marketing- der einen Seite haben vor allem Frauen, die Puffgänger reizt aber auch das Gäste- chancen und ihren Kunden in Privatwohnungen ihrem Geschäft nach- buch des Portals. Dort gibt es Freier wie eine Art Verbraucherschutz. gehen, das Internet als Marketinginstru- „Lollipopp“, der kurz und direkt über die ment entdeckt. Mit aufregenden Fotos „Mörderhupen“ von Natascha schwärmt. er Tester, der unter dem Pseudonym erreichen Huren wie „Lulu, das heiße Pragmatiker geben eher nützliche Tipps „Einsamer“ seinen Erfahrungsbe- Luder“ oder „Sarah, das freche Frücht- („Am Abend ist sie meist erschöpft“). Dricht ins Internet-Portal stellte, war chen“ Kunden, die sie mit Kontaktanzei- Autoren wie „Laichzeit“ haben sogar noch vom Erscheinungsbild der Prostituierten gen in Zeitungen nicht in Wallung zu brin- Augen für scheinbar Nebensächliches: „Ihr („schwarzer BH und Slip, darüber ein gen vermochten. Zimmer war ein wenig klein und karg schwarzes Fischernetz, halterlose Strümp- Auf der anderen Seite sehen sich auch mit weißen Wänden und Jalousien vor fe“) durchaus angetan. Doch am Ende der die Freier als Gewinner: Sie nutzen das den Fenstern.“ Geschäftsbeziehung mit Alexandra aus dem Netz zu selbstorganisiertem Verbraucher- Die Freier warnen auch vor Häusern, in Hamburger Stadtteil Ohlsdorf war vom En- schutz und haben so eine Art Stiftung denen Frauen ohne Schutz arbeiten, oder thusiasmus nichts geblieben. Hurentest geschaffen: Männer tauschen sie diskutieren die Höhe des Honorars: „War eben bei Michelle“, so ein Mann, „sie gehört zu denen, die glauben, unsere Kohle wächst auf den Bäumen. Bin sofort wieder ge- gangen.“ Als etliche Freier daraufhin zum Boykott der vermeintlichen Preis- treiberinnen aufriefen, klärte Eva, eine brünette Halbspanierin „mit kleinem Apfelpo“, die Geizkragen im Forum auf: „Ihr erwartet eine Frau, die einen super Service bie- tet und nicht auf die Uhr sieht. Dann finde ich 100 Euro angemes- sen. Wir sind immer noch Men- schen aus Fleisch und Blut.“ Das sei richtig, assistierte Detlef, „für einen Mercedes muss ich auch mehr ausgeben als für einen Seat“. Selbst Ausbeutung und Abhän- gigkeiten der Huren sowie der Miss- brauch osteuropäischer Frauen wer- den debattiert. „Meine Bitte an alle Mitstreiter“, schrieb jemand poli- Prostituierten-Werbung im Internet: „Immer noch Menschen aus Fleisch und Blut“ tisch korrekt, „solltet ihr das ungute Gefühl haben, dass etwas nicht „Für 80 Tacken“, so der Mann, habe die sich über die vielversprechendsten Adres- stimmt, so bitte ich euch, die Frauen auf die Dame nicht viel geboten: französisch ohne sen aus. Sie berichten Intimes über Ab- in Deutschland existierenden Hilfsorgani- „überbordenden Einsatz“, danach „Auf- zocke, Gesundheitsgefahren und Schmud- sationen hinzuweisen.“ Wenig später er- sitzen, kurzes Beckenkreisen: Das war’s“. delbetten. klärte ein Frauenheld namens Olaf die De- Offenbar nicht wirklich befriedigt, warnte Die Geschäftsidee hatten nicht einschlä- batte freilich für überflüssig: „Können wir der Einsame im Gästebuch der Internet- gig bekannte Größen aus dem Milieu, son- dieses sozialtherapeutische Gelaber einmal Seite potentielle Kunden vor der Schön- dern etwa bei Modelle-Hamburg junge beenden? Wir Konsumenten sind nun wirk- heit: „Absolute Profihure, nicht billig, Leute aus der Computerbranche. „Für An- lich die Falschen, die hier als barmherzige kennt alle notwendigen Kniffe.“ zeigen in den Tageszeitungen müssen die Samariter schlaue Reden halten sollten.“ Die Angst vor derartigen Hobbytestern Frauen viel Geld bezahlen und bekommen Und dann widmen sich die Herrschaften sorgte lange Zeit mit dafür, dass sich dafür wenig geboten“, sagt Peter Pfeiffer wieder den wahren Problemen des Frei- das älteste Gewerbe der Welt mit der von der Agentur Charly GmbH & Co. KG, ers: Weil er „noch keine Erfahrung habe“, modernen Medienlandschaft schwer tat. „bei uns können sie mit vielen Infos und wandte sich ein Chris jüngst nachts um Während der virtuelle Sex für Voyeure Fotos werben.“ Für ein Drei-Monats-Abo kurz vor halb eins hilfesuchend an seine schon seit Jahren boomt, konnte sich der bei Charly zahlen die Frauen 180 Euro. Geschlechtsgenossen: „Mal angenommen, harte Kern der Rotlichtbranche bislang Über 500 Frauen hat die Firma in ihrer ich buche eine Stunde, bin aber zu Anfang nicht so richtig mit dem World Wide Web Kundenkartei, dazu Sexclubs und Porno- schon so aufgeregt, dass er mir losgeht. Ist anfreunden. kinos. Und weil täglich über 12000 Besu- dann der Spaß vorbei?“ Udo Ludwig

58 der spiegel 7/2005 DER ZWEITE WELTKRIEG DIE PROPAGANDASCHLACHT Die Marke Hitler SERIE (III): Er machte den Führer zum Produkt und war so etwas wie der erste Spin-Doctor: Propagandaminister Joseph Goebbels. Mit den Mitteln der modernen Kommunikation bereitete er die Deutschen auf den Weltkrieg vor und ließ sie auch weiterkämpfen, als längst alles verloren war. AKG DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM (M.); AKG (R.) MUSEUM (M.); AKG HISTORISCHES DEUTSCHES Nazi-Plakate (1938, 1932, 1942): Maximum an Projektionsfläche

ie Losung hing über den Köpfen sendes, tobendes „Jaaaa ...!“ zu hören zur Volksabstimmung 1934 den 45-Grad- der Parteigenossen, wenn sie zu bekommen. Winkel erreicht. „Was wäre unsere Bewe- Großveranstaltungen der NSDAP Doch dieser Joseph Goebbels hatte mehr gung ohne Propaganda geworden?“, fragt in den Berliner Sportpalast ge- mit amerikanischer Werbekunst und Poli- Goebbels nach der Machtübernahme. trommeltD wurden. Es war die Losung einer tical Marketing zu tun, als sein Parteiaus- Sein neuer, totaler Begriff von Propa- neuen Zeit, groß und weiß auf blutrotem weis nahe legt. Goebbels hatte die Klas- ganda hat aus einer großdeutschen Polit- Grund: „Trink Coca-Cola – stets eiskalt“. siker der Reklametechnik schon in den Sekte eine Bewegung gemacht, aus einem Die Nazis schienen sich nicht daran zu Zwanzigern studiert. Haufen ressentimentgeladener Stamm- stören. Die Reklametechnik der „Pluto- Von den Kommunisten hatte er die auf- tischpropheten die bestorganisierte Mas- kraten“ von jenseits des Atlantiks war ih- peitschende Macht des Slogans und die senpartei der Weimarer Republik. nen nicht übel aufgestoßen. Wirkung von Aufmärschen gelernt. Von Goebbels trieb die Kunst der politischen Hermann Göring ließ sich 1937 auf der den Limonadenbrauern aus Atlanta, dass Propaganda zu einer gespenstischen Per- Düsseldorfer Ausstellung „Schaffendes Werbung alle Lebensbereiche ergreifen, fektion. Seither ist jede Form politischer Volk“ mit einer Cola in der Hand fotogra- dass sie total sein muss. Was die Propa- Beeinflussung verdächtig. fieren. ganda betrifft, war Goebbels ein Kind von Diese Woche wird auf der Berlinale der Als die „Reichsflaschenordnung“ die Marx und Coca-Cola. Dokumentarfilm „Das Goebbels Experi- einheitliche deutsche Flaschennorm de- Goebbels’ Produkt hatte keinen Er- ment“ von Lutz Hachmeister und Michael kretierte, erhielt Coca-Cola eine Ausnah- frischungsfaktor. Es hatte eine schräge Kloft präsentiert*. Darin wird Goebbels megenehmigung für seine kleine Gerippte. Stirnlocke und einen gestutzten Oberlip- als ungemein effizienter PR-Techniker ge- Dafür endeten die Geschäftsbriefe der penbart. zeigt. „Joseph Goebbels“, so Hachmeister, deutschen Abfüller zum Mutterhaus bis- Hitlers Kopf wurde zum Markenlogo, „steht für eine spezifische Modernität im weilen mit „Heil Hitler“. aufgebaut mit exakter Berechnung. Nationalsozialismus. Seine Biografie bildet Einige Jahre später ging es im Sport- Schnauzbart und Locke, Viereck und Drei- die Brücke von der totalitären und my- palast um andere Fragen als eiskalt oder eck machten das Gesicht auch auf weite thischen Konzeption des ,Dritten Reiches‘ nicht. Einige Jahre später würde ein krank- Entfernung unverwechselbar. haft dürrer Mann mit niederrheinischem Je höher die Wahlergebnisse der Partei, * Lutz Hachmeister, Michael Kloft: „Das Goebbels Expe- riment“. 108 Minuten, produziert von SPIEGEL TV und der Akzent und Hinkefuß auf seine Frage desto steiler fällt die Haarlocke des „Füh- Produktionsfirma HMR. Ab Mitte April in den Kinos. Das „Wollt ihr den totalen Krieg?“ ein brau- rers“, bis sie schließlich auf den Plakaten Buch zum Film erscheint bei DVA; 256 Seiten; 29,90 Euro.

60 der spiegel 7/2005 WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILDERDIENST Diktator Hitler, Propagandaminister Goebbels auf dem Obersalzberg (1943): „Ich liebe ihn“ zu ganz aktuell anmutenden kommunika- Goebbels war Einpeitscher und PR-Pro- nehmer zum Tee ins Propagandaministe- tionspolitischen Erwägungen.“ fi, absolut modern und zugleich abgrund- rium. Unter ihnen ist auch Hans Domizlaff, Der Film arbeitet mit wenig bekannten tief brutal. Sein Name ist selbst zum Mar- Erfinder von „Ernte 23“, „“ und dem Filmaufnahmen und Tagebucheintragun- kenzeichen geworden. „Goebbels“ steht Markenlogo der Siemens AG. Bis heute gen, gelesen von dem Schauspieler Udo für totalen Krieg und einen Propagandastil, gilt der 1971 verstorbene Domizlaff als Säu- Samel. Er verzichtet auf jeden Kommentar. der auf die Vernichtung des Gegners zielt. lenheiliger der deutschen Werber. Dadurch kommt er dem Hetzer nah, er- Einmal an der Macht, ging Goebbels’ 1932 hatte er das Buch „Die Propaganda- schreckend nah. Ehrgeiz über die Kontrolle hinaus. Er woll- mittel der Staatsidee“ geschrieben. Darin „Propaganda“ ist heute allgegenwärtig. te die Totalität. Propaganda wurde zum hatte er die Politiker zur „systematischen Der Begriff ist zur Grabbelkiste geworden, pädagogischen Projekt, zum Mittel, ein Ausnutzung moderner Propagandaerfah- in der alles verstaut werden kann: Hirn- ganzes Volk auf den Nationalsozialismus, rungen zur Beeinflussung großer Volks- wäsche, Spin-Doctoring, Konsensschaf- später auf den Krieg, schließlich auf das massen“ aufgerufen und erklärt: „Das Volk fung, Reklame, Kriegshetze, Lüge und PR, Selbstopfer einzustimmen. will geführt werden. Das Volk will vergöt- Marketing, Meinungsmanagement. Es war eine unmögliche Aufgabe. Nur – tern und einen Repräsentanten gewinnen, Das meiste davon ist zu finden bei je- das Goebbels-Experiment ist auf teuflische dem es blindlings folgen kann, ohne sich nem Mann, der es in den zwanziger und Weise geglückt. Die Propaganda dieses selbst mit Verantwortung und Denkarbeit dreißiger Jahren geschafft hat, all diese Mannes war „Der Krieg, den Hitler ge- belasten zu müssen.“ Das Buch war im Elemente zu bündeln und zu einer Waffe wann“, so der Titel eines Buchs des ame- „Völkischen Beobachter“ besprochen wor- im totalen Werbekrieg um die Macht zu rikanischen Historikers Robert Herzstein. den – von Hitler selbst, wie Domizlaff bis schmieden. Jeder Tag, den Deutsche im April 1945 zuletzt glaubte. Womit heute Kriege durchgesetzt und weiterkämpften, obwohl das Reich fast voll- Als Domizlaff dem Minister vorgestellt Bestsellerlisten erobert werden, womit aus- ständig erobert war, jeder Tag war ein Sieg wird, soll Goebbels – so schreibt Domizlaff sichtslose Wiederwahlen und Prime-Time- von Joseph Goebbels’ Propagandaapparat. es in seinen Erinnerungen – über das Buch Minuten gewonnen werden, das ist ir- ausgerufen haben: „Das kenne ich aus- ™ gendwann zwischen den Kriegen entstan- wendig!“ den, zwischen Atlanta, Moskau und der Kurz vor Kriegsausbruch tagte in der Der Werber und der Hetzer. Beide wur- Hedemannstraße in Berlin-Kreuzberg, wo Reichshauptstadt der „Kontinentale Re- den in den neunziger Jahren des vorver- Joseph Goebbels sein Büro hatte. klamekongress“. Goebbels lud die Teil- gangenen Jahrhunderts geboren. Beide wa-

der spiegel 7/2005 61 DER ZWEITE WELTKRIEG DIE PROPAGANDASCHLACHT ren klug genug zu wissen, dass nicht die Und dabei bin ich schüchtern wie ein blatt der Nationalsozialistischen Freiheits- stupid durchgepeitschte Parole die Massen Kind.“ bewegung für ein völkisch-soziales Groß- erreicht, sondern subtil durchkomponierte, Die erste große Liebe des Erotomanen deutschland“. Vertrauen ansaugende Propaganda. kommt aus jüdischem Elternhaus. Es ist Es ist das Käseblatt einer Wuppertaler Aber mehr noch verband Goebbels und ihm gleich. Auch in Heidelberg, wo er sich Polit-Sekte, aber das ist Goebbels gleich- Domizlaff die insgeheime Verachtung der für Germanistik einschreibt, sucht er die gültig: „Ich habe ein Sprachrohr.“ Massen. „Menschenmaterial“ war das. Bei- Gunst des berühmten (und jüdischen) Pro- Goebbels hasst das System, hasst die de hatten Friedrich Nietzsche gelesen und fessors Friedrich Gundolf und promoviert Religion, hasst die Bourgeoisie, hasst die Gustave Le Bon: „Unter den Massen über- Theater, hasst alles, wozu der tragen sich Ideen, Gefühle, Erregungen, Er war ein Kind von Marx und Coca-Cola: Zutritt ihm verwehrt ist. Die Glaubenslehren mit ebenso starker An- wenigen Seiten seines Blatts steckungskraft wie Mikroben.“ Von den Kommunisten lernte er die Slo- füllt er fast im Alleingang, Sie wollten Macht über die Massen, gans, von den Amerikanern die Totalität. schreibt Glossen, Kurzmel- träumten sich als genialische Anti-Bour- dungen, eine Kolumne, „Streif- geois. Vielleicht ist es kein Zufall, dass bei- schließlich bei einem Professor, der eben- lichter“, in der er Rache nimmt für die de früh wegen ihres Aussehens verhöhnt falls jüdischer Herkunft ist. Zurückweisungen durchs jüdische Kultur- wurden. Domizlaff schielte und war rot- Sein Idol ist Theodor Wolff, der Chefre- establishment. haarig. Über Goebbels’ Körper wird 1945 dakteur des liberalen „Berliner Tageblatts“. Er fängt an, Reden zu halten. Er merkt, im Protokoll der Roten Armee notiert wer- Wolff hat die Macht des Wortes, und dass die Leute zuhören und nicht mehr auf den: „Die Leiche des Mannes war von Goebbels weiß, dass sein Weg zur Macht seinen Fuß starren. niedrigem Wuchs, der Fuß des rechten Bei- über das Wort führt. Goebbels will dabei Wenig später wird der schmächtige nes steckte in halbgekrümmter Stellung in sein. Dass auch Wolff Jude ist, spielt keine Loser Geschäftsführer des NSDAP-Gaus einer angekohlten Metallprothese; darauf Rolle. Der frischpromovierte Germanist Rheinland-Nord und Chefredakteur der lagen die Überreste einer verkohlten Par- schickt Artikel ein, bewirbt sich für eine „Nationalsozialistischen Briefe“. Er ist teiuniform der NSDAP und eines ange- Redakteursstelle und schickt Bitt- und Kla- einer der ersten Arbeitslosen, die durch sengten Goldenen Parteiabzeichens.“ gebriefe. Keine Zeile wird gedruckt. Hitler zu Lohn und Brot kommen. Der spätere großdeutsche Minister ist Theodor Wolff emigriert später nach Die beiden werden erstmals im Sommer ein schmächtiger Krüppel mit zu großem Nizza. Nach der Besetzung Südfrankreichs 1925 zusammentreffen. Hitler ist in den Schädel, zu Hause geliebt, aber chancenlos wird der alte Mann verhaftet und ins Reich meisten Dingen völlig anderer Auffassung auf dem Schulhof. Er ist der Ausgeschlossene, der Bespöttelte, der Loser. Zerrissen zwischen dem Gefühl der eigenen Min- derwertigkeit und der Ge- wissheit, ein Großer zu sein. Sein Vater hat sich zum Buchhalter einer Dochtfa- brik hochgedient. Daheim wird gebetet. Die Familie dreht abends Lampen- dochte, um das Reihen- haus abzuzahlen. Es ist eine behütete Kindheit in Rheydt am frommen Nie- derrhein – wenn nur der Coca-Cola-Lkw in Essen (1939): Vorbild der Vermarktung Fuß nicht wäre. Goebbels wird religiös erzogen, in der deportiert. Er stirbt 1943 auf dem Transport Bilderwelt des Katholizismus. Vom Glau- ins KZ. ben wird er nie abfallen, wird nur den In- Zweieinhalb Jahre hängt Goebbels im halt tauschen, als die Vorsehung ihm und Hause der Eltern herum, schreibt Dramen, dem auserwählten deutschen Volk den Gedichte, Pamphlete und nimmt übel. „Ich Erlöser, den Überirdischen, den Heiland irre und schwärme durch das Universum schickt – in Gestalt eines cholerischen, un- umher“, jammert er 1924. „Pessimismus vorteilhaft frisierten Postkartenmalers aus gegen alles.“ Braunau am Inn. In seinem Drama „Mi- Später werden ihm Millionen zuhören chael“ findet sich der Satz: „Es ist nicht so müssen. Jetzt hat er nur sein Tagebuch. sehr von Belang, woran wir glauben; nur Wie unter Zwang füllt Goebbels die Bän- dass wir glauben.“ de, bis zur letzten Minute im Führerbun- Er ist kein Nazi, noch nicht. Wie ein ker. Es sind kitschige Erinnerungen, Wut- Besessener liest er Dostojewski und Tol- ausbrüche, Gesprächsnotizen, Hasstira- stoi, schwärmt für Van Gogh, den Rebel- den und Selbstrechtfertigungen, gezieltes len, und für die neue Musik Paul Hinde- Lügen für die Nachwelt und ehrliche miths. Er sieht sich als Revolutionär, will Beichte, Wehleidigkeit und Selbstüber- kaputtmachen, was ihn kaputtmacht. Die- redung. se Pose kommt an, auch bei den Mädchen: Im Herbst 1924 hört Goebbels von einer „Jedes Weib reizt mich bis aufs Blut. freien Redaktionsstelle bei der „Völkischen Wie ein hungriger Wolf rase ich umher. Freiheit – Rheinisch-westfälisches Kampf- Fahnenschmuck zu Hitlers 50. Geburtstag in

62 der spiegel 7/2005 als der promovierte Sozialrevolutionär Dokumentationen deutscher Kriegsver- Goebbels. Aber geht es um Inhalte? brechen waren gut gemacht und erho- Es geht um Glauben: „Ich beuge mich ben den Anspruch objektiver Tatsachen- dem Größeren, dem politischen Genie“, forschung. schreibt Goebbels in sein Tagebuch. Und: Die kaiserliche Propaganda konterte so „Ich liebe ihn.“ unbeholfen, dass mitten im Krieg der Bre- Ein Jahr später ernennt Hitler die ar- mer „Kaffee Hag“-Röster, Generalkonsul beitswütige Nachwuchshoffnung Dr. Goeb- Ludwig Roselius, zur Feder griff. Er dräng- bels zum NS-Gauleiter von Berlin. „Berlin te die kaiserliche Regierung, endlich ein ist perfekt. Hurra! Nun geht’s in einer Hilfskomitee für internationale Propagan- Woche in die Reichshauptstadt.“ da einzurichten: „Propaganda braucht ein Es kann losgehen. Jetzt müssen nur noch Symbol, eine Fahne, einen Kristallisa- die Massen bearbeitet werden. Am 7. No- tionspunkt. Für die islamische Religion vember 1926 steigt Goebbels am Anhalter heißt er Muhammed, für die kaufmänni- Bahnhof aus dem Zug. schen Geschäfte ist es die Marke – und für das deutsche Reich ist es der Kaiser.“ ™ „Kaiser“ oder „Kaffee Hag“ – ohne Schon der Erste Weltkrieg war ein Krieg starke Marke ist keine Kampagne zu der Waffen und der Werber. Die späteren gewinnen. Meisterdenker der US-Reklame lernten ihr Inzwischen warfen die Alliierten über Metier in der „Creel Commission“, mit der deutschen Schützengräben fuderweise

Präsident Woodrow Wilson 1916 das kriegs- Flugblätter ab, in denen zwischen der räu- DER SPIEGEL unwillige amerikanische Volk für ein Ein- berischen Kaste der Herrscher und den Agitator Goebbels (1928) greifen begeistern wollte. einfachen Soldaten unterschieden wurde. „Tier bleibt der Mensch doch immer“ Engländer und Franzosen stellten die Nach dem Krieg machten Hindenburg und Pickelhaubenheere als „Hunnen“ und Ludendorff diese „Zersetzungspropagan- war neidisch auf den Feind: „Was bei uns „teutonische Barbaren“ dar, mit bis heute da“ für ihre Niederlage mitverantwortlich. hier versäumt ward, holte der Gegner mit nachklingendem Erfolg. Sie hatten Schrift- Und im Beelitzer Rotkreuzlazarett lag unerhörter Geschicklichkeit und wahrhaft steller wie H. G. Wells unter Vertrag. Ihre ein Meldegänger namens Adolf Hitler und genialer Berechnung ein. An dieser feind- lichen Kriegspropaganda habe auch ich un- endlich gelernt“, schreibt er später. Hitler hatte genug massenpsycholo- gische Traktate gelesen, um zu wissen, dass der Einzelne sich in der brüllenden Masse auflöse und nur noch auf visuelle Reize, griffige Parolen, Trommeln reagiere. In Russland hatte Iwan Pawlow beim Hund die „bedingten Reflexe“ erforscht, und „Tier bleibt der Mensch doch im- mer“, so flüsterte Goebbels seinem Tage- buch zu. Ist der Mensch erst Masse geworden, lasse er sich, so Hitler, auch führen durch den Starken. „Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt“, heißt es in „Mein Kampf“. Deswegen habe „sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu ver- werten, bis auch bestimmt der letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag“. In ihrer Rezension des Buchs schrieb die „Times“ über Hitler: „Er ist in seinen Kom- mentaren über die Massen genauso zynisch wie unsere eigenen Werbetexter.“ ™ 1926 ist das Berlin, in dem Joseph Goeb- bels eintrifft, laut Selbstauskunft ihrer Pro- spekte die schnellste Stadt der Welt, das „New York Europas“. Skandale jagen ein- ander, Premieren und Rekorde, prahleri- scher Reichtum und elendige Armut. Sechstagerennen und Kommunistenauf- märsche. Ein ewig gefräßiges, zitterndes Asphalttier: „Berlin braucht seine Sensa-

HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES PICTURES / TIME LIFE HUGO JAEGER tion wie der Fisch das Wasser“, notiert Berlin (1939): Gespenstische Perfektion Goebbels. „Diese Stadt lebt davon, und

der spiegel 7/2005 63 DER ZWEITE WELTKRIEG DIE PROPAGANDASCHLACHT AKG (L.); CINETEXT (R.) AKG Riefenstahls Hitler in „Triumph des Willens“ (1934), Eisensteins Lenin in „Oktober“ (1927): „Das ist also Revolution“ jede politische Propaganda wird ihr Ziel wie: „Nicht das ist maßgebend, dass Un- Später heißt es: „Der Angriff erfolgt am verfehlen, die das nicht erkannt hat.“ recht besteht, sondern dass es geglaubt 4. Juli“. Und schließlich die Auflösung: Berlin ist überschwemmt von Warenzei- wird“, und: „Gleichgültigkeit gegen die „Der Angriff. Das deutsche Montagsblatt chen, Slogans, Neonreklamen, Plakatmän- Wahrheit ist ein Kennzeichen der Propa- in Berlin.“ nern und Litfaßsäulen. Alles ringt um ganda. Die Wahrheit ist nur insofern wert- Die Kampagne ist professionell. Es gibt Aufmerksamkeit, Kaffeesorten, Redner, voll, als sie wirksam ist.“ nur einen Fehler. Die erste Nummer ist, so Okkultisten und Parteien. Es bedarf eines Moralische Gefühle und Sentimentalitä- der verantwortliche Dr. Goebbels, „ge- starken Markenzeichens, um darin zu be- ten aller Art dienten nur dazu, „die Mas- druckter Käse“. stehen. sen seelisch auf eine bestimmte Politik ein- Er trommelt eine 40 Mann starke Hitlers großdeutsche Polit-Sekte hat in zustellen, aber nichts weiter“. Gau-Musikkapelle zusammen und kauft Berlin nur wenige Mitglieder, die Partei- Zynischer hätten weder Hitler noch einen siebensitzigen blauen Opel-Lan- arbeit liegt brach, ganze Stadtteile sind in Goebbels die Formbarkeit der Massen be- daulet als fahrende Rednertribüne – und der Hand der KPD. Der neue Gauleiter schreiben können. Niemand setzt diese um bei Schlägereien seine mobile Ein- bewundert den Kampfgeist der Bolsche- greiftruppe schnell zur Stelle wisten. Das seien die Gegenbilder zu den Er hetzt seine Schläger auf, jüdische zu haben. kleinbürgerlichen Krämerseelen. Im Kino Eine Rednerschule wird ein- sieht Goebbels, 1928, Sergej Eisensteins Passanten niederzuprügeln. Die gerichtet: „Nichts anderes hat „Oktober“. Er schreibt: „Das ist also Re- Zeitungen berichten – darum geht es. den Faschismus und den Bol- volution. Man kann von den Bolschewisten schewismus geformt als der vor allem im Anfachen, in der Propagan- Prinzipien hemmungsloser, radikaler ein große Redner, der große Gestalter des da viel lernen.“ als Joseph Goebbels. Propaganda „ist ein Wortes!“ Die Besten werden zu „Reichs- Goebbels ist klar, dass er die Massen Mittel und muss demgemäß beurteilt wer- rednern“ ernannt, Elitehetzern mit einer des arbeitenden Volkes nur durch „einen den vom Gesichtspunkt des Zweckes aus“, Lizenz für den Einsatz im ganzen Reichs- zielsicher ausgebauten Presse- und Pro- so Hitler im sechsten Kapitel von „Mein gebiet. pagandaapparat“ mobilisieren kann. Dazu Kampf“. Weil die Billigzettel der Partei im Berli- müsse es in jeder Ortsgruppe neben dem Der zeitgenössische marxistische Phi- ner Reklamegebrüll nicht auffallen, lässt Vorstand auch noch den Posten eines losoph Georg Lukács bemerkte bei den Goebbels blutrote Anschläge im Tape- Propagandisten geben, „oder, um in der Nazis die „Verschmelzung von deutscher tenformat kleben. Das Corporate Design Geschäftssprache zu reden, eines Rekla- Lebensphilosophie und amerikanischer ist einprägsam, unübersehbar, schwarz- mechefs“. Reklametechnik“. weiß-rot. Das Hakenkreuz. In den Buchhandlungen der Reichs- Schon die Markteinführung seines Der Berlinale-Film „Das Goebbels Ex- hauptstadt liegt 1926 „Die Kunst der Mas- Blättchens „Der Angriff“ ist ein Beispiel periment“ zeigt, wie Goebbels auf den La- senbeeinflussung in den Vereinigten Staa- modernen Marketings. Zuerst werden Pla- deflächen und Podesten stand. Die linke ten von Amerika“ von Friedrich Schöne- kate geklebt mit der Aufschrift „Der An- Hand flattert wie ein festgehaltener blei- mann. Goebbels konnte darin Sätze lesen griff“ – und einem großen Fragezeichen. cher Vogel, er reckt das Kinn nach vorn, er

64 der spiegel 7/2005 SPIEGEL TV Parteistratege Goebbels in der Berliner NSDAP-Gaugeschäftsstelle (1930): Für jede Ortsgruppe einen Reklamechef ist hager, bleckt die Zähne, spricht im nie- Tempo, seine mitreißenden Parolen und Die „Isidor“-Kampagne hat bereits den derrheinischen Singsang. seine stürmische Aktivität gegeben. Tem- Geruch der Öfen an sich. Aus dem manisch-depressiven Provinz- po! Tempo!“ Es ist eine immer wieder geübte Tech- Raskolnikow Goebbels ist der Leder- SA-Männer lassen bei einer Auffüh- nik, einen Unsinn so lange stereotyp zu mantelmann geworden. In zugequalmten, rung des Films „Im Westen nichts Neues“ wiederholen, bis der Gegner der Wider- durchbrüllten Kneipensälen verbreitet er weiße Mäuse im Kinosaal los. Gewalt legungen überdrüssig ist, so dass die freche Hass, Gift und Spott, hetzt, parodiert und und Spaßguerilla, alles ist diesem Aktio- Lüge als letztes Wort haften bleibt: Auch gestikuliert, bis es endlich zur Saalschlacht nismus recht, sofern es nur für Schlag- „Christus hat für seine Bergpredigt keine kommt. Er redet mehrere Stunden lang, zeilen sorgt. Beweise angetreten“. bis zur Heiserkeit, dieser „kleine, dunkle Sein Meisterstück an Infamie liefert Die Septemberwahlen 1930 sind der Dr. Goebbels mit den kohlschwarzen Fa- Goebbels mit der Hetzkampagne gegen erste deutsche Wahlkampf im amerika- natikeraugen und den schmalen Lippen“, Berlins jüdischen Vizepolizeichef Bern- nischen Stil: „Wir wollen einen Wahl- wie die „Vossische Zeitung“ schreibt. kampf führen, wie ihn die par- Seine Sprache ist verroht. Der promo- Im Jahr 1932 flog Hitler 30000 Meilen, lamentarischen Bonzenpartei- vierte Germanist erregt sich über das „vie- en noch nie gesehen haben“, hische Gegeifer wildgewordener jüdischer er sprach auf 200 Veranstaltungen, zu schreibt Goebbels. Soldschreiber“. 15 Millionen Menschen. Von allen Zäunen, Häuser- Während im Saal die Eisenstangen und wänden, Litfaßsäulen leuchten Schlagringe krachen, steht der schmächtige hard Weiß. Unter dem Spottnamen „Isi- die Plakate der NSDAP. Wagenkolonnen Mann ohne Regung auf der Bühne. Die blu- dor“ übergießen der Gauleiter und sein rasen durch Deutschland, die mobilen tenden Opfer lässt er sich nach oben tragen Kampfblatt den Mann mit Hohn und Un- Rednerkommandos werden in jedes Dorf und drapiert sie zu seinen Füßen. Die Zei- flat. Goebbels’ Zeichner Hans „Mjölnir“ geschickt. In den beiden letzten Tagen tungen berichten in großer Aufmachung. Schweitzer stellt Weiß Tag für Tag als veranstaltet Goebbels in Berlin 24 Groß- Denn darum geht es. Ins Gerede, in die krummnasigen Widerling dar, so lange, bis versammlungen. Medien zu kommen. Er hetzt seine Schlä- dem Mann die Kinder auf der Straße nach- Es ist der totale Wahlkrieg: „Noch nie zu- ger auf, jüdische Passanten auf dem Kur- rufen: „Isidor! Isidor!“ vor hatte eine politische Bewegung so vie- fürstendamm anzupöbeln und niederzu- Die Kampagne zieht sich über Jahre hin, le öffentliche Versammlungen in so kurzer schlagen. Die Zeitungen berichten. Und immer wieder genährt von Prozessen, hilf- Zeit abgehalten wie die NSDAP zwischen weiter: „Immer am Feind bleiben“ ist sei- losen Protesten und weiteren hanebüche- 1930 und 1933“, schreibt der Kommunika- ne Devise, keine Atempause. nen Unterstellungen in einer Kloaken- tionswissenschaftler Randall Bytwerk. „Wir haben diesem Kampf seinen Im- sprache voller „Schleim“, „Brechreiz“, Die Reichspropagandaleitung lässt das puls, seinen heißen Atem, sein wildes „Schwein“. 26-seitiges Pamphlet „Moderne politische

66 der spiegel 7/2005 DIE PROPAGANDASCHLACHT DER ZWEITE WELTKRIEG

Propaganda“ in einer Auflage von 55000 material, Blut-und-Boden-Politainment. Stück drucken. In solchen Anweisungen „Er verkauft Nationalsozialismus, wie an- war festgelegt, wann und in welcher Laut- dere Leute Waschmittel oder Kühlschrän- stärke das Horst-Wessel-Lied gesungen ke verkaufen“, schreibt Helmut Heiber in werden soll und wie die Lampen im Fall ei- seiner Biografie. ner Schlägerei zu schützen sind. Ein eige- Ständig taxiert er seine Lage neu und ner Versicherungsfonds wird eingerichtet, richtet sein Handeln danach aus. Er ist um die Kosten für Saalschlachten zu wendig, argwöhnisch, zynisch durch und decken. durch. Er ist gemein, und er ist ungemein Die meisten bürgerlichen Politiker ste- fleißig. Selbstgefällig, unausgereift, haltlos hen der Reklame naserümpfend gegen- und labil, aber wendig, phantasievoll und über. Für sie ist Propaganda eine Kunst völlig skrupellos in der Wahl der Mittel. der Aufdringlichkeit und des Lügens, kei- Goebbels kann schreiben, reden und ist ne Beschäftigung für ernsthafte Politik. Das gewissenlos. staatlich kontrollierte Radio wird zur poli- Nur „mit grandiosen Mitteln“ könnten tikfreien Zone erklärt, das Werben ums die Massen aufgerüttelt werden, predigt Volk erschöpft sich in blasser Staatsbürger- Goebbels seinen Leuten. Das spätere Be- ideologie und Appellen an die Harmonie. netton-Prinzip: Schon die Werbung muss Die Nazis verneunfachen die Zahl ihrer Tagesgespräch sein. Abgeordneten und ziehen mit einer 107- Es war Hermann Göring, der die Idee köpfigen Fraktion in den Reichstag ein. hatte – und die nötigen Kontakte zur Deut- Goebbels heiratet im Jahr darauf die da- schen Luft Hansa AG. Hitler wurde für die mals 30-jährige Magda Quandt in einer Kir- heiße Phase des Wahlkampfs eine Flotte

che in Mecklenburg. Hitler ist Trauzeuge. / DER SPIEGEL EHLERT MAX von Flugzeugen zur Verfügung gestellt. Im Der Film „Das Goebbels Experiment“ Flugreisender Goebbels (1936) Jahr 1932 flog Hitler 30 000 Meilen und zeigt eine Szene von 1931, in der die da- „Gedruckter Käse“ sprach auf 200 Veranstaltungen, zu 15 Mil- maligen Spitzenpolitiker den Reichstag be- lionen Menschen. Hitler war überall, all- treten, genau an der gleichen Stelle wie probieren. Für den zweiten Wahlgang gegenwärtig, dem Himmel entstiegen. heute die Bundestagsabgeordneten. Die entwirft er eines der modernsten Wahl- Die Zeitungen schrieben, als handelte es Journalisten stehen mit ihren Blöcken und poster der Weimarer Zeit. Es wird nur der sich um den Lindbergh-Flug. „Hitler über Mikrofonen Spalier. Brüning, Hugenberg, Kopf des Kandidaten gezeigt, ausgeschnit- Deutschland“, diese Mischung aus Hel- Goebbels. Keiner der bürgerlichen Politi- ten, ohne Halsansatz freischwebend auf denkult und Sportrekord, wurde zur Sen- ker nimmt von der Presse Notiz, alle eilen schwarzem Grund. Kein Parteilogo, keine sation. Es war, wie George Weifenfeld 1942 angeekelt zum Eingang. Goebbels dagegen inhaltliche Erklärung, nur ein Wort: für die BBC schreibt, „einer der gigan- nimmt sich Zeit. Er stellt sich zur Kamera HITLER. tischsten persönlichen Werbefeldzüge, die und diktiert den Medien, was morgen in Die Montagetechnik hat Goebbels von je von einem Mann ohne Amt ausgeführt den Blättern stehen wird. John Heartfield abgeschaut, den Schrift- wurden. Massenagitation in einem Maß- Nie nachlassen: „Tempo! Tempo!“ zug von der Bauhaus-Avantgarde in Des- stab, den die Welt noch nicht gesehen hat- Goebbels bestärkt Hitler, bei der Reichs- sau. Das Minimum an Aussage eröffne ein te“. Monate später ist Hitler an der Macht. präsidentenwahl 1932 gegen den Amtsin- Maximum an Projektionsfläche fürs Volk. ™ haber Hindenburg anzutreten. Zum Auf- Dabei sind die ideologischen Botschaf- takt wird der Sportpalast gemietet. ten für Goebbels bis zu einem gewissen „21. Februar 1933. Unsere Propaganda „Zunächst betritt Goebbels das Podium, Grad beliebig einsetzbares Propaganda- wird nicht nur von der deutschen, sondern um die Masse durchzukneten“, schreibt auch von der internationalen Presse als die „Vossische Zeitung“. „Dann erfolgt an vorbildlich und nie da gewesen aner- die SA das Kommando ‚Still gestanden‘, kannt“, schreibt Goebbels. „Wir haben uns und man hört in der plötzlichen Stille des in den vergangenen Wahlkämpfen so um- Riesenraumes die anschwellenden Heil- fassende Kenntnisse auf diesem Gebiet an- Rufe von draußen. Durch die Gasse des geeignet, dass wir schon vermöge unserer ‚Volkes‘ schreitet Adolf Hitler.“ besseren Routine unschwer über alle Geg- Der Kandidat als Heilsbringer, die Auf- ner triumphieren können. Die sind ohne- heizung durch den Vorredner, der einsame hin so verschüchtert, dass sie kaum Laut Gang durch die Massen, die dräuende geben. Jetzt zeigen wir ihnen, was man mit Musik – was heute zu jedem guten Wahl- dem Staatsapparat machen kann, wenn parteitag gehört, war 1932 etwas nie man ihn zu gebrauchen versteht.“ Gesehenes. Am Vorabend zur Neuwahl des aufge- Die Nazis richten ein fliegendes Presse- lösten Reichstags, am 4. März 1933, soll büro ein, dem von eigenen Telefonleitun- Hitler in Königsberg sprechen. Goebbels gen bis zu Sonderkurierflugzeugen alles macht aus der Rede ein multimediales zur Verfügung steht. 50000 Grammophon- Weihespektakel, eine Vorprobe der Reichs- platten werden gepresst, mit Reden und parteitage in Nürnberg. Überall auf Hü- grausigen Kampfgesängen, klein genug, um geln und Bergen lässt er „Freiheitsfeuer“ per Post verschickt zu werden. Eine Zehn- anzünden, organisiert Fackelzüge der SA, Minuten-Rede wird abgefilmt und als Wer- bestellt Wagenladungen von Hakenkreuz- bespot abends auf Großstadtplätzen vor- bannern, dazu „blonde Kinder, kleine ost- geführt. Das hatte bis dahin noch keiner preußische Mädels“ mit Blumen für den

gemacht. DPA Führer. Goebbels lässt die Wirksamkeit der Pla- Goebbels’ Reklamelehrer Domizlaff (1952) Die einleitende Rundfunkreportage kate und Slogans vor Testpublikum aus- „Das kenne ich auswendig“ spricht er selbst, redet von „schweigenden

der spiegel 7/2005 67 DER ZWEITE WELTKRIEG DIE PROPAGANDASCHLACHT Die Kunst der Verführung Spin-Doctoring, Parteien-Marketing,Wahlkampagnen – alles Propaganda?

ür manchen fallen schon die „Ta- densbewegung hatte Geißler dem Pa- presse“ für die PR-Arbeit ein. Sein Wi- gesthemen“ unter Propaganda- zifismus eine Mitverantwortung für dersacher Fürst Metternich stellte schon F verdacht. Andere halten die Pres- Auschwitz zugeschrieben. Propaganda bald fest, dass man „recht eigentlich in sepolitik des Kreml nur für effiziente sei das nicht gewesen: „Propaganda im dem Zeitalter der Propaganda“ lebe, Public Relations. Kaum ein Begriff ist Goebbelsschen Stil“, sagt Geißler heu- worunter er „Bestrebungen“ verstand, inhaltsleerer und zugleich beliebter, vor te, „bedeutet die Personalisierung ei- „die eigene Überzeugung und die eige- allem in Wahlkampfzeiten gilt: Propa- ner Auseinandersetzung mit dem Ziel nen Lebensformen dorthin, wo sie nicht ganda ist das, was die anderen machen. der psychischen und physischen Ver- bestehen, zu verpflanzen“. Für Metter- Wir werben nur für unsere Ideen. nichtung der betreffenden Person.“ nich bestand Propaganda darin, es nicht Auf über hundert Definitionsversu- Jedenfalls ist Propaganda die Ant- den Redakteuren zu überlassen, „wel- che kommt der Wissenschaftler Stanley wort auf ein existentielles Grundpro- che beim Leser zu erzeugenden Schluss- Cunningham – und im Übrigen zu dem blem jedes Menschen: Wie stelle ich folgerungen heilsam oder nachtheilig Schluss, dass in der Mediengesellschaft es an, dass andere so denken, wie ich sind“. Die bedingungslose Lenkung zwischen Propaganda und Information will? der Presse bezahlte er allerdings mit weitgehender Wirkungslosigkeit seiner Propaganda. Nach Kriegsende war „Pro- paganda“ keineswegs ein Un- wort. 1953 vor der Wieder- bewaffnung dachte Konrad Adenauer ernsthaft über ein Informationsministerium nach. Staatssekretär Otto Lenz wurde „als dringendste Aufgabe die Schaffung einer zugkräftigen Propaganda“ nahe gelegt. Lenz und sein Plan wurden fallen gelassen, als das Vorhaben an die Öffentlichkeit drang – man- gels totaler Kontrolle. J. SCOTT APPLEWHITE / AP APPLEWHITE SCOTT J. DER SPIEGEL (M.); DAVE SIMS / GREENPEACE (R.) SIMS / GREENPEACE DER SPIEGEL (M.); DAVE Adenauer lud wenig später Bush-Inszenierung, CDU-Wahlplakat (1953), Greenpeace-Aktion: Ein gefühlter Begriff den Werber Hubert Strauf zum Wahlkampfausschuss der CDU kaum unterschieden werden könne. Die Kirche hatte die Erfahrung ge- ein. Strauf hatte den Nachkriegsslogan Propaganda sei ein gefühlter Begriff, et- macht, dass Daumenschrauben und für Coca-Cola erfunden: „Mach mal was, das im Kern „unethisch“ sei. Streckbänke nicht genügen. Überzeu- Pause!“ Den CDU-Leuten schlug er Die Grenzen zwischen Spin-Docto- gen hält besser als Foltern. Und am al- ohne langes Nachdenken einen Satz ring, Parteien-Marketing und Propa- lerbesten ist es, wenn man über beide vor, der zum Signum werden würde: ganda sind nie präzise abgesteckt wor- Instrumente verfügt. „Keine Experimente!“ den. Ist die Choreografie amerikani- So gründete Papst Gregor XV. 1622 die Als seine Parteifreunde an dem Vor- scher Parteitage mit den Inszenierungen „Congregatio de propaganda fide“, die schlag herummäkelten, entschied Ade- von Nürnberg vergleichbar? Ist es Pro- Gesellschaft zur Verbreitung (lateinisch: nauer. „Nee, nee, meine Damen und paganda, wenn die US-Regierung den propagare) des Glaubens unter den Fehl- Herren, wenn die Reklamefritzen dat Irak-Krieg mit Halbwahrheiten über gläubigen in Afrika oder Wittenberg. Die meinen, dann machen wa dat so!“ Aluröhren und Massenvernichtungs- Kurienbehörde hatte zur Aufgabe, Feh- Heute stehen Arnold Schwarzeneg- waffen vorbereitet? Und Michael Moores leranalyse bei der Missionsarbeit zu be- ger und Tony Blair, Gerhard Schröder, Bestseller? Die Attacken von Green- treiben, alle Beteiligten zu einheitlichem Bill Clinton und Silvio Berlusconi für peace auf die Ölplattform Brent Spar? Auftreten und Denken zu bringen und eine Politikergeneration, die verstan- Nicht jedes politische Marketing ist Pro- eine möglichst lückenlose Datenbank den hat, dass Politik in der medialen paganda, nicht jede Inszenierung Lüge, über die Missionare zu erstellen. Die Ereignisgesellschaft sozialdemokratisch nicht jede Lüge vom Geiste Goebbels’. Behörde existiert noch heute. oder konservativ sein kann, aber vor „Die Lüge gehört zwar leider für ei- Wurden früher böse Zungen abge- allem eines sein muss: in Szene gesetzt. nige zum Handwerk in der Politik“, sagt schnitten, so ging es nach der Französi- In Kalifornien hat Schwarzenegger Heiner Geißler. „Aber die Grenze wird schen Revolution darum, sie gefügig zu vorgeführt, dass ein „Feel-good-Faktor“ überschritten, wenn der andere ver- machen. Mit der Aufklärung wuchs der ausreichen kann, um eine Wahl zu leumdet wird.“ Über den ehemaligen Bedarf an Meinungsmache und politi- gewinnen. Italiens Regierungschef prüft CDU-Generalsekretär hat Willy Brandt scher Sinnstiftung. Napoleon wollte jede Geste auf ihre PR-Tauglichkeit. gesagt: „Ein Hetzer ist er, seit Goeb- „Europa nicht nur mit Truppen, son- Glücklich die Zeiten, in denen Poli- bels der schlimmste Hetzer in diesem dern auch durch Agitation erobern“, tainment an die Stelle der Propaganda Land.“ Auf dem Höhepunkt der Frie- und richtete ein eigenes „Bureau de getreten ist.

68 der spiegel 7/2005 ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Minister Goebbels auf Funkausstellung (1938) „Starke Ansteckungskraft wie Mikroben“

Wäldern“, über denen in ganz Ostpreußen jetzt die Glocken läuteten. Zwar haben sich beide Kirchen geweigert, den Glockenchor für die Partei herzugeben, aber es gibt genügend Schallplatten im Lager der Reichsrundfunkgesellschaft. Trompetengeschmetter, Paukenwirbel, brausende Heil-Rufe und dann die Rede. Im Anschluss lässt Goebbels das „Nieder- ländische Dankgebet“ abspielen. Es ist ein archaisches Spektakel, mit Präzision in Szene gesetzt und mit modernsten Mitteln verbreitet. In dieser Nacht ist die Stimme Hitlers überall zu hören, in den Wohnun- gen, Gaststätten, auf den Straßen und Plät- zen. Die Propaganda ist total geworden. Niemand kann sich mehr entziehen. Goebbels weiß, dass diese Regierung „niemals, nimmer und unter keinen Um- ständen“ die Macht wieder abgeben wird. Die „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ führt eine weitgehende Zensur ein, das Schriftleitergesetz unter- wirft die Presse einer rigiden ideologischen und „rassischen“ Kontrolle, das Reichs- kulturkammergesetz schafft die Freiheit der Künste ab. Im Juli feiert Goebbels das Ende des Verlagshauses Mosse, bei dem er sich ein Jahrzehnt zuvor vergeblich um Anstellung bemüht hat. Vom Kinokartenabreißer bis zum Chef der Berliner Philharmoniker muss von nun an alles auf das Kommando des kleinen Dr. Goebbels hören. Bald kontrolliert er den kompletten Kultur- und Medienbereich. Goebbels bekämpft die Bezeichnun- gen „Führer des Betriebes“, „Zugführer“ oder „Führer Christus“. Die Funktion des „U-Boot-Führers“ wird umbenannt in „U-Bootkommandant“ – alles Copyright- Maßnahmen, die eingeleitet werden, um die mühsam etablierte Marke „Führer“ rein zu halten. Auch der Begriff „Propaganda“ darf ab Ende Oktober 1933 ausschließlich für die politische Werbung des nationalsozialisti- schen Staates benutzt werden. Der „Wer- der spiegel 7/2005 69 DER ZWEITE WELTKRIEG DIE PROPAGANDASCHLACHT berat der deutschen Wirtschaft“ teilt seinen mern“, wie sein Reklamelehrer Hans Do- Maßanzug und mit Hut, der nach Mitgliedern mit, dass „Warenbezeichnun- mizlaff es geschrieben hat. Büroschluss erst auf seiner Yacht „Baldur“ gen, die das Wort ,Propaganda‘ enthalten, Er möchte „eine neue moderne Spra- segeln geht und dann ein Gartenfest gibt, z. B. ,Propaganda-Kaffee‘, ,Propaganda- che, die nichts mehr mit altertümlichen, mit den Schmelings, der Riefenstahl und Mischung‘ usw.“, nicht mehr gestattet seien. sogenannten völkischen Ausdrucksformen Veit Harlan. Das Goebbels-Ministerium wächst in zu tun“ hat: „Die Hauptsache ist heute bei Endlich wird sein Jugendwerk gedruckt. den nächsten Jahren von 350 Mitarbeitern unserer Propaganda, dass sie menschen- Er genießt die neue Macht in allen ihren auf eine 2000-Mann-Behörde an und und lebensnah bleibt. Je weniger wir uns in Facetten. In Filmkreisen nennt man ihn besetzt in Berlin 22 Gebäude. Mit der Doktrinarismus verstricken, desto besser bald den „Bock von Babelsberg“. Machtübernahme muss Goebbels’ Propa- ist es für unsere Sache.“ 1936 verliebt sich Goebbels heftig in die gandamaschine auf Schubumkehr schal- Statt der Wahlfeldzüge führt Goebbels tschechische Schauspielerin Lida Baarova. ten. Bisher gab es einen Feind, das System. nun Kampagnen gegen „Gerüchtemacher Es kommt zu einer Kombination aus Ehe- Jetzt muss das neue System gesichert wer- und Nichtskönner“, eine „Reichsaktion krise und politischer Lähmung. Es ist das den. Aus der Hetze muss hoheitliche Inte- Mottenbekämpfung“ oder die „Reichsver- einzige Mal, dass Goebbels einer anderen grationspropaganda werden. kehrserziehungswoche“. Stimme gehorcht als der seines Führers. Ursprünglich hat Goebbels Hitler vor- Aus dem Goebbels der Kampfzeit ist der Goebbels ist bereit, auf das Ministeramt zu geschlagen, seinen neuen Einsatzort Propagandaminister geworden, im weißen verzichten. Aber Hitler verfügt die Fort- „Reichsministerium für Kultur und Volksaufklärung“ zu titulieren. Als Hitler auf dem Wort „Propagan- da“ besteht, redet Goebbels sich die Niederlage wieder schön: Pro- paganda sei zu Unrecht ein „viel geschmähtes und oft missver- standenes“ Wort. Sei doch der Propagandist vielmehr auch ein staatspolitischer Künstler, der die „geheimen Schwingungen der Volksseele nach dieser oder jener Seite hin verstehen“ müsse. Der Propagandist als Welt- erschaffer. Goebbels zielt auf die Totalität, auf die Neuschöpfung der Gesellschaft mittels Propagan- da. Das Volk müsse anfangen, „einheitlich zu denken, einheit- lich zu reagieren und sich der Regierung mit ganzer Sympathie zur Verfügung zu stellen“. Auch wenn man einen Teil der Gegner wegsperren und totschlagen kann, so soll der größere Teil der Be- völkerung doch für die Sache ge- wonnen werden. Die Massen, er- klärt er 1933, seien jetzt so lange zu „bearbeiten, bis sie uns verfal- len sind“. Deswegen braucht er den Rund- funk. Auf den Plätzen lässt er 6000 „Reichslautsprechersäulen“ auf- stellen. Das Radio sei „seinem Wesen nach autoritär“, weil allge- genwärtig und zentral gesteuert. Rundfunk würde die totale Erfas- sung der Bevölkerung gewährleis- ten, solange das Fernsehen noch nicht einsatzbereit ist: „Eine Frage von Monaten“, hofft Goebbels nach dem Besuch der Berliner Funkausstellung 1933. Aus der Nazi-Führung steht Goebbels der Medienkultur am nächsten, er ist einer der wenigen Intellektuellen in der obersten Rie- ge. Goebbels hat nichts gegen die dumpfe Brutalität faschistischer Äußerungen. Nur traut er ihnen

nicht zu, die Nazi-Botschaft „in KARL HÖFFKES / AURIS das Gehirn der Masse einzuhäm- Ostfront-Besucher Hitler (um 1942): „Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist beschränkt“

70 der spiegel 7/2005 setzung der Ehe aus Staatsräson. Goebbels trennt sich unter Trä- nen von der Geliebten. Um seine Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen, wird er zum Antreiber der antijüdischen Pogromnacht im November. Aber er hat an Einfluss verloren. Die Zeit des Propagandisten kam erst wieder, als der Krieg begann. ™ Der Krieg, den er selbst bis zu- letzt gefürchtet hatte, sollte Goeb- bels auf den Höhepunkt seiner Macht bringen und – für einen ge- spenstischen Moment – zum Nach- folger Hitlers und Kanzler eines von Ruinen und Toten umgebenen Schattenreichs „Großdeutschland“ von wenigen Quadratkilometer Fläche machen. 1939 steht der Propagandami- nister vor der Aufgabe, knapp 80

Millionen Deutsche dazu zu brin- VERLAG SÜDDEUTSCHER gen, in einen Krieg zu ziehen, den Redner Goebbels im Berliner Sportpalast (1943): Hungern, morden, hassen sie nicht wollen. Er ist für die Auf- rechterhaltung der Heimatfront zustän- Goebbels beginnt verstärkt mit Umfra- Bis 1942 hat Goebbels noch leichtes dig. Er muss dafür sorgen, dass die Men- gen zu arbeiten. Seine lokalen Dienststel- Spiel. Er kann es sich leisten, im „Reich“ schen Entbehrungen auf sich nehmen len beliefern ihn persönlich mit detaillier- zu schreiben: „Propagandasiege auf Dau- und unter Bomben ausharren. Muss sie ten Stimmungsberichten. Er lässt Fragebö- er werden nur mit der Waffe der Wahrheit dazu bringen, sich zusammenschießen gen an die Ortsgruppenleiter ausarbeiten, erfochten.“ zu lassen, zu hungern, zu morden und um die Haltung des Volkes zum Krieg zu Er schärft seinen Leuten ein: „Lüge darf zu hassen. kennen und die nächste Kampagne darauf man nur als Abwehrmaßnahme gebrau- Trotz des Terrorapparats von Himmler abzustimmen. chen, nicht aber um Erfolge vorzutäu- ist dies auch ein Krieg um die Köpfe, und, Durch dieses Screening merkt er etwa, schen. Je sachlicher die Berichterstattung, wie der Historiker Herzstein schreibt: wie seine Kampagne gegen die „britischen desto besser. Jegliches Pathos ist falsch am „Dank Goebbels hat Hitler diesen Krieg Plutokraten“ langsam in die Köpfe dringt, Platz.“ Das ist eine goldene Regel der Re- gewonnen, jenen Mann, den er zu seinem und verstärkt sie. Im Februar 1940 notiert klame: Erst vor dem Hintergrund der Sach- Nachfolger wählte.“ der Berliner Büroleiter von AP, Louis P. lichkeit wirkt der direkte Angriff. Im Winter 1938/39 haben Goebbels und Lochner: „Kein objektiver, leidenschafts- Mit Beginn der britischen Bomben- Wilhelm Keitel ein Abkommen unter- loser Beobachter kann leugnen, dass die angriffe auf Deutschland gibt er Anwei- zeichnet, in dem es heißt: „Der Propagan- Propaganda wirksam ist. Männer und Frau- sung, der Öffentlichkeit die korrekten dakrieg wird als wesentliches, dem Waf- Opferzahlen mitzuteilen. Fäl- fenkrieg gleichrangiges Kriegsmittel aner- Die Sportpalast-Rede ist über Volksemp- schungen, so meint Goebbels, kannt.“ würden den Glauben an die Seine kämpfenden Journalisten schickte fänger verbreitet worden. Bochum amtlichen Bekanntmachungen er an die Front. Eingebettet als „Soldat un- meldet eine „leichte Pogrom-Stimmung“. untergraben. Dann würden ter Soldaten“ solle der Berichterstatter an auch die Meldungen über der Front stehen, „todesverachtend und en, die selbst letzten Oktober und No- die Siege der Wehrmacht ihre Wirkung kaltblütig“ festhalten, wenn „feindliche vember noch keineswegs sicher waren, was verfehlen. Bunker aufgeknackt“ würden. Ursachen und Zwecke des Krieges gegen Natürlich hindert ihn das nicht, später, Solange die Feldzüge erfolgreich sind, die Westmächte anbetraf, benutzen jetzt nach der Kriegswende, von „poetischer kann Goebbels seinen Apparat ohne große identische Sprache.“ Wahrheit“ zu schwärmen: Entwicklungen, Veränderungen weiterlaufen lassen. Nur Die antijüdische Propaganda erweist sich wie sie sein könnten, Ereignisse, wie sie das Einsatzfeld weitet sich. in der Anfangszeit des NS-Regimes als we- hätten sein müssen. Vier Abteilungsleiter Goebbels kümmert sich um die Produk- nig effektiv. Viele Deutsche empfinden die sind nur mit dem Erfinden geeigneter tion von Bier und Ufa-Filmen. Er kümmert hysterische Gräuelpropaganda im „Stür- Falschmeldungen beschäftigt. Viele Mel- sich um die Besuche deutscher Soldaten mer“ als überzogen und abstoßend. Doch dungen über deutsche „Werwolfaktionen“ beim Papst, um Öffnungszeiten von Fri- niemand wehrt sich öffentlich gegen in den befreiten Gebieten sind von Goeb- siersalons und um die Einrichtung von Bor- Goebbels’ Lügengeschichten. Als die ersten bels erfunden worden. Mancher glaubt sie dellen in deutschen Großstädten: „Gute Stadtviertel in Trümmern liegen, wird die noch heute. Laune ist ein Kriegsartikel.“ antijüdische Propaganda verstärkt: Alles Nach Stalingrad muss die Kommunika- Der Sprachgebrauch wird noch minu- sei die Schuld der jüdisch-bolschewisti- tion vollkommen umgestellt werden auf tiöser geregelt. Im Mai 1940 untersagte schen Weltverschwörung mit ihrem Hass eine schrille Gräuel- und Durchhaltepro- er die Verwendung von „nach dem Krieg“ auf das deutsche Heldenvolk. paganda, die den Verteidigungswillen der oder „nach Friedensschluss“, um in der Während des ganzen Krieges hält sich Deutschen anstacheln soll. Bevölkerung keine voreilige Entspannung Goebbels an seine Regeln: Propaganda muss Am 18. Februar 1943 fordert Hitlers Pro- aufkommen zu lassen. „Tempo! Tempo!“ den Hass auf einen Sündenbock lenken. pagandaminister im Sportpalast mit in-

der spiegel 7/2005 71 DER ZWEITE WELTKRIEG DIE PROPAGANDASCHLACHT

ben, Todesstrahlen. Ein Bluff, der Wirkung zeigte, noch über das Kriegsende hinaus. Noch unter Trümmern begraben, wollen die Deutschen die Niederlage nicht akzep- tieren, gefangen im Glauben und im Wahn der Goebbelsschen Reden. Ein nebulöses Delirieren, das die Deutschen erst nach dem Krieg für lange Zeiten pathosresistent machen wird: „In wilden Stürmen rast der Taifun dieses gigantischen Völkerdramas noch einmal über die Menschheit hin. Aber schon kündigen sich allüberall Zeichen einer wachsenden Erschlaffung an.“ Die letzte Propagandaaktion des Joseph Goebbels besteht darin, am 27. April Flug- blätter über Berlin abwerfen zu lassen, die General Wencks Armee zur Eile auffor- dern, jetzt, wo er schon vor den Toren Ber- lins stehe. Wencks Armee ist damit völlig überfordert. Die Zettel haben allein den Zweck, die Berliner zum Hoffen und Wei- terkämpfen zu bringen. Von seinen Mitarbeitern verabschiedet er sich in einer zerbombten, nur noch von Kerzen beleuchteten Notunterkunft mit

SPIEGEL TV den Worten: „Warum haben Sie schon mit Truppenbesucher Goebbels (März 1945): In den Tagebüchern kein Zweifel, kein Zögern uns gearbeitet, meine Herren? Nun schnei- det man Ihnen das Hälschen durch!“ märschen wird er Verlustmeldungen vorle- Das Ministerium für Propaganda hat auf- sen, in Götterdämmerungen schwelgen und gehört zu bestehen. Es wird keinen Nach- die Deutschen zu noch härteren Kriegsan- folger geben. Trotz aller Propagandisten, strengungen antreiben. Er redet noch, als aller Lügner im Ministerrang, die auf Jo- die Bomben auf die Städte fallen und Hit- seph Goebbels folgen. ler auf kein Podium mehr zu bekommen ist. Goebbels erscheint der Gegenwart so Nach dem gescheiterten Attentat am 20. ähnlich, weil er modern in seinen Mitteln Juli 1944 wird aus dem Erfinder der totalen war. Doch Goebbels’ totale Propaganda war Propaganda der „Reichsbevollmächtigte getragen vom Willen zur Vernichtung des für den totalen Kriegseinsatz“. Goebbels Anderen. Ihr Kern war nicht der Wille zur hat nun unumschränkte Macht über alle Überzeugung, sondern der Wille zum Tod. Lebensbereiche. Er führt die 60-Stunden- Goebbels’ Propaganda war eine Erfah- Woche und die Arbeitspflicht für Frauen rung mit der Macht des Wortes und der

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST ein, schließt Theater, Akademien, verbie- Medien. Identifikation der Goebbels-Leiche (Mai 1945) tet Empfänge, Festspiele und Urlaub. Im Führerbunker wird Goebbels Trau- „Von niedrigem Wuchs“ Aus allen Ämtern und Betrieben wird zeuge von Hitlers Hochzeit mit Eva Braun jetzt an die Front geschickt, wer nicht un- sein. Mit gehobenem Arm wird er am bren- brünstiger Stimme den totalen, weil kür- bedingt notwendig ist. Dr. Goebbels jagt nenden Leichnam seines Führers stehen, zesten Krieg. Menschen. im Garten der Reichskanzlei. Am 1. Mai Die Cola-Plakate sind zu diesem Zeit- Und doch, trotz aller Apathie und Ver- vergiftet Magda Goebbels ihre Kinder. Eine punkt abgehängt, die friedliche Koexistenz zweiflung, scheint die Propaganda teilwei- Welt, die nach dem Führer kommt, wäre mit der Company aus Atlanta beendet. Mit se anzukommen. Mehr als vom Phantasie- nicht mehr lebenswert. dem Kriegseintritt der USA hören die ren dieses heillosen Fanatikers über den Gegen 20.30 Uhr des 1. Mai 1945 bege- Coca-Cola-Lieferungen nach Deutschland Endsieg lassen sich die Deutschen beein- hen Goebbels und seine Frau Selbstmord. auf. Die USA hatten den Sprudel als „wich- drucken vom Menetekel der Hunnenstür- Es bleiben zurück die verkohlten Lei- tig für die Kriegswirtschaft“ eingestuft, und me, all den Berichten über geschändete chen einer Frau und eines Mannes, der sei- General Eisenhower bestellt gleich nach Frauen, hingeschlachtete Kinder. Sie glau- ne zur Kralle verbrannte Linke zum Him- seiner Landung in Afrika zehn neue Ab- ben einem Kerl, der damit droht, ganze mel reckt, und unten im Bunker sechs tote füllstationen für seine Truppen. Cola wür- Straßenzüge sprengen zu lassen, in denen Kinder in weißen Nachthemden. de die GIs in jedes Kriegsgebiet begleiten, sich eine weiße Fahne zeigt, ungerührt von Alexander Smoltczyk und als Zeichen der Befreiung würden Hinweisen auf Frauen und Kinder. Sie rot-weiße Automaten aufgestellt werden: glauben jemandem, der in seinen Tage- „Trink Coca-Cola, eiskalt.“ buchergüssen kein Wort des Zweifels, des Im nächsten Heft Die Sportpalast-Rede ist über die Volks- Zögerns über den Mord an den europäi- DER GEGENSPIELER empfänger verbreitet worden und hat auch schen Juden hinterlässt. außerhalb Berlins den gewünschten Erfolg. Kein einziges. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen Bochum meldet eine „leichte Pogrom- Er lässt seine Beamten eine Mappe an- und Frankreich ist es der englische stimmung“ gegenüber den noch in der legen über „Suggestivnamen für neue Waf- Premier Churchill, der sich Hitler in Stadt lebenden Juden. fen“. In immer schaurigeren Berichten den Weg stellt und damit dem Verlauf Goebbels wird die Stimme des totalen preist er die Verheerungskräfte dieser Wun- des Krieges eine entscheidende Wende gibt. Krieges sein. Unterbrochen von Trauer- derwaffen an, Lungentorpedos, Kältebom-

72 der spiegel 7/2005 Sport

SKI NORDISCH Tunnelblick zum Sieg Bei der Nordischen Ski-WM in Oberstdorf wollen die deutschen Medaillenkandidaten ihren Heimvorteil nutzen. Insgesamt 300000 Fans werden vor Ort sein, das Fernsehen wird im Schnitt sieben Stunden täglich berichten. Der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit ist gewaltig.

wusst, dass beim größten Sportfest dieses Winters alles ein bisschen anders sein wird. Bei den Nordischen Ski-Weltmeister- schaften, die am Mittwoch in Oberstdorf beginnen und bei denen im Langlauf, im Skispringen und eben in der Nordischen Kombination 19 Titel vergeben werden, gilt Ackermann als der aussichtsreichste deut- sche Kandidat für eine Goldmedaille. In diesem Winter kam er bei vier Weltcup- Rennen als Erster ins Ziel, viermal war er Zweiter. Die Erwartungen der Trainer, Funktionäre und Fans sind gewaltig. Einen Tag vor Ackermann wird Axel Teichmann an den Start gehen. Der 25- jährige Langläufer aus Lobenstein führt im Weltcup souverän mit 114 Punkten Vor- sprung. Wann immer nach Favoriten in der Loipe gefragt wird, fällt Teichmanns Name. Ob daraus eine psychologische Last wird, entscheidet sich im Kopf des Thüringers. Als Teichmann kürzlich bei einem Rennen im italienischen Pragelato Elfter wurde, wollten die Reporter wissen, was bloß mit ihm los sei. Auch Michael Uhrmann steht unter Druck. Er soll die Ehre der Skispringer ret- ten, die in dieser Saison bislang hinterher-

ALEXANDER HASSENSTEIN / BONGARTS HASSENSTEIN ALEXANDER segeln. Die Hoffnung nährt sich aus der Kombinierer Ackermann*: „Im Wettkampf setze ich Scheuklappen auf“ Statistik. Uhrmann, 26, ist der letzte Deut- sche, der bei einer Einzelkonkurrenz tri- onny Ackermann jubelt, er ballt die Ackermann ist überrascht. Er schweigt umphierte, im Januar 2004. Bundestrainer Fäuste und stößt einen Schrei in den kurz, dann protestiert er: „Ich fand den Peter Rohwein sagt: „Unser Anspruch ist Rhellblauen Himmel. Gerade hat er Sprung okay.“ es, bei der WM um Medaillen zu springen.“ seinen sechsten Trainingssprung von der „Du darfst dich nicht zu früh zufrieden Ackermann, Teichmann, Uhrmann: drei Schattenbergschanze in Oberstdorf ge- geben. Das ist Gift für dich.“ Deutsche, die einer Nation zu kollektiven standen. Es war der letzte und beste Ver- „Ich sehe es trotzdem anders. Ist ja auch Glücksgefühlen verhelfen sollen. Rund such an diesem Morgen, 126 Meter, fünf egal.“ 300000 Fans werden in den zwölf Tagen Meter weiter als beim Durchgang zuvor. „Nee, ist nicht egal“, er- erwartet, 29 Fernsehsta- Fünf Meter sind eine Welt im Skispringen. widert der Trainer. „Bald tionen sind im Einsatz, Darum steht der Sportsoldat aus Thüringen findet hier die Weltmeis- ARD und ZDF übertragen nun zufrieden im Auslauf und meldet sich terschaft statt, da sind im Schnitt täglich sieben zur Manöverkritik. „Acker!“, spricht er in 20 000 Menschen im Sta- Stunden. ein Funkgerät. dion, die wollen dich alle Wie gehen die drei mit Auf einer kleinen Tribüne, oben neben siegen sehen.“ dieser Bürde um? Lassen der Schanzenkante, antwortet Andreas Ronny Ackermann, 27, sie sich tragen von der Be- Bauer. Er ist Skisprungtrainer der Nordi- hat schon viel erlebt in sei- geisterung des Publikums? schen Kombinierer. Bauer fällt ein strenges ner Karriere. Bei der letz- Können sie Reserven mo- Urteil: „Ronny, die Schultern waren zu of- ten WM gewann er einmal bilisieren, von deren Exis- fen, und die Beine haben nicht durchgear- Gold und zweimal Silber. tenz sie nichts ahnen? Oder beitet“, sagt er. „Da fehlte der letzte Ruck. Im Weltcup siegte er bis- wird ihnen der Heimvorteil Das gefällt mir nicht.“ lang in 24 Wettkämpfen. zum Verhängnis?

Doch in Momenten wie / DPA SCHRADER MATTHIAS Selbst erfahrene Welt- * Nach seinem Sieg bei der Weltmeisterschaft in Val di diesem an der Schatten- Skispringer Uhrmann klasse-Athleten tun sich Fiemme am 21. Februar 2003. bergschanze wird ihm be- Zu viel in sich hineingehorcht schwer mit dieser Art na-

74 der spiegel 7/2005 ROLF KOSECKI / AUGENKLICK Langläufer Teichmann (im gelben Trikot): „Intelligent, ruhig und kaltschnäuzig“ tionalen Auftrags. Es gibt Fälle wie den der Ronny Ackermann, der damit rechnet, Weinbuch sitzt in einem Oberstdorfer australischen 400-Meter-Läuferin Cathy dass in Oberstdorf „die Emotionen hoch- Café. Er guckt lange aus dem Fenster, als Freeman, die bei ihrem Olympiasieg in kochen werden“, will sich Einflüssen von müsse er sich diese schwere Zeit erst wie- Sydney all ihre mentale Kraft verbraucht außen verschließen. Überhaupt ist er auf der ins Gedächtnis rufen. „Wir haben ge- hatte. Danach besaß sie keinen Elan mehr, den ersten Blick ein sperriger Mann. Wenn redet, geredet, geredet. Inzwischen ist er ihre Karriere ernsthaft fortzusetzen, sie trat er nach dem Mittagessen von seinem Sport im Kopf stabiler. Aber er kriegt das manch- schließlich zurück. Und es gibt Sportler, erzählt, klingt das fast nach Fabrikarbeit. mal immer noch nicht hin, dieses Wursch- die schon vor dem Start zerbrechen. „Ich trainiere knüppelhart. Ich habe wegen tigkeitsgefühl. Dann lässt er sich hinreißen. Der Sportpsychologe Bernd Strauß von der WM das Training um 15 Prozent ge- Dann will er zu viel und schießt übers Ziel der Universität Münster hat solche Leis- steigert, bum, bum, bum“, sagt er. „Ich will hinaus.“ tungsblockaden erforscht. Nach seinen Stu- bei der WM gute Sprünge machen und Wie vor drei Jahren bei den Olympi- dien entstehen sie, wenn „der fanatische schnell laufen. Das ist der Druck, den ich schen Spielen. Damals reiste Ackermann Siegeswunsch der Anhänger dazu führt, mir selbst mache. Alles andere interessiert als Weltcup-Zweiter nach Salt Lake City. Er dass sich der Athlet mehr mit seiner Rolle mich nicht.“ wollte unbedingt eine Medaille im Einzel auseinander setzt als mit seiner Aufgabe“. Ackermann nestelt an seinem T-Shirt holen. Er wurde nur Vierter. Abends hock- Sein amerikanischer Kollege Roy Baumeis- herum, fährt sich mit den Fingern durchs te er mit leerem Blick bei der Pressekon- ter von der Florida State University in Tal- Haar, streicht eine Fluse vom Tischtuch ferenz und wurde vom Moderator dafür lahassee formuliert es so: „Sobald der und weiß überhaupt nicht, wie er sitzen gemaßregelt, dass er es nicht aufs Trepp- Sportler die öffentliche Aufmerksamkeit soll. „Im Wettkampf setze ich Scheuklap- chen geschafft hatte. spürt, beginnt das individuelle Versagen.“ pen auf“, sagt er tapfer. „Wenn ich den „Ronnys Stärke ist auch seine Schwä- Das gilt vor allem für Sportler aus Dis- Tunnelblick habe, bekomme ich kaum mit, che“, sagt Weinbuch. „Er gibt sich mit Mit- ziplinen, bei denen es auf Feinmotorik und was ringsum passiert.“ telmaß nicht zufrieden, aber das Streben Konzentration ankommt. Bei einem Ski- Früher ist es Ackermann selten gelun- nach Erfolg bremst ihn gelegentlich.“ springer führe die Absicht, seine Sache be- gen, zugleich entspannt und entschlossen Weinbuch, selbst dreifacher Weltmeis- sonders gut zu machen, häufig zu einer zu sein. Damals, sagt Cheftrainer Hermann ter, litt früher ebenfalls unter großem übertriebenen Konzentration auf den Be- Weinbuch, sei der Kombinierer „regel- Druck. Um im Fall eines Misserfolgs eine wegungsablauf, erklärt Strauß. „Aber da- mäßig eingebrochen, nervlich und körper- Ausrede parat zu haben, lief er beispiels- durch werden die Automatismen gehemmt lich“. Sein Selbstvertrauen sei instabil ge- weise bei der WM 1985 in Seefeld zum und gestört. Die Leistung nimmt ab.“ wesen wie „ein Kartenhaus“. ersten Mal in der damals neuen Technik

der spiegel 7/2005 75 Sport des Schlittschuhschritts und mit unge- zwei Jahren wurde Teichmann Weltmeister weniger verwundbar. „Wenn ich durch- wachsten Skiern. „Risiko macht locker“, über 15 Kilometer im klassischen Stil, es hänge, hat immer noch Tobias Angerer die sagt er. war die erste Goldmedaille eines Deut- Chance zu gewinnen. Das macht es für Ackermann zählt seit Jahren zur Welt- schen seit 1974. Bundestrainer Jochen Beh- mich erträglicher.“ Außerdem wandert bei spitze, das ist ungewöhnlich in der Nordi- le hält seinen Musterschüler für „intelli- Ausdauersportarten die Unsicherheit selten schen Kombination, aber die Rolle des Fa- gent, ruhig und kaltschnäuzig“. Experten vom Kopf in die Beine. „Wenn der Motor voriten liegt ihm bis heute nicht. Er sagt: vergleichen ihn mit Langlauf-Legenden wie läuft, dann läuft er“, sagt Teichmann. „Der Finne Hannu Manninen hat die letz- Björn Daehlie und Vegard Ulvang. So eine einfache Formel würde Michael ten Wettbewerbe auf der kleinen Schanze Anfang der Saison, als Teichmann drei Uhrmann auch gern aufsagen können. gewonnen, er ist daher der WM-Favorit. Rennen in Folge gewann, filmten ihn Bio- Aber der Niederbayer ist Skispringer, und Ich bin froh, dass es so ist.“ mechaniker aus Norwegen und Schweden, da ist das Gleichgewicht der Seele mindes- Für den Sportpsychologen Strauß ist das wie er scheinbar mühelos durch den tens so wichtig wie die Kraft in den Beinen. Abwälzen von Erwartungen eine „Selbst- Schnee pflügte. Die Sportwissenschaftler Am Morgen hat Uhrmann noch im Leis- sicherheitsmaßnahme, um den Außen- wollten das Geheimnis seines Erfolgs ent- tungszentrum in Inzell mit Sprints, Hür- druck zu verringern“. Als Beispiel für ei- schlüsseln. Sie kamen zu dem Ergebnis, den- und Kastensprüngen an seiner Schnell- nen Athleten, dem so eine Strategie fehlte dass es in seinem aufrechten Laufstil liegt. kraft gearbeitet. Nun hockt er in Ruh- und der deshalb an den öffentlichen Er- Der verschafft ihm mehr Vortrieb. polding im Landhotel Maiergschwendt auf wartungen gescheitert ist, nennt er die Teichmann hat an diesem Vormittag in einer Eckbank und hofft, dass ihm bei der Schwimmerin Franziska van Almsick. Oberhof anderthalb Stunden auf dem WM „nicht die Felle davonschwimmen“. Uhrmann hat seine Saisonplanung voll- ends auf die WM ausgerichtet. Anfang des Monats verzichtete er auf die Springen in Japan, zum ersten Mal in seiner Laufbahn ging er stattdessen mitten im Winter für vier Wochen in ein Trainingslager. Immer wenn Uhrmann ein gutes Resul- tat erzwingen wollte, blieb der Erfolg aus. Bereits als Nachwuchsspringer hat er sich unter Druck gesetzt. „Schon morgens im Hotel habe ich gedacht: Heute musst du, heute, heute.“ Ständig wollte er „dem Pu- blikum im Stadion, den Leuten vorm Fern- seher etwas beweisen. Und meist ging es nach hinten los“. Michael Uhrmann war lange ein Trai- ningsweltmeister. Das ist laut Strauß typisch für einen Athleten, der im Wett- kampf „zu sehr in sich hineinhorcht“. Die Psychologie nennt dieses Phänomen auch „Besorgniskognitionen“: Der Sport- ler verliert vor lauter Furcht, die Leis- tung nicht abrufen zu können, sein eigent- liches Ziel.

STEFAN MATZKE / SAMPICS MATZKE STEFAN Erst seit anderthalb Jahren, seit ihn der Schwimmerin van Almsick*: „Hoffentlich ist die ganze Scheiße bald vorbei“ jetzige Bundestrainer Rohwein betreut, sitzt er nicht mehr übermotiviert auf dem Bei den Olympischen Spielen in Athen Laufband geackert, „nur berghoch“. Jetzt Absprungbalken. „Intensiver als alle mei- hoffte fast jeder, dass van Almsick ihr selbst- verschlingt er einen großen Joghurt mit ne bisherigen Trainer prügelt er mir ins gestecktes Ziel erreicht: Gold über 200 Me- Früchten. Teichmann ist 1,86 Meter groß Hirn, dass es nichts bringt, sich ein gutes ter Freistil zu gewinnen. Dass sie neben Jan und legt im Jahr etwa 11000 Kilometer auf Ergebnis vorzunehmen“, sagt Uhrmann. Ullrich der einzige deutsche Superstar in Skiern zurück. Wie ein Kraftpaket wirkt er Dabei weiß der Skispringer sehr wohl, Griechenland war, erhöhte den Druck zu- trotzdem nicht. wie sich Siege anfühlen. 2001 wurde er mit sätzlich. Nach dem Rennen, bei dem sie Er sitzt kerzengerade und formuliert ge- der Mannschaft Weltmeister, im Jahr dar- Fünfte wurde, sagte sie: „Ist ja ganz schön, schliffen. Er sagt, ihm sei durchaus be- auf Olympiasieger. Aber beide Male konn- wenn ganz Deutschland vor der Glotze wusst, dass er ein Aushängeschild des te er völlig unbefangen die Anlaufspur sitzt, aber das war einfach zu viel.“ Als sie Deutschen Skiverbands sei. Und ja, er wis- hinuntersausen. Die Stars hießen Martin auf dem Startblock stand, habe sie gedacht: se auch, dass „nach der WM abgerechnet“ Schmitt und Sven Hannawald. In ihrem „Hoffentlich ist die ganze Scheiße bald vor- werde. „Deswegen schlafe ich aber trotz- Schatten war Uhrmann praktisch un- bei, dann bist du nicht mehr der Mittel- dem gut.“ sichtbar. punkt der Welt.“ Bei van Almsick, meint Axel Teichmann, Abiturnote 1,5, ist ein Nächsten Samstag, in Oberstdorf, steht Strauß, führte der Druck zu Versagensangst. naturverbundener Mann, der die Öffent- Uhrmann an vorderster Front. Seine bei- Der Langläufer Axel Teichmann be- lichkeit scheut. Er findet es „grausam“, den Kollegen, erwiesene Meister ihres hauptet von sich, das Gefühl von Versa- dass bei den Weltmeisterschaften 59 Fern- Fachs, haben dem Druck auf Dauer nicht gensangst nicht zu kennen. „Wenn ich bei sehkameras jeden Meter Loipe einfangen. standgehalten. Martin Schmitt steckt seit der WM nur 20. werde, bin ich deswegen „Für den Zuschauer auf dem Sofa mag das drei Jahren in einem Formtief. Sven kein schlechterer Mensch“, sagt er. Vor interessant sein“, sagt er, „aber für den Hannawald hat den Leistungssport bis Sportler ist es belastend.“ auf weiteres aufgeben müssen. Psycholo- * Nach dem Finale über 200 Meter Freistil bei den Olym- Weil er Mitglied einer homogenen gen diagnostizierten ein Burnout-Syn- pischen Spielen in Athen am 17. August 2004. Mannschaft ist, hält sich Teichmann für drom. Maik Großekathöfer

76 der spiegel 7/2005 Sport

Rennen alle 14 Tage den Takt vorgeben, kommt Toyota nicht von der Stelle. Ein AUTORENNEN Grund: Die Asiaten machen sich die Auf- gabe so schwer wie nur möglich. Denn während sich andere große Hersteller wie Primus mit Problemen Mercedes-Benz, BMW, Renault und Honda bei ihrem Einstieg oder Comeback in die Mehr als eine Milliarde Euro hat Toyotas Formel-1-Projekt bislang Formel 1 bewährte Rennställe zum Partner nahmen und sich deren Spezialwissen zu gekostet – doch die Rennwagen fuhren nur hinterher. Nutze machten, versuchte Toyota allein den Ein radikaler Personalwechsel soll 2005 die Wende bringen. großen Sprung. „Die Topteams haben jahr- zehntelange Erfahrung“, sagt Teamchef ilbrig schimmert der Metallklumpen, längst mehr Manager als Tüftler. Ob Prüf- Tsutomu Tomita, „wir erst sehr wenig. Aber der auf dem Fensterbrett von Luca stände, Rechnerprogramme oder Material- Erfahrung ist extrem wichtig.“ SMarmorinis Büro liegt. In der tiefste- forschung: „Alle Anlagen sind auf dem mo- Auch wenn in den Kölner Werkshallen henden Nachmittagssonne glänzt der selt- dernsten Stand“, schwärmt er. „Gut genug, seit 1979 Spezialfahrzeuge für die Rallye- sam geformte Gegenstand wie eine von um die Weltmeisterschaft zu gewinnen.“ Weltmeisterschaft und das 24-Stunden- Künstlerhand erschaffene Skulptur. Doch es ist eine Vision, immer noch. Rennen von Le Mans gebaut wurden – mit Was das ist? Marmorini jault auf, als trä- Mehr als eine Milliarde Euro hat der japa- dem Entwicklungstempo des Grand-Prix- fe ihn der Schmerz. „Ein Kolben“, erklärt nische Autogigant in den vergangenen fünf Gewerbes war die auf mehr als 600 Mitar- ANDREU DALMAU / AP (L.); BUMSTEAD / SUTTON (R.) / SUTTON / AP (L.); BUMSTEAD ANDREU DALMAU Neuer Toyota-Rennwagen, Fahrer Schumacher, Technikchef Gascoyne: „Es gibt keine Ausreden mehr“

Toyotas Rennmotorenchef. „Ricardo Zon- Jahren, seitdem der Einstieg ins Grand- beiter verdoppelte Crew bislang überfor- ta lag beim Grand Prix in Spa auf Rang Prix-Geschäft pompös angekündigt wor- dert. „Ein Formel-1-Auto zu bauen ist sehr vier, als der Motor kaputtging, drei Runden den war, in sein Sportprojekt investiert. kompliziert“, erklärt Tomita milde. vor Schluss.“ Dabei schmolz das Teil zu- Das beste Ergebnis in 51 Rennen war ein Der Teamchef sitzt in seinem Büro, er sammen, und das Team verpasste sein bis fünfter Platz. In der Vorjahressaison bla- trägt ein dünnes, akkurat gestutztes, grau- dato bestmögliches Resultat in der For- mierte sich Toyota als Achter der Kon- es Bärtchen, Brille, eine dunkle Strickjacke mel 1. Marmorini lacht bitter. Von wegen strukteurswertung, dabei liegt der Jahres- und eine Flanellhose. Eine Klemme hält Kunst – das Souvenir soll den Italiener bei etat mit geschätzten 320 Millionen Euro die Krawatte am Hemd. Sorgfältig locht er seiner Arbeit stets daran erinnern, wie auf Ferrari-Niveau. 2004, bilanziert Mar- ein paar Blatt Papier und legt sie zur Sei- mühsam und weit der Weg bis an die Spit- morini, „war eine große Enttäuschung“. te. Sein Schreibtisch ist aufgeräumt, es fal- ze des Feldes scheint. Die mäßige Performance auf der Renn- len nur die zwei bunten Rennwagenmo- Marmorini, 43, ist ein hagerer, blasser strecke steht in erstaunlichem Kontrast zur delle auf, die in kleinen Plastikvitrinen ver- Mann mit wenig Haaren und brüchiger Ingenieurskunst, die den japanischen Kon- packt gut vor Staub geschützt sind. Stimme; seine meiste Zeit verbringt er hier zern als Hersteller von Serienautos aus- Der 61-Jährige ist das beste Beispiel in Toyotas Manufaktur im Gewerbegebiet zeichnet. Toyota hat sich in Kriterien wie dafür, wie sehr Toyota noch fremdelt in von Köln-Marsdorf. Auf seinem Schreib- Zuverlässigkeit oder Kundenzufriedenheit der hektischen, aufdringlichen Welt der tisch liegen Papiere mit bunten Fieberkur- zum Primus der Branche hochgearbeitet. Formel 1. Der gelernte Motoreningenieur ven und Zahlenkolonnen, ein Datenwust. Mehr als sieben Millionen Fahrzeuge laufen arbeitet seit 1969 für die Firma, treu dien- 1999 kam Marmorini von Ferrari, damals jährlich in 63 über die Welt verstreuten te er sich bis in den Vorstand hoch. Als das als eine der ersten Spitzenkräfte des neu- Werken vom Band, nur General Motors er- Gremium verkleinert wurde, schickte ihn en Toyota-Teams. Ihn lockte die Aussicht, reicht höhere Stückzahlen. Im Geschäfts- die Zentrale vor eineinhalb Jahren ins etwas aufzubauen und mit großem Auf- jahr 2003/2004 steht ein Nettogewinn von Rheinland. Es ist die letzte Aufgabe seines wand den besten Rennwagen der Welt auf 9 Milliarden Euro zu Buche, die Kasse ist Berufslebens, bald kommt der Ruhestand. die Räder zu stellen. mit 25 Milliarden Guthaben so prallvoll, Was er zu tun hat, lässt sich leicht um- Inzwischen sind es 150 Ingenieure, die dass Toyota einen Konkurrenten wie reißen: Tomita soll einfach da sein und die mit ihm Hochleistungstriebwerke ent- Volkswagen ohne Kredit schlucken könnte. Entschlossenheit seines Arbeitgebers ver- wickeln. Marmorini ist zum Technischen Nur in der Formel 1, in der nicht Mo- körpern, nach innen und außen. Toyota, Direktor seiner Abteilung aufgestiegen und dellzyklen von sechs Jahren, sondern die sagt er, „hat immer Mittel und Wege ge-

80 der spiegel 7/2005 Trends Wirtschaft

MANAGER Hartz im Schussfeld n der Debatte um die Nebeneinkünfte von Politikern gerät Iauch VW-Personalvorstand Peter Hartz zunehmend unter Druck. Obwohl der Beratervertrag mit der Firma CoNeS, an welcher der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) anfangs zu 75 Prozent beteiligt war, ne- ben der Unterschrift von Hartz auch die von VW-Chef Bernd Pischetsrieder trägt, soll der Personalmanager die treibende Kraft hinter dem Engagement gewesen sein. Gabriel hatte Hartz seine Dienste als Politikberater angeboten, nachdem er die Landtagswahl verloren hatte und den Posten im Aufsichtsrat des VW-Konzerns abgeben musste. Hartz hatte VW-Chef Pi- schetsrieder daraufhin die Beschäftigung von Gabriel vorge-

schlagen. Der Konzernchef willigte ein, weil er als Präsident des / DDP KAI-UWE KNOTH Verbandes der europäischen Automobilindustrie politische Un- Hartz, Pischetsrieder, Gabriel terstützung für die Lobbyarbeit in Brüssel gebrauchen konnte. Gabriel war dort nachweislich für das Unternehmen aktiv. Von Wirtschaftsminister Reinhold Kopp als Leiter der Abteilung Seiten der Landesregierung unter CDU-Ministerpräsident Regierungsbeziehungen eingestellt. Sein 64. Geburtstag im Christian Wulff wird Hartz nun vorgeworfen, er habe ein Netz- August dieses Jahres, so wird in der niedersächsischen Re- werk von SPD-Männern im Konzern aufgebaut. So hat der gierung bereits spekuliert, wäre ein guter Zeitpunkt für Hartz, VW-Personalvorstand auch den einstigen saarländischen SPD- den Posten im VW-Vorstand zu räumen.

FINANZEN fallen werden. „Der dringend erforder- liche Nachtragshaushalt war daher spä- Klage gegen testens Ende Mai vollends unumgäng- lich geworden“, heißt es in der elfseiti- Nachtragshaushalt gen Klageschrift. Weiter bemängeln Union und FDP, dass mit dem Nach- nion und FDP werden auch den tragsetat zum dritten Mal in Folge die UNachtragshaushalt 2004 vor das Neuverschuldung die Investitionen Bundesverfassungsgericht bringen. Die übersteigt. Was das Grundgesetz „nur Opposition begründet ihre Klage vor als Ausnahme bei einer Störung des allem damit, dass die Bundesregierung gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts

den Nachtrag zum Etat 2004 „erst lange DECK / DPA ULI hinnimmt, ist für die Bundesregierung nach seinem Erforderlichwerden“ be- Verfassungsrichter-Roben mittlerweile zur Regel geworden“, so antragt habe. Die Regierung habe früh- die Kläger. Seit ihrer Amtsübernahme zeitig gewusst, dass die Hartz-IV-Re- drei Milliarden Euro geringer sein wer- hat die rot-grüne Regierung mehr als form erst zum 1. Januar 2005 kommt, de und die Steuereinnahmen um etwa 180 Milliarden Euro neue Schulden auf- der Bundesbankgewinn um mehr als neun Milliarden Euro niedriger aus- genommen.

STEUERN solche Steuer ablehnt, wollen die europäischen Finanzminister Kerosin Fliegen wird teurer allein auf innereuropäischen Strecken verteuern. Derzeit rechnet das Bun- ie Pläne, die europäischen Ent- desfinanzministerium aus, wie hoch Dwicklungshilfeausgaben durch eine eine solche Steuer sein muss, um die Besteuerung von Flugbenzin aufzu- gewünschten Einnahmen zu erzielen. stocken, werden immer konkreter. Am Eichels Experten schlagen einen Steu- Rande des G-7-Treffens Anfang Februar ersatz von „300 Euro pro Tonne“ vor, in London haben sich die europäischen der allein den deutschen Kerosinver- Finanzminister darauf verständigt, dass brauch um mehr als 650 Millionen

die geplante Kerosinsteuer auf Flüge in Euro pro Jahr verteuern würde. Flug- / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH Europa „zwischen vier und acht Milliar- tickets würden dann zwischen fünf Flugzeugbetankung den Euro“ einbringen soll. „Mit den und zehn Euro pro Strecke mehr kos- Einnahmen soll ein Impfschutzpro- ten. Eichel will diese Daten seinen Kol- len. Der größte Widerstand gegen eine gramm für Afrika aufgelegt werden“, legen auf dem nächsten Treffen der EU- europaweite Kerosinsteuer wird von der sagt ein Teilnehmer. Weil Amerika eine Finanzminister in dieser Woche vorstel- irischen Regierung erwartet.

der spiegel 7/2005 83 Schwache Bilanz

CHRISTIAN FISCHER / BONGARTS CHRISTIAN Toyota in der Formel 1 Formel-1-Starterfeld (auf dem Nürburgring 2004): „Ein Schock“ WM-RESULTAT geschätzter funden, Probleme zu lösen“. Die Ergeb- Technischer Direktor für den Bereich Chas- 2004 PUNKTE ETAT nisse des Vorjahres seien „ein Schock“ ge- sis entworfen wurde. Gascoyne, 41, war 1. Ferrari 262 340 Mio. ¤ wesen, auf den man reagiert habe. schon für fünf andere Formel-1-Teams tätig 2. BAR-Honda 119 250 Mio. ¤ Etwa indem mit dem Italiener Jarni Trul- – ein Wanderarbeiter, der dorthin geht, wo 3. Renault 105 200 Mio. ¤ li, 30, und dem Deutschen Ralf Schuma- er das beste Angebot bekommt. Bei Toyo- 4. BMW-Williams 88 280 Mio. ¤ cher, 29, zwei Piloten verpflichtet wurden, ta ist er nach den Fahrern der höchstbe- die bereits Rennen gewinnen konnten und zahlte Angestellte, angeblich erhält er fünf 8. Toyota 9 320 Mio. ¤ zur ersten Liga ihrer Zunft zählen. Die ers- Millionen Euro pro Jahr. Designer gelten als ten Jahre hatten die Japaner sich mit eher die Gurus der Branche, das macht sie so be- SIEGE 2004 durchschnittlich begabten Fahrern begnügt. gehrt und teuer. Ferrari 15 Diese Strategie minderte zwar den Er- Mit Gascoyne endete im Vorjahr eine Bestes Resultat in Renault 1 der Saison 2004: folgsdruck auf das Team, nahm aber die Zeit permanenter Kompetenzrangeleien BMW-Williams 1 5. Platz beim Chance zu erkennen, was die Autos maxi- und Personalrochaden unter den McLaren-Mercedes 1 Grand Prix der USA mal zu leisten vermögen. „Es gibt keine Führungskräften. Nachdem zuletzt noch in Indianapolis Ausreden mehr“, sagt Tomita nun strikt. ein Spitzeningenieur gehen musste und ein Toyota 0 Als Fehler der zudem von den langen weiterer frustriert das Team verließ, soll Entscheidungswegen in Japan stark belas- jetzt endlich Kontinuität einziehen in der soll ein Computerprogramm zur Simulati- teten Kölner Toyota-Truppe gilt unter Ex- Kölner Rennwagenschmiede. on von Windströmung mitgenommen und perten auch die Fixierung auf den Motor. Wie schwierig es ist, erfahrene Formel- es bei seinem neuen Arbeitgeber verwen- Der war zwar schon früh so zuverlässig, als 1-Spezialisten an den Rhein zu locken, do- det haben. Auch wenn Toyota dementier- wollten die Japaner die ADAC-Pannensta- kumentieren die Bedingungen, die Gas- te: Das Klischee, das japanischen Autoher- tistik für Formel-1-Renner anführen, und coyne seinem neuen Arbeitgeber diktie- stellern seit jeher anhaftet, mangels eigener inzwischen zählt er zu den leistungsstärks- ren konnte: Weil seine Frau und die drei Phantasie die Konkurrenzmodelle zu ko- ten Triebwerken im Feld. Doch ein ande- Kinder nicht nach Köln umsiedeln woll- pieren, lebte in der Formel 1 auf. rer Bereich, das Design des Autos, wurde ten, fliegt der Technikchef an rennfreien Diese unrühmliche Zeit soll unter Gas- grob vernachlässigt. Wochenenden mit einer Privatmaschine coyne jetzt vorbei sein. Ob es dem selbst- Dabei ist Design in der modernen For- auf die heimatliche Farm in Oxfordshire; bewussten Engländer gelungen ist, dem mel 1 das Wichtigste. Die Reifen werden wenn es der Arbeitsanfall erlaubt, auch Toyota nicht nur die Biederkeit auszutrei- von Michelin oder Bridgestone geliefert, gern für eine Nacht während der Woche. ben, sondern ihn auch konkurrenzfähig zu und die PS-Werte der Fabrikate unter- Seit seinem Dienstantritt hat Gascoyne machen, muss sich Anfang März in Mel- scheiden sich kaum noch voneinander. Nur „die Prioritäten verschoben“, hin zum bourne erweisen, beim ersten Rennen der auf dem Gebiet der Aerodynamik sind Mut, neue Designideen auszuprobieren. Er Saison. Die Testfahrten verliefen ernüch- noch große Fortschritte zu erzielen. Es geht hat zwei Konstruktionsteams gebildet, die ternd: Das brandneue Mobil scheint wieder darum, möglichst viel Abtrieb bei mög- sich darin abwechseln, das Auto für die je- zu langsam zu sein. Insbesondere nervt die lichst geringem Luftwiderstand zu finden, weils kommende Saison zu entwickeln. Piloten, dass die Hinterreifen schnell an damit der Wagen in der Kurve auf den As- Das schafft Zeit für kreativeres Denken. Haftung verlieren, was auf gravierende phalt gepresst und auf der Geraden nicht Der Windkanal, das wichtigste Instrument, Aufhängungsprobleme schließen lässt. Die mehr als nötig gebremst wird. „Wenn dein um Teile an einem Modell im Maßstab 1:2 Rundenzeiten, unkt das Fachblatt „Motor- Wagen zu langsam ist“, sagt Mike Gascoy- auf ihre Tauglichkeit zu testen, läuft seit sport aktuell“, seien „wie das Auto – brav“. ne, „liegt es an der Aerodynamik – fertig.“ Sommer ohne Pause im Dreischichtbetrieb. Droht wieder ein Flop? Während Ralf Der kleine, stämmige Engländer steht an Aerodynamik ist Fleißarbeit. Toyota habe Schumacher vorsichtshalber erst „in zwei der Strecke von Barcelona in der Boxen- es früher versäumt, „die vielen kleinen Jahren“ Bilanz ziehen will, ahnt Gascoyne garage. Grimmig lässt er seinen Blick über Fortschritte zu suchen“, urteilt Gascoyne. schon jetzt, dass seine Karriere auf dem den aufgebockten neuen Wagen von Ralf Stattdessen schien es 2003 sogar so, dass Spiel steht. „Wenn es mir nicht gelingt, die Schumacher schweifen. Es ist der erste, der man sich bei den Rivalen unter der Hand Schwachstellen auszuschalten“, so fürchtet komplett unter seiner Verantwortung als bediente. Ein ehemaliger Ferrari-Ingenieur er, „habe ich versagt.“ Detlef Hacke

der spiegel 7/2005 81 Trends

BANKEN AUTOINDUSTRIE Balli gegen WestLB Smart fährt Rekordverluste ein in juristisches Nachspiel dürfte der EVerkauf des Stahlhändlers Klöckner ercedes-Benz steckt noch tiefer in der Krise, als DaimlerChrysler-Chef Jür- an eine von Ex-Thyssen-Chef Dieter Vo- Mgen Schrempp bei der Präsentation der Bilanz verriet. Die Mercedes Car gel geleitete Investmentgruppe (LGB) Group, zu der neben Mercedes-Benz noch Smart und Maybach zählen, erwirt- durch die WestLB finden. Die Ex-Besit- schaftete im vierten Quartal des zer von Klöckner & Co, die Londoner vergangenen Jahres einen Verlust, Stahlhändler Balli, haben eine umfang- der nur durch Bilanzkniffe in reiche Klage beim Landgericht in Düs- einen offiziell ausgewiesenen Mi- seldorf eingereicht. Darin bestreiten die nigewinn von 20 Millionen Euro Balli-Anwälte, dass die WestLB der verwandelt werden konnte. Das rechtmäßige Eigentümer der Klöckner- bestätigte ein hochrangiger Daim- Aktien ist. Der Verkauf an die LGB sei lerChrysler-Manager dem SPIE- somit unwirksam. Was grotesk anmutet, GEL. Besonders belastet wird das könnte sich als brisanter Wirtschaftskri- Ergebnis durch den Smart. Der mi entpuppen. Denn das Beweismate- Kleinwagen fuhr 2004 einen Ver- rial ist heikel und wirft – sollte es stim- lust von rund 600 Millionen Euro men – ein schlechtes Licht auf die ehe- ein. Damit hat die Marke bislang malige WestLB-Führung. Danach habe Verluste von insgesamt 2,6 Mil- die NRW-Landesbank sehr früh nach liarden Euro erwirtschaftet. Als dem Verkauf an die Balli-Gruppe im wahrscheinlichstes Szenario für Jahr 2001 gemerkt, dass das Unterneh- die Zukunft des Smart-Projekts men viel zu günstig abgegeben wurde. gilt derzeit: Es wird deutlich re- Um die Panne auszubügeln, sei ein duziert, vorerst aber nicht einge- schriftlich vorliegender „Masterplan“ stellt. So soll es keine zusätzlichen entwickelt worden. Ziel: Durch juristi- Varianten wie den geplanten Ge- sche Winkelzüge sollte der Deal rück- ländewagen geben. Allerdings soll gängig gemacht und Balli als Schuldige der Zweisitzer Fortwo, dessen diskreditiert werden. Als Beweise prä-

OLAF JANDKE / CARO OLAF JANDKE Nachfolger weitgehend entwickelt sentieren die Anwälte Dokumente, wo- Smart Fortwo ist, weiter produziert werden. nach die WestLB mit potentiellen Neu- erwerbern bereits verhandelt haben soll, bevor die erste Rate des Balli-Kre- dits an die WestLB überhaupt fällig wurde. Tatsächlich scheiterte der Balli- RWE Deal Ende 2001, nachdem auf dubiose Weise rund 120 Millionen Euro bei Rückschlag für Roels Klöckner verschwunden waren und die Staatsanwaltschaft nach einer Strafan- er Abgang von RWE-Power-Chef Gert Maichel ist weit weniger freiwillig, als der zeige ein Ermittlungsverfahren gegen DKonzern mit seinem glücklosen Chef Harry Roels am Freitag durchblicken ließ. Geschäftsführer der Balli-Gruppe einge- Seit Monaten steht Maichel in der Kritik von Teilen des Aufsichtsrats und der kom- munalen Anteilseigner des Energieriesen. Ihm wird nicht nur eine Mitschuld an der Gehaltsaffäre um den ehemaligen CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer zugeschrie- ben, Maichel hatte auch in zähen Verhandlungen um die vor rund einem Jahr ge- gründete RWE-Stromtochter Energy die kommunalen Großkunden mit seiner rüden Gangart gegen sich aufgebracht. Andere von Maichel zu verantwortende Großpro- jekte wie eine geplante Zusammenarbeit mit dem Stromunternehmen Steag hängen ebenfalls seit Monaten in der Luft. Trotzdem hatte Roels lange Zeit an dem Manager festgehalten – aus gutem Grund: Der Abgang Maichels wirft auch ein schlech- tes Bild auf die Personalpolitik des

RWE-Chefs. Noch im vergangenen Jahr / KEYSTONE OBERHÄUSER / CARO hatte er Maichel trotz massiver Warnun- WestLB-Zentrale in Düsseldorf gen von Vorstands- und Aufsichtsrats- kollegen zum Chef der Energieerzeu- leitet hatte. Bei der WestLB blickt man gungstochter Power gemacht. Eine über- der Klage „gelassen“ entgegen, Auswir- zeugende Nachfolgeregelung kann Roels kungen auf den Verkauf an LGB sehe zudem nicht bieten. Maichels Aufgaben man nicht. Das könnte sich ändern. soll Personalvorstand Jan Zilius über- Derzeit versuchen die Balli-Anwälte in nehmen. Eine Notlösung, kritisieren In- den USA, zusätzlich eine einstweilige sider, auch wenn Zilius im Konzern als Verfügung zu erwirken. Ziel: Bis zur

VOLKER HARTMANN / DDP HARTMANN VOLKER deutlich kompetenter eingestuft wird Klärung der Eigentumsrechte soll ein Roels als sein Vorgänger. Verkauf Klöckners untersagt werden.

84 der spiegel 7/2005 Geld

Trendwende zeichnet sich +80 nicht ab: Das Wirtschafts- Ostbörsen wachstum ist hoch, auch +70 Veränderung gegenüber Januar 2004 wenn die Exporte nicht in Prozent mehr ganz so schnell stei- gen wie in den vergange- +60 Quelle: Thomson Financial Datastream nen Jahren. „Die Konver- genzphantasie bleibt in- +50 Budapest takt“, schreibt die öster- reichische Fondsgesellschaft +40 Raiffeisen Capital Manage- ment. Im Klartext: Da den Prag osteuropäischen Ländern +30 der baldige Zutritt zur Euro-Zone zugetraut wird, +20 steigt der Wert der Warschau Währungen gegenüber dem +10 Euro, die lokalen Zinsen fallen. Zudem heizen 2004 2005 Übernahmephantasien den 0 Markt an. Der größte ost- Jan. Jan. Febr. europäische Telekommuni- kationskonzern Cesky Tele- BÖRSEN com wird komplett privatisiert, fünf In- teressenten wollen bis Ende März ein Strahlender Osten Gebot für 51 Prozent der Aktien abge- ben. Wem das Aktienangebot zu un- er Boom an den Börsen Osteuropas übersichtlich ist, kann in einen Ost- Dhält an. Seit dem EU-Beitritt von europa-Fonds investieren. Gute Fonds Polen, Tschechien und Ungarn am wie der Templeton Eastern Europe, 1. Mai 2004 stiegen die Aktienindices in Raiffeisen-Osteuropa-Aktien oder Uni Budapest und Prag um mehr als 50 Pro- EM Osteuropa haben in den vergange- zent, nur in Warschau verlief der nen fünf Jahren jährlich um durch- Aufwärtstrend verhaltener. Und eine schnittlich über 15 Prozent zugelegt.

NEUEMISSIONEN „Das Geld reicht“ Wolfgang Söhngen, 51, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Aachener Biotechnologie- Unternehmens Paion, über den Börsengang seiner Firma

SPIEGEL: Der Paion AG gelang vori- gen Freitag als erster Firma 2005 der Gang an die Börse. Zufrieden? Söhngen: Sehr zufrieden. Der Kurs

hat sich mit einem Plus von knapp BERND KAMMERER / AP fünf Prozent am ersten Tag prima Söhngen entwickelt. SPIEGEL: Der Ausgabepreis musste vor SPIEGEL: Reicht denn der Erlös des dem Börsengang herabgesetzt werden. Börsengangs von rund 40 Millionen Wer war schuld? Euro überhaupt, um den Kapitalbedarf Söhngen: Wir sind von unserer ur- Ihrer Firma zu decken? sprünglichen Preisspanne zwischen Söhngen: Die Entwicklung unseres 11 und 14 Euro auf einen Emissionskurs Wirkstoffs gegen Schlaganfall aus dem von 8 Euro heruntergegangen, um uns Speichel südamerikanischer Vampir- den Marktbedingungen anzupassen. fledermäuse wird durch einen Partner Die deutschen Investoren hatten zum vorfinanziert. Das zusätzliche Kapital Ursprungspreis gesagt: Das ist uns zu brauchen wir nur zur späteren teuer. Deshalb hatten die ausländischen Vermarktung und zur Entwicklung Kapitalgeber eine gute Entschuldigung, unserer nächsten Projekte. Das Geld auch den Preis zu drücken. reicht.

der spiegel 7/2005 85 Wirtschaft MARCUS BRANDT / DDP BRANDT MARCUS Politiker Schröder, Clement, Eichel: „Bizarrstes Polit-Billard, bei dem jeder um drei Ecken denkt“ Steuervermeider Pfizer: In Irland sprudeln

STEUERN Das globale Monopoly Weil die Konzerne ihre Gewinne trickreich in andere Länder verschieben, fordert Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, die Unternehmensteuern zu senken. Finanzminister Hans Eichel dagegen will erst einmal abwarten – und das Problem innerhalb der EU angehen.

olfgang Clements Coup war wohl- kung der Steuern und Unternehmensbe- mung zu verbreiten, von der sie dann im überlegt. Schon Ende Januar be- steuerung.“ Deshalb müsse Deutschland, Bundestagswahlkampf profitieren. Oder Wrichtete der Wirtschaftsminister „um den Standort hier wettbewerbsfähig mit der sie, sollte das Projekt von CDU gegenüber Freunden, er werde nicht mehr zu halten“, die mittlerweile „zu hoch gera- und CSU blockiert werden, die Opposition länger warten – und eine Senkung der Un- tenen“ Sätze senken. vorführen können. ternehmensteuern fordern. Die klaren Worte des Wirtschaftsminis- Was sich da abspielt, so ein Clement-Ver- „Wir müssen da etwas tun“, sagte der ters verfehlten ihre Wirkung nicht, vor al- trauter, „ist bizarrstes Polit-Billard, bei dem Politiker. Der Kanzler, fügte er hinzu, sehe lem im eigenen Lager. jeder um drei Ecken denkt“. das nach seinen Gesprächen mit den Wirt- Für eine Senkung der Unternehmen- Tatsächlich ist eine Reform der Unter- schaftsverbänden genauso. Mit dem Zau- steuern, konterte Eichel, gebe es keinen nehmensbesteuerung überfällig. Zwar sind derer Hans Eichel aber, so der Minister, Spielraum. SPD-Chef Franz Müntefering die Steuersätze in Deutschland für Inves- wolle er das Thema gar nicht erst erörtern. stellte klar: „Es wird keinen deutschen toren abschreckend hoch (siehe Grafik Sei- Der Finanzminister hatte in den vergan- Sonderweg geben, nur eine EU-Lösung.“ te 88), dennoch zahlen die Unternehmen genen Monaten jede Senkung der Unter- Die Frage sei, ob die europäischen Staaten immer weniger an den Fiskus: Der Anteil nehmensteuern kategorisch abgelehnt. An- ihre Unternehmensteuern anglichen oder der Körperschaftsteuer am Gesamtsteuer- derslautende Medienberichte qualifizierte ob es zu einem „Unterbietungswettbewerb aufkommen sank seit 1960 von zehn auf seine Behörde ungewöhnlich scharf ab: der Volkswirtschaften“ komme. drei Prozent. „Da hat sich jemand ein schönes Weih- Bei dem erbitterten Streit der SPD-Poli- Das liegt an den vielen Abschreibungs- nachtsmärchen ausgedacht“, ätzte ein tiker geht es weniger um Inhalte als mehr und Ausnahmeregeln, die es den Firmen Sprecher des Kämmerers – während Cle- um die richtige Taktik. Eichel und Münte- erlauben, ihre zu versteuernden Gewinne ment auf den richtigen Zeitpunkt wartete, fering wollen 2006 mit einer Unternehmen- kräftig zu drücken. Das liegt aber auch dar- das Thema auf die Agenda zu setzen. steuerreform in den Wahlkampf ziehen. an, dass die Konzerne zunehmend die Vorvergangenen Sonntag schließlich er- Eine Arbeitsgruppe im Willy-Brandt-Haus niedrigeren Steuersätze anderer Länder griff der Wirtschaftsminister vor 4,5 Millio- bastelt bereits an einem Konzept. Und Ei- nutzen – indem sie, wie zum Beispiel die nen Fernsehzuschauern bei „Sabine Chris- chel, der dem Gremium vorsitzt, will sich Autokonzerne, Teile der Produktion dort- tiansen“ das Wort: „Das Problem ist ja“, so seine Ideen vorher nicht zerreden lassen. hin verlagern oder trickreich ihre Gewin- Clement in der ihm eigenen, schnoddrigen Vor allem Clement, aber auch der Kanz- ne über die Grenzen transferieren. Art, „dass unsere Nachbarstaaten geradezu ler sehen dagegen die Chance – Europa Ganz unverhohlen werben Eichels euro- in einen Wettlauf gegangen sind zur Sen- hin oder her – eine neue Aufbruchstim- päische Freunde inzwischen um dessen

86 der spiegel 7/2005 BETTINA SCHWARZWÄLDER / DPA BETTINA SCHWARZWÄLDER die Gewinne Steuervermeider Armani (mit Models): Fiskus in der Beweispflicht

Staatseinkünfte. Der österreichische Fi- unter zwölf Prozent – wie der Wiesbadener hierzulande keinen oder kaum Gewinn. nanzminister Karl-Heinz Grasser beispiels- Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass anhand Die irische Tochter verkauft die Waren weise senkte die Unternehmensteuern von konzerneigener Daten errechnete. dann zu Marktpreisen an die Konsumen- zuletzt 34 auf 25 Prozent. Jetzt preist er sei- Die Lage spitzt sich zu: Viele Staaten ten, auch in Deutschland, weiter. Der Ge- ne Standortpolitik als „Signal für interna- haben in den vergangenen ein oder zwei winn fällt deshalb in Irland an und wird nur tionale Konzerne: Kommt nach Österreich Jahren ihre Steuern gesenkt – doch erst mit 12,5 Prozent besteuert, in Deutschland und investiert!“. nach fünf bis zehn Jahren entfalten neue wären es über 38 Prozent gewesen. Eichels slowakischer Kollege Ivan Mi- Steuermagneten ihre volle Wirkung. Die Firmen halten ihre internen Preise klosˇ hatte schon 2004 alle Steuern auf 19 Eichel hat die Gefahr erkannt, er will streng geheim, deshalb gibt es kaum an- Prozent gesenkt. Seither wirbt er mit dem die Spirale nach unten stoppen. Aber wie? schauliche Beispiele – nur Indizien. „einfacheren, neutralen, stabilen, gerechten Eine Lösung, so die Erkenntnis des Fi- Der Modehersteller Armani beispiels- System“. Und Irlands Ex-Finanzminister nanzministers, ist nur auf europäischer weise belieferte seine deutsche Tochter jah- Charlie McCreevy – seit wenigen Monaten Ebene möglich. Mindeststeuern aber, wie relang mit horrend teurer Ware aus Italien. ist er EU-Binnenmarktkommissar – plä- sie der Ratspräsident der Gemeinschaft, In Deutschland setzte der Markenschnei- diert unverdrossen für den Abbau weiterer Jean-Claude Juncker, noch vor einigen der zwar bis zu 45 Millionen Euro um, doch Handelsbarrieren im Binnenmarkt. Kein Wochen gefordert hat, lassen sich nicht unterm Strich blieb meist ein Verlust. Zwar Wunder: In Irland müssen produzierende durchsetzen. Deshalb entstand, maßgeb- schöpfte der Fiskus Verdacht, doch der Betriebe schon seit 1981 gerade mal zehn lich von Eichel unterstützt, ein neuer Plan. Bundesfinanzhof entschied: Die Steuer- Prozent ihrer Gewinne beim Finanzamt Er sieht vor, dass prüfer müssen nachweisen, dass die inter- abgeben. Doch auch die übrigen Unter- • die Gewinne aller Unternehmen in allen nen Preise überhöht sind. Und das ist in nehmensteuern sanken von 45 auf 12,5 Pro- europäischen Ländern nach gleichen den meisten Fällen unmöglich. zent. Und die Esten gönnen sich sogar Regeln ermittelt werden, Auch der Pharma-Gigant Pfizer, das zei- einen Körperschaftsteuersatz von null. • die so festgestellten Summen zu einem gen die Buchautoren Hans Weiss und Ernst Einnahmeeinbrüche brauchen die Dum- „europäischen Gewinn“ aufaddiert wer- Schmiederer, erzielte hierzulande im Jahr ping-Anbieter im hartumkämpften Steuer- den und 2000 nur zwei Prozent Gewinn – bezogen markt nicht zu fürchten, ganz im Gegenteil: • dieser Gewinn auf die Mitgliedstaaten auf den Umsatz in Deutschland*. Im euro- Je tiefer die Sätze, desto mehr nehmen die nach einem Schlüssel verteilt wird, der päischen Schnitt aber schaffte der Viagra- jeweiligen Staaten ein. In Irland beispiels- sich nicht wie bisher danach richtet, wo Hersteller eine Umsatzrendite von 33 Pro- weise stiegen die Unternehmensteuern von der Gewinn angefallen ist – sondern zent. In Irland dagegen sprudeln die Pfizer- 184 Millionen Euro im Jahr 1980 – auf 5,1 nach Umsatz, Lohnsumme und Anlage- Gewinne offenbar – jedenfalls hat der Pil- Milliarden Euro in 2003. vermögen in dem jeweiligen Land. lendreher laut Schmiederer und Weiss dort Den internationalen Unternehmen ist Nach diesem Modell ist es weitgehend acht Milliarden Euro Vermögen gehortet. jede neue Runde im globalen Steuer-Mo- egal, wo die Gewinne anfallen – maßgeb- Dem Boom-Land im Nordatlantik flie- nopoly äußerst willkommen. Trickreich lich ist vor allem die Wertschöpfung. ßen auf diese Weise jedes Jahr Milliarden- verschieben sie ihre Gewinne dorthin, wo Bislang aber haben die Konzerne leich- beträge in die Kassen, die ihm „definitiv der Fiskus sie schont. Die Deutsche Bank, tes Spiel. Sie können praktisch frei ent- nicht zustehen“, wie ein Ministerialer aus BASF, DaimlerChrysler, Infineon, aber scheiden, wo sie Gewinne machen und da- Eichels Behörde klagt. Laut Frank Barry auch Post, Deutsche Telekom und viele an- mit Steuern zahlen – und wo nicht. vom University College Dublin liegt der dere multinationale Konzerne drückten Das Muster ist einfach: Ein deutscher Umsatz pro Mitarbeiter in fast allen Bran- ihre Gesamtsteuerlast auch dadurch auf Konzern gründet eine Tochtergesellschaft in Irland. Die bezieht Produkte ihrer Mut- * Hans Weiss, Ernst Schmiederer: „Asoziale Markt- Weitere Informationen unter ter zum Selbstkostenpreis oder knapp dar- wirtschaft“. Kiepenheuer & Witsch, Köln; 352 Seiten; www.spiegel.de/dossiers über. So erwirtschaftet das Unternehmen 19,90 Euro.

der spiegel 7/2005 87 Wirtschaft

Handel, das zeigen die wissenschaftlichen Untersuchungen von Zdanowicz und an- Hohe Steuern ...... geringe Einnahmen deren, richten sich die Preise kaum noch Unternehmensteuersätze 2005 in Prozent Anteil der Körperschaftsteuer nach Angebot und Nachfrage – sondern an den Steuereinnahmen vor allem nach dem Steuersatz der Länder, USA 39,9 in Deutschland 7,3 in denen die handelnden Firmen sitzen. Deutschland 38,7 in Prozent Eichel drängt deshalb auf eine Reform, die solchen Tricks eine Ende bereitet. Ein Frankreich 35,4 Konzern wie Siemens beispielsweise wür- 6 de dann, nach einheitlichen Regeln, sei- Italien 33,0 5,0 nen Gesamtgewinn für Europa ausweisen. 5 Bei der Verteilung des zu versteuernden Großbritannien 30,0 Einkommens aber käme Deutschland bes- 4 ser weg als bisher. Denn je mehr ein Kon- Tschechien 26,0 3,0 zern in einem Land umsetzt, je mehr Leu- 3 Österreich 25,0 te er beschäftigt und je mehr Vermögen er dort hält, desto höher wäre die Quote, die 2 Polen 19,0 2,2 der Finanzminister zugesprochen bekäme. Zwar würden die Länder mit niedrigen Irland 12,5 1 Steuersätzen in der EU dem Ansinnen –0,1 kaum zustimmen, doch Eichel und seine Estland 0,0 19851990 1995 2000 2004 Kollegen aus Frankreich, Italien, Spanien und den Benelux-Staaten arbeiten an einer Kapitalflüsse, die auf irrealen Verrechnungspreisen beruhen in Mrd. Dollar, 2001 Koalition: Denn acht Staaten können in- nerhalb der Gemeinschaft eigene Verfahren Deutschland 19,2 13,7 USA verabreden. Eichel und seine Mitstreiter sind zuversichtlich, das Vorhaben in etwa Großbritannien 19,6 8,8 drei Jahren durchsetzen zu können. Doch schon gibt es im Finanzministe- Frankreich 18,0 5,2 rium warnende Stimmen. „Wir können uns auch mit dieser Regelung dem Steuerwett- Italien 6,7 2,8 bewerb nicht entziehen“, klagt ein hoher Quelle: Prof. John Zdanowicz Ministerialer. Die Konzerne, so fürchten die Beamten, würden beim großen Ge- chen in Irland deutlich über dem EU- nem Kollegen Simon Pak anhand detail- winnverschiebespiel auf das nichteuro- Schnitt. In einigen Segmenten, darunter lierter Untersuchungen von 25 000 ver- päische Ausland ausweichen. Das ist aller- organische und basische Chemikalien, Li- schiedenen Produkten errechnet, verbucht dings nicht ganz so einfach wie innerhalb monaden-Grundstoffe sowie Software-Ver- der US-Finanzminister ein Steuerplus von Europas mit seinen offenen Grenzen. trieb, schaffen die Iren sogar mehr als das 20 Milliarden Dollar. Dem liegen Un- Ein anderer Effekt macht Eichels Mit- Zehnfache des Umsatzes ihrer europäi- ternehmensgewinne von 213 Milliarden arbeitern mehr Sorgen: Wenn die Kon- schen Kollegen. Dollar zugrunde, die über „auffällige Prei- zerne ihre Steuerlast nicht mehr durch Dass die irischen Arbeiter tatsächlich so se“ ins „Land der unbegrenzten Möglich- die Verschiebung der Gewinne mindern viel mehr leisten als andere, ist nicht an- keiten“ transferiert wurden – aber auch können, ist der Anreiz umso größer, die zunehmen. Der Schluss liegt nahe: Die Abflüsse von 156 Milliarden Dollar, vor al- tatsächliche Produktion oder gar den Un- Konzerne lassen ihre Gewinne gezielt in lem nach Japan. Aus Deutschland erhalten ternehmenssitz nach Irland, Estland, die Irland anfallen, um Steuern zu sparen. die USA unterm Strich 5,5 Milliarden Slowakei oder in die Schweiz zu verla- Wie absurd die Preise zwischen kon- Dollar (siehe Grafik). gern. In der Vergangenheit haben einige zerneigenen Gesellschaften sind, hat John Mehr als 60 Prozent des gesamten Welt- Konzerne, darunter Infineon, mehrfach Zdanowicz, Wirtschaftsprofessor an der handels, so schätzen Experten, finden mitt- damit gedroht. Florida International University, am Bei- lerweile innerhalb von Konzernen oder Fir- Das Finanzministerium arbeitet deshalb, spiel von europäischen und amerikani- menkonglomeraten statt. Und in diesem unabhängig von Clements Vorstoß, an ei- schen Firmengruppen untersucht: ner grundlegenden Unternehmensteuer- Für batteriebetriebene Rauch- reform. Personen- und Kapitalgesellschaften detektoren wurden 3500 Dollar sollen dann gleich behandelt werden – und berechnet, ein Kilo Eisen- oder deutlich weniger beim Fiskus abliefern als Stahlschrauben kostete bis zu die bisherigen 25 Prozent Körperschaft- 3067 Dollar, Plastikeimer sogar steuer. Dazu könnte die Gewerbesteuer 973 Dollar. mit etwa zehn Prozent als Wertschöpfung- Umgekehrt verrechneten die steuer erhoben werden. Damit, so glauben Firmen Geldautomaten für 97 Eichels Mitarbeiter, könnten die Konzerne Dollar, oder sie verschoben Mul- gut leben. tivitamine für 1,34 Dollar – pro Ob vor oder nach der Wahl: Eine Un- Kilo. Auch klinische Fieberther- ternehmensteuersenkung ist unausweich- mometer gab es zwischen Kon- lich. „Kein Land kann mit hohen Steuer- zerntöchtern im Angebot, für 0,6 sätzen gegen den Wettbewerb bestehen“, Cent pro Stück. sagt der US-Ökonom Zdanowicz, „und je Die Amerikaner braucht das länger ein Land dem Trend hinterherhinkt,

wenig zu kümmern. Unterm PRESS / ACTION RED DOT desto größer ist der volkswirtschaftliche Strich, so hat Zdanowicz mit sei- Audi-Werk in Ungarn: Niedrige Steuern locken Schaden.“ Wolfgang Reuter

88 der spiegel 7/2005 FRANK DARCHINGER FRANK Bankenzentrum Frankfurt am Main: Den Datenschatz anzapfen

zentralen Rechner bei der Bankenaufsicht BANKEN zu übermitteln. Schon heute können die Ermittler bei einem entsprechenden Verdacht jederzeit Gläserne Konten die Daten abrufen – und sich dann bei den betreffenden Instituten weiter nach den Am 1. April fällt in Deutschland das Bankgeheimnis. Dann dürfen genauen Finanzströmen informieren. Mit der Datenbank jedoch entstanden die Finanzämter alle Bankverbindungen der Bürger allerorts Begehrlichkeiten. Innenminister überprüfen – es sei denn, das Verfassungsgericht stoppt den Vorstoß. Otto Schily beispielsweise wollte dem Bun- desnachrichtendienst einen Freipass zum eit Wochen tourt ein Stoßtrupp der Eröffnungsdatum – einsehen kann. Die Reich der 500 Millionen Konten verschaf- Raiffeisenbank Kleinwalsertal durch Institute bekommen nämlich von der Ab- fen. Doch der Versuch scheiterte am Wi- SSüddeutschland – und verbreitet bei frage gar nichts mit. derstand des Finanzministeriums. Anlegern Angst und Schrecken. Für den Vorstoß hat sich Finanzminister Nun aber dürfen auf Betreiben ebenjenes Über „neue Risiken“ doziert die vor- Eichel trickreich die Terrorattacke vom Ministeriums auch die Finanzämter den Da- alpine Bankierselite bei exklusiven Veran- 11. September 2001 zunutze gemacht. Denn tenschatz anzapfen – wie auch Sozial- und staltungen in Luxushotels oder Steuerbe- im Zuge der Bekämpfung des Terrorismus Arbeitsämter. Gegen den erbitterten Wi- raterkanzleien. Gemeint sind damit nicht und im Rahmen der Gesetze gegen die derstand von Banken, aber auch von Da- nur „globaler Terrorismus“ und „Erfolge Geldwäsche hat die Regierung schon seit tenschützern setzte die Regierung den Zu- radikaler Parteien“, sondern vor allem der 2003 alle Banken dazu verpflichtet, stets griff der Steuerbehörden per „Gesetz zur für den 1. April geplante Zugriff deutscher ihre aktualisierten Kontendaten an einen Förderung der Steuerehrlichkeit“ durch. Finanzämter auf die Stammdaten aller Eichels Truppen klinken sich Bankkonten. künftig über das Bonner Bun- Das bevorstehende Ende des Bankge- desamt für Finanzen ein. Dort la- heimnisses treibt Bankmanager Roland gern bereits sämtliche in An- Jauch bereits erste Kunden in die Schal- spruch genommenen Freistel- terhalle. Denn ein Konto im Kleinwal- lungsaufträge von Sparern sowie sertal bekommt Bundesfinanzminister die Daten über ausländische Be- Hans Eichel auch in Zukunft nicht zu sitztümer deutscher Staatsbürger. sehen. „Es besteht weiterhin großer Selbst Versicherer, Pensionskas- Aufklärungsbedarf“, meint Grenzgänger sen und Rentenversicherungsträ- Jauch, der seine Roadshows unbeirrt fort- ger müssen seit Jahresbeginn für setzen will. jede Zahlung dem Fiskus eine Tatsächlich ist vielen Deutschen bislang Kontrollmitteilung liefern. noch nicht klar, dass der Fiskus künftig je- Die Banken wiederum erstel- derzeit und bundesweit die sogenannten len erstmals für 2004 eine Liste

Stammdaten all ihrer Konten – also Konto- / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH sämtlicher Kapitalerträge und nummer, Inhaber, Bevollmächtigte und Bankkunden: „Es besteht großer Aufklärungsbedarf“ Wertpapiergeschäfte ihrer Kun-

90 der spiegel 7/2005 Wirtschaft

den. Das Papier geht zwar nicht direkt zum lich laut Abgabenordnung erst dann über Raiffeisenbanken riet ihm gar ab, konkre- Finanzamt, kann von den Beamten aber die Bankverbindungen der Kunden er- te Vorstöße zu unternehmen. verlangt werden. kundigen, „wenn dies zur Festsetzung oder Unterstützt von zwei Rechtsprofessoren, So viel Überwachung schreckt jetzt auch Erhebung von Steuern erforderlich ist und zog Burmann allein in die Schlacht. In- die Politiker. Den massenhaften Konten- ein Auskunftsersuchen an den Steuer- zwischen unterstützen einige Chefs klei- check hält der finanzpolitische Sprecher pflichtigen nicht zum Ziele geführt hat oder ner Volksbanken die Guerilla-Strategie der Unionsfraktion, Michael Meister, „we- keinen Erfolg verspricht“. ihres Genossen – und spenden Geld für der vom Gesetz vorgesehen noch für sinn- Dem Papier zufolge soll dieser Paragraf die Raesfelder Kampagne. voll, verhältnismäßig oder gewünscht“. Das nun konkretisiert werden. Außerdem sol- Burbaum zählt zur Fraktion der Funda- neue Instrument für die Finanzämter will len die Bürger im Nachhinein – über die mentalisten. Sie lehnt automatisierte Kon- Meister nur als „zusätzliches Kontroll- Erläuterungen im Steuerbescheid – stets tennachforschungen von Behörden ka- recht“ bei einem begründeten Anfangs- über die Abfrage informiert werden. Zu- tegorisch ab und macht selbst bei der verdacht verstanden wissen. mindest in der Regel: Eine Ausnahme gel- Bekämpfung von Geldwäsche und Terror- Selbst in den Regierungsparteien ist das te natürlich, wenn eine Vollstreckung der finanzierung keine Ausnahme. Gesetz manchen Abgeordneten nicht ganz Steuerschuld anstehe – und die Gefahr Doch für Terroristen- und Mafiafahnder geheuer. „Wir wollen nicht das gläserne droht, dass der Betroffene zuvor noch ist die Konten-Datenbank unverzichtbar. Konto“, sagt beispielsweise die grüne Bun- sämtliche Konten abräumt. In der Vergangenheit nämlich galten die destagsabgeordnete Silke Stokar von Neu- Den Gegnern von Eichels großem Da- Deutschen bei der Suche nach den finan- forn, „aber wir wollen Steuerehrlichkeit.“ tenangriff reicht das noch nicht. Sie hoffen ziellen Netzwerken international agieren- Zusammen mit einigen anderen Abge- auf die obersten Richter des Landes. Zwei der Terroristen als wenig reaktionsschnell. ordneten, darunter der Vorsitzenden des Beschwerden, mit denen die umfassenden Nur schwerfällig kamen sie beim Abarbei- Innenausschusses im Bundestag, Cornelie Kontenabfragen durch die Behörden ver- ten verdächtiger Personen und Firmen auf Sonntag-Wolgast, will sie zumindest errei- hindert werden sollen, liegen seit langem in den schwarzen Listen der Vereinten Na- chen, dass die Ausgeforschten nachträglich Karlsruhe. Eine Entscheidung ist theore- tionen und der Europäischen Kommission auch darüber informiert werden. tisch noch vor dem 1. April denkbar. voran. Im Finanzministerium freilich fürchtet Die treibende Kraft im Kampf gegen das Über 2400 Banken mussten anschlie- man den bürokratischen Aufwand derarti- gläserne Konto ist Hermann Burbaum. Der ßend über Verwaltungsakte öffentlich im Bundesanzeiger informiert werden. Es be- stand die Gefahr, dass die Gelder bereits Begehrte Daten Bundesanstalt für abgezogen waren, bevor die Bank sie ein- Finanzdienstleistungs- frieren konnte. Mit dem seit November bereits seit 2003 aufsicht (BaFin) zusätzlich ab April 2005 2003 laufenden Kontenabrufsystem lässt sich nun auf einen Blick feststellen, bei Staatsanwaltschaft Datenbank mit den Arbeitsämter Polizei Stammdaten aller Bafög-Amt welchen Banken die mutmaßlichen Ter- Anfragen Bankkunden in Ermittlungsverfahren bislang nur Finanzämter rorfinanziers Konten unterhalten. wegen Geldwäsche bei laufenden Deutschland: Sozialämter Zwar bunkern Wirtschaftskriminelle und Ermittlungs- • Name Wohngeldstellen Schwerverbrecher ihre Beute oft im Aus- Bundesministerium verfahren, • Geburtsdatum für Wirtschaft Abfragen land. Doch die Spur des Geldes führt nicht zukünftig • Adresse ohne Ein- selten über den Inhaber oder Bevollmäch- und Arbeit ohne Ein- schrän- • Datum von Kontoer- tigten eines deutschen Kontos. Ermittlungsverfahren schränkungen öffnung bzw. -schließung kungen wegen Terrorverdacht, • Verfügungsberechtigte Bundesamt „Das Instrument hilft uns, Transparenz schwarze Listen von UN/EU für Finanzen zu schaffen“, sagt Deutschlands promi- nentester Korruptionsexperte Wolfgang Schaupensteiner. Anschauungsunterricht liefert derzeit die Schmiergeldaffäre in der Frankfurter Immobilienszene. In einem undurchsichtigen Geflecht von Architekten, Bauherren, Maklern und pro- minenten Immobilienfondsmanagern sol- len jahrelang hohe Bestechungsgelder ge- flossen sein. „Rund zwölf Personen und Firmen haben sich um die Schleusung der Schmiergelder und damit um die Geldwä- sche gekümmert“, sagt Schaupensteiner, in diesem Zusammenhang habe man verschie- dene Anfragen an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) gerichtet.

PAUL GLASER PAUL Die Vor- und Nachteile der BaFin-Da- Bundesfinanzministerium: Trickreich nutzte Eichel den Kampf gegen den Terror tenbank kümmern die Bankiers aus dem Kleinwalsertal wenig. Sie hoffen ganz ein- ger Mitteilungen. Dennoch haben Eichels Chef der Volksbank Raesfeld will „den fach, dass ihre Wanderpredigt die Furcht Beamte bereits eingelenkt – allerdings nicht Schnüffelstaat verhindern“. Seit zwei Jah- vor dem deutschen Fiskus weiter schürt. aus tieferer Einsicht, sondern weil sonst ren macht er Front gegen die Konten- Die potentiellen Neukunden verab- die Chancen, den Kontenzugriff vor dem gucker. schieden die Österreicher am Vortragsende Verfassungsgericht zu kippen, deutlich Bis vor kurzem war das ein einsamer gern mit einem Zitat von George Bernard höher wären. Kampf. Die Verbandsfunktionäre der Shaw. „Sorge dafür, das zu haben, was du Derzeit werden die Ausführungsbestim- Hochfinanz mochten dem streitbaren Pro- liebst, oder du wirst gezwungen werden, mungen des Gesetzes im Finanzministe- vinzbankier nicht beistehen. Der Bundes- das zu lieben, was du hast.“ rium erarbeitet. Der Fiskus darf sich näm- verband der deutschen Volksbanken und Beat Balzli, Wolfgang Reuter

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rung stark verändert haben. Deshalb müs- sen wir intensiv darüber diskutieren, wel- SPIEGEL-GESPRÄCH che Aufgaben der Sozialstaat künftig noch übernehmen kann und wie seine Struktu- ren umgebaut werden müssen. „Da schlägt Geiz in Gier um“ SPIEGEL: Viele Gewerkschafter sehen das anders. Sie finden, dass die demografischen DGB-Chef Michael Sommer, 53, über den Umbau des Sozialstaates, Probleme überzeichnet werden und zum Beispiel durch mehr Wirtschaftswachstum die Versäumnisse der Gewerkschaften und über ausgeglichen werden könnten. Unternehmen, die trotz steigender Gewinne Mitarbeiter entlassen Sommer: Das ist zu einfach gedacht. Dass der Anteil der Senioren an der Bevölke- SPIEGEL: Herr Sommer, die Gewerkschaften legen, dass die Gewerkschaften heute eher rung in den nächsten Jahrzehnten drastisch haben allein im vergangenen Jahr rund als Bremser wahrgenommen werden. steigen wird, ist eine Tatsache, die man 350000 Mitglieder verloren. Ist der DGB Sommer: Soziale Errungenschaften zu ver- nicht wegdiskutieren kann. Natürlich lie- ein Auslaufmodell? teidigen muss ja nicht falsch sein. Wenn ßen sich die Probleme entschärfen, wenn Sommer: Er wäre es, wenn wir nichts da- einige im Arbeitgeberlager und in der Po- die Arbeitslosigkeit sinkt und die Produk- gegen tun würden. Aber dazu sind meine litik die Tarifautonomie schleifen wollen, tivität der Wirtschaft steigt. Aber das Mitglieder der DGB-Gewerkschaften in Tausend Verände- rung in *Juni 2003 2004 Prozent Ver.di 2614 2530* –3,2 IG Metall 2525 2450* –3,0 IG Bergbau, 801 771 –3,7 Chemie, Energie IG Bauen-Agrar-Umwelt 461 425 –7,8 Transnet 283 270 –4,6 Gewerkschaft Erziehung 261 254 –2,7 und Wissenschaft Gewerkschaft Nahrung- 237 225 –5,1 Genuss-Gaststätten Gewerkschaft der Polizei 181 178 –1,7

DGB insgesamt 73637013 –4,8 MARCO-URBAN.DE Gewerkschaftschef Sommer: „Werden wir als Reformkraft wahrgenommen, oder gelten wir als betonköpfige Bewahrer?“

Kolleginnen und Kollegen und ich fest ent- ist es völlig richtig zu blockieren. Der Feh- Grundproblem bleibt, und daraus ergibt schlossen. Denn die Entwicklung ist in der ler war eher, dass wir es auf der anderen sich die Notwendigkeit, den Sozialstaat Tat besorgniserregend. Wir haben jetzt Seite nicht immer verstanden haben, un- gründlich umzugestalten. noch knapp über sieben Millionen Mit- sere Position und unsere eigene Reform- SPIEGEL: Die Gewerkschaften akzeptieren glieder; das ist auch eine psychologisch agenda differenziert darzustellen. also, dass die sozialen Leistungen nicht nicht unwichtige Grenze. SPIEGEL: Das ist ja auch schwierig, wenn mehr im selben Umfang aufrechterhalten SPIEGEL: Haben Sie denn bisher nichts da- man, wie die Gewerkschaften, der Mei- werden können wie bisher? gegen getan? nung ist, dass am deutschen Sozialstaat Sommer: Die Gewerkschaften verkennen Sommer: Doch, aber offensichtlich nicht nichts verändert werden muss. nicht, dass die Politik in vielen Bereichen ausreichend und nicht konsequent genug. Sommer: Dass die Diskussion über eine Re- die Entscheidung getroffen hat, die Sozial- Wir müssen uns fragen, ob wir den Kern form der Wohlfahrtssysteme zu spät be- systeme auf eine Grundversorgung zu re- unseres Geschäfts, die Beratung und Be- gonnen hat, können Sie nicht nur den Ge- duzieren. Das können wir kritisieren, än- treuung unserer Kolleginnen und Kollegen werkschaften vorwerfen. Als Bundeskanz- dern werden wir es nicht mehr, von wich- in den Betrieben vor Ort, wirklich in der ler Gerhard Schröder mit seiner Agenda tigen Details abgesehen. Qualität erbringen, wie sie das erwarten. 2010 plötzlich einen radikalen Umbau pro- SPIEGEL: Bisher hatten wir den Eindruck, Und wir müssen unser Image kritisch über- pagierte – der noch dazu konzeptionell dass Sie genau das versuchen. prüfen. Werden wir als Reformkraft wahr- alles andere als ein großer Wurf war –, Sommer: Die Gewerkschaften sind da viel genommen, die das Interesse ihrer Mit- wurden die Gewerkschaften genauso kalt weiter, als das öffentliche Bild von ihnen glieder modern vertritt, oder gelten wir als erwischt wie die SPD und die Gesellschaft vermittelt. Zum Beispiel bei der Rente: Wir betonköpfige Bewahrer? insgesamt. haben im Zusammenhang mit der Diskus- SPIEGEL: Da können wir Ihnen weiterhel- SPIEGEL: Welche Lehren ziehen Sie daraus? sion über die Riester-Rente letztendlich ak- fen. Die Umfragen in der Bevölkerung be- Sommer: Ich akzeptiere, dass sich die zeptiert, dass der Lebensstandard im Alter Grundlagen des Sozialstaates durch die de- nicht mehr allein über die gesetzliche Ren- Das Gespräch führten die Redakteure Armin Mahler und mografische Entwicklung, die anhaltende te gesichert werden soll. Wir brauchen ei- Michael Sauga. Massenarbeitslosigkeit und die Globalisie- ne Ergänzung durch kapitalgedeckte Sys-

92 der spiegel 7/2005 wie Sozialhilfe finanziert werden: aus Steuermitteln. Dieses Problem stellt sich in allen Sozialsystemen. SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Sommer: Den sozialen Sicherungs- systemen werden noch immer zweistellige Milliardenbeträge an versicherungsfremden Leistungen aufgebürdet. Die logische Konse- quenz daraus kann nur sein: Wir können und müssen Sozialabga- ben senken. Und wir brauchen einen höheren Steueranteil, mit dem das finanziert wird. SPIEGEL: Fordern Sie etwa, die Mehrwertsteuer zu erhöhen? Sommer: Nein, das wäre momen- tan Gift für die Konjunktur. Wo- rum es mir geht, ist eine grundsätz- liche Diskussion über die Finanz- architektur des Sozialstaates. SPIEGEL: Bislang haben die Ge- werkschaften ein anderes Modell für eine Finanzierung des Sozial- staats favorisiert: das Bürgerversi- cherungskonzept der SPD. Gilt das nicht mehr?

UWE ZUCCHI / DPA Sommer: Doch. Das ist aber allen- Demonstration gegen Hartz IV (im August 2004 in Kassel): „Der Weg ist unumkehrbar“ falls ein Detail einer neuen Fi- nanzarchitektur. Es ist vernünftig, teme. Dafür haben wir Tarifrentenmodel- Sommer: Ich habe von meiner Kritik nichts beispielsweise Beamte und Vermögenser- le erarbeitet. Das ist der richtige Weg. zurückzunehmen, aber ich nehme zur träge stärker in die Finanzierung des Sozi- SPIEGEL: Kann der Staat künftig nur noch Kenntnis: Dieser Weg ist unumkehrbar ein- alstaates einzubeziehen. Bei vielen Details eine Grundversorgung garantieren? geschlagen. Jetzt müssen wir darüber dis- des Modells aber sehen wir Diskussions- Sommer: Das ist doch für alle, die neu ins kutieren, welche Schlussfolgerung wir aus bedarf. So halte ich es für problematisch, Berufsleben eintreten, längst Realität. Die der Entwicklung ziehen. Und da stelle ich einen zusätzlichen Beitrag auf Kapitalein- umlagefinanzierte Rente kann vielleicht mir die Frage, ob die Arbeitnehmer für künfte zu erheben, der bei den üblichen heute noch eine umfassende Altersversor- den Beitrag von 6,5 Prozent eigentlich Bemessungsgrenzen gedeckelt ist. Dadurch gung abdecken – morgen nicht mehr. In noch eine angemessene Gegenleistung be- würden Spitzenverdiener geschont, wäh- Wahrheit besteht das Rentensystem doch kommen und ob die Arbeitslosenversiche- rend Arbeitnehmer mit durchschnittlichem schon heute aus einem Mix aus Beiträgen, rung insgesamt richtig finanziert und auf- Einkommen und Vermögen zusätzlich be- Steuerzuschüssen und privater Vorsorge, gebaut ist. lastet werden. Da halte ich es für ausge- zum Beispiel in der Form der Riester-Ren- SPIEGEL: Und wie fällt Ihre Antwort aus? wogen, die Steuern auf Kapitaleinkünfte te. Dies wird das Modell auch für andere Sommer: Wenn alles, was nach einem Jahr zu erhöhen. Zweige der Sozialversicherung werden. Eintritt in die Arbeitslosigkeit passiert, SPIEGEL: Noch gerechter wäre es, das soge- SPIEGEL: Zum Beispiel? Sozialhilfe ist, dann muss das eben auch nannte Kopfprämienmodell der CDU ein- Sommer: In einer älter werdenden Ge- zuführen. Da zahlt zwar jeder den sellschaft werden die Gesundheits- gleichen Krankenversicherungsbei- ausgaben steigen. Folgerichtig müs- trag. Aber der steuerliche Ausgleich sen wir tendenziell mehr Geld in zieht Spitzenverdiener wesentlich das Gesundheitssystem lenken – mal stärker heran als die Bürgerversiche- abgesehen davon, dass der Medizin- rung. sektor auch ein wichtiger Wirtschafts- Sommer: Wenn wir ein Einkommen- faktor ist. Deshalb werden wir dar- steuersystem hätten, bei dem tatsäch- über reden müssen, welche Leis- lich jeder entsprechend seiner Leis- tungen wir künftig solidarisch über tungskraft besteuert würde, könnte Beiträge, welche wir über Steuern ich Ihrer These ja folgen, aber dieses und welche wir privat finanzieren. System haben wir nicht. Wir leben in Oder nehmen Sie Hartz IV: Die Re- einer Gesellschaft, die unendlich vie- form hat den Charakter der Arbeits- le Schlupflöcher und Ausweichmög- losenversicherung grundlegend geän- lichkeiten bietet, und zwar vor allem dert. Wer länger als ein Jahr keine für die, die mehr haben als andere. Arbeit findet, dem sichert der Sozial- Solange das so ist, ist die Kopfprämie staat nicht mehr den Lebensstandard für uns keine Alternative. ab, er wird nur noch vor Armut ge- SPIEGEL: Sie könnten sich ja für ein schützt. gerechteres und einfacheres Steuer- SPIEGEL: Noch vor wenigen Wochen system einsetzen.

haben Sie das als „sozialen Kahl- HANS-GÜNTHER OED Sommer: Das tue ich auch. Ich bin schlag“ gebrandmarkt. Deutsche-Bank-Chef Ackermann: „Unverantwortlich“ zum Beispiel sehr offen bei der Dis-

94 der spiegel 7/2005 Wirtschaft kussion über die Unternehmensteuern. Zu ihre Standorte in verschiedenen Ländern Jahr stark gestiegen. Dennoch bauen vie- einer neuen Finanzarchitektur des Sozial- gegeneinander ausspielen? le weiter Arbeitsplätze ab – allen voran staates müssen wir aber auch das Steuer- Sommer: Ob einem das gefällt oder nicht – Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. recht insgesamt überprüfen. Hier muss die die Unternehmen nutzen das Lohnkosten- Sommer: Das ist unverantwortlich. Da Diskussion ehrlich geführt werden. Es kann gefälle in Europa heute ganz anders als schlägt Geiz in Gier um, und es gilt das nicht sein, dass je größer der Konzern ist, früher. In Berlin lassen die Hotels und Motto: Gier ist geil. Die Vorstellung, dass prozentual umso weniger Steuern gezahlt Krankenhäuser sogar ihre Wäsche inzwi- man mit unternehmerischer Tätigkeit eine werden, und je kleiner der Betrieb ist, schen in Polen waschen. Diese Entwick- gleiche oder gar eine höhere Rendite er- umso mehr Steuern gezahlt werden. lung reicht bis zu Fällen blanker Lohn- zielen muss als mit internationalen Fi- SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? drückerei. Deswegen müssen Europas Ge- nanzspekulationen, halte ich für pervers. Sommer: Ich wäre bereit, über niedrigere werkschaften stärker kooperieren, damit Ich bin dafür, dass die Firmen anständig Unternehmensteuersätze zu reden, wenn in einer europäisch vernetzten Wirtschaft Geld verdienen. Aber sie müssen sich auch gleichzeitig die Bemessungsgrundlagen die Möglichkeiten zu unfairer Lohnkon- ihrer sozialen Verantwortung bewusst wer- verbreitert werden. Die Deutsche Bank be- kurrenz zurückgedrängt werden. Wir müs- den. Sonst bricht dieses Land sozial aus- hauptet, sie zahle 38 Prozent Steuern. sen aber auch die Diskussion darüber einander. Tatsächlich zahlt sie viel weniger, weil sie führen, welche gut bezahlte Arbeit zu- SPIEGEL: Ist die Deutsche Bank nicht ein vorher alle möglichen Posten vom Gewinn kunftsfähig ist und welche Arbeit wir ver- Beweis dafür, dass der amerikanische abziehen kann. Wir brauchen ein Steuer- lieren werden. Auf die Dauer werden wir Shareholder-Kapitalismus über das deut- recht, das sich an einer Leistungskraft ori- nur Qualität und hochintelligente Produk- sche Modell von Sozialpartnerschaft und entiert und so einfach und transparent wie te und Dienstleistungen tatsächlich mit ho- gesellschaftlichem Konsens gesiegt hat? möglich ist. hen Löhnen versehen können. Sommer: Sie können das so sehen. Aber SPIEGEL: Auf dem Bierdeckel sozusagen. SPIEGEL: Sie haben sich also damit abgefun- dass es jetzt diesen Aufschrei gab, dass so Sommer: Haben Sie etwas gegen Steuer- den, dass die Massenfertigung abwandert? viele sagen, das hat mit verantwortungs- vereinfachung? Sommer: Sie können nicht bei C&A ein vollem Unternehmertum nichts mehr zu SPIEGEL: Wir entnehmen Ihren Ausführun- T-Shirt für 3,95 Euro kaufen und erwarten, tun, hat mich positiv überrascht. Es gilt ja gen, dass Sie sich vorgenommen haben, in dass es in Deutschland produziert wird. immer noch das Grundgesetz, in dem es der Reformdebatte eine etwas konstrukti- Das passt einfach nicht zusammen. Trotz- heißt: Eigentum verpflichtet, und sein Ge- vere Rolle zu spielen … dem bin ich fest davon überzeugt, dass die brauch hat dem Nutzen der Allgemeinheit Sommer: … das ist ein Grundsatz von mir. Internationalisierung der Produktion erst zu dienen. Da haben sich ein paar Werte in Nur nehmen Sie es nicht immer wahr. einmal nichts Schlechtes ist, sondern für diesem Land verschoben, die wir wieder SPIEGEL: Haben Sie auch neue Überlegun- uns eine Chance darstellt … geraderücken müssen. gen, wie die Gewerkschaften verhindern SPIEGEL: … besonders für die Gewinne der SPIEGEL: Herr Sommer, wir danken Ihnen können, dass die globalen Unternehmen Unternehmen: Die sind im vergangenen für dieses Gespräch. Wirtschaft

WELTHANDEL „Null Abweichungen“ Viele Mittelständler unterschätzen die Gefahren des China-Geschäfts: Ungeniert kopieren die Chinesen deren Produkte – und machen ihnen anschließend auf dem Weltmarkt Konkurrenz.

infried Krämer, 55, reist seit rund zehn Jahren nach Shanghai. Als Wder Chef der Zimmer AG aus Frankfurt am Main erstmals das heutige Wolkenkratzerviertel Pudong besuchte, grasten dort noch Büffel. Seine Firma ver- kauft in China Anlagen zur Herstellung von Polyester; rund hundert Projekte wickelte sie ab. Doch noch immer staunt der Manager – über die Dreistigkeit, mit der chinesische Nachahmer sein Know- how klauen. Von seinem Hotelfenster am Huangpu könnte Krämer eigentlich das Panorama der Wirtschaftsmetropole genießen. Statt-

dessen haftet der Blick des Frankfurters BÖMMEL VAN DOROTHEE grimmig auf einem Stapel mit Fotos chine- Manager Krämer sischer Maschinen zur Herstellung von „Die kennen keine Hemmungen“ Polyester, daneben liegen Aufnahmen von Originalen der Zimmer AG und deren gen. Wenn Landeskenner raten, China-In- Tochterfirmen: Die Kopien gleichen ihnen vestitionen nicht zu übereilen, verlassen wie ein Ei dem anderen, teilweise unter- Angereiste schon mal grußlos das Kam- scheiden sie sich nicht einmal im Farbton. mer-Büro. Zunächst griffen die Abkupferer die Vor Shanghais neonglitzernder Boom- Containerhafen deutsche Firma direkt in China an. Seit town-Fassade verblassen lästige Bedenken. Boomende Handelsmetropole Shanghai: „Das etwa fünf Jahren, so Krämer, würde das Die Bosse fliegen auf dem modernen Flug- staatliche Design-Institut CTIEI Kopien hafen Pudong ein, rasen mit über 400 Stun- größten Absatzmarkt der Welt für Textil- von Anlagen der Zimmer AG und deren denkilometern im Transrapid in die In- maschinen nicht vertreten zu sein. Mit dem Tochterfirmen anbieten, in manchen Fällen nenstadt und stoßen im Nobelrestaurant Design und der Planung von Polyester- sogar mit dem unverschämten Hinweis, es „M on the Bund“ mit Champagner auf fabriken erwirtschaftet die Zimmer AG handele sich um geprüfte Zimmer-Techno- neue Freundschaften und ihre chinesischen dort einen beträchtlichen Teil ihres Um- logie. Neuerdings werben die Chinesen Partner an. satzes. Doch auf dem bejubelten Traum- sogar im Ausland für Zimmer-Anlagen – Im Überschwang vergessen dann selbst markt riskiert die deutsche Firma lang- etwa für einen Reaktor zur Polyesterher- gestandene deutsche Manager schon mal fristig eben auch ihre Existenz. stellung. einfache Vorsichtsmaßregeln, etwa bei der Als größter Textilproduzent ist China Machtlos verfolgt der Frankfurter, wie Gründung von Joint Ventures. „Es gibt Ex- auf dem Weg zum Weltmonopol. Chine- chinesische Anbieter sein geistiges Eigen- tremfälle, in denen es Firmen so eilig ha- sische Auftraggeber können Anlagende- tum in Indien, Pakistan, Ägypten und der ben, nach China zu gehen, dass sie nur die signern daher die Bedingungen diktieren. Türkei illegal vermarkten. „Die kennen englische Fassung von Verträgen prüfen Sie zwingen Spezialanbieter wie Zimmer keine Hemmungen“, sagt Krämer. „Wir ha- lassen, nicht aber auch die rechtsverbind- praktisch, mit lokalen Design-Instituten zu- ben so einen chinesischen Reaktor gründ- liche Version im chinesischen Wortlaut“, sammenzuarbeiten und ihnen deutsche lich untersucht, sogar die Schweißnähte sagt Rechtsanwältin Ulrike Glück von der Anlagentechnik zu überlassen. liegen an exakt derselben Stelle. Es gibt Kanzlei CMS Hasche Sigle in Shanghai. Da nützen dem deutschen Anbieter auch null Abweichungen.“ Die Vertreter der deutschen Industrie in keine Geheimhaltungsverträge mit chine- Ähnliche China-Erfahrungen machen China sind meist auf Harmonie bedacht: Ei- sischen Kunden. Im Wettlauf gegen Kopis- immer mehr deutsche Firmen. Die meisten nige Büros schmücken Fotos von Fabrikbe- ten könnte nur handelspolitische Rücken- wollen darüber nicht reden, schon gar nicht suchen der Pekinger Staats- und Parteifüh- deckung aus Berlin oder Brüssel helfen. öffentlich. Sie fürchten, es sich mit ihren rung, deren ökonomische Weitsicht - Doch die gibt es nicht. chinesischen Gastgebern zu verderben – liche Manager gern rühmen. Ein Zitat des Vor etwa vier Jahren wandte sich Krämer und damit von einem boomenden Zu- langjährigen Siemens-Chefs Heinrich von bereits an die deutsche Botschaft in Peking. kunftsmarkt ausgeschlossen zu werden. Pierer, inzwischen Aufsichtsratsvorsitzen- Dort habe er nur höfliche Worte zu hören Der lockt zunehmend ausländische Fir- der des Konzerns, beten viele deutsche bekommen, klagt der Unternehmer. An- men ins Land. Bei der deutschen Han- China-Pilger wie ein Glaubensbekenntnis ders als illegal kopierte Verbraucherware delskammer in Shanghai sprechen Tag für nach: „Das Risiko, in China nicht dabei zu wie DVDs oder Uhren regt der illegale Tag etwa acht Mittelständler vor. Die meis- sein, ist größer als das Risiko, dabei zu sein.“ Nachbau der komplizierten Spezialmaschi- ten haben es sehr eilig, in den verhei- Und es ist ja auch wahr: Auch Winfried nen kaum einen Politiker auf. Wer interes- ßungsvollen Wachstumsmarkt einzustei- Krämer kann es sich nicht leisten, auf dem siert sich in Berlin oder Brüssel schon für

96 der spiegel 7/2005 JUN YING / IMAGINECHINA Textilmesse XU DAN / IMAGINECHINA XU DAN JIN SHIZI / IMAGINECHINA Maschinenbaumesse Risiko, in China nicht dabei zu sein, ist größer als das Risiko, dabei zu sein“

sogenannte Crimper zur Kräuselung von Pakistan, Bangladesch, Hongkong, Thai- ne Bedingung: Er will diesmal nicht mit lo- Polyesterfäden? Doch gerade von solchen land oder in die Türkei verschifft. kalen Design-Instituten zusammenarbei- Maschinen hängen im Exportland Deutsch- Im Reformstaat Indien erhofft sich der ten. „Das gesamte Engineering“, beharrt land Tausende Arbeitsplätze ab. Zimmer-Chef dagegen noch am ehesten er, „muss von uns aus Frankfurt kommen.“ Wie Hohn klingen für Krämer daher eine Chance, die chinesischen Kopisten ju- Ob er sich damit durchsetzt, ist offen. Ratschläge deutscher Politiker, der Mittel- ristisch zu bekämpfen. Vor kurzem erst ver- Die Chinesen verstehen es meisterhaft, ei- stand müsse noch innovativer und schnel- lor er dort einen Auftrag an Abkupferer. nen ausländischen Anbieter gegen den an- ler werden: Die Zimmer AG gibt bis zu Für die Zimmer AG und weitere europäi- deren auszuspielen. Allerdings gibt es auf vier Prozent ihres Umsatzes für Forschung sche Anlagenbauer bedeutete dies einen dem Weltmarkt nur noch eine weitere Fir- und Entwicklung aus. Doch der Kampf ge- Auftragsverlust von 25 Millionen Euro. ma, die ein ähnlich spezielles Know-how gen die Kopisten ist so nicht zu gewinnen. In China selbst sind die Chancen vor anbieten kann. Auch dieser Wettbewerber, „Technologien, die man nur in mehreren Gericht gering. Zwar verschärfte Peking hofft Krämer, könne eigentlich kein Inter- Jahren entwickeln kann, bauen die Chine- auf Druck der USA die Strafen gegen Pro- esse daran haben, seine Technologie aus sen in zwölf Monaten nach“, klagt Krämer. duktpiraten. Aber der Rechtsweg dauert der Hand zu geben. Etwa die Hälfte des chinesischen Mark- oft lange, und die mögliche Entschädigung Langfristig können deutsche Firmen nur tes für seine Anlagen werde bereits von lohnt kaum den Aufwand eines Prozesses. hoffen, dass die Chinesen auch im eigenen Kopien lokaler Design-Institute beherrscht, Selbst der mächtige US-Konzern General Interesse konsequenter vorgehen, um geis- schätzt der Manager. Damit wächst den Motors (GM) zögerte zwei Jahre lang, bis tiges Eigentum zu schützen. Wie wenig sich Deutschen ein gefährlicher Rivale heran: er kürzlich den chinesischen Autobauer selbst heimische Unternehmen unterein- China ist heute schon der viertgrößte Pro- Chery offiziell verklagte. GM wirft Chery ander trauen, erfuhren kürzlich Marktfor- duzent von Maschinen. vor, einen Kleinwagen seiner südkoreani- scher, die im Auftrag des Verbandes deut- Deren Export fördert Peking kräftig. Ob schen Tochter Daewoo kopiert zu haben. scher Maschinen-Hersteller bei chinesi- Original oder Kopie scheint dabei nicht zu Der japanische Autobauer Honda klag- schen Maschinenbauern recherchierten. interessieren, denn die Lieferung illegaler te seit 1997 insgesamt 53-mal gegen Ko- Bereitwillig und voller Stolz überreich- Nachbauten ins Ausland ist ohne Hilfe staat- pien seiner Fahrzeuge, 43 dieser Verfahren ten die Chinesen den Deutschen Kataloge licher chinesischer Banken kaum denkbar. schweben noch. Vor allem in den Provin- mit Bildern ihrer Produkte. In Deutsch- Für seine Exportoffensive wählt China zen sind korrupte Richter oft mit Bossen land dürften die Besucher die Unterlagen vornehmlich Regionen, in denen Klagen lokaler Staatsbetriebe verbandelt. gern verteilen, sagten die chinesischen Bos- wegen der Verletzung geistigen Eigentums Die Zimmer AG will deshalb künftig se. Auf keinen Fall aber dürften sie diese in der Praxis kaum zu befürchten sind. Fast hart bleiben. Derzeit verhandelt Krämer chinesischen Konkurrenten zeigen. die Hälfte aller Textilmaschinen wird nach mit zwei chinesischen Staatsbetrieben. Sei- Wieland Wagner

der spiegel 7/2005 97 Panorama Ausland

POLEN „Ich will aufrütteln“ Der Journalist Bronislaw Wildstein, 53, über die von ihm ver- öffentlichte Liste mit früheren Geheimdienst-Mitarbeitern und die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit

SPIEGEL: Sie haben eine Liste des Instituts für Nationales Erin- nern, eine Art polnische Gauck-Behörde, entwendet und öf- fentlich gemacht – in ihr stehen 240000 Namen von Spitzeln der Staatssicherheit, aber auch von deren Opfern. Was ist mit solch einer spektakulären Aktion für die Aufarbeitung der Stasi-Ver- gangenheit gewonnen?

Wildstein: Ich will aufrütteln. Journalisten sollen in den Akten EASTWAY nachschlagen und feststellen, wer etwas auf dem Kerbholz hat. Wildstein, Anhänger SPIEGEL: Bisher hatte man in Polen versucht, einen – wie es hieß – „dicken Schlussstrich“ unter die Vergangenheit zu ziehen. War das falsch? Wildstein: Die kommunistische Vergangenheit ist längst noch nicht Geschichte. Viele Funktionäre des Sicherheitsdienstes, viele Zuträger sind noch in staatlichen Ämtern, sind Manager, Lehrer oder Journalisten. Die alten Seilschaften haben über- dauert, sie haben korrupte Netzwerke gebildet. Man kann die Vergangenheit nicht einfach totschweigen, um sie loszu- werden. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dass jetzt in Polen ein Klima der ge- genseitigen Verdächtigungen heraufzieht – nicht nur im Be- reich der Politik, sondern auch im Privaten? Wildstein: Übertreiben Sie doch nicht. Dieses Argument führen die Gegner einer Aufarbeitung der Vergangenheit immer ins

Feld. Sie schüren jetzt Panik und warnen vor einem „morali- MOLECKI PIOTR schen Scherbengericht“. Aber das findet doch zurzeit in Polen Institut für Nationales Erinnern in Warschau gar nicht statt. Die Liste ist keine Agentenliste. Wenn je- mand darauf steht, heißt das nicht automatisch, dass er schul- Wildstein: Natürlich besteht die Gefahr des Missbrauchs. Aber die dig ist. Auseinandersetzung mit der Stasi-Vergangenheit wird bei uns SPIEGEL: Aber sie lässt sich doch hervorragend für politische seit der Wende ständig diskreditiert – die Front der Gegner ist sehr Schlammschlachten einsetzen. Wird so nicht der von Ihnen ge- stark. Man darf sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Die polni- forderte Prozess der Aufarbeitung in Misskredit geraten? sche Gesellschaft muss da durch, ich stehe zu meinem Schritt.

dass die Kokainkartelle jetzt auch in Mexiko höchste Regierungsstellen un- terwandert haben – so wie im Drogen- staat Kolumbien. Bis zu 75 Prozent allen Kokains, das für die USA bestimmt ist, wird über die mexikanische Grenze geschmuggelt. Im Norden des Landes befehden sich seit Monaten schon die verschiedenen Dro- genkartelle, um die Oberhoheit über ISRAEL LEAL / AP LEAL ISRAEL JAIME PUEBLA / AP JAIME die Transitwege zu klären. Kartellchef Fox Drogenrazzia in der Küstenstadt Cancún Guzmán Loera, den Sicherheitsexper- ten mit Kolumbiens berüchtigtem Dro- MEXIKO elf Tagen festgenommene Nahúm genboss Pablo Escobar vergleichen, will Acosta Lugo, ein ehemaliger Lehrer aus die konkurrierenden Gangsterorganisa- Spitzel im Palast der Drogenhochburg Sonora, verriet of- tionen entmachten und den gesamten fenbar regelmäßig Details über Fox’ Drogenhandel entlang der Grenze an in Berater von Präsident Vicente Terminplan an Joaquín Guzmán Loera, sich ziehen. Nach der Festnahme des EFox hat womöglich die mächtige Mexikos meistgesuchten Drogenboss. mutmaßlichen Spions haben die Sicher- Drogenmafia des Landes jahrelang mit Dafür zahlte die Mafia ihm angeblich heitsberater von Präsident Fox den Per- vertraulichen Informationen aus dem 100000 US-Dollar. Die Festnahme stärkt sonenschutz für ihn und seine Familie Palast des Staatschefs versorgt. Der vor den Verdacht von Sicherheitsexperten, verstärkt.

der spiegel 7/2005 99 Panorama Ausland

UKRAINE Schwieriger Gast ersucht Russlands Erzfeind Boris VBeresowski, 59, tatsächlich den Sprung zurück auf den Kontinent? Mit seiner Ankündigung aus dem Londoner Exil, den Wohnsitz ausgerechnet nach Kiew zu verlegen, hat der Milliardär je- denfalls für Unruhe im Kreml gesorgt. Der Sohn eines Moskauer Rabbiners, zur Wendezeit 1989 vom mittellosen Mathematikprofessor zum Boss eines

AP Autokonzerns aufgestiegen, hatte in Militär auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens (1999) Russland riesige Privatisierungsgewinne gemacht; 1996 sicherte er mit seinen EU – CHINA war 1989 nach dem Massaker an De- Medien Präsident Boris Jelzin die Wie- monstranten auf dem Pekinger Platz derwahl. Nachfolger Putin profitierte Grüße nach Peking des Himmlischen Friedens beschlossen nicht minder von der Macht des Oligar- worden. Gleichwohl blieb China der chen, bis dieser zur Opposition überlief rüssel zeigt sich unerschütterlich: weltweit größte Waffenimporteur, auch – worauf der Kreml-Chef den einstigen BDie Europäische Union will ihr aus Europa bezog das Land Kriegsgerät. Vertrauten wegen Waffenembargo gegen China aufheben, Noch sträuben sich die neuen EU-Mit- „Veruntreuung von und das trotz Kritik der USA und gegen glieder, allen voran die Polen, gegen Geldern“ verfolgen Vorbehalte eigener Mitgliedstaaten. eine weitere Annäherung an die kom- ließ. Beresowski lan- Womöglich schon Ende März, bei ei- munistische Diktatur in Peking, und dete im Westen, bei nem Treffen der europäischen Staats- auch die skandinavischen Staaten zie- den Briten erhielt er und Regierungschefs, spätestens aber ren sich. Ärger droht zudem vom Eu- politisches Asyl. im Frühsommer soll die Handelssperre ropäischen Parlament. Das hatte kürz- Nun plant der Mann fallen. Ein solcher Beschluss wird der- lich mit breiter Mehrheit gegen „das eine Heimkehr in zeit erarbeitet. Noch vorige Woche hat- falsche Signal“ votiert, so der christso- Etappen. Kiew, für te US-Außenministerin Condoleezza ziale Vizepräsident Ingo Friedrich. Par- den Exilanten eine Rice in Brüssel Europa davor gewarnt, lamentarier von rechts bis links wollen Stadt mit „vertrau- Washingtons „Bedenken nicht ernst zu „die Liebedienerei gegenüber Peking ter Sprache und ver- nehmen“. Die Handelsbeschränkung nun zum großen Thema machen“. trautem kulturellem

Milieu“, bietet sich / RPG BORIS KUDRIAVOV nach dem dortigen Beresowski mit Machtwechsel als Ehefrau Jelena SÜDAFRIKA Zwischenstation an. Zur Inauguration des neuen Präsiden- Cowboys und Gauner ten Wiktor Juschtschenko schickte der Unternehmer bereits Gattin Jelena in er Afrikanische Nationalkongress die Dnjepr-Stadt. Beresowski weiß, dass D(ANC), die legendäre Befreiungs- er den in Moskau ungeliebten Staats- bewegung Nelson Mandelas, gibt sich chef nun zusätzlich in die Klemme äußerst selbstherrlich. Als Ermittler der bringt, denn der müsste ihn gemäß Spezialeinheit Scorpions jetzt Klage ge- einem gültigen Auslieferungsabkommen gen 33 gegenwärtige und ehemalige umgehend dem Kreml überstellen.

ANC-Abgeordnete ankündigten, rea- / REUTERS MUNOZ EDUARDO Juschtschenkos Justizminister, Roman gierte Fraktionsführer Mbulelo Goniwe Tutu Swaritsch, hält die Sache denn auch für ungnädig: Die Fahnder würden seine „reichlich kompliziert“. Andererseits, Parlamentarier verunglimpfen und sie buckelei“ und „Konformismus“. Etwa so argumentiert er, sei auf den „politi- wie „Cowboys und Gauner“ aussehen gleichzeitig flog eine weitere Affäre auf: schen Flüchtling“ die Genfer Konven- lassen. Den Politikern wird vorgewor- ANC-Sprecher Smuts Ngonyama hatte tion anwendbar – und internationales fen, Flug-Coupons veruntreut und das versucht, sich einen üppigen Anteil der Recht besäße gegenüber bilateralen Geld in Luxushotels durchgebracht zu südafrikanischen Telkom anzueignen. Vereinbarungen allemal „Priorität“. Für haben. Bereits im November hatte Erz- Oppositionspolitiker wie Helen Zille Beresowski muss das wie eine Einla- bischof Desmond Tutu gegen Kunge- von der Demokratischen Allianz war- dung klingen, für den Kreml aber als leien in der Regierungspartei gewettert. nen schon seit langem vor dem auto- Provokation. Erst vorige Woche hatte Das Programm zur stärkeren Einbezie- ritären Gebaren des ANC. Die Partei der Unternehmer, der auch Jelzins hung der Schwarzen in die Wirtschaft baue ein System der Patronage auf und Tschetschenien-Beauftragter war und würde nur die Kumpel aus dem inneren setze staatliche Ressourcen wie die Ver- exzellente Beziehungen in die Kauka- ANC-Zirkel reich machen; der Natio- gabe öffentlicher Aufträge ein, um sich susberge unterhält, für Nervosität in nalkongress, der mit einer Zweidrittel- Wählerstimmen zu sichern: „Der ANC Moskau gesorgt – mit seiner Bemer- mehrheit unangefochten regiert, betrei- ist dabei, Südafrika in einen Ein-Partei- kung, die Separatisten hätten bereits be Vetternwirtschaft, belohne „Katz- en-Staat zu verwandeln.“ eine tragbare Kernwaffe in ihrem Besitz.

100 der spiegel 7/2005 Titel

DPA Diktator Kim, Offiziere bei Lagebesprechung: „Wir haben Kernwaffen zur Selbstverteidigung entwickelt“ Der Tyrann und die Bombe Nuklearwaffen als Mittel der Politik: Mit der hochfahrenden Erklärung, sein Land sei Atommacht, löste Kim Jong Il eine internationale Krise aus. Amerika und China versuchen, den irrlichternden Diktator zur Räson zu bringen. Aber was bezweckt er mit seiner Provokation?

jöngjang putzt sich festlich heraus: teuer und kostete jahrelange Mühen, aber weist, dass nur mächtige Stärke Gerech- Am Mittwoch dieser Woche wird gerade deshalb sollten unbedingt alle Un- tigkeit und Wahrheit schützen kann.“ Es PNordkoreas Diktator Kim Jong Il 63 tertanen an der frohen Kunde teilhaben: klang wie eine Kriegserklärung an den Rest Jahre alt, und aus diesem Anlass sollen die Der letzte stalinistische Herrscher ließ sein der Welt. Untertanen ihren „lieben Führer“ mit Tän- Hungerreich vor aller Welt zur stolzen Eigentlich hatte die Woche weltweit sehr zen und Liedern ehren. Und sauber müssen Atommacht ausrufen. harmonisch begonnen: Im Fernen Osten sie sein: Ihre Haartracht, so verordnete der „Wir haben Kernwaffen hergestellt, zur begingen die Menschen mit Feuerwerk das Allmächtige in einem Erlass, dürfe nicht Selbstverteidigung, um mit der immer un- chinesische Neujahr, im Nahen Osten länger als sieben Zentimeter lang sein. verhohleneren Politik der Bush-Regierung reichten sich Israelis und Palästinenser die Doch das größte und schönste Geschenk fertig zu werden“, erklärte in martiali- Hände für einen neuen Anlauf zum Frie- bereitete sich der göttliche Jubilar vergan- schem Ton ein Sprecher des Außenminis- den. Im „alten Europa“ söhnte sich Ame- gene Woche bereits höchstselbst. Es war teriums. „Die gegenwärtige Realität be- rikas neue Außenministerin Condoleezza

104 der spiegel 7/2005 Rice, stets charmant, mit den erbittertsten Gegnern des Irak-Kriegs aus, mit Deutsch- land und Frankreich. Atomare Anfänge, denen vielleicht kein großer Zauber innewohnt, aber Anfänge, im- Bedrohung merhin. CHINA Doch kurz bevor Rice wieder das Flug- zeug zurück nach Washington bestieg, hol- te sie und die Welt der katastrophale All- Reichweite der tag ein. Mit der offiziellen Bestätigung, er Rodong-1-Rakete: Peking besitze bereits Nuklearwaffen, schickte der 1300 Kilometer NORDKOREA Diktator im verhärmten, abgeschotteten Pjöngjang Nordkorea eine Schockwelle durch die JAPAN Hauptstädte von Washington über Tokio und Moskau bis Berlin. Im amerikanischen SÜDKOREA Länder mit amerikani- Außenministerium sprach man sogar von schen Stützpunkten einem „diplomatischen Atomschlag“. Die Welt ist daran gewöhnt, dass Dikta- toren entschieden leugnen, wenn sie Atom- Okinawa bomben bauen wollen. Sie ist nicht daran gewöhnt, dass sich ein Tyrann wie Kim Jong Il offen rühmt, die Bombe zu besit- Truppenstärken Stationierte US-Soldaten zen. Ein Novum, ein Affront. Was soll das? Der Steinzeit-Kommunist begründet sei- NORDKOREA 1 106 000 TAIWAN SÜDKOREA 34 500 nen atomaren Ehrgeiz als pure Gegenwehr: SÜDKOREA 687 700 JAPAN 43 550 Die Bombe diene „in jedem Fall“ der Ab- Guam schreckung. Denn das mehr und mehr feindlich gesinnte Amerika hege die Ab- JAPAN 239 900 GUAM 4400 sicht, sein Land „zu isolieren und zu er- sticken“. Er wolle deshalb „die Ideologie und das Staatssystem schützen“. Die Regierung in Washington zeigte sich am wenigsten überrascht. Präsident Bush hatte in den vergangenen Wochen zwei Emissäre nach Seoul, Tokio und Peking entsandt. Dort sollten sie Beweise vor- legen, dass Kim über die Bombe verfügt: Nordkorea hatte angeblich Libyen nuklea- res Material geliefert. Außerdem gab es US-Geheimdienst-Informationen über ein „Zwillingsprogramm“ Pjöngjangs zur Her- stellung von Nuklearwaffen aus Plutonium und hochangereichertem Uran. Deshalb ist kaum anzunehmen, dass Kim Jong Il zu ei- nem Bluff gegriffen hat. Dem Mann muss man Glauben schenken. Nordkorea gegen Amerika – das ist eine besonders absurde Variante des David- gegen-Goliath-Duells. Doch wie nebenbei stieß der seltsame Diktator auch noch das verbündete China vor den Kopf. Denn die kommende Weltmacht war bislang der Gastgeber der sogenannten Sechserrunde, zu der noch die USA, Russland, Japan und

Südkorea gehören. Die fünf bemühten sich / GETTY IMAGES / US NAVY CHUCK HILL mit einiger Geduld, den sechsten, Nord- US-Präsident Bush beim Besuch der Marinebasis Mayport*: „Ich verabscheue Kim“ korea, zur Räson zu bringen. Vergebens, weil Kim Jong Il es anscheinend anders will. Nordkorea weiterhin davon überzeugen, chen jene Diktatoren Gebrauch, die der Aus Vorsicht reagierte die Weltmacht dass es in seinem Interesse liegt, die nu- amerikanische Präsident in seiner berühm- Amerika eher gemessen auf die Provoka- klearen Waffen aufzugeben.“ ten Formel „Achse des Bösen“ vereinte: tion. Rice, die ihre erste Krise im neuen Wohlgesetzte Worte. Allein der Staats- Bagdad, Teheran, Pjöngjang. „Einer weg, Amt erlebt, sagte milde, sie hoffe, Nord- sekretär im US-Außenministerium, John zwei noch wegzuräumen“, titelte das „Wall korea werde zur Diplomatie zurückkeh- Bolton, sprach aus, was viele befürchten: Street Journal“, als der Regimewechsel im ren. Sie fügte hinzu, was Amerika schon „Die Zeit spielt gegen uns.“ Irak vollzogen war. mehrmals öffentlich zugestanden hat: An Die neue Welt-Unordnung nach dem Dabei provoziert die Ausrufung der einen Angriff auf das kommunistische Re- 11. September 2001 hat den Krieg als Mit- Schurkenstaaten Iran und Nordkorea eine gime werde in Washington nicht gedacht. tel der Politik zurückgebracht. Noch ge- paradoxe Wirkung, die George W. Bush Auch der japanische Premier Junichiro fährlicher aber ist die Wiederkehr der Koizumi gelobte Hartnäckigkeit: „Ich will Bombe als Mittel der Politik. Davon ma- * Am 13. Februar 2003 in Jacksonville, Florida.

der spiegel 7/2005 105 Titel nicht abgesehen hat. Saddam Hussein auftauchte, ließ er seine Einsichten aus konnte der angloamerikanischen Invasion dem Regimewechsel in Bagdad über Radio wenig entgegensetzen, weil er, anders als Pjöngjang verkünden: Wenn die Imperia- befürchtet, nicht im Besitz von Massen- listen glaubten, „dass wir uns auf Entwaff- vernichtungswaffen war. Iran und Nord- nung einlassen, irren sie sich gewaltig“. korea zogen daraus eine klare Schluss- Bomben machen unverwundbar, wer sie folgerung: Sicherheit vor Regimewechsel hat, ist vor Invasionen geschützt: Das ist bietet die Bombe. Sie, und nur sie allein ga- das Resümee dieses Diktators, dessen Land rantiert die Existenz der Diktatoren und nicht zu Unrecht als „Vorposten der Ty- der Diktaturen. rannei“ bezeichnet wird. So hat es erst Iran ist vermutlich auf schnellem Weg zu Condoleezza Rice gesagt und dann der nuklearen Waffen, aber noch drei bis fünf Präsident wiederholt. Bush macht aus sei- Jahre entfernt vom Ziel. Der Mullah-Staat ner Verachtung für den merkwürdigen spielt deshalb ein kompliziertes Spiel: Diktator keinen Hehl: „Ich verabscheue BOMBEN MACHEN UNVERWUNDBAR. WER SIE HAT, IST VOR INVASIONEN GESCHÜTZT – SO DENKEN DIKTATOREN WIE KIM. einerseits bereit zu Verhandlungen mit den Kim Jong Il. Der Kerl dreht mir die Einge- Europäern, denen Amerika die Diplomatie weide um, weil er sein Volk verhungern überlässt – andererseits Gesten der Ent- lässt“, zitiert ihn Bob Woodward in seinem schlossenheit, man dulde keine Einmi- Irak-Buch „Plan of Attack“. schung in nationale Belange. Allerdings ging Bush im Grunde in Weil die Mullahs noch nicht haben, was falscher Reihenfolge vor. Er begann seinen sie haben wollen, droht die Weltmacht Feldzug gegen die Tyrannen am schwächs- Amerika mit Vergeltung. Präsident Bush ten Punkt, Saddam Hussein. Er konzen- hat sich darauf festgelegt, dass er neben triert sich nun auf Iran. Kim Jong Il aber ist Israel keine zweite Nuklearmacht in dieser das gefährlichste Exemplar eines Diktators, Weltgegend dulden werde. Einen militäri- der Nukleartechnik besitzt und an zahlen- schen Schlag gegen nukleare Produktions- de Kunden weiterverkauft. Eine durch- anlagen behält er sich als Option vor. dachte Nordkorea-Strategie war zudem in Was Iran noch nicht hat, besitzt Nord- Washington lange Mangelware und ist es korea offenbar schon. Ausgerechnet Nord- immer noch. Vom „gefährlichsten Versagen korea: ein Land wie nicht von dieser Welt, der US-Politik“ spricht denn auch die Kim-Il-Sung-Denkmal im Zentrum von Pjöngjang: ein Diktator wie nicht aus diesem Jahr- „New York Times“. hundert, ein Anachronismus in jeder Hin- Anders als das Pulverfass Nahost ist immer stehen sich 1,8 Millionen Soldaten sicht – ideologisch, politisch und öko- Ostasien eigentlich eine relativ befriedete am 38. Breitengrad gegenüber. Als das nomisch. Weltregion. Das ist ein Ergebnis des Kalten sowjetische Imperium zusammenbrach, Kim Jong Il ist nicht nur aus amerikani- Krieges, der dort allerdings noch nicht flammte Hoffnung auf Vereinigung der scher Sicht der Inbegriff des Schurken, weil vorüber ist. Die Teilung Koreas geht auf beiden Koreas auf, nach deutschem Vor- er sein 22-Millionen-Volk auspresst, aus- den Krieg 1950 bis 1953 zurück, als Ameri- bild. Doch diese Illusion ist fürs Erste zer- hungert und dem Ehrgeiz seines Vaters ka mit Unterstützung der Uno die Einver- stoben. ruchlos frönt, die Bombe zu besitzen, um leibung der gesamten Halbinsel durch Mit dem Status quo in Asien wäre es Amerika von einem Angriff abzuschrecken. die Kommunisten verhinderte, die Chinas wahrscheinlich vorbei, wenn Nordkorea Als Saddam Hussein von der Macht las- Mao Zedong militärisch unterstützte. Noch Nuklearwaffen besitzt und behalten will. sen musste, verschwand Kim Jong Il für 50 Japan würde zwangsläufig seine atomare Tage aus der Öffentlichkeit. Als er wieder AP Abstinenz aufgeben und aufrüsten, genau- Chronik einer auserkoren, übernimmt Aufgaben in Partei- geteilten Nation und Staatsführung 1948 1991 Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Nord- und Südkorea werden in die Uno aufgenom- Weltkriegs installiert die Sowjetunion die men. Ein Jahr später erlaubt Pjöngjang Inspektio- Demokratische Volksrepublik Korea unter nen durch die Internationale Atomenergiebehörde Führung von Kim Il Sung (IAEA), verweigert aber den Zugang zu nuklearen 1950 Produktionsstätten Während des beginnenden Bürgerkriegs 1994 marschieren kommunistische Truppen in US-Soldaten im Korea-Krieg, 1951 Kim Il Sung stirbt. Sein Sohn übernimmt die den Süden ein; China, die USA und die Führung und erlaubt Kontrollen des Nuklear- Uno schicken Hilfstruppen 1972 programms im Gegenzug für Milliarden-Dollar- 1953 Erste Geheimgespräche zwischen den verfein- Erdöllieferungen und zwei zivile Atomreaktoren deten Parteien Der Waffenstillstand von Panmunjom beendet 1996 den Krieg, der fast zwei Millionen Opfer koste- 1979 Schwere Hungersnöte nach Dürren und te. Korea wird am 38. Breitengrad geteilt Kim Jong Il, als Nachfolger seines Vaters verheerenden Überschwemmungen AP 106 der spiegel 7/2005 umphbogen, höher als der von , und eines der größten Fußballstadien der Welt. Hier lässt sich der große Führer von seinen Massen bejubeln. Die Untertanen sind Sta- tisten, fast wie in einem seiner vielen bun- ten Revolutionsfilme. Die übrige Welt ist das Publikum, das zusehen darf, wie der stalinistische Überlebenskünstler seine bis- lang gefährlichste Rolle inszeniert: als ato- mar bewaffneter Herausforderer der allein verbliebenen Supermacht USA. Die rätselhafte Aura gehört zu seinem Personenkult. Bis zum historischen Nord- Süd-Gipfel mit Südkoreas Präsident Kim Dae Jung im Juni 2000 hatte die Welt den Diktator nur einmal im Originalton ver- nommen, als er mit verrauchter Stimme von der Ehrentribüne des Stadions in Pjöngjang den Satz schmetterte: „Ruhm der Volksarmee!“ Jahrelang kursierten von Kim höchstens verschwommene Fernsehbilder, so etwa anlässlich der Trauerfeier für seinen 1994 verstorbenen Vater, Nordkoreas Staats- gründer Kim Il Sung. Den wohlgenährten Bauch in einen zu knappen, dunklen An- zug gepresst, lugte ein offenkundig men- schenscheuer Thronerbe durch seine große Brille. Als der Sohn anschließend für drei so- genannte Trauerjahre in der Versenkung verschwand, spekulierte das Ausland schon über das Ende der Kim-Dynastie. Erst 1997

ANDREAS TAUBERT / BILDERBERG TAUBERT ANDREAS trat er als Generalsekretär der Arbeitspar- Der „große Führer“ als stalinistischer Überlebenskünstler tei das Erbe an. Auf das Amt des Präsi- denten verzichtete Kim und überließ es so wie Südkorea. Die Region geriete aus lich: ein verrückter Spieler, ein eiskalter auf ewig dem toten Vater. der Balance. Ein neuer Nuklearwettlauf Stratege oder ein genialer Staatsmann? Aber auch nach seiner Inauguration zog wäre die Folge, ein neuer Kalter Krieg mit Er sieht sich als Auserwählter, als Him- er es zunächst vor, im Hintergrund die Fä- altvertrauten Gegensätzen: Japan und melsgeschenk an sein Volk, als Genie, das den zu ziehen. Das Ausland musste sich mit China, Rivalen über Jahrhunderte hinweg; zugleich der größte Architekt, der größte alten Geschichten und neuen Gerüchten Amerika in Allianz mit Japan und Süd- Opernkomponist und der größte Filmre- begnügen, einer langen Liste von Aus- korea hier – China und Nordkorea dort. gisseur aller Zeiten ist. Wahn und Wirk- schweifungen und finsteren Machenschaf- Das Gleichgewicht der Kräfte könnte lichkeit fließen nahtlos ineinander. ten. Die Gewährspersonen waren nicht ausgerechnet Kim Jong Il aus den Fugen In der Hauptstadt über jegliche Zweifel er- bringen. Aber was ist der bizarre Herr- Pjöngjang, die von Mo- haben. scher mit dem toupierten Haar und dem numentalbauten nur so Da erschien Kim als meist schlammfarbenen Mao-Outfit wirk- strotzt, gibt es einen Tri- Lebemann, der sich in TASS / REUTERS TASS

Kim Jong Il und Wladimir Putin 1998 in Moskau, 2001 2003 Kim Il Sung wird posthum zum „ewigen Präsiden- Der Norden stellt seine Nordkorea erklärt im ten“ erhoben, Kim Jong Il De-facto-Staatsober- aggressive Propaganda ein, Januar den Austritt aus haupt. Nordkorea feuert eine Rakete über Japan der Süden amnestiert 3500 dem Atomwaffensperr- hinweg in den Gefangene, 100 Nordkoreaner vertrag und behauptet Pazifik besuchen ihre Familienangehörigen im sieben Monate später, es besitze genug 2000 Süden. US-Außenministerin Madeleine Plutonium für die Produktion von sechs Albright reist nach Pjöngjang Atombomben Entspannung nach dem 2001 2004 Gipfeltreffen Nach einer neuntägigen Zugfahrt trifft Kim Jong Il Nach der dritten Runde der Sechs-Nationen- in Pjöngjang zum Staatsbesuch in Moskau ein Gespräche (Nord- und Südkorea, China, zwischen Kim 2002 Russland, Japan, USA) sagt Pjöngjang das Jong Il und für September geplante Treffen ab Präsident Bush bezeichnet Nordkorea zusammen Südkoreas 2005 Präsident Kim mit Irak und Iran als „Achse des Bösen“. Die Dae Jung: USA stoppen ihre Hilfslieferungen, nachdem Nordkorea erklärt seinen Rückzug aus Pjöngjang zugegeben hatte, es habe sein Atom- allen Verhandlungen über sein Nordkoreanerin beim Besuch ihrer Mutter programm heimlich weiterbetrieben. Nordkorea Nuklearprogramm in Südkorea, 2000 verweist die IAEA-Inspektoren des Landes AP der spiegel 7/2005 107 KATSUMI KASAHARA / AP KASAHARA KATSUMI Nordkoreanisches Frauenbataillon bei einer Parade (2002): „Wir haben wie die USA das Recht auf Präventivkriege“ jungen Jahren in Pjöngjang angeblich mit sich zu bestätigen, dass der klamme Dikta- Nordkoreaner, so erzählte ein tiefbeein- langbeinigen skandinavischen Blondinen tor sein Land wie ein Mafia-Boss regiert. druckter südkoreanischer Staatspräsident vergnügte. Dann war da Kim, der Ver- Vom Drogenschmuggel, ausgeführt auch Kim Dae Jung später, sei ihm als eine Per- rückte, der nachts durch die Hauptstadt von Kims Diplomaten, über die Fälschung son mit „gesundem Menschenverstand“ fuhr und mit der Pistole zum Spaß auf von Dollar-Noten bis zum Waffenexport ist erschienen. Mit einem Schlag war der Straßenlaternen geballert haben soll. Und ihm offenbar kein Geschäft zu schmutzig. Potentat für viele nur noch „Mr. Nice da war Kim, der Herrscher über ein dar- Doch dann, im Juni 2000, überraschte Guy“. Er selbst glaubte allen Ernstes, er bendes Volk, der mehr Hennessy-Cognac Kim die Welt in einer ganz neuen Rolle – habe sich als moderater, internationaler kaufte als jeder andere Privatkunde und in als jovialer Gastgeber und Diplomat. Der Staatsmann Anerkennung verschafft. der schlimmsten Not der Nation nichts Umso mehr muss es Wichtigeres zu tun hatte, als 200 S-Klasse- ihn geärgert haben, dass Mercedes im Wert von 20 Millionen Dollar Angaben 2003 CHINA nicht er, sondern sein zu bestellen. Bevölkerung 22,5 Mio. Widerpart in Seoul im Und da war das Kim-Regime, dem Dezember 2000 den Frie- Bruttosozialprodukt 18,4 Mrd. $ schwere Verbrechen zur Last gelegt wer- densnobelpreis erhielt. den. 1974 ermordete ein Auslandskorea- BSP pro Kopf 818 $ Chongjin Dabei hatte Kim Jong Il ner die Gattin von Südkoreas damaligem Militärausgaben am BIP 25 Prozent bereits Hunderttausende Präsidenten Park Chung Hee. 1983 soll Handelsbilanzdefizit 837 Mio. $ Untertanen zum Jubeln Kim Jong Il, damals Geheimdienstchef von an die Straßenränder Papas Gnaden, in Burmas Hauptstadt Ran- Chonma Hagap beordert. gun ein Attentat angezettelt haben, bei NORDKOREA Für die Enttäuschung dem mehrere südkoreanische Minister um- revanchierte er sich auf Yongbyon kamen. Und 1987 starben 115 Insassen Taechon Reaktor seine Weise. Sein Ver- einer Korean-Airlines-Maschine, die mit sprechen zu einer Ge- Pakchon einer Zeitzünderbombe von zwei Agen- Reaktor im Bau genvisite in Seoul hielt er Pjöngjang ten des Nordens in die Luft gesprengt Wonsan Wiederauf- nicht ein. Und Kim Dae wurde. arbeitung Jung musste später zuge- Im September 2002 gestand Kim Jong Il Urananreiche- ben, dass er das Treffen Japans Premier Junichiro Koizumi, Nord- Gelbes Haeju Panmunjom rung (möglicher mit seinem Kontrahen- Meer unterirdischer korea habe seit den siebziger Jahren japa- SÜDKOREA Standort) ten im Norden mit min- nische Staatsbürger zu Spionagezwecken destens 300 Millionen entführt. Und je mehr einstige Vertraute 100 km Seoul Dollar an Geldgeschen- aus Kims Reich flohen, desto mehr schien ken buchstäblich erkauft

108 der spiegel 7/2005 AP Antiamerikanisches Propagandaplakat zur „Bestrafung des US-Imperialismus“: Martialische Geltungssucht hatte – wenige Tage vor dem Ende seiner ren gefallen oder gefangen. Die Kim-Krie- Kims martialische Geltungssucht, ge- Amtszeit entschuldigte er sich dafür. ger zahlten zwar einen mindestens ebenso nährt aus fast schon krankhafter Angst ums Derzeit erlebt die Welt gerade wieder hohen Blutzoll, aber zugleich errangen sie eigene Wohlbefinden, hat wohl auch per- den alten Kim, den Desperado, der wie einen symbolischen Etappensieg, von dem sönliche Gründe. Schon körperlich lässt schon Anfang der neunziger Jahre mit sich ihr Selbstbewusstsein noch heute der 1,60 Meter kleine Diktator kaum eine atomarer Aufrüstung droht. nährt. Sie trieben die zunächst kopflos flie- Gelegenheit aus, sich aufzuplustern. Mit Denn so abrupt er auch die Rollen henden Südkoreaner und verbündete US- Vorliebe trägt er hochhackige Schuhe. wechselt, seinem Hauptziel, der Dynas- Truppen bis zum äußersten Südosten der Auch durch seine geföhnte Frisur macht er tie einen blutigen Untergang zu ersparen, Halbinsel, bis dicht vor Pusan. sich größer, als er ist. Als Junge litt Kim darunter, im Schatten des charismatischen DAS HEROISCHE VORBILD DES VATERS ERMUTIGT KIM Vaters zu stehen. Seine Position als Thron- folger war längst nicht so sicher, wie er OFFENBAR DAZU, DIE USA IMMER WIEDER ZU PROVOZIEREN. glauben machen will. Kim kam in einem sowjetischen Militär- ordnet Nordkoreas Führer alles andere Mit Verzögerung, aber umso zorniger lager nahe Chabarowsk im fernen Osten unter. schritten die USA zur Gegenattacke. Zu- der UdSSR zur Welt, und seine Jugend war Das aggressive Draufgängertum erbte nächst eroberte General Douglas Mac- alles andere als glücklich. Nachdem seine Kim von seinem Vater, dem „großen Füh- Arthur Seoul zurück, das der Norden zu- Mutter 1949 gestorben war, litt der Sohn rer“ Kim Il Sung (1912 bis 1994). Schon vor in Schutt und Asche gelegt hatte. We- unter den Intrigen der herrschsüchtigen der Senior zettelte mit dem Korea-Krieg nig später besetzte er Pjöngjang und führ- Stiefmutter Kim Song Ae, die einen eige- von 1950 bis 1953 eine Krise an, wie sie die te seine Truppen weiter bis an den Fluss nen Spross zum Erben heranziehen wollte. übrige Welt diesmal auf jeden Fall ver- Yalu. Mit diesem Vorstoß provozierte Ame- Kim wuchs praktisch ohne Mutter auf, der hindern will. Mit seinem von Stalin ge- rika das Reich der Mitte. Im November autoritäre Vater beachtete ihn kaum. billigten Angriff auf den Süden im Juni schickte Mao Zedong 180 000 Mann zur Erst um 1974 gelang es ihm nach inter- 1950 brachte er die Atommächte USA und Gegenoffensive. Am Ende mussten die nen Machtkämpfen endgültig, seinen An- UdSSR an den Rand eines dritten Welt- USA bis zum 38. Breitengrad zurückwei- spruch auf die Nachfolge zu sichern. Zwei kriegs. chen. Bis heute haben die beiden Koreas Jahre zuvor war aus einem nordkoreani- Damals erlebten die von der Invasion keinen Friedensvertrag geschlossen. schen Lexikon der Vermerk getilgt wor- völlig überraschten USA ihr erstes mi- Das heroische Vorbild des Vaters ermu- den, wonach es sich bei „Erbfolge“ um litärisches Debakel nach dem Sieg im Zwei- tigt Kim offenbar dazu, die USA immer eine reaktionäre Praxis ausbeuterischer ten Weltkrieg. Kaum eine Woche nach dem wieder zu provozieren. Mit hochexplosi- Systeme handele. Angriff war die südkoreanische Armee zer- vem Pokerspiel versucht er, seinen Erzeu- Zunächst leitete Kim den Geheimdienst, schlagen – 44000 von 98000 Soldaten wa- ger an Tollkühnheit zu übertreffen. und auf diese Weise soll er schon in den

der spiegel 7/2005 109 Titel KATSUMI KASAHARA / AP KASAHARA KATSUMI Waffenstillstandsort Panmunjom am 38. Breitengrad, Masseneinsatz beim Dammbau, unterernährte Kinder (1997): Der allmächtige Diktator achtziger Jahren de facto zum Herrscher Hongkong die südkoreanische Schauspie- Unter der Herrschaft Kim des Zweiten über Nordkorea aufgestiegen sein. Gleich- lerin Choi Un Heu entführen und einige beschleunigte sich Nordkoreas Niedergang wohl spürte er wohl stets den Druck, sich Monate später auch den Regisseur Shin dramatisch. Kaum zu glauben, dass der dem Vater beweisen zu müssen. Den hatten Sang Ok. Erst Jahre später konnten beide Norden industriell anfangs viel weiter ent- die Sowjets zum Partisanen gegen die Kolo- fliehen. wickelt war als der traditionell ärmere Sü- nialmacht Japan ausgebildet und nach dem Die Titel von Kims Revolutionsschinken den: Erst Ende der sechziger Jahre wurde Zweiten Weltkrieg praktisch als Führer im klingen wie Phrasen aus Pjöngjangs tägli- Nordkoreas kommunistisches Auslaufmo- Norden installiert, während der Junior kei- chen TV-Nachrichten: „Meer des Blutes“ dell vom kapitalistischen Südkorea ab- ne militärischen Erfolge vorweisen konnte. oder „Der unsterbliche Soldat“. Aus Kino- gehängt. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR räumte Kim dem Rüstungssektor DIE MILITÄRISCHE VERTEIDIGUNG IST IN NORDKOREA Priorität ein: Die militärische Verteidigung ist in Nordkorea wichtiger als die Basis- WICHTIGER ALS DIE GRUNDVERSORGUNG DER MENSCHEN. versorgung der Bürger. Der wirtschaftliche Abstieg zeigte sich Dieses Manko versuchte Kim als Propa- filmen bezieht Kim auch viele Eindrücke schon Ende der achtziger Jahre allenthal- ganda-Experte wettzumachen. Der auch für über den Westen, vor allem über die ver- ben. Weil sich Pjöngjang mit dem Sowjet- die schönen Künste zuständige Hobby-Re- hassten US-Imperialisten. Angeblich besitzt KP-Chef Michail Gorbatschow wegen des- gisseur stellte sein Faible in den Dienst des er 20000 Videos, besonders mag er den Hor- sen Perestroika-Reformen überwarf, stock- Regimes. Noch zu Lebzeiten des „großen rorstreifen „Freitag, der 13.“ sowie James- te die Versorgung durch den einstigen Führers“ baute er in allen kulturellen Be- Bond-Filme. Gegen „Stirb an einem anderen Bundesgenossen mit Rohstoffen und drin- reichen – Musik, Film, Architektur, Erzie- Tag“ ließ er allerdings Protest einlegen: Die gend benötigten Ersatzteilen. Sogar in hung – einen imposanten PR-Apparat auf. Bösewichter im Film waren Nordkoreaner. der elitären Volksverteidigungsakademie Vom Kino ist Kim geradezu besessen. Unermüdlich versucht Erbfolger Kim, in mussten die Studenten frieren. Wegen der Am Rande Pjöngjangs unterhält er deshalb die Fußstapfen des legendären Vaters zu Kälte legten sie sich schon tagsüber mit ein riesiges Studio. In diesem stalinisti- treten. Doch das fällt ihm schwer. Der Schnaps ins Bett, berichtet ein nach Süd- schen Hollywood herrscht der Liz-Taylor- Staatsgründer, dessen Porträt nach wie vor korea geflohener ehemaliger Leibwächter Fan gleichsam über die ganze Welt, vom ja- überall neben dem des Sohnes hängt, Kims. Nur ein Raum zum Studium der panischen Straßenzug bis zum britischen konnte sich immerhin rühmen, in seinen Lehren der beiden Kims sei stets geheizt Landhaus. Stolz erläutern Touristenführer, ersten Amtsjahren die Grundbedürfnisse gewesen. zu welchen Streifen der „liebe Führer“ Re- der Untertanen wie Kleidung, Ernährung, Seit Mitte der neunziger Jahre wird Kims gie-Anweisungen gab. Wohnen gesichert zu haben. Dagegen hat unwirtliches Reich auch noch verstärkt von Für sein Hobby scheute er nicht einmal der Junior vorwiegend Misserfolge vorzu- Überschwemmungen und Dürren heimge- vor Verbrechen zurück. 1978 ließ er aus weisen. sucht. Der allmächtige Diktator erwies sich

110 der spiegel 7/2005 GAMMA / STUDIO X (L.); KILCULLEN / TROCAIRE / CORBIS SYGMA (R.) / CORBIS SYGMA / TROCAIRE X (L.); KILCULLEN / STUDIO GAMMA erwies sich als unfähig, sein System zu reformieren

jedoch als ebenso unfähig wie unwillig, sein das große Ziel der Weltgeltung zu errei- der Islam-Staaten und der Dritten Welt System zu reformieren. Stattdessen riegelte chen, seinen Lebenstraum: die Atombom- generell etwas gegen die Großen Fünf er viele Notstandsgebiete einfach von der be. Die Waffe, die 22 Millionen Nordkore- (USA, Sowjetunion, China, Großbritan- Außenwelt ab. Ab 1995 ließ er schätzungs- aner (Sozialprodukt pro Kopf und Jahr: nien, Frankreich) in die Hand geben woll- weise rund zwei Millionen Untertanen ver- gut 800 Dollar) mit 290 Millionen Ameri- te; ein Mann, der auch für Geldgeschenke hungern. Unter den Überlebenden wächst kanern (35 400 Dollar) auf Augenhöhe sehr empfänglich war. eine Generation körperlich schwacher und bringt. Seine Kenntnisse hatte sich der hochbe- geistig zurückgebliebener Kinder heran. Auf offiziellem Weg ging da wenig – gabte Wissenschaftler übrigens in Berlin Auch wenn sich hier und da Widerstand zwar hatte der große Bruder Sowjetunion und den Niederlanden erworben, wo er regt, muss Kim doch kaum Aufstände dem „großen Führer“ den Forschungs- 1983 zunächst wegen Industriespionage in fürchten. Zwar fliehen immer mehr Un- reaktor Yongbyon („Object 9559“) gebaut, Abwesenheit zu vier Jahren Haft verur- tertanen über China in den Süden – neu- der 1965 seinen Betrieb aufnahm. Pjöng- teilt worden war, 1985 jedoch in der Beru- erdings auch privilegierte Parteikader und jangs Wissenschaftler brachten sich in fungsverhandlung wegen eines Formfeh- hochrangige Armeeoffiziere. Aber der Dik- Moskau und bei der Internationalen lers freigesprochen wurde. tator hält sein Land eisern im Griff. Selbst Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) auf Um Khan und sein „Forschungslabora- wer nur Verwandte im Nachbardorf besu- den neuesten Kenntnisstand. Nordkorea torium Rawalpindi“ herum entwickelte chen möchte, muss vorher einen Antrag hatte sich 1985 als Mitunterzeichner des sich ein Schwarzmarkt des Schreckens, stellen. Atomwaffensperrvertrags dazu verpflich- dessen Ausmaße bis heute nicht völlig ge- Nordkoreas Nachbarn wollen einen Kol- tet, die Kernkraft ausschließlich zivil zu klärt sind und in dem auch deutsche „To- laps schon aus eigenem Interesse unbe- nutzen. deshändler“ mitwirkten (siehe Seite 115). dingt verhindern. Das weiß Kim, und dar- Aber es gab zum Glück für die Größen- Im Zentrum dieses Atombasars stehen ne- auf setzt er mit seiner Politik der kühl in- wahnsinnigen von Pjöngjang auch anders- ben dem Urheberland Pakistan: Iran, Li- szenierten Drohungen. wo auf der Welt Interessierte, die aus dem byen – und Nordkorea. So besessen Kim Jong Il darauf achtet, Club der atomaren Habenichtse ausbre- Westliche Geheimdienste sind sich heu- dass die Bürger Nordkoreas wie auf einem chen und die Bombe bauen wollten. te sicher, dass die geheimen Deals zwi- fremden, mittelalterlichen Stern leben und Israel schaffte es in den sechziger Jahren schen Pakistan und Pjöngjang schon Ende so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt wohl weitgehend aus eigener Kraft, spä- der Achtziger begonnen haben. Khan lie- aufnehmen können, so sehr achtet er selbst ter auch Indien. Interessanter für Pjöngjang ferte demnach wesentliche Bestandteile auf Internationalität – zumindest in einer war, dass in Pakistan ein Mann an der für den Atombombenbau: Hochgeschwin- Beziehung: wenn es um Massenvernich- ultimativen Waffe bastelte, der bereit digkeitszentrifugen (die er bei seinen über tungswaffen geht. schien, sein Know-how auch weiterzu- ein Dutzend Nordkorea-Besuchen so- Denn der Diktator wusste wie schon sein geben. Abdul Qadir Khan sah sich als gar in pakistanischen Regierungsflug- Vater, dass Pjöngjang Hilfe brauchte, um eine Art „Robin Hood des Atomzeitalters“, zeugen mitgenommen haben soll), Bau-

der spiegel 7/2005 111 Titel pläne und andere Komponenten zur Uran- Überwachungskameras wur- anreicherung. den abmontiert. Seit gut zwei Im Gegenzug lieferten die Nordkorea- Jahren gibt es keinerlei unab- ner Prototypen ihrer Mittelstreckenrake- hängige Informationen mehr ten, Typ Nodong, Reichweite 1500 Kilo- zum Stand der nordkoreani- meter – und mit atomaren Sprengköpfen schen Nuklearrüstung. bestückbar. Der Diktator Kim tat alles, Das Tauschgeschäft stärkte beide Staa- um die Rätsel zu verstärken – ten: Pakistans Raketentechnik machte Mit- mal leugnete er ganz, an der te der neunziger Jahre einen großen Bombe interessiert zu sein; Sprung nach vorn. Die neuen Ghauri-Ra- mal lud er amerikanische Poli- keten, stolz bei Militärparaden präsentiert, tiker ein, sich von der Existenz sehen den koreanischen Nodongs zum Ver- hochangereicherten Urans in wechseln ähnlich. Und seit dieser Zeit ver- Pjöngjang zu überzeugen. Und fügt Nordkorea über Nukleartechnologie, immer wieder ließ er inhaltlich mit der sich auch abseits der den westli- wiederholen, was der Vize- chen Geheimdiensten bekannten Anlagen außenminister zum SPIEGEL waffenfähiges Uran herstellen ließ. gesagt hatte: „Wir haben ge- Den Amerikanern blieben die Deals lan- nau dasselbe Recht auf Atom- ge verborgen, obwohl die CIA immer wie- bomben wie die USA, wir ha- der von Verdachtsmomenten sprach. Im ben auch dasselbe Recht auf Oktober 1994 kam US-Präsident Bill Clin- Präventivkriege.“ ton mit Kim zu einer Vereinbarung, um Solche Sätze werden immer

die Gefahr einer nordkoreanischen Atom- / AFP KIM JAE-HWAN wieder durch die martialische bombe ein für alle Mal aus der Welt zu Nord-Süd-Verhandlungen in Seoul (August 2002) Drohung untermalt, jeden aus- schaffen. Darin garantierte Nordkorea die Vom Despoten zum „Mr. Nice Guy“ ländischen Angreifer „in ei- Stilllegung seines Grafit-moderierten Re- nem Meer von Blut zu erträn- aktors in Yongbyon, aus dem wohl da- ken“. Denn, so die Verlautba- mals schon nuklearwaffenfähiges Ma- Die ultimative rung: „Acht Millionen junge terial abgezweigt worden war. Die Ame- Nordkoreaner sind bereit, sich rikaner versprachen den Bau zweier Bombendrohung in Selbstmordbomben zu ver- Leichtwasserreaktoren und die Lieferung wandeln.“ im Besitz Nukleare von 500000 Tonnen Schweröl, um Nord- von Kern- Sprengsätze Wie viel ist blumige Rheto- koreas chronische Energienot zu lindern. waffen seit 2003 rik, was ist nur Bluff, wann Vizeaußenminister Choe Su Hon be- sind die Drohungen tödlich hauptete 2003 gegenüber dem SPIEGEL, USA 1945 ernst zu nehmen? Washington habe dieses Abkommen mut- 10656 Viele Fachleute glauben, willig gebrochen: „Die neuen Reaktoren dass Nordkorea schon heute RUSSLAND 1949 ca. sollten jetzt schon mit voller Kapazität ar- 10000 über zwei bis fünf Atombom- beiten, aber der Bau hat noch nicht einmal ben der einfacheren Bauart ernsthaft begonnen. Washington trägt die CHINA 1964 402 verfügen könnte. Pjöngjang ist Verantwortung dafür, wenn Kinder frieren mit einiger Sicherheit noch und hungern.“ Seine Schlussfolgerung: FRANKREICH 1964 348 nicht in der Lage, Raketen mit „Die Bush-Regierung will uns unterjochen. Atomsprengköpfen zu be- Sie will uns entwaffnen, unser politisches ISRAEL ca.1967 über 200 stücken. Erst dann lägen Ja- System auslöschen. Wir sind nicht die pan, später vielleicht auch Aggressoren, wir kämpfen um unsere GROSSBRITANNIEN 1953 185 Alaska und Nordkalifornien in Existenz.“ Reichweite – Gefahrenstufe Allenfalls mit Pjöngjangs Bunkermenta- PAKISTAN 1998 30 bis 50 eins? lität sei eine solche Einschätzung zu er- Manche US-Experten wie Quelle: klären, fanden dagegen die Amerikaner: CDI, Sipri INDIEN 1998 30 bis 40 Selig Harrison vom Woodrow In Wirklichkeit habe Nordkorea die Welt Wilson International Center in hinters Licht geführt und unter dem Deck- NORDKOREA ? 1 bis ? Washington meinen jedoch, mantel der Kooperation sein Atombom- dass die Nordkoreaner weit benprogramm ausgebaut. entfernt davon seien, eine Seit Sommer 2002 hat die CIA glaubhaf- der amerikanischen Öffentlichkeit fast zwei Bombe zu bauen, weil ihnen immer noch te Hinweise dafür, dass Pjöngjang trotz al- Wochen vorenthalten: Ein anderer Schur- „technische Voraussetzungen“ fehlten. ler Zusagen weiter an der Bombe baute und kenstaat war Amerika wichtiger: Am 11. Aber so lange keiner weiß, was wirklich aus Pakistan Zentrifugentechnik bezog. Oktober 2002 holte sich die Regierung anzunehmen, was auszuschließen ist, ver- Als der US-Abgesandte James Kelly Bush vom Kongress die Zustimmung für fügt Diktator Kim über das volle Droh- Nordkoreas Unterhändler im Oktober 2002 den Irak-Feldzug. Probleme mit Pjöngjang potential und Erpressungsmaterial: Die mit entlarvenden Beweisen konfrontierte, mussten da zurückstehen. Welt muss so tun, als könnte er. Und sie gaben Kims Mannen zur großen Verblüf- Konfrontiert mit den amerikanischen muss versuchen herauszubekommen, ob fung der Amerikaner in einem Zornesaus- Enthüllungen und der Kritik auch der Ver- sich die nukleare Krise mit konkreten Hil- bruch ihr nukleares Waffenprogramm zu. einten Nationen, kündigte Nordkorea An- feleistungen lösen lässt oder ob der „liebe Daraufhin stoppte Washington seine Hilfs- fang 2003 seine Mitgliedschaft im Atom- Führer“ jenseits von Gut und Böse ist. lieferungen. waffensperrvertrag und seine Zusammen- Washington hat auf Kriegsdrohungen Die besorgniserregende Nachricht über arbeit mit der IAEA auf. Alle Uno-In- verzichtet und es gegenüber Pjöngjang mit Nordkoreas Bomben-Geständnis wurde spektoren mussten das Land verlassen, alle einem Schlingerkurs versucht. Die Ener-

112 der spiegel 7/2005 AFP Nordkoreanische Armee beim Manöver: „Wir sind nicht die Aggressoren, wir kämpfen um unsere Existenz“ gielieferungen blieben eingefroren, doch SPIEGEL die Befürchtung geäußert, dass Force, doch so schnell lässt sich der für den Fall des Verzichts auf die Kern- Nordkorea zum neuen Zentrum der Proli- Schwarzmarkt nicht lahm legen. Khan hat waffe stellte die Regierung Bush Nordkorea feration wird. Reisen auch nach Indonesien, den Sudan, großzügige Wirtschaftshilfe in Aussicht. Kim Jong Il könnte einen gefährlichen nach Ägypten unternommen; in seinen La- Doch Diktator Kim wollte mehr: einen Atom-Basar für jedermann eröffnen und boratorien waren saudi-arabische Geld- formalen Nichtangriffspakt, unterschrie- der neue Khan werden – noch gieriger, geber zu Gast, als höchster und einziger ben vom US-Präsidenten, und direkte noch unberechenbarer und damit noch ge- ausländischer Spitzenpolitiker der Riader Zweiergespräche mit Washington. Beides fährlicher als der pakistanische Erfinder Verteidigungsminister Sultan Ibn Abd schlug Bush aus, obwohl viele Senatoren, des nuklearen Schwarzmarkts. al-Asis. auch Republikaner, glaubten, er könne sich Khan der Erste steht seit einem Jahr un- Und noch immer fehlen Teile der als letzten Kompromiss ein solches Entge- ter Hausarrest. Er hat im Mai 1998 seine Khan-Lieferungen. Atomexperten haben genkommen durchaus leisten. größte Stunde erlebt, mit einem Kernwaf- errechnet, dass die bisher in Malaysia, Am Freitag vergangener Woche bot der fentest in den Chagai-Bergen wurde Paki- Südafrika und Libyen beschlagnahmten US-Präsident dem irrlichternden Diktator stan zur unstrittigen Atommacht. Präsident Zentrifugenteile nicht für den Bau von Hightech-Anlagen ausreichen. Etwa die PJÖNGJANG KÖNNTE ZU EINEM GEFÄHRLICHEN NEUEN Hälfte des für den Atomwaffenbau wich- tigen Materials fehlt noch, darunter die ZENTRUM DER ATOMAREN PROLIFERATION WERDEN. besonders wichtigen Rotoren. Schwimmt das heiße Material noch in irgendwelchen noch einmal Sechsergespräche an. Direk- Pervez Musharraf musste den National- Containern im Mittelmeer oder im Per- te Verhandlungen zwischen Amerika und helden dann Anfang 2004 aus dem Ver- sischen Golf? Nordkorea sähen, nach Kims Selbstdekla- kehr ziehen, als seine Schwarzmarktdeals Amerikanische Untersuchungen haben ration zum Atomwaffenbesitzer, so aus, von der CIA und der Atomenergiebehör- ergeben, dass die fast zwei Tonnen Uran- als ginge die Weltmacht auf die Forderung de aufgedeckt wurden. hexafluorid, die Staatschef Muammar al- eines Erpressers ein. Aber gibt es eine Das Khan-Netzwerk besteht nach Er- Gaddafi im vorigen Jahr den Amerikanern Alternative? Kann man Kim gewähren kenntnissen von Geheimdiensten trotz übergab, wahrscheinlich aus nordkoreani- lassen – und droht von Pjöngjang wo- Ausfall einiger Hauptakteure wie des in- scher Produktion stammen. Die Expertise möglich noch eine größere Gefahr, näm- haftierten Sri-Lankers Sajid Abu Tahir im- aus dem Nuklearlabor in Oak Ridge, lich die weitere Verbreitung von Nu- mer noch. Hauptumschlagplatz der ge- wohin die US-Behörden den Stoff trans- klearwaffen in die Hände der Qaida- fährlichen, international geächteten Atom- portieren ließen, ist unter Fachleuten al- Terroristen? güter soll inzwischen Dubai sein. lerdings umstritten. Die IAEA, die das Ma- Westliche Geheimdienstler und einige Die IAEA arbeitet zum ersten Mal in terial ebenfalls untersucht, will sich zur der IAEA-Experten haben gegenüber dem ihrer Geschichte mit einer eigenen Task Herkunft derzeit noch nicht festlegen. Den

der spiegel 7/2005 113 US-Präsidenten Bush hat die Sa- gantischeren Gedenkstätten. Idyllisch ein- che allerdings so umgetrieben, dass gebettet in eine Berglandschaft bei Hyang- er seinen südkoreanischen Amts- san steht – unweit der offenbar gerade wie- kollegen Roh Moo Hyun mit einem der angefahrenen Atomanlagen von Yong- handgeschriebenen Brief unter- byon – das „Museum der Völkerverständi- richtete. gung“, ein besonders bizarres Beispiel für Seit Wochen suchen Geheim- den Kult um Kim-Sohn und Kim-Vater. dienste nach weiteren Indizien, die Zwei riesige Paläste beherbergen über- belegen, dass Kim verbotene Tech- lebensgroße Skulpturen der Führer. Ge- nologie für harte Devisen verkauft. spenstisch flackert das aus einem Notstrom- Die CIA prüft, ob Urananreiche- aggregat gespeiste Licht in 200 riesigen Hal- rungen auch nach Syrien gingen. len. 49808 Geschenke, die Delegationen Europäische Nachrichtendienste er- aus 170 Staaten den beiden Kims vermach- mitteln, warum regelmäßig nord- ten, sollen von weltpolitischer Bedeutung koreanische Delegationen nach Te- zeugen. Ein Jagdgewehr von Wladimir Pu- heran reisen. tin, eine Perlmuttschatulle von Jassir Ara- „Wir werden jeden zur Strecke fat, eine Krokodiltasche von Fidel Castro, bringen, der an diesem nuklearen ein Basketball von Madeleine Albright. His- Schwarzmarktgeschäft beteiligt ist“, torisches wie ein selbstgeschossener, präpa- hat Präsident Bush kühn verspro- rierter Bär von Nicolae Ceau≈escu – und chen. Er fürchtet nicht nur die Pro- jede Menge Schnickschnack von obskuren liferation an andere sogenannte Freundschaftsclubs aus aller Welt. Schurkenstaaten, sondern auch an Allein die Räumlichkeiten müssen Mil- Terrorgruppen. lionen gekostet haben. Geld, das den Men- Dass einige von Khans Freunden, schen besonders auf dem Land bitter fehlt. pakistanische Atomwissenschaftler Jenseits der wenigen Highways und des wie hochrangige Geheimdienstleu- potemkinschen Pjöngjang bricht die Infra- te vom islamistisch unterwanderten struktur zusammen. Keine befahrbaren ISI, schon Kontakte zur Qaida ge- Straßen, ganze Landstriche, in denen im knüpft haben, ist unbestritten. Von wahrsten Sinn des Wortes die Lichter aus- Osama Bin Laden gibt es eine Di- gegangen sind. Wie mahnende Finger wei- rektive an seine Leute, sie sollten sen verrottete Schlote in den Himmel; nur sich um den Erwerb von Massen- mehr 20 Prozent der Industriebetriebe ar- vernichtungswaffen kümmern. beiten, schätzen Uno-Mitarbeiter. Es funk- Nordkoreas Diktator mag der tioniert allein die Armee – 1,1 Millionen Qaida-Ideologie wenig nahe stehen, Menschen sind unter Waffen. Einziger Ex- aber er ist nicht für seine Skrupel portschlager sind Raketen. bekannt: ein durchaus denkbarer Im Kohlenrevier arbeiten sich Kinder Weiterverkäufer, wenn der Preis mit bloßen Händen in die Schächte vor. stimmt. Sie haben schwarze Greisengesichter, aus-

In welchen Größenordnungen KHAN / AFPUSMAN gemergelte Körper. Alte Frauen schleppen gedealt wird, zeigt die Aussage ei- Atomwissenschaftler Khan, Raketenmodell sich in die Berge, auf der verzweifelten Su- nes früheren Energieministers in Schwarzmarkt des Schreckens che nach allem Brennbaren, nach allem Pakistan, der vor einigen Jahren Essbaren. Manche sind so schwach, dass eine iranische Anfrage nach Atomgeheim- Aber obwohl sich auch Chinas Macht- sie teilnahmslos am Wegrand kauern, ne- nissen abgelehnt haben will: „Sie boten haber in den vergangenen Monaten verär- ben sich Bündel von Reisig, Blättern, Wur- acht Milliarden Dollar.“ gert über Kim zeigten und ihn dringend zeln. Internationale Organisationen spre- Aber was will Kim Jong Il wirklich? zur Kooperation in Atomfragen aufgefor- chen von Hunderttausenden Hungertoten, Hungert er nur nach internationaler An- dert haben, fürchtet der Diktator in Pjöng- aber ihre Mitarbeiter erreichen nicht alle erkennung? Ist die Bombe, mit der er sich jang offensichtlich keinen Druck vom Provinzen des Landes. brüstet, ein Pfand für einen Nichtan- großen Nachbarn im Norden. Er speku- Indessen laufen in Pjöngjang die Vorbe- reitungen für den 63. Geburtstag der DIE KINDER, DIE IM KOHLENREVIER ARBEITEN, „berühmtesten Person der Welt“, wie Kim Jong Il sich nun titulieren lässt, auf Hoch- HABEN GREISENGESICHTER UND AUSGEMERGELTE KÖRPER. touren. Der Tyrann, der die Bombe bauen ließ, besucht Fabriken und Armee-Ein- griffspakt plus Hilfslieferungen fürs Über- liert darauf, dass China einen Zusammen- heiten, in denen die Propaganda-Aktion leben seines Volkes? bruch des Regimes in Pjöngjang genauso „Einer kann es mit hundert Kriegern auf- Nordkorea hängt am Tropf der interna- wie Südkorea fürchtet: Millionen Flücht- nehmen“ angeblich Begeisterung auslöst. tionalen Gemeinschaft: Ohne Lebensmit- linge könnten über die Grenzen strömen Den Soldaten schenkt er ein Fernglas und tellieferungen aus den USA, Europa und und die Regierungen der Nachbarstaaten ein automatisches Gewehr. vor allem Südkorea (das jedes Jahr Hun- destabilisieren. Ein Obervolta mit Atomwaffen musste derttausende Tonnen Reis liefert) wäre das Kim Jong Il sieht sich jetzt vermutlich sich die Sowjetunion in ihren Glanzzeiten Land gänzlich zum Zusammenbruch ver- auf dem Zenit seines Ruhms. Die Welt lässt nennen lassen. Nordkorea ist bizarrer noch dammt. Neben Seoul sollte deshalb vor al- sich von ihm in Schrecken versetzen – sie und vielleicht auch gefährlicher – ein Hun- lem die Volksrepublik China Einfluss auf zollt ihm Anerkennung. gerreich mit einem entrückten Diktator, den Diktator haben: 80 Prozent aller Kon- Die Sehnsucht des „lieben Führers“ nach der sich auf Atomwaffen kapriziert. sumgüter kommen inzwischen aus Peking, Größe beginnt an Paranoia zu grenzen. Sie Erich Follath, Georg Mascolo, dem Handelspartner Nummer eins. manifestiert sich in Nordkorea in immer gi- Gerhard Spörl, Wieland Wagner

114 der spiegel 7/2005 Titel Ingenieure des Todes In mehr als 20 Ländern jagen Ermittler jene Männer, die auch skrupellose Diktatoren mit Atomtechnik beliefern. Zu den Hauptverdächtigen gehören deutsche Experten. SHAYNE ROBINSON / DPA (R.) ROBINSON / DPA SHAYNE Beschlagnahmte Zentrifugenteile für Libyen, Verdächtigter Geiges: „Die atomare Katastrophe in Kauf genommen?“

en Ort gab es früher gar nicht, offi- Khan, seitdem scheint der Supermarkt des ziell zumindest, er ist bis heute auch Schreckens geschlossen – und seitdem ver- Dauf keiner Straßenkarte verzeich- suchen Ermittler aus mehr als 20 Ländern net. Der Ort heißt Pelindaba, was in der festzustellen, wer mitgemacht hat. Wer ver- Sprache der Zulus „Schweig!“ bedeutet. dienen wollte, selbst wenn es das Leben Es ist jener Ort, an dem das Apartheid-Re- der halben Menschheit gekostet hätte. Und gime von Südafrika lange versucht hat, einer der Plätze, an dem die Fahnder das seine eigene Atombombe zu bauen. Sperr- Puzzle zusammensetzen, ist Area 26. bezirk, immer noch. Draußen, auf einem Platz vor der Hal- Es geht mit dem Auto einen Berg hinauf, le, liegen zwei Berge mit merkwürdigen bis zu einer Schranke, an der bewaffnete Rohren, jedes so glänzend, als wäre es mit Wächter stehen; dann weiter, hinein in ein Stahlfix poliert worden. Und in der Halle, riesiges Areal. Die Straße schlängelt sich hinter einer Tür mit einem gelben Atom- durch die Hügel, vorbei an Schornsteinen, warnschild, liegt das, was eine südafri- vorbei an Fabrikhallen. Es geht bis zu ei- kanische Spezialeinheit der Polizei im nem schmutzig-braunen Klotz, 20 Meter vergangenen September auf einem Fa- hoch, 200 Meter breit. Der Klotz heißt brikgelände südlich von Johannesburg „Area 26“ – der Name für den derzeit ge- beschlagnahmt hat. Der Inhalt von elf heimsten Komplex in Pelindaba. Containern, Bestimmungsort: Libyen, Area 26 ist so etwas wie das Herz der Bestimmungszweck: eine Atombombe für Finsternis, der Ort, an dem internationale Muammar al-Gaddafi. Experten nachvollziehen können, wozu In Area 26 arbeitet derzeit eine interna- der pakistanische Wissenschaftler Dr. Ab- tionale Gruppe von Ermittlern – Südafri-

dul Qadir Khan fähig war. Als Vater der pa- ROBINSON / DPA SHAYNE kaner, Amerikaner, kürzlich waren auch kistanischen Atombombe war er zum Na- Deutscher Techniker Wisser* Deutsche da. Die Frage, die sie sich stellen, tionalhelden geworden. Dann begann er, Eine Million Euro für einen Tipp? ist, wie knapp die Welt noch mal davon- einen Schwarzmarkt für Diktaturen in al- gekommen ist. Und dass am Komplex Pe- ler Welt aufzuziehen, mit einem Netzwerk dem im italienischen Taranto im Oktober lindaba auch deutsche Fachleute arbeiten, von Zulieferern. Jahrzehntelang hat er pro- 2003 das deutsche Frachtschiff „BBC Chi- liegt daran, dass Deutsche mal wieder be- duzieren lassen. na“ mit einer Ladung Atombombenbedarf teiligt waren am illegalen Aufrüsten in al- Im Dezember 2003 aber ist etwas pas- für den Wüstenstaat an die Kette gelegt ler Welt: Die Bundesrepublik, so viel steht siert, was in diesem Geschäft noch nie pas- worden war. Kurz danach gestand auch fest, spielt bei der Aufklärung des Netzes siert ist: Ein Kunde hat geplaudert, in Panik. der Atomschmuggler eine bedeutende Rol- Libyen deckte sein Atomwaffenprogramm * Bei Kautionsverhandlungen im September 2004 im süd- le; in Deutschland sitzt einer der Haupt- auf, aus Angst vor den Amerikanern, nach- afrikanischen Vanderbijlpark. verdächtigen, ein Schweizer, in Haft. Und

der spiegel 7/2005 115 Titel zwei Deutsche stehen unter Verdacht, in Es geht für die Ermittler jetzt erst mal LH, so das Firmenkürzel, dominiert zu dem Netz an wichtigen Knotenstellen ge- um dieses Geschäft, um Treffpunkte, dieser Zeit in Europa den Markt für Va- sessen zu haben. Zeiträume, Namen – vier Computer mit kuumapparate. Zu denen gehören auch die Die Amerikaner, die Briten, vor allem 51000 Dokumenten haben sie bei Lerch Zentrifugen, mit denen sich die Bestand- aber die Internationale Atomenergie- beschlagnahmt. In Wahrheit aber geht es teile von Gasen aller Art trennen lassen. behörde IAEA in Wien, sie alle hoffen dar- um mehr: um die eigene Vergangenheit, Zum Beispiel von Uranhexafluorid, das auf, dass die deutschen Ermittler von Ge- um erfolglose Jagden auf den Herrn aus beim Schleudern in schwere und leichte neralbundesanwalt Kay Nehm tiefer in die Grabs, der Fahndern schon seit Jahrzehn- Uranteilchen zerfällt. Verflechtungen hineinleuchten können als ten als Händler des Todes gilt. Deshalb verbieten internationale Ab- sie selbst. Sowohl Khan als auch sein Chef- Lerchs Haus in Grabs wirkt wie der Ver- kommen die Weitergabe von GUZ-Technik einkäufer, der Sri-Lanker Buhary Seyed such, Wohlstand und Anstand gleicher- zum Bombenbau. In Deutschland kann der Abu Tahir, haben zwar umfassend ausge- maßen zu zeigen: Groß ist dieses Haus, illegale Export sogar als Landesverrat gel- packt – was genau, wissen westliche Er- und es liegt am teuersten Hang, aber der ten. Etwas anderes schützt die Welt besser mittler aber nicht. Denn Khan steht unter Eingang ist dekoriert mit kleinbürgerlichem vor skrupellosen Bombenbastlern: Das Verfahren ist unglaublich kompliziert. Die DIE TECHNIK BEHERRSCHEN NUR WENIGE UNTERNEHMEN Technik beherrschen nur wenige Unter- nehmen, und in den Unternehmen nur we- UND IN DEN UNTERNEHMEN NUR WENIGE EXPERTEN. nige Experten. Lerch gehört dazu. Bei Leybold steigt er bald zum Be- dem persönlichen Schutz von Pakistans Nippes, einer Igelfamilie aus Ton, einem reichsleiter auf, Spezialgebiet: kerntech- Staatspräsident Pervez Musharraf; es gilt Kranz mit weinroter Schleife. nische Anlagen. Schon 1979, als sich Be- als ausgeschlossen, dass der Mann in einem Auf der Fußmatte mit zwei Enten putz- amte des Wirtschaftsministeriums besorgt Militärstaat wie Pakistan die Technologie te sich auch Gotthard Lerch bis vor kurzem nach Leybold-Geschäften erkundigen, er- ohne Wissen der Staatsführung exportieren die Schuhe ab, wenn er nach Hause kam, klärt Lerch, dass seine Firma Ventile, konnte. von seinen Reisen nach Dubai oder Süd- Vakuumpumpen, und eine Gasreinigungs- Nicht besser sieht es in Malaysia aus: afrika, und teilt man den Verdacht der anlage für 1,3 Millionen Mark nach Das Rechtshilfeersuchen des Generalbun- deutschen Bundesanwaltschaft, dann hat- Pakistan geliefert habe. Darunter das desanwaltes beispielsweise haben die Ma- te er nach solchen Reisen immer besonders eine oder andere, was „für die Verwen- laysier bis heute nicht mal beantwortet. viel Dreck am Stecken. So viel, dass er seit dung in einer Anreicherungsanlage umge- So bleibt noch sehr viel offen, und dazu dem 16. November in Auslieferungshaft baut werden könnte“, wie die Ausfuhr- gehört zum einen die Frage, was Khan ge- sitzt, auf Antrag der Deutschen. kontrolleure notierten. Und nach 1983 fül- tan hat, damit auch Diktator Kim Jong Il Lerch soll zum Old-Boys-Network ge- len schließlich Ermittlungsakten über eine Bombe für sein Hungerland Nord- hören, jenem Geflecht des Dr. Khan, das Lerch ganze Regale. korea bauen konnte. Dass Khan half, soll nun ans Licht gekommen ist – ein Netz- Der Vorwurf: Lerch soll hochgeheime er jedenfalls eingestanden haben. Noch werk aus alten Freunden und Vertrau- Konstruktionspläne des europäischen Uran- dringender aber suchen die Fahnder die ten, aus Vätern und Söhnen, aus Männern, anreicherungs-Programms in die Schweiz Antwort auf die Frage, ob noch ein ande- die sich schweigend verstanden und aufs geschmuggelt haben. Zwei Jahre später res Regime längst das Zeug zur Weltver- Schweigen verstanden. Seit Jahrzehnten. später wird tonnenweise Gerät Richtung nichtung hat, ohne dass es einer ahnt. Was Lerchs Spuren in deutschen Ermitt- Pakistan geliefert, das aussieht, wie nach hat es etwa mit Khans Reisen in Länder lungsakten führen zurück bis in die den Blaupausen gebaut. Lediglich drei wie Ägypten oder Saudi-Arabien auf sich? Gab es weitere Kunden? Die Antwort auf diese Frage suchen Fahnder nun bei zwei Deutschen, die schon seit Jahrzehnten als Zulieferer für geheime Atomprogramme unterwegs gewesen sein sollen, ohne dass deutsche Strafverfolger sie je wirksam dar- an gehindert hätten. GOTTHARD LERCH Grabs, das ist einer dieser Schweizer Al- pen-Orte, die so aussehen, als hätte der liebe Gott eine Sonderbriefmarke in die Landschaft geklebt. Außen liegt der Za- ckenrand der Alvier-Gipfel, in der Mitte ein kleiner Flecken, wie gemalt. Und in dieser Idylle wohnt Gotthard Lerch, 62, deutscher Ingenieur, verheiratet, Ingenieur Lerch (1987): Hochgeheime Pläne in die Schweiz geschmuggelt? zwei Kinder – für die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ein Mann, der die „atomare späten Siebziger. Damals ist er gerade große Hochdruckbehälter, sogenannte Au- Katastrophe in Kauf nimmt“. Lerch, so Mitte dreißig, hat Maschinenbau stu- toklaven, kann der Schweizer Zoll damals steht es jedenfalls im Haftbefehl des Bun- diert und seinen ersten Stellenwechsel hin- noch abfangen. desgerichtshofs vom 11. November ver- ter sich: Bei Dornier, dem Flugzeugbauer, Mehr als ein Jahr dauert es, bis die Köl- gangenen Jahres, habe Libyen mutmaßlich hat er 1967 und 1968 auch an der Ent- ner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ge- beim Bau von Gasultrazentrifugen (GUZ) wicklung von Gasultrazentrifugen gear- gen Lerch aufnimmt, doch 1992 geben die geholfen, also bei der Schlüsseltechnik auf beitet. Es ist jene Technik, die ihn so in- Fahnder wieder auf: Einige Vorwürfe sind dem Weg vom Klumpen Uran zum spalt- teressant macht – später für Khan, erst verjährt, bei anderen scheitern die Ermitt- baren Uranisotop 235: U 235 – der Stoff, mal aber, 1971, für die Hanauer Firma Ley- ler auch deshalb, weil die Schweizer keine aus dem die Bombe ist. bold-Heräus. Informationen liefern.

116 der spiegel 7/2005 Libyscher Diktator Gaddafi DIE TINNERS In Panik geplaudert Netzwerk? Welches Netzwerk? Es gibt kein Netzwerk, sagt Lerchs Zür- möglicherweise gab es da andere cher Anwalt Adrian Bachmann. Sein Geschäftsfelder.“ Mandant sei ein „unbescholtener Vor allem ferne. Besuch bei der Bürger“. Firma PhiTec, ehemals Cetec: Der Netzwerk? Hat es nie gegeben, Sohn Marco Tinner ist nicht zu spre- behaupten auch die anderen, die chen – angeblich in Amerika. Der nun irgendwo auf der Welt im Ge- Bruder Urs – unabkömmlich in fängnis sitzen, unter Hausarrest ste- Deutschland, Haftanstalt Rhein- hen oder frei sind auf Kaution. bach. Ob er vielleicht die Tinners ken- Die Tinners halten sich sehr be- ne?, fragte der Schweizer Staatsan- deckt, nicht mal der Chef der Fens- walt Andreas Keller den Beschul- terbaufirma gleich nebenan weiß, digten Lerch etwa, als er ihn im Sep- was bei der PhiTec so gebaut wird: tember für die deutschen Fahnder „Wir hatten schon vorher so wenig vernahm. Familie Tinner? „Nein, Kontakt zu ihnen, dass man sich kenne ich nicht“, sagte Lerch, zu- jetzt nicht mal distanzieren kann.“ mindest nicht persönlich. Früher, da war das mal anders, da Kein Mitglied der Familie Tinner gehörten die Tinners in Haag zur will er gesehen, getroffen, gekannt Honoratiorenschaft. Bis Ende 1996 haben. Obwohl die Tinners nur sie- war Friedrich Tinner Korporations- ben Kilometer entfernt im Dorf präsident von Haag, zuständig für Haag wohnen. Und obwohl der Strom- und Wasserversorgung. Und Sohn Urs Tinner seit dem 7. Okto- seine Frau Hedwig führte jahrelang ber 2004 in Rheinbach bei Bonn in den Kirchenvorstand. Seit aber Haft sitzt, weil er – wie Lerch – für Sohn Urs festgenommen wurde, Khans Atommafia gearbeitet haben geht sie angeblich nicht mal mehr soll, in einer Fabrik in Malaysia. Und zu den Proben des Kirchenchors. obwohl der Vater Friedrich Tinner Dabei hat Urs Tinner in Malaysia,

seit Jahrzehnten im Geschäft mit Va- PRESS / SIPA HALEY bei jener Firma, die einen guten Teil kuumtechnologie ist, anfangs als Ex- der Gerätschaften für Libyen her- portleiter der Schweizer Firma „Vakuum- selbst eine Firma gründete, die Cetec AG, stellte, eigentlich nur mit Zahlen und For- Apparate-Technik“ (VAT), bei der Khans spezialisiert auf Ventile. Ein Schweizer Un- meln gearbeitet, so sagt er. Einen Business- Beschaffer in den Siebzigern Ventile ein- ternehmen, das nicht genannt werden plan habe er aufgestellt, eine Werkstatt aus- kauften, angeblich mit Lerchs Hilfe. möchte, aber ebenfalls Ventile herstellt, gerüstet, die Produktion überwacht, kleine Tinner senior spricht nicht mit dem will die Cetec allerdings nie als Konkur- Dreh- und Frästeile, ein gutes Dutzend Ty- SPIEGEL, sicher ist nur, dass er 1981, nach renten wahrgenommen haben: „Die haben pen, bis 200 Millimeter Durchmesser. Und seinem überstürzten Abschied von VAT, wir auf dem Heimatmarkt nie gespürt; nun wundert er sich, dass den anderen das Verständnis fehlt – „die anderen“, das ist in diesem Fall die Weltöf- Urs Tinner, Schweizer, in Deutschland inhaftiert fentlichkeit. Deutschland Hier entwickelte Abdul Qadir Khan ein Nuklearwaffen- Im Jahr 2001 beginnt er seine Ar- programm und unterstützte Iran, Libyen und Nordkorea beit in Südostasien, produziert wird Großbritannien beim Aufbau eigener Programme. für die libysche Bombe. Die Me- thode ist offenbar die übliche: Das Niederlande Italien Atomkartell sucht sich eine Firma, Schweiz bringt ihr einen Auftrag und schickt Nordkorea gleich einen Aufpasser mit, der die China Produktion überwacht. Hier in Ma- laysia heißt die Firma Scomi Preci- Spanien Türkei Iran Gotthard Lerch, Libyen sion Engineering, kurz Scope. Deutscher, Urs Tinner sagt, er habe keine in Schweizer Pakistan Ahnung gehabt, wofür die Ware Auslieferungshaft denn gedacht gewesen sei, so etwas Singapur Malaysia könne man ja für alles verwenden, vom „Briefbeschwerer bis zum Au- tomobilbau“. Die Version der Fahnder ist Gerhard Wisser, Deutscher, Dunkle Geschäfte dagegen nachzulesen in einem Chef der Krisch Engineering, Mutmaßliche Zulieferer im Khan-Netzwerk Ermittlungsbericht der malaysi- unter Hausarrest in Südafrika Länder, in denen Khans Netzwerk operierte schen Polizei, im Wesentlichen die Kurzfassung eines Geständnisses, Lieferung von Konstruktionsplänen zum Bau von das der Chefeinkäufer Khans, der Nuklearwaffen oder Zentrifugen zur Urananreicherung Sri-Lanker Tahir abgelegt hat. Und Südafrika Lieferung von Zentrifugen oder Spezial- dieser Tahir sagt: Tinner sei sein werkzeug zum Zentrifugenbau Mann bei Scope gewesen. Verant- wortlich für die Drehbänke, die ei-

der spiegel 7/2005 117 Titel

Merkwürdig: Am 22. Oktober 1984 stell- te er bei der südafrikanischen Polizei den Antrag, neben einer Walther-PPK-Pistole 7,65 mm noch eine halbautomatische Hers- tal 9 mm besitzen zu dürfen. Die Begrün- dung: „Ich trage oft höchstvertrauliche und als geheim eingestufte Dokumente mit mir herum, seit wir eine sehr intensive Zu- sammenarbeit sowohl mit der Atomindu- strie als auch mit der Waffenindustrie in diesem Land haben.“ Dann aber stoppte Südafrika alle Arbei- ten an der Supermacht-Munition, zerstör- te kurz vorm Ende des Apartheid-Regimes sechs Bomben, die schon fertig produziert waren. Was nun? Die Ermittler glauben, dass Wisser sein Wissen über die Vakuum- technik weiter vergolden wollte, dass er

TOBY SELANDER TOBY weitermachte, als freier Händler auf dem Gelände der Firma Tradefin in Vanderbijlpark: Rohre für Tripolis Schwarzmarkt des Dr. Khan. Dafür spricht zumindest der Luxus, mit die Südafrikaner gleich noch einmal (SPIE- dem er auch weiterhin sein Leben garnie- GEL 39/2004). Jetzt steht Wisser unter ren konnte. Zurzeit fährt er einen Toyota Hausarrest, in seiner Luxusvilla in Bryans- Land Cruiser und einen BMW 540, in der ton bei Johannesburg, und sagt, was auch Krisch-Firmengarage steht ein Mercedes Tinner sagt: Er habe nichts gewusst. SL 600 V12; in Deutschland, nun allerdings Dieser Gerhard Wisser, 65, deutscher von der Polizei beschlagnahmt, lenkte er Ingenieur mit Wohnsitz in Südafrika, er- einen Mercedes 500 und einen Neun-Elfer zählte früher gern aus seinem aufregenden Porsche – eine Aufzählung ohne Anspruch Leben, und seine Angestellten bei Krisch En- auf Vollständigkeit. gineering in Randburg, Südafrika, dachten Als die Polizei Wisser festnehmen woll- dann oft: „Ach, der Chef redet wieder groß.“ te, traf sie ihn nicht zu Hause in der Lu- Heute aber wissen sie es besser – die xusvilla in Bryanston an, sondern in Dur- beste Geschichte hat ihnen Wisser noch ban, im 34. Stock des Maluti-Komplexes, nicht einmal erzählt: Wisser soll dafür ver- den die Hausverwaltung als „prestige- antwortlich sein, dass sich das weltweite trächtiges Gebäude mit luxuriösen Privat- Netz bis nach Südafrika spannte. So wie appartements“ anpreist. Die 34. Etage ist Urs Tinner in Malaysia die Produktion das Penthouse, mit Blick auf eine Bucht, überwachte, so Wisser angeblich bei einer die aus gutem Grund „Bay of Plenty“

HALDEN KROG / NUUS: NAWEEK BEELD KROG / NUUS: NAWEEK HALDEN Firma am Kap, die nach Ansicht der Fahn- heißt: ein 100 Meter breiter Sandstrand Tradefin-Chef Meyer der ebenfalls für die libysche Bombe fer- mit Palmen am Indischen Ozean. Die 34. Kronzeuge der Anklage tigte. 850000 Euro hat er bei dem Geschäft Etage in dieser Traumlage schätzen Ken- von Khans rechter Hand Tahir bekommen, ner auf fünf bis sechs Millionen Rand, gens importiert und eingerichtet werden so viel steht fest. Und der Mann, der ihn ins mindestens. Das gehöre ihm ja gar nicht, mussten. Geschäft brachte, soll einer seiner ältesten argumentiert Wisser, er habe dort nur le- Als Urs Tinner im November 2003 das Freunde gewesen sein: Gotthard Lerch, der benslanges Wohnrecht. Der wahre Ei- Land verließ, soll anschließend auch die Ingenieur mit der getöpferten Igel-Familie gentümer, das sei vielmehr Gotthard Festplatte des Firmencomputers gefehlt ha- vor der Tür im fernen Grabs. Lerch. ben, ebenso seine Personalakte. Für die Nähe wird bei diesen Verbindungen offen- Ein Indiz für die Atomconnection? Un- malaysischen Behörden ein klarer Fall: Tin- bar nicht in Kilometern gemessen, sondern sinn, sagt Wisser. Atomschmuggel, das sei ner wollte verschwinden, spurlos, und das in gemeinsamen Jahren im Atomgeschäft. nun wirklich nicht seine Art von Geschäft, kurz nachdem im italienischen Taranto im Wisser und Lerch haben mehr als 20 davon. „das schwöre ich bei Gott“. Herbst 2003 die Schiffsladung für Libyen aufgeflogen war: sechs Container Zentri- NÄHE WIRD NICHT IN KILOMETERN GEMESSEN, SONDERN IN fugentechnik, die meisten verpackt in Holzkisten mit dem Aufdruck „Scope“. GEMEINSAMEN JAHREN IM ATOMGESCHÄFT. Tahir hat gestanden, in den Scope-Kisten sei ein Teil der Werkstücke gewesen, die Für 100 Millionen Rand, heute umge- Es soll denn auch ein Arthroseleiden ge- Tinner für ihn in Malaysia habe bauen las- rechnet 12,7 Millionen Euro, so wollen es wesen sein, das Wisser, vermutlich im Jahr sen. Angeblich sollen sie in vier Fuhren südafrikanische Zeitungen wissen, habe das 2001, ins warme Dubai führte, der Hüft- Richtung Libyen gegangen sein. Apartheid-Regime in den siebziger Jahren knochen zuliebe. Wo er dann von einem Atomtechnik bei der Wisser-Firma Krisch reichen Kaufmann zum Dinner eingeladen GERHARD WISSER eingekauft, die damals schon die General- worden sei, genauso wie Lerch, aber ohne Lerch, die Tinners – der Nächste im Bund vertretung für Leybold in dem Land hatte. dass sie vorher gewusst hätten, dass der der Atomschmuggler soll der Deutsche „Das kann schon sein“, sagt Wisser, so ge- andere ebenfalls kommen würde. Und bei Gerhard Wisser sein. Deshalb nahmen ihn nau kenne er die Zahl nicht mehr, eines aber dem Essen habe auch der Chefeinkäufer Fahnder am 25. August vergangenen Jah- habe er garantiert nicht getan: für das Atom- Khans mit am Tisch gesessen. Alles Zufall. res in Aachen fest – und nach seiner Frei- waffenprogramm geliefert. Es sei damals im- An jenem Abend, so Wisser, habe ihn lassung, gegen 100000 Euro auf Kaution, mer nur um Kernkraftwerke gegangen. Tahir gefragt, ob die Firma Krisch für ihn

118 der spiegel 7/2005 Titel ein Rohrsystem bauen könne – das also afrika als Zeuge der Anklage jetzt Amnes- war der Beginn jenes Auftrags, der in Pe- tie bekommen soll. lindaba endete, auf Area 26. Weil er drin- Und die Familie Tinner, so heißt es in gend Geld brauchte, habe er sich breit- einem Aktenvermerk der Bundesanwalt- schlagen lassen. schaft vom 2. Juli 2004, sei die Quelle für Nach dem Dubai-Trip fiel ihm auch eine Information, die nun auch im deut- gleich ein Unternehmen ein: die Tradefin, schen Haftbefehl gegen Lerch auftaucht: unten im südafrikanischen Vanderbijlpark, Lerch habe Trainingskurse für libysche ein Metallbauer, spezialisiert auf Va- Bombenbauer organisiert, in Dubai, Spa- kuumtechnik. Dessen Chef Johan Meyer nien, der Türkei und Südafrika. hatte gelegentlich nachgefragt, ob die „Beweismittel vom Hörensagen, über Krisch Engineering nicht ein paar Auf- sieben Ecken zusammengeklaubt“, nennt träge für ihn habe. Und dann, sagt Wis- Lerchs Zürcher Anwalt Adrian Bachmann so etwas. Mit einem rechtsstaatlichen Ver- fahren habe das nichts mehr zu tun. Of- fenbar wollten die Ermittler nur eines: dass auch Lerch auspacke. Der aber könne nicht, weil es nichts auszupacken gebe. Bei dem angeblich so entscheidenden Diner in Dubai zum Beispiel, da sei Lerch nicht mal dabei gewesen. Die Fahnder sammeln alles; am Ende könnte dann eine Anklage stehen, wonach alle schuldig sind: Lerch als Einfädler, Wis- ser als Überwacher, Meyer als Ausführender. Der Erste, der seine Haut retten wollte, war Meyer, der Tradefin-Chef. Am 2. Sep- tember hatte die südafrikanische Polizei ihn

THOMAS NIEDERMÜLLER / ACTION PRESS / ACTION NIEDERMÜLLER THOMAS festgenommen. In der mittleren Halle sei- Generalbundesanwalt Nehm ner Firma, hinten an der Wand, standen elf Jahrelange Jagd Seecontainer mit 200 Tonnen Gerät, fertig zum Verschiffen. Die Akten, die den Er- ser, habe er Tahir eben diese Tradefin ge- mittlern dazu in die Hände fielen, enthiel- nannt. Danach habe Tahir dem Krisch- ten Daten für eine Anlage mit 1000 Gas- Ingenieur Daniel Geiges auch irgendwel- ultrazentrifugen, Konstruktionszeichnun- che Pläne geschickt, in die Wisser selbst gen für Autoklaven, ziemlich genau jenen, aber gar nicht hineingeschaut haben will, die auch in den Containern lagen. Und und damit habe die Tradefin schließlich dann fand die Polizei auch noch Ein- und gearbeitet. Das sei es im Grunde auch Ausfuhrpapiere für eine Drehbank des Typs schon gewesen: eine Kontaktvermittlung, „Denn RL 400/2“. Die Papiere elektrisier- mehr nicht. Für eine Million Euro, von de- ten die Fahnder, weil sie überzeugt sind, Atombombenexplosion (im US-Bundesstaat Nevada nen am Ende 850000 bei Wisser hängen genau diese Drehbank sehr gut zu kennen: blieben. Eine „Denn“ fanden die Amerikaner auch gekündigt, die ganze Fabrik solle in ein Die ermittelnden Bundesanwälte hielten in Libyen, nachdem Gaddafi ihnen Zutritt Lager nach Mosambik verschifft werden. nach einem Verhör fest, Wissers Darstel- zu seinen Anlagen gewährt hatte. Schnellstens! lung sei in mehreren Punkten „unplausi- Meyer gab im Verhör gleich alles zu: Da endlich will es Wisser mit der Angst bel“. Mit seiner langjährigen Erfahrung dass er genau wusste, worum es ging, zu tun bekommen und Meyer bedrängt ha- habe Wisser sicher gewusst, dass die Anla- sowie angeblich auch Wisser. Der sei ben, die ganze Anlage einzuschmelzen, die ge für die Urananreicherung gebaut werde. immer dann vorbeigekommen, wenn es Pläne „auf ein großes Osterfeuer zu wer- Außerdem: eine Million Euro, da müsse größere Probleme gegeben habe. Und die fen“. Auch Meyer habe eingesehen, dass doch auch Wisser klar gewesen sein, dass Drehbank, die habe Wisser auch impor- man die Ware besser nicht exportieren sol- man niemals so viel Geld für eine Kontakt- anbahnung bekomme, wenn an der Sache DER ERSTE, DER SEINE HAUT RETTEN WOLLTE, WAR nicht etwas krumm sei. Seitdem hat sich in Deutschland, der MEYER, DER TRADEFIN-CHEF. Schweiz und in Malaysia, wo Tahir fest- sitzt, ein Spiel über Bande entwickelt, wie tiert, natürlich sei die für den Bau der Zen- le, aber zerstören? Schließlich habe ja einer es die Ermittler lieben: Die mutmaßlichen trifugenteile gedacht gewesen. dafür bezahlt. So blieb es laut Wisser da- Händler des Todes, nach Jahren der Ge- „Ich habe nichts Illegales gemacht, ich bei, dass Pläne vernichtet wurden, die An- wöhnung an Chateauneuf und Chateau- wusste von nichts“, sagt Wisser hingegen. lage aber bei Tradefin stehen blieb. briand den Entbehrungen einer Haft nicht Meyer, der wolle sich doch nur freikaufen, Die Ermittler glauben dagegen, dass die gewachsen, beginnen, sich gegenseitig zu mit einem Haufen Lügen über ihn. Frachtboxen nur deshalb nicht mehr vom beschuldigen. Im April oder Mai 2003, die Produktion Hof gingen, weil nach der Entdeckung der So wie Tahir, der Lerch als ständigen war fast abgeschlossen, schickte ihnen Ta- „BBC China“ allen klar gewesen sei, dass Khan-Zulieferer anschwärzte – und Urs hir zwei Inspekteure, die sich die Ware an- sie nicht mehr heimlich nach Libyen liefern Tinner als Aufpasser bei Scope in Malaysia. sehen sollten. Und dann sei plötzlich eine könnten. Auch Tradefin-Chef Meyer kennt keine große Überweisung bei Meyer eingegan- Soll man Wissers Beteuerungen, so sei es Hemmungen mehr: Gegen Wisser hat er so gen, aus Libyen. Aus Libyen! Danach habe nicht gewesen, wirklich glauben? Er selbst schonungslos ausgepackt, dass er in Süd- Tahir sich bei Meyer gemeldet und an- ohne Ahnung, worum es ging; Lerch dage-

120 der spiegel 7/2005 mittlern so vor, als spielten die drei mit dem Staat und den Behörden. Sie spielten hart am Rande der Legalität, und weil sie ausgekocht waren, gewannen sie ihre Spiele. Heute sitzt Lerch in seiner Zelle in Alt- stätten, sein Anwalt Bachmann beklagt sich, wie die deutschen Ermittlungsbehör- den vorgingen, das sei doch nicht fair. Die wollten einem alten Mann die Handschel- len anlegen, und dazu sei ihnen jedes Mit- tel recht: Wie solle man sich schließlich wehren gegen Vorwürfe, so unbestimmt, dass es nicht mal einen genauen Tatort, eine genaue Tatzeit gebe, für die man ein Alibi finden könne. Tatsächlich ist der Haftbefehl, was kon- krete Angaben zu Treffpunkten oder Ab- sprachen angeht, so dünn, dass das Schwei- zer Bundesamt für Justiz das deutsche Bundesjustizministerium mit Schreiben vom 11. Januar „dringend“ aufforderte, eine „detaillierte Sachverhaltsdarstellung“ und die „Tatzeit betreffend Vorwurf der Ausbildung libyscher Techniker“ nachzu- liefern. Die deutsche Bundesanwaltschaft nann- te neue Daten: Treffen von Wisser und Lerch im August 2001 und Dezember 2002 in Südafrika, angebliche Ausbildung von Libyern durch Lerch in Spanien im Okto- ber 2000, im Juli 2001 und im „April/Mai und Mai/Juni 2002“. Bei diesen Gelegen- heiten soll er sieben Gruppen libyscher Techniker in „Gebrauch und Wartung spe- zieller Form-, Fräs-, Säge-, Schweiß-, Bohr-, Dreh- und Schleifmaschinen“ un- terwiesen haben. Alles aus der Luft ge- griffen, sagt Lerchs Anwalt.

CORBIS So wird es also wieder schwer für die 1957): Hat noch ein anderes Regime das Zeug zur Weltvernichtung? deutschen Ermittler. Und dass die Schwei- zer Lerch ausliefern werden, erscheint ih- gen der Mann, der „garantiert in das Projekt Maschine außer Landes ging, bekam Wis- nen mittlerweile selbst als ziemlich zwei- involviert war“, wie Wisser behauptet? ser von Tradefin die Daten der Transaktion felhaft. Ganz ausschließen lässt sich auch So unbeteiligt, wie der Mann in Süd- zugeschickt („Betreff: Kosten der Dreh- eines nicht: dass die Deutschen vor allem afrika jetzt tut, kann er kaum gewesen sein. bank“). Warum, wenn Wisser doch angeb- darauf hoffen, Lerch zu piesacken mit der Aus beschlagnahmten Papieren geht zum lich „von der Drehbank nichts weiß“? Auslieferungshaft, bis er es vielleicht doch Beispiel hervor, dass Wisser-Mitarbeiter Dazu kommt noch eine Aussage, die mal leid ist und irgendetwas einräumt. Geiges im Dezember 2000 den Import der Wisser wohl am schwersten belastet. Sie Wenn nicht oder wenn ihn die Schweizer Drehbank organisiert hat, die später wieder stammt von André S., Chef einer Inge- nicht ausliefern, kann es ebenso gut sein, in Libyen aufgetaucht sein soll. Und als die nieurfirma, der die Armaturen für die An- dass all die Ermittlungen mal wieder im lage bauen sollte. Zweimal Nichts enden. habe er Wisser getroffen: zum Schwierig auch der Fall Wisser: Beweis- ersten Mal, als Wisser in sein unterlagen vom Kap bekommt die Bun- Büro gekommen sei, um sich desanwaltschaft nicht, und das Verfahren die geplanten Anzeigegeräte zieht sich. Im Sommer, heißt es jetzt vage, erklären zu lassen. Wisser werde in Südafrika verhandelt. Auch Wis- selbst habe dann entschieden, ser jammert, er sei leidend. Die Arthrose in es so zu machen, wie S. es den Hüften, die Herzrhythmusstörungen, vorgeschlagen habe. An- die Nieren. Er klagt, dass er nach dem schließend noch einmal bei „ganzen Dreck, der über mich ausgekü- Krisch; da sei es um ein tech- belt wurde“, nur „irgendwann mal wieder nisches Problem gegangen, ein normales Leben führen will“. und Wisser habe die Sitzung Vielleicht denken sie wirklich, sie hätten geleitet. jetzt ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden. Ein Recht auf die gleiche Ruhe, die OLD BOYS sie die vergangenen 20, 30 Jahre doch auch Beschlagnahmte Container der „BBC China“ Lerch, Wisser, Tinner: Es gab immer hatten. Jürgen Dahlkamp, Vier Fuhren Richtung Libyen Zeiten, da kam es den Er- Georg Mascolo, Holger Stark

der spiegel 7/2005 121 Ausland

Puppe. Eine Puppe im Schneewittchen- sarg. Ecce papa. VATIKAN Es ist eine Prozession im 40-Stunden- kilometer-Tempo durch eine kalte und leere Stadt, über die Piazza del Risorgi- Der Papst am Kreuzweg mento zum abgesperrten Petersplatz. Johannes Paul ist zurück im Vatikan. Trotz der Entlassung aus dem Krankenhaus kann Johannes Paul II. Noch Mensch und schon Reliquie. Joaquín Navarro-Valls, der Sprecher des die Geschäfte nicht mehr führen wie bisher. In Rom wird Papstes, hat erklärt, die akute Kehlkopf- auch Kardinal Ratzinger zu den möglichen Nachfolgern gezählt. entzündung sei geheilt, der allgemeine Zu- stand bessere sich, „ungeduldig“ warte Johannes Paul darauf, an sei- nen Schreibtisch zurückzukehren, „um sich künftigen Verabredungen zuzuwenden“. Sein Wort in Gottes Ohr. Es ist der siebte Aufenthalt des Papstes im Gemelli-Krankenhaus gewesen, und auch dem Gläubigsten ist klar, dass nun der Anfang vom Ende be- gonnen hat. Es herrscht eine At- mosphäre des fin de règne. Eine eigentümliche Mischung aus Hektik und Lethargie hat sich in den Fluren und Büros der ver- schiedensten Kongregationen breit gemacht. Polnische Bischöfe wol- len noch rasch einige Kandidaten heilig oder selig sprechen lassen. In vielen Vatikan-Abteilungen werden seit Jahresanfang nur noch befris- tete Arbeitsverträge vergeben. Die zehn Tage haben den mäch- tigsten Absolutherrscher in Stadt und Weltenkreis als einen Spielball von Pharmazie und Viren gezeigt. Eine einfache Erkältung hat dazu geführt, dass Christi Stellvertreter halb erstickt in die Notaufnahme

VINCENZO PINTO / AFP PINTO VINCENZO gebracht werden muss und die Genesender Karol Wojtyla beim Verlassen der Gemelli-Klinik*: Der Körper ein Gefängnis, eine Last Geschäfte einer Weltkirche dem Rhythmus der Fieberkurve und ie wenigen Priesterschüler und Or- ges Abdanken sei Karol Wojtylas Gewis- dem Blutbild eines Parkinson-Patienten densschwestern haben frühmorgens senssache? Der 77-Jährige ist immerhin unterworfen sind. Din der Kapelle des Collegio Teuto- Kardinalstaatssekretär und damit Herr- Das Gemelli-Krankenhaus, sagte Karol nico das katholische Gesangbuch auf den scher über den Kirchenapparat. Wojtyla einmal, sei sein „dritter Vatikan“, Knien. Lied Nr. 662 ist angezeigt: „… Mein Es ist der zehnte Tag im Krankenhaus. neben der Sommerresidenz Castelgandol- Atem geht schwer aus / Und kann kein Heute wird der Papst wieder entlassen. fo und dem Apostolischen Palast in Rom. Wort mehr sprechen / Herr, nimm mein Nicht diskret über den Hinterausgang im Genau so kann es kommen. Seufzen auf!“ Krankenwagen, sondern vor aller Augen, Die Notfallausrüstung, mit Sauerstoff- Die Melodie ist von Melchior Vulpius, zur Primetime, rechtzeitig vor den Abend- flasche und Defibrillator, wird diesen Papst frühes Barock. Der Text könnte das jüngs- nachrichten. begleiten wie sein Fischerring. Sein Leib- te Bulletin des Heiligen Stuhls zum Ge- Herr, nimm mein Seufzen auf. Mühsam arzt wird bei Audienzen nie weiter als zehn sundheitszustand des Papstes sein. wird Johannes Paul II. auf den Wagen ge- Meter vom Pontifex entfernt stehen. Es ist nur ein Lied. Doch im Vatikan wuchtet. Eine aufgedunsene weiße Gestalt Schon jetzt ist zweifelhaft, ob Johannes wird in diesen Tagen hinter allem nach mit wachen Augen in einem versteinerten Paul II. wie bisher sonntags am offenen Sinn oder Unsinn geforscht, hinter jeder Gesicht. Fenster das Angelus-Gebet sprechen wird. Geste, jedem Wort. Warum etwa liest Um 19.23 Uhr rollt das Papamobil, Die Erkältungsgefahr ist zu groß. Es wird Kardinal Joseph Ratzinger heute nicht die gleich einer leuchtenden Monstranz, die über ein Kussverbot nachgedacht. Hand- Frühmesse im Collegio Teutonico, wie er Rampe vor der Notaufnahme hinauf, an küsse auf den Ring sind gefährliche Vi- es sonst gern macht? Ist er beschäftigt? den Gläubigen und Neugierigen entlang, renspenden. Womit? „Viva il Papa!“ rufen die Leute, und der Es darf nichts mehr passieren. Seine Und warum hat Kardinal Angelo Sodano alte Mann hinter dem Glas kann den Kopf engsten Mitarbeiter – wegen ihrer schwie- ohne Not vom Kanon 332 Paragraf 2 des kaum halten. Er winkt zwei-, dreimal, seg- rigen Namen kurz „Polen-Seilschaft“ ge- Kirchenrechts gesprochen: „Si contingat nend, bewegt den Kopf ein wenig. Und nannt – klammern sich an jedes Fünkchen ut Romanus Pontifex muneri suo renun- wirkt doch wie eine festlich angezogene tiet“ – „Falls der Papst auf sein Amt ver- Weitere Informationen unter zichten sollte“, und gemeint, ein vorzeiti- * Am Donnerstag vergangener Woche in Rom. www.spiegel.de/dossiers

122 der spiegel 7/2005 Leben des Papstes. Wenn Wojtyla tatsäch- lich einmal an einen Rücktritt denken soll- te – ein sehr unwahrscheinlicher Gedanke –, dann würden seine Vertrauten ihm das schnell ausreden. Auch im eigenen Inter- esse. Der päpstliche Privatsekretär, Stanislaw Dziwisz, ist selbst längst Titularerzbischof geworden. Er entscheidet auch über das Schicksal und den Zeitpunkt der Behand- lung von Dokumenten und Angelegenhei- ten, die der Papst regeln muss. Die Gren- zen zwischen dem Willen des Chefs und dem seines Assistenten sind schon lange nicht mehr klar zu erkennen. Kein Kardinal hat so viel Macht und Ein- fluss wie er. Dziwisz ist der Petrus des Paps- tes. Er allein entscheidet, wer Zutritt zum Heiligen Vater bekommt. Dziwisz war der Einzige, der während der Krankheit stän- digen Zutritt zum Papst hatte. Selbst der mächtige Chef der Bischofskongregation, Kardinal Giovanni Battista Re, musste wie- der gehen, als er am ersten Tag zum Kran- kenbesuch kommen wollte. „Er (Karol Wojtyla) müsste um des Nut- zens und der Notwendigkeit der Kirche willen zurücktreten“, erklärt der Theologe Hans Küng. Die Autorität des Papstes

könnte von bestimmten Leuten für eigene / AFP PINTO (R.) / DDP (L.); VINCENZO LEIPRECHT STEFFEN Zwecke in Anspruch genommen werden. Kardinäle Ratzinger, Sodano: Noch hat das Ränkeschmieden nicht begonnen Jetzt ist vor allem die Frage, wer die Ein- ladungsliste schreibt zum nächsten Konsis- Papstnachfolge zählt: „Im Konklave könn- genheiten und blendender Prediger. Er war torium, der Kardinalsversammlung, wer te er sicher schon beim ersten Wahlgang Erzbischof von Mailand. über die neu Einzuladenden entscheidet. einen Großteil der Stimmen erhalten.“ Noch hat das Intrigieren, das Ränke- Die Versammlung soll für Ende Juni ein- Ratzinger hat in letzter Zeit häufiger den schmieden, das Gerüchtestreuen nicht be- berufen werden. In seiner Zusammenset- Papst bei wichtigen Messen und Ereignis- gonnen – die untrüglichen Zeichen für ein zung wird das Konsistorium eine Art Sitz- sen vertreten. Ein deutschsprachiger rang- bevorstehendes Konklave. Im Haus der probe fürs Konklave sein, das den nächsten hoher Kleriker sagt: „Ratzinger hat durch Heiligen Martha, wo die Kardinäle ein- Papst zu wählen hat. seine jahrzehntelange Arbeit in der Welt- quartiert werden, herrscht normaler Hotel- Nur drei Kardinäle haben schon dem kirche für viele hier eigentlich keine ein- betrieb, und Herren in Priesterkleidung zie- Konklave angehört, das 1978 Karol Woj- deutig deutsche Nationalität mehr.“ hen ihre Rollkoffer über das heilige Pflaster. tyla zum Papst wählte. Einer von ihnen Zu den Konkurrenten Ratzingers mit Bald ist Ostern, das Fest der Auferste- ist heute selbst einer der Papabili, ein ausgeprägtem Profil zählt, trotz seines Al- hung. Für einen Papst eine anstrengende Kardinal mit Aussichten, Nachfolger ters von 78 Jahren, immer noch der italie- Zeit. Doch ein Feiertag lässt sich nicht ab- Petri zu werden: Kardinal Joseph Rat- nische Kardinal Carlo Maria Martini. Für sagen wie eine Audienz. Allerdings: Die zinger. manchen in der Kurie wäre er ein idealer traditionelle Fußwaschung, seine Kreuz- Als Vorsitzender der Glaubenskongre- Papstnachfolger, bei dem es „keinen allzu prozession am Colosseum, die persönliche gation wacht Ratzinger seit gut 23 Jahren großen Abstieg vom jetzigen Papst“ gäbe. Beichte beim Papst sind längst gestrichen. über die richtige Lehre. Seine Dienststelle Er gilt als souveräner Repräsentant, gut or- Die Karliturgie wird ein anderer halten, ist der ehemalige Sitz der Inquisition. ganisierter Manager von Kirchenangele- vielleicht einer der Papabili. Selbst der Se- Unter den Kardinälen hat Rat- gen „Urbi et orbi“ könnte ab- zinger viele Freunde, besonders gekürzt werden, auf einen kur- in Italien und Lateinamerika. zen Gruß, ein verwischtes Kreuz- Sein Image als Hardliner ist deut- zeichen. scher Herkunft. In der italie- Zeichen eines Mannes, dem nischen Kirche steht Ratzinger sein Körper zur Last und zum Ge- als Intellektueller, Theologe und fängnis geworden ist und der nur Wissenschaftler in höchstem An- noch aufrechterhalten wird von sehen. Seit längerem übt er sich einem Glauben, der Leiden als öffentlich in vornehmer Zurück- Prüfung und Weg zur Erlösung haltung, bis hin zu liberaleren versteht. Melchior Vulpius, Lied Äußerungen. Nr. 662: „Ich hab nun überwun- Pater Eberhard von Gemmin- den / Kreuz, Leiden, Angst und gen ist Leiter der deutschspra- Not; / durch seine heilgen Wun- chigen Redaktion von Radio den / bin ich versöhnt mit Gott.“ Vatikan. Er glaubt, dass Kardi- Ostern ist nah.

nal Ratzinger zu den aussichts- / AFP PINTO VINCENZO Alexander Smoltczyk, reicheren Kandidaten für eine Petersplatz in Rom: „Herr, nimm mein Seufzen auf“ Peter Wensierski

der spiegel 7/2005 123 TSAFRIR ABAYOV / AP ABAYOV TSAFRIR Israelischer Panzer im Gaza-Streifen: „Feindseligkeiten, die Ihr Leben oder Eigentum gefährden könnten“

beenden, erntete er reichlich Lob. Doch NAHOST kann er die radikalen Milizen ausgerechnet in der Hochburg der Hamas unterwerfen? Gelingt es ihm, nach dem Abzug Israels ein Testfall für den Frieden funktionierendes Gemeinwesen aufzubau- en, mit dem er zeigen kann, dass die Paläs- Nach dem Sonnengipfel von Scharm al-Scheich müssen Israelis tinenser reif sind für einen eigenen Staat? Kein Zweifel, dass die 1,4 Millionen Bür- und Palästinenser nun ihren Versöhnungswillen unter Beweis ger von Gaza den Abzug der Israelis her- stellen – zuallererst im Gaza-Streifen, der Hochburg der Gewalt. beisehnen. 7000 Siedler haben mitsamt ihrem Militärschutz etwa 20 Prozent des ie israelischen Soldaten am Check- Ob vor oder hinter der Röhre – überall Landes belegt, sie sitzen auf besten Ent- point Eres singen. Es ist der Tag ist Hoffnung zu spüren. Seit Israels Minis- wicklungsflächen und an den schönsten Dnach dem Friedensgipfel von terpräsident Ariel Scharon und Palästi- Stränden. Doch ob der Gaza-Rückzug ein Scharm al-Scheich. Ungewöhnlich ent- nenserpräsident Mahmud Abbas vergan- Erfolg wird, hängt nach Ansicht von Cha- spannt fertigen die Wehrpflichtigen ein genen Dienstag im ägyptischen Badeort lid Abd al-Schafi davon ab, „inwieweit Is- paar Diplomaten und Vertreter internatio- Scharm al-Scheich nach mehr als vier Jah- rael uns danach Bewegungsfreiheit gibt – naler Hilfsorganisationen ab, die den Über- ren Terror und Gewalt einen Waffenstill- oder ob es uns dann weiter abriegelt und gang in den Gaza-Streifen passieren wollen. stand vereinbart haben, ist plötzlich wieder drangsaliert“. Der Ökonom, der in Gaza- Alle Besucher müssen eine Erklärung von Frieden die Rede, von einem „Neu- Stadt eine Uno-Unterorganisation leitet, ausfüllen, dass sie auf eigenes Risiko in ein beginn“, ja, einer „neuen Ära“ des Dialogs. sitzt in einem Büro mit blauen Designer- Gebiet einreisen, wo „Feindseligkeiten Vor allem auf Gaza, einen der am dich- möbeln. „Die kommen alle aus Gaza“, er- stattfinden, die Ihr Leben oder Eigentum testen besiedelten Flecken der Erde, werden klärt er stolz. gefährden könnten“. Dann wünschen die sich die Augen der Welt bald richten. Denn Die Möbelbranche ist einer der Zweige, Militärs sogar einen „schönen Tag“. Am der Armutsstreifen, wo mehr als ein Drittel die die Wirtschaftszahlen in dem Gebiet Wachturm, neben dem sich das große ei- der Bevölkerung in Flüchtlingslagern lebt, nach oben bringen kann, meint Abd al- serne Tor ins Palästinenserland öffnet, ist der Testfall, ob der Friedensprozess Schafi. Vor allem aber Agrarprodukte wie krault eine Soldatin ihrem Kameraden ge- tatsächlich wieder eine Chance bekommt. Oliven, Erdbeeren oder Schnittblumen sind rade ausgiebig das Haar. Hier wird sich zeigen, ob der inzwischen die Exportschlager aus dem fruchtbaren 600 Meter Fußmarsch durch eine gott- als Heilsbringer gepriesene Hardliner Scha- Küstenstreifen, der bereits jetzt – allerdings verlassene Betonröhre voller Staub, Unrat ron tatsächlich die Kraft hat, den ersten über Israel – viele seiner Waren nach Eu- und Stacheldraht sind noch zu bewältigen, Siedlungsabzug in der Geschichte der is- ropa liefert. „Wir brauchen einen eigenen bevor der Reisende das Hoheitsgebiet raelischen Okkupation durchzusetzen. Ob Zugang zu den Märkten, die Grenzüber- der Palästinensischen Autonomiebehörde es zum Bürgerkrieg mit den Siedlern gänge müssen durchlässig sein, wir benöti- betritt. Drei Uniformierte der National- kommt – oder der Nachweis erbracht wird, gen Hafen und Flugplatz.“ garde sitzen an einem wackligen Holztisch dass Israels Demokratie stärker ist als ihre Von seiner eigenen Regierung erwartet und übertragen mit zeremonieller Sorg- Feinde. der Wirtschaftsexperte überfällige Refor- falt Namen und Passnummer des Einreise- Im Gaza-Streifen muss sich aber auch men und eine endlich funktionierende Jus- willigen in eine große Liste. Dann sagen der neue Palästinenserpräsident Mahmud tiz. Internationale Investoren, die sich im sie: „Welcome!“ – Willkommen im Gaza- Abbas bewähren. Für seine ersten beherz- Gaza-Streifen engagieren wollen, stehen Streifen. ten Versuche, die gewaltsame Intifada zu nach den Worten des Weltbankkoordina-

124 der spiegel 7/2005 Ausland tors Markus Kostner längst bereit. Damit Raketen feuert die Hamas auf israelische sie wirklich kommen, sind vor allem Si- Siedlungen ab. Schon sind die Zweifel wie- cherheit, Ruhe und Ordnung nötig. der da: Wie soll da ein Waffenstillstand In den Straßen von Gaza sind erste An- halten? Wann schlägt gar der nächste zeichen der neuen Ära Abbas nicht zu Selbstmordattentäter zu? übersehen. Lange herrschten Chaos und So oft gehofft, so oft enttäuscht. Abbas Willkür. Jetzt regeln, im eisigen Februar- hatte seinem neuen Partner Scharon zwar wind, Polizisten mit blauem Barett und gel- auf dem Gipfel auf Hebräisch zugeflüstert: ber Schutzweste den Verkehr und halten „Rega, rega“, gib mir etwas Zeit, dennoch Autos an, um die Papiere der Insassen zu ist er erst einmal wieder der Blamierte: kontrollieren. Fast schon stolz zeigen die Seine Polizisten verhinderten ebenso we- Leute ihre Führerscheine vor – so, als wä- nig, dass bewaffnete Männer vergangene ren sie froh, dass die Polizei endlich wieder Woche in das zentrale Gefängnis von Gaza ihrem Job nachgeht. eindrangen und drei Insassen ermorde- Entlang der Strandstraße liegen Trüm- ten. Wutschnaubend feuerte Abbas sei- mer. Kleine Restaurants hatten einst an nen Polizeichef und mehrere Sicherheits- dieser Stelle gestanden, mit denen sich Mit- kommandeure. glieder der unter Jassir Arafat allmächtigen Häuser, Straßen, der Flughafen – ein Sicherheitskräfte einen Nebenverdienst Großteil der vom Ausland finanzierten In- verschafften. Präsident Abbas persönlich frastruktur wurde von Israel während der verfügte den Abriss, um ein Exempel gegen Intifada zerstört. Auf der verlassenen Bau- illegales Bauen zu statuieren. stelle des Seehafens weiden die Schafe. Im- Hin und wieder stoppt einer der am merhin, der Wiederaufbau wird mehr Be- Straßenrand postierten palästinensischen schäftigung bringen. Die Arbeitslosigkeit Sicherheitskräfte ein Auto und kontrolliert liegt offiziell bei 35 Prozent, tatsächlich aber viel höher. Noch lange nach dem Ab- zug werden die Gaza-Arbeiter von Jobs in Israel abhängen, die ihnen wegen der Inti- fada in letzter Zeit verwehrt wurden. Zur Erholung der palästinensischen Wirtschaft reicht der Teilabzug ohnehin nicht aus. Motor der palästinensischen Ökonomie ist das Westjordanland. Doch noch ist unklar, wie Israel die bislang ge- trennten Landesteile verkehrstechnisch miteinander verbinden will. Weltbankexperten tüfteln derzeit an Konzepten, wie der Güterverkehr in und

AVI OHAYON / AFP OHAYON AVI aus dem Gaza-Streifen möglichst rei- Verhandlungspartner Scharon, Abbas bungslos fließen kann – und dabei gleich- „Gib mir etwas Zeit“ zeitig auch Israels Sicherheitsbedürfnis be- friedigt wird, etwa durch das Scannen der Lastwagen, wie es schon in anderen Län- dern praktiziert wird. Als Erfolg von Scharm al-Scheich gilt, dass Israel bereits erste Gesten der Öffnung zeigte und den einseitig geplanten Abzug nun mit den Palästinensern koordinieren will. Es könne beispielsweise die Siedler- häuser wie angekündigt zerstören – oder auch nicht, sagt Weltbankmann Kostner. „Wichtig ist, dass der Entschluss gemein- sam mit den Palästinensern gefällt wird.“ Der Bürgermeister von Chan Junis, der

OSAMA ALI OSAMA zweitgrößten Stadt des Gaza-Streifens, hat Bürgermeister Farra kein Interesse an den vergleichsweise lu- Großes Fest am Tag des Abzugs xuriösen Siedlerhäusern. „Mit Bungalows können wir unsere Wohnungsnot nicht lö- den Kofferraum – so sollen geschmuggelter sen“, sagt Osama al-Farra. Er will aber das Sprengstoff oder Mörser aufgespürt wer- Land zurück, ein Drittel des städtischen den. Die Männer hatte Abbas gleich nach Grundes, das die Siedlung Neve Dekalim seinem Amtsantritt aufziehen lassen, um so besetzt. Er hat bereits große Pläne zur Ent- Angriffe auf Israel und die jüdischen Sied- wicklung der Stadt. lungen zu verhindern. Und Farra träumt von einem Volksfest Schon am Donnerstag jedoch holt Abbas am Tag des Abzugs. „Ich habe nur ein we- die Nachricht ein, dass auf die Zusagen der nig Angst, in welcher Realität wir am Milizen zur Waffenruhe nicht ohne weite- nächsten Morgen erwachen. Denn gut res zu bauen ist. Gleich eine ganze Salve kann es erst werden, wenn der Konflikt von Mörsergranaten und mehrere Kassam- gelöst ist.“ Annette Großbongardt

der spiegel 7/2005 125 haus Prasserei und Korruption vorwerfen, weit über 100 Todesopfer. In der Bevölke- rung wächst zudem die Wut und die Ver- achtung auf die Royals. Insbesondere die Jugend sieht sich durch Nepotismus und Misswirtschaft um ihre Zukunft gebracht. Und dann gibt es ja auch noch die Forde- rungen nach Demokratie und Freiheit, mit denen der amerikanische Präsident die Au- tokraten im Nahen Osten überzieht. Zumindest der Kronprinz reagierte dar- auf – und steht seither noch mehr unter Druck aus den eigenen Reihen. Denn in- nerhalb der Herrscherfamilie ist der Wider- stand gegen Abdullahs Kurs groß. Vor allem dessen Halbbrüdern aus dem Sudeiri-Zweig gehen selbst kleinste Fortschritte entschie- den zu weit. Innenminister Prinz Naïf, Ver-

HASAN JAMALI / AP JAMALI HASAN teidigungschef Prinz Sultan und der Gou- Wähler in Riad bei der Abstimmung zum Gemeinderat: Ruf nach Freiheit verneur von Riad, Prinz Salman, lauern an- geblich nur auf eine Chance, Abdullahs Denn es herrscht zwar Wahlkampf in der Thronfolge zu hintertreiben. Sollten etwa SAUDI-ARABIEN Hauptstadt, aber damit auch politischer die Wahlen eine Welle allzu verwegener Ausnahmezustand. Das absolutistisch re- Forderungen auslösen, stünde der Kron- Abstand vom gierende Königshaus zu provozieren kann prinz schnell mit dem Rücken zur Wand. durchaus fatale Folgen haben. Allerdings hält sich die Begeisterung Erstmals in der 73-jährigen Geschichte auch bei den Wählern in Grenzen. Von gut Abgrund des Wüstenreichs gestattet die Herrscher- 400000 wahlberechtigten Männern in der familie Al-Saud Wahlen zum Gemeinderat Region um Riad haben sich nicht mehr als Erstmals lässt das Königshaus und damit zumindest den männlichen Bür- 150000 die grüne Plastikkarte ausstellen gern so etwas wie einen Hauch von De- lassen, die zur Stimmabgabe berechtigt. Wahlen zu – und verfolgt mokratie. Salman ist in einem Heer von Den Gemeinderäten will das Herrscher- die kleine Übung in Demokratie 700 Kandidaten einer von etwa 60 durchaus haus auch nur ein Minimum an Rechten voller Misstrauen. ernstzunehmenden; 7 von ihnen werden in zubilligen: Ihnen soll die „Aufsicht“ und „Berichterstattung“ über die Kommunal- er mutigste Mann der Stadt bittet verwaltung zufallen. zum Beduinen-Mahl ins „Scheich Was das heißt, wissen selbst Kandidaten Dal-Mandi“. Er heißt Suleiman al- wie Salman nicht genau. Ihr Spielraum ist Salman und ist seit einigen Tagen ziemlich ohnehin karg: Den gewählten Ratsmitglie- bekannt. Bis zur letzten Nische ist das Lo- dern in der Stadt Riad stehen vom Herr- kal im weniger wohlhabenden Osten Riads scherhaus ernannte gegenüber, der mäch- besetzt mit jungen Männern, die neugierig tige Bürgermeister inklusive. auf seine Ideen sind. Wichtiger als die Wahl wird am Ende Der Gastgeber ist in das helle Thaub- sein, dass in Saudi-Arabien an solchen Gewand und einen goldgewirkten Abaa- Abenden wie im „Scheich al-Mandi“ über

Umhang gekleidet, ganz im Nomadenstil. AMBAH FAIZA Missstände geredet werden kann – dass in Doch was er zu sagen hat, ist alles andere Kandidat Salman, Zuhörer diesen Tagen erstmals so etwas wie ein öf- als Folklore. Er tritt für Veränderungen ein, „Motor für die Gesellschaft“ fentliches Forum gebildet werden darf. die im ultrakonservativen Wüstenreich die Auch ein Wahlkämpfer wie Salman ach- wenigsten zu denken wagen. den Rat der Stadt Riad gewählt. Dabei bil- tet deshalb darauf, den Bogen nicht zu über- Kinos und Theater, in den Augen saudi- dete die Region um die Hauptstadt am vo- spannen. Offiziell darf er nicht über Politik arabischer Religionsführer wahre Brutstät- rigen Donnerstag nur den Auftakt. Bis Ende sprechen, lediglich über „Dienste“ an der ten von Lust und Laster, will Salman eröff- April wird in den restlichen Provinzen ge- Gemeinde, die er zu leisten gedenkt. Seine nen. Und er möchte, als hätte ihn ein Virus wählt. Und das Herrscherhaus verfolgt mit Vorstellungen lässt der „Motor für die Ge- aus dem verderbten Westen infiziert, den ziemlichem Misstrauen, was die kleine sellschaft“ daher vorsorglich in ein „Kon- Frauen, von denen viele noch immer nur Übung in Demokratie im Land so auslöst. zept zur Verkehrsberuhigung“ aufgehen: mit Mann oder Bruder das Haus verlassen Die Führung hat die Wahlen natürlich Eine Fahrerlaubnis für Frauen könnte ja dürfen, nicht nur das Wahlrecht gewähren, nicht wirklich gewollt, sondern sich nur die ständigen Staus aufheben, weil die sondern auch das Autofahren erlauben. widerwillig darauf eingelassen. Kronprinz unzähligen Chauffeure weniger pendeln Dass Salman derart dreist an Tabus rüt- Abdullah, 81, der für seinen schwer kran- müssten. Kinobesuche wiederum würden telt, findet im „Scheich al-Mandi“ An- ken Halbbruder König Fahd, 82, die Ge- viele junge Männer davon abhalten, stän- klang. Der Mercedes-Importeur Ali klopft schäfte führt, allerdings versucht damit, ein dig aus Langeweile quer durch die Stadt zu ihm kräftig auf die Schulter: „Dein Pro- bisschen Abstand zu gewinnen von dem kurven. Und das Wahlrecht für Frauen sei gramm ist revolutionär.“ Das weist Salman, Abgrund, an den die Sauds das Land ge- doch nur aus Mangel an separaten Wahl- der sein Geld als Reisebüromanager ver- trieben haben. kabinen hinausgeschoben worden. dient, weit von sich, mit sichtlichem Stolz. So macht dem Öl-Reich vor allem der Als am vorigen Freitag die Stimmen aus- Derzeit erlauben sich Salman und ein Terror im Land zu schaffen. In nicht einmal gezählt wurden, lag Salman zurück. Re- paar andere Mutige in der Öffentlichkeit al- 20 Monaten forderten fast zwei Dutzend former in Saudi-Arabien brauchen eben lerhand. Das ist nicht gerade ungefährlich. Anschläge von Islamisten, die dem Königs- einen langen Atem. Dieter Bednarz

126 der spiegel 7/2005 Ausland NATIONAL ARCHIVES (R.) NATIONAL Deportation ungarischer Juden (1944)*: Die „Endlösung“ besonders zügig und besonders konsequent umgesetzt

fernten Salzburg. Dort erregte die Samm- ZEITGESCHICHTE lung erlesener Gegenstände erst das In- teresse und dann die Begierde höherer Offiziere. Die verfielen auf die Idee, sie Der Goldzug aus Budapest könnten damit ja die Villen, Landsitze und Schlösser ausstatten, in denen sie jetzt Mai 1945: US-Offiziere entdeckten Waggons voller residierten. Weit davon entfernt, den Goldzug zu si- Kostbarkeiten aus jüdischem Besitz – und bedienten sich daraus. chern, damit Überlebende der beraubten Ein Gericht in Miami rollt jetzt den Fall verspätet auf. Familien womöglich irgendwann das Gut, das ihnen zusteht, zurückbekommen kön- ie Fälle, mit denen es Patricia Seitz gons, der wegen seiner wertvollen Fracht nen, wie es amerikanischem und interna- üblicherweise zu tun bekommt, „der Goldzug“ genannt wird. Er fuhr vor tionalem Recht entsprochen hätte, traf Dsind selten spektakulär. Bislang ging über 60 Jahren in Budapest los und blieb Mark Clark, der Oberbefehlshaber der es um sechs tote philippinische Seeleute, im Tauerntunnel bei Böckstein in Öster- amerikanischen Streitkräfte in Österreich, die bei einer Explosion an Bord eines nor- reich stehen. Entdeckt haben ihn am 11. eine historisch bemerkenswerte Entschei- wegischen Frachters im Hafen von Miami Mai 1945 – Nazi-Deutschland hatte drei dung: Die ursprünglichen Besitzer seien gestorben waren, oder um lokale Grö- Tage vorher bedingungslos kapituliert – „nicht zu identifizieren“. Der Schatz wur- ßen der Unterwelt, die Justizbeamte be- amerikanische Besatzungssoldaten. de zusätzlich als „Feindbesitz“ deklariert stochen hatten. Alltagsverbrechen eben für Was für ein Fund: Waggons, beladen mit und auf diese Weise für den Armeebedarf die Richterin am Bundesbezirksgericht in Gold und Silber in allen nur erdenklichen requiriert. Florida. Ausprägungen, Kisten mit Eheringen und Den Goldzug, den die Nazis mit Raub- Diesmal aber geht es um mehr, diesmal Kerzenhaltern, Diamanten, Juwelen, mit gut hatten beladen lassen, plünderte jetzt leitet Seitz, 59, einen Prozess, in dem es um handgeknüpften Orientteppichen, Meiße- ausgerechnet jene Besatzungsmacht, die große Mengen an Gold, Silber und Kunst- ner Porzellan und Kristallglas, dazu mehr ebendiese Nazis besiegt und Europa be- schätzen geht, dazu um Habgier und ein als 1200 Gemälde. Hab und Gut wohlha- freit hatte. Und die ungarischen Juden wur- Verbrechen von historischem Ausmaß – bender Leute, Aristokraten und Bürger. den auf diese Weise gleichsam zum zwei- „um einen der größten Diebstähle der In wessen Besitz diese erstaunlichen ten Mal beraubt. Weltgeschichte“, wie Historiker, die nicht Reichtümer einmal gewesen waren, ließ General Morrille Ross zum Beispiel hat- unbedingt zu Übertreibungen neigen, die- sich unschwer herausfinden: Die Nazis und te genaue Vorstellungen davon, was ihm in sen Gerichtsstoff bezeichnen. ihre Helfershelfer in Budapest hatten sie seiner österreichischen Residenz noch fehl- Im Mittelpunkt der Verhandlung vor bei reichen ungarischen Juden konfisziert. te: 20 Teppiche, mehr als 200 Stücke aus dem Gericht in Miami steht ein legenden- Das ging aus Inventarlisten hervor. feinstem Glas und Porzellan, dazu an- umwobener Eisenbahnzug aus 24 Wag- Die amerikanischen Soldaten bugsier- nähernd 250 Silbergegenstände. General- ten den Goldzug zu einem ihrer militä- major Harry Collins, der Kommandeur der * In Budapest. rischen Lagerhäuser im 60 Kilometer ent- 42. Infanteriedivision („Regenbogen“), gab

130 der spiegel 7/2005 eine detailreiche Bestellung für seine wagen, um sich in die Schweiz abzusetzen. Dienstvilla auf: Neben Tafelporzellan und Doch der Versuch schlug fehl, französische Silberbesteck orderte er Trinkgläser für 90 Soldaten nahmen ihn fest. Sie beschlag- Personen, 30 Tischtücher und 60 Sätze Ba- nahmten große Teile der wertvollen Fracht. dehandtücher sowie 13 Teppiche, alles Die Pariser Regierung gab sie nach Kriegs- „von allerbester Qualität und Handwerks- ende an die neue ungarische Regierung kunst, die es im Land Salzburg gibt“. Die zurück. Bestände wurden prompt geliefert, der Dass amerikanische Generäle und Be- Goldzug gab sie her. satzungsoffiziere ihre Villen mit gefunde- Die Budapester Juden gehörten zu den nem Gut ausstaffierten, war sogar zulässig. wohlhabendsten und wirtschaftlich ein- Theoretisch handelte es sich um Leihgaben flussreichsten Gemeinden in Europa. Die an die Armee, die später hätten zurückge- Nazis brachten sie im März 1944, nach der geben werden müssen. Oberbefehlshaber Besetzung Ungarns durch deutsche Trup- Clark erhob allerdings mit seinem Ent- pen, um ihr Vermögen. Auf ihre Anord- scheid Selbstbedienung zum geduldeten nung erließ das Marionettenregime in Bu- Prinzip. Kein Offizier musste seinen schö- dapest eine Flut antijüdischer Dekrete. Alle nen Besitz zurückerstatten. Juden sahen sich gezwungen, Gold und Trotz der Beschlagnahme blieben noch Silber und Juwelen und andere Besitz- Teile der Ursprungsbeute übrig. Sie wur- tümer abzuliefern. Dafür bekamen sie so- den endlich gesichert und nach Übersee gar Quittungen – wie zum Hohn hielt die verfrachtet. 1948, drei Jahre nach Kriegs- Bürokratie auf Ordnung in Zeiten der ende, wurden die Kostbarkeiten kis- Barbarei. tenweise im renommierten New Yorker Der Enteignung folgte die Deportation. Auktionshaus Parke-Bernet versteigert. Dabei setzten die Nazis in Ungarn die Der Erlös ging an die Uno. Er kam jüdi- „Endlösung“ besonders zügig und beson- schen Flüchtlingen zugute, die Auschwitz ders konsequent durch. Ein deutsches Son- und andere Konzentrationslager überlebt derkommando unter SS-Obersturmbann- hatten. führer Adolf Eichmann trieb die ungari- Nur die tatsächlichen Eigentümer gin- schen Behörden zur Eile. Von Mitte Mai bis gen leer aus: Tausende ungarischer Juden

Start des Zuges im DEUTSCH- Wien LAND Dezember 1944 Salzburg ÖSTERREICH Sopron Buda- pest Böckstein Graz UNGARN

Entdeckung im Tauern-Tunnel Mai 1945 heutige 50 km Grenzen US-Soldaten auf dem Goldzug (1945): „Einer der größten Diebstähle der Weltgeschichte“ zum 9. Juli ließen sie mehr als 430000 Ju- oder ihre Nachkommen warten noch im- den deportieren und zumeist ermorden, mer auf Entschädigung für das Geraubte. vor allem in Auschwitz-Birkenau. Zu ihnen gehört Lajos Erdélyi, der auf Dann aber näherte sich die Rote Armee späte Wiedergutmachung hofft. Er ist 75 der ungarischen Hauptstadt, und die Nazis und lebt in einem kleinen Haus im 12. überlegten sich, wie sie ihren Raub in Si- Budapester Bezirk. An den Wänden hän- cherheit bringen konnten. So beginnt die gen Bilder, Grafiken, Ölgemälde. Das sind abenteuerliche Fahrt des Goldzuges im De- die Restbestände eines einst ausgedehnten zember 1944: Zunächst zuckelten die reich- Besitzes. „Musik und Kunst spielten im- beladenen Waggons nach Sopron in West- mer eine große Rolle in unserer Familie“, ungarn. Dann, Ende März 1945, das Kriegs- sagt Erdélyi. „Wir hatten damals 42 Ölbil- ende nahte, ging es über die Reichsgrenze der, mein Vater war Sammler. Davon sind nach Österreich. uns 3 geblieben. Einige habe ich dazu- Und immer wieder bedienten sich gekauft.“ Die anderen 39 Gemälde seien während der Irrfahrt mal ungarische Sol- vermutlich, meint er bedächtig, auf dem daten, mal SS-Marodeure, mal österreichi- Goldzug gelandet. sche Zivilisten an der Fracht. „Es war eine Erdélyis Vater war Anwalt und Besitzer kollektive Fledderei“, sagt der Budapester der Drogerie „Ideal“. Vater, Mutter, die Historiker Krisztián Ungváry. „Keiner war zwölfjährige Schwester und er selbst wur- unschuldig, auf verschiedene Weise haben den im Mai 1944 ins Ghetto von Maros- sich alle beteiligt.“ vásárhely (dem heute rumänischen Tirgu Der ungarische Zugkommandeur Árpád Mure≈) deportiert. Nach wenigen Tagen Toldi zum Beispiel schaffte einige der wert- ging der Transport weiter, nach Auschwitz, vollsten Stücke zur Seite, lud sie auf Last- es war Lajos Erdélyis 15. Geburtstag. Die

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Nazis ermordeten insgesamt 62 Angehöri- Weltkrieg mit jüdischem Besitz umgegan- Miami ein. Dieses Gericht kam in Frage, ge seiner Familie. gen sind. Dabei kam auch der Goldzug zur weil einige Kläger wie David Mermelstein Der Zentralausschuss der ungarischen Sprache. Die Kommission schrieb in ihrem heute in Florida leben. Mit der Rechtsfin- Juden drängte gleich nach dem Krieg auf Abschlussbericht, die Plünderungen seien dung ist jetzt Richterin Seitz betraut. die Rückgabe jüdischer Besitztümer. Das ein „ungeheures Versagen der Vereinigten Die amerikanische Regierung hat sich amerikanische Außenministerium weiger- Staaten“ bei der Restitution jüdischen Ver- lange auf Clarks windige Rechtsstand- te sich jedoch, die Ansprüche anzuerken- mögens. punkte berufen. Jetzt aber will sie offen- nen. Es stellte sich auf den Standpunkt, Die handelnden Personen im militäri- bar einen Vorschlag unterbreiten, der das den General Clark als Erster formuliert schen Warenlager in Salzburg waren da- Verfahren beenden könnte: Vermutlich hatte: Die Eigentümer seien wird sie eine Entschädigung nicht zu identifizieren. von 25 Millionen Dollar an- Es herrschte Kalter Krieg, bieten, heißt es im Kreis Ungarn stand auf der fal- der Beteiligten. Diese Sum- schen Seite. Präsident Harry me soll in einen Fonds für Truman entschied 1948, dass notleidende ungarische Ju- amerikanische Stellen bei- den fließen. An Entschä- spielsweise keine von den digung für materielle Ver- Nazis geraubten Kunstwerke luste denkt die Regierung mehr zurückgeben sollten, Bush offenbar nicht. Die da kommunistische Regie- Kläger hatten ursprünglich rungen sie ja konfiszieren je 10 000 Dollar für jeden könnten, anstatt sie den Be- der rund 50000 ungarischen sitzern zu übergeben. Holocaust-Überlebenden ge- Im Lauf der Zeit variierte fordert. das Außenministerium in Vermutlich muss die Re- Washington die ablehnen- gierung in Washington ihren den Argumente. Im Jahr Kompromiss noch erheblich 1966 beschied es neuerliche anreichern, um zum Ziel zu Anspruchsforderungen, da kommen. Auf welche Sum- habe es sich um amerikani- me sich die Parteien am

sche „Kriegsbeute“ gehan- / SPECTRUM S. DUDAS Ende auch immer einigen delt. Im Übrigen nannte das Auschwitz-Überlebender Erdélyi*: Späte Wiedergutmachung mögen – es kann sich nach State Department die Schät- 60 Jahren lediglich um eine zungen der ungarischen Regierung, im mals schon tot. General Clark war 1986 symbolische Geste der Wiedergutmachung Goldzug seien Besitztümer im Wert von gestorben. Keiner der habsüchtigen Offi- handeln. 206 Millionen Dollar unterwegs gewesen – ziere wurde je belangt. Wer was an sich Die Richterin in Miami hat den Klägern das wären heute zwei Milliarden Dollar –, genommen hatte, ließ sich nicht mehr und den Regierungsvertretern eine Frist „weit übertrieben“. Mal hieß es auch, die rekonstruieren. bis zum Freitag dieser Woche eingeräumt. Ansprüche seien mittlerweile verjährt. Auf der Grundlage des Kommissions- Dann müssen beide Parteien einen Ver- Es dauerte bis ins Jahr 1998, dann wur- berichts reichten 33 aus Ungarn stammen- gleich gefunden haben. Können sie sich de der Fall endlich aufgerollt. Präsident de Überlebende des Holocaust Klage auf aber nicht dazu durchringen, bleibt Patri- Bill Clinton setzte eine Kommission ein, Entschädigung vor dem Bezirksgericht in cia Seitz das Urteil in ihrem ungewöhn- die sich damit beschäftigte, wie amerika- lichsten Prozess überlassen. nische Institutionen nach dem Zweiten * Mit Ehefrau Anna in ihrer Budapester Wohnung. Axel Frohn, Marion Kraske GERARD CERLES / AFP CERLES GERARD EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso: Jeder Wortbeitrag muss in sämtliche 25 Sprachen übersetzt werden

lisch miteinander. Meist ist es nicht gerade Eiland Malta sogar geschafft hat, sein auf EUROPA die Hochsprache aus Shakespeares Dra- Arabisch-Phönizisch aufbauendes Malte- men oder dem Oxford Dictionary, sondern sisch zur europäischen Amtssprache zu Brüsselisch eher ein Basic English mit Gastarbeiter- erheben? Grammatik. Puristen nennen es spöttisch Der Ausweg aus dem Chaos liegt nahe: „Brüsselisch“. Stillschweigend verständigt sich die Euro- für alle Alle Sprachen sind gleich, lautet seit kratie auf die führende Fremdsprache den Römischen Gründungsverträgen das des Kontinents. Das ist praktisch, das hilft Die Briten erobern die EU, zu- linguistische Credo Europas. Zwar be- fast allen. schränkte man sich bei informellen Treffen Französisch, die traditionelle Sprache mindest sprachlich: Eine Art Gast- und EU-interner Kommunikation schon der Diplomatie und einst in der Sechser- arbeiter-Englisch hat sich als immer auf die drei Arbeitssprachen Eng- EU die dominante Ausdrucksweise, ver- Gebrauchssprache eingeschlichen. lisch, Französisch und Deutsch. Aber alle liert deshalb dramatisch an Boden. Nur Verträge, alles, was rechtlich von Belang ein Viertel aller EU-Dokumente wird noch enn der deutsche Wirtschaftsmi- ist und für die Außenwelt in Schriftform ge- im Original in Französisch formuliert. Weit nister von einem Brüssel-Termin fasst wird, muss in die Sprachen sämtlicher über 50 Prozent aller Texte entstehen in Wheimkehrt, redet er regelmäßig in Mitgliedsländer übersetzt werden. Was Englisch. Fast 1000 EU-Beamte aus den eigenartigen Vokabeln. Von einem „non im Europa von erst 6 und später 15 Mit- osteuropäischen Beitrittsstaaten wurden paper“ für „better regulations“ berichtet gliedern machbar war, gerät seit der Er- daher vorigen Sommer auf Kosten der Wolfgang Clement dann zum Beispiel, um weiterung auf 25 Staaten zur Überset- Regierung in Paris zu Französischkur- das sich eine „high level group“ kümmere. zungsgroteske. sen eingeladen. Am Trend änderte das Ein anderes Mal schwärmt er von „one Jedes Dokument muss in alle Amtsspra- nichts. stop shops“, die Platz schaffen für „Cham- chen übersetzt werden. Jeder Wortbeitrag Deutsch hält noch weniger mit. Die Mut- pions“. Und dabei schaut der Mann aus in einer Sitzung muss simultan in alle an- tersprache von fast 100 Millionen Euro- dem Kohlenpott drein, als verstünde er ge- deren Landes-Versionen übertragen wer- päern wird auf breiter Front aufgegeben. nau, was er sagt. den. Mathematisch ergeben sich für die Stolz präsentiert sich Außenminister Josch- Auch Clements Chef gewöhnt sich zu- Dolmetscher 380 Varianten. ka Fischer international in gepflegtem nehmend an den Neusprech. Einst nicht Weil die Übersetzer nicht nachkommen, Englisch. gerade als Fremdsprachentalent gerühmt, können wichtige EU-Vorschriften, von stren- Unproblematisch ist die Hegemonie des kommen Kanzler Gerhard Schröder heute geren Eigenkapitalregeln für Banken bis Englischen nicht. Der Staatsrechtler Paul locker Brüssel-infizierte Sprachbilder über zu verschärften Geldwäsche-Paragrafen, Kirchhof meint, die demokratische Teilha- die Zunge, wie der „Run auf die Battle- nicht in Kraft treten. Über 3000 Dolmet- be des Bürgers am öffentlichen Leben voll- groups“. scher arbeiten allein für die EU-Kommis- ziehe sich „in der ihm vertrauten Mutter- Andere tun sich noch etwas schwer. Als sion, Hunderte weitere werden dringend sprache“. Doch weil es keine praktische Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude gesucht. Bis Ende 2006 hofft die EU-Ver- Alternative dazu gibt, hält der Trend zum Juncker eine internationale Journalisten- waltung genügend Personal auch für die „bad simple english“, wie Linguisten das schar zum Abendessen bat, stieß er mit Sprachen der neuen Mitglieder zu finden. Euro-Esperanto nennen, nicht nur in seinen Muttersprachen Deutsch und Fran- Schon jetzt kostet die Bewältigung der Europa, sondern global an. Nach einer bri- zösisch auf wenig Verständnis. „You speak babylonischen Sprachverwirrung täglich tischen Studie wird 2015 die halbe Mensch- english“, beschied ihm ein Pole unter 2,7 Millionen Euro – etwa eine Milliarde heit Englisch sprechen. beifälligem Nicken von Skandinaviern, Bri- Euro im Jahr. Der amerikanisch-britische Aufstieg zum ten und Osteuropäern. „O Mann“, stöhn- Unverdrossen drängen weitere Sprach- Weltsprachführer bleibt allerdings nicht te Juncker, „auf Englisch zünden meine gruppen auf gesamteuropäische Akzep- von Dauer. Bis zum Jahr 2050 soll nach Bonmots gar nicht.“ tanz. Im Dezember hat Spanien beantragt, dieser Studie die Zahl der Englisch-Lernen- An der Sprache der Briten kommt im europäische Dokumente auch in regiona- den wieder auf ein Viertel schrump- frankophonen Brüssel heute niemand vor- len Sprachen wie Katalanisch oder Bas- fen. Chinesisch, Arabisch, Spanisch werden bei. Ganz ohne Beschluss im Europäischen kisch zu erarbeiten. Die Iren haben für danach genauso wichtig. Die Welt, nicht Rat und ohne Abstimmung im Parlament ihr Gälisch schon einen Sonderstatus er- nur Europa, wird am Ende wieder poly- ist Englisch zur dominanten Sprache in Eu- trotzt: Die EU muss Briefe, die in der al- glott. ropas Hauptstadt geworden. Wenn sich ten keltischen Mundart abgefasst sind, in Dann sind die Angelsachsen arm dran. Letten und Dänen, Polen und Italiener tref- gleicher Weise beantworten. Und wieso Denn niemand kann so wenige Fremd- fen, reden sie, wie selbstverständlich, Eng- auch nicht, wenn es das 400000-Seelen- sprachen wie sie. Hans-Jürgen Schlamp

der spiegel 7/2005 133 Szene Gesellschaft Was war da los, Mrs. Peterson? Die britische Hausfrau Jean Peterson, 42, über ihr Zusammentreffen mit Tony Blair

„Meinen drei Kindern ist die Sache ziemlich peinlich. Weil ihre Mitschüler jetzt denken, ihre Mutter sei so ein Groupie, das sich auf Prominente stürzt und sie abküsst. Dabei hatte ich den Premierminister vorher sehr höflich gefragt. Ich kam gerade vom Einkau- fen, da sah ich vor dem Haus meiner Nach- barin Brenda eine Menschenansammlung. Tony Blair stattete ihr einen Besuch ab, um ihr zu danken für ihren ehrenamtlichen Einsatz in der Jugendarbeit. Da habe ich mich auch vor das Haus gestellt und gewar- tet. Als er aus dem Haus trat, dachte ich, in echt sieht er wirklich sexy aus, so smart und jungenhaft. Ich habe ihn gefragt, ob ich ihn küssen darf. Die Menge grölte. Zu meiner Überraschung sagte er ja. Ich hatte gerade noch Zeit, die Kamera in meinem Handy einzuschalten, und los ging es. Ungelogen:

Seine Lippen sind so weich wie ein Baby.“ / AP CHRIS GLEAVE

Peterson, Blair

ARCHITEKTUR lige Unterbringung für Obdachlose BIOGRAFIEN oder Asylsuchende. Aufzubauen ist Das Haus als Koffer es in wenigen Minuten mit einer Leben seiner Eltern einfachen Handkurbel, beim Wieder- xtra für junge Paare entworfene abbau hinterlässt es keine Spuren. ie lautet euer Rezept einer glücklichen EFertighäuser sieht man eher sel- „Xbo funktioniert wie ein Koffer zum WEhe? Der irische Schriftsteller Roddy ten. Aber ebendie fehlen, fanden die drin Leben“, erklärt Architekt Nash, Doyle wollte es von seinen bald 80-jährigen Mitarbeiter des Rotterdamer Kunst- „man muss es bloß öffnen und lebt Eltern wissen und nahm ihre Lebenserinne- projekts „Parasite Paradise“ und be- los.“ Etwa 60000 Euro kostet das rungen auf. Dabei ließ er den einen die auftragten das norwegische Architek- Haus für Selbstabholer, ein Prototyp Erzählungen des anderen kommentieren. tenbüro „70 Grad“. Dort nahmen ist in Tromsø zu sehen. Herausgekommen ist – neben der Ent- sich die Architekten Kjeld deckung, dass es bei „Rory und Ita“, einem Nash, 41, Gisle Løkken, 41, über 50 Jahre verheirateten Paar, nichts und Joar Lillerust, 38, der genau gleich Empfundenes gibt – ein Porträt Sache an. Das von ihnen ent- des Lebens in Dublin von den zwanziger bis worfene Fertighaus „xbo“ be- zu den achtziger Jahren. Thema ist nicht das steht aus zwei separaten oft in irischer Literatur beschriebene Dasein Wohneinheiten mit Terrasse der Künstler und Guinness-Trinker, sondern dazwischen und sieht von der unspektakuläre, mühselige Alltag des weitem aus wie ein Contai- unteren Mittelstands mit seinen alltäglichen ner; bei genauerem Hinsehen Katastrophen. Der Mann kämpft um seine jedoch entfaltet es architekto- Arbeit als Schriftsetzer, die Frau um das Über- nischen Charme. Mit Küche leben ihrer Kinder. Fehlgeburten und Säug- und Wohnzimmer in der lingstod sind Normalität. Worauf die Mutter einen, Bad und Schlafzimmer stolz sei, möchte Doyle von ihr wissen. Nicht in der anderen Hälfte ist es die Tatsache, dass sie fünf Kinder großgezo- vielseitig nutzbar: ganz nach gen hat, nennt sie, sondern dass sie der „für Auftrag als Sommerhaus für Mensch und Tier gleichermaßen unbekömm- junge Paare, aber auch als lichen“ Verbitterung standgehalten habe. Gästehaus, Büro oder Atelier, als Tagesstätte oder für Aus- SORENSEN CAMERON SARAH BENT RAANES, Roddy Doyle: „Rory & Ita. Eine irische Geschichte“. Hanser stellungen, sogar als zeitwei- Norwegisches Fertighaus Verlag, München; 320 Seiten; 21,50 Euro.

der spiegel 7/2005 135 Szene Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Schlagzeile: „Vergewaltiger gewinnt sie- ben Millionen Pfund im Lotto.“ Auf ei- nem Freigang hatte Iorworth einen Lot- toschein ausgefüllt – jetzt war er reich. In guten wie in schlechten Zeiten Irene Hoare erfuhr noch mehr über ihren Ehemann, sie erfuhr, dass er zu Wie eine Britin erfuhr, dass ihr Mann ein Vergewaltiger ist „lebenslänglich“ verurteilt worden war und dass ein Richter zu ihm gesagt habe, m Leben von Irene Hoare, 55, aus Bei der Hochzeit in der Gefängniska- jeden Moment, den er in Freiheit ver- dem englischen Middlesbrough, hat- pelle trug Irene einen zitronenfarbenen bringe, sei eine Frau in Gefahr. Sie sag- Ite sich nicht viel Aufregendes Pullover, einen weißen Hut und weiße te dem „Sun“-Journalisten Empörtes zugetragen bis zu jenem Tag, an dem Schuhe. An ihren Hals schmiegte sich über Vergewaltiger im Allgemeinen und dieser Fremde bei ihr klingelte. Es eine Perlenkette. Ihr großer Tag. ihren Mann im Besonderen, dann sag- war ein Reporter der Boulevardzei- Die Zeremonie war nach zehn Mi- te sie, sie wolle die Scheidung, und tung „The Sun“. Der Journalist fragte, nuten vorbei, ein Wärter und ein Be- ihren Mann, der sie belogen habe, wol- ob sie mit Iorworth Hoare verheira- sucher sprangen als Trauzeugen ein. Da- le sie verklagen. Das Geld würde sie tet sei, dem Vergewaltiger Iorworth nach stießen Irene und Iorworth mit seinen Opfern spenden. Hoare. Dem Monster. Jenem Monster, Tee und Eier-Sandwiches auf ihre Ehe Politiker meldeten sich zu Wort, ver- das gerade mehr als sieben Millionen an. Die Hochzeitsnacht dauerte fünf sprachen, dass Häftlinge zukünftig nicht Pfund in der britischen Lotterie ge- Minuten, ein kleiner Kuss, eine Um- mehr von solchen Gewinnen profitieren wonnen habe. armung, mehr war nicht drin. Draußen würden. Iorworth Hoare stellte einen Fi- Jetzt war Irene Hoare aufgeregt, sehr vor der Tür warteten der Pastor und die nanzberater ein, der die Millionen auf sogar. Wärter. Offshore-Konten verstecken sollte. Irene Hoare, 55, die so Vor Irene Hoares rot- gern Krimis las, „true geziegeltem Mietshaus crime stories“, Geschich- standen plötzlich Fern- ten von Ganoven, von sehteams, am Tag nach Abenteurern. Die früher dem Bericht in der Fabrikarbeiterin gewesen „Sun“. Im Nachthemd, war und jetzt von 95 darüber einen Mantel ge- Pfund Stütze in der Wo- streift, gab Irene ihre ers- che lebte, in ihrer Sozial- te Pressekonferenz, un- wohnung im Arbeitervier- sicher, aber nicht ohne tel Salters Gill. Sie lebte Stolz. Für wenige Tage allein, und sie hatte einen war sie die Rächerin aller Hund, einen Jack Russell, Opfer des Lotto-Verge-

den führte sie spazieren. PRESS BULLS waltigers, sie war wichtig, Zum Heiraten gab es Aus dem Kölner „Express“, Hoare-Ehefrau Irene man hörte ihr zu. Es ka- niemand, bis 1992 jeden- men immer mehr Journa- falls nicht. Bis Irene Harrison, so Irene Hoare traf ihren Mann noch listen, klingelten, stellten die gleichen hieß sie damals, beschloss, etwas in acht- oder neunmal, dann wurde er in Fragen. Der Rummel nervte Irene ihrem Leben zu ändern. Sie meldete ein anderes Gefängnis verlegt, auf die Hoare, sie gab keine Pressekonferen- sich bei einem Programm an, das Isle of Wight. zen mehr. Ihr Gatte teilte während- Brieffreundschaften mit Häftlingen ver- Er war jetzt weit weg von Irene und dessen mit, wie er sein Vermögen zu mittelte. Salters Gill. Und er war nicht der Mann verprassen gedenke. Zuletzt träumte er Iorworth Hoare war ein echter Ga- ihrer Träume. Er schrieb, aber sie von einer Villa in Thailand. nove, er saß im Wakefield-Gefängnis schmiss die Briefe und Fotos, die jetzt In zwei Wochen, so wird jetzt gemel- bei Middlesbrough, nicht weit von noch kamen, in den Müll. Wenn er det, soll Hoare entlassen werden, als ihrem Wohnort entfernt. Irene schrieb anrief, legte sie den Hörer wortlos auf. reicher, freier Mann. Ein Gesetz, das ei- ihm jede Woche, ab und zu besuchte Sie ging zum Krankenhaus, um sich den nem Häftling seinen Lottogewinn ver- sie ihn auch. Beim ersten Treffen er- Ehering absägen zu lassen, der Finger bieten würde, ist nicht in Arbeit, es zählte Iorworth, er habe eine Bank war zu dick geworden. Scheiden ließ käme auch zu spät für seinen Fall, rück- überfallen. Er war drei Jahre jünger als Irene sich nie. Sie begnügte sich damit, wirkend würde es nicht gelten. Irene, sie mochte ihn, sie fand ihn lustig. ihre Ehe aus dem Gedächtnis zu strei- Und die Opfer können ihn nicht mehr Aufregend. Dass er in Wahrheit nicht chen. Sie führte ihren Hund spazieren, verklagen. Ihre Ansprüche sind verjährt. Bankräuber war, sondern Vergewalti- und ihr Wohnzimmer dekorierte sie mit Seiner Frau hat Hoare eine Abfin- ger, hatte ihr niemand gesagt. Fotos ihrer verstorbenen Hunde, alles dung vorgeschlagen, doch das Angebot Iorworth fing an, Irene Liebesbriefe Jack Russell. Wenn ein Hund dahin- genügt ihr nicht. Sie will ihn verklagen, zu schreiben. Er machte ihr einen Hei- schied, kam ein neuer; so verlief das sie will mehr Geld, für sich und die Op- ratsantrag. Er schickte 200 Pfund für ei- Leben von Irene. fer, wie sie sagt. nen Verlobungsring, doch Irene lehnte Mehr als zehn Jahre später tauchte Hauptsächlich aber will sie mit ih- ab, vorerst. 1993 gab sie nach. Irgend- Iorworth wieder in ihrem Leben auf. rem Hund spazieren gehen und keine wann mal müsste Iorworth ja freigelas- Er schaute sie an von einem Foto auf Fragen mehr beantworten. Vor allem sen werden, dachte sie, also warum der „Sun“-Titelseite, die ihr der Journa- keine über Iorworth Hoare. nicht, war doch ein ganz netter Kerl. list vor die Augen hielt. Daneben die Gregor Waschinski

136 der spiegel 7/2005 AP Flutwelle auf Penang am 26. Dezember 2004: Ein Seebeben, das zum Weltbeben wurde

TSUNAMI Der Amoklauf des Meeres Erdbebenforscher und Ozeanografen haben das Geheimnis des Weihnachtsbebens entschlüsselt, sie warnen vor neuen Tsunamis und fordern besseren Küstenschutz. Je mehr man über die Dramaturgie der Naturkräfte weiß, desto besser kann sich die Menschheit schützen – eine Rekonstruktion der Stunden, die die Welt veränderten.

m zweiten Tag der Erdbebenkon- me, Christen, Hindus, Buddhisten berührt. schen Ozean wissen, haben SPIEGEL-Re- ferenz im japanischen Kobe, vier Weil sich rund um das Epizentrum die Kul- porter zusammengetragen. Sie haben in AWochen nach dem Weihnachtsbe- turen und Religionen der Welt mischen wie den Wochen danach mit über 400 Men- ben, wurde auf einer Großleinwand noch sonst nirgendwo, weil der Indische Ozean schen gesprochen, die den 26. Dezember einmal der Videofilm eines deutschen Tou- mit seinen Stränden die Fluchtwelt ist für unterschiedlich und doch gleich erlebt ha- risten gezeigt. Es waren Bilder vom Touristen aller Kontinente, wurde aus dem ben: als einen Moment, in dem sich ent- in Thailand, Bilder vom Horizont, an dem Seebeben schnell ein Weltbeben. Ein Er- schied, ob sie weiterleben durften. das Wasser sich aufbaute. Fasziniert filmte eignis, das das Verhältnis der Menschen Entstanden ist so die erste umfassende der Urlauber diese unfassbare Welle, bis es zum Mitmenschen und zu Gott, vor allem Rekonstruktion jener Katastrophe, die die für ihn selbst beinahe zu spät war. aber zur Natur vor neue Fragen stellt. Welt erschütterte wie kaum eine andere. Die meisten im Konferenzsaal hatten die Warum gab es in den oft von Beben er- Bilder oft gesehen, aber wie gebannt starr- schütterten Regionen kein Warnsystem? Indonesien, Banda Aceh, 26. Dezember ten die Forscher wieder hin. Lange braucht Warum durften die Strände von Sri Lanka 2004, 7.00 Uhr Sumatra-Zeit der Mensch, selbst wenn er nur Zuschau- und Thailand an vielen Stellen bebaut wer- Glatt liegt der Ozean um Sumatra, die Son- er ist, um Katastrophen solchen Ausmaßes den? Warum konnte eine Insel wie Phi Phi ne steigt seit 6.46 Uhr, der Wind weht zu verarbeiten. Und das Ausmaß hier ist mit Hotels so voll gestellt werden, dass sie schwach von Süden her, dieser Sonntag gewaltig: Sechs Wochen nach dem Erd- zur Falle wurde für mehr als 2500 Men- wird keinen Sturm bringen. Sofyan Anzib, beben ist die geschätzte Zahl der Toten auf schen? „Es war nicht die Welle, die die Men- Kutterkapitän seit 35 Jahren, hantiert an 313000 gestiegen, 143000 von ihnen wer- schen getötet hat – es war deren Unwissen- Bord seiner „Bintang Purnama“, es ist den noch vermisst, darunter 558 Deutsche. heit“, sagte in Kobe ein Schweizer Geologe. noch kühl, 22 Grad Celsius, er trägt eine Die Naturkatastrophe hat Menschen in Was die Forscher über die Vorgänge im dunkle Mütze aus Wolle. In seinem Bart aller Welt aufgerüttelt, sie hat Musli- Sundagraben vor Sumatra und im Indi- steckt eine Nelkenzigarette, eine

138 der spiegel 7/2005 Gesellschaft

Dji Sam Soe. Der starke, süße Tabak ist er die Launen des Ozeans kennt, seine Aceh, auf Holztischen türmen sich Papayas sein Frühstück. Sofyan nimmt tiefe Züge, schäumende Wucht, seine brüllende Ge- und Lychees, Chilis, Kokosnüsse, dazwi- er treibt seine Leute an, er hat einen Plan. walt. Er liebt, trotzdem, das große Wasser. schen Bretter, beladen mit Hühnern, Zie- Sie werden ausfahren, eine knappe Wo- 20 Mann Besatzung hat die „Bintang genhälften, Rindfleisch, die Stadt ist voller che lang, wie immer, aber fürs Erste wer- Purnama“, rote Reling, schwarzer Bauch, Menschen. Hausfrauen, Händler, Kinder. den sie Kurs nehmen Richtung Westsüd- ein schönes Schiff aus Tropenholz, 20 Me- Um 7.15 Uhr lässt Sofyan die Dieselma- west, und zwischen den nahen Inseln Pe- ter lang; sie liegt am Ufer des Krueng- schinen anwerfen. Seine Leute stoßen das nasi und Keureuse, wo sich das warme Aceh-Flusses auf der Höhe von Lampulo, Schiff mit nackten Füßen frei, sie schießen Wasser der Krueng-Aceh-Mündung mit dem Fischerviertel von Banda. Von hier die Taue auf, sie sortieren ihr Gerät, das dem kalten Wasser der freien See trifft, sind es, auf einer S-Schleife, zwei Kilome- große Treibnetz, die Schwimmer, den werden sie zuerst ihr Glück versuchen. Es ter bis zur Mündung ins Meer. „Bintang Netzbeutel, Styroporkisten, Körbe, die Kö- ist ein guter Plan. Sofyan ist ein guter, an- Purnama“ heißt so viel wie „Schicksal ei- der. Am Ufer schiebt sich, zum letzten Mal, erkannter Kapitän. Er ahnt, was Fische tun. nes Vollmondtages“. Nach dem Mondka- langsam, Banda Aceh an ihnen vorbei. Er kann in den Farben des Wassers lesen lender ist der 26. Dezember der 14. des Zu ihrer Linken die dicht bebauten Vier- wie in einem Buch, er schließt aus den Wir- Monats. Der 15. gilt den Fischern als „der tel Gampong Pande und Gampong Jawa, beln der Strömungen, wo seine Beute steht, Tag des höchsten Wassers“. zu ihrer Rechten Lampulo, ihre Heimat, wo die Goldmakrelen ziehen, die Fregatt- Ringsum machen viele Boote klar zum hinter ihnen Lamdingin, Peunayong. Häu- makrele, der Gelbflossenthunfisch. Seine Auslaufen. Die „Colombia“, die „Alaska“, ser und Hütten, Geschäfte, Garagen, Markt- Eltern waren Fischer, deren Eltern waren die „Zamrut“. Ihre Kapitäne grüßen sich hallen. Teppichläden, Theater, Passäm- Fischer und alle Eltern und Ureltern zuvor, mit kleinen Gesten, sie alle sind um Ecken ter. Holzwerkstätten, Reisebüros, Koran- solange man denken kann. miteinander verwandt. Von Sofyans elf schulen. Kinos, Fahrradhändler, Friseur- Das Meer, sagt Sofyan Anzib – 52 Jahre Brüdern sind acht Fischer wie er. salons. Banda Aceh, 400000 Menschen. alt, ein dürrer, dunkler Mann, Haare wie Am Kai von Lampulo drängen sich die Die Dämmerung weicht ganz dem Tag. Stahlwolle –, es ist Familie. Er fühlt sich ru- Händler schon seit den Nachtstunden. Die „Bintang Purnama“ läuft aus. Breiter hig draußen, sicherer als an Land, obwohl Sonntag ist der große Markttag in Banda wird die Wasserstraße unter dem Kiel,

Der Weg des Tsunami BANGLADESCHBANGLADESCH VIETNAM Ausbreitung und Höhen der Wellen MYANMARM YANMAR LAOS

Höhe der Welle*

Wellenverlauf Vishakha- Yangon patnam THAILAND 2,35 m 10 km Khao Lak 5 Goa 10,62 m Marmagao 1,7 m Bangkok THAILAND INDIEN nach 2 Madras Andamanen Stunden (Indien) Sabang Tamil Nadu Kamala Beach Kerala 6,0 m 5,29 m 12,0 m 4 Tuticorin Phuket 5,84 m Cochin 1,85 m Banda 1,49 m Mullaittivu Patong 35,0 m Aceh Sigli Beach SRI LANKA 5,0 m Khao Lak 5,48 m Colombo 50 km Aceh Nikobaren Karon Beach 1,95 m (Indien) Phuket Phi Phi Sabang 4,49 m Kirinda Galle 4,58 m Hanimaadhoo 4,0 m 7,51 m Banda Aceh 1,8 m Matara Nachbeben Aceh MALAMALAYSIAYSIA MALEDIVEN 5,75 m Male 1,45 m Kuala Lumpur Epizentrum des Seebebens Sumatra SINGAPUR Gan 0,8 m INDONESIEN

3 2 1

nach 1 Diego Garcia Stunde 0,45 m * laut eines japanischen Forscherteams, das die 500 km Höhe von Flutschäden Jakarta nachgemessen hat Java

der spiegel 7/2005 139 Gesellschaft

Sofyans Schiff erreicht die Küste, wo der Aber das Abtauchen verläuft nicht rei- reichen Faktoren ab: der Gesteinsart bei- Krueng-Aceh-Fluss braun ins weite Grün bungslos. Die Indische Platte, sie reicht spielsweise oder der Dicke der Platte. Das der Malakka-Straße geht. Der Kapitän vom Himalaja bis zur südlichsten Maledi- ist das Dilemma der Erdbebenforscher: Sie zieht die Maschine hoch, fünf Knoten ven-Insel, bewegt sich schräg auf die Eu- können den Ort eines künftigen Bebens re- Fahrt, Westsüdwest. Sie sind auf See, sie rasische Platte zu, auf der der Nordatlan- lativ exakt angeben – den Zeitpunkt aller- nehmen Kurs auf den Sundagraben. Es ist tik, ganz Europa und große Teile Asiens lie- dings treffen sie bestenfalls auf ein paar Sonntag, der 26. Dezember. Ein normaler gen. Sie treffen sich in einem Winkel von Jahrzehnte genau, mit einer Wahrschein- Tag, noch mehr als eine halbe Stunde lang. ungefähr 60 Grad, und diese schräge Be- lichkeit, die bei 60 oder 70, aber nie bei wegung verteilt sich an der Plattengrenze 100 Prozent liegt. Indischer Ozean, über dem Sundagraben, auf gleich zwei Bruchzonen: zum einen auf 7.20 Uhr die sogenannte Große Sumatrastörung und Auf der „Bintang Purnama“, 3000 Beben registrieren Forscher jeden zum anderen auf den Sundagraben. Das Straße von Malakka, 7.58 Uhr Tag, irgendwo auf dem Planeten, im Schnitt ist die Stelle, an der die Indische unter die Sofyan Anzibs Fischerboot hat die Küste alle 30 Sekunden. Im Sundagraben vor Su- Eurasische Platte taucht und dabei einen von Aceh gut drei Meilen, fünf Kilometer, matra rumst es alle paar Tage, meist sind es Tiefseegraben formt. hinter sich gelassen, die „Bintang Purna- kleinere Beben der Stärke drei bis vier. Es Es ist ein kompliziertes Mosaik aus ma“, 20 Meter lang, 20 Mann Besatzung, bildet sich ständig Ozeanboden neu, weil Platten und Plattensplittern. Tatsächlich schippert ruhig Richtung Westsüdwest. Im ein paar tausend Kilometer entfernt, im säumen zusätzlich zu den beiden großen Norden ist die Insel We mit Sabang zu se- mittelozeanischen Rücken, aufsteigende Hauptplatten eine Reihe von kleineren hen, westlichste Stadt der 5000 Kilometer Glutströme aus dem Erdinnern den Mee- Platten den Sundagraben, die sich ebenfalls langen Inselkette namens Indonesien, aus resboden auseinander drücken. Aber da gegeneinander bewegen, aneinander vor- Südwesten grüßen schon die bewaldeten die Erde eine Kugel mit fester Kruste ist, beigleiten oder frontal zusammenstoßen, Kuppen von Keureuse und Penasi. lässt sich ihre Oberfläche nicht beliebig ver- niemals gleichmäßig oder stetig. Kapitän Sofyan hat die wenigen Geräte größern. Wo neuer Grund entsteht, muss Kommt es zu größeren Verhakungen, im Blick, die er sich leisten kann, die Brücke an anderer Stelle auch Meeresboden ver- dann stoppt die Bewegung in der betroffe- ist bestückt mit einem alten Echolot aus eng- nichtet werden. Das ist die Lage im Sunda- nen Region. Das Gewicht des überlagernden lischer Produktion, einem gebrauchten Plot- graben vor Sumatra. Gesteins presst die beiden Platten ge- ter, mit dem sich Seekarten anzeigen lassen, Die Indische Erdplatte wird unter die äl- geneinander, die Reibung hält sie zusam- daneben schimmert ein GPS-Navigator. Das tere, leichtere Eurasische Platte gedrückt men. Das Verhaken kann Jahrzehnte, mit- Schiff fährt jetzt nahe der Kante, wo der See- und sinkt zurück ins Erdinnere, wo sie mit unter sogar einige Jahrhunderte dauern, grund vor Sumatra von 80 auf unter 200 Me- zunehmender Tiefe eingeschmolzen wird – während sich die Platte an anderer Stelle ter wegsackt. Sie machen fünf Knoten. eine Art von Recycling, bei der der ganze bereits um einige Meter weiterbewegt. Ir- Sofyan unterhält sich über Funk mit dem Ozean abtaucht, sechs Zentimeter im Jahr; gendwann hält das Gestein die riesige Be- Kapitän der „Colombia“, sie necken sich, das ist etwa doppelt so schnell, wie Fin- lastung nicht mehr aus und reißt. Wann die der Kollege macht Witze über Frauen und gernägel wachsen. Bruchspannung erreicht ist, hängt von zahl- Fische, auf Deck sucht Sofyans Mannschaft

JOANNE DAVIS / AFP Überflutetes Hotel auf Phuket: Der Moment, in dem sich entscheidet, ob Menschen weiterleben dürfen oder nicht

140 der spiegel 7/2005 den Schatten. Sie sitzen dicht an dicht um das Steuerhaus und rauchen, Kretek, Nel- kenzigaretten, süßer, starker Rauch. Banda Aceh ist noch als dunkler Streifen zu ahnen, darüber heben sich die hohen Berge Sumatras. Aus den milchigen Wol- kenbändern sind landeinwärts schon klei- ne Gewitter geworden, sie decken die Gip- fel zu. Es ist 7.59 Uhr. Durch das Meer, durch die Welt geht jetzt ein harter, schwerer Schlag. Und Se- kunden später ein zweiter. Es ist, als liefe die „Bintang Purnama“ in hoher Ge- schwindigkeit auf Grund, oder als hätte sie ein großes, treibendes Holz, ein Wrack ge- rammt, es geht ein Rütteln durch das Was- ser, es tanzt in irren Strudeln, und das Schiff fühlt sich nicht wie auf hoher See an,

sondern als würde es auf Steinen dahin- / JIWAFOTO SOSRODJOJO SINARTUS rollen. Rumpeln. Poltern. Dann Stille. Indonesischer Fischer Anzib: Wühlender Donner, dann wieder Stille nach dem Schlag Indonesien, Indischer Ozean westlich Thailand, Khao Lak, Hotel „Magic Auf der „Bintang Purnama“, vor Sumatra, 7.59 Uhr Lagoon“, Swimmingpool, 7.59 Uhr Straße von Malakka, 7.59 Uhr Der Schlag, der in dieser Minute den Mee- Keine Erschütterung ist zu spüren beim Sofyan Anzib, seit 35 Jahren Kapitän, steht resboden erschüttert, kommt ohne jedes Schwimmen im Pool des „Magic Lagoon“, auf der Brücke mit gesträubten Haaren. Warnzeichen – es gibt keine Vorbeben, kei- 800 Kilometer entfernt, im thailändischen Was, um Gottes willen, war das? Die In- ne Mikrobrüche, nichts, was die Menschen Badeort Khao Lak. Heidi und Jürgen Ko- strumente spielen verrückt. Der GPS-Na- auf eine Katastrophe vorbereitet hätte. In sian ziehen ihre Runden, es gibt einen vigator zeigt wirre Positionen, der Plotter, den geophysikalischen Messstationen zieht künstlichen Felsen mit Rutsche und Sand- das Echolot, der Funk stellen sich tot. die Nadel an diesem Sonntagmorgen träge strand, es gibt Brücken, Kanäle, das wird Die Mannschaft, 20 Mann Besatzung, zitternd eine gerade Linie auf das Papier, den Kindern gefallen, denkt Kosian, sie steht still. Sofyan tauscht Blicke mit Agam das seismische Grundrauschen der Erde. werden die Reise nicht bereuen. Setiawar, seinem 20-jährigen Sohn, er ist Bis um genau 7.58 Uhr und 53 Sekunden Kosian, Unternehmensberater aus Ham- sein Erster Offizier seit Jahren. Sie kennen Ungeheuerliches geschieht: Vor der Küste burg, ist am Abend zuvor hier angekom- die See. Alle drei, vier Jahre machen sie Sumatras senkt sich auf einmal der In- men im „Magic Lagoon Resort and Spa“, sich auf, um einmal rund um Indonesien dische Ozean. In Sekundenbruchteilen mit Heidi und drei Kindern, mit Nina, 16, alle Meere abzufischen, die Javasee, die sackt der Meeresboden einfach nach unten dem 15-jährigen Phil und der 8-jährigen Balisee, die Floressee, die Banda-, die Ti- weg, um zwei Meter hier, um zehn Meter Michele. Die Kinder schlafen noch, es ist mor-, die Seramsee, alle drei, vier Jahre dort, auf einer Länge von etlichen Kilo- acht Uhr morgens, noch zweieinhalb Stun- fahren sie ostwärts bis Papua, 4500 Kilo- metern, während sich weiter entfernt der den, bis die Welle ihren Weg finden wird, meter weit und weiter, in den Pazifik hin- Grund mit vergleichbarer Wucht aufbäumt. zu den Eltern Kosian am Frühstücks- ein, das dauert Wochen, aber nie, auf allen Die Energie, die dieser Schlag freisetzt, pavillon, zu Phil im Wellnesscenter, zu Fahrten, nie hat die See so geschlagen, ohne bringt riesige Gesteinsplatten zum Bersten, Nina und Michele in Zimmer 2130. Wind, ohne Sturm, ohne Blitz und Böen. und das Bersten riesiger Gesteinsplatten Jetzt, um 8.01 Uhr, durchdröhnt ein drit- setzt Energie frei – Verhakungen und Ver- Thailand, Patong, „Sunset“-Hotel, 7.59 Uhr ter Schlag das Meer. Wie der zweite be- werfungen zwischen zwei Krustenplatten, Tom erwacht. Das Bett wackelt und rüttelt, gleitet von fernen, wühlenden Donnern. die sich in den vergangenen 200 Jahren als ob der Mann neben ihr sich hin- und Dann wieder Stille. Die Männer schwei- aufgebaut haben, entladen sich jetzt in we- herwerfen würde. Tom erschrickt, davor gen, worüber sich nicht reden lässt. Ihr nigen Augenblicken. hat ihre Chefin sie gewarnt: Manchmal Boot treibt dahin in einem Geheimnis. Der Ausgangspunkt für dieses Seebe- kriegen die weißen Freier nach dem Sex ei- Dass sie alle das Meer kennen, das heißt: ben, das sogenannte Hypozentrum, befin- nen Herzinfarkt, vor allem die älteren, Sie trauen ihm alles zu. Die Seeleute ent- det sich bei 3,307 Grad nördlicher Breite wenn sie zum Sex die kleinen, blauen Pil- kleiden sich, damit sie leicht bleiben im und 95,947 Grad östlicher Länge. Von hier len schlucken. Und ein toter Freier bedeu- Fall eines Schiffbruchs. Sie wissen nicht, sind es rund 255 Kilometer bis Banda Aceh tet Polizei, Verhöre, Gefängnis. Bedeutet, was als Nächstes kommt. Aber sie bereiten in Indonesien, 700 Kilometer bis Khao Lak dass man kein Geld schicken kann. sich vor auf das Schlimmste. Sie kappen die in Thailand, 2000 Kilometer bis Galle auf Tom setzt sich auf. Das Wackeln hat auf- Schwimmer vom Treibnetz und binden sie Sri Lanka, 2500 Kilometer bis zur Südspit- gehört. Der Mann neben ihr, dünn, weiß, sich um die Schultern, den Hals, sie basteln ze Indiens, 2700 Kilometer bis zu den Ma- liegt still – atmet er? Sie hört nichts. Ist er sich Schwimmwesten, es ist nicht das erste lediven, 6400 Kilometer bis nach Kenia an tot? Sie schüttelt ihn. Mal, die Arbeit geht ruhig vonstatten. der afrikanischen Ostküste. Lässt man den Hey, you, please! You – please! Niemand zeigt seine Angst. Blick vom Epizentrum aus nach Westen Er regt sich. Starrt sie verwundert an. schweifen, liegt dahinter der Golf von Ben- Aber offenbar fehlt ihm nichts. Thailand, Khao Lak, Strand des Hotels galen in gefährlicher Nähe. What about breakfast? „Le Meridien“, 8.02 Uhr Die Katastrophe nimmt ihren Anfang, Breakfast ist Frühstück, das Wort kennt Chai, der kleine Butler, blickt auf die Prä- ohne dass die meisten Opfer auch nur eine sie. Sie nickt eifrig. Er ist nicht wütend, sidentenvilla des Hotels und horcht. Alles Ahnung hätten von irgendeiner Gefahr. weil sie ihn geweckt hat, vielleicht gibt noch ruhig. Gut. Auch in den anderen Aber von nun an entfalten sich die Ge- er ihr noch Geld. Der Tag, denkt Tom, sechs Luxusvillen sind die hellen Stoff- schichten dieses schwarzen 26. Dezember die Hure aus Patong, der Tag fängt rollos heruntergelassen, die Gäste schlafen wie in einem Drama, Akt für Akt. gut an. sicher noch. Sein Dienst hat um 8.00 Uhr

der spiegel 7/2005 141 Gesellschaft angefangen. Er setzt sich unter eine Palme. Kartenspiel, das Gesaufe, das Kautabak- Wanigaratne, 49, ist an diesem Morgen Denkt an die Bücher, die er in seiner Frei- gespucke vor der Kirche am Strand. Father als Head Guard für den Zug Nummer 50 zeit studiert, sie heißen „Heart of Service“ Vimal schlüpft in den weiß gestärkten Ta- verantwortlich. Es ist der Tag von Poya, oder „Service from Start“, sie handeln von lar, hängt sein Nokia-Handy um den Hals. dem heiligen Vollmondfest, und die meis- der Kunst des Dienens. Ein guter Butler Auf geht’s, sagt er sich. ten Passagiere sind auf dem Weg nach Hau- ist unsichtbar und ahnt, was der Gast 20 Meter neben der Kirche schwappen se zu ihren Familien. Bis nach Matara an wünscht: Mangos, eine Zigarre, einen Ele- träge die Wellen an Land. Die Welt, denkt die Südspitze Sri Lankas soll der Zug der fanten-Ritt. Der Gast ist das Kind, der But- Vimal, hat mehr zu bieten als dieses Kaff. Westküste folgen, oft direkt am Strand ler ist der Vater. Der Vater muss das Kind Rom wartet und der Vatikan. Noch zwei entlang, in diesem Zug, der den Namen schützen. Egal, was passiert. Stunden und 20 Minuten bis zur Frage: „Samudradevi“ trägt: Königin des Meeres. „Warum hat Gott das zugelassen?“ Die Königin wird nie ankommen in Ma- Indien, Holy-Cross-Kirche in tara, das Meer wird sich ihre Passagiere Keezha-Manakudi, 6.32 Uhr Ortszeit, Sri Lanka, Colombo, 7.02 Uhr Ortszeit, holen, in zwei Stunden und 42 Minuten. 8.02 Uhr Sumatra-Zeit 8.02 Uhr Sumatra-Zeit Am südlichsten Zipfel Indiens, dort, wo In Colombos Hauptbahnhof Fort Station Malediven, Vilufushi, 6.02 Uhr Ortszeit, der Indische Ozean, der Golf von Benga- verliert Karunathilake Wanigaratne für ei- 8.02 Uhr Sumatra-Zeit len und das Arabische Meer zusammen- nen Moment die Orientierung. Am Gleis Als 2700 Kilometer entfernt die See bebt, fließen, schaut Pfarrer Vimal Raj, 37 Jahre fünf drängen sich mehr als 1000 Menschen ist die Fischersfrau Fatima Ibrahim dabei, alt, in den Spiegel der Holy-Cross-Kirche auf dem Bahnsteig, vielleicht sind es 2000, den Curry fürs Frühstück zu bereiten, dann und rasiert sein hübsches dunkles Jungs- und versuchen, in den soeben eingefahre- wird sie die Teller spülen, am Strand. Das gesicht. Es ist Father Vimals großer Tag, das nen Zug zu steigen. Sie schieben, Babys Meer ist nur 30 Meter entfernt. Fatima neuntägige Kirchenfest beginnt, gleich wird schreien, Frauen greifen die Hände ihrer Ibrahim ist 1,52 Meter groß. Vilufushi, die er die erste Messe lesen. Männer und versuchen verzweifelt, sich Koralleninsel, auf der sie geboren ist, am Er will streng sein heute, die Gemeinde nicht loszulassen. Die Menschenmasse äußersten Ostrand der Malediven gelegen, soll wissen, dass es so nicht weitergeht, das schwappt wie eine Welle gegen den Zug. misst an ihrem höchsten Punkt zwei Fuß, das sind etwa 68 Zentimeter. Ihre beiden Kinder sind noch klein, die Jüngste, Muneef, ist gerade drei Jahre alt geworden und vielleicht einen Meter groß. Genau wird sich das nicht mehr feststellen lassen. Denn das Wasser, das Vilufushi in nur zwei Stunden erreichen wird, steigt anderthalb Meter hoch. Somalia, Hafun, 4.02 Uhr Ortszeit, 8.02 Uhr Sumatra-Zeit Die gut 4000 Bewohner der Halbinsel Ha- fun schlafen, als irgendwo vor Sumatra der Boden zittert. Am Abend haben einige von ihnen mit Scheich Said Awale Mohammed noch über diese Muschel diskutiert, die einer von Ali Fishs Söhnen am Strand ge- funden hat. Nichts, das auf der Welt pas- siert, kann Zufall sein. Alles, was geschieht, auch hier in diesem kleinen Fischerdorf, ist von Allah gewollt. Alles ist Zeichen, und der Job eines guten Imam ist es, die Zeichen zu deuten. Auf den ersten Blick ist gar nichts Be- sonderes an der Muschel. Hält man sie aber gegen die Sonne, dann ordnet sich das, was zuerst wie ein Haufen Kratzer aussieht, zu einer arabischen Inschrift, leuchtend: Allah ist gnädig. Es steht da, kein Zweifel mög- lich, und es sitzt so tief im Kalk, dass es kein Mensch geritzt haben kann. Ali Fishs Sohn hatte gelacht, als er dem Scheich die Muschel zeigte, auch Ali Fish hatte gelacht. Alle freuten sich über die Muschel, über das Zeichen Allahs. Nur der Scheich hatte nicht gelacht. Die Muschel beunruhigt ihn: Bedeutet sie Gutes oder Böses? Ist sie ein Wunder oder ein Fluch? Noch sieben Stunden bis zur Frage: „Wofür hat Allah uns gestraft?“ Indischer Ozean, am Epizentrum, 8.02 Uhr

CAROLINE MALATESTA / AP MALATESTA CAROLINE Wo die Erde bebt, ist das Meer rund tau- Flutwelle auf Ko Phi Phi: Tödliche Unwissenheit am Strand send Meter tief; das Hypozentrum liegt

142 der spiegel 7/2005 deutlich tiefer, etwa 30 Kilometer tief. Das Länge von zunächst 200 bis 400 Kilometern ist nicht viel für ein Beben. Es ist ein be- Tödliche Spannung und bricht. Innerhalb von Sekunden- drohlich flacher Erdbebenherd. bruchteilen werden Millionen Tonnen Ge- Das Erdbeben vor Sumatra – und der Tsunami – Bedrohlich, weil es bei einem Erdbeben wurden ausgelöst, als sich Spannungen, die stein gegeneinander verschoben: Spalten nicht nur Kompressionswellen gibt, die das sich hier jahrzehntelang zwischen zwei tekto- klaffen auf, Schlammlawinen gehen ab, Gestein stauchen und wieder auseinander nischen Plattensystemen aufgestaut hatten, ganze Segmente der nun von der Span- ziehen; viel verheerender sind die Ober- plötzlich entluden. nung befreiten Platte brechen und ziehen flächenwellen, die zum Beispiel Häuser weitere Erdrutsche nach sich. 1 Vor dem Seebeben zum Einsturz bringen, indem sie sie ver- Sumatra Es gibt keinen direkten Zusammenhang scheren – einen rechteckigen Grundriss normale Wasseroberfläche zwischen der Stärke eines Erdbebens und verzerren sie zum Parallelogramm. Ober- Indischer Ozean der Geburt eines Tsunami. Man kann nur Eurasische flächenwellen mit großer Amplitude gibt es Platte sagen, dass ab Stärke 6,5 bis 7 die Gefahr aber nur bei Beben in geringer Tiefe. für eine Riesenwelle steigt. Viel präziser Außerdem ist bei einem Beben so knapp sind die Warnungen nicht. Indische unter der Oberfläche zu wenig Gestein da, Platte Erdmantel das den seismischen Schock dämpfen könn- Auf der „Bintang Purnama“, te. Der Ruck im Innern der Erde schlägt Kontinuierlich schieben sich die Indische und Straße von Malakka, 8.08 Uhr fast ungebremst durch an ihre Oberfläche. die Australische Platte unter die Eurasische Zehn Minuten nach dem ersten Donnern Über dem Hypozentrum, westlich vor Platte. Weil das Gestein dieser Bewegung nicht senkt sich mit einem Mal die See. Sofyan der Nordspitze Sumatras, liegt Simeulue, überall folgen kann, verhakt es sich: Das Gewicht Anzib fühlt das Wasser fürchterlich weichen eine kleine Insel, die bis zu diesem Morgen des überlagernden Gesteins presst die Platten unter seinem Schiff. Der Meeresspiegel sinkt gegeneinander, Spannungen bauen sich auf. vor allem als Geheimtipp für Surfer gilt. Die abtauchende Platte zieht die obere Platte um 10 Meter, um 15, aber nicht wie in einem Das ändert sich jetzt: Der Name der Insel langsam mit sich. kurzen Wellental, nicht wie im hektischen brennt sich nun auch Nichtsurfern ein, auf Auf und Ab eines Sturms, sondern ruhig, der ganzen Welt – als jener Ort, der das 2 Seebeben auf großer Fläche sackt das Wasser weg, als Epizentrum einer Jahrhundertkatastrophe zöge es sich von der Küste zurück, so, als bezeichnet. wäre, irgendwo im Ozean, ein Loch ge- Denn der Bruch unter dem Grund des schlagen und alles Wasser flösse hinein. Meeres, rund 30 Kilometer unter den Ko- Aber das Wasser kommt zurück. Sofyan rallengärten und Badebuchten von Simeu- Anzib traut seinen Augen nicht, aber dann lue, ist nur der Anfang von etwas Größe- begreift er es, dann sieht er mit tiefem, exis- rem: Weil sich die aufgestaute Spannung im tentiellem Schrecken, wie sich ein Buckel Gestein an diesem einen Punkt löst, ver- Wenn die Spannung sich löst, schnellt ein riesiger aufbäumt am südwestlichen Horizont, er ändert sich mit einem Schlag auch die Teil der Platte nach oben – die Erde bebt, der sieht den Rücken einer monströsen Welle, Spannung im übrigen Plattenbereich. Meeresgrund hebt sich an und drängt das Wasser ohne Gischt, ohne Brandung, nur eine rie- Der Meeresboden vor Sumatra reißt auf in die Höhe. sige Blase aus Wasser, einen wandernden wie ein Reißverschluss, und mit einer Ge- 3 Nach dem Seebeben Berg, der zurast auf ihn, auf die „Bintang schwindigkeit von zwei Kilometer pro Se- Tsunamiwellen Purnama“, und Sofyan weiß, es geht jetzt kunde rast der Bruch nach Norden, über um alles oder nichts. Es geht um den größ- 7000 Stundenkilometer schnell, das ist gut ten Kampf seines Lebens. Es geht darum, dreimal so schnell, wie ein „Tornado“- ihn anzunehmen oder zu sterben. Jagdbomber fliegen kann. Auf einer Fläche Er brüllt mit der lautesten Stimme, die von etwa 100 mal 400 Kilometern ruckt der ihm je entfuhr, Julkifli, seinem Maschinen- Boden seitwärts, Richtung Nordwesten. führer, zu, alles aus den Motoren zu holen, Die ersten Stoßwellen des Bebens rasen was in ihnen steckt. Er jagt sein Fischer- durch die Erdkruste und das Meer, vom Der so entstandene Wellenberg teilt sich und boot, eine Nussschale nur, auf die höchst- Hypozentrum bis zur Oberfläche in weni- breitet sich nach allen Seiten aus. Da der Mee- mögliche Geschwindigkeit, acht, neun resspiegel mehrfach auf und ab schwingt, ger als fünf Sekunden. P-Wellen heißen entsteht eine Folge von Knoten jetzt, und er dreht das diese Boten der Erschütterung, von „Pri- Wellen. THAILAND Schiff frontal in die an- mae Undae“, lateinisch für „Erste Welle“. rollende Welle hin- MYANMAR Sie stauchen den Stein unten in der Erde 2 Andamanen, ein. Alles oder und ziehen ihn blitzschnell wieder ausein- Nikobaren nichts. (zu Indien gehörig) ander, sie jagen durch die Wassermoleküle, MALAYSIA Große Sumatra- sie können sogar die Luft in Schwingung störung Sumatra versetzen und einen Ton erzeugen, angeb- INDONESIEN lich. Tiere hören das, sagt man. Eurasische Platte U-Boote haben unter Wasser schon das Epizentrum Indische des Seebebens Donnern, Knallen und Bersten eines Erd- kontinentale Platte Kruste Australische bebens aufgezeichnet. Das hat nichts mit Sundagraben den Schockstößen der Erde zu tun, das Platte sind echte Schallwellen, der wahre Klang der aufreißenden Erde. Weil Schall sich im Wasser sehr gut ausbreitet, sogar schneller ozeanische als in der Luft, kann man ein Seebeben Kruste Indischer Ozean, am weithin hören. Es ist unheimlich, muss Epizentrum, 8.10 Uhr aber nicht gefährlich sein. Damit aus einem Erdbeben ein Tsuna- Erdmantel Im Sundagraben ist es gefährlich: Die Sumatra mi wird und aus einem Tsunami eine Ka- Indische Platte wuchtet ruckartig um bis zu tastrophe, müssen viele Faktoren zusam- 15 Meter nach vorn, wölbt sich auf einer menkommen. Man braucht ein Gebiet, in

der spiegel 7/2005 143 Gesellschaft dem große Krustenplatten aneinander Auf der „Bintang Purnama“, stoßen. Aber es muss eine besondere Form Straße von Malakka, 8.14 Uhr des Aufeinandertreffens sein: in einer so- Der Berg aus Wasser reißt die „Bintang genannten Subduktionszone – also dort, Purnama“ binnen Sekunden in die Höhe, wo eine Platte sich unter die andere das Schiff wird dabei in die See gestaucht schiebt. bis knapp unter die Reling, aufwärts geht Die Wucht eines Tsunami ist zudem die Fahrt, und der Rumpf hält stand, aber umso größer, je länger der Bruch ist. Tie- oben angekommen, sieht Sofyan Anzib ei- fes Wasser gehört dazu und eine Menge nen zweiten Buckel und dahinter, darüber freier Ozean, damit die Wellen sich aus- einen dritten, gestaffelt wie in einem Ge- breiten können; ist der Weg zu Buchten birge wälzen sich die Wellen heran, gigan- und Stränden noch dazu unverstellt durch tische Wasserblasen, schwarz, in jagender Sandbänke oder Riffe, die den Tsunami Geschwindigkeit. bremsen und abschwächen könnten, dann Sofyan hält auf sie zu, einmal und noch

ist die Katastrophe vollkommen. einmal, das Schiff steigt wie eine Treppe / JIWAFOTO SOSRODJOJO SINARTUS So gesehen findet der Tsunami an die- hinauf, hochgetrieben von den Wasser- Indonesischer Meeresforscher Rizal sem Sonntagmorgen ideale Bedingungen. walzen, die ganzen drei Wellen hoch steigt Keine Sekunde an einen Tsunami gedacht Es wäre leichter, wenn eine teuflische die „Bintang Purnama“, alles in allem 50 Macht die Welle losgetreten hätte, wenn Meter, schätzt Sofyan Anzib, das heißt, harren die Männer auf Deck. Ihre Blicke etwas Böses sie steuern würde. Es wäre sein Schiff schwimmt jetzt irgendwo 35 gehen nach Nordosten, zu dem schmalen einfacher, wenn man jemandem die Schuld Meter über Normal null, in einem Natur- Streifen Land. Sie gehen nach Banda Aceh. zuweisen könnte. schauspiel ohne Vergleich. Aber es liegt nichts Böses in dieser Wel- Als sie schwimmen, ganz oben, als sie Indonesien, Banda Aceh, Ulee Lheule, le. Sie folgt den Gesetzen der Physik, prä- gerettet scheinen für den Moment, herrscht 8.15 Uhr zise und unausweichlich. keine Freude an Bord. Schockstarr ver- Die Bewohner von Banda Aceh, 255 Kilo- meter vom Epizentrum entfernt, haben die Erschütterung des Bodens deutlich zu spüren bekommen. Möbel sind verscho- ben oder umgestürzt, Gebäude zerstört oder rissig, auch an massiveren Bauwerken gibt es leichtere Schäden. Auf der Mercal- li-Skala, die nicht Erschütterungen, son- dern die entstandenen Schäden misst, er- reicht das Beben die Stärke 8. Das ist ein ausgewachsenes Erdbeben und dennoch in einer erdbebengeplagten Gegend wie Su- matra weit von einer Katastrophe entfernt. Swarni Muhammed Juned, die alle nur Uning rufen, ärgert sich über die Erde und das Beben, mehr nicht. Dies sind die schönsten Tage ihres Lebens, und es müss- te viel passieren, sie zu verderben. Ein Erd- beben, na gut, aber was könnte wichtiger sein als ihr Hochzeitsfest, was könnte ihren Zug ins Eheleben aufhalten? Morgen, Montag, wird das Fest sein. Morgen, Montag, werden um ihr Eltern- haus in Ulee Lheule, in Bandas Viertel ganz vorn am Meer, 200 Meter zum Strand, 600 Gäste Hochzeit feiern. Uning ist eine schöne Braut. Sie trägt, seit Donnerstag, seit der Heiratszeremo- nie in der Moschee, Gewänder aus be- stickter Seide und die Haare mit Blumen verflochten und schön gesteckt. Nach altem Brauch sind ihre Hände, ihre Unterarme, ihre Füße und die Unterschenkel rotbraun mit dem Saft von Kurkuma-Blättern be- malt, auf ihrer Haut mäandern die Muster wie von Blüten, Gräsern und Lianen, das ist der Brautschmuck von Aceh. Uning ist 40, eine zarte Frau mit hohen Wangenknochen und zierlichen Händen. Lange hat sie warten müssen auf den Rich- tigen, sie fand den Mann fürs Leben nicht in Banda Aceh. Doch dann, ein Jahr ist das her, sagten Freunde, sie hätten ihn für

INOONG / AFP sie gefunden. Sie sagten: Uning, in Medan Moschee im indonesischen Ort Meulaboh: Wie nach einem Atomschlag ohne Feuer lebt ein Mann, der dir gefallen könnte. Er

144 der spiegel 7/2005 DIGITAL GLOBE / SIPA PRESS Banda Aceh vor der Flut: Ein tödlicher Hobel, der nach der Stadt greift ist ernst und ehrlich wie du. Er ist gut und kung einer Bombe. Sie rasiert die Halb- Banda Aceh, Universität Syiah Kuala, sucht eine Frau. insel Pelabuhan Lama Ulee Lheule, die wie 8.15 Uhr Uning fuhr hin, vor einem Jahr, sie woll- ein Damm vor Banda Aceh liegt, sie frisst Die Stimmung ist heiter im Hauptgebäude te diesen Sumarno sehen, 40 Jahre alt sich hinein in die Stadt, und in diesem auf dem Campus über Banda Aceh, trotz wie sie selbst. Dass er ernst und ehrlich Chaos schwimmt bereits, stirbt bereits Su- des Erdbebens, Syamsul Rizal, Meeres- war, das sah auch sie auf einen Blick. Und marno, der Bräutigam. kundler mit einem Doktortitel aus Ham- was nur eine kurze, erste Begegnung sein Und es schwimmen und sterben schon burg, ist wie alle hier beruhigt über den sollte, wuchs sich aus zu drei Monaten 60 seiner Verwandten aus Medan, es doch glimpflichen Ausgang des Bebens. in Medan. So lange blieb Uning unten schwimmen und sterben von Unings fünf Er ist erst seit zwei Minuten zurück. Ei- an der Ostküste. Und die Familie daheim, Brüdern vier, und von ihren vier Schwes- gentlich war er mit seiner Frau Irwani und sie ahnte froh, was als Nächstes kom- tern eine, und es ertrinken Hunderte Men- Mohammad Furqani, seinem Jüngsten, hier men würde. schen, die Gäste sein wollten beim Hoch- oben. Aber nach den schweren Erdstößen Sumarno kam herauf nach Banda Aceh. zeitsfest tags darauf. Und jetzt hört Uning, sind sie doch schnell hinuntergefahren ins Und er hielt an um ihre Hand beim Vater, was sie vorher nicht hören wollte. Etwas nahe gelegene Lingke-Viertel zu ihrem Haus, wie es sich gehört. Er brachte Geschenke, Furchtbares hört sie, ganz nah. um nach dem Rechten zu sehen, es sind mit Gewürze, Stoff, er brachte den Sarong, den dem Auto nur sieben Minuten dorthin. reichgemusterten Wickelrock, das Zeichen Sie fanden nichts weiter. Nur der Was- des Antrags, ein Dreivierteljahr ist das her. serbottich im Keller, im Bad, war vom Nun sitzt Uning im Haus der Eltern, als Schütteln des Bodens übergelaufen, und Braut geschmückt, vor Allah mit einem Irwani, seine Frau, sagte: „Komm, Syam- Mann vereinigt seit vier Tagen. sul, fahr du wieder zurück. Ich wische den Morgen, Montag, wird das Fest sein, es Boden hier auf, wir sehen uns später.“ wird Curry-Rind geben und scharfes Huhn Auch den Sohn ließ er unten, in der nach Aceh-Art, und es wird Eintöpfe geben Fläche von Banda, die ganze Familie ließ von allen Gemüsen und Früchten, die Fel- er da, seine achtjährigen Zwillinge Sarah der und Dschungel hergeben. Sie haben und Mohammad Ilham, die älteste Tochter der Familie des besten Kochs in Ulee Lheu- Fitra, 15, die fast so gut Deutsch spricht le die Ehre angetragen, das Festmahl zu wie er, weil sie die ersten Jahre in Hamburg bereiten. aufwuchs und in der Charlottenburger Es sind, denkt Uning, nur noch Stun- Straße die Schule besucht hatte. den, bis die Feier beginnt. Aber in Wahr- Während der Fahrten hin und her in Ban- heit sind es nur noch Sekunden, bis alle da Aceh, während die Bruchstücke in der ihre Träume zerbrechen. über 1200 Kilometer langen Erdbebenzone Der Tsunami erreicht die Küste. Uning langsam zur Ruhe kommen, ist die Erde ist, ahnungslos, nur noch 200 Meter vom unmerklich weiterhin in Aufruhr, und seis- schwarzen Wasser getrennt. Wie ein Hobel mische Stationen registrieren jetzt auf ihren greift die Welle in die vordersten Gebäude Seismogrammen, dass sich Unerhörtes er- von Banda Aceh und treibt alles – Häuser, eignet hat. Später werden sie wissen, es war Autos, Boote, Hotels, Brücken – aufsplit- ein Beben der Stärke 9,0 oder noch mehr,

ternd vor sich her, eine flüssige Wand, / JIWAFOTO SOSRODJOJO SINARTUS manche Forscher reden sogar von 9,3. kilometerbreit, glatt 30 Meter hoch bei Überlebende Braut Uning Die Primärwellen erreichen nach 5 Mi- der Ankunft, eine Hochflut mit der Wir- Schon für die Hochzeitsfeier geschmückt nuten und 35 Sekunden Katmandu in

146 der spiegel 7/2005 Gesellschaft DIGITAL GLOBE / SIPA PRESS / SIPA GLOBE DIGITAL Banda Aceh nach der Flut: Eine dunkle Kloake, in der Menschen und Tiere schwimmen

Nepal und nach 9 Minuten und 7 Sekunden wie Wasser aus. Es sieht aus wie ein Brei, Er stürzt zu seinem Auto, das ist ein Tokio, sie brauchen 10 Minuten bis Nairo- wie eine unter Wasser gesetzte Müllhalde. Toyota, ein Dienstwagen der Universität, bi und 16 Minuten und 11 Sekunden bis Was hier ankommt, sind Trümmer, die die er verlässt den Campus, der friedlich da- Golden, Colorado. In Japan bebt der See auf ihren ersten 200 Metern schlug, liegt, weil am Sonntag der Lehrbetrieb Grundwasserspiegel. In Deutschland hebt eine dunkle Kloake, in der Tiere stram- ruht, aber schon ein paar hundert Meter sich der Boden um ein bis zwei Zentime- peln, in der Menschenstücke schwimmen, vor dem Tor ist aller Frieden dahin. Was- ter – ohne Schaden anzurichten. Auch in Balkongeländer, Mopedräder, Bücher, Li- ser. Wasser überall. Und vor dem Wasser Banda Aceh ist noch alles heil. monadenflaschen, Bettgestelle. fliehende Menschen, panische Massen, sie Syamsul Rizal war fast sechs Jahre lang, Uning wird erfasst, sie sieht, ehe sie un- drängen heran, in Rizals Richtung, er wird von 1989 an, Stipendiat am Institut für tertaucht, ihre Mutter zum letzten Mal, geschluckt vom Ausnahmezustand. Meereskunde, ein begabter Mann von da- dann wird sie gewirbelt durch den längsten mals 28 Jahren, 1993 promovierte er, und Alptraum ihres Lebens. Einmal kommt sie Banda Aceh, Gampong Baro, 8.17 Uhr auch in den Jahren danach riss der Kontakt hoch und atmet panisch, dann pflügt ein In Gampong Baro, an einer Palme, die zu den Kollegen in Deutschland nie ab. Strudel sie neuerlich unter. Zum zweiten nicht entwurzelt wird, fast zwei Kilometer Auch Irwani, seine Frau studierte in Ham- Mal kommt sie hoch, in Todesangst landeinwärts, wo ihre Reise begann, um- burg, Angewandte Botanik, aber dann ka- schnappt sie nach Luft, dann geht es zurück krallt Uning den Baumstamm und lässt ihn men die Kinder, und sie gab es auf. unter Wasser. Ein drittes Mal taucht sie auf nicht mehr los. Es gelingt ihr, hustend, wür- Das Fachgebiet Rizals sind die Meeres- und wird doch wieder in den Brei zurück- gend, die zwei, drei Meter hinaufzuklet- strömungen, die Winde über dem Wasser, getunkt. Ein viertes Mal sieht sie den Tag, tern, die in diesen Augenblicken entschei- der Monsun. Seit Monaten schon, eigent- aber es geht noch einmal hinab in dieses den zwischen Leben und Tod. Um sie lich seit einem Jahr, seit in Banda Aceh furchterregende Dunkel. herum geht das Meer noch immer land- endlich ein eigenes Institut für Meeres- Sie ist längst nackt. Das Meer hat sie einwärts, sechs, sieben Kilometer über fast kunde gegründet wurde, mit ihm als dem ausgezogen, hat die Blumen aus ihren Haa- zwei Drittel von Banda Aceh hinweg, und einzigen Professor, studiert er die klimati- ren gerissen, die Seide zerfetzt. Uning in gegenläufigen Strudeln kehrt es zurück, schen Besonderheiten des Indischen Oze- trägt, im Kampf mit dieser Macht, nur noch aufschäumend, mahlend, tödlich. Was von ans und ihre Folgen für Sumatra, für Aceh. die Malereien, den Saft von Kurkuma-Blät- der ankommenden Welle nicht zerhackt Dass nach dem Beben ein Tsunami kom- tern, rotbraun, an Armen und Beinen. wurde, wird nun, im Rücklauf zermahlen. men könnte, daran denkt Syamsul Rizal Uning hängt an einer Palme. Sie wird so keine Sekunde. Natürlich, er ist Meeres- Banda Aceh, Universität Syiah Kuala, bleiben, starr, stundenlang. In der Luft- forscher, er hat irgendwelche Artikel gele- 8.16 Uhr röhre und der Lunge hat sie Teilchen von sen über die Killerwellen, aber er denkt Syamsul Rizal, der Meereskundler, ist ein Wasser und Schlamm. Es wird später nicht an sie, keine Sekunde, bis von der nüchterner Mann, rötliche Hornbrille, be- heißen, sie hätte Glück gehabt. Aber was Tür her aufgeregte Menschen rufen: „Das scheiden, ist ein ruhiger Wissenschaftler sie wirklich spürt, ist ein Gefühl von Ver- Wasser! Das Wasser kommt!“ der Natur. Er untersucht Phänomene und nichtung. Sie fühlt sich, am Leben geblie- vergleicht sie. Er wägt alle Informationen ben, wie tot. Banda Aceh, Ulee Lheule, 8.16 Uhr ab. Er rennt nicht los, nur weil Menschen Unings Hochzeitshaus wird erdrückt, nicht „Wasser!“ rufen. Banda Aceh, Universität Syiah Kuala, wie ein Kartenhaus, sondern wie eine Aber die Informationen überstürzen sich 11.00 Uhr überreife Frucht, es zerfällt in Stücke, und jetzt. Was gerufen wird und wie es gerufen Syamsul Rizal, der Meereskundler von die Stücke werden zu kleineren Stücken wird, treibt auch ihm die Panik in die Glie- Banda Aceh, wird vom Warten verrückt. zerrieben, denn was hier ankommt, 200 der. Es geht etwas Großes vor da draußen, Er musste den Versuch, im Toyota hinun- Meter vom Strand, sieht schon nicht mehr etwas Unerhörtes. terzufahren nach Lingke, um nach Frau

der spiegel 7/2005 147 Gesellschaft und Kindern zu forschen, schon nach ein Denkmal für die aufständischen Studen- Es sind noch 70, 80 Meter bis zu seinem paar hundert Metern beenden. Jetzt fin- ten, die einst gegen Hollands Kolonialher- Haus. Er sieht die Reihe der Gebäude, in det er sich in der Menschenmenge, die sich ren kämpften. Der Tugu Pena, der „Ku- der es steht. Er sieht vor allem, dass die Ge- um die Moschee auf dem Uni-Campus gelschreiber“, ist weithin zu sehen, ein Mo- bäude wirklich noch stehen, dass sie nicht, drängt. Um ihn herum hantieren alle mit nument in blassen Farben, es steht nicht wie gegenüber die fußballfeldgroße Kaser- Mobiltelefonen, es kreuzen sich gute Nach- mehr in einer Stadt, sondern, wie ein ne der mobilen Polizeibrigade, eingeebnet richten mit schlimmen Ahnungen, es fin- Leuchtturm, am Meer. sind. Die Hoffnung beschleunigt seinen den sich Familien am Telefon, und andere Wo der Kugelschreiber ragt, nimmt die Gang. Er zieht die Beine schnell und hoffen vergebens auf Antwort. Straße Tengku Nyak Arief ihren Anfang, schneller. Er erkennt schon die Schrift un- Rizal hat keine Meldung von seiner die breite Hauptachse durch Lingke, das ten, am Geschäft seiner Frau, das ge- Familie. Er hat keine Ahnung, wo sie sich war ein besseres Viertel. Hier ist Syamsul schwungene, deutsche Wort „Schön“, weiß befindet. Drunten in der Ebene, im ganzen Rizal zu Haus, Tengku Nyak Arief No. 214. auf blau, so heißt die Boutique, der Laden Ostteil von Banda, geht nichts mehr. Zwar Rizal, die Hosen schwarz verschmiert für Mode und Accessoires, in den sie erst ist das große Wasser, binnen einer Stunde, vom Unrat, schwarze Spritzer bis hoch auf kürzlich investiert haben, um alles noch abgeflossen. Aber noch immer steht die die Schultern, zieht seine Beine durch das schöner zu machen, jetzt ist er da. Flut, gehalten von Flussarmen und Ka- brackige Wasser, seine eigenen, gluckern- Und oben, mit schlagendem Herzen, nälen, Teichen und Kellern mindestens den Geräusche begleiten ihn den ganzen sieht er im Fenster der Wohnung im ers- knietief in der Stadt. langen Weg. Er kommt schlecht voran. ten Stock seine Putzhilfe stehen, Husni Hier im Osten, wo das Wasser fast sechs Eine Stunde, zwei Stunden ist er unter- Jati, und bei ihr, wirklich, ist Mohammad Kilometer landeinwärts gestiegen ist, wo wegs. Es ist nicht nur das Wasser. Es ist der Ilham, der achtjährige Zwilling, Rizal es zusätzlich noch die Wassermassen aus Schrott, der Müll, der unsichtbar unter der möchte weinen vor Erleichterung. Das dem großen Banjir-Kanal von der Seite her Oberfläche liegt, der ihn stolpern lässt, Haus steht. Husni ist da, Mohammad Il- in die Stadtviertel drückte, erinnert nicht straucheln, es ist das Treibgut, das sich in ham, vielleicht ist alles gut, vielleicht sind mehr viel an Banda Aceh, wie es vorher seinen Beinen verhakt. Rizal macht sich sie alle dort oben, alle gerettet, aber Hus- war. Der Stadtplan, das Raster der Straßen frei, immer wieder, er kämpft, er hat Angst, ni macht ein entsetztes Gesicht, Rizal er- ist wie wegradiert. Wo Wege waren, sind tiefe, entsetzliche Angst. schrickt. Und sie, dort oben, ruft, mit kip- Schutthalden. Wo Häuser waren, liegen Er versucht, seine Blicke zu steuern. Er pender Stimme: „Syamsul, ich bin hier zertrümmerte Schiffe. Wo Menschen wa- versucht, die schlimmsten Bilder zu mei- oben allein mit Mohammad Ilham. Wir ren, finden sich Leichen, viele, Tausende. den, die schlimmsten Bilder gehören zu to- sind hier allein.“ Rizal kann nicht mehr länger warten. Er ten Kindern und leblosen, schwangeren Wo die anderen sind, Irwani, Fitra, Sa- muss jetzt, wie auch immer, zu seinem Frauen. Die Straßen sind gefüllt mit Lei- rah, Mohammad Furqani, niemand weiß Haus. Er verlässt den Campus zu Fuß. Er chen, Ertrunkenen, Erschlagenen, Tote es. Syamsul Rizal nimmt den Sohn in die wird jetzt hinuntergehen. Er muss wissen, ohne Zahl. Rizal will nicht und muss doch Arme. Er drückt ihn, lange und fest, nichts was die Flut ihm angetan hat. alle ansehen, denn wer weiß, wer weiß, Wertvolleres weit und breit. Dass auch der Er bewegt sich bald durch lauwarmes, wer da liegt, wer weiß, ob er nicht hier ei- andere Sohn gerettet ist, sein Jüngster, stinkendes Wasser, er orientiert sich am nen Körper findet, der zu ihm gehört. weiß er nicht. Er wird es tags darauf er- LANA SLIVAR / REUTERS LANA SLIVAR Zerstörte Hotelgebäude auf Ko Phi Phi: Unausweichlich folgt die Welle den Gesetzen der Physik

148 der spiegel 7/2005 BAZUKI / REUTERS MUHAMMAD Flutopfer in Khao Lak, Überlebender in Banda Aceh: Leichter wäre es, wenn man jemandem die Schuld geben könnte fahren. Von den anderen, von Frau und Köpfen und Herzen die Ahnung von der Sofyan liebt seine junge Frau, und er Töchtern, keine Spur. Gewalttat des Wassers an Land. vertraut ihr. Er hat ein Gefühl hier drau- Das Meer ringsum liegt wieder gleich- ßen, auf See, dass sie noch lebt. Sie kennt Auf der „Bintang Purnama“, gültig da, als wäre nichts gewesen. Leichte das Meer. Sie traut ihm alles zu. Sofyan Straße von Malakka, 12.00 Uhr Dünung, schwache Winde aus Süden, glaubt in diesen Minuten, dass sie lebt. Sofyan Anzib ruft die anderen Boote. Er leichte Bewölkung, keinerlei Zeichen für Dass sie sich retten konnte. Und dass die ruft die „Replesia“, die „Colombia“, die Sturm. In Sofyan kreuzen sich die Gefüh- Kinder gerettet sind. „Zamrut“. Er ruft die „Ilah Daja“, die Ra- le. Er kauert an Deck und saugt an Ziga- kan Phon“, die „Alaska“. Er erhält keine retten, er spürt Stolz darüber, dass er den Banda Aceh, Gampong Baro, 15.30 Uhr Antwort. Er weiß nicht, um diese Mittags- größten Kampf seines Lebens erkannt und Uning, die Braut, hängt nackt und ver- stunde, dass das dreimal springende Meer angenommen hat. Dass er bestand, vor sich krampft um den Stamm ihrer Palme, hus- sie alle zerschlagen hat; er hofft weiter, wi- selbst und vor dem Meer. Er mag sich nicht tend, schwer schluckend, mit blutendem der die Ahnung, dass alle tot sind. vorstellen, wie Banda Aceh aussieht nach Knie und Wunden am Körper, der Durst Die „Bintang Purnama“ kreuzt drei Mei- allem. Er konzentriert seine Hoffnung auf brennt in ihr, unbewusst nur funktioniert len vor der Küste von Aceh. Sofyan zö- die eigene Frau und die Kinder. sie, unbewusst will sich der Körper retten, gert, das Schiff in den Hafen von Banda Sulastri war 13, als er sie heiratete, das obwohl ihr Geist längst aufgeben will. zurückzufahren. Niemand weiß, nach die- ist 22 Jahre her, und mit 14 gebar sie Silfa- Unter ihr ruft es, im Wasser dort steht sen Schlägen, ob noch weitere folgen wer- na, ihre erste Tochter. Mit 16 schenkte sie ein Mann, der helfen will. Sie solle herab- den, niemand weiß, was als Nächstes zu der Familie Agam Setiawar, den ältesten steigen, ruft er. Aber Uning kann nicht. tun ist. Sofyan scheut jetzt das Risiko, er- Sohn, Sofyans Ersten Offizier. Der Junge Sie kann nicht, oder sie will nicht, sie weiß schöpft vom Mut, mit dem er sein Schiff ähnelt der Mutter, Sofyan sieht ihn sitzen es nicht, nichts weiß sie mehr. Ihr Platz auf und seine Mannschaft gerettet hat. vorn auf Deck, er kann seine Augen nicht der Palme kommt ihr sicher vor, die Welt Als sie ganz oben schwammen, als die von ihm lassen in diesen Momenten, er ringsum ist bedrohlich. letzte Welle genommen war, als die akute schaut den Sohn an, als sähe er ihn zum Zwei weitere Stunden noch wird sie sit- Gefahr vorbei schien und sie alle sofort an ersten Mal, wie neugeboren. zen, hängen an ihrem Baum. Dann wird sie Banda Aceh dachten, an ihre Brüder, ihre Sofyan weiß, dass seine Frau mit Silfana von Armen gegriffen und hingelegt in die Schwestern, ihre Kinder und Frauen, rief er und mit den Kleinen, Sarah Firnanda und Ruine eines Hauses. seine Männer zum Gebet wie ein Muezzin. Mohammad Quadafi, 15 und 13, am Mor- Gerettet ist sie nicht. Sie wird dort, weil Die ganze Crew kniete auf Deck, die nack- gen zum Markt gegangen ist. Sie wollte niemand sie findet, vier Tage liegen, fie- ten Männer machten die Gesten des Wa- Kräuter verkaufen in der Halle an der Su- bernd, durstig, wird den Mund aufsperren, schens, sie wischten über ihre Tränen und pratman-Brücke, fünf Minuten Fußweg wenn es regnet, essen wird sie nicht. Dann, beteten lange Richtung Mekka. In ihren vom Haus der Familie in Lampulo. nach vier Tagen, erwacht sie, in einem Bett,

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er Nummern auf seinem Nokia-Mobil- die im Ufermorast stecken, später wird telefon – umsonst. Das Handy findet man von 116000 Toten sprechen, allein in kein Netz. der Provinz Aceh. Breit und braun geht die Mündung des Sofyan ruft seine Männer zurück an Krueng-Aceh-Flusses ins Meer. Die „Bin- Bord der „Bintang Purnama“. Hier vorn ist tang Purnama“ durchpflügt das Wasser, sie nichts mehr zu tun. Sie schippern hinein schiebt sich näher und näher an die Küste nach Banda Aceh. Zu ihrer Rechten müss- heran. Von einer Stadt ist nichts mehr zu te Gampong Pande sein und Gampong sehen. Sie müssten jetzt, deutlich, die Häu- Jawa, dicht besiedelt, eng, voller Leben; ser sehen von Ulee Lheule. Sie müssten zu ihrer Linken müsste sich bald Lampulo jetzt, klar, die Bauten am Strand von Deah finden, und weiter landeinwärts Lamdin- Glumpang vor sich haben. Sie müssten, gin, Peunayong. Häuser und Hütten, Ge- zum Greifen nah, Bandas Deah-Teungoh- schäfte, Garagen, Markthallen. Restau- Viertel sehen. Aber sie sehen nichts. rants, Autowerkstätten, Schulen. Reise- Sie sehen, links der Mündung des Aceh, büros, Kinos, Friseursalons. Sie sind nicht nur das Gerippe des Hafenterminals, drei mehr zu sehen. Ausgewischt vom Meer. Stockwerke hoch, wie ausgebombt. Sie se- Aber doch – vielleicht nicht alles. Sofyan hen in der Fläche einzelne Palmen stehen und seine Männer sehen, dass die sprin- wie in eine Sperrmüllhalde gepflanzt. Sie gende See nicht die ganze Stadt gefressen erreichen die Felsendämme der Hafen- hat. Sie sehen, in der Silhouette weiter einfahrt, die wie die Zungen einer Zange landeinwärts, dass ihnen Hoffnung bleibt. 30, 40 Meter weit ins Meer greifen. In Höhe des Hafens, nach einer Fahrt Die Dämme sollten hellbraun sein wie auf einem Fluss voller Leichen, nach zwei die Steine, aus denen sie aufgeschüttet Kilometern Fahrt wie durch die Unterwelt, wurden. Aber sie sind bunt. Bunt, wie die durch einen Bilderbogen der Hölle, wie Kleider der Toten. Leichen liegen, in Hau- durch ein Altarbild von Hieronymus fen, dicht an dicht, die Wasserstraße ent- Bosch, sehen sie weit rechts, weit links vom lang. Sie liegen, wie Treibgut, im Wasser Ufer die Schiffe liegen wie Spielzeug. Die selbst. Sie schwimmen, zwischen Kühl- große „Sea King“, zwischen Häuser ge- schränken, Kuhkadavern, Autowracks, stürzt, Fischerboote, gestrandet im Nichts. Hühnern, zerschmetterten Booten. Sie legen das Boot ans Tau. Am Kai, wo Sofyan stoppt die Maschinen. Die „Bin- am Morgen der Markt war, gehen verein- tang Purnama“ treibt. Bald macht sie kaum zelt wehklagende Männer und Frauen wie noch Fahrt, gestoppt von den Körpern, durch eine Geisterstadt. Sofyan geht über

ANDY RAIN / DPA RAIN ANDY dem Schrott, den Trümmern. Die Crew eine schmale Planke an Land. Er klettert geht von Bord. Sie klettern, auch Sofyan, über die Kaimauer. Er will schnell zu sei- im Militärhospital. Verbunden, mit einem den Hafendamm hoch. Sie suchen nach nem Wohnhaus, wie die ganze Mannschaft, Schnitt in der Brust von einer Operation, ihren Brüdern, Frauen, Kindern. sie laufen auseinander, in ihre Wohn- an Händen und Füßen noch immer die Von Leiche zu Leiche geht Sofyan. Er straßen oder dorthin, wo sie waren. rotbraunen Malereien der Braut, die sie sucht Sulastri, seine Frau. Er sucht Silfana, Sofyan ist noch keine zehn Meter ge- höhnisch anschauen, wenn sie an sich seine Tochter, Sarah Fernanda, Moham- laufen. Er hört einen Ton, der ihm bekannt hinunterblickt. mad Quadafi. Er bückt sich zu Ertrunke- vorkommt, aber er nimmt ihn zuerst nicht nen, Erschlagenen, zu Amputierten, Zer- wahr. Der Ton wiederholt sich. Es ist sein Auf der „Bintang Purnama“, teilten, Zermalmten. Körper für Körper Mobiltelefon, es klingelt, das Telefon klin- Straße von Malakka, 16.00 Uhr dreht er um auf der Suche nach bekann- gelt, das er jetzt aus der Tasche reißt, des- Die Männer an Bord der „Bintang Purna- ten Gesichtern. Niemanden kennt er. Kei- sen grünen Knopf er zitternd drückt, um ma“ sind nervös und müde vom Warten. ne Leiche gehört zu ihm. Er bückt sich, er den Ruf anzunehmen. Sie wollen jetzt sehen, was die Welle ge- sucht, bald hat er drei Dutzend Leichen Er geht, das Telefon am Ohr, in die Knie. lassen hat von Banda Aceh. Sie wollen jetzt gesehen, bald 100, er arbeitet sich vor, Am Apparat ist einer seiner elf Brüder, wissen, ob sie noch Frauen haben, Kinder, Richtung Lampulo, Fischerviertel von Mohammad Amin, einer der jüngeren, er Brüder, Mütter. Sie hoffen, dass Sofyan, Banda Aceh, seiner Heimat, Leiche um ist am Leben. Aber vor allem sagt er: ihr Kapitän, Sofyan, ihr Lebensretter, das Leiche. „Sofyan, deine Familie lebt! Sulastri, die Schiff endlich auf Heimatkurs dreht. Ringsum liegt die Ruine einer Stadt wie Kinder, sie leben! Alle!“ Sofyan Anzib Sofyan wägt die Lage. Seine Autorität nach einem Atomschlag ohne Feuer. Auf kniet im schwarzen, schmierigen Schlamm erlaubt es nicht, mit der Crew zu diskutie- den ersten zwei Kilometern landeinwärts der Straße, das Gesicht bis zum Boden ge- ren. Er denkt nach. Acht Stunden sind ver- hat die Welle so gut wie alles dem Erdbo- beugt, verkrampft weint er, ein glücklicher gangen seit dem dreifachen Schlag am den gleichgemacht. Dahinter erst sind ers- Mann. Ullrich Fichtner; Morgen. Acht Stunden ohne weiteres Vor- te Ruinen von Häusern zu sehen, Stümpfe Anita Blasberg, Marian Blasberg, Klaus Brinkbäumer, Uwe Buse, Georg Diez, kommnis. Er zieht die Maschine hoch, er von Gebäuden, Palmen. Sofyan denkt, er Fiona Ehlers, Marc Fischer, Hauke Goos, steckt sich eine Zigarette an. Er nimmt fürchtet, dass sich die See die ganze Stadt Lothar Gorris, Ralf Hoppe, Mario Kaiser, Kurs auf Nordost, auf den schmalen Strei- geholt hat. Dass außer ihm und seinen Ansbert Kneip, Cordula Meyer, fen Land, über dem sich die hohen Berge 20 Mann nicht viele übrig sind. Mathieu von Rohr, Alexander Smoltczyk, Sumatras in Wolken verstecken. Er steuert Er sucht seine Toten. Er bückt sich, wie- Bettina Stiekel, Barbara Supp das Schiff zurück nach Banda Aceh. der und wieder, zu Hunderten Leichen. Meldungen über die Lage gibt es nicht. Zu Hunderten Leichen bückt sich jeder Im nächsten Heft: Wie die Todeswelle Er erreicht, über Funk, keine Seele. Das seiner Männer. Es müssen schon von der die Urlauberparadiese Thailands zerstört – Hafenterminal – tot. Die anderen Boote, Mündung des Flusses bis zum Hafen in die Warum die Behörden des Landes ver- die „Colombia“, die „Alaska“, die „Zam- Stadt hinein 6000, 7000 Tote sein, die offen sagen – Wieso in der Hotelstadt Khao Lak rut“ – tot. Wieder und wieder wählt herumliegen, die im Flusswasser treiben, über 3000 Menschen sterben müssen.

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TONTRÄGER Bach und die Bulimie DENKER u Karajans seligen Zeiten lief das Närrische Wahrheit ZGeschäft noch wie geschmiert: Wo ein klassisches Label rotierte, da spielte ange schon kursieren in Philoso- auch die Musik. Aus, vorbei. Als retten- Lphenkreisen die Anekdoten über der Ausweg erweist sich immer häufiger ihn: Fritz Heidegger (1894 bis 1980), die Selbstvermarktung: musizieren, pro- Bankkassierer in seiner Geburtsstadt duzieren, verkaufen – alles aus einer Meßkirch, sei an Schlagfertigkeit und Hand. Der französisch-zypriotische Pia- Hintersinn seinem Bruder, dem Phi- nist Cyprien Katsaris, 53, dessen Output losophen Martin Heidegger („Sein von keiner etablierten Firma mehr ver- und Zeit“), zumindest ebenbürtig ge- kraftet werden könnte, publiziert auf wesen. Nun bestätigt ein gelungenes, seiner Privatmarke „Piano 21“ und kann mit viel Lokalkolorit angereichertes dort endlich seine „musikalische Buli- Doppelporträt die Vermutung – und mie“ voll ausspielen. Auch für den nie- setzt noch eins drauf. Anders als der derländischen Organisten und Dirigenten Seinsbedenker habe sein Bruder Ton Koopman, 60, ermöglicht das eigene Fritz, so der Berliner Literaturwis- Label („Antoine senschaftler Hans Dieter Zimmer- Marchand“) unge- mann, sich Hitlers Parolen von früh bremsten Produk- an widersetzt („Martin und Fritz Hei- tionsfleiß: Bis Mai degger – Philosophie und Fastnacht“.

2007 will Koopman C. H. Beck Verlag). In Fastnachts- HEINRICH HEIDEGGER FAMILIENBESITZ auf 20 CDs sämtliche reden, bei denen der notorische Martin und Fritz Heidegger (um 1960) Kantaten des Ba- Stotterer wundersamen Redefluss rock-Komponisten entwickelte, warnte Fritz Heidegger Dietrich Buxtehude couragiert vor braunen „Hundert- anbieten und außer- prozentigen“ und prophezeite schon

WILLY DE JONG WILLY dem in 22 Boxen mit 1934, „in wenigen Jahren“ werde Katsaris je drei CDs auch das „der 2. Weltkrieg“ ausbrechen. Und einst für „Erato“ ge- während der Groß-Denker das ein- plante Kantatenwerk des Leipziger Tho- fache Leben auf seiner Hütte bei maskantors Johann Sebastian Bach vorle- Todtnauberg feierte, betrachtete der gen. Wenn ihm da mal nicht der Kollege katholisch-fromme Fritz, der sich Sir John Eliot Gardiner, 61, mit einer wegen seiner Geldzählkünste gern Dublette das Spiel verdirbt! Der geadelte „Scheinwerfer“ nannte, die Heimat- Brite hat jedenfalls auch gerade mit der verklärung seines Bruders eher skep- Veröffentlichung aller Bach-Kantaten tisch. Die Geschwistertreue litt dar- (auf 51 CDs) begonnen, die er im Jahr unter nicht: Hingebungsvoll tippte er 2000 auf einer interkontinentalen Pilger- für Martin, den er verwundert „um tour live produziert hat und die ur- das Sein wie die Katze um den sprünglich von der Deutschen Grammo- heißen Brei“ herumschleichen sah,

phon im Abo vertrieben werden sollten. über Jahre Manuskripte ins Reine – / NATURA DRÜLLE Jetzt kommt die Kollektion auf Sir Johns auch während der Schalterstunden. Schwarzwaldtal bei Todtnau Privatlabel „Soli Deo Gloria“ heraus.

LITERATUR ben in einem kraftstrotzenden Stil, der dem Leser das Gefühl gibt, beim Umblättern wehte ihm der Baustaub in die Nase, Solide Wände, unsolide Frauen erzählt McAdam von der Leidenschaft für solide Wände und etwas weniger solide Frauen. In einer der schönsten Passagen ieses Buch liest sich, als hätte sein Autor die Sätze am des Romans beschreibt McAdam eindringlich die erste Begeg- Dliebsten mit einem Pressluftbohrer in den Fels gemeißelt. nung McGuintys mit der berückenden Kathleen und findet „Ich habe die Erde gewürgt, geschändet und gequält, tatsächlich für die Liebe auf den ersten Blick eine mein Freund, und am Ende ist sie nun mächtiger als eigene, unverbrauchte Sprache, die rau und kunstvoll zuvor“, resümiert in Colin McAdams Romandebüt „Ein zugleich ist. Doch kaum hat McGuinty die Schöne großes Ding“ ein Bauunternehmer sein Leben. Der für sich gewonnen, verliert er sie immer mehr aus 33-jährige kanadische Schriftsteller erzählt von dem dem Blick – zu sehr ist er bestrebt, in seinem Leben früheren Gipser Jerry McGuinty, der durch Fleiß und etwas Großes zu schaffen. Präzise und packend zeigt Ehrgeiz zu Reichtum gelangt und in dem Bauamtsleiter McAdam, wie die Gier nach Macht und Bedeutung das Simon Struthers seinen Widerpart findet. McGuinty Glück an den Fundamenten zerstört. baut wie frenetisch für andere Menschen, erkennt aber zu spät, dass das Haus, in dem er selbst mit seiner Colin McAdam: „Ein großes Ding“. Aus dem Englischen von Eike Schön- Familie wohnt, immer mehr Risse bekommt. Geschrie- feld. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin; 384 Seiten; 22,50 Euro.

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KUNST „Partys geschmissen“ Der amerikanische Pop- Art-Maler James Rosen- quist, 71, über die am kom- menden Wochenende begin- nende Ausstellung seines Lebenswerks im Kunstmu- seum Wolfsburg und die

C. JECZAWITZ / AGENTUR FOCUS / AGENTUR C. JECZAWITZ politische Kraft der Kunst „The Swimmer in the SPIEGEL: Herr Rosenquist, irritiert es SPIEGEL: Sie haben die Welt Econo-mist“ (1997/98) Sie, dass Sie mit einer großen Werk- davon überzeugt, dass Sie schau bereits zu Lebzeiten als Malerei- trotz Ihrer bunten Bilder ein ernst- Rosenquist: Doch, auf alle Fälle. Klassiker gewürdigt werden? zunehmender politischer Künstler sind. Sehen Sie sich nur Goyas Bilder an, die Rosenquist: Nein, ich bin sehr, sehr Glauben Sie immer noch an die politi- haben eine unglaubliche Wirkung. glücklich darüber, noch am Leben zu sche Kraft der Kunst? Ich habe 1964/65 dieses große Bild mit sein. Ob Andy Warhol oder Roy dem Titel „F-111“ gemalt, Lichtenstein – fast alle meine nachdem ich einen Journalis- Zeitgenossen sind gestorben, ten getroffen hatte, der gerade die kann ich nicht mehr anru- aus Vietnam gekommen war. fen. Wer lange lebt, sieht mehr Er erzählte mir, was er dort von den guten und mehr von gesehen hatte. Mein Bild wur- den furchtbaren Dingen, aber de oft dafür kritisiert, dass es mir macht das Leben Spaß. Und ein „Kriegsbild“ sei. Mir aller- ich bin glücklich, zur richtigen dings ging es auch um die Zeit am richtigen Ort gewesen Lächerlichkeit des Kalten zu sein, nämlich in New York. Rosenquist-Gemälde „F-111“ (1964/65, Ausschnitt) Kriegs, wo Millionen für Waf-

Jameson-Porträt von Modefotograf Cometti

Jenna Jamesons intime Sexbeichte stand wochenlang auf der „New York Times“- „Die wilden Kerle 2“ ist die Fortsetzung der Bestsellerliste. Sie erzählt darin ihre trau- Verfilmung von Joachim Masanneks erfolg- matische Kindheit und davon, wie sie im reicher Kinderbuchreihe, aus der bisher Alter von 17 beschloss, mit Sex viel Geld über 1,7 Millionen Exemplare verkauft wur- zu verdienen. Das scheint der Porno- den, und steht dem ersten Teil an Witz und Königin mehr als gut gelungen zu sein: Charme kaum nach. Erneut feiert Regisseur Nach über 80 Porno-Filmen („The Mas- Masannek Fußball als perfekten Ausdruck seuse“) verfügt sie über eine eigene Pro- jugendlichen Lebensgefühls. Diesmal muss duktionsfirma und ist jetzt mit 30 „die am die sympathische Kicker-Gang nicht nur ein häufigsten heruntergeladene Person der knüppelhartes Match nach dem anderen Welt“ (Jameson über Jameson). Die gewinnen, sondern auch ihre Mitspielerin knapp 600 Seiten umfassende Biografie Vanessa (Sarah Kim Gries), die bezaubern- der „Julia Roberts des Pornos“ („Stern“), de Königin des Alptraumpasses, von einer die viele offensichtlich in der Hoffnung gegnerischen Truppe zurückerobern. Phan- auf brauchbare Tipps für den Sex zu tasievoll und mit rotziger Sprache beschwört Hause kaufen, zeigt einschlägige Fotos der Film Freundschaft und Teamgeist – und

COMETTI / GALERIE VIAUX COMETTI / GALERIE und ist eher als Ratgeber für zukünftige zieht im Zweifelsfall den Stinkefinger dem Sex-Profis gedacht („Übe Dein Orgas- erhobenen Zeigefinger vor. FOTOGRAFIE musgesicht“) als für den Hausgebrauch. Jetzt hat auch das deutsche Publikum Szene aus „Die wilden Kerle 2“ Porno-Ikone eine Chance, die Dame näher kennen zu lernen: Die Berliner Galerie Viaux stellt o anscheinend unaufhaltsam und steil, hocherotische Fotos der geschäftstüchti- Swie ihre Karriere als Porno-Star in den gen Sex-Diva aus, die der französische USA verlief, so eindrucksvoll war bisher Modefotograf Philippe Cometti aufge- auch der Absatz ihrer Autobiografie nommen hat – für ihn ist sie die ultimati-

„How to Make Love Like a Porn Star“: ve weibliche Ikone (bis zum 16. März). BUENA VISTA

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fen ausgegeben wurden, die niemals HÖRBUCH gebraucht wurden. SPIEGEL: Sie haben die wilden sechziger Auschwitz-Prozess BONN 2005 (U.) BONN 2005 (U.) und siebziger Jahre in New York erlebt. Gehörten Sie zu denjenigen, die m 20. Dezember 1963 begann in bei jeder Party dabei waren? AFrankfurt am Main ein Gerichtsver- Rosenquist: Ich war nicht nur dabei – fahren, das die Deutschen nachhaltig ich habe die Partys geschmissen! erschüttern sollte: An 183 Verhand- Manchmal waren das Feste mit über lungstagen des ersten Auschwitz-Pro- tausend Leuten. Zu einer meiner Partys zesses kamen erstmals öffentlich grau- kam sogar Karlheinz Stockhausen, same Einzelheiten des organisierten vermutlich, weil ich eine Blues-Band Massenmords zur Sprache. Die Ton- da hatte und er von der schwarzen bandaufnahmen der Zeugenaussagen, Musik fasziniert war. Ich hatte eine insgesamt 430 Stunden auf 103 Bän- Menge Spaß in diesen Jahren und habe dern, konnten erhalten werden und sind sehr viel gefeiert. Das ging so bis unge- seit kurzem mit Dokumenten auf einer fähr 1980. DVD-Rom zugänglich. Einen Ausschnitt SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, bringt das Feature „Weinen Sie nicht, dass für Pop-Art-Gemälde eines die gehen nur Tages so viel bezahlt wird wie für einen baden!“ des Rubens heute? Südwestrund- Rosenquist: Ich wünschte, ich könnte 50 funks, das nun Jahre nach meinem Tod zurückkommen als Hörbuch und nachsehen, ob irgendeines meiner (Audio Verlag) Bilder noch eine Rolle spielt. Aber ich erhältlich ist. weiß nicht, ob die Kunst meiner Gene- Das Beein- ration dann überhaupt noch von Belang druckendste sein wird. Nehmen Sie dagegen diese der einstündi- Kraft, die in den alten Meisterwerken gen Dokumentation sind zweifelsohne steckt – das ist unglaublich! Ich glaube, die Stimmen der Konzentrationslager- die Kraft, die in der heutigen Kunst zu Überlebenden, der Täter und der Rich- spüren ist, ist weniger stark. Die Kunst ter: Dem Vorsitzenden Richter bricht von heute wird schneller gemacht, also bei der Urteilsbegründung trotz bemüh-

THE SOLOMON R. GUGGENHEIM FOUNDATION, NY / VG BILD-KUNST, BONN 2005 (O.); J.ROSENQUIST / LICENSED BY VAGA, NY / VG BILD-KUNST, NY / VG BILD-KUNST, VAGA, BY / LICENSED J.ROSENQUIST BONN 2005 (O.); NY / VG BILD-KUNST, R. GUGGENHEIM FOUNDATION, THE SOLOMON verfällt sie auch schneller. ter Sachlichkeit die Stimme.

Kino in Kürze

„Beyond the Sea“ heißt einer der bekann- stellungen von Würde, testen Songs des amerikanischen Popsän- Stolz und Ansehen auf- gers Bobby Darin, der in den fünfziger und rechtzuerhalten. Behra- sechziger Jahren eines der größten US- ni ersteigert das Haus, Teenie-Idole war. Oscar-Preisträger Kevin das er am liebsten Spacey, 45, lässt Darins Leben als buntes bald gewinnbringend Musical Revue passieren. Regisseur und weiterverkaufen wür- Hauptdarsteller zugleich, singt und tanzt de. Mit dem Einzug der

sich Spacey die Seele aus dem Leib, kann FILM Behranis beginnt ein er- aber nicht ganz vergessen machen, dass er Connelly in bitterter Kampf zwi- acht Jahre älter ist, als es Darin zum Zeit- „Haus aus ...“ schen Kathy und dem punkt seines Todes war. Trotz Spaceys neuen Besitzer, in den Begeisterung für seinen Helden wirkt der sich dann Kathys Geliebter, ein Polizist, mit sichtbar unterbudgetierte Film bisweilen illegalen Druckmitteln einmischt – das ist wie eine etwas ungelenke Nummernrevue. der Anfang vom furiosen, tragischen Ende der Story. Regisseur und Drehbuchautor „Haus aus Sand und Nebel“. Die junge de- Vadim Perelman traut sich in seinem Kino- pressive Kathy (Jennifer Connelly) wird aus debüt an viele große Themen wie Emigran- dem Haus vertrieben, das sie geerbt hat – sie tenschicksal, Gerechtigkeit, Ohnmacht ge- soll es verlassen, weil sie eine Steuerzah- gen staatliche Willkür und Familie heran. lung verschlampt hat. Parallel zu dieser Dabei verzettelt er sich zwar gelegentlich. Geschichte erzählt der Film vom iranischen Trotzdem hat er ein ergreifendes Kinodrama Ex-Offizier Behrani (Ben Kingsley), der seit gedreht, das zu Recht 2004 drei Oscar- dem Sturz des Schahs mit Frau (Shohreh Nominierungen erhielt: für Ben Kingsley als Aghdashloo) und Kindern in den USA besten Hauptdarsteller, für die Nebenrolle lebt und mühsam versucht, seine alten Vor- (Aghdashloo) und für die Filmmusik.

der spiegel 7/2005 155 GETTY IMAGES Sexforscher Kinsey mit Familie (1953): „Es gibt nur drei Abnormitäten: die Abstinenz, den Zölibat und die späte Ehe“

LEGENDEN Der Befreier der Bestie Ein Hollywood-Film und ein Roman feiern den Forscher Alfred Kinsey, der mit seinen Erkenntnissen die Grundlage für die sexuelle Befreiung der amerikanischen Gesellschaft schuf. Die Moralapostel des Bush-Amerika bringt der Rummel um den Aufklärer in Rage. Von Thomas Hüetlin

er Mann, den viele Amerikaner als zu Blindheit führt und auch Frauen tatsäch- den Neo-Fundamentalisten sorgt der Monster und Staatsfeind betrach- lich Orgasmen haben. gleichzeitig erschienene Roman des Schrift- Dten, trug stets Anzug und Fliege Das war unverzeihlich. stellers T. C. Boyle mit dem Titel „The In- und spielte auf seinem Flügel Chopin Und ist es heute wieder – obwohl das ner Circle“, in der deutschen Übersetzung knapp unterhalb der Konzertreife. Er sam- vermeintliche Monster seit über 48 Jahren „Dr. Sex“*. melte fünf Millionen Gallwespen; legte tot unter einer grauen Platte auf dem Rose Nach George W. Bushs zweitem Wahlsieg einen Garten an, der auszeichnungsver- Hill Cemetery in Bloomington, Indiana, sind viele seiner Anhänger nicht mehr da- dächtig war, und ließ sich auch mit hohem liegt. Das Grab ist lediglich geschmückt mit mit zufrieden, bloß die moralische Mehrheit Fieber nicht davon abhalten, in seinem einem fernsehergroßen, bleichen Stein aus zu besitzen – sie wollen sie auch nutzen, um Büro zu erscheinen. Besorgte Angestellte rotem Marmor, die Inschrift ist von wis- ein modernes Fegefeuer gegen die allge- wies er mit den Worten zurecht: „Ich will senschaftlicher Schlichtheit: Alfred C. Kin- meine Sittenlosigkeit zu entfachen. „Wenn lieber sterben, als einen Tag meine Arbeit sey, 23.6.1894 – 25.8.1956. ihr Schwächlinge in eurer Nähe entdeckt, ruhen lassen.“ Amerikas Puritaner sind stets für eine die eure biblischen Werte nicht teilen, trennt Der Mann war also auf den ersten Blick Hexenjagd gut, und die Hatz, die sie ge- euch von denen“, schreibt Bob Jones III., ein zutiefst eifriger und ebenso freundli- genwärtig veranstalten, gilt dem Anden- Präsident der gleichnamigen Universität in cher Mensch, aber wahrscheinlich wäre er ken des Sexforschers. In Panik versetzte South Carolina. „Kämpft für eure Über- bloß ein paar Nachbarn und Laborstrebern die Sittenwächter eine Hollywood-Pro- zeugungen und macht euren Gegnern die in guter Erinnerung geblieben, hätte er duktion namens „Kinsey“, in der ausge- Hölle heiß.“ Die Wut der Radikalmoralis- nicht den großen Fehler begangen, dem rechnet Liam Neeson, der Hauptakteur aus Rest der Vereinigten Staaten zu erzählen, „Schindlers Liste“, den Sozialaufklärer * T. C. Boyle: „Dr. Sex“. Die deutsche Übersetzung von dass Babys nicht aus dem Bauchnabel spielt – der Abschlussfilm der diesjährigen Dirk van Gunsteren erscheint am 5. März im Hanser Ver- schlüpfen, dass Onanie nicht zwangsläufig Berlinale. Für zusätzlichen Verdruss unter lag, München; 472 Seiten; 24,90 Euro.

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nicht aus abstrakten Theorien ableitet, son- dern aus dem Leben, das ihn umgibt. Der junge Mr. Kinsey wuchs auf in einer Zeit, in der jungen Männern, die einem Mädchen nachblickten, empfohlen wurde, schleunigst nach Hause zu gehen, die Ho- den in Eiswasser zu tauchen, an die eige- ne Mutter zu denken und zu beten. Bevor Condons Kinsey seine Epoche verändern darf, muss er sie erst einmal er- dulden. Für den Vater, einen Laienpredi- ger, sind Telefone, Kinos und Automo- bile Werkzeuge des Teufels. Noch bedroh- licher findet er nur den Reißverschluss, „diesen Schnellzugang ins moralische Nie- mandsland“. Als Kinsey von seiner späteren Frau Mac auf dem Campus angesprochen wird, be- trachtet er sie mit der abwesenden Distanz des Insektenforschers. Zu Weihnachten schenkt er ihr einen Kompass, ein Paar Wanderstiefel und ein Jagdmesser. Als er,

20TH CENTURY FOX 20TH CENTURY nach solch gründlicher Vorbereitung, seine „Kinsey“-Hauptdarsteller Neeson (M.)*: Distanz des Insektenforschers Expedition zum anderen Geschlecht be- ten richtet sich gegen all die Dinge, die sie als Zumutungen der Moderne empfinden: die Rechte von Frauen und Homosexuellen ebenso wie die Stammzellenforschung. Die Alarmglocken werden vor allem betätigt von einer Vereinigung mit dem Namen Traditional Values Coalition, der 43 000 Kirchen angehören. Sie kämpft dafür, missliebigen Forschern Fördergelder zu sperren, hat eine schwarze Liste mit 150 Sexualwissenschaftlern angelegt und schmäht Kinsey als den „einflussreichsten sexuell Perversen in der Geschichte der Nation“. Um den Sündenfall zu strafen, den die öffentliche Vorführung des Films in ihren Augen bedeutet, rufen die Sitten- wächter zur Sippenhaft auf. Ein Jahr lang sollen bibeltreue Anhänger alle weiteren Produktionen des „Kinsey“-Studios Fox boykottieren. Der Aufruf zeigte Wirkung – bis ins zu-

tiefst demokratische New York hinein. Dort AKG hat der zutiefst demokratische Channel 13, Pin-up-Girl der fünfziger Jahre: Schnellzugang ins moralische Niemandsland ein öffentlich-rechtlicher Sender, einen Wer- bespot für den Film mit der Begründung Sieg im Rücken die „Sex and the City“- ginnt, ist Kinsey 27 Jahre alt und selbst- zurückgewiesen, er sei „zu kommerziell und Generation wenn schon nicht ins Meer, so verständlich noch Jungfrau. zu provokativ“. Code Orange im demokra- doch wenigstens zurück in die dunklen Die Hochzeitsnacht ist ein Desaster, aber tisch blau gefärbten Network. Hinterzimmer der Anonymität und der nach Konsultation eines Doktors ent- In den Sturm der Fundamentalisten reih- kulturellen Obdachlosigkeit treiben. decken die Kinseys gemeinsam das merk- ten sich rasch die üblichen Verdächtigen Könnten. Denn sehr zum Ärger der würdige, finstere Biest namens Sexualität, ein. Eine Frau namens Brandi Swindell von Wahlsieg-Berauschten brachte es „Kinsey“ und – siehe da – sie mögen es nicht nur, sie der „Generation Life“ behauptete: „Kinsey zu einem beachtlichen Kinoerfolg. Von den können nicht genug davon bekommen. ist es zu verdanken, dass unsere Genera- 11 Millionen Dollar Produktionskosten hat Komisch, schlussfolgert Kinsey, dass die tion die katastrophalen Konsequenzen aus der Film in nur drei Monaten allein in den Wissenschaft fast alles über das Paarungs- Geschlechtskrankheiten und Pornoindu- USA bereits 9 Millionen wieder eingespielt verhalten der Fruchtfliegen und Gallwes- strie ausbügeln muss.“ und wird wahrscheinlich, so schätzen Ex- pen weiß, aber fast nichts von dem der Judith Reisman, eine Art Anti-Kinsey- perten, weltweit einen Gewinn von 30 Mil- Menschen. Er beschließt, dies zu ändern – Biografin, wiederholte ihr Mantra, wonach lionen Dollar bringen. und weil er dabei gründlich vorgeht, brem- Kinsey die Vergewaltigung von Kindern Der eigentliche Triumph aber: „Kinsey“ sen seine Interviewbögen vor keinem initiiert habe. ist für einen Oscar nominiert. Tabu, bis zu 521 Fragen lang. Für einen Augenblick sah es so aus, als Der Regisseur Bill Condon zeigt den Mit der Energie von Missionaren rasen könnten die Glaubenseiferer mit Bushs Sex-Pionier als Helden, als typisch ameri- Kinsey und die Mitarbeiter seines Teams, kanischen Selfmade-Revolutionär, der sei- während der Zweite Weltkrieg tobt, durchs * Mit Peter Sarsgaard, Laura Linney. ne Forschungen und Schlussfolgerungen Land, sie befragen Kuhhirten, Postboten,

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Wie sieht die neue Ordnung der Freiheit picknicks im Kleinstadtpark zum Partner- aus? Welche zukünftige Moral tritt an die wechsel auffordert oder später nach einer Stelle der verrosteten Sitten? kleinen Abendesseneinladung zu Hause An dieser Front der Moderne spielt T. C. alle zum Gruppensex auf den Dachboden Boyles Roman „Dr. Sex“. Der Schriftstel- bittet, wo eine Kamera aufgebaut ist. ler malt keine weichen Pastellfarben über Fast immer fügen sie sich, auch John die Widersprüche Kinseys – er zerrt sie Milk, der seinen Meister noch verehrt, als entschlossen und mit voller Kraft auf den die vermeintlichen sexuellen Freibeuter zu- Obduktionstisch seiner Literatur. nehmend Abscheu vor sich und der Grup- Boyle erzählt Kinseys Wirken aus der pe empfinden. Von solch einer Gruppensit- Perspektive eines fiktiven Assistenten na- zung sagt Milk: „Ich dachte an den Sport- mens John Milk. Für den Jungen, der sich unterricht in der High School, wenn der im Klima der vierziger Jahre eingeschlos- Lehrer die Matten auslegen ließ und wir an- sen fühlt, sind die Vorlesungen und das gespannt in einer Reihe an der Wand saßen, Charisma des offenen, energiegeladenen bis er zwei Jungen auswählte, die mitein- Professors wie eine Droge, von der er sich ander ringen mussten, drei endlose Minuten mitreißen lässt. lang, vom ersten Kontakt bis zum Ende.“ Im Rausch der Liberalisierung fallen die So wie Boyle es beschreibt, waren Kin- Schranken der Bürgerlichkeit so konsequent sey und seine Gruppe eine Art Avantgarde wie die Kleider. Milk schläft mit dem Pro- der Gegenkultur, und man kann ihre Kon- fessor, dann mit dessen Frau. Schlechte Stim- flikte – den großen Plan des Projekts gegen mung setzt erst ein, als sich Milks Ehefrau mit die kleinen Emotionen des Einzelnen, der

KEYSTONE / DPA KEYSTONE einem anderen Assistenten einlässt, eben- Wille des Gurus und die Anpassung seiner Romancier Boyle falls begierig, wie sie sagt, zu „forschen“. Jünger – fraglos als Vorlage nehmen für Partnertausch während des Picknicks Es ist das Spezialgebiet von Boyle, die vieles, was in späteren Jahren folgen groteske Mechanik zu erkunden, mit der sollte: von Andy Warhols Factory bis zu Fließbandarbeiter, Lehrer, öffnen die Türen utopische Paradiesentwürfe scheitern an Andreas Baaders RAF. zu Homosexuellenclubs und Bordellen. Und der menschlichen Natur. Er hat dieses sa- Am Ende jedoch gingen Kinsey und sei- erkunden so Amerikas totgeschwiegene an- tirische Spiel in früheren Büchern mit Öko- ne Leute nicht an sich selbst kaputt, son- dere Hälfte: den Unterleib. logen und Landkommunen betrieben, aber dern am Ergebnis ihrer Forschungen. Als er Es ist Kinseys Verdienst, dass er auf die- selten war er so gut in Form wie in „Dr. am 20. August 1953 den Band „Das sexu- se Weise die führende Nation des west- Sex“. Der Witz und die Kraft des Romans elle Verhalten der Frau“ herausbringt, lichen Lebensstils aufklärte – und als Pro- ergeben sich fast von selbst aus den bizar- bricht tornadogleiche Entrüstung los. fi des gehobenen Hollywood-Kinos wird ren Glaubensbekenntnissen und bösen Irr- Die amerikanische Öffentlichkeit rea- der Regisseur Condon nicht müde, diese tümern einer aufkeimenden Revolution. giert mit Hass auf die Tatsache, dass auch Leistung zu glorifizieren. „Es gibt nur drei Der Mensch sei ein pansexuelles Wesen, Frauen ein Recht auf ihre eigene Sexualität Abnormitäten“, schmettert Kinsey einer sagt Boyles Kinsey. „Nur die Konventionen haben. Und noch mehr hasst sie die Zah- Welt entgegen, die das Reden über Sex nur – die Gesetze, die Sitten, die Kirchen – hal- len, die das belegen: 62 Prozent der ame- im Zusammenhang von Fortpflanzung und ten ihn davon ab, sich mit jedem beliebigen rikanischen Frauen hätten schon mastur- Geschlechtskrankheiten zu ertragen bereit Partner auszutauschen – unabhängig von biert, bilanziert Kinsey; 90 Prozent Petting war, „die Abstinenz, den Zölibat und die Geschlecht und Spezies.“ Und was wäre praktiziert, 50 Prozent vorehelichen Ver- späte Ehe.“ Ansonsten sei alles erlaubt, solch eine Lehre wert, wenn sie der Chef kehr gehabt. was sich gut anfühle. nicht auch leben würde – selbstverständlich Diese Aussagen bringen ihn erst um sei- Dieser optimistischen Stimmung der sich der Wissenschaft zuliebe? ne Forschungsgelder, dann ums Leben. Drei abzeichnenden sexuellen Revolution, dem Die Wissenschaftlergruppe wird ihre Jahre nach Veröffentlichung seines Reports Glauben, mit der Offenlegung von Fakten eigene Versuchsanordnung. Es ist schon starb Kinsey an einer Herzattacke. Der da- könne man verklemmte Moraldebatten für ziemlich komisch, wenn der Patriarch sei- mals nach dem Präsidenten bekannteste immer auslöschen, ordnet Condon alles un- ne Mitarbeiter während eines Nachmittag- Amerikaner wurde zum am meisten gejag- ter – auch die dunklen Sei- ten. McCarthy nannte den ten des großen Professors. lebenslangen Republikaner Im sexualgeschichtli- Kinsey einen Kommunisten, chen Pursuit of Happiness FBI-Chef J. Edgar Hoover des Kinofilms werden sie ließ ihn verfolgen und dicke bloß kurz gestreift, und sie Akten über ihn anlegen. wirken wie Fußnoten in ei- Ausgerechnet J. Edgar ner heiteren Hymne auf Hoover. Vielleicht ist das eine Art heiligen Verrück- die beste Pointe für die bis ten: als sei der Supernerd heute intakte amerikani- bei seinem Versuch, die sche Doppelmoral. Denn barbarische Lustfeindlich- Hoover war auch so einer, keit des Puritanismus zu der im Büro den harten lockern, beim Kampf ge- Burschen gab und nachts gen Ignoranz und Aber- in Schwulenbars tanzte, in glauben, halt manchmal zu Frauenkleidern. weit gegangen. „Faszinierendes For- Dabei ist dies ein ent- schungsobjekt“, hätte der scheidender Konfliktpunkt: Mann mit der Fliege wahr-

Was passiert, wenn sich (R.) / GETTY IMAGES PICTURES TIME LIFE scheinlich über Hoovers die alte Ordnung auflöst? Medienstar Kinsey: Bekanntester Amerikaner nach dem Präsidenten Akte gesagt. ™

158 der spiegel 7/2005 KUNST Flamingos und Wildschweine Junge Malerei aus Leipzig ist auf dem Kunstmarkt heiß begehrt. Ganz eifrige Galeristen suchen schon unter den Studenten der Stadt nach den Stars von morgen. as ehrwürdige Gebäude der Leip- ziger Hochschule für Grafik und DBuchkunst, kurz HGB, stammt aus JÖRG GLÄSCHER der Gründerzeit und ist ziemlich weitläu- Hochschul-Rundgang in Leipzig: Total durchgedrehter Markt fig. Rektor Joachim Brohm hat es in der vergangenen Woche vom Keller bis unters Auto von schräg oben, Heichel malt Fla- HGB-Absolventen angelegt. Gern lässt er Dach mit den Werken seiner Studenten mingos und Kuckucksuhren auf Tapeten- sich dafür rühmen, die „bedeutendste voll packen und außerdem noch eine alte, muster – und gibt sich angesichts des Sammlung“ von Bildern der „Leipzig Pain- halbverfallene Villa in der Nähe anmieten Interesses genervt: „Kamerateams, Re- ters“ in den gesamten USA zu besitzen. lassen. Dem Publikum sollte so viel Kunst porter, Radio. Seit Wochen geht das so. In der Kunstszene ist man sich nicht ganz wie möglich präsentiert werden. Langsam haben wir keinen Bock mehr.“ einig darüber, wer eigentlich als Ma- Bei der Eröffnung des jährlichen Hoch- Einige ihrer Kommilitonen verteilen da- cher und Mastermind dieses einzigartigen schulrundgangs am vergangenen Donners- gegen ganz selbstbewusst Visitenkar- Booms gelten muss: Neo Rauchs einstiger tagabend gestand Brohm unverblümt, an ten. Die Preise, die sie für ihre Werke ver- Lehrmeister Arno Rink oder der in Leipzig welchen Gästen ihm gelegen ist: „Ich freue langen wollten, haben sie auf kleinen Zet- und Berlin ansässige Galerist Gerd Harry mich besonders über die Galeristen, die teln notiert. Lybke. Bei ihm sind Rauch und viele von Man ist nun mal groß in Mode. dessen Nachfolgern unter Vertrag, etwa Tim Die internationale Sammlerklien- Eitel oder David Schnell. Beide sind Anfang tel schaut gebannter denn je auf dreißig und richtig gut im Geschäft. alles, was als „Young German Professor Rink, schon zu DDR-Zeiten Art“ auf den Markt kommt – und eine Größe, machte es sich am Donnerstag sie wirkt geradezu elektrisiert, auf einem Sessel aus Vorwendezeiten be- wenn von der „Leipzig Academy“ quem und zeigte sich großzügig: Nicht er, die Rede ist. Dort wird, wie einst sondern Lybke sei „der Erfinder der Neu- zu DDR-Zeiten, noch gegen- en Leipziger Schule“ – schließlich habe der ständlich gemalt, heute aber pop- Händler die vielversprechenden Talente bunt und unpolitisch. Von Neo- erst bekannt gemacht: „Das ist ein Wild- romantik sprechen die einen, über schwein.“ Und nun „kommen die ganzen die Rückkehr des Sofabildes läs- Nachrücker unter den Galeristen und wol- tern die anderen. Und alle reden len ihre eigenen Trüffel finden“. – zu Recht – von einem inzwi- Lybke selbst flanierte ein paar Stunden

MARION SPRENGER MARION schen total durchgedrehten Markt. vor den anderen durch die Schule. Er habe Student Herzig: Rückkehr des Sofabildes? Macht aber nichts. Insbeson- „ein, zwei interessante Sachen“ gesehen. dere Amerika ist versessen auf fri- Wie sich das für einen Galeristen gehört, angereist sind. Wir werden sie nicht ent- sche Kunst aus East . In Baltimo- der auch als seriös gelten will, warnte er täuschen.“ re gab’s 2004 „The Leipzig School of Pain- aber davor, mit schnellen Käufen „den Talentschauen quer durch die studenti- ting“ zu sehen, eine Galerie in New York Charakter der Studenten zu verderben“. schen Ateliers gibt’s auch an anderen Aka- nannte eine Gruppenschau „Clara Park“ – Dass sich nun viele Konkurrenten nach demien. Doch nur den Leipzigern gelingt und spielte damit auf den Clara-Zetkin- Malertalenten aus Leipzig umsehen und es, den Kunstbetrieb aufzuscheuchen. Park an, der neben der HGB liegt. In Mas- sein, Lybkes, Monopol womöglich brechen Immerhin hat hier in den achtziger Jah- sachusetts will man die Leipzig Painters könnten, das „stört mich gar nicht“. Al- ren mal Neo Rauch, 44, studiert. Und weil bald als „erstes herausragendes Kunstphä- lerdings rät er seinen Kollegen dann doch, der Maler längst ein Superstar und der nomen des 21. Jahrhunderts“ feiern. sich mal nach der Fotografieklasse in Leip- Wert seiner Bilder fix auf ein sechsstelliges Mit besonders viel Aufwand widmet sich zig oder besser noch nach der Skulpturen- Dollar-Niveau gestiegen ist, guckt alle Welt derzeit das Kunstmuseum in Cleveland den klasse in Dresden zu erkundigen. „Bild- genauer hin – und hält nach immer jünge- „Leipzig Academy Artists“. Die Schau hauerei, das kommt wieder, ganz sicher.“ ren Begabungen Ausschau, in die man selbst heißt knapp und wirkungsvoll „From Der Nachwuchs feierte die Verkäufe des frühzeitig investieren kann. Eine Dame Leipzig“. Sie wird aus der Sammlung von ersten Abends mit Flaschenbier und coo- vom New Yorker Museum of Modern Art Michael Ovitz gespeist. Der Ex-Disney-Ma- lem Getanze zu DJ-Musik. Beinahe wäre ließ sich am Eröffnungstag blicken. Und nager hat den Konzern nach kurzer Zeit im dabei das ein oder andere Kunstwerk zer- etwa tausend andere Interessenten. Streit verlassen und eine spektakulär hohe stört worden. Zwischendurch musste zu- Es sind Gemälde wie die von Christian Abfindung von 140 Millionen Dollar mit- mindest die Feuerwehr kommen. Aber Herzig oder Katrin Heichel, vor denen sie genommen. Einen Teil seines Geldes hat das gehört sich ja so für eine anständige stehen bleiben. Herzig zeigt schon mal ein der Mann in ordentlich viel Kunst von Party. Andreas Kleinschmidt, Ulrike Knöfel

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hat: das Herz des Zuschauers durch die bar kein Selbstzweck, keine billigen Effek- TV-FILM Schilderung der herzlosen Moderne zu te, kein blutgeiles Film-Geklingel. rühren. Graf hat die Welt seiner Geschich- Graf inszeniert eine bittere Anklage wi- Lodernde Gewalt te in ihre Elementarteilchen zersplittert. In der die Mediengesellschaft, die dabei ist, eiskalte, schrecklich elegante Bilder, in chao- die Unterscheidung zwischen Fiktion und „Der scharlachrote Engel“ – tische Gefühlskristalle und in Dialogsätze, Wirklichkeit zu verlernen. Seine Heldin, die verletzend wie Messer aufblitzen. die Langzeit-Jura-Studentin Flo (auf- so brutal und grandios Die Liebe ist in diesem Film vergiftet, wühlend, geheimnisvoll und zerbrechlich: wie Dominik Grafs Münchner nicht rot, sondern scharlachrot eben. Und Nina Kunzendorf), ist so eine Figur, die „Polizeiruf 110“ geht kaum das mit dem Engel im Titel – wo soll der ei- zwischen medialem Wahn und unbegriffe- ein anderer Fernsehkrimi zur Sache. gentlich fliegen, wenn es um eine verbum- ner Wirklichkeit hoffnungslos eingeklemmt melte Studentin geht, die für Internet-Kun- ist. Über ihre Darbietungen vor der hei- it dem einarmigen Hauptkommis- den strippt, einen Vergewaltiger anlockt mischen Webcam für zahlende Internet- sar Tauber (Edgar Selge) hat der und unheilbar an der Liebe zu einem ver- Kunden ist sie dabei, das Gefühl für die MZuschauer seine Erfahrungen. Im- heirateten Mann erkrankt ist? Würde des eigenen Körpers zu verlieren. mer ist er für eine zynische Bemerkung gut, Wohl selten gab es einen 20.15-Uhr-Kri- Zumal sie echte und wahre Gefühle in der immer geht er an die Grenze, wo der Wahn- mi in einem öffentlich-rechtlichen Sender, Unerreichbarkeit der Liebe zu dem ver- sinn anfängt, und immer blitzt aus seinen in dem so obszön, rücksichtslos und eiskalt heirateten Mann versiegelt hat. Augen der Übermut. Was Wunder, dass in Wort und Bild Gefühle seziert wurden. Flo ist so das gefundene Fressen für den seine Kollegin Obermaier (Michaela May) Dass ein Blumenverkäufer zwischen sei- Vergewaltiger Gérard (Martin Feifel), ei- gelegentlich verzweifelt – wie unlängst die nen Lokalbesuchen auf seine erschlaffte nen labilen Verlierertyp, den die Internet- Redaktion des Bayerischen Rundfunks. Da Ware pinkelt, dass der Vergewaltiger der Stripperin angeturnt und verwirrt hat, so hatte Selge in einer Szene die Armamputa- nichtsahnenden Mutter seines Opfers eine dass er seinen aus Sexphantasien gespeis- tion auf der rechten und nicht wie für die Plastiktüte voll Fleisch auf den Tisch wirft ten Film im Kopf schreckliche Wirklichkeit Rolle verabredet auf der linken Seite und (wahrheitswidrig) behauptet, es stam- werden lassen muss. Es treffen also zwei Menschen zusam- men, die jeder für sich die Wirklichkeit verloren haben. Und so ist der Auftritt der Gewalt unvermeidlich. Zwei Körper, über die die Vernunft die Kontrolle verlo- ren hat, prallen aufeinander. Der Schänder bildet sich ein, der sexuelle Erlöser der Frau zu sein, die Geschändete, die gerech- te Strafe für ihre Internet-Prostitution zu empfangen. Von „magma-artigen“ Verwüstungsspu- ren spricht Graf im Programmheft, ein feu- riges Wort, das die Fegefeuer des Films trifft. Denn äußerlich kalt, elegant und mit musikalischem Gespür für Symmetrien be- obachtet der Regisseur, wie die Instanzen der Vernunft eine nach der anderen in der lodernden Gewalt der Körper und Gefüh- le verbrennen. Zu Asche werden die Vorstellungen von Gerechtigkeit und von der Sicherheit durch die Arbeit der Kommissare. Die Gerichts-

JULIA VON VIETINGHOFF / BAYERISCHER RUNDFUNK VON VIETINGHOFF / BAYERISCHER JULIA verhandlung gegen den Bösewicht erweist „Polizeiruf 110“-Darsteller Selge, May (mit Joram Voelklein): In Elementarteilchen zersplittert sich als lächerliches (und vor allem von Claudia Messner in der Rolle der Verteidi- dargestellt – kein Verantwortlicher hat’s me von der Tochter, gehört noch zu den gerin grandios gespieltes) Theater. Der gemerkt, schräger Humor à la Selge. leichteren Tabubrüchen. Kommissar Tauber verliert im Sturm der Doch solche Scherze haben dem Ruhm Aber Spermaflecken des Täters auf dem Sentiments die Kontrolle über seine eige- des Darstellers, der 2003 für diese Rolle Sofa in Großaufnahme, detailverliebte nen Gefühle. Ihm fällt ein, wie er als Kind den Deutschen Fernsehpreis einheimste, Erörterungen vor Gericht über Penisdurch- ein Karnickel durch festes Ansichdrücken nicht geschadet. Im Gegenteil: Die neue messer (normal: 3, trefflich: 4,5 Zentimeter) die Liebe lehren wollte und was die Folge „Polizeiruf“-Folge bietet noch mehr an und der Dialogsatz über eine angeblich lüs- des Affektsturmes war: Das gepresste Viech Grenzüberschreitung, Brutalität und filmi- terne Frau, sie habe „getropft wie ein Kies- pinkelte ihn vor Angst an. Wie soll er sich scher Präzision: „Der scharlachrote Engel“ laster“ – das ist schon hart. Denn auch mit Gefühlen auskennen? von Dominik Graf beweist es an diesem sonst wird reichlich geprügelt, vergewal- Es sind viele solcher kleinen Szenen, in Sonntag*. Zur Sendung kommt näm- tigt, gewürgt, geschrien, geheult, geblutet, denen Graf die Abgründe von Personen lich ein wahrhaft fulminantes Münchner gezittert, gehöhnt und geschmäht. mit einem Satz oder einem Bild auf- Jammerspiel. Doch zur Zensur besteht kein Anlass. reißt. Manchmal reicht ein Farbtupfer wie Dem Regisseur ist im Fernsehen gelun- Und der Bayerische Rundfunk hat Graf, das rote Kleid von Flo, in dem das weib- gen, was der französische Schriftsteller Mi- dessen Film im vergangenen Sommer auf liche Elementarteilchen inmitten lauter chel Houellebecq in der Literatur geschafft dem Münchner Filmfest unter viel Beifall Graumäuse vor den Schranken des Ge- gezeigt wurde, zum Glück nur wenige richts erscheint – schneller und präziser * „Polizeiruf 110: Der scharlachrote Engel“, Sonntag, Schnitte abverlangt. Denn all die ver- lässt sich nicht zeigen, was Einsamkeit 20. Februar, 20.15 Uhr, ARD. störenden Bilder und Worte sind erkenn- ist. Nikolaus von Festenberg

162 der spiegel 7/2005 Kultur OLAF BALLNUS (L.); GROENEVELD / CINETEXT (R.) (L.); GROENEVELD OLAF BALLNUS Autor Kempowski in seiner Bibliothek, bei der Sichtung der Archivbestände (1981): „Die herrlichsten Entdeckungen“

ZEITGESCHICHTE Der Chor der Stummen Der Erzähler und Chronist Walter Kempowski hat nach 25 Jahren sein Weltkriegsepos „Echolot“ vollendet, das fast nur aus Zitaten besteht – und gewährt in einem Tagebuch überraschende Einblicke in die aberwitzige Entstehungsgeschichte des gewaltigen Werkes. Von Volker Hage

eitweise hatte er das Gefühl, „mit jetzt zum Abschluss gekommen: der sorg- Widerstände durchsetzen. Das ist natür- der Gießkanne ein Schwimmbad zu sam arrangierte Stimmenchor „Das Echo- lich mein mecklenburgisches Blut, dass ich Zfüllen“. Er notierte sich: „Angstzu- lot“, eine sich über Tausende von Seiten nicht locker lasse!“ stände wechseln mit Ekel ab.“ Oder: „Mir erstreckende Zitatmontage – die vierte und Jetzt erlaubt sich der in Rostock gebo- dröhnt der Kopf.“ Sogar: „Nahe am Wein- letzte Lieferung mit dem Untertitel „Ab- rene Autor einen Moment der Zufrieden- krampf wegen der Anstrengungen.“ Dann gesang ’45“ wird in dieser Woche in den heit – um dann gleich wieder auf neue li- gab es wieder Glück bei der „Arbeit im Ar- Buchhandlungen liegen*. terarische Pläne zu sprechen zu kommen. chiv“: „Die herrlichsten Entdeckungen. Der Schlussstein kommt so immerhin Wirkliche Ruhe gibt es für den Emsigen Das Gedächtnis reicht nicht aus, die guten rechtzeitig zum 60. Jahrestag der deut- nicht, seit Jahrzehnten nicht: Erst schrieb Sachen ständig gegenwärtig zu haben. Man schen Kapitulation im Mai. Ursprünglich er seine „Deutsche Chronik“, jenen Ro- muss immer wieder hinabsteigen.“ hatte Kempowski geplant, diesen Band manzyklus, den er selbst nicht gern so Ein Vierteljahrhundert hat der Schrift- schon 1995 erscheinen zu lassen, aber auch nennt und der regelrechte Bestseller wie steller Walter Kempowski, 75, sich in einem er hatte die Dimension des Unternehmens den auch verfilmten Roman „Tadellöser & selbstgeschaffenen Kosmos bewegt – der von Anfang an unterschätzt. Wolff“ (1971) enthält, dann war „Echolot“- von einem Käfig bisweilen nur schwer zu Er wirkt immer noch erschöpft, doch Zeit – von weiteren Werken zwischendurch unterscheiden war. In einem Anbau seines blitzt ein schelmischer Ausdruck in den ganz abgesehen. Hauses in Nartum, nahe Bremen, befindet Augen des Schriftstellers, wenn er nun „Das ist eine Zeitspanne, die man sich sich ein Archiv mit Tagebüchern, Briefen, über seine Arbeit sagt: „Das ist eine Ge- eigentlich gar nicht vorstellen kann“, sagt Erinnerungen und Fotos, wie es so kein schichte der Verhinderungen und des er beim Gang durch sein Haus am Rand zweites in Deutschland gibt. Und Kem- Kampfes. Ich musste immer wieder gegen von Äckern und Feldern. Zu Recht hat er powski ist Schöpfer, Bauherr, Kurator und nun ein Gefühl von „Vollendung“. Es ist Benutzer in einer Person. nicht einfach nur ein Abschluss für ihn. * Walter Kempowski: „Das Echolot. Abgesang ’45. Ein Ein ebenso einzigartiges, ein giganto- kollektives Tagebuch“. Knaus Verlag, München; 496 Sei- Als Thomas Mann im Januar 1947 nach manisches Werk ist daraus entstanden und ten; 49,90 Euro. fast vier Jahren seinen Roman „Doktor

166 der spiegel 7/2005 Faustus“ beendet hatte, vermerkte er nicht In bemerkenswerter Offenheit – und „klaffen die Lücken“, spürt der Arrangeur ohne Zufriedenheit und mit lakonischem überaus spannend zu verfolgen – zeigt sich riesiger Stoffmassen. „Eine unförmige Pathos in seinem Tagebuch: „Schrieb um in den „Culpa“-Notizen, wie die Dichter- Missgeburt?“, fragt er sich. Zwischendurch 1 /212 Uhr die letzten Worte des ,Dr. Faus- klause in Nartum von einem Tollhaus oft mag er vom „Echolot“ nichts mehr hören, tus‘. Bewegt immerhin. Rückblickend.“ genug nicht mehr zu unterscheiden war. kehrt aber immer wieder brav zu seinem Damit nicht genug: Der Dichter ließ zwei Vom „Echolot“ könne man irrsinnig wer- „gigantischen Monstrum“ zurück und ahnt Jahre später ein Buch folgen, in dem er den, rief irgendwann die Ehefrau aus, und richtig voraus: „Seine Wirkung wird in der „Die Entstehung des Doktor Faustus“ dar- die junge Mitarbeiterin notierte sich in ei- Ausführlichkeit liegen.“ 1 stellte, und gab dem Werk den Untertitel nem eigenen Tagebuch: „9 /2 Stunden am Es sind Tausende von Stimmen, die in „Roman eines Romans“. Computer gesessen, der Rücken ist wie seinem Kopf umherschwirren, denen er Das große Vorbild mag Kempowski er- durchgebrochen. Fühle mich alt und aus- gerecht werden möchte, lauter Menschen, mutigt haben, aus Anlass der Rundung sei- gelaugt. Abgeschlafft und matschig, ge- deren Briefe und Tagebuchnotizen er zi- nes „Echolot“-Unternehmens seinerseits nervt, abgespannt.“ tiert und nach eigenen Gesetzen arrangiert. eine Entstehungsgeschichte zu publizieren, Auszüge aus den Notizen von Simone Der unermüdliche Einsatz kostet seinen gleichzeitig mit dem letzten Band: „Cul- Neteler hat Kempowski in „Culpa“ aufge- Preis: im Dezember 1991 erleidet Kem- pa“*. Freilich ist das Begleitbuch nicht in nommen, so dass eine zweite Stimme das powski den ersten, im Mai 1993 den zwei- erzählter Form gehalten, sondern aus sei- Bild ergänzt – und durchaus nicht immer ten Schlaganfall. Er erholt sich und macht nen Arbeits- und Tagebuchnotizen zusam- zum Lobe des Meisters: „Er tobte! Mit sofort weiter, im tiefsten Inneren von seiner mengestellt – passend zum Hauptwerk, das Türengeknalle, Hin- und Hergerenne, lau- Mission überzeugt: „Wie Moses an den Fels Kempowski stets als „Ein kollektives Ta- tem Geschrei – wie im Film!“ schlug, und es kam Wasser heraus, so habe gebuch“ verstanden und bezeichnet hat. Es ist Fronarbeit, für alle. Kempowski ich die Stummen zum Reden gebracht.“ Die „Notizen zum ,Echolot‘“ holen weit schont sich selbst nicht. Die Arbeit schrei- Es ist ein Wunder. Und rückblickend ei- aus. Sie reichen von der ersten vagen Idee, tet voran, ohne dass der Weg immer schon gentlich nicht recht zu begreifen, wie eine fremde Aufzeichnungen zu sammeln, von klar erkennbar ist. Der Sinn für Propor- derart kleine Mannschaft ein solches Werk der Gründung des „Archivs für unpubli- tionen, für die Dimension überhaupt droht stemmen konnte. Kempowski muss immer zierte Autobiografien“ im Januar 1980 und zwischendurch verloren zu gehen. Als der nur auf den nächsten Schritt geguckt, Fuß der Schaltung von Kleinanzeigen („W. Steuerberater ihm 1985 vorrechnet, dass vor Fuß gesetzt haben – hätte er nur ein- Kempowski sucht unveröffentlichte Auto- für das Archiv und die Arbeit am „Echo- mal den Kopf gehoben und die Wand vor biografien für sein Archiv“) über die rasch lot“ schon 300000 Mark Kosten anzusetzen sich gesehen, die am Ende zu erklimmen wachsende Flut von Einsendungen, die seien, ist Kempowski völlig erstaunt – war, er wäre wohl sofort erstarrt. Konkretisierung des „Echolot“-Vorhabens acht Jahre später bis in die Tage der ersten „Echolot“-Auslieferung im Herbst 1993. „Den Guten, die auch immer ein wenig böse sind, und den Bösen, die auch von ei- ner Mutter geboren wurden, habe ich zu- gehört, und ich habe ihre Texte zu einem Dialog geformt“, hieß es damals im Vor- wort – und lange, bevor Günter Grass sei- ne Novelle „Im Krebsgang“ (2002) nannte, schrieb Kempowski: „Wer eine Formel für den Krebsgang der Menschheit sucht – mit dem Echolot holt er sie aus der Tiefe.“ Allein dieses Vorwort: Bis zuletzt hatte sich der Autor dagegen gewehrt, dem Chor der fremden Stimmen, der Toten und der Stummen, die er mit ihren Aufzeichnungen wieder zum Reden brachte, seine eigene Stimme hinzuzufügen. „Sehr schwierig, das liegt mir gar nicht“ notierte er im No- vember 1992. „Hildegard meint, ich spre- che wie ein Bauer, wenn ich mich theore- tisch über etwas verbreite.“ Zwei Personen waren es vor allem, die an Kempowskis Seite während der

„Echolot“-Epoche tapfer ausgehalten ha- PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST ben, als Verbündete, Mitarbeiter und Berlin nach der Kapitulation 1945: Stimmengewirr der Soldaten und Zivilisten Gesprächspartner: seine Frau Hildegard, 69, mit der er seit bald 45 Jahren ver- ebenso, als er 1992 feststellen muss, dass Kempowski hatte Recht, er konnte sich heiratet ist, und Simone Neteler, 38, die 100000 Blatt Papier aufgebraucht sind. auf seine Leser verlassen: Anders als lan- 1984 als Schülerin in Nartum auftauchte Nicht genug damit, dass Irrwege be- ge Zeit im Münchner Knaus-Verlag be- und später neben ihrem Publizistikstudium schritten werden, Dateien verschwinden, fürchtet – der zum Bertelsmann-Impe- die oft schwer leserlichen Handschriften die Kapazität des ersten Rechners bald rium gehört und dessen Verlagsleitung eingab und den Überblick zu bewahren nicht mehr ausreicht: Immer wieder schlei- während der „Echolot“-Jahre mehrere versuchte. chen sich Zweifel ein, ob das alles einen Mal ausgewechselt wurde –, wuchs sich Sinn hat, ob wirklich etwas daraus entste- schon die erste Kassette mit vier Bän- * Walter Kempowski: „Culpa. Notizen zum ‚Echolot‘. Mit hen wird, was auf Interesse, gar eines den 1993 schnell „zu einem der spek- Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel“. Knaus Verlag, München; 384 Sei- größeren Publikums stößt. Je umfangrei- takulärsten Erfolge“ in der Verlagsge- ten; 19,90 Euro. cher die Sammlung wird, desto deutlicher schichte aus, wie Kempowskis Lektor Karl

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Heinz Bittel im Nachwort zu „Culpa“ sich zum großen Panorama weitet – so hat schreibt. man das Kriegsende noch nicht dargestellt Noch eine ergänzende Stimme: Bittel gefunden. schildert die von Kempowski beschworene Ein letztes Mal erhebt sich hier das Stim- „Geschichte der Verhinderungen“, soweit mengewirr der am Krieg Beteiligten, der sie den Verlag betreffen, aus seiner Sicht – Soldaten und Zivilisten, der Beobachter und das ist nur fair, denn der Lektor dürf- nah und fern, der Künstler, Schriftsteller te derjenige sein, der in Kempowskis No- und Unbekannten, der Lagerinsassen tizen am häufigsten beschimpft wird. Nun und Gefangenen, der Verwundeten, auch darf er zeigen, gegen welche Widerstände der Politiker (sie, die Sieger, haben im Verlag anzukämpfen war („Das ist also sogar das erste Wort: Harry S. Truman, gar kein richtiger Roman? Keine Zeile von Winston Churchill, Josef Stalin) – Freu- Kempowski? Wer soll denn das kaufen?“), dentaumel, Ungläubigkeit, auch Unsicher- aber auch deutlich machen, dass nur mit heit überall. dem Konzern im Hintergrund das Projekt „Nicht leicht“, notiert ein Deutscher, überhaupt zu kalkulieren war. „sich auf Waffenstillstand umzustellen. Selbst als sich in München angesichts Man sieht noch immer nach dem Him- des „Echolot“-Projekts wieder einmal mel, sobald ein Flieger summt, und will große Skepsis breit machte („Vielleicht soll- Deckung nehmen.“ Ein Rotarmist wandert te man 1000 Exemplare für Bibliotheken und Enthusias- ten machen, dann Studien- ausgabe“), sah man keinen Anlass, die Sache fallen zu lassen – wenn der Erfolgs- autor Kempowski es denn unbedingt so haben wollte. Der ersten „Echolot“-Kas- sette, die sich bis heute knapp 50 000-mal verkauft hat und den Kriegsalltag aus dem Januar und Februar 1943 schildert, folgte 1999 eine zweite vierbändige Lie-

ferung, die die gleichen Mo- RIEBENSAHM KATHRIN nate im Jahr 1945 schildert „Echolot“-Team Kempowski, Neteler: „Genervt, matschig“ (Untertitel „Fuga furiosa“). Dann kam 2002 – gewissermaßen nachträg- durch das eroberte Berlin: „Der Tag war lich – ein einbändiger Prolog hinzu, zeitlich frühlingshaft … Vor dem Reichstag lärmte den deutschen Überfall 1941 auf die So- ein ausgewachsenes Feldlager. Soldaten wjetunion umfassend („Barbarossa ’41“). rasierten sich direkt auf der Straße, vor Nun folgt als Epilog, als Abschluss ebenfalls Spiegeln, die irgendwie auf der Panzerung einbändig, die Darstellung aus den letzten von Kampfwagen aufgestellt waren.“ drei Wochen des Zweiten Weltkriegs. Es wäre keine schlechte Idee, Walter Der „Abgesang ’45“ setzt mit dem 56. Kempowski in diesem Jahr endlich mit Geburtstag Hitlers am 20. April 1945 ein: dem Georg-Büchner-Preis auszuzeichnen. Seit 2059 Tagen tobt der Krieg, und er wird Ebenso gut gäbe er, spätestens mit dem noch 18 Tage andauern – so ist der Kopf- Abschluss dieses den Zweiten Weltkrieg so leiste zu entnehmen, die Kempowski je- tief auslotenden Werks, einen würdigen weils vor die Tage gestellt hat. Auf die deut- Kandidaten für den Friedenspreis des sche Kapitulation und deren Bekanntwer- Deutschen Buchhandels ab. den am 8./9. Mai 1945 läuft alles zu: auf die „Culpa“, Schuld, hat er seine Notizen Angabe „0 Tage“ – nach 2077 Tagen Krieg. zum „Echolot“ genannt. Ganz im Inneren, Kempowski ist am Ende seiner „Echo- nur für sich selbst hat er, wie er gesteht, die lot“-Reise zum Meister der Form und der Hoffnung, „mit so einer Lebensarbeit auch Proportion geworden: Nicht mehr von Tag ein wenig die Schuld des eigenen Volkes zu Tag bietet er seine Zitate auf, sondern abzubüßen“. Anders vermag er sich selbst blickt nur noch ausschnitthaft in die er- die Anstrengung nicht zu erklären. müdeten Seelen. Er konzentriert sich auf Nun hat er mit dem „Echolot“ abge- vier Schwerpunkte: Nach dem 20. lässt er schlossen. „Ich habe die anderen zu Wort den 25. und 30. April (Selbstmord Hitlers) kommen lassen“, sagt er. „Jetzt möchte folgen, dann kommt das Kriegsende. man sagen: Liebe Freunde, verlasst die Den 8. und 9. Mai hat Kempowski zu ei- Bühne! Ich will auch noch ein paar Worte nem einzigen großen Kapitel von knapp sagen.“ 150 Druckseiten zusammengefasst (wie Und er hofft, dass in absehbarer Zeit ähnlich schon einmal den 13. und 14. Fe- sein Archiv, wie geplant, von der Akade- bruar 1945, die Tage des Luftangriffs auf mie der Künste in Berlin übernommen Dresden in „Fuga furiosa“): ein Puzzle von wird. Wie er sich dann fühlen werde? „Er- Stimmen der Besiegten und der Sieger, das leichtert“, sagt er. „Ja, erleichtert.“ ™

168 der spiegel 7/2005 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (2) Dan Brown Sakrileg 1 (1) Ben Schott Lübbe; 19,90 Euro Schotts Sammelsurium Bloomsbury Berlin; 16 Euro 2 (1) Frank Schätzing Der Schwarm 2 (2) Peter Hahne Schluss mit lustig Kiepenheuer & Witsch; 24,90 Euro Johannis; 9,95 Euro 3 (3) François Lelord Hectors Reise 3 (8) Jürgen Neffe Einstein Piper; 16,90 Euro Rowohlt; 22,90 Euro

4 (4) Michael Crichton Welt in Angst 4 (3) Werner Tiki Küstenmacher/ Blessing; 24,90 Euro Lothar J. Seiwert Simplify your life Campus; 19,90 Euro 5 (5) Kathy Reichs Totenmontag Blessing; 20 Euro 5 (6) Susanne Fröhlich Moppel-Ich W. Krüger; 13,90 Euro 6 (9) Gabriel García Márquez 6 (4) Frank Schirrmacher Erinnerung an meine traurigen Das Methusalem-Komplott Kiepenheuer & Witsch; 16,90 Euro Huren Blessing; 16 Euro

7 (13) Eric-Emmanuel Schmitt 7 (5) Dietrich Grönemeyer Oskar und die Dame in Rosa Mein Rückenbuch Ammann; 13,80 Euro Zabert Sandmann; 19,95 Euro

8 (8) Ildikó von Kürthy Blaue Wunder 8 (7) Helmut Schmidt Die Mächte der Siedler; 19,90 Euro Wunderlich; 17,90 Euro Zukunft 9 (11) Wibke Bruhns Meines Vaters Land 9 (6) Eric-Emmanuel Schmitt Das Kind Econ; 22 Euro von Noah Ammann; 16,90 Euro 10 (9) Sigrid Damm Das Leben des 10 (12) Wolfgang Hohlbein Anubis Friedrich Schiller Insel; 24,90 Euro Lübbe; 19,90 Euro 11 (14) Rüdiger Safranski Schiller oder 11 (7) Paulo Coelho Der Alchimist Die Erfindung des Deutschen Diogenes; 17,90 Euro Idealismus Hanser; 25,90 Euro 12 (16) Allan und Barbara Pease 12 (10) Walter Moers Die Stadt der Die kalte Schulter und der warme Träumenden Bücher Piper; 24,90 Euro Händedruck Ullstein; 16,95 Euro

13 (11) Sven Regener Neue Vahr Süd 13 (15) Klaus Bednarz Am Ende der Welt Eichborn Berlin; 24,90 Euro Rowohlt Berlin; 19,90 Euro

14 (18) Cecelia Ahern P.S. Ich liebe Dich 14 (10) Senait Mehari Feuerherz W. Krüger; 16,90 Euro Droemer; 16,90 Euro

15 (16) Pascal Mercier Nachtzug nach 15 (18) Henning Mankell Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt Zsolnay; 14,90 Euro Lissabon Hanser; 24,90 Euro 16 (–) Friedrich Merz Nur wer sich 16 (–) Christoph Hein In seiner frühen ändert, wird bestehen Kindheit ein Garten Herder; 19,90 Euro Suhrkamp; 17,90 Euro 17 (20) Guido Knopp Der Sturm Econ; 25 Euro

18 (–) Horst Köhler mit Hugo Müller-Vogg Bei einem Schusswechsel mit Grenzschützern Offen will ich sein – und notfalls kommt ein junger RAF- unbequem Hoffmann und Campe; 17,90 Euro Terrorist zu Tode – der Vater will Gerechtigkeit 19 (–) Necla Kelek Die fremde Braut für seinen Sohn Kiepenheuer & Witsch; 18,90 Euro 17 (–) Anna Gavalda Zusammen ist man weniger allein Hanser; 24,90 Euro

18 (20) Rafik Schami Die dunkle Seite Tausende junger Türkinnen der Liebe Hanser; 24,90 Euro werden nach Deutsch- land gebracht und dort 19 (–) Wilhelm Genazino verheiratet – kaum jemand interessiert sich Die Liebesblödigkeit Hanser; 17,90 Euro für ihr Schicksal

20 (–) Max Goldt Der Zauber des seitlich 20 (–) Albrecht Müller Die Reformlüge dran Vorbeigehens Rowohlt; 17,90 Euro Droemer; 19,90 Euro

der spiegel 7/2005 169 Trends Medien

VERLAGE „SZ“ greift mit DVDs an er Wettbewerb unter den Verlagen Dum einträgliche Nebengeschäfte mit Büchern, CDs und DVDs verschärft sich: Am 5. März startet die „Süddeut- sche Zeitung“ („SZ“) mit dem Verkauf von DVDs. Die „Zeit“ brachte bereits vergangene Woche in Kooperation mit Amazon eine 50-teilige DVD-Serie auf den Markt, und der „Stern“ bewirbt schon seit einigen Monaten seine DVD- Edition mit zwölf Oscar-prämierten Fil- men. Der Süddeutsche Verlag (SV) hofft

mit den DVDs an den unerwarteten Er- EINBERGER / ARGUM (R.) DEFD (L.); THOMAS folg seiner „SZ“-Bibliothek anknüpfen Filmplakat zu „Heat“, Verlagshaus der „Süddeutschen Zeitung“ in München zu können. Die 50-teilige Buch-Edition, die Anfang vergangenen Jahres startete, löste den branchen- Gastkritiker wie Helmut Dietl, Wim Wenders und Caroline weiten Boom von Nebengeschäften aus: Insgesamt verkaufte das Link für Filme wie „Der unsichtbare Dritte“, den Action-Knal- Münchner Zeitungshaus über 10 Millionen Bücher und erlöste ler „Heat“ oder die Ingmar-Bergman-Verfilmung „Wilde Erd- 2004 damit mehr als 20 Millionen Euro. In diesem Jahr sollen beeren“ werben. Die „Zeit“ setzt mit ihren „Juwelen der Film- es bereits 30 Millionen Euro werden – vor allem dank des DVD- geschichte“ auf eine ähnliche Auswahl, verkauft die Filme aber Verkaufs. Die „Süddeutsche Zeitung Cinemathek“ folgt dem ausschließlich über Amazon und nicht direkt unter eigenem gleichen System wie die Bibliothek: Jede Woche wird im Feuille- Namen – und auch nicht zu einem einheitlichen Preis. Beim SV ton ein von der Redaktion ausgewählter Film besprochen und sieht man in der Aktion der „Zeit“ auch den Versuch, das eige- zeitgleich für 9,90 Euro in den Handel gebracht. Die Filmaus- ne Projekt zu torpedieren. Die Zeitungsverlage waren zuletzt an- wahl reicht vom „Kultfilm bis zum Klassiker“, wie es im Münch- einander geraten, als beide Ende 2004 innerhalb weniger Tage ner Verlag heißt. Neben der Filmredaktion sollen prominente ähnliche Wissenschaftsmagazine auf den Markt brachten.

TV-SHOWS BILDAGENTUREN Corbis ebenfalls vertreten ist. Bran- chenbeobachter wie der Geschäftsfüh- Erst Kochen, dann Wein Gates streicht Stellen rer des Bundesverbandes der Presse- bild-Agenturen und Bildarchive, Bernd ach dem Erfolg von TV-Kochshows erade einen Monat nach der Über- Weise, sehen die Übernahme kritisch, Nwie Tim Mälzers „Schmeckt nicht, Gnahme der Düsseldorfer Bildagen- weil sie die ohnehin starke Konzentra- gibt’s nicht!“ entdecken die Fernsehma- tur Zefa Visual Media durch die welt- tion auf die beiden internationalen cher nun das nächste Genussprogramm: weite Nummer zwei der Branche, Cor- Branchenriesen Getty Images und Cor- Der NDR widmet dem Wein eine eige- bis, herrscht in der Zefa-Zentrale helle bis weiter befördert. Hans-Jörg Zwez, ne Showreihe. Unter dem Titel „Haupt- Aufregung: Nachdem Offizielle der US- Chef der Agentur Mauritius, fürchtet sache Wein!“ soll der Star-Sommelier Agentur, die Microsoft-Gründer Bill durch die Aufkäufe der US-Amerikaner Hendrik Thoma in jeder Sendung dem Gates gehört und von seinem Statthal- eine „McDonaldisierung und Ausdün- Zuschauer jeweils ter Steve Davis geführt wird, vor vier nung des Angebots“ und einen zuneh- eine Weinregion Wochen noch eine Politik der ruhigen menden Druck besonders auf kleinere, oder Rebsorte Hand angekündigt hatten, wurden am spezialisierte Agenturen: „Der Verdrän- näher bringen. Dienstag die ersten Kündigungen ausge- gungswettbewerb wird weitergehen.“ Die von Friedrich sprochen. Insgesamt, bestätigt Corbis, Küppersbusch pro- „müssen 31 Positionen gestrichen wer- duzierte Show soll den“, zudem würde es „zur Beendigung erstmals am Oster- einiger Beraterverträge kommen“. Zefa

BERTOLD FABRICIUS BERTOLD samstag laufen Visual Media hatte zum Zeitpunkt der Thoma, und ähnlich wie Übernahme 140 Mitarbeiter und war Chef Jost Deitmar die Kochshows mit einem Umsatz von 41 Millionen vor allem von der Dollar Europas Marktführer unter den Persönlichkeit des Präsentators leben. großen Foto-Datenbankanbietern. Nun Thoma, im Hauptberuf Wein-Chef des plant man bei Corbis auch „die Zusam- Hamburger Hotel-Restaurants Louis C. menführung der Teams dort, wo wir Jacob, ist einer von weltweit nur rund mehrere Büros haben“, so Corbis-Vize- 150 Weinexperten mit dem Titel Master präsidentin Jennifer Hurshell. Zefa un-

Sommelier und schreibt bereits eine terhält neben Düsseldorf unter anderem CHERNIN / GETTY IMAGES STEPHEN Reihe von Magazinkolumnen. Dependancen in London und Paris, wo Davis, Gates

der spiegel 7/2005 171 Medien Fernsehen TV-Vorschau Bilddokumente aus dessen Nach- lass. Dazwischen geben stilvoll Die fremde Frau angedeutete Spielszenen einen Eindruck von der Rastlosigkeit Montag, 20.15 Uhr, ZDF und Melancholie dieses faszinie- Die Dame, die da gerade auf dem renden Lebens. Kleiner Schön- Hamburger Flughafen gelandet ist, heitsfehler des gehaltvollen Por- hat ein Geheimnis. Der Zuschauer träts: Linkshänder war Kessler ahnt dies von Beginn an, weil die nachweislich nicht. Kamera schon in der ersten Einstel- lung kaum mehr als den Schatten von Erinnere dich, Helen Berg (Corinna Harfouch) zeigt. wenn du kannst! / ZDF DIRK BARTLING Berg hat es auf eine hanseatische Hehn, Dohm, Wussow Juweliersdynastie abgesehen: Mit dem Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Sohn Alexander (Ulrich Tukur) be- Der Schauspieler Max Walden (Dieter Brinkmann spendete – wenn gerade ginnt sie eine Affäre; dessen Ehefrau, Pfaff) ist als Fernsehkommissar erfolg- keine Niere vorrätig war – wenigstens eine Anwältin, betraut sie mit einem reich – als Vater aber ein Versager. Sein ein bisschen Trost: Die Krankenhaus- verwirrenden Auftrag, und schließlich Sohn Tom (Frank Giering) hat vor reihe „Die Schwarzwaldklinik“ (1985 sucht sie noch die Nähe zu Alexan- Jahren den Kontakt zu ihm abgebro- bis 1989) war so flach wie eine Bett- chen. Doch als Tom schwer verletzt in pfanne, und die Dialoge klangen ent- einem irischen Krankenhaus liegt und sprechend blechern. Doch bis zu 28 des Mordes verdächtigt wird, macht Millionen Zuschauer hockten damals sich der TV-Ermittler – Fernsehen bil- vor dem Bildschirm, Einschaltquote: det! – selbst an die Aufklärung des 60 Prozent und mehr. Jetzt, 20 Jahre Falls. In dem spannenden Fernsehfilm nach dem Start, holt das ZDF eine (Buch: Thomas Kirdorf, Regie: Sigi neue Dosis des Serien-Sedativs aus Rothemund), Generationendrama und dem Giftschrank: Produzent Wolf- Kriminalgeschichte in einem, über- gang Rademann, 70, hat die Doktor- zeugt vor allem Hauptdarsteller Pfaff, darsteller von einst (Klausjürgen der quasi sich selbst spielt: Er hat vom Wussow, Gaby Dohm, Sascha Hehn tumben Streifenpolizisten Otto (in und andere) wieder in weiße Kittel „Der Fahnder“) bis zum sensiblen gesteckt. Nur „eine einmalige Sen- Kommissar („Sperling“) schon einige dung zum Jubiläum“, gibt Rademann Ermittler verkörpert. Entwarnung, „keine neue Serie“. Wussow-Sohn Alexander, damals Die Schwarzwaldklinik – nicht mit von der Partie, spielt Brink-

C. SCHROEDER / ZDF Die nächste Generation mann junior, einen Assistenzarzt, der Harfouch, Tukur in „Die fremde Frau“ eine Kollegin heiraten will. Zur Hoch- Sonntag, 20.15 Uhr, ZDF zeit fallen diverse Verwandte und alte ders Mutter (Carola Regnier). In stili- Oberschwester Hildegard fummelte am Kollegen im Glottertal ein. Zu Risiken siertem Fünfziger-Jahre-Ambiente – Katheter, Nachwuchsarzt Udo begrabsch- und Nebenwirkungen fragen Sie den das große Vorbild von Regisseur Mat- te die Lernschwestern, und Klinikchef ZDF-Programmdirektor. thias Glasner ist offensichtlich Alfred Hitchcock – nimmt das Drama (Buch: Thomas Schwank) dann seinen Lauf TV-Rückblick bis zum bitteren Ende. lin. „Zehn Tage Festivalglanz“, so das sensationelle Resümee der Autorinnen, Der Mann, der alle kannte Der Kino-Saurier „verlangen elf Monate harte Arbeit.“ Da ist einem Kosslicks selbstironisches Ei- Montag, 22.30 Uhr, RBB 9. Februar, RBB genlob schon lieber: „Wir schaffen auch Donnerstag, 23.15 Uhr, SWR Dieter Kosslick, 56, ist zurzeit allgegen- noch, dass in Berlin Palmen wachsen.“ Mit Hofmannsthal dichtete er den wärtig: Der Berlinale-Chef dürfte inzwi- „Rosenkavalier“, für Nijinsky entwarf schen bekannter sein als manche der er ein Ballett, mit Rathenau diskutier- Stars, die er in Berlin über den roten te er über den Völkerbund, und Ein- Teppich schickt. Entsprechend ehr- stein traf er im Coupé: Harry Graf fürchtig fiel denn auch das halbstündige Kessler (1868 bis 1937), Kultur-Gentle- TV-Porträt von Ilona Kalmbach und man und Mäzen großen Stils, eilte ein Sabine Jainski aus: kein kritisches Wort, Leben lang durch Europa, stets auf etwa zur Filmauswahl des diesjährigen der Suche nach wahrer Schönheit – Festivals; nur wenig Hintergründiges und hielt, was ihm auffiel, in seinem über Etats und Sponsoren. Stattdessen allumfassenden Tagebuch fest. Sabine sah man viele lange Büroflure, Kosslick Carbon hat die besten Kessler-Kenner beim entspannten Plausch in Cannes

interviewt, sie zeigt Schauplätze und oder beim Filmesichten in Berlin, auf / DPA ALTWEIN ANDREAS dem Schoß den einjährigen Sohn Frido- Kosslick

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HOCHZEITEN Warten lohnt sich wieder Die geplante Hochzeit von Prinz Charles und seiner Dauergeliebten Camilla hat die britischen Medien überrascht. Noch rätseln die Hofberichterstatter, ob sie das Ereignis feiern – oder lieber ignorieren sollen. Von Matthias Matussek

omöglich hatte sich Prinz Charles Breaking news: Der Prince of Wales schnell verlodernder Flitterkram wie beim ja gedacht, er könne seine Hoch- kriegt seine Camilla! Ob das gut geht? Die letzten Mal. Wzeitspläne einfach so an der kennen sich doch gerade erst 35 Jahre, und Sicher, ein Ersatz für Diana wird sie Öffentlichkeit vorbeinuscheln, im Wind- jetzt soll alles hopp, hopp gehen und schon nicht werden im Volke, und als Königin schatten dieser Hühnergeschichte, die die am 8. April die Ringe getauscht?! wird man sie nie anreden, und die Souve- Gemüter im Commonwealth erregte wie Es gibt nur eine einzige Medienstrategie nir-Branche hat zunächst mal Mühe zu ta- nichts sonst an jenem Morgen. bei solchen Events, und zwar die, dass je- xieren, wie hoch der Bedarf an Goldrand- Die BBC brachte die Story am vergan- der seinen Senf abgibt. Jeder wird gerade Tellern mit Camilla-Aufdruck ist. Madame genen Donnerstag in den Neun-Uhr-Nach- bedrängt um seinen Senf. Tussaud setzt erst mal weiter auf Lady Di. richten: Irgendeiner hatte tiefgefrorene Wie immer am schönsten dieser will- Das Lächeln der TV-Experten fürs Ge- Hühnchen auf Häuser im australischen kürlich herausgegriffene Rentner in der fühl wirkt durchaus unentschieden an die- Newcastle abgefeuert und erheblich be- Fußgängerzone, der so ganz spontan sa- sem Tag. Man stochert nach der geeigneten schädigt. Vom Flugzeug aus, meinten die ei- gen soll, ob er das gut findet, die Tüte aus Erzählspur. Immerhin handelt es sich bei REX FEATURES (L.); ADAM BUTLER / AP (R:) BUTLER (L.); ADAM REX FEATURES Prinzessin Diana*, Titelseiten der Boulevard-Blätter (am vergangenen Freitag): Madame Tussaud setzt weiter auf Lady Di nen, mit einem Riesenkatapult, meinten dem Baumarkt in der Hand, im Regen, mit den beiden Turteltauben um Leute kurz die anderen. Oder aus dem All? Auf jeden Käppi, und der dann mit sich ringt vor vor der Pensionsgrenze. Die brauchen die Fall fehlte von den Tätern noch immer jede der Kamera und schließlich sagt: „Meinet- Brille beim Lesen, und auch das Gedächt- Spur, aber die Hühnchen, so ein Polizei- wegen, sollen sie glücklich werden.“ Puh, nis spielt seine Streiche, da hält sich das sprecher, sähen ziemlich „zermanscht“ aus. Charles, noch mal Glück gehabt. Schwärmen in Grenzen. Die Branche titelte sich – „It’s raining Immer wieder hübsch auch die Markt- Die glühenden Berichte vom ersten Kuss, hen“ – zu beträchtlicher Form hoch. Bis um frau, die nachsichtig schmunzelt: „War vom ersten Händchenhalten, die ja durch- 9.10 Uhr. Dann war nichts mehr, wie es war. doch letztlich unvermeidlich, das hat sich aus gutmütig versucht werden von den Ex- Vergessen die Hühnchen, vergessen doch angebahnt.“ Die verfolgt die Sache perten, kommen nicht sehr überzeugend übrigens auch Nordkoreas Drohung mit nämlich schon eine ganze Weile. rüber, eben weil das alles so weit zurück- der Atombombe. BBC und die Insel pro- Alle im Lande sind sich zunächst mit liegt wie die normannische Invasion. duzieren jenen royalistischen Fieberanfall, den Experten im Studio einig: Diesmal Allmählich aber schält sich heraus: Das der sich immer dann einstellt, wenn „Wind- geht es gut. Beide interessieren sich für ist die Story! Liebe als Ausdauertest, als sor“ und „Hochzeit“ in einem Satz vor- Oper, beide lieben den langen Blick Härteprüfung, Camilla und Peppone im kommen. übers schottische Moor, beide mögen Rumpelmarathon! Füchse lieber tot als lebendig. Das ist Vergiss die Märchenhochzeit, die war * Nach einem Ballettbesuch im August 1996. solide, das hat Griff, das ist nicht so ’n beim letzten Mal, und sie war eine Lüge.

174 der spiegel 7/2005 REUTERS Offizielles Verlobungsbild von Charles und Camilla: „Zwei langweilige Alte heiraten, na und?“

Jetzt muss es die Wahrheit tun, und die hat Er lernte Polo, lernte, über Hundezucht Man hat seinen Frieden mit ihm ge- nun mal Runzeln. Die beiden sind die zu reden, ohne die Oberlippe zu bewegen. macht. Diesmal hat er sich durchgesetzt, Liebesgeschichte der Methusalem-Gesell- Doch daneben ist er ein beachtenswert un- gegen Mama und die Regierung und die schaft, und die ist nicht ohne Größe – kann abhängiger Kopf, der sozial aktivste Ro- Meinungsumfragen. Und wer Camilla Par- es eine schönere Apotheose der ewigen Ge- yal. Er spricht mit Pennern unter Londoner ker Bowles kennt, der berichtet von einer liebten geben? Warten lohnt sich wieder! Brücken, mit schwarzen Ghettokids, mit warmherzigen, witzigen, geistig ebenso un- Zunächst mal hat Charles auf sympa- Arbeitslosen in den Suburbs, und er gibt abhängigen Person. thisch disfunktionale Weise alles falsch ge- ihnen Stimme und echte Hilfe. Das war Sollen sie es hinter sich bringen, sagt die macht. Seine spektakuläre erste Ehe war so schon in Thatchers England so, und so ist Bevölkerung. Mehr Enthusiasmus ist nicht kurzlebig wie eine Affäre, und seine Affä- es immer noch. drin. Sollen sie, sagt auch Prinz Harry, der re so langlebig wie eine Ehe. Aber sind Lady Di eine Provokation fürs Königs- überhaupt nicht nachtragend ist. Kürzlich Zerstreutheiten dieser Art nicht logisch, haus? Aber die wollte doch nur Sisi sein! noch war er wegen dieses Hakenkreuz- wenn man vom Daddy vor versammelter Dieser verquere, traurige Prinz dagegen scherzchens von Daddy kräftig auf den, Mannschaft ständig wegen der Pubertäts- mit seinem grünen Architekturfimmel, den sorry, Thron gesetzt worden. Jetzt gibt er pickel verhöhnt wurde und von den übri- selbstkreierten Ökoshampoos und den ihm seinen Segen. gen, weil man Cello spielte und Da-Vinci- Zwiegesprächen mit dem Gemüse in sei- Gemeinsam mit Prinz William lässt er Zeichnungen und Shakespeare mochte? nem Garten, das ist der Aufstand in Person. verlauten, er sei „entzückt“. Der Prinzen-

der spiegel 7/2005 175 Medien

Spezialist unter den Buckingham-Spezialis- Wahlkampfstrategie der Regierung ver- ten im BBC-Studio, die diese doch eigent- muten. lich abgestandene Suppe endlos zu ver- Allerdings, so enorm wird der Feel- längern suchen, interpretiert: „Wenn ihr good-Faktor dieser Hochzeit für die im Mai Vater glücklich ist, sind sie auch glücklich.“ erwartete Wahl nicht sein. Die beiden sind Ach soooo! Die anderen in der Runde nicht das Material, aus dem hysterische nicken ernst. Massenspektakel gemacht sind. Natürlich hat die Kirche von England Diesmal werden die Durchschnittsehe- auch diesmal ihre biegsame Rolle gespielt. männer der Welt nicht gedemütigt durch Seit Heinrich VIII. (1491 bis 1547) muss sie kostspieligen Prinzessinnen-Schmarren tun, was der Monarch will. Der trennte und teure Prozessionen und Glockengeläut sich bekanntermaßen von der katholischen in St. Paul’s Cathedral. Die beiden Senio- Kirche, weil die ihm die Wieder- heirat verbot, und er machte sei- nen eigenen Laden auf, der seither Schwierigkeiten hat, ernst genom- men zu werden im atheistischsten aller europäischen Länder. Es ist aber auch ein Gewese mit diesen königlichen Ehen auf der Insel. Georg IV. (1762 bis 1830) hei- ratete heimlich eine Katholische, was streng verboten war. Zur Strafe musste er danach Caroline von Braunschweig ehelichen, die, Gemälden zufolge, als historischer Gegenentwurf zu einer Königin der Herzen gelten kann. Während Georgs Krönung rüt- telte sie an der Kirchenpforte und rief: „Ich will hier rein“ – man hat- te ihr, perfides Albion, mit konsti- tutionellen Winkelzügen den Titel einer Königin vorenthalten. Bei Eduard VIII. kam es erst gar nicht dazu. Er dankte ab, weil er die geschiedene Amerikanerin Wallis Simpson liebte. Diese Se- cret-Service-Gerüchten zufolge einst Edelkurtisane in einem Hong- konger Bordell hätte durchaus das Zeug zur Volkskönigin gehabt. Die öffentliche Meinung mochte die

beiden. Doch damals legte sich das PRESS / ACTION REX FEATURES konservative politische Establish- Königin Elizabeth II., Prinz Philip: Diesmal geht es gut ment um Churchill quer. Jetzt dagegen scheint alles hingebogen. ren heiraten auf Windsor, in der Totenka- Die Staatskirche hatte mit einer flinken pelle von Queen Mum erhalten sie den Statutenänderung vor zwei Jahren die Wie- kirchlichen Segen. Im kleinsten Kreis, ein derheirat von Geschiedenen erlaubt und paar Gebete, vielleicht ein Choral, siehst damit die größten Hindernisse beseitigt. du wohl, geht doch auch! Und selbst wenn Charles regierte, würde Dazu passt, dass bereits am Tage nach Camilla nicht den Königinnen-Titel tragen, der angekündigten Vermählung den Pos- das ist alles längst ganz oben ausgekaspert tillen auf der Insel die Luft ausging. Sie worden. produzierten endlose Specials, auf der ei- Und Tony Blair? Das letzte Mal, dass er nen Seite. Auf der anderen aber hatten sich zur Königsfrage äußerte, war nach sie bereits die Geduld mit ihren eigenen Lady Dis Tod. Da hatte ihm sein Boule- Schlagzeilen verloren. „Zwei langweilige vard-Terrier und Spin-Doctor Alastair Alte heiraten, na und?“, titelte der „Daily Campbell die antiroyalistisch-vulgärdum- Star“ unter seiner obligatorischen Halb- me Parole von der „Königin der Herzen“ nackten. zugespielt, die der junge Premier hin und Der republikanische „Independent“ her geknetet hatte, mit zitternder Stimme, schaffte eine völlig hochzeitsfreie Titelsei- Ewigkeiten lang. te. Unter der Überschrift „Was Sie alles Jetzt tat es ein wohlwollend-verschmitz- verpasst haben könnten“ präsentierte er ter Zweizeiler. „Und auch vom Kabinett der Insel die wirklich wichtigen Nachrich- die besten Wünsche“. Und die Tories ten der letzten 24 Stunden. protestierten schon mal prophylaktisch Also, wie war das jetzt mit den Hühn- gegen die Terminplanung, hinter der sie chen … ™

176 der spiegel 7/2005 Brandreth: Weil es ein märchen- hafter Stoff ist. Diese Leute ha- ben, was selbst Marilyn Monroe und David Beckham fehlt: Sie haben das Märchenhafte, das Ma- gische. Um das zu erhalten, braucht es allerdings Distanz, und davon verstehen Elizabeth und Philip etwas: Sie geben nicht all- zu viel preis von sich – im Ge- gensatz zu anderen Mitgliedern der Royal Family. SPIEGEL: Die Lektüre Ihres Buchs erweckt den Eindruck, dass Sie Philip eindeutig interessanter fin- den als die Queen … Brandreth: … ja, weil er – anders als die Queen – von den Medien völlig falsch eingeschätzt wird. Er ist überhaupt nicht der missmuti- ge alte Mann, als der er immer dargestellt wird. Ich kenne ihn seit Jahrzehnten durch gemein-

TOPHAM PICTUREPOINT TOPHAM same Wohltätigkeitsarbeit, und Ehepaar Philip, Elizabeth (Hochzeitsreise 1947): „Sie personifizieren die britische Seele“ ich habe ihn als im besten Sinne normal, witzig und engagiert ken- nen gelernt. Er will, wenn er irgendwo er- BIOGRAFIEN scheint, gleich die Atmosphäre auflockern. Die Queen tut nichts Derartiges. Aber sie tut alles, um Fehler zu vermeiden. Sie „Ein märchenhafter Stoff“ könnte hier mit uns zusammen sitzen und eine halbe Stunde gar nichts sagen. Der britische Autor Gyles Brandreth über SPIEGEL: Dann wäre ein Porträt von Philip allein wohl die bessere Idee gewesen. sein Buch „Philip und Elizabeth“, Glanz und Elend der Royals Brandreth: Das hatte ich ursprünglich auch und das Geheimnis einer guten Ehe vor – aber hätte es funktioniert? Prinz Phi- lip gehört zu den wenigen Männern auf Brandreth, 56, war fünf Jahre lektuell. Sie liest keine Bücher, der Welt, deren Dasein total durch das Abgeordneter der Konservati- und sie ist eher scheu. Leben ihrer Frau bestimmt wird. Also muss- ven im Londoner Parlament, SPIEGEL: Gegensätze ziehen sich te ich ein Doppelporträt schreiben. Mitglied in John Majors Regie- hier also an. SPIEGEL: Hat der Mann, der immer ein paar rung, trat in einer eigenen Büh- Brandreth: Ja. Trotzdem gilt, was Schritte hinter seiner Frau laufen muss, nenshow im Westend auf und der französische Autor Antoine denn noch Geheimnisse? arbeitet nun als Journalist für de Saint-Exupéry gesagt hat: Brandreth: Viele. Selbst die Briten wissen den „Sunday Telegraph“. Er Liebe bedeutet nicht, einander nichts über Philips Hintergrund und über

lebt in London. SALTER MARTIN anzusehen, sondern in dieselbe sein Leben vor 1947, bevor er Prinzessin Richtung zu schauen. Elizabeth heiratete und sein Schwieger- SPIEGEL: Mr. Brandreth, Sie haben ein 500- SPIEGEL: Was wäre denn die Richtung für vater ihn zum Herzog von Edinburgh Seiten-Buch über eines der berühmtesten die beiden? machte. Bis dahin nannte er sich Philip of Ehepaare der Welt geschrieben; Sie haben Brandreth: Sie haben dieselben Werte, das- , aber ich kann Ihnen versichern: Er die beiden dafür oft getroffen und beob- selbe Ziel: die Monarchie gut zu reprä- mag Griechenland nicht, er hat deutsche, achtet. Warum kommen die Queen und sentieren. Sie kommen aus derselben russische und dänische Vorfahren und ist Prinz Philip nach fast 60 Jahren immer Klasse, sind beide königlicher Abstam- deshalb dem Blut nach kaum Grieche. Ich noch leidlich miteinander aus? mung. Und verwandt sind sie auch – beide wusste zum Beispiel nicht, dass sein Groß- Brandreth: Ich habe durch die Arbeit an der sind Ururenkel von Königin Victoria. Sie vater, König Georg I. von Griechenland, Doppelbiografie „Philip und Elizabeth“ interessieren sich nicht besonders für 1913 ermordet wurde, auch nicht, dass sei- etwas gelernt, das ich – seit 30 Jahren ver- sich selbst, und sie haben beide Leiden- ne gesamte Familie seit den zwanziger Jah- heiratet – nicht wusste: Was meine Ehe gut schaften. ren im Exil lebte. Mir war auch neu, dass macht, ist für andere Ehen nicht automa- SPIEGEL: Die Queen, so scheint es, ist mit Philip, seitdem er zehn war, allein, ohne tisch auch gut. Die beiden Royals führen Vierbeinern am glücklichsten. seine Eltern gelebt hat, dass er eine wirk- ganz ohne Frage eine gute Ehe, sie sind Brandreth: Stimmt. Der Vorteil von Pferden lich traumatische Kindheit hatte. sicher gute Freunde – obwohl sie sehr und Hunden ist nun mal, dass sie total loyal SPIEGEL: Klingt nach ziemlich gestörten unterschiedlich sind*. Er ist extrovertiert, sind und nicht mit der Presse reden. Familienverhältnissen. artikuliert sich sehr klar, ist intellektuell. SPIEGEL: Wir sehen also zwei sympathische Brandreth: Ja, aber wissen Sie: Philip selbst Die Queen ist intelligent, aber nicht intel- ältere Herrschaften, die unerschütterlich würde diesen Ausdruck ablehnen. Er kann ihre Pflicht tun, weil es ihnen nicht ver- ganz nüchtern erzählen, dass er seine Eltern * Gyles Brandreth: „Philip und Elizabeth“. Aus dem Eng- gönnt ist, in Rente zu gehen. Aber warum in der Kindheit jahrelang nicht gesehen hat. lischen von Bernhard Jendricke, Gerlinde Schermer-Rau- wolf, Rita Seuß, Robert Weiß. Deutsche Verlags-Anstalt, wirken die beiden rüstigen Senioren immer Dass er keine Postkarte bekam, keinen München; 568 Seiten; 24,90 Euro. noch so anziehend auf die Massen? Weihnachtsgruß, dass seine Eltern geschie-

der spiegel 7/2005 177 den waren, dass sein Vater – für ihn nicht in Frage, dass er Prinz Andreas von Griechen- den abbrach, um zur Beerdi- land – ein Schwerenöter war gung zu fahren – obwohl er die- und im Süden Frankreichs leb- se Schwester wirklich sehr ge- te. Und dass seine Mutter, die liebt hat. geborene Prinzessin Alice von SPIEGEL: Sie urteilen sehr milde Battenberg, zeitweise als geistig und glauben offenbar gern, was gestört galt und in einer Klinik Philip Ihnen erzählt hat – viel- betreut wurde. Philip hatte 17 leicht, weil das die Kontakte Jahre lang, bis zur Heirat, kei- zum Buckingham Palace festigt? ne feste Adresse. Er lebte bei Brandreth: Sie irren sich. Un- Verwandten und im Internat – mittelbar nach Erscheinen hatte in zum Beispiel. Später ich Zweifel, ob Philip noch mit war die Navy sein Zuhause. mir spricht. Doch ich wollte zei- Doch er beklagt sich über all gen, dass man Leute nur aus ih- das nicht. Philip ist wirklich aus rer Zeit heraus beurteilen kann. hartem Holz. Viele junge Leute sehen die SPIEGEL: Aber er lässt doch Kri- Royals heute mit falschen Maß- tik an seinen eigenen Kindern stäben – etwa, dass sie sich in durchblicken? den fünfziger Jahren als Eltern Brandreth: Ja, weil er selbst viel so hätten benehmen sollen, wie Härteres überstanden hat. Ich Eltern das heute tun. fragte ihn einmal, warum er SPIEGEL: Spricht Philip noch und sein Erstgeborener dau- mit Ihnen?

ernd solche Spannungen ha- PRESS / ACTION ACTION ALL Brandreth: Nicht über das Buch. ben. Und er sagte, das liege Ausritt der königlichen Familie*: „Pferde reden nicht mit der Presse“ Sein Büro hat mir eine kleine wohl daran, dass Charles ein Fehlerliste zugesandt – von ihm Romantiker sei und er, Philip, ein Prag- Sie wurde von Psychiater zu Psychiater ge- selbst kam kein Wort. Über anderes spricht matiker. Und Romantiker glaubten, so Phi- reicht. Selbst Sigmund Freud hat sich mit er jedoch nach wie vor mit mir. lip, dass Pragmatiker nicht lieben können. dem Fall beschäftigt. Sie kleidete sich wie SPIEGEL: Sie selbst waren lange Politiker – SPIEGEL: Haben Philip und Elizabeth als eine Nonne, obwohl sie keinem offiziellen warum musste es gerade dieser Stoff sein? Eltern versagt? Orden angehörte. Am Ende ihres Lebens Brandreth: Weil es auch politischer Stoff ist. Brandreth: Philip beteuert, dass das nicht residierte sie im Buckingham Palace, an- Es geht um die Monarchie, um das Selbst- stimmt. Sie haben, sagt er, immer ihr Bes- gezogen wie eine Ordensschwester, und verständnis meines Landes! tes gegeben. rauchte überall ihre Zigaretten. Philip kom- SPIEGEL: Was bleibt von diesem Paar? SPIEGEL: Was immer das gewesen sein mag. mentiert das heute ganz cool: Es sei doch Brandreth: Elizabeth hat, obwohl sie so lan- Vielleicht hatten er und die Queen selbst sehr praktisch gewesen, keinen Aufwand ge auf dem Thron sitzt, kein neues Elisa- keine idealen Rollenvorbilder? für Kleidung und Frisur treiben zu müssen. bethanisches Zeitalter geprägt, zugegeben. Brandreth: Die Queen schon, ihre Eltern SPIEGEL: Verhalten sich Royals manchmal Aber sie hat auch kaum einen Fehler ge- waren sehr liebevoll und warmherzig. Bei auch recht normal? macht. Man sollte nicht vergessen, dass es, Philip sieht es anders aus. Seine Mutter Brandreth: Fast immer. Aber niemand sonst als sie jung war, einen unglaublichen Kult war wirklich eine erstaunliche Frau, mit in ihrer Gegenwart verhält sich normal. Ich um sie gab, ähnlich dem Hype um Prin- schizophrenen Zügen. Sie hörte Stimmen war bei einigen offiziellen Terminen da- zessin Diana. Philip sagte mir mal: „Wenn und dachte, sie hätte die Gabe zu heilen. bei: Die Leute kichern, kneten ihre Hände, wir damals rausgingen, konnte es sein, dass sind völlig überdreht – und eigentlich er- Millionen Leute in den Straßen uns zu- leichtert, wenn die beiden wieder weg sind. winkten. Wenn wir diesen Jubel, diese An- Deswegen kann die Queen froh sein, dass betung auf uns persönlich bezogen hätten, es einen Menschen auf der Welt gibt, der wäre es selbstzerstörerisch geworden.“ Erst sie normal behandelt. Und sie wiederum ist Diana hat diesen Fehler gemacht. die einzige Person auf der Welt, die zu ihm SPIEGEL: War sie eine Fehlbesetzung? sagen kann: „O Philip, halt die Klappe.“ Brandreth: Nein, das nicht – ein Star. Als ich SPIEGEL: Immer wieder gibt es Gerüchte sie kennen lernte, war sie schon berühmt, über Philips Untreue. Sie haben furchtlos sehr glamourös, das bedeutete ihr auch viel. recherchiert … Die Queen und der Herzog sehen sich nicht Brandreth: … ich habe mit einigen der Da- als Berühmtheiten; ihr Image interessiert sie men, die da immer genannt werden, ge- nicht. Irgendwie personifizieren sie so die sprochen. Das Ergebnis: Sie hatten tiefge- britische Seele – wie Bitterorangenmarme- hende Freundschaften zu Philip – aber er lade zum Frühstück, nur substantieller. hat die Queen nicht betrogen. Das wäre SPIEGEL: Skeptischere Töne sind Ihnen wohl sicher herausgekommen. Er ist seiner Kö- nicht zu entlocken? nigin gegenüber loyal, er hat es ihr bei der Brandreth: Nein, wirklich nicht. Diese bei- Krönung geschworen. Menschen wie Philip den Leute um die 80 haben eine uralte Insti- nehmen solch einen Eid ernst. Erst kommt tution in die Gegenwart transportiert und die Pflicht und nur die Pflicht. Ein Beispiel: dafür gesorgt, dass sie überlebt. Wer kann Als eine seiner Schwestern starb, war er un- schon von sich behaupten, ein Unterneh- terwegs, bei einem Staatsbesuch. Es kam men 50 Jahre lang geführt zu haben und

ILN / CAMERA PRESS / LONDON / CAMERA ILN immer noch on the top zu sein – gemocht Interview: Susanne Beyer, Internatsschüler Philip in Salem (1933) * Queen Elizabeth II. (M.), Enkelin Zara Phillips, Tochter und respektiert? Joachim Kronsbein Traumatische Kindheit Anne.

178 der spiegel 7/2005 Prisma Wissenschaft · Technik

MEDIKAMENTE Löst auch Vioxx-Nachfolger Herzinfarkte aus? ach dem Skandal um das Schmerz- und NArthrosemittel Vioxx versucht der Phar- makonzern MSD, deutschen Patienten ein neues Präparat mit dem Namen Arcoxia (Werbeslogan: „Stärke, die bewegt“) als Al- ternative zu verkaufen. Das Mittel gehört ebenso wie Vioxx zur umstrittenen Wirk- stoffgruppe der Cox-2-Hemmer und ist der- zeit in Europa, nicht aber in den USA zuge- lassen – und dabei könnte es auch bleiben. Denn in einer Studie für die amerikanische ERIC GRIGORIAN / POLARIS / STUDIO X ERIC GRIGORIAN / POLARIS STUDIO Arzneimittelaufsichtsbehörde FDA kommen / AP MONSIVAIS MARTINEZ PABLO die Autoren zum Schluss, der Arcoxia-Wirk- Amerikanische Teenager auf einer Party US-Präsident Bush stoff Etoricoxib schneide „im Vergleich zu anderen Wirkstoffen am schlechtesten ab“, PÄDAGOGIK wenn es um Nebenwirkungen wie Herzin- farkte geht. Etoricoxib biete außerdem höchstens eine „marginal“ bessere Magen- Keuschheitskurs weckt Darm-Verträglichkeit als andere Schmerzmit- tel. Die europäische Arzneimittelbehörde EMEA überprüft derweil die Zulassung aller Lust auf Sex Cox-2-Hemmer. Der zuständige Ausschuss trifft sich diese Woche in London – auch um ür den US-Präsidenten George W. Bush sind Erziehungsprogramme, mit die Genehmigung für Ar- Fdenen Teenager zur sexuellen Abstinenz vor der Ehe angehalten werden coxia noch einmal neu zu sollen, ein „sicherer Weg, Geschlechtskrankheiten zu verhindern“. In Wahr- diskutieren, teilte das heit aber scheinen diese mit jährlich 130 Millionen Dollar subventionierten Amt mit. „Man kann nur Kurse die Kids vor allem auf eines neugierig zu machen – auf Sex. Nach ei- hoffen, dass die Behörde ner neuen Untersuchung der Texas A&M University hatten 23 Prozent der die Zulassung zurück- 13- bis 14-jährigen Mädchen vor dem Abstinenzprogramm Sex; anschließend nimmt“, so Wolfgang waren es 29 Prozent. Bei den Jungs war der Trend noch eindeutiger: Waren Becker-Brüser vom phar- es vorher 24 Prozent, die schon mit einem Mädchen geschlafen hatten, wa- makritischen „arznei- ren es nach dem Keuschheitskurs 39 Prozent. „Es gibt keinerlei Beweis, dass telegramm“. MSD hinge- das viele Geld für die Programme einen Effekt hat“, kommentiert Studien- gen sieht in seinem Mittel leiter Buzz Pruitt, der ausgerechnet in Texas, Heimatstaat des streng religiösen

AGENTUR FOCUSAGENTUR eine „wertvolle therapeu- Bush, das Sexverhalten der Jugendlichen untersucht hat. Arthritische Hand tische Alternative“.

ATOMKRAFT Mini-Reaktor in der Wildnis islang ist das 700-Seelen-Dorf Galena, gelegen im BHerzen Alaskas, bekannt für die Jagd auf Grizzly- Bären, Elche und Wölfe. Nun schickt es sich an, als ers- te Gemeinde der Welt ein ungewöhnliches Atomkraft- werk neuer Art zu errichten. Der Hersteller, der japani- sche Toshiba-Konzern, verspricht den Einwohnern ei- nen wartungsarmen Mini-Reaktor mit einer Leistung von zehn Megawatt – hundertmal weniger als bei ei- nem konventionellen Atomkraftwerk. Slogan: Der Re- aktor mit den 4 S: „super-safe, small and simple“. Das angeblich super-sorglose Kraftwerk soll die Strompreise

in Galena drastisch senken, die bis jetzt dreimal so / ALASKASTOCK JEFF SCHULTZ hoch sind wie im Rest der USA. Das aufwendige Ge- Galena, Alaska nehmigungsverfahren sowie den Bau selbst will Toshiba finanzieren – der Konzern sieht das Klein-Kernkraftwerk als Natrium zum Einsatz kommen, das bei Kontakt mit Wasser Modellprojekt. 30 Jahre lang solle die Anlage laufen, ohne zu Bränden führt und auf keinen Fall austreten darf. Eine dass Brennstäbe ausgetauscht werden müssten, preist der Her- Gemeinde benachbarter Ureinwohner hat bereits Widerstand steller. Knifflig ist allerdings das Kühlmittel: Statt Wasser soll gegen das Vorhaben angekündigt.

der spiegel 7/2005 181 Prisma Wissenschaft · Technik

TIERE Bruder Affe ist manchmal schlauer unge Schimpansen stellen sich mit- verhielten sich Kleinkinder, mit Junter cleverer an als dreijährige Kin- denen Horner den Versuch wie- der. Das hat die britische Zoologin Vic- derholte. Die Menschenkinder toria Horner bei Versuchen auf Ngamba stocherten gutgläubig in der fal- Island im Victoriasee beobachtet. Die schen Öffnung der Box herum, Forscherin stellte den Affen eine prä- obwohl auch sie hätten sehen parierte Futterbox hin. Horner stocherte können, dass sie nur gefoppt wer- mit einem Stock zunächst durch eine den. „Die Schimpansen scheinen obere Öffnung darin herum, dann von sich bei diesem Versuch scharf- der Seite – wodurch die Nahrung zu sinniger zu verhalten“, kom- Tage gefördert wurde. Bei einer zweiten mentiert die Forscherin von der Primatengruppe hingegen war die Test- University of St. Andrews in box durchsichtig; diese Tiere konnten Schottland. Zur Ehrenrettung des deshalb erkennen, dass der Einsatz ei- Menschengeschlechts fällt der nes Stocks in der oberen Öffnung gar Forscherin ein: Kleinkinder seien nichts bewirkte. In diesem Fall durch- kulturell so geprägt, dass sie Er- schauten die Schimpansen den Trick und wachsenen zunächst einmal einen

verzichteten beim Nachahmen auf das vernünftigen Grund für ihr Han- HORNER VICTORIA Herumstochern von oben. Ganz anders deln unterstellen. Schimpanse beim Herumstochern in Futterbox

COMPUTER Wie sicher wird die Gesundheitskarte? in Rechnerverbund zum Austausch von Krankendaten, der Ebereits in mehreren hundert Arztpraxen und im Rahmen eines Brustkrebs-Projekts im Einsatz ist, soll „eklatante Si- cherheitslücken“ aufweisen. Zu diesem Ergebnis kommt der Karlsruher Informatiker Thomas Maus nach der Analyse des Ärztenetzes „D2D/PaDok“. Das Computersystem hat auch

PIRMIN RÖSLI gute Chancen, bei der bundesweiten Einführung der elektroni- Phobie-Versuch, Psychologe Heinrichs (M.) schen Gesundheitskarte Modell zu stehen. Dabei hält der Si- cherheitsexperte Maus in einem Gutachten fest: „Sowohl Ver- PSYCHOLOGIE traulichkeit, Integrität, authentische Urheber- Spray gegen Sozialphobie schaft wie auch Verfüg- barkeit der Patienten- ähmende Angst, sich beim Bewerbungsgespräch oder auf ei- daten sind gefährdet.“ Lner Konferenz zu blamieren, gilt als dritthäufigste psychische Ihm sei es gelungen, die Störung. Gegen soziale Phobie, deren Symptome Schweißaus- Kommunikation inner- brüche und Herzrasen sind, hilft das körpereigene Sexualhor- halb des Systems bis hin mon Oxytocin. Zu diesem Ergebnis kommt das Team um den zur Schnittstelle für den Psychologen Markus Heinrichs von der Universität Zürich. Um Kartenleser anzuzapfen. die Wirkung des Hormons zu testen, wurden 60 Männer mit so- Hackerangriffe gegen zialer Phobie und eine gesunde Kontrollgruppe im Keller des „D2D“ seien „von halb- Instituts in eine ungemütliche Situation gebracht: Von einer Vi- wegs talentierten Hob- deokamera überwacht, mussten sie sich zwei Gutachtern vor- byisten durchführbar“. stellen und unter Zeitdruck eine Rechenaufgabe lösen. Jene Pa- Ein Angreifer könnte im Prototyp der Gesundheitskarte tienten, denen eine Stunde zuvor ein Nasenspray mit Oxytocin Namen eines Arztes verabreicht worden war, gerieten beim Stresstest deutlich weni- Nachrichten signieren und Dokumente fälschen. Bertram ger in Panik. Auch bei den gesunden Männern verbesserten sich Bresser, Mitentwickler von „PaDok“ beim Fraunhofer-Institut die Stressreaktionen durch Oxytocin, das bei Frauen unter an- für Biomedizinische Technik (IBMT), weist die Vorwürfe derem Wehen auslöst. Die Angst einfach wegzusprühen, das zurück: Das „Schlechtachten“ gehe von einem „vollkommen gehe nicht, so Heinrichs: „Aber die Wirksamkeit einer Verhal- veralteten System“ aus; die Sicherheit sei inzwischen entschei- tenstherapie könnte so drastisch verbessert werden.“ dend verbessert worden.

182 der spiegel 7/2005 Wissenschaft RAINER WALDINGER RAINER Bypass-Operation an der Uniklinik Marburg: „Forschung fängt nicht mit Maschinen an, sondern mit der Idee im Kopf“

HOCHSCHULEN Zwangsheirat mit Risiko Die hessische Landesregierung will ausgerechnet die untereinander zerstrittenen Unikliniken Gießen und Marburg fusionieren und an einen privaten Konzern verkaufen. Gespannt verfolgen andere Klinikchefs den Ausgang des Experiments – viele Unikliniken stehen finanziell am Abgrund.

ein Dienstgebäude versprüht den Die beiden Fakultäten sollen dabei un- Bislang gibt es an ihnen nur einzelne pri- Charme der späten DDR. Die Farbe verändert bestehen bleiben und statt des vate Bereiche, etwa das Herzzentrum in Sist trostlos, es bröckelt der Putz. öffentlichen künftig das private Klinikum Leipzig. Wenn das hessische Großexperi- Drinnen jedoch strahlt der Dekan der für Forschung und Lehre nutzen. ment gelingt, könnte es tatsächlich Schule Medizinischen Fakultät der Universität Eine Privatisierung ganzer Unikliniken machen. Gießen große Zuversicht aus: „Ich glau- hat es in Deutschland nie zuvor gegeben. Denn seit Einführung des Fallpauschalen- be, wir wagen hier etwas ganz Besonde- Abrechnungssystems Anfang vergangenen res“, sagt Hans-Michael Piper mit Stolz in Jahres stehen alle Unikliniken finanziell der Stimme. „Wir sind ein Vorbild für ganz am Abgrund. Die neuen Vergütungen, die Deutschland.“ für alle Krankenhäuser gleichermaßen gel- Was den ansonsten eher nüchternen ten, nehmen auf die mitunter komplizier- Physiologen so euphorisch stimmt, ist eine ten Fälle der Spitzenkliniken wenig Rück- gewagte Entscheidung der hessischen Lan- sicht. Niemand weiß, wie eine Uniklinik desregierung: Bis Mitte 2005, so verkün- mit dem neuen System überhaupt noch dete Ministerpräsident Roland Koch kurz schwarze Zahlen schreiben soll. vor Weihnachten, werden die Universitäts- Gespannt schauen deshalb die öffent- kliniken Gießen und Marburg zu einem lich-rechtlichen Klinikvorstände aus ganz „Medizinzentrum Mittelhessen“ fusioniert Deutschland nach Hessen: Kann eine – um dieses dann Anfang 2006 auch noch zu privatisieren. Spätestens bis Jahresende Ministerpräsident Koch, will die Regierung entscheiden, welcher Staatssekretär Leonhard

Krankenhauskonzern den Zuschlag erhält. / DPA ERHARD BLATT Modell für ganz Deutschland?

184 der spiegel 7/2005 In Gießen wurde das letzte große Bau- vorhaben vor 25 Jahren begonnen und nur teilweise fertig gestellt. Die meisten der rund 70 Gebäude sind inzwischen um die hundert Jahre alt. Erst kürzlich mussten Operationssäle geschlossen werden – die Fliesen lösten sich schon vom Boden und von den Wänden. Etwa 8 Millionen Euro betrug das Defizit der Uniklinik im ver- gangenen Jahr. Mindestens 200 Millionen Euro, schätzt Piper, müssten schnellstens in einen Neubau investiert werden.

RAINER WALDINGER RAINER Doch das Land war nicht bereit, in die Uniklinikum Marburg: „Nein zur Privatisierung, wir werden uns wehren!“ marode Klinik frisches Geld zu stecken. „Wir müssten es sonst an anderer Stelle in unserem Haushalt einsparen“, sagt Joa- chim-Felix Leonhard, Staatssekretär im hessischen Wissenschaftsministerium. Als die Regierung in Wiesbaden dann auch noch begann, den Zusammenschluss mit Marburg vorzubereiten, brach in Gießen Panik aus. Weiter in öffentlicher Hand wäre der Standort gefährdet gewesen. „Wir standen vor der Alternative“, sagt Soßna: „Entweder wir gehen unter, oder wir su- chen uns einen neuen starken Partner.“ Die privaten Betreiber, mit denen schon mal vorsorglich verhandelt wurde, stellten sogleich einen Neubau in Aussicht; sogar die Umstellung auf die Fallpauschalen, so

UTE SCHMIDT / BILDFOLIO SCHMIDT UTE die Hoffnung, könnte mit ihrer Hilfe ge- Operationsgebäude der Uniklinik Gießen (l.): Marode Bausubstanz lingen. Inzwischen sind in Gießen außer dem Personalrat alle dafür, selbst der Uni- Fusion benachbarter Unikliniken, für die uns auch dafür, aktuelle Forschungsergeb- versitätspräsident und der Bürgermeister. auch andernorts Pläne in den Schubladen nisse schnell in die klinische Praxis umzu- Und es gelang, der Landesregierung den liegen, das Schlimmste abwenden? Oder setzen.“ Die Klinik Lich bei Gießen wie- Plan schmackhaft zu machen. bringt erst eine Privatisierung die Rettung? derum, die zur Asklepios Kliniken GmbH Die Marburger Klinik, die einer Fusion Sind Gießen und Marburg wirklich ein Mo- gehört, kooperiert schon jetzt eng mit mit dem schwächeren Partner Gießen dell für den Rest der Republik? dem Universitätsklinikum – für Haupt- zunächst gelassen entgegensah, wurde von Besonders heikel daran: Bei der Zwangs- geschäftsführer Tobias Kaltenbach ein den Privatisierungsplänen kalt erwischt. heirat stoßen zwei Welten aufeinander. „strategisch sinnvoller Schritt“. „Das hat hier wie eine Bombe eingeschla- Die Unikliniken liegen zwar nur etwa Und auch Eugen Münch, Vorstandsvor- gen“, sagt Wilfried Buckler, der Marburger 30 Kilometer voneinander entfernt, doch sitzender der Rhön-Klinikum AG, hat be- Personalratsvorsitzende. sie könnten unterschiedlicher kaum sein: reits recht konkrete Vorstellungen entwi- Überall im Klinikum hängen derzeit Pla- Auf der einen Seite die skandalumwit- ckelt, wie ein Medizinzentrum Mittelhes- kate: „Nein zur Privatisierung! Wir werden terte Uniklinik in Gießen mit maroder sen profitabel betrieben werden könnte. uns wehren!“ Die Marburger befürchten Bausubstanz und roten Zahlen – auf der Sein Rezept heißt „Portalklinikum“. vor allem Personalabbau und Gehalts- anderen Seite das moderne Klinikum Mar- Das Problem von Gießen und Marburg kürzungen. Die beiden Unikliniken sind burg, das schwarze Zahlen schreibt und bestehe darin, so Münch, dass dort zu vie- die größten Arbeitgeber der gesamten über einen modernen Gebäudekomplex le unterschiedlich schwere Fälle über den Region. Die Marburger Stadtverordneten- verfügt. gleichen, teuren Kamm geschert würden. versammlung sprach sich einstimmig ge- Immerhin sind die Fusionsverhandlun- Sinnvoller wäre es, die Patienten am „Por- gen die Privatisierungspläne aus. Auch eine gen darüber, welcher Standort sich in wel- tal“ – also dort, wo sie ins Klinikum hin- Bürgerinitiative hat sich gebildet. chem Fach worauf spezialisieren soll, nach einkämen – zu sortieren: in eine Klinik für Der Ärztliche Direktor Matthias Schrap- eineinhalb Jahren weitgehend abgeschlos- Basisfälle, in eine weitere für komplizierte pe jedoch gibt sich betont gelassen: „Wir sen. In der Urologie etwa soll in Marburg Fälle und in eine dritte für sehr kompli- als Klinikumsvorstand sind sehr zufrieden der Schwerpunkt Krebstherapie und in zierte Fälle. Jede der drei Kliniken wieder- mit der Entscheidung der Landesregie- Gießen der Schwerpunkt wiederherstel- um müsste über einen eigenen Personal- rung.“ Zwar sei eine Fusion auch unter öf- lende Operationen liegen. schlüssel verfügen und unterschiedlich fentlicher Trägerschaft möglich gewesen. Die privaten Klinikbetreiber sind auch aufwendig ausgestattet sein. Münch: „Wenn „Aber wenn Gießen allein privatisiert wor- keineswegs abgeneigt, sich die ungleichen Sie das durchrechnen, kommen Sie auf den wäre“, sagt Schrappe, „wäre das für Partner einzuverleiben. „Wir haben schon gigantische Sparpotentiale.“ Marburg wegen des ruinösen Wettbewerbs in unserem Geschäftsbericht 2001 veröf- Ursprünglich stammt die Idee mit der eine Katastrophe geworden.“ fentlicht, dass wir sehr an Universitäts- Privatisierung aus Gießen. Dekan Piper Wie gut der Zusammenschluss wirklich kliniken interessiert sind“, sagt etwa Uwe hat sie gemeinsam mit dem Kaufmänni- klappt, wird sich erst in der Praxis zeigen. Drechsel, Geschäftsführer der Helios Kli- schen Direktor Werner Soßna, dem Ärzt- So sind die Universitäten und sogar die niken GmbH. Sein Konzern wolle dadurch lichen Direktor Wolfgang Weidner und der Städte Gießen und Marburg traditionell seiner gesamten Klinikgruppe die besten Universitätsleitung entwickelt – aus purer zerstritten. Ein Patient aus Gießen, so hat Mitarbeiter sichern. „Und wir interessieren Not heraus. Weidner (der selbst aus Westfalen stammt)

der spiegel 7/2005 185 Wissenschaft beobachtet, würde eher ins entfernte Frank- Selbst Disziplinen, die nur wenig mit furt als nach Marburg zur Behandlung fah- dem normalen Klinikalltag zu tun haben, ren. „Das ist natürlich für einen Investor wie die Virologie, könnten leiden. Denn eine Hypothek“, sagt der Ärztliche Direktor. dieser Lehrstuhl, so Maisch, werde für ei- Ob die Privaten zudem den mühsam aus- nen qualifizierten Bewerber finanziell erst gehandelten Fusionskompromiss uneinge- dadurch attraktiv, dass er für das Klinikum schränkt übernehmen werden, wovon virologische Routineuntersuchungen durch- Staatssekretär Leonhard ausgeht, ist mehr führt. „Aber was wäre“, fragt Maisch, als fraglich. „Es darf keine Bestandssiche- „wenn ein privater Klinikbetreiber sagt: rung geben“, warnt bereits Rhön-Chef Diese Untersuchungen machen wir lieber Münch. billiger woanders. Dann würde der ganze Insbesondere die Zusammenarbeit Forschungsstandort Marburg leiden.“ zwischen einem völlig neu organisierten, Ohnehin dürfte die Privatliquidation, an

privaten Klinikum und den weiter in / BILDFOLIO SCHMIDT UTE der alle Klinikchefs gut verdienen, einer Landeshand verbleibenden Fakultäten Marburger Dekan Maisch der heikelsten Punkte bei den anstehen- könnte schwierig werden. „Die Kran- „Viele Reibungsflächen“ den Privatisierungsverhandlungen werden. kenversorgung, für die das Klinikum Und wie sollen künftig die Berufsverfahren zuständig ist, sowie die Forschung und Und wenn er eine neue, moderne Be- der staatlichen Medizinprofessoren laufen, Lehre, die weiter bei den Fakultäten handlungstechnik einführen wolle, so die ja zugleich die Chefs der privaten Klini- liegen, müssen miteinander verzahnt Münch, gehe er damit nicht in ein akade- ken sind? Zurzeit werden die Ordinarien werden“, sagt der Marburger Dekan Bern- misches Gremium, um diese durchzuset- ausschließlich von der Fakultät bestimmt – hard Maisch, der der Privatisierung zu- zen: „Ich hänge stattdessen lieber Würste und das soll nach dem Willen von Staats- rückhaltend gegenübersteht. „Deshalb auf und tätige die Investitionen dann sekretär Leonhard auch so bleiben. Doch wird es auf jeden Fall viele Reibungsflä- selbst.“ Auf diese Weise sei am Herzzen- ob es sich ein privater Betreiber wird bie- chen geben.“ trum Leipzig ein eigener Operationssaal ten lassen, dass akademische Gremien die Staatssekretär Leonhard fordert aus die- für minimal-invasive Roboter-Herzchirur- Chefärzte seiner Kliniken aussuchen, ist sem Grund eine klare Trennung der Be- gie entstanden. mehr als fraglich. Helios-Geschäftsführer reiche. Doch das im Einzelnen vertraglich Gerade letzteres Beispiel ist für Dekan Drechsel warnt bereits davor, an diesem auszuhandeln dürfte schwierig werden. Maisch jedoch eher abschreckend. Denn Punkt „vertraglich Zäune hochzuziehen“. Blieben die Ärzte etwa formell Angestell- die minimal-invasive Herzchirurgie ist zwar Doch nicht nur die Forschung, auch die te des Landes, müsste der Betreiber wie- bei Patienten höchst beliebt – doch bei vie- Lehre würde sich vermutlich – trotz for- derum dafür bezahlen, dass die Ärzte nicht len Herzchirurgen gilt sie wegen längerer meller Trennung von Klinik und Fakultät nur forschen und lehren, sondern auch in Operationszeiten und oft höherer Kompli- – tiefgreifend ändern. „Die Privatisierung der Krankenversorgung arbeiten. Aber kationsraten als medizinischer Irrweg. wird für uns nicht ohne Folgen bleiben“, festzustellen, welcher Arzt wo genau wie „Forschung“, sagt Maisch, „fängt eben ahnt Jessica Rüddel von der Fachschaft lange arbeitet, ist bei dem engen Zusam- nicht mit teuren Maschinen an, sondern Medizin in Marburg. menspiel der verschiedenen Bereiche prak- mit der Idee im Kopf.“ Helios-Geschäftsführer Drechsel kann tisch unmöglich. Auch bezweifelt der Marburger Dekan, sich denn auch vorstellen, dass die Stu- Auch beim Inhalt von Forschung und dass die vom Land finanzierten For- denten schon im Studium etwas über das Lehre sind Konflikte programmiert. Denn schungsbereiche von den Aktivitäten des Unternehmen erfahren. „Und was spricht die Konzerne wissen genau, was sie inter- privaten Klinikbetreibers unberührt blei- eigentlich dagegen“, fragt der Konzern- essiert und was nicht. „Reine Grundlagen- ben: „Wenn im Klinikum neue Schwer- lenker, „dass wir später sogar eine Fakul- forschung“, gibt Rhön-Chef Münch offen punkte gebildet werden, beeinflusst das tät samt Forschung und Lehre komplett zu, „interessiert uns nicht.“ automatisch die Forschung.“ übernehmen?“ Veronika Hackenbroch PAUL A. SOUDERS / CORBIS A. SOUDERS PAUL Königspinguine in der Antarktis: Die gleichgeschlechtliche Liebe gehört zum Verhaltensrepertoire

ge unserer Pinguin-Männer zu Paaren zu- TIERE sammenfinden“, sagt Kück. Der Import von vier Pinguin-Weibchen aus dem schwe- dischen Zoo in Kolmarden sei der erneu- Frackträger vom anderen Ufer te Versuch, das Brutgeschäft der Altein- gesessenen doch noch anzukurbeln. Kücks Sind sie schwul? Oder irregeleitet? Im Zoo von zentrale Frage: „Sind unsere Pinguine wirklich schwul, oder liegt es nur an man- Bremerhaven leben Pinguinmännchen als Pärchen und bebrüten gelnder Gelegenheit?“ sogar Steine. Nun sollen schwedische Weibchen sie verführen. Die herzerwärmende Geschichte um die Frackträger vom anderen Ufer begann be- o richtig gut scheinen die Schwedinnen Herrenrunden. Zoodirektorin Heike Kück reits vor vier Jahren. DNA-Analysen ent- bei der Bremerhavener Männerwelt höchstselbst outete ihre Humboldtpingui- hüllen damals, was Humboldtpinguinen Snoch nicht anzukommen. Extra aus ne, um auf das Nachzuchtproblem der äußerlich nicht anzusehen ist: Im Bremer- dem schwedischen Kolmarden sind die Pin- bedrohten Tierart aufmerksam zu machen. havener Pinguin-Pool herrschte krasser Da- guin-Damen per Lkw herangekarrt worden. „Wir wissen schon länger, dass sich eini- menmangel. Zwar balzten die Tiere jährlich Doch Charley, Links-Pfeil, Sechs-Punkt, neu, dass es für Besucher und Pfle- Schrägstrich und die anderen nach dem Mus- ger eine Freude war, erinnert sich ter ihres Brustgefieders benannten Kerle Kück. Zwölf der Humboldtpingui- haben trotzdem nur Augen für einander. ne jedoch entpuppten sich als „Die Männchen würdigen die Weib- Männchen, nur einer war weiblich. chen bislang keines Blickes“, sagt Janna Inzwischen hat sich die Quote Fautz, Biologin des Bremerhavener „Zoos durch fleißiges Brüten eines he- am Meer“. Schon seit knapp drei Wochen terosexuellen Paares und den Tod protokolliert die Forscherin minutiös, „wer zweier Tiere auf zehn zu vier ver- mit wem wann was macht“ im Humboldt- bessert. Immer wieder jedoch ver- pinguin-Gehege des Zoos direkt an der We- hageln die Männerpaare der Di- ser. Das bisherige Ergebnis der Studie ist rektorin den ersehnten Nach- ernüchternd: „Die Männer hätten ja jetzt wuchs: „Zwei Paare haben in den die Möglichkeit, tun es aber trotzdem nicht“, vergangenen Jahren sogar Steine sagt Fautz mit Blick auf den Schwedinnen- als Eierersatz bebrütet“, sagt Kück. Import. Stattdessen kuscheln sie einstwei- Die Biologin weiß: Sind die Vögel len lieber weiter untereinander. wirklich schwul, werden sie sich Bremerhaven hat eine neue Attraktion: auch von Schwedinnen nicht ver- Während bislang Fischbrötchen und Deich- führen lassen. bummel als touristische Höhepunkte der Denn tatsächlich sind homo- Hafenstadt an der Wesermündung gel- sexuelle Neigungen im Tierreich ten durften, sind seit kurzem Pinguine mit oftmals ähnlich stabil wie beim schwulem Gebaren fester Bestandteil des Menschen – und zudem gar nicht Lokalkolorits. Gleich drei der fünf Pinguin- selten. Der amerikanische Forscher Pärchen des örtlichen Zoos sind reine Bruce Bagemihl widerlegte schon

DAVID HECKER / DDP DAVID 1999 mit einem Standardwerk zum * Im Bremerhavener „Zoo am Meer“. Schweden-Weibchen, Männchen*: Weiter kuscheln Thema all jene, die Homosexua-

der spiegel 7/2005 187 Wissenschaft lität immer noch für un- nur irregeleitet als Folge von natürlich halten. Mehr als Weibermangel? Zoodirekto- 450 Tierarten dokumentier- rin Heike Kück ist sich noch te Bagemihl, bei denen es unsicher. Ob beim Balzen, die Individuen auch mal beim „Stöckchen schlep- bunt gewürfelt treiben: Von pen“ für den Nestbau oder lesbischen Warzenschwei- beim Verteidigen ihrer Brut- nen ist da die Rede, von höhle: Immer deute das Ver- schwulen Emus und von halten der Tiere auf echte Amazonas-Delfinen, die ih- Männerliebe hin. ren Penis ins Blasloch der „Die putzen sich sogar ge- Kumpanen stecken. genseitig das Gefieder“, sagt Und auch bei Pinguinen Kück. Und auch beim Pin- gehört die gleichgeschlecht- guin-Sex, bei dem norma- liche Liebe zum Verhaltens- lerweise das Männchen das repertoire. Bagemihl etwa Weibchen besteige, herrsche weiß von lesbischen Esels- homoerotisches Durchein- pinguinen zu berichten, die ander: „Mal ist der eine Pin- sich zunächst mit Steinchen guin oben, mal der andere.“ oder Grasbüscheln für den Andererseits will Kück Nestbau beschenkten, nur auch die Hoffnung auf – be- um schließlich gemeinsam – vorzugt weiblichen – Pin- vergebene Liebesmüh – ein guin-Nachwuchs nicht auf- unbefruchtetes Ei zu bebrü- Balzende Pinguine*: „Mal ist der eine oben, mal der andere“ geben. Die Nachzucht der ten. Im Zoo von Edinburgh auf der Roten Liste der be- waren es die Königspinguine Eric und re Männchen mit einem Weibchen trieben. drohten Tierarten geführten Humboldt- Dora, die ihre Pfleger lange mit leiden- Schwule oder lesbische Pinguine jedoch hat pinguine, die an den Küsten Chiles und schaftlicher Hingabe erfreuten. Am Ende Wilson trotz jahrelanger Forschung in frei- Perus zu Hause sind, ist ihr eine Herzens- legte indes nicht Dora, sondern Eric ein er Wildbahn noch nicht beobachtet. angelegenheit. Noch hofft sie daher auf (unbefruchtet gebliebenes) Ei. Erica wurde Und selbst bei Zootieren meldet der For- die Wirkung der schwedischen Frauen- sie fortan gerufen. Das Lesbenglück blieb scher Bedenken an. „Ich glaube, die sind truppe. ungebrochen. gar nicht schwul oder lesbisch, sondern spu- Für die diesjährige Brutsaison seien die Die schwulen Kehlstreifpinguine Roy len einfach ihr Verhaltensrepertoire ab“, vier Weibchen aus Skandinavien zwar und Silo wiederum sind im Central Park sagt Wilson. Allein mangels geeigneter Part- wohl zu spät in Bremerhaven eingetrof- Zoo in Manhattan Legende. Von „ekstati- ner richte sich das Balzverhalten im Zoo auf fen, fürchtet Kück. Die Paarbildung im ört- schem“ Balzverhalten und homosexuellem Vertreter des eigenen Geschlechts. lichen Herrenclub sei bei ihrer Ankunft Pinguin-Sex bereits im siebten Jahr in Fol- „Es kann durchaus sein, dass beide Part- bereits abgeschlossen gewesen. Für die ge ist die Rede. Selbst ein befruchtetes Ei ner denken, sie wären das Männchen und kommende Brutsaison jedoch sieht sie haben die Pfleger den beiden schon unter- durchaus Chancen, einige der Männer um- gejubelt. Silo und Roy bebrüteten es für 34 zudrehen. Tage. Dann kam Tango zur Welt. Die bei- „Einer der vermeintlich schwulen Pin- den seien vorbildliche Eltern gewesen, be- guine hat sich bereits in dieser Saison ent- richtet Tierpfleger Rob Gramzay. schieden, wieder mit einem Weibchen zu Doch so schön der New Yorker Fall auch brüten“, berichtet Kück. Zick-Zack heißt ist: Ebenso deutlich dokumentiert er das der neue Liebhaber von Pinguin-Weibchen Problem der Forschung am homosexuel- Tapsi. Früher war er innig mit dem Männ- len Pinguin. Denn in den meisten Fäl- chen Links-Pfeil verbandelt. len wird die Bruthöhle nur bei Zootieren Links-Pfeil wiederum hält noch nichts zum Darkroom. Zwar sind einige Pin- von der holden Weiblichkeit und macht guine auch schon in freier Wildbahn beim jetzt Charley glücklich. Aneinander geku- gleichgeschlechtlichen Sex erwischt wor- schelt sitzen die beiden Vögel in einer der den. Forscher um den neuseeländischen künstlich angelegten Bruthöhlen des Bre-

Zoologen Lloyd Davis etwa pirschten BEN BEHNKE FOTOS: merhavener Pinguin-Geheges und lassen sich auf Ross Island in der Antarktis so nah Biologin Fautz, Zoodirektorin Kück* sich die frische Seeluft um den Schnabel an ein Paar männlicher Adeliepinguine „In der Natur ist alles Kraut und Rüben“ wehen. heran, dass sie sogar den Samenerguss „Es kommt halt, wie es kommt“, sagt des einen Männchens in den Hintern des der andere das Weibchen“, sagt der For- Kück, und blickt etwas wehmütig über ihre anderen protokollieren konnten. Pinguin- scher mit Blick auf die Bremerhavener Pinguin-Schar. „In der Natur ist doch so- Experten wie der Zoologe Rory Wilson Männerbünde. Auch dass die Tiere ge- wieso alles Kraut und Rüben.“ Leicht er- von der University of Wales Swansea hal- meinsam Nester bauten, beweise gar schöpft wirkt die Zoodirektorin ob des ten derlei Vergnügungen jedoch für die nichts: „Bei Humboldtpinguinen sind die Rummels, der sie nach dem Pinguin-Ou- Ausnahme. Männchen immer an Nestbau und Brut- ting überrollte. Selbst Schwulenverbände „Es gibt in Pinguin-Kolonien in der Wild- pflege beteiligt.“ haben bereits bei ihr protestiert. nis so gut wie gar keine Nester ohne Eier Sind die liebestollen Bremerhavener Warum denn die Pinguine nicht in aller oder nur mit unbefruchteten Eiern, die auf Pinguine also doch nicht schwul, sondern Ruhe ihre Homosexualität ausleben dürf- homosexuelles Verhalten hinweisen wür- ten, fragten die Herren besorgt. Da kann den“, sagt Wilson. Zwar gehöre eine Men- Kück beruhigen: „Wenn die Pinguine wirk- * Oben: zwei der möglicherweise schwulen Humboldt- ge „hanky panky“ zum typischen Verhal- pinguine im „Zoo am Meer“ in Bremerhaven; unten: vor lich schwul sind, dürfen sie natürlich auch ten der Tiere, etwa wenn es gleich mehre- den künstlich angelegten Bruthöhlen im Pinguin-Gehege. schwul bleiben.“ Philip Bethge

188 der spiegel 7/2005 Technik VIRGIN ATLANTIC Langstrecken-Jet „Global Flyer“: Eng wie ein Käfig, laut wie eine Disco, gefährlich wie ein Tanklastzug

ge. Was ist das Neue an Ihrem Rekord- LUFTFAHRT versuch? Fossett: Die waren damals eben zu zweit unterwegs, ich allein. Es gibt einen funda- Blindflug mit Windeln mentalen Unterschied zwischen Soloflügen und Mannschaftsflügen. Viele Flugzeuge Abenteurer und Multimilliardär Steve Fossett hatten bereits den Atlantik überquert, als Charles Lindbergh 1927 endlich der Solo- über seinen waghalsigen Rekordversuch, allein in einem flug gelang. Heute erinnert sich keiner Düsenflugzeug nonstop die Erde zu umrunden mehr an die vielen Mannschaftsflüge vor ihm. Aber jeder kennt Lind- Fossett, 60, sorgt immer wieder mit spek- fährlichsten und schwierigs- bergh. takulären Weltrekorden für Aufsehen. So ten Flüge in der Geschichte SPIEGEL: Was bringen derar- umrundete er 2002 als erster Solopilot in der Luftfahrt. Vor allem beim tige Mutproben der Mensch- einem Helium-Ballon den Planeten. Sein Start und Aufstieg werde ich heit? Vermögen verdiente er an der Chicagoer sehr nervös sein. Fossett: Manchmal haben Terminbörse. SPIEGEL: Was könnte passie- Abenteuer überraschende ren? Auswirkungen. Lindberghs SPIEGEL: Haben Sie Ihre Sachen für die Fossett: Das Flugzeug wurde Flug zum Beispiel stimulier- Weltreise schon gepackt? zum Beispiel noch nie mit te die Flugzeugindustrie. In Fossett: Alles, was ich brauche, ist längst im komplett vollen Tanks geflo- meinem Fall könnte der Flugzeug. Nun warte ich nur noch auf gen. Es gibt Bedenken, ob „Global Flyer“ die Weiter- günstiges Flugwetter. Derzeit führt der Jet- die Länge der Startbahn am entwicklung von besonders stream über den USA zu Turbulenzen. Ich Flughafen ausreicht. Die energieeffizienten Turbinen

hoffe, dass es ab dem 16. Februar ruhiger Startbahn ist knapp vier Ki- DE SOUZA / GETTY IMAGES CARL anregen, aber auch die stär- wird – das sagt zumindest mein Chef- lometer lang, dann kommen Rekordflieger Fossett kere Verwendung von Koh- meteorologe, der von Belgien aus das Wet- noch ein paar hundert Meter Milkshakes als Nahrung lefasern im Flugzeugbau. Die ter für mich überwacht. Reservestrecke. Spätestens Erfahrungen bei der Ent- SPIEGEL: Normale Reiseflieger starten täg- dann muss ich also in der Luft sein, sonst wicklung des „Global Flyer“ könnten zum lich. Wieso ist Ihr Rekordflugzeug so ab- rausche ich in die Befeuerungslampen des Beispiel beim Bau von unbemannten Droh- hängig vom Wetter? Flughafens. nen nützlich sein. Fossett: Der „Global Flyer“ ist extrem an- SPIEGEL: Erschwerend kommt hinzu, dass SPIEGEL: Was zeichnet Solopiloten aus? fällig – vor allem beim Start, wenn er voll der „Global Flyer“, um Luftwiderstand Fossett: Das ist fast mythisch; man muss getankt ist. Ich brauche also ruhige Luft. und Gewicht zu reduzieren, kein Radar es aushalten, absolut auf sich allein ge- Später wird es einfacher. Je mehr Treibstoff besitzt, keine Klappen, die beim Starten stellt zu sein. Bei meinem Flug geht es ich verbrannt habe, desto besser lässt sich und Landen helfen – und auch bei den weniger um eine Mutprobe als um eine das Flugzeug steuern. Bremsen wurde gespart ... Ausdauerleistung. Ich werde wahrschein- SPIEGEL: Sie sitzen gleichsam in einem flie- Fossett: Ja, das Flugverhalten ist gewöh- lich fast drei Tage lang in der Luft sein, genden Benzintank. Der leicht entzünd- nungsbedürftig. Aber ich habe viele Trai- ohne Ablösung. liche Sprit macht anfangs 83 Prozent des ningsflüge absolviert und bin mittlerweile SPIEGEL: Aber Sie können doch einfach den Gesamtgewichts aus. Das klingt weniger sehr zufrieden. Autopiloten einschalten und ein Nicker- nach Sport als nach einem Selbstmord- SPIEGEL: Schon 1986 umrundeten die Pi- chen machen, das merkt doch keiner. versuch … loten Dick Rutan und Jeana Yeager ohne Fossett: Der Autopilot hilft mir. Aber es Fossett: Nein, ich gehe nur kalkulierbare zwischenzutanken in einem Flugzeug gibt eine Menge zu tun dort oben – zum Risiken ein. Aber es wird einer der ge- die Erde, sie brauchten damals neun Ta- Beispiel den Funkverkehr mit den Flug-

190 der spiegel 7/2005 Technik kontrolleuren in den Ländern, die ich über- Spielkonsole. Dort wird er fast fotorealis- fliege. Außerdem muss ich ständig den COMPUTER tische Kampfspiele hervorzaubern. Cell Treibstoff zwischen den 13 Tanks richtig soll aber auch Multimedia auf Heimcom- verteilen, weil ich im Grunde genommen Wunderwinzling putern in neue Dimensionen führen: Ein mit zwei Flugzeugen unterwegs bin: mit zentraler Familienrechner könnte Spiel- einem überladenen Riesentanker beim filme in Kinderzimmer senden, während Start und mit einem leeren Fliegengewicht im Wohnzimmer die Eltern andere Programme aufzeichnen, bei der Landung. über den Rechner Musik hören oder Vi- SPIEGEL: Im Cockpit ist es fast so laut wie IBM, Toshiba und Sony bauen deofilme bearbeiten. Sony arbeitet an sol- in einer Disco: 95 Dezibel. Können Sie bei chen „Home Servern“ mit Cell als Motor. dem Lärm überhaupt schlafen? den Superchip: Der Datenfresser Und Toshiba plant, den Chip zunächst in Fossett: Na ja, richtig schlafen werde ich in rechnet 15-mal schneller als einer Reihe von hochauflösenden Fernse- diesen etwa 70 Stunden wohl nicht. Aber das Konkurrenzprodukt von Intel. hern einzusetzen. IBM wiederum will da- ich kann meinen Sitz etwas nach hinten mit professionelle Workstations ausrüsten. kippen, um mich auszuruhen. ade ist die Computerwelt. In fast je- Weil auf dem Rechner gleichzeitig ver- SPIEGEL: Wie halten Sie sich fit? dem Rechner steckt ein Chip von In- schiedene Betriebssysteme laufen können, Fossett: Ich benutze weder Kaffee noch Ftel. Auf fast jedem dieser Prozessoren wäre auf ihm technisch sogar das bisher andere Stimulanzien. Chemische Auf- läuft das Betriebssystem Windows von Undenkbare möglich: Die Erzfeinde Micro- wecker haben immer Nebenwirkungen Microsoft. Und fast alle 18 Monate können soft und Apple könnten Windows und und machen oft eher nervös als munter. neuentwickelte Prozessoren doppelt so OS X zu friedlichen Nachbarn machen. Und bei schwierigen Manövern wie der schnell rechnen wie ihre Vorgänger. Apple dürfte ohnehin zu den ersten Cell- Landung sorgt die Aufregung ohnehin So geht das seit vielen Jahren. Und es Kunden zählen, denn von IBM bezieht die dafür, dass ich hellwach bin. hätte auch noch eine Weile so weiterge- Firma bereits die G5-Prozessoren. Und SPIEGEL: Einhandsegler berichten immer hen können. Doch jetzt bringt ein neues ein G5-artiger 64-Bit-Prozessor steckt auch wieder von Halluzinationen. Rechnen Sie Produkt frischen Wind ins Geschäft: Ein in Cell – er ist sogar eines seiner Geheim- auch damit? Fossett: Ich kenne das schon von meinen Ballonfahrten. Obwohl ich allein an Bord war, sah ich plötzlich einen Mann neben mir sitzen, der mir sagte: „Steve, leg dich ruhig schlafen, ich kümmere mich um den Rest.“ Wirklich gruselig. SPIEGEL: Können Sie zwischendurch den Ausblick ins All und auf die Erde genießen? Fossett: Die Cockpitscheibe friert auf der Reisehöhe von über 13 Kilometern kom- plett zu; da oben ist es kälter als minus 50 Grad Celsius. Ich kann dann nur noch durch die Seitenfenster hinausschauen. Aber rechtzeitig zur Landung schmilzt das Eis wieder weg. SPIEGEL: Was steht auf Ihrer Speisekarte? Fossett: Ich muss mindestens drei Liter pro Tag trinken, hauptsächlich Wasser. Ansons- ten ernähre ich mich vor allem von Milk-

shakes, Geschmacksrichtung Vanille und / AP SAKUMA PAUL Erdbeer. Die sind nahrhaft, lecker und Präsentation des Mikroprozessors „Cell“*: Mächtiges Bündnis leicht einzunehmen. SPIEGEL: Haben Sie ein Klo an Bord? Bündnis dreier mächtiger Konzerne hat nisse: Wie ein Vorarbeiter verteilt er die Fossett: Ich habe Urinflaschen, die ich auch einen Chip gebaut, der gleich 15-mal anfallende Arbeit auf acht nachgelagerte nach draußen entleeren kann. Und für den schneller rechnen kann als Intels bester Recheneinheiten. Jeder Cell besteht damit Stuhlgang verwende ich Windeln. Aber ich Pentium-Prozessor. gleich aus neun separaten Prozessor- stelle mich einige Tage vor Abflug auf Nach vierjähriger Kooperation haben kernen. Künftige Versionen könnten sogar ballaststoffarme Ernährung um, damit die IBM, Sony und Toshiba vorige Woche in noch mehr Assistenzrechner an Bord neh- Ausscheidungen gering bleiben. San Francisco ihren Wunderwinzling men und noch schlagkräftiger werden. SPIEGEL: Was geschieht nach Ihrer Rück- „Cell“ vorgestellt. Der Neue, so behauptet Einstweilen reicht es auch so. Cell-Tech- kehr mit dem angeblich rund drei Mil- IBM-Mann Jim Kahle nur leicht überzo- niker haben Taktfrequenzen von bis zu 4,6 lionen Dollar teuren Exoten-Flugzeug? gen, sei ein „Supercomputer auf einem Gigahertz gemessen. Die schnellsten Intel- Fossett: Hoffentlich wird es im neuen Chip“. Dieser Prozessor könnte den Alltag Prozessoren schaffen derzeit 3,8 Gigahertz. Smithsonian Museum am Dulles Airport von Millionen Menschen verändern; denn In jeder Sekunde kann Cell bis zu 256 Mil- in Washington an der Decke aufgehängt. die Konzerne wollen mit ihm nicht primär liarden Rechenoperationen bewältigen – Das würde mich sehr freuen. in die von Intel beherrschten Büros, son- vor drei Jahren hätte das künftige Mas- SPIEGEL: Sie haben bislang die selber re- dern vor allem in die Wohnzimmer: Cell senprodukt es damit noch auf die Liste der kordverdächtige Zahl von 102 Weltrekor- wird ein Spaß-Prozessor für daheim. 500 schnellsten Rechner der Welt geschafft. den aufgestellt. Was kommt als Nächstes? Der Datenfresser soll nächstes Jahr die Für Intel ist der neue Cell ein Schuss Fossett: Ich will im März versuchen, erst- „Playstation 3“ antreiben, Sonys neue vor den Bug. Der Chipkonzern hat so- mals mit einem Gleitflugzeug die Strato- gleich nachgezogen – und angefangen, sphäre zu erreichen. * Toshiba-Manager Yoshio Masubuchi, IBM-Entwickler Pentium-Prozessoren mit Doppelkern Interview: Hilmar Schmundt Jim Kahle, Sony-Manager Masakazu Suzuoki. herzustellen. Marco Evers

192 der spiegel 7/2005 Technik

AUTOMOBILE Verzicht ohne Reue Der neue VW Passat ist deutlich größer als sein Vorgänger. Doch der Plan, das Auto zu einem Nobel-Volkswagen zu machen, wurde fallen gelassen. s war die letzte Gelegenheit. Etwa eineinhalb Jahre vor Produktions- Estart nahm Bernd Pischetsrieder Neuer VW Passat: Vom Biedermann zum Blech-Zorro noch eine kleine Korrektur vor am Design des neuen Passat. Der Frontgrill erschien finden. Das einst biedere Zweckmobil – tern aus – rechnete dabei allerdings eine ihm nicht bissig genug. Der VW-Chef seine Kernklientel rekrutierte sich aus rau- leere Reserveradmulde mit ein. verordnete mehr Chrom und markantere schebärtigen Erdkundelehrern – hat sich Ebenso kontrolliert wie kommentarbe- Rippen. in einen grimmigen Blech-Zorro verwan- dürftig wuchs der Preis. Das Basismodell Am 11. März wird der Wagen nun mit ei- delt, um letztlich doch wieder sehr bür- mit 102 PS wird etwa 22000 Euro kosten, nem Antlitz in den Handel kommen, das gerliche Talente auszuspielen. was bedeutet, dass ein besser motorisiertes dem des beißtollen Hai-Häuptlings aus Die traditionelle Passat-Stärke ist Größe. und ausgestattetes Exemplar kaum unter dem maritimen Märchenfilm „Findet Und Pischetsrieder ließ dem jüngsten Mo- 30000 Euro zu haben sein wird. Mit allen Nemo“ nicht unähnlich ist. Der trapezför- dell ein „kontrolliertes Wachstum“ ange- Extras und dem stärksten Motor (250 PS) mige Glitzerschlund soll als Vorbote eines deihen: Im Vergleich zum Vorgänger ge- wird der neue Passat rund 40 000 Euro neuen Markengesichts Volkswagen mehr wann der Wagen um sechs Zentimeter an kosten. Dynamik einhauchen. Länge und um sieben an Breite. Davon Allerdings kann ein solcher Nobel-Volks- Vom ursprünglichen Charakter eines profitierte vor allem der Kofferraum: VW wagen dann auch mit der kompletten Aus- VW Passat ist an dem Auto nichts mehr zu weist ein gigantisches Volumen von 565 Li- stattungsklaviatur der Luxusklasse auf- warten: Er wird über einen Tempomaten Piëch-Nachfolger Pischetsrieder setzte mit Abstandsregelung verfügen, der auto- den Passat jedoch wieder auf eine Quer- matisch bremst, wenn das Auto sich einem motorplattform-Diät. Denn auch diese hat langsameren Vorausfahrenden nähert. Im einen wichtigen Vorteil: Der in Querrich- Fond können elektrische Geräte an eine tung eingebaute Motor- und Getriebever- 230-Volt-Steckdose gestöpselt werden. Eine bund spart Platz, der dem Innenraum zu- Bluetooth-Funkschnittstelle vernetzt das gute kommt. Handy des Fahrers drahtlos mit der Frei- Schon einmal, beim Passat-Modell- sprechanlage; und ein 600-Watt-Soundsys- wechsel von 1988 unter Piëch-Vorgänger tem des dänischen „Highend“-Anbieters Carl Hahn, hatten die Konstrukteure von Dynaudio sorgt für eine Beschallungsqua- Längs- auf Quermotor umgestellt. Der

lität, wie sie ab Werk noch nie in einem / ARGUS PETER FRISCHMUTH Grund war damals wie heute der gleiche: Passat erreicht wurde. VW-Chef Pischetsrieder Der Kunde spürt den Raumgewinn sehr Das Armaturenbrett – es gemahnt in sei- „Kontrolliertes Wachstum“ wohl, die größere Laufruhe des Längs- ner abgeschrägten Form ebenso an den Lu- motors allerdings kaum. „Nur sehr sensib- xus-Audi A8 wie an den seligen Proleten- keinen Frontgrill. Der Motor schnorchelte le Hintern bemerken das“, sagt Projekt- panzer Ford Granada – kann auf Wunsch die Ansaugluft durch das Firmenemblem. leiter König. Sein eigener zähle nicht in Pappel-, Nussbaum- oder Makassarholz Piëch stoppte die Entwicklung des kaum dazu. gekleidet werden. Passat-Projektleiter ansehnlicheren Nachfolgers und brachte Und auf die Option, einen Passat mit Horst König empfiehlt eine Kombination drei Jahre später einen völlig anderen, mehr als sechs Zylindern anbieten zu kön- aus Nussbaumholz und gebürstetem Alu- technisch an den Audi A4 angelehnten Pas- nen, verzichtet VW jetzt ohne Reue. Mit minium („der absolute Bang“). sat heraus. enormem Aufwand hatte Piëch einen Doch abgesehen von solchen Ausstat- Der wichtigste Unterschied zum Vor- Achtzylindermotor entwickeln lassen, des- tungskapriolen dokumentiert der neue gänger: Er hatte einen längseingebauten sen Kolben-Oktave sich zu einer exoti- Passat eine Abkehr von der Strategie des Motor – und damit ein zentrales Merkmal schen W-Form unter der Passat-Haube Ex-Konzernlenkers Ferdinand Piëch, des Luxuswagens. Mercedes, BMW und bündelte. Sein Benzinverbrauch war Volkswagen in eine Luxuswagenmarke um- Audi pflegen diese Bauweise, die zwei enorm, die Nachfrage gleich null. zuprogrammieren. wichtige Vorteile bringt: Im VW-Management herrscht heute Ei- Als der Porsche-Enkel und Schnellfahr- • Längsmotoren lassen sich besser im nigkeit darüber, dass das Projekt gefloppt enthusiast 1993 den Vorstandsvorsitz über- Motorraum lagern, um unschöne Nick- ist. „Das war mal ein interessanter Aus- nahm, war VW in Mittelmäßigkeit erstarrt. bewegungen aufzufangen, flug“, sagt König, „aber solche Motoren Der damalige Passat, eine vielfach ver- • der Längseinbau erlaubt den Einsatz von sind in den höheren Klassen wohl besser spottete Blech-Amöbe, hatte überhaupt acht und mehr Zylindern. aufgehoben.“ Christian Wüst SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) FRANKFURT AM MAIN Andreas Wassermann; Christoph Pauly, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel. (069) 9712680, Fax Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben CHEFREDAKTEUR Stefan Aust (V. i. S. d. P.) Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 97126820 E-Mail: [email protected] STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 Nachdruckgenehmigungen DEUTSCHE POLITIK Leitung: Hans-Joachim Noack, Dietmar Pieper für Texte und Grafiken: (stellv.). 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(003491) 391 05 75, Fax 319 29 68 gang Bayer, Stefan Berg, Irina Repke, Sven Röbel, Caroline Schmidt, MOSKAU Walter Mayr, Uwe Klußmann. Autor: Jörg R. Mettke, Abonnenten-Service Michael Sontheimer, Holger Stark, Peter Wensierski Persönlich erreichbar Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr Ul. Bol. Dmitrowka 7/5, Haus 2, 125009 Moskau, Tel. (007095) WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma. Redaktion: 96020-95, Fax 96020-97 SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Beat Balzli, Julia Bonstein, Dietmar Hawranek, Alexander Jung, NAIROBI Thilo Thielke, P.O. Box 1361, 00606 Nairobi, Fax 00254- 20637 Hamburg Klaus-Peter Kerbusk, Nils Klawitter, Jörg Schmitt, Thomas Schulz, 20581518 Umzug/Urlaub: 01801 / 22 11 33 zum Ortstarif Janko Tietz Fax: (040) 3007-857003 AUSLAND Leitung: Hans Hoyng, Dr. Gerhard Spörl, Dr. Christian NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. Neef (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, (009111) 24652118, Fax 24652739 Zustellung: 01801 / 66 11 66 zum Ortstarif Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Joachim Hoelzgen, Siegesmund NEW YORK Frank Hornig, Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Pent- Fax: (040) 3007-857006 von Ilsemann, Marion Kraske, Jan Puhl, Dr. Stefan Simons. house, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Service allgemein: (040) 3007-2700 Autoren, Reporter: Klaus Brinkbäumer, Dr. Erich Follath, Dr. Olaf PARIS Dr. Romain Leick, 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Fax: (040) 3007-3070 Ihlau, Susanne Koelbl, Erich Wiedemann Tel. (00331) 58625120, Fax 42960822 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf E-Mail: [email protected] PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-32, Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Jörg Blech, Rafaela von Bre- Peking 100 600, Tel. 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196 der spiegel 7/2005 Chronik 4. bis 11. Februar SPIEGEL TV

FREITAG, 4. 2. Potsdam die Arbeitgeber des Öffent- MONTAG, 14. 2. lichen Dienstes mit der Gewerkschaft 22.45 – 23.15 UHR SAT.1 ENTFÜHRUNG In Bagdad wird die italie- Ver.di auf einen neuen Tarifvertrag. nische Journalistin Giuliana Sgrena SPIEGEL TV REPORTAGE gekidnappt. Sgrena berichtet aus dem NATO-TAGUNG Verteidigungsminister Blitzlicht und Schatten – Irak für die italienische Tageszeitung Struck stellt in Nizza eine Ausweitung Hinter den Kulissen der Berlinale „Il Manifesto“ und „Die Zeit“. des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan in Aussicht. SAMSTAG, 5. 2. ETA-TERROR Bei der Explosion einer NPD-STREIT I Bayerns Ministerpräsident Ed- Autobombe in Madrid werden mehr als mund Stoiber wirft der Bundesregierung 40 Menschen verletzt. vor, mit ihrer Wirtschaftspolitik den rechts- radikalen Parteien Wähler zuzutreiben. DONNERSTAG, 10. 2. Hauptursache für das Erstarken der NPD sei die Massenarbeitslosigkeit, so Stoiber. RÜSTUNG Nordkorea erklärt, es besitze SPIEGEL TV Atomwaffen. Laut Pjöngjang benötigt das Roter Teppich vor dem Berlinale-Palast TOGO Der dienstälteste Staatschef Afrikas, Land die nukleare Rüstung zur Selbst- Gnassingbé Eyadéma, stirbt im Alter von 69 verteidigung gegen die USA. Eine Bronzegießerei macht Überstunden, Jahren; nach offiziellen Angaben erlag er ei- um die Bären-Trophäen fertig zu stel- ROYALS Prinz Charles und seine langjähri- nem Herzinfarkt. Sein Sohn Fauré Gnassing- len, 750 Mitarbeiter sorgen dafür, dass ge Geliebte Camilla Parker Bowles kün- bé wird zum neuen Präsidenten ausgerufen. Deutschlands größtes Filmfestival rei- digen ihre Hochzeit für den 8. April an. bungslos funktioniert. Und wenn ein Hol- SONNTAG, 6. 2. FREITAG, 11. 2. lywood-Produzent im Luxushotel nach ei- ner Currywurst verlangt, klappt auch das. SPANIEN Nahe der Stadt Castellón werden 18 Menschen tot in einer Herberge NPD-STREIT II Die rot-grüne Regierung will entdeckt. Sie wurden im Schlaf vergiftet, künftig extremistische Aufmärsche an DONNERSTAG, 17. 2. als Kohlenmonoxid aus einem Gas- Gedenkorten für NS-Opfer untersagen. 22.20 – 23.15 UHR VOX heizkörper ausströmte. Dafür sollen das Versammlungs- und das Strafrecht verschärft werden. So kann SPIEGEL TV EXTRA Saubere Geschäfte – MONTAG, 7. 2. auch der drohende Aufmarsch der NPD zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am Putzkolonnen bei der Arbeit SPARKURS Der Haushaltsentwurf von US- Brandenburger Tor in Berlin verhindert Gebäudereiniger brauchen starke Ner- Präsident Bush wird von der Opposition werden. ven. Im Operationssaal, im Fernsehturm scharf kritisiert. Vorge- oder im Wettkampf um den Titel des sehen sind vor allem besten Raumpflegers. Kürzungen im Gesund- heitsbereich, beim FREITAG, 18. 2. Umweltschutz und bei 21.55 – 22.55 UHR VOX der Bildung. SPIEGEL TV THEMA WELTUMSEGLUNG Die Britin Psychic Detectives – Ellen MacArthur stellt Hellseher im Dienst der Polizei (Teil 2) einen neuen Rekord für In der zweiten Folge geht es um eine Hell- die schnellste Weltumseg- seherin, die aufgrund ihrer detaillierten lung auf. Die 28-Jährige Kenntnisse über den Fundort einer Leiche legte in 71 Tagen und selbst des Verbrechens beschuldigt wird. 14 Stunden mehr als 50000 Kilometer zurück. SAMSTAG, 19. 2. 22.00 – 0.05 UHR VOX DIENSTAG, 8. 2. WAFFENRUHE Der palästi- SPIEGEL TV SPECIAL nensische Präsident Mah- Auf Leben und Tod – mud Abbas und Israels Pre- Einsatz in einer Traumaklinik mier Ariel Scharon verein- Ärzte und Pfleger der medizinischen Zen- baren auf dem Gipfeltreffen trale für schwerverletzte Unfallopfer im im ägyptischen Scharm Hamburger Bahnhofsviertel St. Georg al-Scheich einen beidersei- müssen auf alles gefasst sein. tigen Waffenstillstand. SONNTAG, 20. 2. DÄNEMARK Bei der Parla- 22.15 – 23.00 UHR RTL mentswahl wird die Mitte- rechts-Regierung unter SPIEGEL TV MAGAZIN Premier Anders Fogh Sorglos reisen – Neues vom Schleuser- Rasmussen bestätigt. skandal; Luftfahrt ohne Grenzen – Hilfe Jugend mit ungewisser MITTWOCH, 9. 2. für Banda Aceh; Sambatänzerin Anfang der Zukunft – Beobachtungen an einer Berufs- TARIFVERHANDLUNGEN Nach Woche beim Karnevalsumzug bildenden Schule

drei Tagen einigen sich in in Rio de Janeiro. IZQUIERDO / AP SILVIA

der spiegel 7/2005 197 Register

gestorben Vater, der aus Polen eingewandert war, Globus gespielt wird – selbst in China hatte alles Geld in Aktien angelegt. Der machte es Furore. Arthur Miller, 89. Immer wieder Marilyn: junge Miller schlug sich als Fabrikarbeiter Die Geschichte jenes Willy Loman, der ge- Bis zuletzt wurde er zu seiner Ehe mit der durch, bevor er studieren konnte und rade die letzte Rate für sein Haus bezahlt Monroe befragt, zumeist vorsichtig, weil Schriftsteller wurde. hat, als er mit 63 in seiner Firma nicht sich herumgesprochen hatte, dass er darauf Berühmt, weltberühmt wurde er als Dra- mehr gebraucht wird und, um die Familie recht unwirsch reagieren konnte. Als er matiker. Das Schicksal seines Vaters, so abzusichern, seinen Selbstmord als Auto- schon 80 war, ging er auf einen New Yor- hat er gesagt, sei in jedes seiner Stücke unfall inszeniert, sie scheint aktuell zu blei- ker Reporter los, der wissen wollte, ob er ben. Auch der Autor sah es vor vier Jah- immer noch von ihr träume. Er erklärte ren so: „Wir leben in einer Zeit, wo seine Abwehr so: „Weil ich keinen Anlass Großunternehmen 6000 Leute an einem für weitere Spekulationen geben möchte Tag entlassen, Leute auf einem viel höhe- und weil ich will, dass sie ihren Frieden ren Niveau als Willy Loman, was Bildung hat.“ und Einkommen angeht.“ Dem SPIEGEL gegenüber bejahte er 1992 Andere Stücke – „Hexenjagd“ (1953), in- immerhin die Frage, ob er noch oft an sie spiriert von seinen Eindrücken der denke: „Wie könnte ich nicht! Überall gibt McCarthy-Ära, „Blick von der Brücke“ es Bilder von ihr, auf Plakaten, auf Zeit- (1955), „Nach dem Sündenfall“ (1964) – schriften. Sie ist immer da.“ haben stets im Schatten dieses Meister- In seiner so umfangreichen wie faszinie- werks gestanden. renden Autobiografie „Zeitkurven“ (1987) Immer wieder hat sich Miller kritisch zur hat Miller der schwierigen Schönen, mit US-Politik geäußert, nachdem er sich in der er von 1956 bis 1961 verheiratet war, ein den fünfziger Jahren vor den Kongress- dezentes Denkmal gesetzt. Als er sie einmal ausschuss für die Untersuchung „uname- wegen eines blauen Kleides bewundert, rikanischer Aktivitäten“ gezerrt sah und, sagt sie ungnädig: „Es gibt Millionen schö- da er Freunde nicht hatte denunzieren wol- ner Mädchen.“ Und Miller schreibt dazu: len, zunächst zu 500 Dollar Geldstrafe und „Marilyn wollte alles, aber das eine wider- einem Jahr Gefängnis auf Bewährung ver- sprach dem anderen: Die Bewunderung ih- urteilt worden war.

res Körpers drohte, ihre Persönlichkeit zu KEYSTONE Mit seiner dritten Frau, der Fotografin Inge entwerten, und doch bekam sie Angst, Miller, Monroe Morath, lebte er – bis zu ihrem Tod 2002 – wenn sie niemand beachtete.“ 40 Jahre lang in einer ausgesprochen glück- Existentielle Ängste waren Miller nicht eingeflossen. Besonders mag das für das lichen Ehe. Die Ehe sei ein Fall „von ge- fremd. Als Jugendlicher hatte er erleben Theaterstück „Der Tod eines Handlungs- genseitigem Vergeben“, hat der Dichter be- müssen, wie der Börsenkrach 1929 der rei- reisenden“ gelten, das 1949 erstmals auf- hauptet. „Und sie wusste sie würde vieles chen Fabrikantenfamilie über Nacht den fi- geführt, später auch verfilmt wurde und vergeben müssen.“ Arthur Miller starb am nanziellen Boden wegzog. Sein jüdischer bis heute auf den Bühnen rund um den 10. Februar in Roxbury, Connecticut.

Max Schmeling, 99. „Dass ich zum Idol Bedrängte versteckt; doch er akzeptierte Ernst Mayr, 100. Die Karriere des „Darwins wurde“, schrieb er in seinen Erinnerun- auch Einladungen zu Reichsparteitagen in des 20. Jahrhunderts“, der bis zuletzt pro- gen, „verdanke ich mehr der Zeit als mir Nürnberg. Seine Niederlage im Revanche- duktiv war, begann mit der Beobachtung ei- selber.“ Tatsächlich faszinierte der Faust- kampf gegen Louis 1938 sah er rück- nes Entenpärchens, das kampf zu Schmelings Glanzzeit über die blickend auch positiv: Als Sieger hätten er als 19-Jähriger auf ei- Massen hinaus Intellektuelle wie Bert die Nazis Schmeling „vielleicht zum Para- nem See nahe Dresden Brecht. In Berlin erschien ein „Magazin de-Arier“ erhoben. So aber musste er im entdeckt hatte. Er er- für Kunst, Literatur und Box- Krieg zu den Fallschirmjägern. kannte, dass es sich um sport“; und alle wollten den 1945 hatte der Ex-Weltmeister eine Art handelte, die eher apolitischen Herkules für sein beträchtliches Vermögen seit 77 Jahren nicht ihre Zwecke nutzen. Als Schme- verloren. Um „neues Startgeld mehr in Mitteleuropa ling 1928 Michele Bonaglia aus zusammenzukloppen“, stieg der gesichtet worden war –

Mussolinis Italien schlug, feier- inzwischen 42-Jährige noch eine Glanzleistung, die / LAIF FÜR TEICHMANN ANDREAS GEO te der Schauspieler Fritz Kort- fünfmal in den Ring. Doch den Berliner Ornitholo- ner einen „Sieg der Demokratie Wohlstand brachte Schmeling gen Erwin Stresemann für den jungen Vo- über den Faschismus“. Zum erst die Coca-Cola-Konzession, gelfan einnahm. Die große Chance seines Sensations-K.o. über den als un- die ihm ein amerikanischer Lebens bot sich Mayr dann 1928, als er den schlagbar geltenden Joe Louis Freund besorgte. Nach seinem Auftrag erhielt, die Vogelwelt Neuguineas

1936 kamen Glückwunschtele- KEYSTONE Motto „Wenn es einem gut geht, zu erkunden. Die überbordende Vielfalt, auf gramme von Adolf Hitler – und soll man dafür sorgen, dass es die er dort stieß, inspirierte ihn zu seinen von emigrierten Antifaschisten wie Marle- auch anderen gut geht“, spendete Schme- wegweisenden Theorien zur Entstehung der ne Dietrich und dem Maler George Grosz, ling stets für gute Zwecke. So hat er auch Arten. Er verschmolz dabei die Lehren von der Schmeling porträtiert hatte. „Sie kom- Joe Louis Geld zukommen lassen, als der Darwin und Mendel zu der bis heute gülti- men zum Führer“, herrschte Joseph Goeb- finanziell ruinierte Rivale in Las Vegas gen „modernen evolutionären Synthese“, bels den Boxer an, „und verkehren den- als Grüß-August Hotelgästen die Hände die erstmals das Wunder der Artenvielfalt noch ständig mit Juden.“ In der Pogrom- schütteln musste. Max Schmeling starb am erklärlich erscheinen lässt. Ernst Mayr starb nacht von 1938 hat Schmeling sogar zwei 2. Februar in Hollenstedt bei Hamburg. am 3. Februar in Bedford nahe Boston.

198 der spiegel 7/2005 Personalien

Jean-Pierre Raffarin, 56, französischer Premierminister, lüftete das Geheimnis sei- Deeyah, 27, jüngste Pop- ner Schönheit – zumindest als Kind: Die sensation im Vereinigten Milch war’s. Der konservative Politiker Königreich und wegen ih- wohnte als Ehrengast der Enthüllung von rer Abstammung auch die Porträts früherer Staatssekretäre im Pariser „Muslimische Madonna“ Agrarministerium bei, zu denen auch sein genannt, stürmte mit ihrer Vater Jean Raffarin gehörte, der 1954/1955 neuen Single die britischen in dieser Funktion dem Charts. Der Aufstieg in der – linken – Premier Hitliste wurde begleitet Pierre Mendès- von Berichten über erreg- diente. Der Senior te religiöse Eiferer, denen habe, so Raffarin jetzt Deeyahs Song „Plan of stolz, die kostenlose My Own“ nicht passt. In Vergabe von Milch zahlreichen Zeitungs- und an Kinder eingeführt TV-Interviews hatte die und: „Ich bin ein Pro- Tochter eines pakistanisch- dukt dieser Erzie- afghanischen Paars be- hung.“ Weil die Gäste hauptet, sie sei von Musli-

JEAN-LOUP GAUTREAU / AFP GAUTREAU JEAN-LOUP etwas ratlos schienen, men, denen ihr sexy Auf- Raffarin konkretisierte der Re- treten nicht gefiel, als Hure gierungschef: „Sehen beschimpft, verflucht und Sie, das war damals gut für die Bauern und bespuckt worden. Der gut für die jungen Franzosen, das sorgte für Sprecher des Zentralrats schöne Babys“ – angesichts des Marken- der britischen Muslime zeichens des Premiers, der eingedellten ließ sich davon nicht über- Nase, eine Aussage, die zu weiterem Amü- zeugen. Gegenüber einem sement führte. Ein Raffarin-Helfer bemüh- Reporter des „Indepen- te sich denn auch anschließend um eine dent“ machte er geltend, Erklärung: Die unschöne Nase sei „Folge Deeyah sei gar keine Mus- einer Kollision des jungen Draufgängers limin (als würde das etwas Raffarin beim Rugbyspiel“ und nicht etwa ändern), sondern eine Hin- angeboren. du. Es gebe weder Bewei- se noch unverdächtige Georg Milbradt, 59, Ministerpräsident von Zeugen für hasserfülltes

Sachsen, ließ sich beim Eishockey von Kin- Verhalten von Fanatikern. TIMES SENIOR / SUNDAY DWAYNE dermund belehren. Bundeskanzler Ger- Es handle sich vermutlich Deeyah hard Schröder besuchte in Begleitung des um einen Werbegag zum Sachsen-Chefs die Schülermannschaft des Start der neuen Single. Das Management des Stars sieht das anders. Wenn die ES Weißwasser. Während der Kanzler auf Angriffe auf Deeyah nur ein Reklametrick gewesen wären, „dann hätte sie nicht der Trainerbank Platz nahm, setzte sich ihre Wohnung wechseln und Bodyguards anstellen müssen“. Milbradt zu pausierenden Jugendlichen und suchte das Gespräch: „Na, erzähl mal, was ist denn das Schwierigste beim Eis- siv verfolgte, vor allem weil der Kanzler Carstensen, vor sich zu sehen. Die Be- hockey?“ Antwort von Dennis, 10: „Tor- immer wieder mit lauten Anfeuerungsru- grüßung verschaffte Aufklärung: Es han- wart überwinden.“ Wie man das mache, fen die Spieler antrieb. Milbradt ließ nicht delte sich um den stellvertretenden wollte der Erwachsene wissen. „Torwart locker: „Ach nee, tricksen muss man hier, Präsidenten der deutsch-indischen Han- austricksen“, war die Antwort von Dennis, um Tore zu schießen.“ Leicht genervt kor- delskammer, Albert Hieronimus, der Cars- der wie seine Kameraden das Spiel inten- rigierte Dennis: „Mann, ausspielen natür- tensen zum Verwechseln ähnlich sieht. lich, mit Köpfchen. Da Ganz ausgeräumt wurden die Zweifel an sagt man so ‚tricksen‘ der Identität des bärtigen Mannes nicht. für.“ Milbradt, vielsagend Bei einer Ansprache redete Hieronimus verständnisinnig: „Ach den Wein aus seiner fränkischen Heimat so, verstehe.“ und den Kanzler schlecht. Angesichts die- ser Patzer vermuteten einige Teilnehmer Roland Koch, 46, hessi- der hessischen Delegation, es könne sich scher Ministerpräsident, doch um Carstensen handeln, der durch hatte in der indischen mancherlei Fehlgriffe bundesweite Be- Hauptstadt Neu-Delhi ei- kanntheit erlangt hatte. ne Erscheinung der be- sonderen Art. Bei einer Otto Schily, 72, Bundesinnenminister, Präsentation des Wirt- wurde bei seinem Washington-Besuch vor- schaftsstandorts Hessen vergangene Woche eine eher anstrengende glaubte Koch plötzlich, Ehre zuteil. Nachdem Gerhard Schröders den Spitzenkandidaten Mann für „law and order“ tagsüber in den

FRANK OSSENBRINK FRANK der schleswig-holsteini- bislang für sozialdemokratische Politiker Dennis (2. v. l.), Milbradt schen CDU, Peter Harry eher unüblichen Genuss eines Treffens mit

200 der spiegel 7/2005 US-Präsident George W. Bush im Weißen Haus gekommen war (SPIE- Edeltraut Fischer, 56, erste Ehefrau GEL Nr. 6/2005), durfte der von den des Bundesaußenministers Joschka Amerikanern als harter Knochen ge- Fischer, 56, hat rechtzeitig zum Va- schätzte Deutsche am Abend im Ka- lentinstag über ihre Heirat 1967 ge- pitol auch Bushs Rede zur Lage der plaudert: „Wir waren total verknallt.“ Nation erleben, einschließlich der Aber damals sei es in Stuttgart fast dutzendfachen stehenden Ovationen. unmöglich gewesen, als unverheirate- Da er „als Sportminister eine relativ tes Paar eine Wohnung zu bekommen. gute Kondition“ besitze, ulkte Schrö- So trampten die beiden Minderjähri- ders Kabinetts-Senior im kleinen gen, wie Fischers Ex-Frau in der Sonn- Kreis über das viele Auf und Nieder, tagsausgabe des Berliner „Tagesspie- habe er jedoch „die entsprechenden gel“ schreibt, ins schottische Gretna Erhebungen mitvollziehen“ können. Green, weil man dort heiraten konnte, ohne volljährig zu sein. Ein tristes Kaff, Beatrix, 67, Königin der Niederlande, alles „stand voll mit Wohnwagen und erhielt von Hollands altehrwürdiger irgendwelchen Baracken“. Drei Wo- Universität Leiden den Ehrendoktor chen mussten Heiratslustige aushar- verliehen. Der Akt warf auch ein ren. Die meisten hatten kein Geld, wa-

Licht auf einen speziell im Ausland / AFP DRACHEV VIKTOR ren sehr jung, die Mädels oft schwan- verbreiteten Irrtum: Die Königin ist Weißrussische Models ger, Engländer, Franzosen, Italiener, nicht, wie oft behauptet, promovier- relativ viele Deutsche. Es gab jede te Juristin. Die Monarchin, die jetzt wegen Durchbruch in der Reklame verhelfen. Der Menge Beziehungsdramen. „Auch für ihrer „Verdienste für die Freiheit“ mit dem slawophile Politiker fordert in- und aus- uns war es eine total öde Geschichte.“ Doctor honoris causa ausgezeichnet wur- ländische Unternehmen auf, in der Wer- Meistens hätten sie von „kläglichen de, hatte zwischen 1956 und 1961 Soziolo- bung weißrussische Models zu zeigen. Toastbroten gelebt, mit ein bisschen gie und Jurisprudenz studiert und mit dem „Machen Sie Ihre Reklame mit unseren „doctoraal examen“ abgeschlossen, einem Bürgerinnen“, verlangt der als Womanizer der deutschen Diplomprüfung vergleich- geltende Lukaschenko und wagt die von baren Examen. In ihrer Leidener Dankes- vielen westlichen Beobachtern geteilte rede am vergangenen Dienstag spielte das These: „Bei uns sind die Frauen schöner als Staatsoberhaupt auf diesen Umstand an. in Frankreich oder Deutschland.“ Karrie- Sie habe nach ihrem fünfjährigen Studium ren als Models im immer noch streng so- „Angstträume gehabt bei dem Gedanken“, zialistisch geprägten Weißrussland sollten sie müsste „jetzt noch an einer Doktor- hübsche Weißrussinnen davon abhalten, arbeit schreiben“. Die Auszeichnung mit „in die Fänge westlicher Mädchenhändler dem Ehrendoktorhut wurde in der akade- zu geraten“, tönt der Staatschef. mischen Welt der Niederlande allerdings mit Protest zur Kenntnis genommen. Der Edmund Stoiber, 63, bayerischer Minis- Amsterdamer Philosoph und Chemiker terpräsident, versuchte bei einem kurzen Treffen Microsoft-Chef Bill Gates für die Fußballweltmeisterschaft zu be- geistern. Stoiber überreichte einen Fußball und warb: „Dies ist der offi- zielle WM-Fußball. Die Fußballwelt- meisterschaft ist ein großes Ereignis.

Mehr als 300 Millionen Menschen BORDER PRESS AGENCY werden die Spiele sehen. Das ist eine Joschka und Edeltraut Fischer (1967) große Zielgruppe. Sehr interessant.“ Gates nahm den Ball zögernd und be- Käse darauf“. Die Hochzeitszeremo- merkte, er sei eigentlich mit dem Bas- nie sei „nüchtern“ gewesen. Einer der ketball aufgewachsen. Stoiber leicht zwei Trauzeugen war „ein Übertäto- irritiert: „Ich lade sie natürlich ein. wierter“, den sie „aus Liverpool mit- Zur Fußball-WM. Nach München. Ja- gebracht“ hatten. Ausgerechnet bei wohl, sehr freuen würde uns das.“ ihrer Zeremonie erschienen zwei Gates verwies auf seinen Sohn, der Reporter, wahrscheinlich von einer

MARCEL ANTONISSE / AFP ANTONISSE MARCEL sei ein echter Soccer-Fan. Stoiber: örtlichen Presseagentur. Die haben, Königin Beatrix „Ja, äh, natürlich laden wir Sie gern weil die jungen Eheleute aus Deutsch- auch mit Ihrem Sohn ein.“ Da erlöste land kamen, die Geschichte dorthin André Klukhuhn etwa polterte: „Das Ver- der Microsoft-Deutschland-Chef Jürgen verkauft. So erfuhren die Eltern aus hältnis von Beatrix zur Wissenschaft ist für Gallmann den hibbeligen WM-Propagan- der „Bild“-Zeitung von der Hochzeit, mich wie das von einem Karnevalsprinzen disten und machte ihn darauf aufmerk- „bevor wir überhaupt nach Hause zum Königshaus.“ sam, man habe sich bereits gebunden: kamen“. Die Ehe hielt, gemessen an „Herr Ministerpräsident, wir sind Partner heutigen Verhältnissen, ziemlich lange: Alexander Lukaschenko, 50, autoritär der Fußballweltmeisterschaft.“ Man habe „17 Jahre, auch wenn wir nur 11 oder herrschender Präsident von Weißruss- „eine eigene Lounge“, freue sich aber 12 Jahre zusammen waren.“ land, will einheimischen Schönheiten zum „natürlich über das Angebot“.

der spiegel 7/2005 201 Hohlspiegel Rückspiegel Aus einer Rezension des Films „Aviator“ Zitate der „Aachener Zeitung“: „DiCaprio wan- delt sich vom jungen Herkules zu einem Das „Handelsblatt“ zu den Folgen von dunklen Schatten Gezeichneten. Im- der SPIEGEL-Meldung „Panorama: mer öfter bleibt sein brillantes Hirn wie China – Zensur für die Auslands- eine Schallplatte hängen.“ presse“ für die SPIEGEL-Käufer im Reich der Mitte (Nr. 4/2005):

Wieso „kaputt“? Die junge Zeitungsver- käuferin in dem Pekinger Hotel blickt den nörgelnden Kunden irritiert an. „Also, wol- len Sie das Magazin nun kaufen oder nicht?“, fragt sie dann leicht genervt. Hat Inserat aus dem Karlsruher Anzeigenblatt sie wirklich nicht bemerkt, dass jemand in „Der Kurier“ der Mitte des Heftes ein paar Seiten her- ausgerissen hat? Wo doch die Fetzen noch überall so unschön an den Heftklammern Aus dem „Fränkischen Tag“: „In feines hängen. So – oder ähnlich – ging es diese dunkles Nadelstreifentuch gewandet, saß Woche etlichen Kunden in Chinas Haupt- der 43-Jährige am gestrigen Dienstag als stadt, die eine Ausgabe des deutschen Angeklagter vor der Zweiten Strafkammer Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL kau- des Landgerichts Bamberg und hätte rein fen wollten. Mit der üblichen Zeitverzöge- äußerlich leicht mit einem Rechtsanwalt rung war die Nummer (Titel: Der nächste verwechselt werden können, wäre für sei- Krieg?) zwar in diesen Tagen in den Hotel- ne Verteidigung nicht eine Frau zuständig Kiosken zu haben. Doch ob im Holiday gewesen.“ Inn am Lido-Park, in der Kanzler-Abstei- ge Kempinski oder im prächtigen Hotel Beijing nahe dem Platz des Himmlischen Friedens – immer fehlten dem Heft einige Seiten. Und immer fehlte Seite 101. Dort hatte das Magazin unter der Überschrift „China: Zensur für die Auslandspresse“ Aus dem Veranstaltungskalender „Würz- über die Nachrichtensperre zum Tod des burger Wissen“ Ex-Parteichefs Zhao Ziyang berichtet. Etwa darüber, dass es über Tage plötzliche Blackouts während der CNN-Nachrichten Aus der „Badischen Zeitung“: „Es darf gab, wenn das Thema Zhao an der Reihe keinen Grund, selbst keinen taktischen, ge- war. Ritschratsch – raus damit! Auf die chi- ben, Faschisten auch nur den Fingernagel nesische Propaganda-Maschine ist eben der kleinen Hand zu reichen.“ Verlass.

Die „Zeit“ zum SPIEGEL-Titel „Fischers ,Schleuser-Erlass‘: Grünes Licht für Menschenhändler“ (Nr. 6/2005):

Aus der „Frankfurter Allgemeinen“ Wie eine Wagenburg umlagert die grüne Prominenz den schweigenden Joschka Fi- scher. Jeder Zusammenhang zwischen der Aus dem „Delmenhorster Kreisblatt“: „Bei Liberalisierung der Visa-Praxis seit dem der Profile Haircompany können Kunden März 2000 und dem Schleusertum rund sich jetzt ihre Haare verlängern lassen. Es um die deutsche Botschaft in Kiew wird stammt aus Spenden indischer Frauen, die verschreckt geleugnet, beispielsweise mit nach Europa verkauft werden.“ dem Hinweis, Menschenhandel und Zwangsprostitution habe es schon zu Kohls Zeiten gegeben, als sei das eine anthropo- Aus der „Hamburger Morgenpost“: „Bei logische Konstante. Aber dann wären jeder den Kontrollen fanden die Beamten in ei- ausländerpolitische Optimismus sowie die nem Fall vier offene Großhändler mit meh- Maxime des Erlasses „in dubio pro liber- reren Kubikmeter Ekel-Inhalt.“ tate“, im Zweifel für die Reisefreiheit, ver- fehlt gewesen. Zugleich wird hemmungslos verharmlost. Die Visa-Liberalisierung sei Die „Saarbrücker Zeitung“ über den Pia- „in der Intention“ richtig, diente der Fa- nisten Robert Leonardy: „Oder die in den milienzusammenführung. Solche wider- schwarzen Tiefen der Linken pochenden sprüchlichen Rechtfertigungen bestätigen Schicksalsschläge, fein abgestuft vom eher den Hauptvorwurf des SPIEGEL-Ti- Fortissimo bis zum ersterbenden Hauch. tels zum „Schleuserskandal“: Der Visa-Er- Ein Erlebnis wie in einem Schaumbad: lass und die sträfliche Ignoranz gegenüber Man fühlt sich eingehüllt in arabeskenglit- den Folgen entspringe ideologischer Ver- zernde, flockig-weiche Tonwogen.“ blendung.

202 der spiegel 7/2005